Das Johannes-Evangelium: Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil: Joh 11-21 9783843605137

Drewermanns meisterliche Interpretation des Johannesevangeliums: Umfassend und theologisch aktuell. Das Johannesevangeli

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German Pages 440 [448] Year 2014

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Inhalt
Vorwort
Joh 11,1-54: Die Auferweckung des Lazarus – 1.Teil
Joh 11,17-54: Die Auferweckung des Lazarus – 2. Teil: Zwei kommentierende Geschichten
Joh 11,55-57; 12,1-11: Tod dem, der vom Tod erweckt! – Die Salbung zum Begräbnis
Joh 12,12-19: Der Einzug in Jerusalem
Joh 12,20-50: Wer so stirbt, in dem verherrlicht sich Gott und: Als Licht bin ich in die Welt gekommen
Joh 13,1-38: Das Zeichen der Fußwaschung und: Zwischen Judas und Petrus
Joh 14,1-14: Ich bin der Weg … oder: Zwischen Angst und Vertrauen
Joh 14,15-31: Von Liebe und Treue oder: Vom «Trost», der Jesus bleiben wird
Joh 15,1-17: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Rebzweige oder: Bleibt in mir wie ich in euch
Joh 15,18-26; 16,1-4: Der Welten Haß und Jesu Beistand
Joh 16,5-15: Zwischen Welt und Gott, Schmerz und Glück, Angst und Frieden oder: Die einzig ernstzunehmende Alternative
Joh 16,13: Vom Geist der Unverborgenheit Gottes
Joh 16,16-33: In der Welt habt ihr Angst, doch: besiegt habe ich die Welt
Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 1. Teil: daß sie dich erkennen und den du gesandt hast (Joh 17,3)
Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 2. Teil: Bewahre sie in deiner Wesensart (Joh 17,11)
Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 3.Teil: daß er ihnen gebe unendliches Leben (Joh 17,2)
Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 1.Teil: In der Welt, doch nicht von der Welt
Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 2.Teil: … daß du sie bewahrst vor dem Bösen (Joh 17,15)
Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 3.Teil: Heilige sie in deiner Unverborgenheit (Joh 17,17)
Joh 17,20-26: … auf daß sie alle eins sind (Joh 17,21)
Joh 18,1-27: Verhaftung und Verhör Jesu oder: Zwischen «Ich bin» und «Ich bin nicht»
Joh 18,28-40 (19,4-16): Pilatus oder: Zwischen Macht und Wahrheit
Joh 19,1-42: Da – der Mensch
Joh 20,1.11-18: Die Botschaft von der Auferstehung oder: Maria aus Magdala sieht den Herrn
Joh 20,2-10: Der Wettlauf zum Grab
Joh 20,19-23: Die Gabe der Vergebung
Joh 20,24-31: Thomas oder: Der lange Weg vom Trauern zum Vertrauen
Joh 21,1-14: Die Erscheinung am See oder: Zwischen Diesseits und Jenseits
Joh 21,15-25: Bist du mir Freund?
Anhang
Anmerkungen
Zur Übersetzung des Johannes-Evangeliums
Bildbeschreibungen und Bildnachweise
Register der Bibelstellen
Farbtafeln
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
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Das Johannes-Evangelium: Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil: Joh 11-21
 9783843605137

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Eugen Drewermann

Das Johannes-Evangelium Bilder einer neuenWelt Zweiter Teil: Joh 11-21

Patmos

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joh 11,1-54: Die Auferweckung des Lazarus – 1. Teil . . . . . . . . . . . . Joh 11,17-54: Die Auferweckung des Lazarus – 2. Teil: Zwei kommentierende Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 11,55-57; 12,1-11: Tod dem, der vom Tod erweckt! – Die Salbung zum Begräbnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 12,12-19: Der Einzug in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 12,20-50: Wer so stirbt, in dem verherrlicht sich Gott und: Als Licht bin ich in die Welt gekommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 13,1-38: Das Zeichen der Fußwaschung und: Zwischen Judas und Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 14,1-14: Ich bin der Weg … oder: Zwischen Angst und Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 14,15-31: Von Liebe und Treue oder: Vom «Trost», der Jesus bleiben wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 15,1-17: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Rebzweige oder: Bleibt in mir wie ich in euch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 15,18-26; 16,1-4: Der Welten Haß und Jesu Beistand . . . . . . . . . Joh 16,5-15: Zwischen Welt und Gott, Schmerz und Glück, Angst und Frieden oder: Die einzig ernstzunehmende Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 16,13: Vom Geist der Unverborgenheit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . Joh 16,16-33: In der Welt habt ihr Angst, doch: besiegt habe ich die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 1. Teil: daß sie dich erkennen und den du gesandt hast (Joh 17,3) . Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 2. Teil: Bewahre sie in deiner Wesensart (Joh 17,11) . . . . . . . . . . . . Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 3. Teil: daß er ihnen gebe unendliches Leben (Joh 17,2) . . . . . . . . . Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 1. Teil: In der Welt, doch nicht von der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 2. Teil: … daß du sie bewahrst vor dem Bösen (Joh 17,15) . . . . . . Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 3. Teil: Heilige sie in deiner Unverborgenheit (Joh 17,17) . . . . . . . . Joh 17,20-26: … auf daß sie alle eins sind (Joh 17,21) . . . . . . . . . . . . Joh 18,1-27: Verhaftung und Verhör Jesu oder: Zwischen «Ich bin» und «Ich bin nicht» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 18,28-40 (19,4-16): Pilatus oder: Zwischen Macht und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 19,1-42: Da – der Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 20,1.11-18: Die Botschaft von der Auferstehung oder: Maria aus Magdala sieht den Herrn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 20,2-10: Der Wettlauf zum Grab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 20,19-23: Die Gabe der Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 20,24-31: Thomas oder: Der lange Weg vom Trauern zum Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 21,1-14: Die Erscheinung am See oder: Zwischen Diesseits und Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 21,15-25 Bist du mir Freund? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Übersetzung des Johannes-Evangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildbeschreibungen und Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215 218 222 235 254 264 284 302 317 334 350 367

383 409 431 436

Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

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Vorwort Der zweite Teil dieses Predigtkommentars zum Johannes-Evangelium beginnt mit der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus: Weil Jesus einen Menschen, der «tot» ist, aus seiner «Grabexistenz» ins «Leben» zurückholt, wird man den Tod über ihn verhängen (Joh 11,47-53), und auch den Lazarus selbst ist man willens zu töten, könnten doch «viele» zum Vertrauen finden nach der Art seines wiedergefundenen Daseins (Joh 12,10-11). «Man» – das sind in diesem Falle die «Hohen Priester», die «Pharisäer», der «Hohe Rat»; doch die Darstellungsweise des Vierten Evangeliums geht nicht ins «Historische», sondern ins Wesentliche: Jede Art von Herrschaftswissen, ausgeübt im Wahne, Gott damit zu dienen, spricht das Todesurteil über lebende Menschen; es gelangt niemals dahin, inmitten dieser «Welt» Gott als «Vater» zu «erkennen» (Joh 8,19; 14,7). Wie die ganze zweite Hälfte des Johannes-Evangeliums ist unser Leben in der Begegnung mit dem Mann aus Nazaret eine «Auferstehung» in eine Existenzform, die sich «bestraft» mit dem Tode, und eine Art von «Sterben», die den «Tod» überwindet … Zugespitzter kann das Paradox nicht sein: Wer, in der Kraft Gottes, zu leben beginnt, wird von dem bestehenden System in Religion und Politik als tödliche Gefahr empfunden und selber getötet, doch gerade damit tritt er ein in die zentrale Erfahrung Jesu: daß den «Haß» der «Welt» (Joh 7,7; 15,18) unvermeidbar ein jeder auf sich zieht, der die «Wahrheit» (die «Unverborgenheit» Gottes) leben will (Joh 8,45), und umgekehrt: daß es gilt, die Macht des «Todes» durch ein unbedingtes Vertrauen in die «väterliche» Macht Gottes zu durchbrechen. Man muß an «Auferstehung» glauben, um sein Leben zu riskieren im Kampf gegen eine «Welt», die vom «Vater Teufel» ist (Joh 8,44). Erst in diesem Gegenentwurf des Mannes aus Nazaret läßt sich die «Gerechtigkeit» (das «richtige Leben» vor Gott und von Gott her) ergreifen und die ganz normale «Wirklichkeit» als ein endloses Lügengebilde aus Angst, Gewalt und Zwang durchschauen – da ergeht das «Gericht» über den «Herrscher dieser Welt» (Joh 12,31; 16,11) … Man kann derartige in mythischer Sprache formulierte Entgegensetzungen des Johannes-Evangeliums gar nicht radikal genug verstehen. Die geschilderten Konflikte lassen keine Abschwächung im Mittelmaß zu; sie verlangen ein entschiedenes und entscheidendes Entweder-Oder. Allerdings – nichts wäre falscher und verhängnisvoller, als die johanneischen Antithesen von Licht und Finsternis, Leben und Tod, Wahrheit und Lüge, 7

Vertrauen und Verzweiflung («Sünde») ins Moralische zu setzen und von (lehramtlich zu verordnenden und mit himmlischen «Strafen» zu erzwingenden) «Willensentscheidungen» der Menschen abhängig zu machen. Der eigentliche johanneische Gegensatz ist nicht Gut und Böse in ethischem Verstande, er besteht nicht im Sinne der kirchendogmatischen Unterscheidung von «christlichem» «Glauben» und (heidnischem) «Unglauben»; – all diese Widerspruchspaare bilden vielmehr selbst noch die Strukturen der inneren Zerrissenheit dessen, was im Johannes-Evangelium «Welt» genannt wird. Einheit, Widerspruchsfreiheit («Frieden») indessen mit sich selbst, mit den Menschen, mit Gott kann nur entstehen in der «Wesensart» Gottes, in der «Gnade», die mit Jesus Christus «ward» (Joh 1,17). Sie allein ist der eigentliche Gegensatz zur «Welt» in ihrer durch und durch «mörderischen» Qualität (Joh 8,46). Jede Auslegung des Vierten Evangeliums steht vor der Schwierigkeit, diese Unbedingtheit der johanneischen Alternative von Gott und «Welt» nicht einfach als dogmatische Setzung zu repetieren, sondern von der menschlichen Erfahrung her zu interpretieren. Nicht zufällig betont der johanneische Jesus, er müsse die «Werke» des «Vaters» tun (Joh 5,17; 9,4), und wenn man seinen Worten schon nicht «vertraue» («glaube»), so doch wenigstens seinen «Werken» (Joh 5,36; 10,25.38). Diese «Wirklichkeit», die in den Menschen an der Seite Jesu entsteht, ist das eigentliche «Zeugnis» dafür, daß der Mann aus Nazaret von Gott «gesandt» ist, daß er «Gottes Sohn» ist, daß er «im Vater» ist (Joh 10,36-38). Verständlich machen läßt sich die «neue Wirklichkeit» (Paul Tillich), die mit der Person Jesu in die «Welt» getreten ist, wohl nur, wenn man sowohl individualpsychologisch als auch sozialpsychologisch die Mechanismen freilegt, die im Felde der Angst das gesamte Dasein des Menschen und seine Weltauslegung verformen. «In der Welt habt ihr Angst; aber faßt Mut: ich – besiegt habe ich die Welt», sagt der johanneische Jesus (Joh 16,32). Und: «Frieden, meinen, gebe ich euch. Nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch. Nicht erzittere euer Herz, nicht verzage es.» (Joh 14,27) Es ist die Existenzphilosophie Sören Kierkegaards, es ist die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die uns Heutigen zeigen können, wie in sich verkrümmt, wie gebunden und unfrei ein Leben im Getto der Angst verlaufen muß. Das paulinisch-johanneische Wort zur Beschreibung einer solchen Seinsverlorenheit, eines solch tödlichen Selbstwiderspruchs, ist das Wort «Sünde», doch ist uns, erneut durch eine moralisierende Verflachung des Begriffs, der Ernst des Gemeinten abhanden gekommen. «Sünde» gilt uns für die Übertretung eines der Zehn Gebote; doch dieses (Miß)Verständnis 8

läßt nicht einmal ahnen, geschweige begreifen, welch eine Zwangsgesetzlichkeit hier beschrieben wird. «Jeder, der die Sünde tut», heißt es in Joh 8,34, «ist ein Knecht der Sünde», – will sagen, er folgt einem «Gesetz», das ihn vollkommen und unentrinnbar beherrscht. Hören wir demgegenüber von den «Werken» des johanneischen Jesus und von seinem Auftrag an uns, deren noch «größere» zu verrichten (Joh 14,12), so legt sich erneut eine Aufforderung zur Anspannung aller Kräfte des sogenannten «guten Willens» nahe. Doch eben darum geht es nicht, eben darum kann es nicht gehen. Es geht im Gegenteil um ein alle Angst lösendes «Vertrauen» (Joh 14,11), es geht um die «Befreiung» zu einem «versöhnten» Leben (Joh 8,36), es geht um das Ende der «Knechtschaft» (Joh 15,15). Paulus und Luther sprechen an gerade dieser Stelle von «Rechtfertigung» und meinen damit das alles Entscheidende: Kein Mensch gelangt zu «wirklichem Leben», solange er die basale Angst, nicht berechtigt auf Erden zu sein, durch Kompensationen aller Art beschwichtigen muß. Er kann versuchen, noch so tüchtig, noch so fleißig, noch so brauchbar, noch so nützlich, noch so mächtig, noch so reich, noch so angesehen, noch so beliebt, noch so unentbehrlich, noch so «notwendig» zu werden, wie es nur irgend geht, – er wird der Falle der steten Todespraxis niemals entrinnen: irgendwann wird der Verschleiß seiner besten Kräfte, wird der Streß permanenter Konkurrenz, wird die latente Feindseligkeit, wird die verinnerlichte Negiertheit seiner Existenz ihren Tribut fordern. Am Ende von allem wartet der Tod. Selbst und gerade das moralische Bemühen unterliegt dieser Ambivalenz, dieser dialektischen Gegenfinalität aller noch so gutgemeinten Anstrengungen. Paulus hat das gesehen, wenn er davon spricht, «das Gesetz», jedes Gesetz, alle Gesetzlichkeit, sei «der Tod» (Röm 8,13), ja, es bedürfe einer «Erlösung» von einem Leben, das sich auf eine möglichst exakte Erfüllung der «Gebote» zu gründen suche; denn was es produziere, sei das genaue Gegenteil des ursprünglich Beabsichtigten (Röm 7,19). Jeder, der auch nur ein wenig von den Tragödien kennt, welche die Neurosenlehre der Psychoanalyse beschreibt, kann dem nur zustimmen. «Den wahrhaft guten Werken muß … die Rechtfertigung vorausgehen», schrieb Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung (hg. aus dem handschriftlichen Nachlaß, 1858; Darmstadt 1983, 2 Bde., II 218), und fügte zur Erklärung hinzu: «es gibt höchstens Angst vor dem Bösen, aber es gibt keinen Muth zum Guten ohne vorausgegangene Rechtfertigung. Nur erst wenn der ganze gegenwärtige Zustand gerechtfertigt ist, kann es einzelne gute Werke geben.» Es ist diese psychologisch erstaunlich scharfsinnige Feststellung aus der Mitte des 19. Jhs., die 9

wir im Umgang mit uns selbst und mit den Menschen an unserer Seite nacharbeiten und durcharbeiten müssen, um die «größeren Werke» des Johannes-Evangeliums zu ermöglichen. Wohlgemerkt noch einmal: Es geht nicht um «Werke» im Sinne bestimmter «ordentlicher» oder «verordneter» «Leistungen», es geht im Gegenteil um die alles verändernde Erfahrung einer Wirklichkeit, die uns wirklich «leben» läßt ohne Vorleistungen. Das eben ist es, was der johanneische Jesus in der «Welt» beziehungsweise im Gespräch mit den «Juden» vermißt: daß sie «die Liebe Gottes» nicht in sich haben (Joh 5,42). Gerade dies aber ist die ganze «Sendung» des Mannes aus Nazaret: daß er kam «in der Wesensart» des «Vaters», um ein «Vertrauen» zu begründen, das den Menschen auf Gott hin durchsichtig macht, fähig, ihm «die Verherrlichung von dem einen Gott her» (Joh 5,44) zu ermöglichen. Es ist der alles verwandelnde Satz des ganzen Johannes-Evangeliums, den wir an entsprechender Stelle denn auch bereits gebührend hervorgehoben haben, wenn es in Joh 1,17 hieß: «das Gesetz ward durch Mose gegeben; die Gnade, die Unverborgenheit Gottes ward durch Jesus Christus.» Erst ein Vertrauen in die unverbrüchliche Zusage Gottes, leben zu dürfen, macht es möglich, die «Angst» der «Welt» mit all ihren neurotisierenden Verzerrungen zu durchschreiten. Kein Thema kann in der Auslegung des Johannes-Evangeliums daher wichtiger sein, als diesen «Zuspruch» Jesu von innen her verständlich zu machen und mit den Notlagen des menschlichen Daseins erfahrbar zu verknüpfen. Jeder, der das Johannes-Evangelium liest, sollte im Vertrauen auf den Mann aus Nazaret seinen «Geist» des Zuspruchs in sich aufnehmen als das kostbarste Vermächtnis, das seine Person, sein «Wort» und sein Wirken uns hinterlassen hat (Joh 7,39; 14,16.17; 16,7). Ausdrücklich heißt es dabei, daß die «Welt» gerade diesen «Geist der Unverborgenheit Gottes» «nicht empfangen» könne (Joh 14,17): «sie sieht ihn nicht, sie erkennt ihn nicht.» Auch darauf wird sozialpsychologisch, politisch, ökologisch, ökonomisch, auf allen Ebenen der Wirklichkeit, bei der Auslegung des Johannes-Evangeliums äußerster Wert zu legen sein: daß deutlich werde, wie konträr die Grundlage des Daseins, die sich mit der Person Jesu verbindet, sich zu der ganz «normalen», alltäglichen Selbstverständlichkeit der menschlichen Geschichte in Staat, Kirche und Gesellschaft verhält. Dem Johannes-Evangelium ist es nicht darum zu tun, dies und das in der Weltgeschichte und an der Weltwirklichkeit zu «reformieren», es ist die gesamte Basis, es ist das gesamte Verständnis unserer selbst, das sich ändern muß, wenn wir unsere Menschlichkeit (zurück-)gewinnen wollen. Kein Wunder, daß wir deshalb immer wieder die «Umwertung 10

aller Werte», mit welcher Friedrich Nietzsche das Christentum vom Kopf auf die Füße stellen wollte, zum Vergleich heranziehen können, um zu begreifen, welch eine «Umkehrung» aller Verhältnisse und allen Verhaltens das Johannes-Evangelium vorschlägt. Nehmen wir nur jenen «Frieden», den die «Welt» nicht «geben» kann, den aber der scheidende Christus seinen Jüngern vermittelt (Joh 14,27): Der «Friede» der Welt ist nichts anderes als ein ausbalanciertes Wechselspiel von Terror und Gegenterror, von wechselseitiger «Abschreckung», von der offen geäußerten und perfekt trainierten Bereitschaft zum Töten von Menschen in beliebigen Massen – ein paranoides Schlachthaus gegen die Symptome einer Angst, deren Gründe gerade so ins derart Gigantische gesteigert werden, daß bestenfalls der Waffenstillstand eines immer kostspieligeren und verlustreicheren Angst«friedens» daraus erwächst, der sich indessen als «praktische Vernunft», ja, als «politische Verantwortung» für pflichtgemäß und verbindlich, für (im schlimmsten Sinne) «notwendig» gibt. Die Spirale der Angst, die Mechanik der Verelendung der Welt, die Zunahme globaler Ungerechtigkeit, die Blutmühle einer ständig sich steigernden Gewalt dreht sich dabei immer tiefer in das Fleisch der Menschen und aller Kreaturen; selbst die «Kirche», kaum daß sie «Staat» werden wollte, erzeugte und verlangte Grausamkeiten aller Art. Dabei wäre es gerade die Aufgabe derer, die sich zu dem Mann aus Nazaret bekennen, eine Gegenwelt zu dieser «Welt» der «normalen» «Realität» im Sinne des Johannes-Evangeliums zu entwerfen. Aufgegriffen wird damit ein Motiv altisraelitischer Frömmigkeit, sollte das Volk der Erwählung doch selbst, geläutert durch das Verhältnis zu «seinem» Gott, ein «Licht» inmitten der Dunkelheit der «Völker» sein (Jes 2,1-5; 9,1). Man wird den Jesus des Johannes-Evangeliums nicht verstehen, solange man in seinen Bildreden und Zeichen nicht auch und gerade das Gespräch mit den Völkern, den Einfluß der «Heiden», des Hellenismus in den Tagen seiner Entstehung, vernimmt. «Einige Theologen», schrieb schon Schelling (a.a.O., II 189), «die von allen Gedanken an Heidnisches weit entfernt sind, sehen in manchen Wundern nicht Wichtigkeit genug, um sie gerechtfertigt zu finden», – so etwa das Weinwunder in Kana (Joh 2,1-12). «Man denkt nicht daran, daß an Christo das Heidenthum so viel Theil hat als das Judenthum, daß er aus dem Judenthum und jüdischen Vorstellungen allein nicht erklärbar ist. Das Judenthum gibt nur die Materie seiner Erscheinung, Er selbst aber ist die dem Judenthum fremde Potenz des Heidenthums.» In der Tat werden wir bei der Auslegung des JohannesEvangeliums, weit mehr als bei den Synoptikern, auf gewisse Parallelen zu 11

Überlieferungen und Vorstellungen insbesondere der Religion des Dionysos stoßen, doch auch des Asklepios und vor allem des Osiris. Die Sehnsucht der Alten Ägypter nach einer anderen Welt, nicht speziell das «Alte Testament», hat der Menschheit jene Bilder von einem «ewigen Leben», von einer «Auferstehung» und von einem «Gericht» geschenkt, die das Johannes-Evangelium aufgreift und auf seine Weise «christologisch» beziehungsweise christozentrisch deutet. Und das mit Recht. Denn auch die «Bilder», deren es sich bedient, blieben ein Teil der «Welt», würden sie nicht, gefiltert durch die Person des Mannes aus Nazaret, der Person eines jeden einzelnen Menschen zuinnerst zurückgegeben; rituell-äußerlich, aufgeführt als Veranstaltungen von Priesterbeamten und Kirchen«führern», stünden auch und gerade sie unweigerlich in der Gefahr magisch-doktrinärer Außenlenkung. In diesem Sinne hat man Johannes den «Apostel der Zukunft, der letzten Zeit», genannt, «wo das Christenthum Gegenstand allgemeiner Erkenntnis geworden, wo es nicht mehr das enge, verschrobene, verkümmerte, verdürftigte der bisherigen dogmatischen Schulen, noch weniger das in armselige, das Licht scheuende Formeln nothdürftig eingeschlossene, eben so wenig das zu einem Privatchristentum zugeschnitzte seyn wird, sondern erst wahrhaft öffentliche Religion – nicht als Staatsreligion, nicht als Hochkirche, sondern als Religion des Menschengeschlechts … Nach der Reformation können wir es nur so oder gar nicht mehr als unser achten.» (F. W. J. Schelling: A.a.O., II 328) Wenn wir statt vom «Menschengeschlecht» im Sinne des Deutschen Idealismus sprechen von der Religion jedes Einzelnen nach Art Sören Kierkegaards, so können wir diesem Buch in der Tat Schellings Vision als Wunsch voranstellen und damit zugleich das «gnostische» Erbe des Johannes-Evangeliums, zentriert auf die Person Jesu, aufgreifen: Möge die Deutung des Vierten Evangeliums beitragen zu einem tieferen Vertrauen in die abgründige Güte des Grunds unseres Daseins, ganz wie der Mann aus Nazaret es uns vermitteln wollte; möge sie Mut verleihen, allen Hindernissen zum Trotz an der Seite und nach dem Beispiel dieses Wendepunkts der menschlichen Geschichte in ihrer unmenschlichen Wirklichkeit das eigene Leben zu ergreifen; und möge sie ein Gefühl der Freude verbreiten, sein zu dürfen ohne Angst, ohne den Zwang zur Rechtfertigung, bejaht und geborgen in den Händen seines und unseres «Vaters» (Joh 20,17), überliebend das Leid, überreifend den Schmerz, verstehend sogar und vergebend die eigene Schuld wie die aller anderen (Joh 20,19-23), auf daß wir «als Vertrauende Leben» gewinnen «in der Wirklichkeit seines Wesens». (Joh 20,31) 12

Joh 11,1-54: Die Auferweckung des Lazarus – 1. Teil 1Da war jemand krank, Lazarus von Betanien, aus dem Dorf Mariens und ihrer Schwester Marta (Lk 10,38 f.). 2Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine Füße mit ihren Haaren getrocknet hatte (12,3; Mk 14,3-9; Lk 7,38). Deren Bruder Lazarus war krank. 3So sandten die Schwestern zu ihm, mit den Worten: Herr, da, dem du Freund bist, der ist krank. 4Als aber Jesus das hörte, hat er gesagt: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes (9,3), – damit der Sohn Gottes verherrlicht werde durch sie. 5Doch, es liebte Jesus Marta, ihre Schwester und Lazarus. 6Wie er also hörte, er sei krank, da blieb er sogar am Ort, wo er war, noch zwei Tage. 7Dann erst, danach, sagt er den Jüngern: Laßt uns nach Judäa ziehen, noch einmal. 8Sagen ihm die Jünger: Rabbi, eben noch zu steinigen suchten dich die Juden (die Gottesbesitzer), und noch einmal ziehst du dorthin (10,31)? 9Geantwortet hat Jesus: Sind nicht zwölf Stunden ein Tag? Wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er nicht an, denn er sieht das Licht dieser Welt (9,4.5). 10Wenn aber jemand in der Nacht umhergeht, stößt er an, denn das Licht ist nicht bei ihm (12,35). 11Das hat er gesagt. Und danach sagt er ihnen: Lazarus, unser Freund, hat sich zur Ruhe gelegt, doch gehe ich hin, um ihn vom Schlaf zu erwecken (Mt 9,24). 12Haben da die Jünger zu ihm gesagt: Herr, wenn er sich zur Ruhe gelegt hat, wird er gerettet werden. 13Gesprochen aber hatte Jesus von seinem Tod; sie aber dachten, er rede von der Ruhe des Schlafs. 14Daraufhin nun hat ihnen Jesus ganz offen gesagt: Lazarus ist verstorben, 15doch freue ich mich euretwegen, damit ihr Vertrauende werdet; (das ist’s,) warum ich nicht dort sein wollte. Doch nun gehen wir zu ihm. 16Gesagt hat da Thomas, der «Zwilling» genannt wird (20,24-28), zu den Mitjüngern: Laßt auch uns gehen, um zu sterben mit ihm. 17Als Jesus nun kam, fand er ihn schon seit vier Tagen im Grab liegen. 18Es war aber Betanien nahe bei Jerusalem, etwa 15 Stadien (3 km). 19Viele aber von den Juden waren gekommen zu Marta und Maria, um ihnen Mut zuzusprechen wegen des Bruders. 20Marta nun, wie sie hörte, Jesus komme, ging ihm entgegen; Maria aber blieb zu Hause sitzen. 21Gesagt hat da Marta zu Jesus: Herr, wenn du hier gewesen, – nicht wäre mein Bruder gestorben. 22Doch auch jetzt! Ich weiß, was immer du Gott bittest, wird dir Gott geben. 23Sagt ihr Jesus: Auferstehen wird dein Bruder. 24Sagt ihm Marta: Ich weiß, daß er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tage (5,28.29; 6,40; Mt

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22,23-33). 25Gesagt hat ihr Jesus: Ich bin die Auferstehung und das (unvergängliche) Leben. Wer auf mich vertraut, selbst wenn er stirbt, wird er leben. 26Und jeder, der lebt und auf mich vertraut, nein, der stirbt nicht – in Ewigkeit (8,51). Vertraust du darauf? 27Sagt sie ihm: Ja, Herr; ich bin zu dem Vertrauen gelangt, daß du Christus (der Messias), der Sohn Gottes, bist, der in die Welt kommen soll (Mt 16,16). 28Und als sie das gesagt hatte, ging sie fort und rief Maria, ihre Schwester; leise sagte sie: Der Lehrer ist da; er ruft dich. 29Sie aber, als sie das hörte, stand sie rasch auf und kam zu ihm. 30Noch aber war Jesus nicht ins Dorf gekommen, sondern er war noch am Ort, wo ihm Marta begegnet war. 31Die Juden nun, die bei ihr im Hause waren und ihr Mut zusprachen, wie sie Maria sahen, daß sie rasch aufstand und hinausging, sind ihr gefolgt; sie dachten, sie gehe zum Grab, um dort zu weinen. 32Maria nun, wie sie dahin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel ihm zu Füßen und sagte zu ihm: Herr, wenn du hier gewesen wärest, – nicht gestorben wär’ der Bruder. 33Jesus nun, wie er sie weinen sah und weinen auch die mit ihr gekommenen Juden, ward geistig aufgewühlt und erschüttert (13,21) 34und sagte: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sagen sie ihm: Herr, komm, sieh selbst! 35Da brach Jesus in Tränen aus. 36Sagten deswegen die Juden: Da, wie er ihm Freund war! 37Einige aber von ihnen haben gesagt: Konnte nicht er, der die Augen des Blinden geöffnet (9,1 ff.), bewirken, daß sogar dieser nicht sterben mußte? 38Jesus nun, erneut zuinnerst aufgewühlt, kommt an das Grab. Es war eine Höhle, und ein Stein lag darauf (Mt 27,60). 39Sagt Jesus: Hebt den Stein weg! Sagt ihm die Schwester des Verstorbenen, Marta: Herr, er riecht schon; viertägig doch ist er. 40Sagt ihr Jesus: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du vertraust, wirst du sehen – die Herrlichkeit Gottes? 41Hoben sie also den Stein weg. Jesus aber hob die Augen nach oben und hat gesagt: Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast. 42Ich wußte freilich, daß allezeit du mich erhörst, aber der Menge, der umstehenden, wegen habe ich so gesprochen, damit sie zum Vertrauen gelangen, daß du mich gesandt hast (12,30). 43Und als er das gesprochen, rief er mit mächtiger Stimme: Lazarus, komm heraus. 44Heraus kam der Verstorbene, gebunden an Füßen und Händen mit Streifen, und sein Gesicht mit einem Schweißtuch umwunden. Sagt ihnen Jesus: Macht ihn los; laßt ihn fortgehen. 45Viele da von den Juden, die zu Maria gekommen und geschaut hatten, was er getan, gelangten zum Vertrauen auf ihn. 46Einige aber von ihnen gingen fort zu den Pharisäern und sagten ihnen, was Jesus getan hatte. 47Da versammelten die Hohen Priester und die Pharisäer das Synhedrium (Mt 26,3-5); sie

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überlegten: Was tun wir? Denn dieser Mensch – viele Zeichenhandlungen vollbringt er! 48Wenn wir ihn lassen, so werden viele auf ihn vertrauen, so daß die Römer kommen und unser Land und Volk enteignen. 49Einer aber von ihnen, Kajaphas, der Hoher Priester jenes Jahres war, sprach zu ihnen: Ihr – nichts wißt ihr, nichts. 50Ihr bedenkt nicht einmal, daß es nur zuträglich für euch ist, daß ein Mensch stirbt für die Leute und nicht das ganze Volk zugrunde geht (18,14). 51Das aber sagte er nicht von sich aus, sondern als Hoher Priester jenes Jahres wahrsagte er, Jesus werde sterben für das Volk, 52und zwar nicht für das Volk allein, sondern auch, um die Kinder Gottes, die versprengten (7,35; Mt 9,36), zusammenzuführen zu eins (10,16; 1 Joh 2,2). 53Von jenem Tag an also waren sie willens, ihn zu töten. 54Jesus deshalb ging nicht mehr offen unter den Juden umher (7,4), sondern er ging weg von dort in ein Gebiet nahe der Wüste, nach Ephraim (2 Sam 13,23), so heißt die Stadt, und dort blieb er mit seinen Jüngern.

Das 11. Kapitel des Johannes-Evangeliums versucht auf seine Weise, das Sterben und das Auferstehen Jesu, Karfreitag und Ostern, so zu interpretieren, daß beides mitten in unserem Leben geschieht und daß diese Ereignisse und Erlebnisse in unserem Dasein zu einem Weg werden, um zu begreifen, was sich auf Golgota zugetragen hat. Vielleicht hat unter den gläubigen Dichtern des Abendlandes einzig der Russe Fjodor M. Dostojewski das Johannes-Evangelium traumnah und kongenial genug verstanden, um davon wie selbstverständlich zu gerade dieser Stelle geleitet zu werden. Für gewöhnlich erschöpft sich die Verkündigung Gottes und des Glaubens an Gott mehr oder minder darin, bestimmte Zustände der Welt feierlich ins Unendliche zu setzen. Von alters her existieren Bemühungen, Gott aus der Ordnung, aus der Zielgerichtetheit und aus der Schönheit der Welt zu beweisen. Alles ringsum, so betrachtet, spricht ungebrochen, vertrauenswürdig und solide von Gott als dem Schöpfer. Wer indessen das Johannes-Evangelium von der ersten Zeile an ernst nehmen will, wird spüren, daß die Menschen, zu denen der Vierte Evangelist redet, all das nicht glauben können; sie vertragen das, was wir «Schöpfung» nennen, überhaupt nur, wenn sie, wie erwachend aus einem Alptraum, sich sehen dürfen mit und unter den Augen des Mannes aus Nazaret. Er einzig gilt dem Johannes-Evangelium für das Licht, für das Leben, für das Brot, für den Wein … Paul Tillich hat einmal nebeneinander gestellt die katholische Art, fromm zu sein, und die protestantische Art, sich zu Gott zu bekennen. 15

Katholisch, meinte er, sei es, fest verwurzelt sich zu fühlen in der Erde; aus ihr sauge man alles, die ganze Geschichte, das Heidentum, die Natürlichkeit, die Kreatürlichkeit, die Kraft des Menschlichen. Protestantisch indessen sei es, zu wissen, daß alles das trügerisch sei; um den Menschen zu verstehen, müsse man durchleben, was Angst und Verzweiflung sei; nur auf der Grenze empfinde man die Beunruhigung, die einen Menschen zum Protestanten forme1. Die ganze Religion gleicht, so betrachtet, einem Experiment, das man vor langer Zeit schon gemacht hat, um zu erforschen, wovon Bäume wirklich leben. Die Volksmeinung gab sich sicher, Bäume lebten von der Erde – wozu sonst auch benötigten sie Wurzeln? –, und zudem benötigten sie Luft, so wie die Menschen auch. Es bedurfte eines tieferen Nachdenkens, um herauszufinden, daß es sich keineswegs so verhält. Die Erde ist für die Bäume nur sekundär von Bedeutung; was sie unbedingt brauchen, ist Wasser und Kohlenstoffdioxid, gerade nicht den Sauerstoff, den wir Menschen einatmen müssen. Eigentlich ernähren sich die Bäume, indem sie Kohlenstoffdioxid aufnehmen, gerade von dem, was für unsere Lungen wie Gift wirkt; aber Gott sei Dank tun sie das; denn unter der Energiezufuhr des Sonnenlichts vermögen sie, allein aus Wasser und Kohlenstoffdioxid, Zucker (Kohlenhydrate) zu synthetisieren, wobei sie quasi als Abfallprodukt Sauerstoff abgeben. Das Johannes-Evangelium ist ein solches «Experiment» auf die Lebensgrundlagen, indem es alles wegtut, was uns täuschen könnte, und nur noch übrigläßt, was für das menschliche Leben wirklich Geltung besitzt. Schon daß ein solcher Versuch ersonnen werden kann, ist unerhört; wir aber müssen begreifen, warum er nötig ist. Die übliche Form der Religion besteht darin, von allem, was geschieht, zu sagen, es sei von Gott: Gott habe es gewollt, Gott habe es gesegnet, es stehe unter seinem Schutz. – Die Menschen führen Krieg, aber Gott will es so. Die Menschen, jeder in seinem Volk, beten zu Gott um den Sieg, aber Gott wird sie alle behüten und beschützen. – Es gibt die Tradition; sie erstickt die Menschen förmlich, aber auch sie ist von Gott; und die Religion bestätigt sich in ihr, indem sie sich selbst auf diese Weise in der Zeit dauerhaft verankert. – Die Menschen streben nach Macht und nach Geld, aber gerade auch das Geld hat Gott gesegnet, und auf die Throne hat er just die gesetzt, die er durch sein Gnadentum erwählt hat. Was also sollte da so verachtenswert sein an Geld und an Macht? Geld ist eine gute Gabe Gottes, und wer Geld besitzt, scheint von Gott bevorzugt. Und ebenso, wer das Zeug hat, Macht zu erhalten und Macht zu behalten. – Die Menschen 16

möchten sich zusammenhudeln in großen Haufen, also wird auch der Massenauflauf selber von Gott gewollt sein und für ein religiöses Bekenntnis gelten müssen: – je mehr Proselyten und Gefolgsleute, je effektiver die Massenhysterie und die Propaganda, desto göttlicher beglaubigt sich vermeintlich die «Verkündigung». – Die Menschen möchten «objektive» Beweise und Fakten, um sich Gottes zu versichern; Aberglauben und Magie sind ihnen das Übliche, doch auch und gerade das wird von Gott gebilligt … Immer wieder erleichtert sich die institutionalisierte Religion die Aufgabe: sie beruhigt die Menschen mit vorgetäuschten Sicherheiten, sie vergegenständlicht das Göttliche, und am Ende fördert sie nicht das Leben, sondern sie bewirkt die Zerstörung der Seele. Sie läßt die Menschen nicht zu sich selber kommen, indem sie ihre Angst, eine individuelle Person auszubilden, an die Scheinberuhigungen von Institution und Amt bindet, und diese vermeintliche Erleichterung des Lebens wird, je erfolgreicher, desto umfassender, zu einer erstickenden Belastung von Entfremdung und Außenlenkung. Dieser Zustand steht Johannes vor Augen; eben deshalb redet er von Gott so vollkommen anders, so unerhört schmerzhaft vermeintlich, und so unglaublich befreiend, wenn man es richtig versteht. Alle diejenigen jedenfalls, deren Leben wie durch ein Erdbeben erschüttert ward, werden das Johannes-Evangelium brauchen wie ein Medikament. Von der Art ohne Zweifel war Dostojewski. In seinen Werken erschuf er, literaturgeschichtlich gesehen, einen ganz neuen Typ des Menschseins, ohne Vorgänger vor ihm und ohne Nachahmer nach ihm. Die Dostojewskischen Menschen lehnen sich nicht an die Wände der Welt, um sich zu stützen, – ihnen sind sie wie zerbrochen, wie luftig geworden. Sie beruhigen sich nicht in der Natur draußen, sie brüten förmlich in dumpfen Höhlen vor sich hin, ständig im Grübeln mit sich selbst und im Gespräch mit den wenigen Menschen an ihrer Seite; mit diesen aber fühlen sie sich oft wie telepathisch verflochten. Erschöpfung des Körpers scheint ihnen fremd; sie reden, als bestünden sie nur aus Geist, als müßten sie den Stoff erst erschaffen, um in ihm ihren Leib gestalten zu können2. Eine einzige Frage hat den Dichter Dostojewski als glaubensuchenden und gläubig suchenden Menschen bewegt, – die Frage: Gibt es eine Auferstehung von den Toten? Für Dostojewski bildete sie den Prüfstein, ob es Gott überhaupt gibt. Immer wieder in seinen Romanen, in seinen Essays entwickelt er zum Teil skurrile Gestalten, die zeigen, wie ein ganzes Leben sich voller Leid und Leidenschaft um diese Frage rankt. Er beantwortet sie aber nicht positiv, er geht nicht aus von der Majestät des Daseins, von 17

einem dankbaren Glück, leben zu dürfen, das sich wie von selbst fortspinnt ins Jenseits, sondern vollkommen umgekehrt. Dostojewski fragt: Was wird aus den Menschen, wenn sie keine Perspektive über den Tod hinaus haben, wenn das gesamte Leben, wenn die irdische Existenz im ganzen nichts weiter ist als eine Totenkammer? Halten Menschen, die sich dessen inne werden, eine solche Einsicht überhaupt aus? Wie können sie sie vertragen, ohne daran irre zu werden, ohne darüber dem Wahnsinn zu verfallen? Wir lesen beispielsweise den Roman Der Idiot, dessen Schlüsselgestalt Fürst Myschkin für Dostojewski auf ideale Weise eine Christus-Existenz verkörpert. Ihm zur Seite lebt Ippolit, ein junger Mann, von dem die Ärzte sagen, er habe aufgrund seiner Lungentuberkulose höchstens noch drei, vier Wochen Zeit zu leben. Ippolit fragt immer wieder, welch einen Sinn denn sein Leben haben soll. Jung wie er ist, intelligent wie er ist, hätte er einer ganzen Menschheit so unendlich viel zu geben, und er würde das hochherzig tun, selbstlos und voller Ideale, doch über ihm liegt die Natur wie eine Spinne und hat ihr Netz über ihn geworfen, und je mehr er darin zappelt, desto aussichtsloser wird er sich darin verfangen. Er müßte jeden Schritt langsam gehen, er müßte diätetisch leben, aber wofür, wenn es nur dazu beiträgt, noch einen Tag länger, noch einen Tag sinnloser nach Atemluft zu röcheln? Was soll das ganze Leben, wenn es nur dazu da ist, den Menschen klarzumachen, wie vergänglich sie sind und wie sinnlos ihr Dasein ist? Wenn alles ohnehin auf den Tod zuläuft, warum dann nicht gleich Schluß machen? Ippolit erschreckt die Zeitgenossen immer wieder mit dem Terzerol, das er bei sich führt; irgendwann wird er es an seine Schläfe halten und abdrücken. Die anderen sind genervt von seinen Darbietungen, von seinen existentiellen Schauern. Sie wollen es nicht hören, sie vertragen es nicht. Aber Dostojewski möchte, daß man für Ippolit Verständnis gewinnt, um sich zu fragen, wofür und woraus ein Mensch zu leben vermag3. Als der russische Dichter bis zu diesem Punkt seiner herausfordernden Gedanken gelangt war, ging er noch einen Schritt weiter; er gab, kaum verkäuflich, aber mit unermüdlichem Fleiß, eine eigene Schriftenreihe heraus: Tagebuch eines Schriftstellers; darin erdachte er die Gestalt eines jungen Studenten, der Bilanz zieht und genauso wie Ippolit sich in einer Welt nicht zurechtfindet, in welcher der Tod regiert. Man müßte, denkt er, denjenigen ins Gericht vorladen, der die Welt so eingerichtet hat, daß in ihr denkende Menschen in den Tod entlassen werden, Lebewesen, die nicht nur auf den Tod hinleben, sondern die jede Sekunde mit dem Tod leben müssen. Ganz hellwach sehen sie stets den Abgrund, der sich vor ihren Füßen öffnet und 18

sie über kurz oder lang verschlingen wird. Dieser junge Student in Dostojewskis Gedankenexperiment will sein Leben wie eine Eintrittskarte zurückgeben, die man ihm ungefragt in die Hand gedrückt hat für ein Schauspiel, das er nicht länger mitansehen will; er möchte gewissermaßen den Theaterintendanten selber sprechen, nur weiß er, daß dieses Gespräch niemals stattfinden wird. Die Natur wird weder reden noch hören, sie ist, wie sie ist, – einfach stumm, schlimmer: einfach gleichgültig. Sie ist nicht einmal grausam, man kann ihr das, was sie tut, nicht einmal vorwerfen4. Dostojewski hat diese Geschichte geschrieben mit dem Ergebnis, daß die Rezensenten seiner Zeit sich empörten. Was da geschildert werde, sei kein optimistischer junger Mann, der in die Zukunft blicke, wie es sich gehöre, er sei kein positiver Charakter, der den Staat begründe, der an Rußland und an die Welt glaube; mit Leuten, wie Dostojewski sie ersinne, könne man rein gar nichts machen, weder Wirtschaft noch Politik noch auch Literatur. Überhaupt nur der Erfinder und Autor von den Dämonen könne sich Menschen ausdenken wie diesen Studenten. – Dostojewski antwortete darauf mit der Frage, ob man denn nicht begreife, daß dieser Student Probleme ausspreche, die sich jedem stellen müßten, wenn er nachdenke? Ob man nicht verstanden habe, daß alles, was er sage, ein einziger Schrei nach einer Hoffnung sei, die freilich die Gutbürgerlichen gar nicht benötigten? Wenn es doch, schrieb Dostojewski, der natürliche und gesunde Zustand des Menschen sei, an ein ewiges Leben zu glauben, wenn sich zeige, daß der Mensch ohne diesen Glauben bis in sein Innerstes deformiert werde, wenn sich förmlich beweisen lasse, daß er wahnsinnig werde als denkender Mensch in einer Welt, die sich offensichtlich über sein Suchen und Fragen geradewegs amüsiere, gehe daraus dann nicht unfehlbar hervor, daß wir Menschen den Gedanken der Unsterblichkeit brauchten, um überhaupt leben zu können, und daß dies eine ebenso elementare Sehnsucht sei wie das Verlangen des Körpers nach Wasser und Brot? Gehe nicht aus der Dunkelheit des Abgrunds geradewegs hervor, wie hell das Licht sei, das sich darin spiegele?5 In den Brüdern Karamasow konnte Dostojewski an einer zentralen Stelle einmal eine verzweifelte Frau dem Starez Sosima zuführen. Vollkommen aufgelöst, klagt sie: «Was ist denn mit den neu-modernen Ideen, die da behaupten: ‹Alles ist nur Stoff und nur Materie, und eine Seele existiert gar nicht wirklich, im Tod wird man dich verscharren, und auf dem Grab werden die Kletten wachsen›? Ist denn das wahr?» Starez Sosima weiß es nicht besser, als dieser Frau zu versichern, daß es nicht wahr sei, aber daß man davon, so zu denken über den Menschen und über das Leben, nur 19

wegkomme, wenn es gelinge, mindestens einen Menschen an seiner Seite wirklich lieb zu haben. «Drum: mit den Taten der Liebe werden Sie den Glauben an ein ewiges Leben wiederfinden», verspricht ihr der Mönch6. – Dabei redet Dostojewski bis dahin von dem Entwurf einer Hoffnung jenseits des Todes, und er ist sich doch vollkommen klar, daß alles, was er meint, in diesem Leben selber, mitten darin, sich bewahrheiten und prüfen lassen muß. «Können wir denn Güte und Moral», fragt er, «überhaupt aufrechterhalten ohne einen solchen Glauben? Werden wir nicht voller Gier uns festpressen in dieses Leben, um herauszuholen, was irgend geht? – Du, Brüderchen», läßt er einmal sagen, «wenn es kein ewiges Leben gibt, wirst du auf jedes Schweineschnitzel die Preise erhöhen, und ich frage mich, warum solltest du das auch nicht tun, Brüderchen. Es ist ja geradezu deine Pflicht, für dich zu sorgen, solange du kannst.»7 Wäre der Raubtierzustand für den Menschen nicht die einzige Auskunft, die uns noch bliebe, wenn der Tod das letzte Wort über uns behielte? Gälte dann nicht das Kämpfen um die Macht und den Erhalt des Lebens notwendigerweise für das Äußerste und Letzte? – Es gibt kaum einen Autor wie Dostojewski, für den das religiöse Fragen sich so verdichtet, daß es zur Psychologie, zum Existenzentwurf wird, und umgekehrt, bei dem die Psychologie bis in einen solchen Abgrund hineingetrieben wird, daß sie den Himmel braucht, um menschlich zu bleiben. Warum diese Extreme? müssen wir uns fragen, wenn wir die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus miteinander lesen. Sie beginnt mit dem Äußersten, was Menschen zugemutet werden kann: mit dem Tod. Da ist in Betanien, nahe bei Jerusalem, ein Geschwisterpaar, Maria und Marta, und ihr Bruder Lazarus. Offensichtlich setzt das Johannes-Evangelium an dieser Stelle eine Legende als bekannt voraus, die uns im 7. Kapitel des LukasEvangeliums erzählt wird, die aber bei Johannes selber nicht mehr aufgegriffen wird. Es kam damals, berichtet uns Lukas (Lk 7,36-50), eine Frau zu Jesus, gerade als er im Kreise der Pharisäer zu Tisch lag. Diese Frau aber war eine stadtbekannte Hure. Das Johannes-Evangelium spricht von diesem Hintergrund gar nicht, und doch verdient er, in Erinnerung gerufen zu werden, denn es ist ein tiefsinniger, vorweggenommener Kommentar auf eine bestimmte Art, mitten im Leben zu sterben und mitten darinnen das Leben noch einmal neu zu lernen. – In jener «Dirne» im Lukas-Evangelium sollten wir uns eine Frau denken, die ihr Leben wegwirft, indem sie es anderen zu Füßen legt; es ist ihre einzige Art zu überleben, daß sie sich an die Schande gewöhnt, daß sie jeden Stolz verliert und es hinzunehmen lernt, die Doppelmoral der «guten 20

Gesellschaft» am eigenen Leibe zu bedienen; Tag um Tag erfährt sie den Haß der moralisch Gesonnenen auf sich selbst, erlebt sie die Ohnmacht von Männern gegenüber ihren eigenen Trieben. Was ist gut, was ist böse in dieser Welt? Es gibt kaum ein zweites derart sprechendes Symbol für die Entehrung eines Menschen und für seine Ausgeliefertheit als diesen vollkommenen Außenseiter-Status einer Dirnenexistenz. Für diese Frau im Lukas-Evangelium gibt es keinen Rückweg mehr. Sie müßte nach den damals gültigen Regeln der Rabbinen ihr ganzes Leben ändern, und das vermag sie nicht. Ihre Vergangenheit klebt an ihr wie Pech, das sich nicht mehr abwaschen läßt; alle anderen haben sie längst auf ihre Rolle festgeschrieben; man braucht sie und man mißbraucht sie, und man will sie gar nicht anders mehr denn so. Selbst wer an ihr vorübergeht, bestätigt sich noch in gewissem Sinne seine eigene moralische Festigkeit, – er braucht sie, selbst wenn er sich nicht mit ihr einläßt, als Konterfei seines eigenen Stolzes und Rechtverhaltens. – Man muß sich ausmalen, was in der Seele einer Frau vor sich geht, die hört, daß Jesus in ihr Dorf kommt, und die sogleich beschließt, zu ihm zu gehen, – an den Pharisäern vorbei, egal, wer bei ihm ist, wenn sie nur zu ihm gelangen kann! Und sie wird Salböl nehmen, um sein Haupt zu salben wie das Haupt eines Königs. Denn er wird sie nicht verurteilen, er wird sie verstehen, er wird zu ihr stehen; – er ist der einzige, von dem sie so denken kann. So ihre Hoffnung. Doch kaum betritt sie den Raum und sieht den Kreis der Frommen um Jesus, da bricht es aus ihr heraus: alle Verzweiflung, alle Haltlosigkeit, alles Weinen. Sie wirft sich vor Jesus zu Boden und trocknet ihm die tränenbenetzten Füße mit ihren Haaren. Dieses Detail greift Johannes hier auf, und wir müßten denken, Maria in Betanien sei gerade diejenige, über welche Jesus die Worte gesprochen hätte: Ihre vielen Sünden hat Gott ihr vergeben, denn sie hat viel geliebt. (Lk 7,47) Die Erzählung bei Lukas liest sich als Vorbild, wie jemand aus einem Leben, das keines ist, aus Tod und Ausweglosigkeit, hinfindet zu dem Glauben an eine Liebe, die schenkt statt zu schänden, an eine Gemeinsamkeit, die erhebt statt niederzutreten, an ein Vertrauen, das trägt statt zu trügen. Tatsächlich aber ist das Schwesternpaar Maria und Marta im Johannes-Evangelium in die Zeugenschaft einer ganz anderen Erzählung gestellt. Im Lukas-Evangelium (10,38-42) treten die beiden Schwestern in (irgend)einem Dorf auf, als Jesus bei ihnen zu Gast ist; doch während Marta den Herrn bewirtet, setzt sich Maria zu seinen Füßen, um ihm zuzuhören. Sie hat, meint Jesus, den besten Teil erwählt und gilt seither als Verkörperung der kontemplativen Lebensführung im Kontrast zu dem ak21

tiven Tun, das in Marta personifiziert ist. Die Polarität von Aktiv und Passiv, von Extraversion und Introversion durchzieht auch das JohannesEvangelium, wie wir noch sehen werden; hier aber geht es um die Einstellung gegenüber dem Tod. Lazarus nämlich ist krank, und man versteht von Anfang an, daß diese Krankheit, die tödlich ist und in den Augen Jesu doch nicht zum Tode sein soll, eine Krankheit mehr der Seele denn des Körpers darstellt. Aber zwischen diesen beiden Ebenen, zwischen innen und außen, changiert dieser Text immer wieder, irreführend und klärend, verwirrend und leitend. Was tun wir, wenn der liebste Mensch an unserer Seite heimgesucht werden kann durch die Vorboten des Todes, durch Krankheit und Zerbrechlichkeit, – durch Sterblichkeit in jeder Form? Es ist ein Problem, das sich den Menschen am Krankenbett tagaus, tagein stellt, und einem jeden, der einen anderen liebt, mehr oder minder desgleichen. All das, was wir tun, ist so überaus hinfällig, und wir selber werden letztlich dagegen überhaupt nichts machen können. Ein Arzt kann sich bemühen, um das Leben einer Frau mit drei Kindern zu kämpfen, um das Leben eines Mannes, der für seine Angehörigen verantwortlich ist, – aber ob es diesem Arzt mit den Möglichkeiten, die heute bestehen, gelingen wird, ein Leben zu retten, wer weiß das? Am Ende warten wir alle, wie ein Schicksal, das wir nicht in der Hand haben, sich entscheidet. Aber um so wichtiger wird die Frage hier: was tut Gott? wo bleibt Gott? und es sind furchtbare Stunden, zwei furchtbare Tage, in denen der Himmel gewissermaßen wie verschlossen sich wölbt über diese beiden Menschen: über Maria und Marta. Unbegreifbar in dieser Geschichte mutet es zunächst an, daß Jesus, anstatt unverzüglich an das Krankenlager seines eigenen Freundes zu eilen, wartet und wartet und gar nichts tut, wie um die Not bis zum äußersten zu treiben, um gerade im Negativen, im Abgrund, erscheinen zu lassen, was er nennt «die Verherrlichung Gottes», wie um zu erweisen, daß er, der Gesandte, der Sohn Gottes, das Leben selber ist. Da haben wir sie wieder – diese unerbittliche johanneische Klärung: alles wegzulassen, was wir sonst «Leben» nennen würden. Wir kennen solche Phasen des Zögerns im Umgang miteinander oft genug. Womöglich finden wir unseren eigenen Freund, unsere eigene Freundin in einer schweren Krise; wir möchten helfen, natürlich, doch wir begreifen zugleich, daß überhaupt nichts auszurichten ist. Alles Äußere wäre jetzt nichts weiter als eine Ablenkung. Irgendeine Maßnahme zu erfinden und dem anderen zu sagen: «Du mußt jetzt aber dies tun oder das tun, und wenn du das nicht tust, dann kannst du nicht gesund werden», all 22

das erwiese sich als völlig sinnlos. Wenn jetzt etwas zu machen ist, dann muß es sich ganz von innen her ereignen. Unsere Seele verhält sich in diesem Punkte nicht viel anders als unser Körper, beide wissen im Grunde, was ihnen guttut, und sie organisieren sich selbst. Schlaf ist eigentlich nichts anderes als der Versuch, es dem Körper und der Seele selbst zu überlassen, sich zu beschaffen, was ihnen nach Entkräftung, nach Schwäche, nach Krankheit effektiv hilft. Herr, wenn er sich zur Ruhe gelegt hat, sagen die Jünger zu Jesus, wird er gerettet werden. Es tut ihm selber gut. Aber der Schlaf ist zugleich in einem alten mythischen Bild der Bruder des Todes. Es ist erschütternd, sich rein kreatürlich klarzumachen, so seien wir alle in dieser Welt: in Abständen von spätestens sechzehn Stunden müssen wir schlafen, und alle werden wir es tun. Menschen können untereinander so verschieden sein. Oft haben sie so viel Angst voreinander, denn sie halten den einen für kriminell und gefährlich, den anderen für bösartig und hinterhältig, einen dritten wieder für hilfreich und brauchbar – und all diese Kategorien trennen die Menschen so weit voneinander. Träfen wir indessen jemanden, den womöglich die Polizei schon steckbrieflich suchte, nur einmal schlafend an, wehrlos wie ein Kind, unschuldig wie ein Kind, so würden wir plötzlich jenseits all der moralischen und juristischen Wertungen einer Gemeinsamkeit des Fühlens und Empfindens zurückgegeben, die uns sagt, was es heißt, Kreatur zu sein, abhängig zu sein, hilfsbedürftig zu sein, erschöpft zu sein, – Mensch zu sein. Seit Urzeiten hat man geglaubt, der Tod sei im Grunde nichts weiter als ein solches Einschlafen im Entschlafen, das sich von selbst fortsetze in einem gestärkten Sich-Erheben; aber genau das ist es, was der johanneische Jesus nicht sagen will. Es geht ihm nicht um einen einfachen Naturablauf, es geht ihm um eine bittere Korrektur des mythischen Trostes. Der Tod ist kein Schlaf. Der französische Existentialist Albert Camus im Mythos von Sisyphos, als er die Probe auf die Absurdität des menschlichen Daseins machte, konnte die Illusion vom Tod als Schlaf mit ein paar Zeilen hinwegfegen, – all die frommen Wünsche, die sich um das kalte Faktum ranken, daß ein Mensch stirbt; «der Tod ist so endgültig», meinte er, «daß nicht einmal die Ohrfeige auf dem Gesicht eines Verstorbenen noch irgendeine Spur hinterläßt. Darauf gilt es zu antworten – nicht ob die Welt sich zerlegt in zwölf oder in vierzehn Kategorien, sondern was man sagt gegenüber dem Tod, gegenüber der blutigen Mathematik über unseren Häuptern»8. Jesus hingegen erklärt an dieser Stelle: doch gehe ich hin, um ihn vom 23

Schlaf zu erwecken. Es geht um die Widerlegung einer bestimmten Weltsicht, die rein resignativ und um so verzweifelter dem Tod gegenübersteht, als sie am liebsten die Augen verschließen möchte und sich nur noch bleischwer und müde fühlt. Selbst wenn sie heroisch gegen die Zumutung des irdischen Daseins ankämpfen mag, – im Grunde verschleißt sie sich selbst. Aufwecken hingegen – das ist soviel, wie es schon in der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1-17) anklang: es gilt, etwas zu sehen, das über diese «Welt» weit hinausreicht. Der Grund dafür ist nicht schwer zu beschreiben: Wenn wir uns auf die Verzweiflung eines Menschen wirklich einlassen wollen, so dürfen wir selbst keine Angst haben. Der johanneische Kommentar an dieser Stelle läuft in eben diese Richtung. «Du willst», fragen die Jünger, «nach Judäa gehen, wo doch gerade die Juden dich zu steinigen suchten?» Und Jesus erklärt: «Genau das. Sind nicht zwölf Stunden ein Tag? Wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er nicht an, denn er sieht das Licht dieser Welt. Der Tag hat nur zwölf Stunden, und man muß handeln, solange das Licht leuchtet, es gibt keinen Aufschub.» Plötzlich spüren wir, was «Aufwecken» bedeutet: Es soll keine Irritation mehr durch die Angst vor dem Tod geben, vor allem nicht vor dem Tod, der sich in anderen Menschen verkörpert. Was können sie uns denn tun? – Sie können unser Leben scheinbar entwerten, sie können es so ins gar Nichts stoßen, so sehr ins Vergessen hineindrücken, daß wir am Ende selber nicht mehr wissen, wer wir sind. Wir flüchten dann ins Dunkel, wir schleichen uns wie unentdeckt durchs Leben, wir suchen wie lichtscheue Nachttiere den Schatten. Am Ende, meint der johanneische Jesus, haben wir kein Licht mehr bei uns. Es geht selbstredend dabei nicht um die Beleuchtungsverhältnisse bei Tag oder Nacht, es geht um unsere Lebenseinstellung. Man kann einen Menschen nur aufwecken, wenn man selber durchflutet ist von Angstfreiheit, von Zugehörigkeit zum Tag, von «Licht»: von dem Glauben an das «Licht». Thomas begreift den Zusammenhang an dieser Stelle sehr deutlich, wenn er sagt: «Laßt auch uns gehen, um zu sterben mit ihm.» Der Entschluß gilt, daß keine Gefahr mehr nötigen soll, vor dem Äußersten zurückzuweichen. Und diese Entschlossenheit ist der Anfang, gewissermaßen die therapeutische Voraussetzung, um dem standzuhalten, was sich in Betanien begeben wird. Dort, in der Ferne, warten die zwei Schwestern, Maria und Marta. Es müssen zwei sein, weil alles, was hier geschieht, wie gebrochen erlebt wird, ganz so, wie wir es später im 20. Kapitel des Johannes-Evangeliums (20,210) noch einmal von den Jüngern erzählt bekommen werden; da sind es 24

zwei Männer, der «Lieblingsjünger» und Petrus, die zum Grab eilen und beide von verschiedenen Seiten her Zeugnis ablegen sollen für ein und dieselbe Erfahrung; es ist die schon erwähnte lukanische Polarität der zwei gegensätzlichen, doch komplementären Einstellungen unserer Psyche. Da hört als erste Marta, Jesus sei gekommen, und sie geht ihm entgegen, voller Schmerz, voller Kummer, mit einer Klage auf den Lippen, die ihren Glauben ebenso verrät wie ihre Verzweiflung: Herr, wenn du hier gewesen, – nicht wäre mein Bruder gestorben. Schon daß so etwas sein kann, ist empörend, – dieses unglaubliche Zu-Spät! Ein Mensch sucht die Nähe eines anderen, doch dieser versäumt es, innerhalb der erforderlichen Frist zu erscheinen. Man traut ihm zu, er hätte das endgültige Nein vielleicht noch aufhalten und umformen können, aber er war im entscheidenden Augenblick nicht zugegen. Doch was Marta zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, ist die Ungeheuerlichkeit, daß Jesus beim Tode des Lazarus gar nicht zugegen sein wollte, um keinen falschen Trost zu spenden. So geschieht es ja in all der Zeit: die «Juden» («die Menschen, die Gott religiös verwalten», müssen wir diese Chiffre immer wieder übersetzen) sitzen in großer Schar bei den beiden Geschwistern und spenden «Zuspruch». Das ist soviel, wie es das Fernsehen regelmäßig vermeldet, wenn in höheren Kreisen irgend etwas Entsetzliches geschehen ist; dann wird ein Kardinal oder ein Bischof die trauernde Witwe besuchen und ihr «Trost zusprechen», und es wird mit sonorem Baß der Nachrichtensprecher diese Meldung auch so verkünden. Solche Art von «Zuspruch» ist für Jesus geradewegs das Anstößige, das Benebelnde,– das Ästhetische, hätte Kierkegaard gesagt. Es gilt, klar zu sehen: der Tod ist der Tod. Aber wie hält man ihm stand? Der «Zuspruch», wie er für gewöhnlich ausfällt, ist bekannt: «Es wird wieder einen Frühling geben; der Winter geht vorbei; man muß an etwas glauben, und vielleicht: – wer weiß, wofür es gut war, und daß es auch jetzt kam, und die Zeit heilt alle Wunden …» – wem aber nützt denn all das, wenn er Bilanz zieht? Von dieser Rederei will Jesus nichts hören, sie regt ihn auf, und damit wir ganz klar sehen, damit die Helligkeit uns wirklich erreicht, läßt er zwei Tage lang im Gar-nichts-Tun dahindämmern. Auferstehen wird dein Bruder, sagt Jesus zu Marta; sie aber antwortet, wie sie es gelernt hat: Ich weiß, daß er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tage. Das ist das Bekenntnis, das jedem Kind in den biblischen Religionen beigebracht wird; aber was ist das für ein Glaube, der, wie es die Samariterin am Jakobsbrunnen schilderte (Joh 4,25), das Leben sehr, sehr weit entfernt erwartet, ohne Rückwirkung auf die Art zu 25

fühlen, auf die Weise zu denken, auf die Fähigkeit, im Augenblick zu leben? An dieser Stelle spricht Jesus es ganz klar aus: Ich bin die Auferstehung und das (unvergängliche) Leben. Wer auf mich vertraut, selbst wenn er stirbt, wird er leben. Wenn wir uns fragen, wie denn diese paradoxe Aussage zu verstehen sei, es gebe gar keinen Tod für den, der wirklich glaube, so müssen wir sagen: «Es gilt, eine Entdeckung zu machen: Das, was wir sind, kann und wird uns niemand rauben; das, was wir richtig vor uns sehen, läßt sich von außen nicht zerstören; es gilt einfach in sich. Das ewige Leben kommt nicht, es wartet nicht bis nach dem Leben, es ist jetzt.» Das ist das ganze Johannes-Evangelium: das Aufwachen jetzt, das Hinübergehen durch die Todesangst, durch die Todesschranke jetzt. Vielleicht gibt es derzeit (um 2000 nach Christus) kaum ein besseres Vorbild für das, was da gemeint ist, als einen alten Mann in der Türkei. Er war im Jahre 2000 85 Jahre alt, Yas¸ar Kemal. Dieser Mann hat in den Augen des türkischen Militärs seit Jahren eine «Schuld» auf sich geladen: er hat eine kurdische Mutter, und er tritt dafür ein, daß Kurden ihre kurdische Sprache reden und ihre mehr als 3000 Jahre alte Kultur pflegen dürfen und daß sie, weil es von ihnen mehr als 16 Millionen Menschen gibt, ein Volk sein dürfen. Das sei ihr Menschenrecht, findet Yas¸ar Kemal, Nobelpreisträger für Literatur, einer der ganz wenigen, die auf Türkisch so reden, daß es die Welt erreicht; doch es erreicht mitnichten natürlich die Regierenden in Ankara. Die befinden, daß Yas¸ar Kemal ein Schädling ist, ein Unruhestifter, ein Aufrührer. In Deutschland würde er derzeit gewiß als Mitglied der verdächtigen PKK abgeschoben. Noch im Jahr 1996 hat ein türkisches Gericht Yas¸ar Kemal zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt, mit Bewährung. Er aber sagte: «Die Bewährung macht keinen Sinn: Wenn die ganze Türkei ein Gefängnis ist, dann wird das Gefängnis zum einzigen Ort der Freiheit. Sperrt mich ein, und ich werde ungestört Bücher schreiben. Denn was in meinem Kopfe ist, kerkert ihr nicht ein.» – Da ist das Alter und die Krankheit und die Schwäche, da ist selbst die Drohung mit der Folter und mit der Vernichtung eines ganzen Lebenswerkes kein Argument gegen ein richtig geführtes Leben. Es gibt keinen «Tod» für Yas¸ar Kemal. Es gibt vielmehr etwas zu tun, unbedingt heute und ohne jede Furcht. Das ist Aufwachen, das ist wie aus einem Schlaf sich Erheben, das ist Geradestehen. Wo dieser Mann eine solche Haltung gelernt hat, weiß man nicht, ob im Koran – vielleicht, ob aus der Not der Menschen – auf jeden Fall. Das Johannes-Evangelium meint, Jesus sei ein solches zum Kristall gewordenes Leuchten Gottes unter uns Menschen; so habe er es gemacht, 26

und wenn es irgendeinen Grund für uns gebe, richtig zu leben, dann sei er es – eine gestaltgewordene Aufforderung, fast bis zum Sinnlosen etwas zu tun außerhalb der gewohnten Ordnung. Da wird nicht auf ein Jenseits gehofft, sondern diese jenseitige Welt bricht in die uns vertrauten Zusammenhänge ein, und sie zeigt, daß Menschen auf sich selbst zurückkommen können, wie vom Himmel auf die Erde. Das ist der Sinn des alten mythischen Bildes von dem Menschensohn, der vom Himmel zu uns gesandt wird; – es geht um die Frage, wie wir selbst uns verstehen: als bloße Kreaturen dieses unseres Planeten – dann hat der Tod das letzte Wort über uns, oder ob wir unser irdisches Leben aufzunehmen versuchen wie vom Himmel her gesprochen, als etwas Absolutes, Gültiges, Wahres. So ist Jesus, dieser wie von fremd in die Totenkammer unseres Lebens Gesandte. Alles weitere geht dann scheinbar sehr schnell. Da hört zum zweiten auch Maria, Jesus sei gekommen, und schnell steht sie auf, ihm entgegenzugehen. Sie provoziert dabei ein Mißverständnis in der Versammlung der Trauergäste. Wohin soll ein Mensch in seiner Verzweiflung sich wenden außer zum Grab? Und so bildet sich die Prozession dorthin – zum Grab, denn etwas anderes wird und kann es vermeintlich nicht geben. Es ist, daß der johanneische Jesus an dieser Stelle vor Entsetzen förmlich aufschreit: Wenn der letzte Rest von Menschlichkeit im Grunde in nichts weiterem bestehen soll als in einem nicht endenden Gräberdienst, als in einem unablässigen Kränzewinden für den Nachruf, als in einer florierenden Bestattungsindustrie, die wir dann vor Ort je nach Preisvorstellung in Dienst nehmen, um das «Ableben» des «Verblichenen» zu inszenieren, – wann werden Menschen dann begreifen lernen, was ihr wahres Leben ist? Wieviel Lüge eigentlich verträgt ein Mensch, ehe er anfängt, klar zu sehen? – Das ist auch die Not Dostojewskis, schmerzhaft und bohrend, auf der Suche nach wirklichem Leben. So versteht man die Empörung des johanneischen Jesus hier. Er will die konventionelle Beruhigung nicht hören, er möchte, daß die Menschen zu dem Punkt kommen, der hier heißt: Lazarus liegt an Händen und Füßen umwickelt und seinen Kopf mit einem Schweißtuch bedeckt im Grab, und dieses Grab ist eine große Höhle, und vor dieser Höhle liegt ein Stein. Auf diese Weise ist das Bild der menschlichen Sterbe-Existenz komplett; alle Umstehenden werden am Ende sagen: «So muß es bleiben; er stinkt uns; ihn da herauszuholen wäre eine einzige Zumutung; also belassen wir’s beim Klagen, beim Beklagen, beim rituellen ‹Zuspruch›». Wann aber kommt man dahin, einen Menschen persönlich zu meinen, statt lediglich die gruppendynamischen Prozesse der «Trauergemeinde» zu pflegen? Hier 27

nun befiehlt Jesus! Während sie den Stein vom Grab heben, erhebt er seine Augen und sagt: «Was jetzt geschieht, ist im Grunde das, was du, Gott, immer tust, nur jetzt sollen sie es sehen, und du machst es so, daß sie es wahrnehmen müssen; nur deshalb lassen wir uns jetzt darauf ein.» Und mit mächtiger Stimme ruft er: Lazarus, komm heraus! All die Umstehenden sollen den «Toten» gehen lassen, in sein eigenes Leben; alle Binden sollen sie lösen. (Abb. 1a, s. Farbtafel) Ehe wir versuchen, mit Dostojewskischen Augen diesen Text noch einmal zu lesen, müssen wir uns vor allem die Folgen dieses Ereignisses vor Augen stellen; dann verstehen wir sofort, was gemeint ist. Es gibt einige, heißt es, die gelangten zum Vertrauen auf ihn, und wir müßten mit Johannes sagen: sie ergreifen ihr Leben und erkennen, wozu es gut ist. Aber die anderen werden nichts weiter auf den Lippen tragen als das übliche Gerede: «Da ist etwas geschehen! da ist wirklich etwas ganz Großartiges geschehen! da gilt es, die Neugier zu befriedigen!» Sie also wenden sich an die Pharisäer; doch der ganze Volksauflauf wird zu nichts weiter führen als zu politischen Unannehmlichkeiten und taktischen Spielereien. Es geht diesen Leuten nicht um Menschen, dessen muß man sich als Leser bewußt sein, weder auf seiten der Religionsverwalter noch auf seiten der Machtpolitiker, es geht darum, daß man Ruhe hält, und ein Mensch, der wirklich zu leben beginnt, ist ihnen unheimlich. Noch gefährlicher natürlich ist derjenige, der einen anderen Menschen lebendig macht. Gegen beide muß man vorgehen. Man wird sich also den Lazarus vornehmen und ihn vernehmen; für Jesus aber wird gelten, daß jeder, der weiß, wo er sich aufhält, ihn anzuzeigen hat, mit dem Ziel, ihn hinrichten zu lassen; das steht ab sofort fest. Da sieht man ganz klar, was Johannes mit «Sterben» und «Tod» meint: inmitten der gewöhnlichen Ordnung, inmitten der normalen Welt leben wir wie in einem Leichenschauhaus. Alles, was sie oder wir selber uns vormachen, darf in Wirklichkeit überhaupt nicht gelten, wenn wir aus dem «Grab» heraus zum Leben kommen wollen. Vielleicht, um das Nachdenken ein bißchen zu fördern, können wir ein paar Stichproben machen, wie wir denn heute leben und inwiefern die «Diagnose» des Johannes-Evangeliums auf die «Tödlichkeit» unseres Daseins immer noch gilt. Alle paar Monate, spätestens im Herbst, hören wir, daß irgendwo in der Nordsee, vor Alaska, in der Biscaya oder am Kap der Guten Hoffnung ein Tanker auf Grund läuft, just vor irgendeinem Naturschutzgebiet womöglich. Mit etwa 500 000 toten Vögeln rechnete man zum Beispiel im Jahr 1996 vor den Küsten von Wales, eine gleiche Zahl erwartet man im Jahr 28

2003 an den Stränden Galiciens. Von keinem einzigen Politiker in Gesamteuropa indessen hört man, daß er irgend etwas täte gegen das Verschiffen riesiger Ölladungen im Auftrag sogenannter Billigflaggenländer. Das geht nun seit über vierzig Jahren so; es fügt der Natur unglaublichen Schaden zu, doch von Fall zu Fall gibt es nichts weiter als das Bedauern am Ort und die übliche Heuchelei vor Ort, – man wird mit den größten Anstrengungen von Naturschützern am Ende wirklich fünfzig oder vielleicht auch fünfhundert Seevögel gerettet haben. All die Leute, die sich da engagieren, geben ihr Bestes, aber niemand von denen, die in Politik und Wirtschaft Verantwortung tragen, unternimmt irgend etwas gegen die Erdöllobby selber, allenfalls gegen die Reeder, die man in einen absurden Konkurrenzkampf treibt; ihnen macht man im Jahr 2003 immerhin eine doppelte Schiffswand ihrer Tanker zur Auflage! Sagen wir es deutlich: Wir haben es mit einer Form von struktureller Umweltkriminalität zu tun, ausgeübt von den Großmilliardären der sechs erdölproduzierenden Firmen; diese sind international tätig, und kein Staat der Welt hat scheinbar irgendeine Möglichkeit, ihnen das Handwerk zu legen. Und schauen wir im einzelnen nach, warum das so ist, so liegt es auf der Hand: Wer zum Beispiel Präsident der Vereinigten Staaten werden will, kann gar nicht anders, als mehrere hundert Millionen Dollar in seinen Wahlkampf zu pumpen; er wird solche Summen aber nur aufbringen entweder mit Hilfe der Erdöl- oder der Rüstungsindustrie; eine von beiden muß ihn bedienen, oder er wird niemals Präsident werden. Kann er aber, wenn es so steht, dann später als Staatsoberhaupt einem dieser Geldgeber ernsthaft widersprechen? Realistisch gesehen ist er nichts weiter als die Marionette des Geldes. Doch das ist nur eine der Totenkammern der Weltgeschichte. Ein anderes Beispiel: 1991 im Krieg der USA gegen den Irak kamen etwa 200 000 Menschen auf grausame Weise ums Leben. Die Embargopolitik der Amerikaner und Briten kostete seither monatlich etwa 3000 Kinder unter fünf Jahren wegen Mangelernährung und medizinischer Unterversorgung das Leben – das sind in 12 Jahren fast 500 000 Kinder! Und schon stehen wir, während ich dies Anfang 2003 schreibe, vor einem neuen Krieg, den die alte Mannschaft um den ehemaligen Verteidigungsminister und heutigen Vizepräsidenten Dick Cheney der Welt auferlegen will. Angeblich geht es um die Eliminierung eines gefährlichen Diktators, in Wahrheit geht es um Erdöl, und es geht um die Beseitigung eines alten Verbündeten, wie bei Noriega in Panama, wie bei den Taliban in Afghanistan: Man setzte Saddam Hussein gegen die Ayatollahs im Ersten Golfkrieg ein, bei dem mehr als 500 000 Menschen jeweils auf beiden Frontseiten ums 29

Leben kamen, und dann strangulierte man den Irak seiner 68 Mrd. Dollar Schulden wegen9. Wenn dieses Buch erscheint, wird vermutlich erneut die Entschlossenheit zum militärischen Handeln über den Willen zum Frieden gesiegt haben. Es ist besser, daß ein Mensch stirbt … und nicht das ganze Volk, weiß im Johannes-Evangelium Kajaphas (Joh 11,49). Und da hat er wohl recht. Solange Politik und Wirtschaft das sind, was sie sind, werden immer wieder Menschen unter die Räder kommen. Doch wie lange wollen wir noch glauben, daß die Größe eines Machthabers sich nach der Anzahl derer bemesse, die er im Kampf gegen «das Böse» militärisch hat liquidieren lassen? Wäre es nicht unbedingt an der Zeit, eine solche «Welt» nicht weiter hinzunehmen, sondern mit aller Kraft gegen sie aufzustehen? Dann freilich müßten wir sprechen wie Thomas: «Laßt auch uns gehen, um zu sterben mit ihm – lieber mit dir in den Tod, als dieses Leben noch zwei Tage länger auszuhalten.» Wohl, es ist ein Gang nach und durch «Judäa» –, doch das müssen wir wagen, wenn es gilt, einen Menschen lebendig zu machen. In eine Welt des Todes das Leben zu bringen ist nur möglich in einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod. Mit Recht schildert deshalb das Johannes-Evangelium die Auferweckung des Lazarus als ein Vorausbild auch der Auferweckung Jesu selber. Was es bedeutet, zu sagen: Lazarus, komm heraus!, hat wohl niemand deutlicher geschildert als eben Fjodor M. Dostojewski. Einen ganzen Roman hat er diesem Thema gewidmet. Schuld und Sühne – Prestuplenie i nakazanie ist die Schilderung eines jungen Mannes, erneut eines Studenten, Rodion Raskolnikow, sensibel, intelligent, reflektierend, der sich umschaut und findet, daß die Welt, daß das Leben unerträglich ist. Parallel zu diesem Roman hat Dostojewski den Menschen im Kellerloch geschildert, jemanden, der in Selbsthaß dumpf vor sich hinbrütet10; er verschimmelt bei lebendigem Leibe, – das ist das Gefühl, das er von sich hat. Was diese kleine Novelle «Aus dem Kellerloch» erzählt, ist im Grunde gerade so ein Dasein im «Grab», weil da ein Mensch ohne Aussicht und ohne Ausweg nur noch fixiert ist auf Frustration, Isolation und Destruktion. – Gemessen daran, wirkt es fast wie ein Aufbruch ins Leben, wenn Rodion Raskolnikow aus seinem «Kellerloch» «aufsteht». Genau gesprochen, bewohnt er eine kleine Kammer, stickig und dumpf in den Sommertagen. Er leidet unter der Armut seiner Eltern. Er muß miterleben, wie seine eigene Schwester Dunja sich verkauft, um eine gute Partie zu machen und den wirtschaftlichen Ruin der Familie aufzuhalten. – Was ist das für eine Welt, in der Menschen, kaum zwanzigjährig, sich «vermarkten» müssen? Was ist die bürgerliche Ehe oft anderes als eine legal kaschierte Prostitution? Wenn allein 30

die Tatsache, über nicht genügend Geld zu verfügen, einen Menschen lebenslänglich entwürdigen kann, was heißt dann Leben? Rodion Raskolnikow weiß, daß er mit seinem Studium Möglichkeiten hätte, sich in der Gesellschaft nützlich zu machen, aber was sind denn das für Gesetze, die er da lernt? Sind sie nicht lediglich das Diktat der Mächtigen? Immer wieder hämmert es zwischen seinen Schläfen: Die Menschen, die in der menschlichen Geschichte groß wurden, waren das nicht lauter Leute, die es gewagt haben, Grenzen zu überschreiten und die vorgegebenen Regeln einfach zu zerbrechen? «Groß» war Napoleon im Jahre 1812. Da bricht ein Mann auf, um ganz Europa umzuwälzen und neu zu gestalten, und eine Schlacht folgt der anderen, in Italien, in Deutschland, in Rußland. Er bringt Tausende, Hunderttausende von Menschen um. Und was wird die Folge sein? Er wird in die Geschichtsbücher eingehen als unbeschreiblich groß, eben als: Napoleon. Doch worin eigentlich war er groß? Daß er die Kanonen grausamer justieren konnte als seine Gegner, daß er den Überraschungsvorteil skrupelloser, also erfolgreicher zu nutzen verstand? Wenn jemand einfach ohne Warnung in ein Nachbarland einbricht und darin plündert, raubt und mordet, wird man ihn einen Verbrecher nennen? Ganz im Gegenteil: Groß wird man ihn nennen! Zu seinem Unglück freilich traf der große Napoleon auf einen General wie Kotussow, der genau begriff, daß eine offene Feldschlacht keinen Zweck hatte; er wich vor Napoleons Truppen zurück und zurück, er ließ Dorf um Dorf verbrennen, er ließ sogar Moskau zerstören, er tat scheinbar gar nichts, bis Napoleon in der Winterkälte keine Fourage mehr besaß und keinen Nachschub mehr bekam und sich hungernd und frierend zurückziehen mußte. Dann aber aus dem Hinterhalt überfiel er ihn, und beim Übergang über die Beresina vernichtete er den Rest der ehemals großen Streitmacht. Was aber wird ein Napoleon tun, wenn er eine ganze Armee verloren hat? Er wird ein Champagnerglas erheben und einen Toast ausbringen. Und er wird ein Großer bleiben, in allen Geschichtsbüchern, auf dem Arc de Triomphe: Groß ist Napoleon! Wer diesen Zynismus erst einmal begriffen hat, gewinnt der nicht ein Recht zu sagen: «Ich muß die Grenzen überschreiten! Die bürgerliche Moral lähmt und hemmt nur die starken Charaktere!»? Rodion Raskolnikow denkt von sich, daß er im Grunde eine Laus sei, ein Ungeziefer, ein Nichts. Wenn ihn jemand zertrete, werde es keinen Verlust bedeuten, es gebe ohnedies zu viele Läuse unter den Menschen. Ein solches Selbstgefühl ist der «Tod» dieses jungen Studenten, und es wirkt tödlich nach außen. Denn so fragt er sich: «Wer eigentlich lebt wirklich? – Nur jemand, der 31

zeigt, daß er stark genug ist, über Leichen zu gehen, der wird als Mensch sich bewähren.» Genieträume dieser Art phantasieren sich im Kopf des jungen Mannes zusammen. «Ein Verbrechen ist doch nichts weiter, als daß neue selbstgemachte Gesetze an die Stelle der schwächlichen, der veralteten, der fremdbestimmten Satzungen treten.» Rodion Raskolnikow wird, zur Probe seiner Kraft, schließlich mit fiebrigen, zitternden Nerven zwei alte Frauen ermorden, die Pfandleiherin Aljona aus Haß und Lisawjeta, ihre Schwester, weil sie zufällig anwesend ist. – Der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch indessen findet, daß dies eine Tat sei – so sinnlos, daß sie nur von einem «modernen» Gemüt begangen worden sein könne. Ein solches Verbrechen sei nicht im Blutandrang, aus der Leidenschaft des Herzens geboren worden, sondern es müsse erdacht worden sein wie von einem Schwindelnden hoch auf einem Turm. Porfirij begreift, daß man diesen Täter nicht mit Indizien überführen kann, denn selbst wenn man es versuchte, es hätte keinen Zweck. Man würde lediglich jemanden einsperren, doch ohne innere Einsicht in die Schwere seiner Schuld. Dabei fühlt Raskolnikow sehr wohl, wie es um ihn steht. Noch vor seiner Bluttat hatte er einen Traum, wie vor seinen Augen ein Pferd erschlagen wird, und er, ein kleiner Junge noch, fleht zu seinem Vater: «Vater, sie erschlagen das Pferd!» Doch sein Verstand sagt ihm, ein Mensch, der Mitleid habe, werde nie ein großer Mensch werden; daher müsse man als erstes in sich selber alle weichen Gefühle beseitigen; man müsse sich selber abtöten, um töten zu können, um groß zu werden. Zur selben Zeit wächst in der Familie des Alkoholikers Marmeladow ein junges Mädchen, Sonja, heran. Deren Stiefmutter Katerina rauft sich die Haare vor Not und Verzweiflung; sie ist schwer lungenkrank, sie weiß ihre Kinder nicht zu versorgen, und sie zwingt Sonja, auf die Straße zu gehen und sich zu verkaufen. Raskolnikow hat den alten Marmeladow noch vor der Tat als Säufer in einer Kaschemme kennengelernt, und als dieser von einer Droschke überfahren wird, gibt er der Familie von dem geraubten Geld, was noch übrig ist. So trifft er Sonja eines Tages in ihrer Kammer an und findet bei ihr eine Bibel, in der sie von Zeit zu Zeit mit Lisawjeta das Evangelium gelesen hat. «Wovon lebt Sonja eigentlich?» fragt sich Raskolnikow. «All der Schmutz hat sie bis jetzt nicht berührt. Sie ist nie wirklich in den Rinnstein abgeglitten. Aber wovon lebt sie?» Er beginnt, mit ihr, gleich einer Katze mit der Maus, ein grausames Spiel. Sie hat nur drei Möglichkeiten, rechnet er sich aus: Ihre Kräfte verschleißen sich, und sie macht selber Schluß, sie nimmt sich das Leben – vielleicht wäre das überhaupt das Vernünftigste. Oder sie wird wahnsinnig 32

wie ihre Mutter schon jetzt, und auch das wäre, so denkt er, eine Form von Erlösung. Oder sie vollführt, was ihr jetzt als «Unzucht» von außen auferlegt ist, eines Tages mit Lust; ihre Seele hält nicht mehr stand, und es dringt in sie ein, sie wird wirklich eine solche, eine richtige Dirne. Nur diese drei Möglichkeiten verbleiben ihr. Doch Sonja wird nichts davon tun. Sie trägt in sich ein Geheimnis, und Raskolnikow will es ihr entreißen. Sie, die Hure, soll ihm, dem Mörder, zwei Verfluchte sie beide, die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus vorlesen: «Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus von Betanien.» «Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er hat vier Tage gelegen.» Mit zerbrechender Stimme, gespannt wie eine zerreißende Geigensaite, liest Sonja diese Geschichte11. Und in dieser Nacht wird Raskolnikow aus seinem «Grabe» herauskommen; er wird Sonja erklären, wodurch ihre Freundin Lisawjeta und die alte Aljona umgekommen sind12. Bei diesen Worten: «Lazarus, komm heraus!» wird er lernen, sein Verbrechen der einzigen mitzuteilen, die er liebt. Und sie wird ihm sagen: «Was mußt du gelitten haben, Rodion, du mußt niederknien und der ganzen Welt sagen, was du getan hast. Man wird dich verurteilen nach Sibirien, aber ich werde mit dir gehen.» In Sibirien werden Alpträume Raskolnikows Seele heimsuchen; ein Heer von Heuschrecken wird er sehen, das sich über ihn hermacht13; aber es wird der Anfang eines wirklichen Gefühls, einer wirklichen Gemeinsamkeit sein. Dostojewskis Tochter, Aimée Dostojewskaja, erzählt in ihrer Biographie, wie ihr Vater starb; was sie schreibt, ist erkennbar eine Art Heiligenlegende, deren Wahrheitswert kaum als historisch anzusehen ist; doch für sich hat diese Darstellung, daß sie das Wesen des russischen Autors ins rechte Licht setzt. Dostojewski soll sich, nach zwei Blutstürzen, die Bibel haben holen und sich und seinen Kindern die Geschichte vom Verlorenen Sohn von seiner Frau haben vorlesen lassen. Dostojewski, als er diesen Text als letzten in seinem Leben hörte, soll den Kindern gesagt haben: «Es kann geschehen, daß ihr zu Verbrechern werdet, daß ihr weit vom Wege abkommt, aber ich, euer Vater, würde euch selbst dann noch verstehen; um wieviel mehr euer Vater im Himmel. Er wird euch begleiten, wohin immer ihr geht. Er versteht alles!»14 Dostojewskis Meinung vom Menschen und das Denken des JohannesEvangeliums ergänzen und vertiefen sich wechselseitig. Denn eigentlich nur um dieses eine zu zeigen, ist dieses Warten Jesu im Johannes-Evangelium zwei Tage lang nötig: damit in der Tiefe der Not die Notwendigkeit der Gnade um so spürbarer werde. Wenn es möglich ist bei Gott, den zum 33

«Gestank» gewordenen Lazarus zu retten, dann gibt es keine Hölle mehr, dann gibt es keinen Abgrund mehr, bis wohin uns Christus nicht begleiten würde, – dann ist kein Tod mehr, nur ein Wiedersehen, und es ist jenseits des Weinens ein großer Lobgesang. «Er stieg hinab in die Hölle, um den Verdammten die Erlösung zu bringen», so lehrt es das Glaubensbekenntnis der Kirche (Abb. 1b, s. Farbtafel); doch was dort als ein Ereignis nach dem Tode Jesu verkündet wird, ist in Wahrheit das ganze Leben Jesu und bildet sogar den Grund seines Sterbens: in unsere Grüfte und Gräber steigt er hinab, um die mit Leichenbinden Umwickelten herauszurufen. Platons «Höhlengleichnis», das wir bei der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1-17) vorgetragen haben – welch eine Zuspitzung erhält es durch die johanneische Deutung der Legende von der Auferweckung des Lazarus!

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Joh 11,17-54: Die Auferweckung des Lazarus – 2. Teil: Zwei kommentierende Geschichten Das 11. Kapitel des Johannes-Evangeliums zeigt, wie man eine alte Wundererzählung symbolisch umarbeiten kann in eine Parabel auf unser Dasein angesichts von Tod und Verzweiflung. Wie ist es möglich, einen Menschen, der sich lebendig tot fühlt, zurückzugewinnen für das Leben? Als Antwort auf eine solche Frage liest sich die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus. Sie greift der Ostererzählung von der Auferweckung Jesu vor; aber anders als Jesus kehrt Lazarus zurück in diese Welt. Und das nun ist die Frage: Wie kann man sich so etwas vorstellen? Zwei Abwandlungen des Themas mögen uns dabei behilflich sein. Einmal lohnt es sich, eine Märchenerzählung aus der Sammlung der Brüder Grimm durchzugehen, die von einem Mädchen handelt, das über viele Jahre hin sich wie verstorben fühlt: die Geschichte von Schneewittchen, dessen Leben lange Zeit wie in einem Sarg aufgebahrt dahinsiecht; zum andern bietet sich eine kleine Erzählung des russischen symbolistischen Dichters Leonid Andrejew an, der sich fragte: Wie mag Lazarus auf die Menschen seiner Tage gewirkt haben, er, der den Tod gesehen hatte, wie konnten Menschen seinem Blick standhalten? Es ist der Beginn einer ganzen Kette weiterer Fragen, die im Evangelium keine Antwort finden, die aber im romantischen Denken selbst zutiefst verankert sind. Ein bedeutsamer Unterschied zwischen einer biblischen Wundergeschichte und einem Märchen liegt in der unterschiedlichen Ausrichtung auf die zentralen Personen. Das Wunder möchte den Wundertäter in seiner ganzen Größe schildern; es braucht deshalb die dunkle Kulisse von Krankheit und Tod, damit die Lichtgestalt des Heilands um so strahlender in Erscheinung trete. Das Märchen hingegen begleitet einen einzelnen Menschen durch sein Leben, quer durch seine Chancen, quer durch seine Krisen, bis hin zu dem (fast immer) glücklichen Abschluß als dem Ziel aller Entwicklung. Schneewittchen ist ein solches Märchen; es entspricht vom Motiv her ganz und gar dem Stoff des Lazarus, der Auferstehung aus dem Sarg. Liest man es in unserem Gedankenzusammenhang auf das Thema von Tod und Auferstehung hin, so sollte man sich vor allem überlegen, was die Erzählung mit uns macht, wie die betroffenen Personen auf uns wirken, wie wir uns eine Frau vorstellen müssen, die über lange Zeit verkümmert als eine «Schlafende» in einem «gläsernen Sarg». 35

Schneewittchen Märchen Nr. 53 aus der Grimmschen Sammlung Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: «Hätt ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.» Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz, und ward darum das Sneewittchen (Schneeweißchen) genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin. Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie: «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?» So antwortete der Spiegel: «Frau Königin, Ihr seid die schönste im Land.» Da war sie zufrieden, denn sie wußte, daß der Spiegel die Wahrheit sagte. Sneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahr alt war, war es so schön wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte: «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?», so antwortete er: «Frau Königin, Ihr seid die schönste hier, aber Sneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.» Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Sneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so haßte sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, daß sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger und sprach: «Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will’s nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es

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töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.» Der Jäger gehorchte und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Sneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach: «Ach, lieber Jäger, laß mir mein Leben; ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heimkommen.» Und weil es so schön war, hatte der Jäger Mitleiden und sprach: «So lauf hin, du armes Kind.» «Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben», dachte er, und doch war’s ihm, als wär ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als gerade ein junger Frischling dahergesprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch mußte sie in Salz kochen, und das boshafte Weib aß sie auf und meinte, sie hätte Sneewittchens Lunge und Leber gegessen. Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterselig allein, und ward ihm so angst, daß es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wußte, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief, solange nur die Füße noch fort konnten, bis es bald Abend werden wollte, da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, sich zu ruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, daß es nicht zu sagen ist. Da stand ein weiß gedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäblein und sieben Becherlein. An der Wand waren sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken darübergedeckt. Sneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs und Brot und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem allein alles wegnehmen. Hernach, weil es so müde war, legte es sich in ein Bettchen, aber keins paßte; das eine war zu lang, das andere zu kurz, bis endlich das siebente recht war: und darin blieb es liegen, befahl sich Gott und schlief ein. Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem Häuslein, das waren die sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und wie es nun hell im Häuslein ward, sahen sie, daß jemand darin gewesen war, denn es stand nicht alles so in der Ordnung, wie sie es verlassen hatten. Der erste sprach: «Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?» Der zweite: «Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?» Der dritte: «Wer hat von meinem Brötchen genommen?» Der vierte: «Wer hat von meinem Gemüschen ge-

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gessen?» Der fünfte: «Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?» Der sechste: «Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?» Der siebente: «Wer hat aus meinem Becherlein getrunken?» Dann sah sich der erste um und sah, daß auf seinem Bett eine kleine Delle war, da sprach er: «Wer hat in mein Bettchen getreten?» Die andern kamen gelaufen und riefen: «In meinem hat auch jemand gelegen.» Der siebente aber, als er in sein Bett sah, erblickte Sneewittchen, das lag darin und schlief. Nun rief er die andern, die kamen herbeigelaufen und schrien vor Verwunderung, holten ihre sieben Lichtlein und beleuchteten Sneewittchen. «Ei, du mein Gott! Ei, du mein Gott!» riefen sie. «Was ist das Kind so schön!» Und hatten so große Freude, daß sie es nicht aufweckten, sondern im Bettlein fortschlafen ließen. Der siebente Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum. Als es Morgen war, erwachte Sneewittchen, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrak es. Sie waren aber freundlich und fragten: «Wie heißt du?» «Ich heiße Sneewittchen», antwortete es. «Wie bist du in unser Haus gekommen?» sprachen weiter die Zwerge. Da erzählte es ihnen, daß seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen lassen, der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt, und da wär es gelaufen den ganzen Tag, bis es endlich ihr Häuslein gefunden hätte. Die Zwerge sprachen: «Willst du unsern Haushalt versehen, kochen, betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen.» «Ja», sagte Sneewittchen, «von Herzen gern», und blieb bei ihnen. Es hielt ihnen das Haus in Ordnung; morgens gingen sie in die Berge und suchten Erz und Gold, abends kamen sie wieder, und da mußte ihr Essen bereit sein. Den Tag über war das Mädchen allein, da warnten es die guten Zwerglein und sprachen: «Hüte dich vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen, daß du hier bist; laß ja niemand herein.» Die Königin aber, nachdem sie Sneewittchens Lunge und Leber glaubte gegessen zu haben, dachte nicht anders, als sie wäre wieder die erste und allerschönste, trat vor ihren Spiegel und sprach: «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?» Da antwortete der Spiegel: «Frau Königin, Ihr seid die schönste hier, aber Sneewittchen über den Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als Ihr.»

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Da erschrak sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte, daß der Jäger sie betrogen hatte und Sneewittchen noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte; denn solange sie nicht die schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht und kleidete sich wie eine alte Krämerin, und war ganz unkenntlich. In dieser Gestalt ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: «Schöne Ware feil! feil!» Sneewittchen guckte zum Fenster heraus und rief: «Guten Tag, liebe Frau, was habt Ihr zu verkaufen?» «Gute Ware, schöne Ware», antwortete sie, «Schnürriemen von allen Farben», und holte einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. «Die ehrliche Frau kann ich hereinlassen», dachte Sneewittchen, riegelte die Türe auf und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. «Kind», sprach die Alte, «wie du aussiehst! Komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.» Sneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren; aber die Alte schnürte geschwind und schnürte so fest, daß dem Sneewittchen der Atem verging und es für tot hinfiel. «Nun bist du die schönste gewesen», sprach sie und eilte hinaus. Nicht lange darauf, zur Abendzeit, kamen die sieben Zwerge nach Haus, aber wie erschraken sie, als sie ihr liebes Sneewittchen auf der Erde liegen sahen; und es regte und bewegte sich nicht, als wäre es tot. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen, daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei: da fing es an, ein wenig zu atmen, und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten, was geschehen war, sprachen sie: «Die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin: hüte dich und laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind.» Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, ging vor den Spiegel und fragte: «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?» Da antwortete er wie sonst: «Frau Königin, Ihr seid die schönste hier, aber Sneewittchen über den Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als Ihr.» Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrak sie, denn sie sah wohl, daß Sneewittchen wieder lebendig geworden war. «Nun aber»,

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sprach sie, «will ich etwas aussinnen, das dich zugrunde richten soll», und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines andern alten Weibes an. So ging sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: «Gute Ware feil! feil!» Sneewittchen schaute heraus und sprach: «Geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen.» «Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein», sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich betören ließ und die Türe öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte: «Nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.» Das arme Sneewittchen dachte an nichts und ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel. «Du Ausbund von Schönheit», sprach das boshafte Weib, «jetzt ist’s um dich geschehen», und ging fort. Zum Glück aber war es bald Abend, wo die sieben Zwerglein nach Haus kamen. Als sie Sneewittchen wie tot auf der Erde liegen sahen, hatten sie gleich die Stiefmutter in Verdacht, suchten nach und fanden den giftigen Kamm, und kaum hatten sie ihn herausgezogen, so kam Sneewittchen wieder zu sich und erzählte, was vorgegangen war. Da warnten sie es noch einmal, auf seiner Hut zu sein und niemand die Türe zu öffnen. Die Königin stellte sich daheim vor den Spiegel und sprach: «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?» Da antwortete er wie vorher: «Frau Königin, Ihr seid die schönste hier, aber Sneewittchen über den Bergen bei den sieben Zwergen ist doch noch tausendmal schöner als Ihr.» Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie vor Zorn. «Sneewittchen soll sterben», rief sie, «und wenn es mein eignes Leben kostet.» Darauf ging sie in eine ganz verborgene einsame Kammer, wo niemand hinkam, und machte da einen giftigen, giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, daß jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam, aber wer ein Stückchen davon aß, der mußte sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an, Sneewittchen streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach: «Ich darf keinen Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mir’s verboten.» «Mir auch recht», antwortete die Bäurin,

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«meine Äpfel will ich schon loswerden. Da, einen will ich dir schenken.» «Nein», sprach Sneewittchen, «ich darf nichts annehmen.» «Fürchtest du dich vor Gift?» sprach die Alte. «Siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iß du, den weißen will ich essen.» Der Apfel war aber so künstlich gemacht, daß der rote Backen allein vergiftet war. Sneewittchen lusterte den schönen Apfel an, und als es sah, daß die Bäurin davon aß, so konnte es nicht länger widerstehen, streckte die Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut und sprach: «Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz! Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken.» Und als sie daheim den Spiegel befragte: «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?», so antwortete er endlich: «Frau Königin, Ihr seid die schönste im Land.» Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches Herz Ruhe haben kann. Die Zwerglein, wie sie abends nach Haus kamen, fanden Sneewittchen auf der Erde liegen, und es ging kein Atem mehr aus seinem Mund, und es war tot. Sie hoben es auf, suchten, ob sie was Giftiges fänden, schnürten es auf, kämmten ihm die Haare, wuschen es mit Wasser und Wein, aber es half alles nichts; das liebe Kind war tot und blieb tot. Sie legten es auf eine Bahre und setzten sich alle siebene daran und beweinten es, und weinten drei Tage lang. Da wollten sie es begraben, aber es sah noch so frisch aus wie ein lebender Mensch und hatte noch seine schönen roten Backen. Sie sprachen: «Das können wir nicht in die schwarze Erde versenken», und ließen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen, daß man es von allen Seiten sehen konnte, legten es hinein und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf, und daß es eine Königstochter wäre. Dann setzten sie den Sarg hinaus auf den Berg, und einer von ihnen blieb immer dabei und bewachte ihn. Und die Tiere kamen auch und beweinten Sneewittchen, erst eine Eule, dann ein Rabe, zuletzt ein Täubchen. Nun lag Sneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe, denn es war noch so weiß als Schnee, so rot als Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz. Es geschah aber, daß ein Königssohn in den Wald geriet und zu dem Zwergenhaus

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kam, da zu übernachten. Er sah auf dem Berg den Sarg, und das schöne Sneewittchen darin, und las, was mit goldenen Buchstaben darauf geschrieben war. Da sprach er zu den Zwergen: «Laßt mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt.» Aber die Zwerge antworteten: «Wir geben ihn nicht um alles Gold in der Welt.» Da sprach er: «So schenkt mir ihn, denn ich kann nicht leben, ohne Sneewittchen zu sehen, ich will es ehren und hochachten wie mein Liebstes.» Wie er so sprach, empfanden die guten Zwerglein Mitleiden mit ihm und gaben ihm den Sarg. Der Königssohn ließ ihn nun von seinen Dienern auf den Schultern forttragen. Da geschah es, daß sie über einen Strauch stolperten, und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Sneewittchen abgebissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe und richtete sich auf, und war wieder lebendig. «Ach Gott, wo bin ich?» rief es. Der Königssohn sagte voll Freude: «Du bist bei mir», und erzählte, was sich zugetragen hatte, und sprach: «Ich habe dich lieber als alles auf der Welt; komm mit mir in meines Vaters Schloß, du sollst meine Gemahlin werden.» Da war ihm Sneewittchen gut und ging mit ihm, und ihre Hochzeit ward mit großer Pracht und Herrlichkeit angeordnet. Zu dem Fest wurde aber auch Sneewittchens gottlose Stiefmutter eingeladen. Wie sie sich nun mit schönen Kleidern angetan hatte, trat sie vor den Spiegel und sprach: «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?» Der Spiegel antwortete: «Frau Königin, Ihr seid die schönste hier, aber die junge Königin ist tausendmal schöner als Ihr.» Da stieß das böse Weib einen Fluch aus, und ward ihr so angst, so angst, daß sie sich nicht zu lassen wußte. Sie wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen; doch ließ es ihr keine Ruhe, sie mußte fort und die junge Königin sehen. Und wie sie hineintrat, erkannte sie Sneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.1

Dieses Märchen kennen wir alle seit Kindertagen. Pädagogen rätseln, ob Geschichten dieser Art für Kinder wohl verträglich seien. Gibt es eine Mut42

ter, und sei es eine Stiefmutter, die Herz und Leber ihrer eigenen Tochter verzehrte? Kannibalismus mitten in der Kultur – das geziemt sich nicht, auch nicht in einem Märchen! Man mag hinnehmen, daß dieser alten Hexe, wie wir sie geradewegs nennen sollten, jede Strafe gebühre, aber sie in eisernen Schuhen zu Tode tanzen zu lassen, dies ist eine sadistische Rache; «Aug’ für Auge», aber: Fuß für Fuß? – das ist scheußlicher, als es in edlen und gesitteten Zeiten akzeptiert werden kann. Doch Vorbehalte dieser Art sind unsachgemäß. Alles in dieser Geschichte – wir sind uns darüber im klaren – gehört dem Bereich des Symbols zu. Rätselhaft indessen, nicht nur für Kinder, bleibt der Charakter der Frau selbst, die wir hier geschildert finden. Ehe wir Schneewittchens Leben als eine fast tödlich verstellte Grabesexistenz kennenlernen, entdeckt sich hier die Mutter ihrerseits als vollkommen unfähig zum Leben. Hexenmütter, dämonische Mütter, sind in den Märchen wie im wirklichen Leben nicht ungewöhnlich, aber es wäre ganz falsch, Geschichten dieser Art als einfachen Leitmaßstab einer rigorosen Verurteilung zu nehmen: so bös’ sei sie eben, diese Stiefmutter, diese zweite Königin an der Seite des Vaters. Der Tiefsinn der Märchen liegt oft darin, daß sie in zwei Figuren ein und denselben Menschen, nur in zwei völlig konträren Seiten seines Wesens, schildern. Und so müßten wir denken, die Frau, die als Mutter Schneewittchen zur Welt bringt, sei eben dieselbe, die es tötet, ja, es sei paradoxerweise dieselbe Art von Liebe, ein Kind zu wünschen und ein Kind wegzuwünschen. Erst wenn man begreift, daß Menschen so widersprüchlich sein können, versteht man, warum schlimmer als die Angst vor dem Tod die Furcht vor einzelnen Menschen sein kann, die durch ihr eigenes Un-Leben auch in das Leben ihrer Mitmenschen den Tod hineintragen. Kein Kind fürchtet das Sterben; für ein Kind existiert der Tod allenfalls in Gestalt des Fortgehens, des Alleingelassen-Werdens, nie aber als physische Realität. Hingegen Menschen können so sein: abweisend, schroff, verurteilend, schließlich vernichtend. Nur: Warum ist das so? Wie lernen wir, Schneewittchens Mutter zu verstehen? Wie begreifen wir Schneewittchen selbst, so daß sie als Kind ihrer (Stief)Mutter uns und sich selber verständlich wird? Nehmen wir die Eingangsszene einmal ganz wörtlich, die das Märchen uns malt. Eine Königin sitzt am Fenster, als es Winter ist. Solche Zeitangaben, solche Situationen sind nie nur ästhetisch, sie meinen nicht einfach den bloßen schön-vornehmen Kontrast zwischen Blutrot und Schneeweiß, der dem Märchen später den Namen geben wird. Wir sollten vielmehr denken, dieses Bild biete das Portrait einer Frau, genauer: das Portrait einer Seite im Wesen einer Frau. Sie lebt in einer Welt, in der es kalt ist; alles, 43

was sie sieht, ist überzogen von einem blütenweißen Leichentuch. Irgendwie «rein» sieht diese Welt aus, gut geordnet, jungfräulich, aber zugleich eisig, gefroren. Diese Frau sitzt an einem Fensterrahmen, der schwarz ist, und man könnte fast sich bei ihrem Anblick erinnert fühlen an ihre eigene Todesanzeige: schwarz eingefaßt ist ihre ganze Gestalt; so lebt sie dahin, ein Leben, das keines ist, sich vernähend, sich verspinnend in Sehnsucht. «Die Frau am Fenster» wäre ein äußerst angemessener Titel für die Mutter eines Schneewittchens, für eine Frau, die am Leben nur teilnimmt beim Hinausschauen in ein schneebedecktes Land, das sie selber nie betreten wird. Das Grimmsche Märchen wird aber noch deutlicher. Diese Frau hat offenbar große Angst um ihr eigenes Frausein, um ihre Verletzbarkeit. Andere Geschichten bei den Brüdern Grimm ähneln in diesem Motiv einander und können deshalb als ergänzender Kommentar dienen, hier vor allem die Erzählung vom Dornröschen. Die Rede geht da von einem Mädchen, das sich einmal mit einer Spindel in den Finger sticht und darüber einschläft. Alles im Schloß versteinert, sogar das Feuer im Herd; rings um das Schloß aber wächst eine Dornenhecke, so dicht, daß niemand, der um die Gunst des Mädchens werben wollte, jemals Zugang zu ihm finden könnte. Lange dauert es, hundert Jahre fast, daß Dornröschen schläft wie tot. – Es ist das Motiv der Verletzung durch eine Nadel oder Spindel, das Dornröschen mit der Mutter Schneewittchens verbindet. Was Menschen sonst als Liebe, als Zärtlichkeit, als warm werdenden Frühling nach allzu langer Winterkälte ersehnen, das gerade fürchtet Schneewittchens Mutter wie einen Stich, wie etwas, das eine schmerzhafte Wunde hinterläßt, das sie bedroht, das sie zum Bluten bringen könnte. Der Stich mit der Nadel bezeichnet sexualsymbolisch den Grund, warum bald hernach schon ein Kind zur Welt kommt, aber von einem Mann, von einer Begegnung zwischen Mann und Frau, erfahren wir kein einziges Wort; der Vorgang der Zeugung reduziert sich auf eine «Verletzung», und wir müssen denken, diese Verletzung sei tödlich. Wir haben eine Mutter vor uns, die als Frau nicht lebt und nie hat leben dürfen, sondern die aus lauter Angst nur eine Mutter, eine «Stiefmutter» sein darf. Dieser «Rollentausch» wird im Märchen als Tod der «wahren» Mutter beschrieben; und dann übers Jahr schon heiratet der König eine andere Frau; er selbst wird in dem Märchen keine Rolle mehr spielen; er fehlt als Vater, als Mann im Leben seines Kindes ebenso wie im Leben seiner Frau; Schneewittchens Mutter aber kehrt wieder in dieser zweiten Frau. Die «Stiefmutter» ist nur die andere Seite ihrer selbst, die einzige, die «überlebt». 44

Als solche zieht diese «Stiefmutter» ihr Mädchen jahrelang voller Stolz groß, als etwas, das ihre eigene Schönheit sogar noch unterstreicht. Erst als das Kind älter wird, beginnt eine unselige Konkurrenz zwischen Mutter und Tochter. Man könnte darin den privaten Wahn einer Frau sehen, die alles darauf anlegt, die Schönste zu sein, und die sich selber nur in der Rolle der Schönsten erträgt; doch ist eine solche Einstellung uns Heutigen, hundertfünfzig Jahre danach, womöglich noch weit zugänglicher, als es zur Zeit der Brüder Grimm der Fall sein konnte. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Frauen förmlich gezwungen werden, von früh bis spät sich in die Erwartungsschablone makelloser Schönheit hineinzuzwängen. Man schlage irgendeine Illustrierte auf, und man wird finden, wie von den Fußnägeln bis zu den Haarspitzen auf hunderterlei Weise empfohlen wird, was eine Frau alles tun muß, um den richtigen Teint, die richtige Figur, das richtige Styling zu bekommen. All das muß sich doch machen lassen! Und man verspricht, daß eine Frau unbedingt akzeptiert werden wird, wenn sie all die gegebenen Anweisungen befolgt, aber sie ist ein Garnichts, wenn sie sich nicht pünktlich und getreu an all die Erfolgsrezepte hält. Zwischen Alles und Nichts gibt es nicht die geringste Vermittlung. Ein solcher Kompromiß könnte ja nur gefunden werden, wenn es wenigstens ein bißchen Selbstbewußtsein, ein bißchen eigenen Stolz gäbe. Die Brüder Grimm sprechen zwar auf seiten der Königin von Hochmut; aber eine Frau wie Schneewittchens Mutter besteht in Wahrheit viel eher aus Minderwertigkeitsgefühlen, und ihre schlimmste Verunsicherung ergibt sich daraus, daß sie um Jahre älter ist als ihre Tochter. Jungsein ist eine absolute Verpflichtung in dieser phantastischen Welt der verordneten Perfektion. Sucht man einen bestimmten Namen für den Tod, so findet man ihn hier, längst ehe er sich ereignet. Er lautet: Zwang zu einem zeitlosen, nie reifenden, in sich selbst erstarrten Dasein. Schneewittchens Stiefmutter darf nicht älter werden! Sie leidet darunter, daß der Fortschritt der Jahre einen Wandel anzeigt. Denn älter zu werden, das bedeutet: weniger attraktiv zu sein, und die Selbstbespiegelung, das dauernde Fragen: Wer bin ich? wirft sich in die Augen aller anderen, es projiziert sich in die kleinste Andeutung von Kritik, es bildet ein Bewußtsein, das sich, vollkommen narzißtisch, nur erträgt als Allerbestes, als Allerschönstes – als Vernichtenswürdiges sonst. Um uns in eine solche Haltung einzufühlen, müssen wir uns noch in Erinnerung rufen, daß diese Frau ohne Liebe lebt. Sie hat einen Mann, und sie hat ihn auch nicht. Ihre Ängste und Ambivalenzgefühle werden dahin geführt haben, daß sie ihn immer wieder umwarb und doch sogleich wie45

der zurückwies, kaum daß sie hätte erfolgreich werden können. Aus diesem Hin und Her erkennt man noch einmal das Bild der Frau am Fenster: sich vorzuzeigen wie unter Glas, sich zum Schaustück zu machen wie lebendig tot, das ist das Leben von Schneewittchens Stiefmutter. Und wie nun erst das Schicksal des Mädchens selbst! Nicht wenige Frauen, die von sich sagen, ihre Mutter habe ihnen die ganze Jugend gestohlen, bringen kaum eine Erklärung dafür auf, warum dies so war. Unbegreifbar, schicksalhaft, völlig rätselhaft in ihrer Grausamkeit lag die Gestalt der Mutter wie ein schwarzer Schatten über ihrem Leben. Doch wer diese Mutter nur einfach für «kannibalistisch» roh, eifersüchtig, gehässig und rachsüchtig halten würde, verstünde weder die Seele eines «Schneewittchens» noch die Beziehung dieses Kindes zu seiner «Stiefmutter». In voller Arglosigkeit öffnet das Schneewittchen dreimal der «bösen Königin» in Gestalt einer Krämerin oder Bauersfrau die Tür, und während die «Zwerge» in dem heranwachsenden Mädchen immer wieder warnend ihre Angst ausdrücken, setzt das Kind sich doch immer von neuem über ihre Warnungen hinweg. Paradoxerweise ist die Beziehung zwischen Schneewittchen und seiner Stiefmutter offenbar von tiefer innerer Zuneigung geprägt. Um diesen scheinbaren Widerspruch zu verstehen, sollten wir uns eine Frau vorstellen, die ihre Tochter subjektiv mit viel gutem Willen zu erziehen versucht. Das, was sie tut, läuft faktisch auf eine bedrohliche Lebensvergiftung für die Tochter hinaus, aber das muß nicht so gemeint sein! Wenn die Märchen von einer «Hexe» erzählen, dürfen wir uns dabei nicht eine schlechterdings bösartige Frau vorstellen, sondern viel eher eine Mutter, die es eigentlich sehr gut mit ihrem Kind meint, die aber mit ihrer Art des Gut-Meinens ihre Tochter wider Willen erdrückt. Diese Diskrepanz, diese Zwangsbindung, diese ständige Ambivalenz im Leben macht allererst das Hexenähnliche in ihrer Person aus. Da fühlt eine Mutter sich verpflichtet zu eben den Gefühlen, die sie ihrer Tochter wünscht, und erlebt sich doch zugleich ganz anders. Wo ein solcher Widerspruch zusammenkommt, wirkt die Magie des Unglücks unter Menschen, da wird persönliche Nähe zum Tödlichen, und gerade so zeigt es die Geschichte vom Schneewittchen. Im Grunde erzählt dieses Märchen, wie eine Frau, die selber nicht zu leben weiß, auch ihre Tochter nicht leben lassen kann. Der Befehl, den sie erläßt, ist gräßlich und grausam: Es soll ein Jäger kommen und Schneewittchen töten. Fast schon tut er’s mit dem Hirschfänger, als das bittende Mädchen sein Mitleid erweckt und er es, wie in so vielen anderen Geschichten der Brüder Grimm, entfliehen läßt. Natürlich ist diese Szene symbolisch zu lesen, indem die – von der Mutter bestellte! – tödliche Angst 46

des Mädchens vor der (sexuellen) Aggression des Mannes in ihr zum Ausdruck kommt. Und wir verstehen, warum: Wie denn auch soll eine Frau, die ihre eigene Sehnsucht nach Liebe niemals zu leben wagte, ihre wunderschöne Tochter ins Leben entlassen, ohne ihre eigenen Ängste auf das Mädchen zu legen? Der «Jäger» muß da nicht eigens herbeigerufen werden, vielmehr kann im Schatten der «Stiefmutter» ein anderes Bild von einem Mann gar nicht in das Erleben des Kindes treten. Es genügt, uns vorzustellen, daß da eine Frau ist, die ihre Tochter warnt: «Wenn du hinausgehst ins Leben, wird es sein, wie wenn du einen wilden, unheimlichen, gefährlichen Wald betrittst; überall lauert es an Gefahren, und am schlimmsten sind die Männer: sie sind (wie) wilde Jäger, sie zielen auf dein Herz, sie bringen dich um mit einer Waffe, wie nur sie sie besitzen. Flüchte davor, fliehe davor, liebes Schneewittchen!» Ein Mädchen, das so aufwächst, ist in seiner ganzen Gestalt der geborene Widerspruch: einerseits lebendig und vital, blutjung und rot, und auf der anderen Seite schneekühl und bleich, und wie beides zueinanderfinden mag, ist das Rätsel, das diese Erzählung zu lösen beabsichtigt. Zum Glück gelingt es Schneewittchen, den Jäger umzustimmen, ihm kein Leids zu tun, doch der Preis dafür ist hoch: Das Mädchen wird in den wilden Wald laufen müssen und nie mehr heimkommen dürfen; nie mehr wird es ein Zuhause bekommen da, wo es einmal zu Hause sein wollte; und es wird nur überleben, indem es der eigenen Mutter seine Vitalität wie freiwillig überläßt: Herz und Leber, – das ist der Sinn dieses «Kannibalismus»-Rituals. Nur indem eine Hirschkuh oder ein Frischling getötet wird, vermag das heranwachsende Mädchen der tödlichen Verfolgung durch seine (Stief)Mutter zu entkommen. Sagen wir so: Alles, was da unzensiert, unkontrolliert ins Leben hätte hineinstürzen mögen, wird zerlegt und zerteilt, und es ist die Mutter, die in diesem Akt oraler Aneignung sich völlig mit ihrer Tochter identifiziert. An der Seite dieser Frau kann es ein eigenes Leben für Schneewittchen gar nicht geben. Und wieder ist der Gegensatz komplett: Das Mädchen ist aus lauter Angst nie mehr zu Hause, und doch in gewissem Sinn ist es aus Angst nur noch «zu Hause». Es irrt in einer Welt umher, die es nicht versteht, und als einzige Zuflucht wird ihm nur der Rückzug in die eigene Kindheit verbleiben. Diese Regression ist symbolisch dargestellt in der geordneten Welt der «sieben Zwerge». Tag für Tag in den Bergen finden sie Schätze, unterirdisch sammeln sie Kostbarkeiten aller Art; aber Schneewittchen seinerseits hat zu lernen, eine pünktliche, eine ordentliche, eine saubere Dienstmagd zu werden; mehr soll in seinem Leben sich kaum je erhoffen lassen. 47

Da ist ein junges Mädchen voller Fähigkeiten, – und gerade deshalb muß man hier schon feststellen: es ist wie lebendig tot! Vor lauter Angst in Gestalt seiner eigenen Stiefmutter wird es kaum wagen, ins Leben zu treten; rückwärtsgewandt wird es in der Gestalt der «Zwerge» seine Kindheit verewigen. Alle Dinge sind wie in einer Puppenstube verkleinert und zierlich. Jede noch so winzige Berührung hinterläßt in diesem überkontrollierten Häuschen ihre Spuren; man muß froh sein, überhaupt geduldet zu werden. Man darf niemandem etwas wegnehmen, man muß ganz rücksichtsvoll auftreten in einer Welt, in der man selbst sich schon überlebt hat, noch ehe man überhaupt anfängt zu leben. Das alles läßt sich noch steigern, und es wird sich noch steigern: Eines Tages wird die «Stiefmutter» ihre Tochter lehren, wie man sich mit einem Schnürriemen schön macht. Der Schnürleib des Fin de siècle, am Ende des 19. Jhs., war geradezu das Widerspruchsbild einer Frau von Gesellschaft: zugeschnürt ganz und gar bis zum Ersticken, unberührbar und fühllos auf der einen Seite, makellos verführerisch in Statur gesetzt auf der anderen Seite – dieser Gegensatz wurde den Frauen von außen aufgezwungen; sie hatten zu scheinen, um nicht zu sein, sie hatten in Erscheinung zu treten, statt wirklich zu leben, sie waren verpflichtet, buchstäblich kaum Luft zu bekommen, so eng, so fest hatte die Corsettage zu sitzen. Ist es möglich, daß eine Frau auf ihre Tochter einredet, wie sie eine richtige Frau werden kann, wie sie sich schön machen kann, wie sie bei den Männern Eindruck hinterlassen kann, und das alles ist nur dazu berechnet, um die Fessel der Moral bis zum Ersticken eng um die Brust ihres Mädchens zu legen? Es ist wieder ein und dasselbe: einerseits wird verlangt, ganz schön zu sein für die anderen, und andererseits ist es geboten, die eigene Schönheit subjektiv für sich persönlich zu verleugnen. Das, was Schneewittchens (Stief)Mutter immer wieder vor dem Spiegel sich von außen sagen lassen muß, weil sie es sich selber offensichtlich nie sagen kann, das wird Schneewittchen von vornherein vorenthalten: Es darf sich als Frau nicht kennen- noch lieben lernen, doch dieses Verbot geht einher damit, daß seine Mutter ihm beibringt, was es heißt, äußerlich eine verführerisch schöne Frau zu sein. Übersetzen wir diese Ambivalenz aus der Märchensprache in die wirkliche Erfahrung, so müßten wohl viele Frauen sagen: «Meine Mutter hat mir immer gezeigt, wie ich mich kleiden muß, wie ich mich zu benehmen habe, was mir der Anstand gebietet, was die Sitte sagt, was die Moral sagt, was die Gebote sagen, – und es war alles ein einziger Krampf und Kampf. Eine feine, schöne, gute Frau zu sein – das war soviel wie ein Püppchen zu sein, das hieß, überhaupt nie außerhalb des Marionettendaseins zu leben!» 48

In gleichem Sinne wie der «Schnürleib» setzen die Bilder sich fort: der Kamm für die Haare, der Apfel (der Liebe) – alles wird dargereicht und zurechtgemacht, und es ist alles vergiftet! Die Liebe zu fühlen bedeutet den Tod. Für wie viele Frauen gilt dieses Symbol: Sie liegen wie in einem gläsernen Sarg, sie sind lebendig tot; sie wurden nie endgültig beerdigt, aber sie erwachen auch nie zum Dasein; sie waren und sind nichts weiter als ein Schaustück, mit großen Augen voller Sehnsucht, und für alles das gibt es eine einzige Erklärung: «Ich habe versucht, die Liebe zu lernen, aber sie war vergiftet mit Schuldgefühlen!» Da wissen selbst die Zwerglein keine Hilfe mehr. Da ist ein Problem, das für diese Verkörperungen eines unschuldigen Kinder-Ichs, das sich auf dem Niveau eines infantil-gehorsamen Gewissens befindet, nicht mehr zu lösen ist. Die Symptome für eine solche Konfliktlage können sehr zahlreich sein. Eine schöne Frau sein zu müssen und gleichzeitig nie wirklich Frau sein zu dürfen ist zum Beispiel millionenfaches Problem im Umfeld der Bulimie: Man ißt und ißt sich den Tod, man ist erwachsen und trotzdem ein ewiges Kind, man hat Verantwortung und kann sie nicht tragen, man ist wie durch Geburt schon verflucht, das Problem seiner eigenen Mutter zu lösen; deren Problem aber ist nicht zu lösen, und so verrinnen zwei Leben sinnlos ineinander und aneinander. Ist «Rettung» hier überhaupt möglich? das ist, konzentriert in einer einzigen kleinen Geschichte, die Frage. Es lohnt sich, die Lazaruserzählung gewissermaßen einmal im Kontext eines solchen Märchens zu lesen, weil diese entscheidende psychologische Problemstellung in der Sprache der Bibel so wenig beantwortet wird, – in den johanneischen Wundergeschichten wird sie kaum angedeutet. Alles geschieht da durch einen Machterweis; – man erinnere sich nur, wie Jesus vor dem offenen Grab spricht: Lazarus, komm heraus! Es ist ein Befehl des Allmächtigen über den nur scheinbar allmächtigen Tod. Die Märchen indessen glauben nicht, daß man der Angst und dem Tod befehlen könne; sie erzählen sich anders, und es ist überaus lohnend, auch die Gestalt des Erlösers im Neuen Testament noch einmal von daher neu zu malen. Genial, wie Märchen oft sind, erklären sie psychologisch schon vorweg: Einer Frau, der als Mädchen der Vater fehlte, kann ein Mann, der ihre Angst umfangen und aufheben soll, nur in der Aura eines Vaterersatzes begegnen. War der Vater ein König, so wird der «Erlöser» ohne Zweifel nur als ein Prinz, als ein Königssohn, die Bühne des Lebens eines Schneewittchens betreten können. Und in der Tat: ein solcher, so hören wir, kommt, um bei den Zwergen zu übernachten. Er gleicht in seinem Wesen dem Schneewittchen, ohne daß man näher wüßte, wieso. Auch er scheint eine 49

Kindheit zu suchen, die zu leben ihm niemals wirklich vergönnt war; wie sonst könnte es sein, daß den Prinzen der Anblick gerade der fast Verstorbenen, der schon im Sarg Liegenden, derart fasziniert? Alles würde er geben für sein Schneewittchen, wie er sagt, und um jeden Preis der Welt möchte er es loskaufen von den Zwergen. Manchmal sind Märchen großartig, – zum Beispiel an dieser Stelle, in einer Logik, die einzig Kinder verstehen: «Nicht um alles Gold in der Welt», sprechen die Zwerge, «geben wir dir unser Schneewittchen!» Aber dann haben sie doch Mitleid mit dem Königssohn, und als er fortfährt: «So schenkt es mir, denn ich kann nicht leben, ohne Schneewittchen zu sehen», da überlassen sie’s ihm! Wäre es möglich, das Allerkostbarste im Leben wäre nicht zu erkaufen, nicht zu erbetteln, das Schönste wäre immer ein Geschenk, dargebracht aus Wohlwollen, Verstehen und Einfühlen? Das ist in der Tat der Beginn für das neue Leben Schneewittchens. Es ist ein wunderbarer Zug der Erzählung, daß der Königssohn im folgenden Schneewittchens Sarg tragen läßt, und im Grunde müßte man sagen, er bedürfe dafür keiner Diener; diese «Diener» seien nichts anderes als Anteile seiner eigenen Psyche. Die erste Begegnung eines späterhin groß aufwachsenden Glücks und der beginnende, noch zaghafte Austausch eines trauervollen Geschenks zwischen «Prinz» und «Prinzessin» bestehen da in dem Gespür, Schneewittchen tragen zu müssen, – kein Mensch weiß, wie lange. Eigentlich könnte alles unendlich lange so weitergehen, bis hinüber in ein anderes Königreich, bis hinüber in ein neues Mausoleum. Doch es kommt ein bestimmter Augenblick, da alles ins Stocken gerät: Es geht so eben doch nicht weiter, – es gibt Anstöße, Reibungen. Die scheinbare Harmonie im Umgang mit einer lebendig Toten verstößt sich, und genau an diesem Punkt, an dem die Konflikte beginnen, statt die reine Einmütigkeit noch weiter fortzutragen, öffnet sich Schneewittchens Mund, bis daß es alles das «ausspuckt», was es vergiftet hat. Auch das ist ein Bild, das wir über Jahre hin ausmalen müßten: wie eine lebendig Tote leise zu reden beginnt und es doch noch kaum vermag. Alles Reden-Wollen ist nur erst ein Stocken und Stottern, ein Herausbrechen mehr als ein Sich-Mitteilen. Stückweise kommt es, brockenweise kommt es, ungeordnet kommt es, aber doch: Der Mund öffnet sich, und es führt von innen her zu der entscheidenden Bewegung, den Glassarg aufzumachen. In wenigen Strichen so tief zu reden vermögen nur Märchen. Erstaunt fragt Schneewittchen: «Wo bin ich denn?», und man begreift die Berechtigung dieser Frage nur allzu gut. Wie soll ein Mensch sich zurechtfinden, wo er doch nie selber hat leben dürfen? Bemerkenswerterweise ist die Ant50

wort des Königssohnes indes keine Ortsangabe; sie ist nichts weiter als der Ausdruck eines ganz und gar persönlichen Verhältnisses: «Du bist», sagt er, «bei mir.» Das allerdings ist der Grund allen Lebens. Alles, was Märchen sagen können, ist einzig dies, daß nur die Liebe stärker ist als der Tod. (Hld 8,6) Die «Bestrafung» der «Stiefmutter» ist dann zu verstehen als eine symbolische Selbstbefreiung. Denken darf man, daß sich im Inneren Schneewittchens der Mechanismus zu Tode läuft, der bislang seinen Tod bedeutete: Es mußte tanzen stets nach fremdem Befehl, es mußte lustig scheinen, wo es traurig war, es mußte fröhlich tun, wie es vor allem die Mutter erwartete. All das jetzt dreht sich und dreht sich und tanzt sich zu Tode in glühenden Schuhen. Nicht eine grausame Strafe ergeht da in äußerem Sinne über die Stiefmutter, sondern innerlich verschwindet ihr Schatten endlich aus der Seele und aus dem Leben ihres Kindes. Bis dahin wüßten wir alles, was wir brauchten, um als Menschen einander gegen den Tod anzulieben; aber wir meinen beim Sprechen vom Tod im Sinne der Märchen bislang nur den Tod der Seele, die Todesangst in Form von Menschenangst. Es bleibt die Frage, die in der Lazarusgeschichte immer doch auch steckt und die kein Märchen beantworten kann: Was ist zu tun mit dem körperlichen, dem physischen Tod? Es war um 1900 der russische Schriftsteller Leonid Andrejew, der die Lazarusgeschichte so wörtlich, das heißt symbolisch nahm, wie das Johannes-Evangelium sie erzählt2. «Geht nicht eine ganz neue Frage aus diesem ‹Unmöglichen› hervor?» dachte er. «Ein Mensch hat den Tod geschaut und kehrt zurück zu den Lebenden? Wie wird er die Augen der lebenden Menschen betrachten?» Das wurde die Frage Andrejews. Er erzählt, daß den «Auferweckten», den Unheimlich-Gewordenen, alle verlassen, selbst seine Schwestern Maria und Marta; sein Leben verbringt er am Rande der Wüste. Der Kälte des Grabes erstiegen, verträgt er nur noch die glühende Sonne. Wenn selbst die Skorpione sich krümmen vor Hunger unter den Steinen und suchen den Schatten unter den Felsen, dann sitzt Lazarus unter dem Glast der strahlenden Mittagssonne, als könne er ihr Licht gar nicht tief genug in sich einsaugen. Er ist ungeheuerlich allen Zeitgenossen, und sie fliehen seine Nähe von weitem. Einmal kommt ein römischer Steinmetz und Bildhauer zu ihm; er bittet sich seine Gastfreundschaft aus und erfährt, daß es in Lazarus’ Haus weder zu essen noch zu trinken gibt; er möchte Geschichten von ihm hören, fröhlicher und lustiger als der Falerner Wein, doch an des ehedem Verstorbenen Seite verändert sich seine ganze Wesensart. Auf dem Schiff, 51

das ihn nach Rom zurückträgt, steht er mitten im Sturm auf Deck, geht er nicht mehr hinunter und murmelt er nur: «Ich habe gefunden.» Eine Skulptur stellt er her, zerfließend an den Rändern, unförmig, – gräßlich, sagen seine Freunde. Nur ein winziger, bezaubernder Schmetterling hat sich unter einem der Vorsprünge der Statue verborgen. Diese Figur zertrümmern die Freunde, doch sie verschonen den lieblichen Schmetterling. Der römische Steinmetz wird nie mehr ein Bildwerk erschaffen. Er hat gefunden, was nur Lazarus ihm zeigen konnte: ein Leben, das an den Rändern sich auflöst und nichts weiter übrig läßt als die Sehnsucht nach etwas, das es nicht kennt3. Eines Tages wird man Lazarus selber an den Thron des Augustus nach Rom holen. Die ganze Stadt ist voll üppiger Freude. Doch Andrejew erzählt von der schwermütigen Wirkung, die von des Lazarus Anblick ausgeht: «So trat Lazarus vor einen Jüngling und ein Mädchen, die sich liebten und schön waren in ihrer Liebe. Seine Geliebte stolz und fest im Arm, sagte der Jüngling voll heimlichen Mitleids: ‹Sieh uns an, Lazarus, und freue dich mit uns. Gibt es denn etwas, das stärker ist als die Liebe?› – Und Lazarus sah sie an. Und sie liebten einander ihr ganzes Leben, aber ihre Liebe war traurig und düster wie jene Friedhofszypressen, deren Wurzeln sich von verwesenden Gräbern nähren und deren schwarze spitze Kronen vergeblich an stillen Abenden den Himmel suchen. Von der unergründlichen Gewalt des Lebens einander in die Arme getrieben, vermischten sie ihre Küsse mit Tränen, ihre Wonnen mit Schmerzen und fühlten sich zwiefach wie Sklaven: hörige Sklaven des fordernden Lebens und ergebene Diener des drohenden, schweigenden Nichts. Für ewig vereint, für ewig getrennt, loderten sie wie Funken auf und verloschen wie Funken in der grenzenlosen Finsternis. – Einen stolzen Weisen, einen Philosophen, trifft Lazarus; dieser sprach zu ihm: ‹Ich weiß schon alles, was du mir an Furchtbarem sagen kannst, Lazarus! Womit kannst du mich noch erschrecken?› – Doch wenig Zeit verging, und der Weise begriff, daß das Wissen vom Grauen noch nicht das Grauen selbst und daß die Betrachtung des Todes noch nicht der Tod selbst sei. Und er fühlte, daß Torheit und Weisheit eines seien vor des Unendlichen Antlitz, denn das Unendliche kannte beide nicht. Und es schwanden die Schranken zwischen Wissen und Unwissenheit, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Oben und Unten – und sein verarmtes Leben schwebte im Leeren. Da faßte er sich an seinen grauen Kopf und schrie voll Verzweiflung: ‹Ich kann nicht denken! Ich kann nicht mehr denken!›»4 52

Schließlich verlangt der Augustus selber, daß Lazarus ihm in die Augen schaue. «Im ersten Augenblick meinte Augustus, ein Freund sehe ihn an, – so weich, so anziehend, so bestrickend war Lazarus’ Blick. Nicht Grauen, sondern Ruhe und Frieden versprach er. Als zärtliche Geliebte, als mitleidsvolle Schwester, als Mutter zeigte sich das Unendliche, aber immer stärker wurde seine zärtliche Umarmung, und der nach Küssen dürstende Mund raubte allen Atem; durch den weichen, warmen Leib trat die Härte der Knochen, die sich zu einem eisernen Ring zusammenschlossen, durch, – und dann berührten stumpfe, kalte Krallen das Herz und sanken schlaff hinein. – ‹Sieh mich an, Lazarus, sieh mich an!› befahl Augustus wankend. Die Zeit blieb stehen, und bedrohlich rückte das Ende jeglichen Dings mit seinem Anfang zusammen. Eben erst errichtet, verfiel schon der Thron des Imperators, und Leere gähnte an seiner Stelle. Lautlos verging Rom, eine neue Stadt erstand an seinem Ort und wurde wieder von der Leere verschlungen: Städte, Reiche, Länder fielen und schwanden im Nichts; gleichgültig verschlang sie der schwarze Schlund des Unendlichen, den nichts zu sättigen vermochte.»5 Augustus befiehlt schließlich, Lazarus nicht zu töten, aber seine Augen zu blenden; und so, als ein Blinder, als ein Geblendeter, lebt er fort: »Abends, wenn die Sonne, in roter Glut schwellend, zum Horizont sank, folgte ihr der blinde Lazarus langsam. Er stolperte über Geröll, stürzte, geschwächt wie er war, in seiner Fülle zur Erde, erhob sich mühsam wieder und tastete schwankend weiter. Vor dem glühenden Schleier der Abendröte erschien sein dunkler Körper mit den weit ausgestreckten Armen wie ein schauerliches Ebenbild des Kreuzes.»6 Da wird Lazarus zu einer Chiffre all derer, denen die Decke der Unwissenheit von den Augen genommen ward und welche die Wirklichkeit schauen: das Unendliche in der Gestalt des Todes. Wie leben solche gerade noch Davongekommenen, solche in die Normalität Zurückgekehrten? Wer tröstet diese selber zu Tode Erschrockenen, diese eben deswegen alle Erschreckenden? Ist nicht ein Märchen zu «harmlos», um uns auch über solche Fragen noch zu beruhigen? Wie Dostojewski wollte sein Nachfolger Andrejew einen Lazarus schildern, der uns nachdenklich macht, ob wir im Diesseits je eine Lösung fänden für das Rätsel, welches das Leben selbst ist, weil und solange es im Tode endet. Hält nicht einzig ein Dasein nach dem Tode, hält nicht allein die Unsterblichkeit eine Antwort bereit für dieses kleine, winzige Leben, das sich auswirft in ein Unendliches, während es sich vor seinen Augen doch ausnimmt wie ein Nichts? 53

Andrejews Lazarus kehrte zurück in dieses Leben; eben deswegen kann seine Geschichte uns niemals befriedigen. Wir brauchen eine ganz andere, so wie die Ikonenmalerei sie zeigt: Jemand tritt hinein in das Grab und nimmt Adam, uns alle, jeden der Sterblichen, bei der Hand, und diese Gestalt heißt Anastasis, Auferstehung der Toten (Abb. 1 a/b). Diese Gestalt ist die Verkörperung der Liebe, sie ist ein «Königssohn» oder «Gottessohn», und ihre Verheißungen umschließen alles, was Leben ist, indem sie es aufheben ins Unendliche. Nicht dunkel, abgründig und unheimlich bleibt da unser irdisches Dasein, sondern selber schon voller Licht wird’s, weil erfüllt durch die Freude des Wiedersehens. Wie wird aus einer Geschichte, die ein «Wunder» ist, ein Mysterium des Siegs (der Liebe) über den Tod, – wie wird aus der Erzählung von Lazarus die Geschichte vom Ostermorgen? Das zu erzählen behält an dieser Stelle das Johannes-Evangelium noch eine Weile sich vor.

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Joh 11,55-57; 12,1-11: Tod dem, der vom Tod erweckt! – Die Salbung zum Begräbnis 55Es

war aber nahe das Pessah der Juden, und es zogen hinauf viele nach Jerusalem, vom Lande, schon vor dem Pessah, um sich kultisch zu heiligen (2 Chr 30,17-18). 56Die suchten natürlich Jesus und diskutierten, im Tempel stehend, untereinander: Was dünkt euch? Daß er wohl doch nicht zum Fest kommt? 57Erteilt hatten die Hohen Priester und Pharisäer Weisung, wenn jemand erfahre, wo er sei, es anzuzeigen, um ihn zu verhaften. 12 1Jesus nun war sechs Tage vor dem Pessah nach Betanien gekommen, wo Lazarus war, den Jesus von den Toten erweckt hatte (11,43). 2Sie also bereiteten ihm dort ein Mahl, und Marta bediente (Lk 10,40); Lazarus aber war einer von denen, die mit ihm zu Tisch lagen. 3Maria da: sie nahm ein Pfund kostbares Nardensalböl und salbte die Füße Jesu und trocknete mit ihren Haaren seine Füße (11,2; Lk 7,38). Ja, das Haus ward erfüllt vom Duft des Salböls. 4Spricht da Judas, der Iskariot, einer seiner Jünger, er, der ihn ausliefern sollte (6,64): 5Weshalb wurde dieses Salböl nicht verkauft – für dreihundert Denare (ca. 100 Euro), und Armen gegeben? 6Er sagte das aber nicht, weil ihm an den Armen lag, sondern weil er ein Dieb war und als Kassenhalter die Einlagen wegnahm (13,29). 7Gesagt hat da Jesus: Laß sie! Sie wahre es für den Tag meines Begräbnisses. 8Arme habt ihr ja allezeit bei euch (Dtn 15,11), mich aber habt ihr nicht allezeit. 9Da erfuhr nun eine große Menge von den Juden, daß er dort sei, und sie kamen, nicht wegen Jesus allein, sondern auch um den Lazarus zu sehen, den er erweckt hatte von den Toten. 10Willens aber waren die Hohen Priester, auch Lazarus zu töten, 11denn viele gingen seinetwegen von den Juden (den Gottesbesitzern) hin und vertrauten auf Jesus.

Das 12. Kapitel des Johannes-Evangeliums enthält Texte, die aus der Zeit der schon sicher beschlossenen Verhaftung Jesu, unmittelbar also aus der Zeit des Abschieds, der länger werdenden Schatten des Todes Jesu, stammen. Was ist Tod, was ist Leben, was ist Verzweiflung, was ist Hoffnung? Mit diesen Fragen beschäftigen sich das 11., 12. und 13. Kapitel im Vierten Evangelium. In der Neuzeit gibt es wohl keinen Dichter, der wie der Russe Fjodor M. Dostojewski die Frage des Todes und der Wahrheit des Christen55

tums so sehr in den Mittelpunkt all seines Denkens und Schaffens gestellt hätte. Wir erinnern uns: 1876 im Tagebuch eines Schriftstellers regte Dostojewski ein Gedankenexperiment an, eigentlich zur Probe, inwieweit die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus sich glaubhaft machen lasse. Wir haben den Gedankengang schon einmal im letzten Kapitel vorgetragen; doch es lohnt sich, ihn der Radikalität seiner Fragestellung wegen noch einmal näher zu durchdenken. Dostojewski nämlich schildert, wie in einem Tagebuch, den geplanten Selbstmord eines Studenten. Der junge Mann rechnet mit dem Leben ab, so wie es sich ihm zeigt. Was irgend Wert hat, scheint ihm entwertet durch die Nähe des Todes. Ist es möglich, irgend etwas auf dieser Welt zu lieben, wenn die Mechanik eines seelenlosen Universums alles, was es hervorgebracht hat, wie zum Spott wenig später schon reue- und mitleidlos wieder hinwegrafft? «Ich höre», schreibt er sinngemäß, «daß der ganze Inhalt des Lebens darin liegen solle, künftige Generationen glücklich zu machen. Nicht der Gegenwart sei bestimmt, das Leben zu genießen, aber wenn sie sich opfere, könne doch in einer fernen Zukunft die Menschheit als ganze vielleicht berufen sein zum Glück.» «Ich aber frage», erklärt dieser Student, «wieviel an Leid aufgebracht werden muß für dieses zukünftige Glück, einmal ganz abgesehen davon, ob es sich je erreichen läßt? Wer rechtfertigt denn die Bilanz dieses Unmaßes an Unglück zur Erlangung eines eventuellen späteren Glücks? Worin zudem auch soll eigentlich das zukünftige Glück einer so gestalteten Menschheit beruhen, außer sie tut, was sie heute auch schon tut: essen und trinken, und damit: rauben und stehlen? Ich höre sagen, daß unter kultivierten Bedingungen Essen und Trinken nicht gleichzusetzen sei mit Rauben und Stehlen, aber ist der Wille der Einzelnen, glücklich zu werden, nicht in Wirklichkeit immer identisch gewesen mit dem Interesse, sich durchzusetzen und dem anderen wegzunehmen, was er hat? Ist diese Auskunft des Lebens: du bist da, um das Leben zu genießen, seit eh und je etwas anderes als eine Aufforderung gewesen, weiter zu schmutzen, Nester zu bauen und endlich zu sterben? Gesetzt selbst, das verheißene Glück einer zukünftigen Menschheit wäre in einem staatlich geordneten Glückseligkeitszuchthaus erreichbar, das Wohlbehagen aller würde in dem Glaspalast einer gerecht eingerichteten Gesellschaft organisiert werden, ja, es würde aus den Gesetzen der Natur und der menschlichen Geschichte ein solcher Zustand sich wie von selber unfehlbar ergeben, stünde es dann nicht zugleich ebenso sicher fest, daß dieselben Gesetze ebendiese Menschheit unrettbar, als ganze, über kurz oder lang in eine blanke Null zurückverwandeln würden? Da ich also einer Welt gegenüberstehe, die ich 56

ihrer Unmenschlichkeit und ihres Zynismus wegen verklagen muß, da es aber niemanden gibt, der mir dabei zuhören würde, so beschließe ich, mich selbst mitsamt dieser Natur zu beseitigen; da ich aber die Natur nicht beseitigen kann, werde ich beschließen, wenigstens mich selber abzuschaffen.»1 Das schrieb Dostojewski; doch kaum zu Papier gebracht, fielen die Rezensenten über ihn her. Insbesondere ein Herr Enpe in der Zeitschrift Die Unterhaltung (wie sie schon hieß!) fand die Gedanken des Verfassers von Romanen wie Der Idiot und Die Dämonen skandalös: «In unserer fahnetragenden Zeit», schrieb er sinngemäß, «in einer Ära der gußeisernen Begriffe, haben Selbstmörder von der Art, wie dieser Dostojewski sie zeichnet, keine Chance, sich verständlich zu machen und verstanden zu werden. Es hat ja immer schon Selbstmorde gegeben, solche mit Betrachtung und andere ohne Betrachtung, aber die wirklich schlimmsten sind die Selbstmorde mit Betrachtungen dieser Art. Sie zeigen nichts weiter als einen nur um sich selber kreisenden, vollkommen egoistischen, zu keiner heroischen Tat fähigen Charakter. Es geschieht ihm recht, wir bedauern ihn nicht, wenn er beschließt, sich selbst zu beseitigen.»2 Die nächste Auflage seines Tagebuchs verwandte Dostojewski zur Klarstellung dessen, was er gemeint hatte. Natürlich hatte er nicht biographisch und authentisch die Rede eines jungen Mannes referiert, der auf diese Art aus dem Leben gegangen wäre; er hatte anregen wollen, sich zu fragen, was uns wirklich leben läßt. «Ist es denn wahr», führte er sinngemäß aus, «daß dieser junge Mann nichts weiter ist als ein solcher Egoist, der nur sich selber im Sinn hätte? Hat er nicht angedeutet, er würde sein Leben gerne opfern, wenn er nur wüßte, wofür? Dieses Wofür aber brauchte irgend etwas Bleibendes als Sinn, als Gewähr für die Wahrheit, und da er dieses gültige Ziel nicht entdecken kann, verzweifelt er an allem. Er empfindet wie Eltern, die ihre Kinder sehr lieben, aber nicht mehr imstande sind, sie zu ernähren: solche Eltern werden beginnen, ihre Kinder, die sie lieben, zu hassen, aus lauter Verzweiflung! Das natürlich werden die Herren der gußeisernen Begriffe, in unseren die Fahne hochhaltenden Zeiten, nicht verstehen. Aber ich versichere Sie, daß es gerade so sich verhält.»3 Wie, so lautet Dostojewskis Frage, kann ein Mensch sich selber lieben? Wie kann er einen Menschen lieben, ohne den Gedanken der Unsterblichkeit vorauszusetzen? In seinem Roman Schuld und Sühne bereits hatte Dostojewski den Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch an einer wichtigen Stelle den jun57

gen Studenten Rodion Raskolnikow, den Mörder an zwei alten Frauen, einmal so fragen lassen: «Glaubst du, Rodion, an die Auferweckung des Lazarus, glaubst du daran ganz wörtlich?»4 Die Geschichte, die unserem Text hier vorausgeht, ist die von der Auferweckung des Lazarus; Dostojewski nahm sie als Sinnbild für das Leben eines ganz und gar verzweifelten Verbrechers: Ist es möglich, einem Mörder die Hand zu reichen über den Abgrund der Verlorenheit hinweg? Ist es möglich, einem Menschen entgegenzugehen, der sich selbst und den anderen wie ein vier Tage schon im Grab Liegender stinkig geworden ist? Ist es möglich, einer mit Leichenbinden umwickelten Gestalt zu sagen: «Lazarus, komm heraus!» und den widerstrebenden Leuten zu befehlen: «Hebt den Stein weg!» und dann: «Macht ihn los; laßt ihn fortgehen»? – Das ist die Tat, die Jesus unmittelbar zuvor vollbracht hat; und das Johannes-Evangelium betont: Jesus wollte, daß wir auf eine Weise zu leben lernen, für welche es den Tod nicht mehr gibt; das ist der «Sinn» dieses «Wunders» der Auferweckung des Lazarus. Nach der Darstellung dieses für das Johannes-Evangelium ganz zentralen Geschehens wechselt die Perspektive nun von Jesus als dem Mittelpunkt weg zu den Zeugen am Grabe; wie reagieren sie auf das Wunderereignis, und wie denken darüber die Pharisäer und Hohen Priester? Immer wenn das Johannes-Evangelium von «den Juden» spricht, sollten wir eine Form der Interpretation finden, die jeden Hauch eines Rückfalls in den kirchlich-abendländischen Antijudaismus von zweitausend Jahren vermeidet. Deshalb sollten wir uns immer wieder vor Augen stellen, daß das, was das Johannes-Evangelium mit «Juden» meint, nicht sowohl ein bestimmtes Volk, gar eine Rasse, oder eine bestimmte Religion betrifft, als vielmehr einen bestimmten Typ von Religiosität, eine Art, mit Menschen und mit Gott umzugehen, die wir im Herzen jeder verfaßten Religion antreffen werden und die das, was Jesus wirklich wollte, immer wieder verraten wird. Wir müssen, mit einem Wort, in der historischen Darstellung der «Juden» typologische Formen der Auseinandersetzung mit etwas ständig zur Debatte Stehendem erkennen, das zu allen Zeiten für die Frage der Vermenschlichung von äußerster Wichtigkeit ist. Es war aber nahe, heißt es, das Pessah der Juden. – In der jüdischen Religion gibt es kein größeres Fest als das Pessahfest. Es bezeichnet, wie schon früher beim Seewandel Jesu erläutert, eine Stunde der Befreiung: Es war Nacht in Ägypten, als Mose sein Volk zur Flucht in seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit herausrief (Ex 12,31); es war ein Augenblick, in dem bei aller Angst der Mut zu einem solchen Wagnis größer war als die 58

Bequemlichkeit, das alte Sklavendasein in fremdem Lande, in einem entfremdeten Dasein, weiterzuführen. Ursprünglich war das Pessah einmal ein Hirtenfest gewesen, voll magischer Vorstellungen, etwa daß da die Gottheit selbst wie ein hinkender Dämon durchs Land gehe und die Erstgeburt bei Mensch und Vieh schlage; voll Furcht glaubte man, diesen Dämonengott nicht anders loswerden zu können, als indem man ihm freiwillig von den Erstlingen der Herde ein Opfer darbrächte; so bestrich man mit Blut die Pfosten der Häuser. Erwachsen aus einem solchen Hirtenfest, hatte das Pessah im Verlauf der Zeit seine Bedeutung gewandelt: Noch immer geht in der Pessahnacht der Dämon durch die Gassen, doch diesmal, um die Erstgeburt der Ägypter zu schlagen, und es ist jetzt der Engel Jahwes, der das tut, um das eigene Volk zu befreien; aus dem Unheimlichen wird ein Schrecken, der sich mit Aufbruch und Freiheit verbindet. – Aus all dem geworden ist inzwischen eine Gedächtnisfeier, ein Fest. Man steht im Tempel und diskutiert. Man verfügt über eine feste Tradition, man besitzt eine bestimmte Zeremonie, die durch ihre Aufführung die Versicherung mit sich bringt, etwas vor Gott bestimmt Richtiges zu tun. Die Fragerei geht nur: wird auch Jesus dazu kommen, oder wird er nicht kommen? Neugier und Voyeurismus, das sind die Motive, die mitten im Tempel die Debatte bestimmen. Das Johannes-Evangelium aber will nicht länger von solch Sinnentleertem hören, – nicht von einer kultischen Heiligung der vielen «vom Lande», nicht von einem Ritual der Reinigung und der Entsühnung mit Tierblut. Was es vor Augen hat, ist eine neue Religionsform, die im Hellenismus seiner Tage immer weiter sich verbreitet, und darauf antwortend, darauf Bezug nehmend, gestaltet es die folgenden Szenen. Es geht um die Frage: Was trägt und tröstet einen Menschen angesichts des Todes? Das ist die zentrale Infragestellung, der sich religionsgeschichtlich damals vor allem die Mysterienreligionen stellten: Dionysos, Osiris, Orpheus, manche altorientalische Kulte breiteten sich aus in jenen Tagen, als das Vierte Evangelium entstand. Was symbolisieren diese Riten? Wie lassen sie sich deutend, erweiternd übersetzen oder mit der Botschaft Jesu verbinden? Manche Religionshistoriker sind noch heute der Ansicht, daß der Glaube an Unsterblichkeit in der Antike bei den Ägyptern, bei den Griechen nicht sowohl die Unsterblichkeit des individuellen Lebens verheißen habe als vielmehr, in Analogie zu dem Nihilismus des Dostojewskischen Jünglings, ein Dasein male, das sich in seiner Lebenskraft immer wieder fortzeuge. Der Einzelne sei und bleibe in diesen Vorstellungen sterblich, aber die Kräfte der Generation trügen seine Lebenskraft durch die Zeit; das Leben selbst sei wie eine Schlange, die sich in sich zurück59

winde und das Dasein als einen Kreis beschreibe. Ihr Anfang sei ihr Ende, und ihr Ende bilde wiederum einen neuen Anfang. Das Leben gebäre den Tod, aber aus dem Tod erstehe immer neues Leben; und dieser Strom, dieser Wellengang, dieser unendliche Zyklus, dieses pulsierende Energiefeld, das immer neu in sich zurückfalle und immer wieder neu sich gestalte, eben das sei das Leben. Etwas anderes als das zu sehen hätten auch die Mysterienreligionen nicht im Sinn getragen; sie hätten eigentlich den Menschen darüber belehren wollen, daß Leben und Tod ein und dasselbe seien. So sagen es einige der besten Ägyptologen auf den Lehrstühlen, so vertreten es einige der besten Hellenisten an den Universitäten. Es wäre demnach ein Mißverstand, zu denken, die Alten, wenigstens sie, hätten geglaubt an eine Unsterblichkeit, die den Einzelnen bewahre vor der Vernichtung. Im Gegenteil: Man ißt und man tötet, und der Essende und der Gegessene sind ein und dasselbe; die Erkenntnis dieser Widerspruchseinheit sei der Sinn der Mysterien: das Leben als Ganzes erhält sich in all seinen Erscheinungen; so habe man den Menschen in den Mysterienreligionen versichern wollen. Es scheint, daß wir diesen Text aus dem Johannes-Evangelium vielleicht am besten verstehen, wenn wir in Gedanken (oder auch tatsächlich) eine nicht allzu ferne Reise unternehmen. Im Römer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim befindet sich eine feste Ausstellung, die in unserem Zusammenhang etwas recht Bedeutendes zeigt: das Grab des Bürgermeisters von Theben, Sennefer, um 1400 vor Christus, aus der Zeit, als Ägypten in der achtzehnten Dynastie unter der Herrschaft des Pharaos Amenophis IV. zur Weltmacht aufstrebte. Die Kodak-Werke – weil die Fresken dieses Grabes in Ägypten bei dem großen Touristenstrom durch den Atembefall an den Wänden zersetzt zu werden drohen – haben sie auf ihre Art verewigt, indem sie, so getreu es heutiger Technik möglich ist, das ganze Grab nachbildeten, ein «Grab» nur scheinbar, in Wirklichkeit eines der schönsten Dokumente des Glaubens an persönliche Unsterblichkeit, und zwar in ägyptischer Frömmigkeit zeitlich weiter vor Christus zurückreichend, als wir nach Christus stehen. Wenn das Johannes-Evangelium von Christus, von Jesus als dem wahren König redet, so möchte es uns fast beschwören, die Welt mit ägyptischen Augen zu sehen, – eine Einladung, die so wichtig ist, daß wir das Weltgefühl – weder den Schmerz noch die Freude – nicht verstehen können, welche das Johannes-Evangelium als christlich verkündet, wenn wir diese altägyptische Meditation nicht vorweg einfühlbar uns vergegenwärtigen. Im Grabe des Sennefer – des »schönen Bruders», wörtlich übersetzt – 60

befindet sich eine Vielzahl von Bildern, die weniger den Tod als unser Leben deuten möchten. Da sieht man zum Beispiel die Wallfahrt nach Abydos dargestellt, zu der Grabstätte des Gottes, der den Tod und das Leben verkörpert, des Gottes Osiris, und jeder begreift: so betrachteten die Alten Ägypter unser gesamtes irdisches Dasein. Wir sind unterwegs zum sicheren Tod, zum Platz, wo unser Schiff vor Anker gehen wird, aber was bedeutet schon Sterben, wenn dieser Haltepunkt, dieser scheinbare Endpunkt des Lebens nichts weiter ist als die Begegnung mit der Gottheit, die im Tode selber Leben wird? Man muß, entgegen der Auskunft jener Religionskundler, die Bilder im Grabe des Sennefer nur daraufhin befragen. Keinesfalls sprechen sie vom Leben als von einem biologischen oder zoologischen Abstraktum im Sinne einer Metaphysik jenseits der Erfahrung, sie künden durchaus von Sennefer, einem einzelnen Menschen, der einmal gelebt hat; sie schildern sein Leben als eine solche Wallfahrt nach Abydos, und was sie dann zeigen neben den Zeremonien der Mundöffnung und der Mumifizierung – wie der Gott Anubis an den Katafalk tritt und den Körper für die Unsterblichkeit herrichtet –, sind vor allem Begegnungen zwischen zwei Menschen, zwischen Sennefer und seiner Gemahlin. Merit, die Geliebte, heißt sie in der Hieroglyphenschrift auf den Wänden, Senet-nai war ihr Name auf Erden. Es ist, was die Ägypter sagen wollten, soviel wie daß der Tod Menschen, die einander in Liebe zugetan sind, nicht trennen kann noch trennen wird. Wie kann man einen Menschen lieben, von dem man weiß, daß er sterben wird? das war die Frage Dostojewskis. Die Antwort der Ägypter lautete: Man wird die Unsterblichkeit eines Menschen überhaupt nur entdecken, wenn man ihn liebt. Und beides geht ineins. Da sieht man Merit – die Ewiggeliebte, muß man sagen – im Tod, in der Grabkammer als der Stätte der Ewigkeit, ihrem Gemahl die Binden der Brautnacht entgegenhalten: der Tod, ganz romantisch gedacht, als Beginn einer ewigen Hochzeit, das Grab als Ort der Vermählung für immer. Merit reicht ihrem Gatten Salbgefäße und Nahrung, und zwischen ihnen, im Kranz der Blüten, geht eine Knospe auf wie die Sonne, wenn sie wiederersteht im Osten (Abb. 2). – All diese Bilder wollen den Betrachter beschwören, sich selbst als unvergänglich wahrzunehmen. Wie aber lebt dann ein Mensch im Angesicht des Todes? – Immer wieder wird man förmlich enttäuscht sein, sieht man in anderen Museen, wie etwa vor den antiken Römern schon die Etrusker ihre Verstorbenen darstellten: Da liegen sie also behäbig bei Tisch, essen und trinken, und alle Museumsführer erklären, daß Etrusker wie Römer sinnenfrohe Völker waren, die 61

Abb. 2: Merit überreicht Sennefer Stoffstreifen. Grab des Sennefer, Theben-West, Sargkammer

Abb. 3: Grabstele des Marcus Valerius Celerinus und seiner Frau Marcia Procula. Kalkstein, Höhe 1,96 m, um 100–110 n. Chr., Römisch-Germanisches Museum, Köln

sich für die ganze Ewigkeit nichts Besseres vorzustellen vermochten als eben zu essen und zu trinken (Abb. 3). Was für ein Glaube! Auch die Alten Ägypter mochten an der Stätte des Todes, am Beginn der Ewigkeit, kaum anderes versichern, als daß man lernen sollte zu leben wie an einem fröhlichen Tag, nur ohne Ende. Ihre Empfehlung war es für das Diesseits wie für das Jenseits, sich durch den Tod nicht einschüchtern zu lassen, sondern um so mehr sich der Freude zu widmen, die es doch auch gibt, und sich durch den Schmerz des Todes die Lust am Leben nicht vergällen zu lassen. Doch was wir demgegenüber an dieser Stelle im Johannes-Evangelium zu lesen bekommen, ist in deutlichem Kontrast eine Art Gastmahl angesichts des Todes. Wir müssen, um den Unterschied zu verstehen, uns nur einmal in Erinnerung rufen, daß wir, im Fall des Ablebens eines unserer Angehörigen, rituell und traditionell etwas Ähnliches auch tun, nur so ganz anders, als das Johannes-Evangelium es anstrebt, – erklärungsbedürftig erneut durch Völkerkundler und kommentiert nicht selten durch den üblichen Gelehrtenzynismus. Wir tragen jemanden zu Grabe, und hernach setzen wir uns zusammen und feiern ein Totenmahl. Daran teilnehmen werden alle, die irgendwie dazugehören. Die Einladungskarten wurden verschickt, das Lokal wurde gemietet, die Speisen wurden bestellt. Die Ethnologen erläutern uns, der Brauch mache Sinn, denn es gelte, den Schrecken des Todes zu überwinden; die Hinterbliebenen wollten im Mahle sich gegen den Tod um so dichter zusammenschließen und sich vergewissern, daß das Leben trotz allem sich lohne. Nicht zuletzt versicherten sie sich auch einer eigenartigen Schadenfreude: dieser andere könne ihnen nichts mehr tun, er befinde sich in einer Welt, in der er von ihnen getrennt sei; er sei weit genug von ihnen entfernt – in der Ewigkeit! Sonst vielleicht bliebe da eine Reihe von Rechnungen zu begleichen, doch der Verstorbene werde nicht mehr zurückkommen, sie einzufordern, und das empfänden wir, die wir noch leben dürften, als eine Entlastung. Ein Totenmahl trennt, so verstanden, rigoros die Menschen glaubenslos in zwei Welten, in eine der noch Lebenden und in eine der schon Toten, und zwischen beiden soll es keine Brücke geben. Manche magischen Abwehrriten, wie zum Beispiel das Zerschlagen der Beine eines Toten, sind in der Tat direkt darauf gerichtet, daß der Tote nicht als Wiedergänger die Hinterbliebenen beunruhigen möge. Wie aber stellen wir uns selber zum Tod? Nachdem wir den Aberglauben hinter uns haben, scheint uns Heutigen nur noch der Unglaube zu bleiben. Ganz anders waren da einmal die Alten Ägypter, ganz anders auch sollten da wir sein, die Christen. 64

Man denke einmal, diese johanneische Szene von dem Gastmahl in Betanien würde wirklich in einer Grabkammer, in einem Hause der Ewigkeit, spielen, nur wäre diese Begräbnisstätte nicht das Grab, sondern sie bezeichnete dieses unser Leben als ein nicht endendes Friedhofsdasein, – dann hätte man die Ägypter völlig richtig verstanden und ebenso korrekt das Vierte Evangelium im Neuen Testament: Alle Hoffnung auf eine andere Welt zeigt uns doch nur, daß wir hier im Diesseits leben wie in einer Totengruft. Der Tod wacht über uns, und unsere einzige Chance liegt darin, daß er aufhört, länger unser Herr zu sein, daß er in gewissem Sinne für unser Empfinden gar nicht mehr existiert und daß wir in einer Weise zu leben lernen, in der es sich lohnt, ewig so fortzufahren. Es gibt keinen Tod – das ist die Entdeckung, auf die das Johannes-Evangelium uns immer wieder hinweisen möchte; und die Gestalt des Jesus von Nazaret steht ihm dafür, die Angst vor dem Tod überwunden zu haben. Nehmen wir noch einmal, um im Gegenüber uns das Gemeinte zu verdeutlichen, eine andere Dostojewskische Romangestalt. In seinem Roman Die Dämonen quält sich Kirillow sein Leben lang an dieser Frage: Was macht der Tod mit uns Menschen, und was machen wir Menschen mit dem Tod? – Klar ist Kirillow geworden, daß die Menschen nur aus Angst vor dem Sterben sich Gott erfunden hätten. Sein Leben lang hat Gott ihn, Kirillow, gequält, aber das Geheimnis, das er entdeckt hat, besteht darin, daß die Angst des Menschen gar nicht dem Sterben an sich gilt, sondern nur dem Moment des Todes, dem Schmerz, den er mit sich bringt. «Da hängt am Abhang ein Stein, und er könnte dich erschlagen – das macht dir Angst.»5 Der Tod selbst ist das reine Nichts. Wer daher die Angst vor dem Schmerz des Erschlagenwerdens überwindet, braucht keinen Gott mehr, er wird selber zum Gott. Die Gestalt des Menschgottes ersetzt den Mythos vom Gottmenschen Christus. Albert Camus war es, der im Mythos von Sisyphos in der Gestalt des Kirillow die Vorwegnahme, den Beweis geradezu, für seine Behauptung von der Absurdität der menschlichen Existenz fand; er nannte Kirillow einen Heros des Absurden, den ersten überhaupt in der Romanliteratur6. In der Tat: Dostojewskis Kirillow beschließt, um die Menschheit von ihrer Angst zu erlösen, einen Selbstmord aus pädagogischen Gründen. Wenn es ihm gelänge, durch sein Vorbild zu zeigen, daß die Angst vor dem Tod unberechtigt sei, so würden durch sein Beispiel alle von der Angst vor dem Tode befreit sein. Kirillow selbst wird indessen schreckliche Angst vor dem Sterben verspüren7, aber für den Moment sieht er die Welt als vollkommen gleichartig, gleichwertig, gleichgültig an; die Zeit hört auf, Zeit zu sein, sie wird ein stehender Augenblick; die Lebe65

wesen gewinnen eine Wunderbarkeit und Sonderbarkeit, die an ihnen so noch nie zu beobachten war. «Du siehst da eine Spinne», sagt Kirillow, «aber wieviel Schönheit liegt in ihr!»8 Der Tod entwertet in seinen Augen nicht das Leben, er macht alle Dinge im Leben womöglich nur um so kostbarer. Freilich bleibt auch in Kirillow die Trauer über die Vergänglichkeit unausrottbar. Wie aber, wir würden Kirillow in seiner Einsamkeit, wir würden Lazarus in seiner Verwesung bei der Hand nehmen und sie lehren, das Leben zu lieben und in der Liebe zum Leben Unsterblichkeit zu finden! Dann würden wir den Weg beschreiten, der im Evangelium Jesus zurückführt nach Betanien, sechs Tage vor dem Pessahfest. Da sitzt an der Tafel der Pessahgäste Lazarus selbst, und jeder begreift, daß die Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Diesseits und Jenseits zerfließen. Der Tote ist nicht tot, er lebt vielmehr unter uns Lebenden, in unserer Gesellschaft und Gemeinschaft, und wir, die wir zu leben glauben, sind bei ihm und mit ihm. Es durchdringt einander, es bedingt einander, es löst sich nicht ab, sondern auf, es bildet keinen Gegensatz mehr, es verschmilzt. Es ist, wie wenn Helligkeit und Dunkelheit aufhörten, sich wechselseitig auszuschließen, und sie ergänzten sich zu einem angenehmen, den menschlichen Augen wohltuenden Strom aus Farbenpracht und Schönheit. – Man muß die Bilder im Johannes-Evangelium jetzt nur im einzelnen durchgehen. Da hören wir von der Schwester des Lazarus, von Marta, daß sie Jesus bediente. Es ist, wie gesagt, die Frage, ob der Vierte Evangelist das LukasEvangelium an dieser Stelle gekannt hat: greift er eine Szene, die dort berichtet wird, als bekannt auf, verkürzt er sie, oder ist seine Tradition selbst lückenhaft? Lukas, wie wir schon gehört haben, berichtet im 10. Kapitel (Lk 10,38-42), daß Marta, als Jesus in ihr Haus kam, ihn mit Nahrung versorgte, während ihre Schwester Maria sich ihm zu Füßen setzte und ihm zuhörte. Für Lukas wurde daraus ein Gegensatz: Wie begegnet man Jesus? Die spätere Exegese dieser Stelle hat, wie wir sahen, darin zwei Weisen des Daseins erblickt – die aktive und die kontemplative Seite des Lebens: Es gibt Menschen, die durch ihr Tun, durch ihr Streben, durch ihre Leistungen, durch den Einsatz ihrer Fähigkeiten, durch ihr Engagement versuchen, die Welt zu verändern und auf solche Art sich Gott (oder Jesus) zu nähern. Andere sind, die tun scheinbar gar nichts, sie hören nur zu, sie verweilen, sie lauschen nach außen und noch mehr nach innen. Im LukasEvangelium wird Jesus sagen: Maria hat – den besseren Teil, so wird meist übersetzt, man müßte aber korrekt dem Sinn nach sagen – das einzig Rich66

tige erwählt. Das Hebräische kennt nicht Besser und Schlechter, nur Entweder-Oder; entweder ist eine Sache richtig, oder sie ist falsch. Wie Marta zu denken: man muß Jesus bedienen, man muß etwas tun, ist, so betrachtet, eine vordergründige Einstellung; Maria hat recht; das Wichtigste ist: zu finden, welch ein Wort von dem Mann aus Nazaret ausgeht, das uns selber berührt und meint. So die Gegenüberstellung bei Lukas. Setzen wir einmal voraus, Johannes hätte diese Überlieferung gekannt, dann müßten wir annehmen, er hätte die entscheidenden Worte absichtlich weggelassen. Und eine solche Aussparung machte plötzlich einen überraschenden Sinn. Nicht erst Martin Luther wäre es dann gewesen, der im ersten Drittel des 16. Jhs. die Gegenüberstellung eines mindergeachteten Lebens der Aktivität und eines angeseheneren Lebens der Betrachtung aufgehoben hätte. Längst schon hatte man damals die «Geistlichen», die Mönche und Nonnen, in Verdacht, daß sie hinter den Klostermauern – sprechen wir in der Sprache jener Zeit – als faulenzende Nichtstuer sich bereicherten an den Erträgen der arbeitenden Bevölkerung, der Handwerker und der Bauern, die sie noch obendrein verachteten, weil sie ja geistlos seien und an scheinbar gar nichts dächten, außer eben an ihr Tagewerk. Martin Luther wollte nicht, daß ein heiliger Stand, gleich einer Ölpest auf dem Wasser, alles ersticke; er löste die Klöster auf. Alltagsleben und Frömmigkeit, «Laie» und «Kleriker» sollten zu ein und demselben werden. Das war der Beginn der Reformation, der Anfang einer wahren Religiosität der Neuzeit: daß unser ganzes Leben von Gott umgriffen sei. Ein Handeln, das nicht geboren werde aus Innerlichkeit, sei in sich selber falsch; eine Innerlichkeit aber, die nicht zum Handeln finde, vertue sich selber. Es mache keinen Sinn mehr, die Menschen in mönchischer Lebensführung darüber zu belehren, wie sie einen Tag lang einen Korb flechten könnten, den sie am Abend wieder auflösen müßten, nur um darüber nachzusinnen, wie sinnlos alle Bemühungen des menschlichen Lebens eigentlich seien. Und in der Tat: Seit dem Beginn der Neuzeit wollen wir nicht mehr das Leben in der «Wüste», als Nachbildung und Kopie einer mißverstandenen ägyptischen Gräberreligion. Was Johannes hier zeichnet, ist offenbar, daß Marta und Maria, ganz anders als bei Lukas, auf ihre Art jeweils genau dasselbe tun: die eine «bedient» Jesus, das heißt, sie setzt ihm Speise vor; die andere salbt ihn; beides gilt dem körperlichen Wohlbefinden, und doch gilt es nur mittelbar dem Äußeren, in Wahrheit bezieht es sich ganz und gar auf die Person Jesu. Wenn wir noch einmal in das Grab des Sennefer zurückkehren und schauen uns auf den Wandbildern an, wie Merit kommt und ihrem Gelieb67

ten Salböl und Nahrung, Trauben und Trank reicht, so finden wir dieselbe Szene vor, die das Johannes-Evangelium hier malt; es ist ein Beisammensein, das den Tod aufhebt; und wir sollten jetzt denken, jedes Zusammensein in Liebe sei ein solcher Vorgriff in der Zeit oder, besser, ein Begreifen der Ewigkeit. Was verachten wir die Sinne, nur weil sie so vergänglich sind? Sollten wir nicht denken: gerade weil unser Dasein auf Erden so begrenzt ist, ist all das, was wir tun, nichts weiter als eine Entdeckung der Ewigkeit, die der Geliebte in seiner Schönheit, in seinem Wert, in seiner Bedeutung jetzt schon besitzt? Nicht eine einzige Geste der Verbundenheit wäre dann umsonst, nicht ein einziges Tun der Gemeinsamkeit wäre dann verloren, sondern im Gegenteil, ein bißchen Nahrung, ein bißchen Salböl für die Füße – darin bestünde die Fähigkeit, in Zärtlichkeit und Glück etwas von dem zu erleben, von dem in alle Ewigkeit nicht gewünscht werden kann und nicht zu erwarten steht, daß es je zugrunde gehen könnte. Nicht die Zerschlagung der Sinnlichkeit, nicht die Entzauberung der Ewigkeitshoffnung, sondern ganz im Gegenteil die Verdichtung aller Sinneseindrücke im Spürbaren, Sichtbaren, Hörbaren, Fühlbaren würde hier zum Zeugnis der Ewigkeit. Alle Empfindungen würden da beschworen, sich über Zeit und Raum hinwegzuheben und zu einem Bild für etwas zu werden, das nie mehr vergeht. Alles, was wir hier auf Erden tun, wäre dann wie eine solche Einladung, den «Geschmack am Unendlichen», wie Friedrich Schleiermacher die Religion nannte, einzuüben. In der christlichen Religion haben wir solche sinnlichen Erfahrungen zu «sakramentalen» Ausnahmen gemacht. Zu bestimmten Stunden gibt es bestimmte Gebärden, die unsere Augen, unsere Ohren erreichen und uns etwas von Gott vermitteln sollen. Das Johannes-Evangelium indessen möchte, daß wir in alle Zukunft nie mehr essen, nie mehr einander berühren, ohne im anderen einen Weggefährten ins Unendliche zu finden. Auf ganz und gar ägyptische Weise möchte da alles zu einem «Sakrament», zu einem Spiegel des Unendlichen, werden. Für die Salbung Jesu gibt es jene schon erwähnte Parallele im 7. Kapitel des Lukas-Evangeliums (Lk 7,36-50). Dort wird uns berichtet, daß einmal eine Frau zu Jesus kam und ihn salbte. Diese Frau war eine Dirne, doch sie traute Jesus zu, daß er sie verstehe, und sie wagte mit diesem Traum einer unbegrenzten Güte sich sogar unter die Augen der Gesetzeslehrer und Pharisäer, nur um zu ihm zu gelangen. Doch kaum daß sie den Raum betrat, in dem Jesus zu Tisch lag, kaum daß sie derer ansichtig wurde, die wie eine ständige Zensur ohnedies über ihrem Leben wachten, da brach sie in Tränen aus, da kam sie, wie ein Tierchen, mehr gekrochen als gegangen, und 68

weinte so bitterlich, daß sie mit den Haaren ihre Tränen trocknen mußte, die Jesu Füße benetzten; nicht, wie sie mit Sicherheit sich vorgesetzt hatte, sein Haupt salbte sie, gleich einem König, sondern seine Füße, wie eine Dienstmagd einem Hausherrn. So berichtet es Lukas. Markus (14,3-9) indessen erzählt, daß in Betanien eine Frau Jesus gesalbt habe auf sein Begräbnis hin. Beide Szenen scheinen im Johannes-Evangelium ineinanderzufließen. Und wieder darf man denken, daß Johannes absichtlich hier die verschiedenen Traditionsstränge zusammenzieht, um ein Neues damit zu bekunden. Die Frau, die Jesus im Lukas-Evangelium salbt, möchte nichts weiter als die Vergebung ihrer Schuld; sie möchte endlich erfahren dürfen, daß sie als Frau unter den Menschen zugelassen und nicht länger als eine Verachtete, als eine Geschmähte, als eine Schändliche ausgeschlossen wird. Und so wird Jesus bei Lukas (7,47) sagen: Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, denn sie hat viel geliebt. Mitten in der Schuld eines Menschen entdeckt Jesus nichts als verlorene Liebe, als suchende Verzweiflung, als zerbrochenen Stolz, als verhinderte Menschlichkeit, und es gibt für ihn keinen Grund, nach Richterart, nach fertigem Maßstab, diese Frau zu verurteilen. Johannes spricht an dieser Stelle jedoch mit keinem Wort von Schuld und Ausgestoßenheit; er trennt nicht zwischen Lebenden und Toten, wie wir gerade sahen, und er trennt offenbar auch nicht zwischen Heiligen und Sündern. Alles ist eins in dieser Gegenwart Gottes. Es ist, wie wenn sogar die Frage nach Schuld und Vergebung sich aufgelöst hätte in eine Liebe, die alles umgreift, – so diese Salbung der Füße Jesu durch die zärtlichen Hände Mariens. Vor einiger Zeit sagte eine Frau einmal: «Ich werde meinen Geliebten nie heiraten.» Und als ich sie ziemlich verwundert anschaute, erklärte sie: – «schon deshalb nicht, weil die Hochzeitsformel darin besteht, zu sagen: ‹bis daß der Tod euch scheidet›. Ich aber liebe für die Ewigkeit.» – Das ist der Unterschied zwischen einem «Sakrament», wie wir es kirchlich im römischen Katholizismus eingerichtet haben, als einer verfeierlichten Ausnahme sozusagen, und der Dynamik, die im Gefühl von Menschen liegt und im Prinzip auch ohne jede Zeremonie, auch ohne jedes Ritual zur «Reinigung», auch ohne bestimmte Beschwörungsriten auskommt: «Ich liebe für die Ewigkeit.» Da scheidet der Tod gar nichts mehr, sondern daß es ihn überhaupt nicht gibt, weil er nicht trennen kann, das ist das ganze Zeugnis der Liebe! Man könnte denken, eine solche Religion der versöhnenden Einheit von Zeit und Ewigkeit, von Erde und Himmel, von Diesseits und Jenseits schwebe derart auf Wolken, daß sie das Leid, das es auch gibt, daß sie die 69

Zerbrochenheit auf Erden, etwa die soziale Frage, nicht wirklich ernstnehme. Im Johannes-Evangelium ist es die Gestalt des Judas, die diesen Einwand formuliert. Sagen wir es gleich vorweg: das Johannes-Evangelium, das so viel von Liebe spricht und sich so christlich gebärdet, kann überaus haßerfüllt reden von all denjenigen, die nicht unmittelbar zum inneren Kreis des «Christlichen» zählen; es grenzt selbst immer wieder aus, hier zum Beispiel Judas. Ihn verleumdet es geradewegs mit der Behauptung, dieser Mann habe nur aus Geldgier so geredet. Eine solche Unterstellung ist nicht nur historisch unwahrscheinlich, sie kommt einer Lüge über Judas gleich. Wie soll im Kreise Jesu Geldgier ernsthaft ein Motiv gebildet haben? Wie sollte Jesus sich in Menschen derart getäuscht haben, daß er nichts weiter als eine Krämerseele in seine Nähe geladen hätte? – Der Mann aus Nazaret war imstande, einen Matthäus, der an der Zollstätte nur fürs Geld lebte, bei der Hand zu nehmen und in seine Freiheit zu führen (Mt 9,9-13)! Selbst wenn in Judas je Habsucht und Geldgier beheimatet gewesen sein sollten, so hätte er diese Gesinnung in Jesu Nähe wohl sehr bald schon verloren. Lassen wir die Bemerkung, die in Joh 12,6 auch literarisch schon wie ein unbeholfener Zusatz klingt: Er sagte das aber nicht, weil ihm an den Armen lag, sondern weil er ein Dieb war und als Kassenhalter die Einlagen wegnahm, einmal beiseite, dann stoßen wir auf ein wirkliches Problem, das Judas beim Namen nennt: Was kann man machen mit einem Gefäß von Salböl! Man kann es verkaufen, für dreihundert Denare schätzungsweise. Wenn Jesus stets davon spricht, daß und wie man Menschen lieben soll, sollte man dann angesichts von Armut und Hunger mit solchen Geldwerten nicht etwas Ordentliches anfangen? Eine nach ätherischen Ölen duftende Kammer ist gewiß ein schöner Luxus für ein paar Stunden, aber kaum weht ein Lufthauch hindurch, so verfliegt der olfaktorische Genuß in Windeseile. Menschen in Not hingegen, Verhungernde, Verzweifelnde, – die bleiben, und sie sind Realität. Mit dreihundert Denaren ließe sich eine Menge im Kampf gegen soziales Elend aller Art unternehmen. Verstehen wir Judas in dieser Weise, so verkörpert er eine mehr als berechtigte Stimme mitten im Christentum; keinesfalls steht er dann für den Abfall von Jesus, er stellt vielmehr einen durchaus angebrachten Kommentar zu der Botschaft Jesu dar. Jesus richtet sich denn auch nicht gegen das, was Judas sagt. Arme habt ihr ja allezeit bei euch, – das soll doch wohl nicht heißen: schiebt die Sache mit den Armen auf die lange Bank; das soll doch wohl eher besagen: die bestehende Armut ist nicht die Frage jetzt; wer Gutes tun will den Armen, kann das jederzeit tun. Worum es wesent70

lich geht, ist ein sehr schwieriges Problem: wie ist Freude möglich in einem von Armut und Armseligkeit, von Schmerz und Leid, von Vergänglichkeit und Tod bestimmten Leben? Im Hinblick auf diese Fragestellung ist die Tat der Maria zweifellos mehr wert als alle Denare, denn goldwert ist ihr Zeugnis für die Unvergänglichkeit des Lebens eines einzelnen geliebten Menschen. Es ist möglich, ein reines Glück zu leben in der Liebe. Mich aber habt ihr nicht allezeit, – das heißt doch: ein vergänglicher Mensch neben uns ist alles wert in der Liebe, und die Kürze der Zeit macht seine Existenz nur um so kostbarer. In dieser Überzeugung zu leben bedeutet eine Freude, die nie vergeht, und sie erst schafft die Voraussetzung auch für den Mut, der Armut auf Erden wirksam zu begegnen. Im Markus-Evangelium kam in Betanien eine Frau zu Jesus, um ihn zu salben auf den Tod hin; die Frage stellte sich dort: wie kann ein Mensch denn verhindern, daß der andere sterben wird, – zermahlen womöglich von einem Urteil, das sich auf göttliche und staatliche Gesetze beruft und das doch nichts weiter ausspricht als einen legalisierten Mord? Wie ist es möglich, Güte zu bewahren, wenn wir unter dem Dreschflegel des Todes scheinbar endgültig nichts zu retten vermögen? Ist dann nicht alles umsonst? Ist nicht, wenn es Arme immer geben wird, zudem auch alles Ankämpfen gegen die soziale Not vollkommen sinnlos? Das Johannes-Evangelium meint entschieden, es lohne an jeder Stelle das Engagement: Überall, wo ein Stückchen Freude wachse, werde der Tod überwunden. Sagen wir so: Natürlich lassen sich Glück und Unglück nicht gegeneinander verrechnen. Die Liebe zu einem Einzelnen läßt sich nicht einfach statistisch quantifizierbar überführen in ein Mengenproblem. Alle Liebe widmet sich einem Einzelnen ganz, mit der Energie der Unendlichkeit, und gerade so verdient es jeder Mensch; aber man darf nicht die Freude des einen ausspielen gegen das Leid des anderen, so als stellten freudige Unbeschwertheit und behagliche Geborgenheit einen parasitären Luxus dar, etwas, das man sich nicht leisten dürfe, weil mit dem gleichen Energieaufwand eigentlich etwas Nützlicheres zu bewerkstelligen wäre. Im Gegenteil: Erst eine gewisse Mitfreudigkeit schenkt die Kraft auch zum Mitleid. Fassen wir den Vorwurf des Judas in dieser Weise auf, so verkörpert er eine ernstzunehmende Frage mitten im Christentum; er steht für eine Lebensführung, die am Ende wieder das Leben in Dostojewskischem Sinne zu hassen beginnt: Da sind Eltern, die ihre Kinder nicht ernähren können, und weil sie sie lieben, beginnen sie, diese Kinder zu hassen. Das ist die 71

Logik, die Dostojewski später in den Dämonen entfalten wird: Da sind Menschen, die so sehr vom Leid der Welt sich gequält fühlen, daß sie beginnen, alles Leben vernichten zu wollen. Besser scheint es am Ende, daß gar nichts mehr sei, als daß die Wirklichkeit so bleibe, wie sie ist. Wenn sich ein solcher Konflikt in den Worten des Judas verbirgt, dann bedarf gerade er einer besonders tröstlichen Antwort. Wie bewahrt man Menschen davor, am Schmerz zu verbittern, am Unglück gallig zu werden? Wie lehrt man sie Freude? Wie lädt man Lazarus ein, wieder heimisch zu werden in dieser Welt, außer man vermittelte ihm ein unbedingtes Hoffen auf Unsterblichkeit? – Gesagt hat da Jesus: Laß sie (die Frau, Maria)! Sie wahre es für den Tag meines Begräbnisses. Was können wir anderes tun, als den sterblichen Leib eines Menschen zu streicheln, zu salben und ihm zärtlich zu sein beziehungsweise als seine Seele mit der eigenen Person zu berühren und sie den Händen zu übergeben, aus denen er oder sie kommt? Nichts weiter ist Liebe, als so zu fühlen und zu denken. In einem neuen tödlichen Kontrast steht freilich das Echo der Vielen dieser leisen Stimme der Zuversicht im Haus der Schwestern in Betanien entgegen. Eine große Menge von «Juden» erfährt von der Auferweckung eines Toten, – und schon kommen sie, das Schauspiel zu sehen: Lazarus ist auferweckt worden! Doch diese Leute möchten und werden gar nichts «sehen» in johanneischem Sinne, denn ihnen ist an nichts weiter gelegen als an einer neuen Form des Entertainments: Auch Jesus muß man gesehen haben, wie alles Sensationelle, wie jede aufsehenerregende Darbietung! Doch es gibt auch andere, die gehen hinüber zu Jesus, und in ihrem Leben ändert sich alles. Sie hören auf, den Tod noch länger zu fürchten, sie beginnen wirklich zu leben. Und nun höre man ganz richtig: Genau deshalb sind die Hohen Priester willens, Jesus zu töten und Lazarus ebenfalls und jeden zudem, der versuchen sollte, auf diese Weise ein Mensch zu sein. Man begreift sogleich, warum. Wie können Machthaber über Menschen Macht haben, außer sie machen ihren Untertanen Angst vor dem Tod? Er ist das einzige Instrument, über das sie verfügen. Nimmt man den Menschen die Angst vor dem Tod, so beginnt das wahre Pessah: Es gibt keine Gewalt von Menschen mehr über Menschen! Es beginnt ein Aufbruch in die Freiheit! Da wanken die Throne der Mächtigen; also werden sie versuchen, zurückzuschlagen. Jede totalitäre Herrschaft betrachtet Denunziation als Bürgerpflicht: wer irgend erfährt, wo Jesus sich aufhält, der hat es anzuzeigen und ihn auszuliefern in den Tod. Doch bei Menschen, für die es den Tod nicht mehr gibt, wirkt das Mittel der Einschüchterung nicht länger. Wenn Gott stärker ist 72

als der Tod, lösen sich die Schatten auf, und wir nehmen uns bei der Hand und gehen gemeinsam über den Abgrund. Dann hat Martin Luther ganz recht. Auf seinem Sterbebett in Eisleben fand man als letzte Eintragung von seiner Hand den Satz: Wir sind Bettler, das ist wahr9. Er hatte sein Leben lang gehofft, daß die Armut der Menschen von Gott umfangen werde mit einer nicht-verurteilenden Güte, – gleichzeitig Verlorener und Geretteter, simul iustus et peccator, Sünder und Angenommener, Sterbender und Lebender.

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Joh 12,12-19: Der Einzug in Jerusalem 12Tags

darauf, eine große Menge war zum Fest gekommen, wie sie hörten: Gekommen ist er, der Jesus, nach Jerusalem, 13nahmen sie Palmzweige, zogen hinaus, ihm entgegen, und riefen: Hosanna! (Ps 118,25 f.) Gepriesen, der kommt in der Wesensart des Herrn! Der König Israels! (18,33) 14Wie aber Jesus ein Eselchen fand, setzte er sich darauf, wie es geschrieben steht (Sach 9,9; Jes 35,4; 40,9; Zeph 3,14f.): Fürchte dich nicht, Tochter Zion, da, dein König kommt, sitzend auf einem Eselsfüllen. 16Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; aber als Jesus verherrlicht war, da wurden sie inne, daß dies auf ihn hin geschrieben war und man deshalb ihm das getan hatte. 17Zeugnis gab insbesondere also die Menge, die mit ihm gewesen, als er Lazarus aus dem Grab rief und ihn von den Toten erweckte. 18Deshalb ja zog ihm entgegen die Menge, weil sie gehört hatten, das habe er getan, dieses Zeichen! 19Die Pharisäer haben da zueinander gesagt: Schaut, es nützt euch nichts. Da, die Welt, hinter ihm ist sie her (11,48)!

Das 12. Kapitel des Johannes-Evangeliums erzählt, nach dem Vorbild der synoptischen Evangelien, die Legende beziehungsweise die theologische Konstruktion von dem Einzug Jesu in Jerusalem, – von seiner Proklamation zum König Israels, zum Christus; «Jesus der Messias», der «König» – der ganze Christusglaube beruht auf diesem Begriff. Gleichwohl scheint es kaum ein Wort zu geben, das sich weiter von dem ursprünglichen Anliegen des Mannes aus Nazaret entfernt hätte als dieses. Christo rey – das war die Kampfparole, mit der man im Spanien des 15./16. Jhs. die Mauren aus dem Lande jagte, das war die Formel, mit der man die Abschlachtung der «Maranen», der jüdischen Schweine, unter dem Großinquisitor Thomas de Torquemada forderte und legitimierte. – Gott will es – Deus le volt – das war das Kampfbanner der »Christen» in unzähligen blutigen Schlachten1. Und über all dem Gemetzel thronte er selbst: Jesus als der Weltenrichter und der Weltenkönig, eben: als der «Christus». Dieser Text aus dem Johannes-Evangelium, wenn man ihn nur genau genug liest, zeigt indessen etwas völlig anderes. Als erstes ist er auffallend ehrlich in historischer Absicht: «Dies alles verstanden seine Jünger nicht in den Tagen, da es geschah», sagt er, «sondern erst nach Jesu Erhöhung, 74

nach seinem Tode, nach seiner Auferstehung, nach Ostern also, kam es ihnen zu Bewußtsein»; und zwar wohlgemerkt nicht, daß Jesus so gehandelt hätte – davon kann keine Rede sein, die ganze Begebenheit, wie gesagt, ist eine theologische Konstruktionslegende –, sondern, «daß dies», nämlich wie es bei Sacharja im 9. Kapitel (Sach 9,9) «vorhergesagt» wurde, «auf ihn hin geschrieben war». Mit einem Wort, wir haben eine Geschichte vor uns, die als ein erfülltes Schriftzitat sich selber zu erkennen gibt und die sogar den Zeitpunkt ihrer Entstehung noch deutlich genug vermerkt. Selten ist das Neue Testament, wenn es von Jesus spricht, historisch so verständig wie dieser Text hier, der zudem noch den Schlüssel zu dem Christusbekenntnis insgesamt bietet. – «Ja, hat denn dann aber», mag man fragen, «Jesus sich als Christus gar nicht bezeichnet?» – «Nein», kann die Antwort nur lauten, «das hat er nicht.» – «Aber hat er nicht mindestens geglaubt, daß er der Messias sei und in Kraft dieser Überzeugung all seine großen Taten verrichtet?» – «Nein», muß die Antwort wiederum lauten, «auch das hat er von sich nicht geglaubt, ja, überhaupt nicht glauben wollen, und zwar aus gutem Grunde, wie wir rückblickend sagen müssen; denn der Begriff ‹König› selbst ist vor dem Hintergrund der abendländischen Religionsgeschichte politisch und ideologisch höchst ambivalent.» Wenn irgend wir einem Kinde im Alter von zwölf, dreizehn Jahren beizubringen versuchen, daß Jesus «der König» sei, wird es sich unfehlbar erinnern an all die «großen Könige», die im Abendland regiert haben, an die «christlichsten» aller Könige, an Ludwig XIV. zum Beispiel – absolutistisch, universell, in einem Reich von riesiger Ausdehnung und Machtfülle. Wollen wir im Ernst, daß einem Kind die Assoziation an solche Potentaten kommt, wenn wir von Jesus als dem «König» sprechen? Doch die Gegenfrage mag sofort folgen: – «Ja, ist Jesus aber dann nicht nur ein König im Himmel, eine bloße Phantasiegestalt der Hoffnung?» Antwort: «Das nun auch nicht, denn die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem spielt auf Erden, und das soll sie auch.» Von Jesus soll gerade nicht die Rede gehen als von einer weltjenseitigen Vertröstung, sozusagen als von Barbarossa im Kyffhäuser – ein großartiges nationalistisches Denkmal für alle Unbelehrbaren, die unter Hoffnung nichts weiter verstehen, als daß die Vergangenheit in Gestalt der Zukunft sich wieder neu aufführe. Die Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem in allen vier Evangelien will gerade sagen: Was Jesus ist (nicht: was er einmal war), ist unerhört 75

neu: es ist grundverschieden von allem Vorhergehenden, und der Grund, das zu glauben, besitzt schon im Alten Testament eine ziemlich lange Vorgeschichte. Sie beginnt bei etlichen mutigen Propheten, zum Beispiel bei Jesaja im 6. und 7. Kapitel, damit, daß diese Gottesmänner es wagten, der verordneten Macht auf dem Throne Davids, dieser Keimzelle der Messiastheologie, den Kampf anzusagen. Jesaja bekommt es fertig, schon im 8. Jh. v. Chr. die ganze Dynastie des Hauses David für abgesetzt zu erklären: Wenn Gott eine Chance haben soll, dann kann er sich nicht länger der Herrscher in Jerusalem bedienen, dann muß er völlig neu beginnen. Eine solche prophetische Kritik an den Regierenden ist soviel wie eine Majestätsbeleidigung im Namen Gottes, und sie rechtfertigt sich mit nichts anderem als damit, daß die Regierenden Gott beleidigen, indem sie so regieren, wie sie regieren. Aber wer hätte je den Mut aufgebracht, so zu sprechen? Für Aussagen dieser Art bewundert man die Propheten, doch sie versteigen sich noch zu ganz anderen Urteilen. Jeremia zieht den Schlußstrich unter die gesamte Königsvorstellung des Alten Israel: bevor die Babylonier den Tempel schleifen und Jerusalem vernichten, spricht er über Jojakim, über seine ganze Familie und seine ganze Dynastie, das Vernichtungsurteil. Das Königtum mag ein Siegelring einmal am Finger Gottes gewesen sein, doch Gott selbst hat diesen Ring abgestreift und weggeworfen (Jer 22,24). Es wird nie mehr ein Königtum in Israel geben, das sich auf Gott berufen könnte, – bis zu dieser Aussage wagt sich Jeremia. Man wird ihn dafür verfluchen, man wird ihn einen Defätisten nennen, man wird ihn in den Brunnen werfen (Jer 38,1-13), doch als gerade all seine düstersten Weissagungen eintreffen, erinnert man sich seiner, und dann wird er es sein, der die Menschen im Exil mit seinem Wort zu trösten vermag. Sein Gott war immer weiter als die Grenzen der königlichen Verwaltungsbürokratie über das sogenannte auserwählte Volk. Ein Knecht Gottes zu sein wäre die wichtigste Pflicht eines israelitischen Königs gewesen. Jeremia aber besaß die Unverschämtheit oder die unvergleichliche Kühnheit, den größten Gegner seines Volkes, den Babylonierkönig Nebukadnezar, ausgerechnet ihn, zum Knecht Gottes auszurufen (Jer 25,9). Das sei Feindschaft gegen Gott, das sei ein Affront gegen alle Frömmigkeit, das sei ein absichtliches Überhören aller Versprechungen Gottes in der Geschichte, warfen die Hoftheologen dem Propheten vor; der aber sah Gott reiner beglaubigt, wenn das davidische Königtum verschwände, er sah ihn weniger verfälscht von den Mißdeutungen der Rechthaberei, des Machtgewinns und der tradierten Enge. Auf der Höhe eines Jeremia wird man sich im Alten Testament nicht 76

lange halten; sehr bald, allerdings mit bedeutsamer Verschiebung des Inhalts, wird der Prophet Haggai den Wiederaufbau der Heiligen Stadt und des Tempels begleiten. Er wird um 520 v. Chr. seine Hoffnung auf Serubbabel setzen, und wie der regieren soll, beschreibt Sacharja, Kapitel 4, Vers 6: nicht durch Heeresmacht und nicht durch Gewalt, sondern mit meinem Geist. Neben dem «König» sieht Sacharja ebenfalls messianisch geprägt die Gestalt des Priesters, im 6. Kapitel, Vers 13: König und Priester geeint in Frömmigkeit und Milde, das ist die neue Verheißung dieses Propheten. Ein König wie Serubbabel wird die Streitwagen verbrennen, die Kriegswaffen vernichten, und dann endlich wird Friede im Lande sein. Es ist eine der ganz wenigen Stellen, an denen im Alten Testament unmittelbar der Aufbau und die Einhaltung von Frieden zum Auftrag eines Herrschers wird. In der Tat, es ist nicht klar, wie je der Geist Gottes Macht haben sollte über die Menschen, wenn nicht im Frieden. Sacharja ist es, der einen Friedenskönig für möglich hält; und ihm fällt diese Szene ein – trostvoll für die Heilige Stadt, trostvoll für das Herz Judas und Israels: Da wird ein König kommen, nicht nach der Weise der Gewaltherrscher und Machthaber, sondern demütig, sanftmütig, auf einem Esel. Das ist der Inhalt von Sacharja 9,9. Immer wieder hat man theologisch gemeint, daß Jesus selbst sich in diesem Sinn als Friedenskönig verstanden habe. Es ist durchaus ein mögliches Bild, um sich die Person und das Wirken Jesu vorzustellen, doch falsch wäre es, zu denken, Jesus selbst habe sich so gesehen, ja, er habe sich auch nur so sehen können oder sehen wollen. Das Johannes-Evangelium hat an dieser Stelle vollkommen recht; derlei Vorstellungen sind viel später entstanden und in letzter Konsequenz erst in der Schriftauslegung außerhalb Israels, in Kreisen, die dem Hellenismus zuzurechnen sind. Griechisch sprechende Gläubige der frühen Kirche haben die griechische Übersetzung des Alten Testamentes (die Septuaginta) so gelesen und so interpretiert: Es war ihnen nicht genug, in Jesus den Propheten, den wiedergekehrten Elia, zu sehen, sie wollten ihn als die Erfüllungsgestalt des ganzen Alten Testaments, als den Messias betrachten. – Wie aber können wir zeigen, daß Jesus der Messias ist, und was hängt davon ab, wenn er es ist? Es gibt eine unmißverständliche Textstelle im 8. Kapitel des MarkusEvangeliums. Da fragt Jesus selbst seine Jünger, für wen sie ihn halten, und Petrus erklärt: Du bist der Messias. Alles spricht dafür, daß die Antwort Jesu auf dieses Bekenntnis gelautet hat: Verschwinde! Hinter mich! Satan! Du hast nicht Gott im Sinn, sondern (einzig) die Menschen! (Mk 8,33). Es muß davon ausgegangen werden, daß Markus vor diese Aussage Jesu die 77

Leidensweissagung eingeschoben hat, und erst als Petrus sich dagegen verwahrte, soll Jesus ihm die zitierte Antwort gegeben haben. Das Konstrukt der Leidensweissagungen ist jedoch so deutlich von dem am frühesten uns erhaltenen neutestamentlichen Evangelisten konzipiert worden, daß wir diese Einträge für sekundär halten müssen. Dann aber ist der Kontrast zu der gängigen Messiastheologie massiv: ein Entweder-Oder. Das Ansinnen auch nur, aus ihm einen König zu machen, bedeutete für den historischen Jesus Satanei; Menschenherrschaft im Namen Gottes erschien ihm als das Gegenstück von allem, was ihm wichtig war, und man kann verstehen, warum: Ein «König», der in heiligem Pomp zwischen Gott und Mensch «vermittelt», bildet nicht die Brücke zwischen Himmel und Erde, weil diese einzig im Vertrauen der Menschen liegen kann; ein solcher «König» ist nichts als eine Projektionsgestalt, vor der die Menschen sich in den Staub beugen; er selbst ist ein Nichts, das belebt wird von der Ohnmacht und der Einbildungskraft der Massen, die ihre entfremdete Würde in ihren «Herrscher» hineinverlegen. Wenn es so steht, kann man nur sagen: Um Gottes willen keinen König! Es gibt eine relativ frühe Legende, die diese Art Jesu zu denken theologisch bestätigt; sie findet sich im 4. Kapitel bei Lukas sowie im 4. Kapitel bei Matthäus (Lk 4,7.8; Mt 4,8-10). Da tritt der Satan selbst an Jesus heran und zeigt ihm vom Berg aus alle Reiche der Welt. «Dies alles», spricht er, «dir gebe ich es, wenn du kniefällig dich niederwirfst vor mir.» Dieser Legende der Q-Quelle zufolge hätte Jesus seine Hände, wie jenes Knäblein, das auf manchen allzu christlichen Bildern auf dem Schoß der Mutter Maria sitzt, um die Weltkugel legen sollen wie um seinen Spielball. In Wahrheit ist eine solche Vorstellung auch nur für Jesus soviel wie Verrat an Gott. Und doch: – sollten wir uns nicht einen Weltenherrscher nur endlich wünschen, der Gerechtigkeit übte auf Erden, der Frieden erzwänge gegen alle Ruhestörer, der Machtfülle genug besäße, um die ganze Welt zum Wohle aller zu lenken? Endlich läge die größte Macht in den Händen des Tauglichsten. Alles, worauf wir auf Erden hoffen könnten, würde in Erfüllung gehen. Warum also, noch einmal gefragt, weigert sich Jesus, eine solche Synthese von Macht und Gerechtigkeit in seiner Person zu bilden? Um die Einstellung des historischen Jesus zu verstehen, muß man auf seine Botschaft von einem Reich Gottes zurückgehen, in dem einzig Gott selber «König» ist. Unbezweifelt ist die Tatsache, daß der Mann aus Nazaret von den Römern unter dem Titel verurteilt wurde: König der Juden. Pilatus muß den Vorwurf aufgegriffen haben, der von Kreisen des 78

Judentums erhoben wurde, Jesus habe auf Messiaswürde Anspruch erhoben; doch offenbar hat man es dabei fertigbekommen, gerade aus der vollkommenen Verneinung der Macht einen um so größeren Machtanspruch abzuleiten und daraus eine Anklage auf Leben und Tod zu formulieren. Noch bevor Pilatus an das Kreuz die Begründung der Hinrichtung «König der Juden» nageln läßt, gibt es im Verhör vor dem jüdischen Hohen Priester Kajaphas eine (wohl ebenfalls) legendäre Befragung: Bist du der Messias? – Die Antwort Jesu an dieser Stelle lautet: Ich bin. Es wird aber sein Bekenntnis dann präzisiert als eine Vision der Menschlichkeit: Und ihr werdet schauen: den Menschensohn, zur Rechten sitzend der Macht und kommend mit den Wolken des Himmels (Mk 14,61-62). Das anscheinend ist die Verbindung zwischen dem Auftreten Jesu und dem «königlichen» Einfluß, den er auf Menschen ausübte: Es war einfach seine Menschlichkeit, das Bild des Menschensohnes, das ihm «Macht» über andere Menschen verlieh. Woran also glauben wir, wenn wir ihn trotz Golgota den «König» nennen? Stellen wir es einander gegenüber: Was ist ein König und was müßte er sein? Ein «König», so wissen wir, ist der Regent eines bestimmten Landes, eines bestimmten Volkes innerhalb bestimmter Grenzen. Er wird eingesetzt, um die Interessen seiner Untertanen zu wahren und ihr Wohl zu mehren. Das ist sein Auftrag. Ist daran etwas so Falsches und Unrechtes, wenn denn die Botschaft von einem Reich Gottes irgendeinen Sinn machen soll? Die Antwort kann nur lauten: Alles, nicht nur etwas, ist daran falsch! Das ganze Denken in Begriffen der Nationalstaaterei – hier ist ein Volk besonders berufen von Gott, hier sitzt ein König auf dem Thron, der von Gott selber eingesetzt ist – erscheint dem Mann aus Nazaret schädlich, denn es trennt Menschen von Menschen; es setzt die Herrschaft des einen Königs gegen die Herrschaft eines anderen Königs; es vereint nicht die Menschen, es verneint ihre Einheit; jedes dieser gesalbten Häupter enthält und unterhält viele bizarre Ideen von Gott in seinem Kopf, vor allem diejenige, daß just die Interessen seiner Macht und seines Volkes und seiner Untertanen die allergöttlichsten seien. God and my country – entsprechend der Einheit von Thron und Altar steht Gott stets demjenigen bei, der ihn gerade für seinen Eigennutz in Anspruch nimmt, umzirkelt in den engen Grenzen, die er selber willkürlich seinem Verwaltungsbezirk gesetzt hat. Eine solche Messiasidee ist ein Hohn auf die wahre Herrschaft Gottes über Menschen, meint Jesus. Wer im Sinne des Gottes Israels nicht zu begreifen imstande ist, daß jedes Reden von Gott alle Menschen umschließt, daß es ihn meint als den Schöpfer aller Welt, der versündigt sich, indem er Gott 79

mißbraucht und aus ihm einen Lokalpopanz macht, der zu nichts weiter dient als zur Legitimation von Partikularinteressen. Mit einer solchen Messiastheologie wird die Unendlichkeit Gottes ins Kleinkarierte, Provinzielle, Regionale hineingezerrt. Mit anderen Worten: Wenn Königsein bedeutet, Gott zu der Legitimation institutionalisierter Menschenmacht zu verwenden – wie im ganzen Alten Orient üblich! –, so ist das Königtum ein bloßer Zerrspiegel des Göttlichen. Da wird aus dem, was alle Menschen verbinden sollte, eine absolut gesetzte Ideologie des Besonderen, folglich eine Lüge, ein Betrug im ganzen. Ein solcher König verkörpert nicht Gott, er verstellt Gott, indem er Gott zur Beleuchtung seines eigenen Schattens gebraucht. Das «Reich Gottes», anders gesagt, kann nur bestehen im Öffnen der Grenzen. Auch in und unter der Herrschaft Gottes wird es allerlei Völker geben, unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Überlieferungen, doch all das wird die Menschen nicht länger mehr trennen, sondern sie wechselseitig bereichern, so wie wir heutigentags in Europa die Vielfalt von 28 verschiedenen Sprachen durchaus als Reichtum empfinden. All diese mannigfaltigen Sprachen lehren uns, die Welt noch einmal anders zu benennen, zu erfahren, zu deuten, – auf keine von ihnen möchten wir verzichten. Eine jede in ihrer Besonderheit kommentiert die andere, und in ihrem Austausch zeigt sich das Ganze. Wäre es nicht entsprechend auch möglich, die Gedanken regionaler Politik aufzuheben in die gemeinsame Geschichte einer vereinigten Menschheit? Einzig so käme Gott zur «Herrschaft», und einzig so, als Propheten dieses Gottes, könnten wir Jesus als den wahren «König» der Geschichte bezeichnen, als ihre Erfüllungsgestalt, als ihren Sinnmittelpunkt. Unmittelbar freilich sehen wir in einem «König» wesentlich einen Sachwalter humanitärer Rechte und sozialer Gerechtigkeit. Der Staat, so bringt man uns bei, sei schon deshalb notwendig, damit er die Willkür des einen begrenze an der Willkür des anderen und also beiden gemeinsam Recht verschaffe. Der Staat besitzt das Gewaltmonopol; nur in seiner starken Hand, nur in dem «Schwert» des richtenden «Königs», so glaubt man, erlangten die Angehörigen eines Volkes ihr Recht im Ausgleich der einzelnen Interessen gegeneinander. Was zwischen den Staaten gilt, gilt auch zwischen den Bürgern: Während der «König» die Ansprüche des Ganzen nach außen vertritt, vertritt er nach innen die Forderungen eines jeden, indem er maßgebend, einschränkend, die Einzelnen zum Gemeinsamen hin bestimmt. Der «König» als Sachwalter menschlicher Gerechtigkeit – das ist eine sehr vernünftig scheinende Auffassung. Selbst nachdem wir die Könige aus den Geschichtsbüchern entlassen haben, bleibt uns von ihnen 80

immer noch die Idee der Gerechtigkeit als des Fundaments aller staatlichen Ordnung erhalten. Dennoch ist gerade die gesamte Botschaft Jesu, ist die Art, in der er auf Menschen Einfluß ausüben mochte, zentral gegen diese Vorstellung gerichtet, und das aus klar erkennbaren, wenngleich revolutionären Gründen. Was zum Beispiel heißt uns «Gerechtigkeit» im Umgang mit Schuld und mit Strafe? Wir nennen es ein schweres Unrecht, wenn jemand einen Menschen tötet, und Gerechtigkeit scheint zu bedeuten, daß der Staat seinerseits sich das Recht nimmt, dasselbe zu tun: er tötet den Tötenden, er hat das Recht auf den Vollzug der Todesstrafe. So war es und so ist es etwa in den USA noch heute. Es gilt für Gerechtigkeit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Wenn es aber Unrecht ist, zu töten, wie kann es dann Recht sein, wenn der Staat ein Gleiches tut? – Oder: Wir nennen es einen schweren Raub, wenn ein Mensch einem anderen unter Anwendung von Gewalt sein Eigentum nimmt; aber ist es dann gerecht, wenn die Mächtigen nicht davon ablassen wollen, genau dasselbe zu tun, indem sie ganze Länder ausplündern und deren Bevölkerung in unvorstellbares Elend stürzen? – Den überführten Verbrecher nennen wir schuldig, aber wenn sich die wirklichen Täter hinter den Masken des Wohlstands verschleiern, hinter den Alibis der staatlichen Wohlfahrt, wie dann? – Wir nennen es schlimm, wenn jemand den Körper eines Menschen zerstört; wie aber nennen wir es, wenn die Regierenden den Geist von Menschen töten, wenn sie ihnen die Freiheit rauben, wenn sie mit Fehlinformationen ihre Untertanen zum Narren halten und ständig ihre Propagandalügen so ausschütten, daß es gar nicht möglich ist, im Kopf eines Einzelnen die Welt auch nur einigermaßen richtig zusammenzusetzen? Wer richtet da die Richtenden und im Namen welcher Gerechtigkeit? Und selbst wenn es sie gäbe, die Gerechtigkeit, könnten wir Menschen denn mit ihr leben? Das war das wirkliche Anliegen Jesu: nicht Gerechtigkeit bräuchten wir, sondern Barmherzigkeit! Denn nur die Liebe richte die Menschen auf, nur sie schenke ihnen den Raum, überhaupt leben zu wollen und zu können. Alle Gerechtigkeit fußt im Gesetz. Dies zu formulieren, zu erlassen, zu schützen gilt als Inhalt aller Regierungskunst eines «Königs». Speziell in der Religion, aus der Jesus kommt, der jüdischen, gibt es kaum einen kostbareren Begriff als den des Gesetzes, der «Weisung», der Thora. Ein eigenes Fest feiert die jüdische Gemeinde, den Tag der Gesetzesfreude, der Simchath Thora. Tatsächlich ist die Vorstellung von einem Gesetz etwas Großartiges, solange wir unter einem «Gesetz» das verstehen, was uns von 81

innen her prägt und trägt. Wer, müßte man mit den Weisheitslehrern des Alten Israel, frei rezitierend, fragen, hat der Sonne gezeigt, wann die Zeit ihres Aufgangs sei? (Vgl. Hiob 38,12.) Ein Gesetz liegt da offenbar in ihr, diktiert von der Konstellation der benachbarten Planeten durch die Wechselwirkung der verschiedenen Massen aufeinander. Diese Massenanziehung unterwirft jeden Körper bestimmten Gesetzmäßigkeiten, ihre Wirkung ist universell. Und so in allem. Bis ins Herz eines jeden Atoms hinein herrscht eine Ordnung, die aus dem Inneren der Dinge selbst entsteht. Wie die Wolken ziehen, wie das Wasser fließt, wie die Vulkane erbeben, all das fügt sich in ein Gesetz, das aus dem Inneren kommt, vom Kleinsten bis zum Größten. Und nicht anders die Form, in welcher die Lebewesen ihr Dasein vollziehen. Keinem Vogel muß man sagen, wie er sein Nest baut, wie er seine Flugrouten über Tausende von Meilen nach Süden hin findet und einhält, wie er seine Federn pflegt, wie er einen Zweig umfaßt, um in den Stunden der Nacht zu schlafen, – alles ist ihm von innen her als ein Gesetz eingeschrieben; selbst der Spielraum, dazuzulernen und neue Erfahrungen zu machen, ist im Leben der Arten nach einer vorgegebenen Ordnung festgelegt. Und wir Menschen nicht anders. Das innerste Gesetz des menschlichen Lebens ist gewiß das Verlangen nach Liebe, ist der Wunsch nach Güte. Alles, was je ein «Gesetz» heißen könnte, dürfte in nichts anderem bestehen, als diese Bedürfnisse aus dem Inneren noch klarer auszudrücken, noch bewußter in Sprache zu setzen und noch prägnanter dem Denken zu vermitteln. Alles geschriebene Gesetz indessen dürfte nie etwas anderes sein als ein Kommentar zu diesen großen Gesetzen des Schöpfers in der Ordnung der Welt, und zwar in jedem ihrer Teile. Was wir jedoch in Wirklichkeit in den Büchern des «Gesetzes» antreffen, ist ein Vielerlei von Sondervorschriften, die um so strenger einzuhalten sind, als die Willkür schon von weitem den Formulierungen anzusehen ist. Das Gesetz ist das Gesetz – das ist die Entschuldigung für eine ungeheuere Vielzahl von Unmenschlichkeiten. Gesetz ist Gesetz – das bedeutet, daß zum Beispiel unsere Ausländerbehörden die Nationalinteressen von uns Deutschen, unsere chauvinistische Vorstellung von Gerechtigkeit gegen «Ausländer», gegen «Asylanten», durchsetzen sollen. Gesetz ist Gesetz, ganz gleich, wen es im einzelnen trifft. Immer mal wieder steht in der Zeitung, daß ein junger Mann, etwa ein Kurde, Selbstmord begangen habe: Lieber so enden, als abgeschoben zu werden! Aber das ist kein Anlaß für ein schlechtes Gewissen; denn: Gesetz ist Gesetz. Niemand ist da schuldig. Diejenigen, die es exekutieren, 82

haben vermeintlich gar keine Verantwortung, weil ja das Gesetz angeblich die ganze Verantwortung trägt; und die es erlassen haben? Ihr Gesetz ist der verbriefte Patriotismus ihres Volkes gegen Menschen anderer Herkunft. Ist aber Gruppenegoismus tatsächlich höheren Rechts als der Anspruch des Menschenrechts? So scheint es A.D. 2003 de facto in ganz Europa und Amerika zu sein. Oder ein anderes Beispiel: Im Jahr 1996 schon erklärte das oberste Gericht in Israel, daß die Anwendung der Folter legitim sei gegenüber Palästinensern, die im Verdacht des Terrorismus stünden. So klar attestiert, so unverschämt offen hatte man ein Gesetz der gerechtfertigten Menschenquälerei nicht einmal in der Zeit des algerischen Bürgerkriegs auf seiten der Grande Nation, der Franzosen, erlassen. Die französische Kolonialmacht gebrauchte damals «la main rouge», die rote, blutige Hand, die Folter; sie benutzte aber dazu Fremdenlegionäre, nur begrenzt Teile der regulären Armee; man wollte in der Öffentlichkeit von derlei Praktiken nichts wissen, es war zu skandalös. Aber natürlich wurde es praktiziert, – man wollte dem organisierten Widerstand den Kopf abschneiden, und dazu mußte man Glied für Glied des Bandwurms im Leibe der Franzosen aufspüren. Man mußte Informationen sammeln, und wie wollte man an solche herankommen, außer durch Zufügung schrecklichen Leids? Folter, das bedeutet einen Kampf, in dem ein Mensch nicht anders gebrochen werden kann als durch unsäglichen Schmerz. Wann wird er aufgeben, wohlgemerkt bevor er stirbt? Wie nimmt man ihm den Ausweg, sich selbst das Leben zu nehmen? – Das ist Folter. Aber die so tun, haben oder nehmen sich jedes Recht. Stets wähnen sie, just jetzt das Schlimmste verhindern zu müssen. Jener Palästinenser, den man gerade mißhandelt, gilt für eine lebende Bombe, seine Informationen sind ungemein wichtig. Seine Folter will das Gesetz! – Von den Folterungen im Vietnamkrieg zwischen 1965 und 1974 werden wir kaum je etwas erfahren. Zwar unterhalten die USA in der School of the Americas seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Folterschulen, in denen sie die «Spezialisten» der Militärregimes «befreundeter» Staaten vor allem in Mittelamerika ausbilden, doch politisch korrekt muß man bekennen: Amerikaner foltern nie, denn sie vertreten die Demokratie; darum auch weigerten sie sich im Jahr 2002, obwohl sie mit 130 anderen Staaten ihre Unterschrift unter ein Anti-Folter-Abkommen gegeben hatten, Inspektionen in ihren eigenen Gefängnissen zuzulassen. In Guantanamo auf Kuba foltern sie die gefangenen Taliban derzeit auch nicht «richtig», sie befinden sich halt nur in einem schicksalhaften Kampf gegen den Terror. – Im einzelnen waren die Soldaten, folgt man den 83

Beteuerungen ihrer Auftraggeber, stets bestrebt, das Gesetz zu schützen und zu verteidigen; sie waren immer auf seiten von «Law and Order». Selbst die Wehrmacht der Deutschen zwischen 1939 bis 1945, Konrad Adenauer versicherte es, war stets in Ordnung. Folter gegen Partisanen in Rußland – es wäre eine Verleumdung zu sagen, so etwas habe es routinemäßig in Wehrmachtskreisen gegeben; Mitwisserschaft und Mittäterschaft an der fabrikmäßigen Ermordung slawischer «Untermenschen» und jüdischer «Rassenschädlinge» im Offizierscorps der Wehrmacht – ebenfalls eine böswillige Unterstellung. Doch so war es. So können Gesetze sein: Sie zwingen selbst Gutwillige in die Unmenschlichkeit. Begreift man unter diesen Umständen, was es ausmacht, wenn wir Jesus als «König» bezeichnen? Der Legende der Q-Quelle nach sah dieser Mann die ganze Ordnung der Welt in den Händen des Satans, und er nannte es Satanei, im Namen Gottes sich mit dieser «Ordnung» zu arrangieren. Die «Herrschaft» Gottes – das müßte heißen, man gäbe die Menschen den Händen ihres Schöpfers zurück; erst was dann entstünde, wäre ein göttliches Gesetz. Es erwüchse von unten, es festigte sich von innen heraus, es regulierte sich aus dem Zusammenleben der Menschen selbst; es hätte sein Gleichmaß. Warum eigentlich fällt es uns so schwer, eine solche göttliche Ordnung von innen auch nur für möglich zu halten? Immer wieder betrachten wir Menschen in Angst; wir halten sie für Bestien, die man einschüchtern, zwingen und an die Kette legen muß; und immer von neuem rechtfertigen wir mit diesem negativistischen Menschenbild die Gewalt, die aus Menschen am Ende tatsächlich Bestien macht. Noch nie hat man gehört, daß man den Wolken vorschreiben müßte, wie sie am Himmel ziehen; noch nie hat man gehört, daß man die Blumen auffordern müßte, im Frühjahr zu blühen; noch nie hat man gehört, daß man den Bäumen befehlen müßte, im Herbst ihr Laub abzuwerfen. Ein jedes in der Natur weiß, was es tun muß. Nur wir Menschen gelten für derart verwirrt, daß wir ständig eines Gesetzgebers bedürfen, damit er uns endlich sage, wo wir mit uns selbst dran seien. Doch ist eine solche Ansicht nicht sehr sonderbar? Wir brauchen einen Gesetzgeber, daß er uns sagt, wie viele Steuern wir entrichten sollen, – das mag schon sein. Wir brauchen einen Gesetzgeber zur Festlegung der Straßenverkehrsordnung, – auch das leuchtet ein. Aber in all den Dingen, die wesentlich für das menschliche Leben sind, brauchen wir keinen Gesetzgeber; in den Nebensachen, in den Formalien gewiß, nicht aber, wenn es wirklich wichtig wird. Wie ein Mensch mit dem anderen umgehen sollte, hat Gott uns in unser Herz geschrieben; dieses «Gesetz» verstünden 84

wir von innen heraus. So glaubte Jesus. Man muß daher dem Menschen nicht von außen aufoktroyieren, wie er zu sein hat, man muß nur hinhören, was er selber von sich sagt. Und wenn man das Wort, in dem er sich mitteilt, auffängt und ihm verstärkt zurückgibt, dann redet Gott, dann erreicht es den Ursprung, dann wird es zu dem Wort und zu dem Licht – diesen Lieblingsbegriffen des Johannes-Evangeliums für den Mann aus Nazaret. Ein «König», um das Thema irdischer Herrschaft zu Ende zu bringen, trägt immer wieder die Pflicht, für die «Gerechtigkeit» und für die Partikularinteressen seines Volkes notfalls einen Krieg heraufzubeschwören: einen gerechten Krieg in jedem Falle, einen heiligen Krieg allemal, einen präventiven Krieg zum Schutz des eigenen Volkes, selbst wenn dieses gar nicht angegriffen wird, – einen Angriffskrieg dann, der dem überfallenen Volk, wie 2003 dem am Boden liegenden Irak, sogar die Freiheit verheißt; und wenn ein solcher Regent oder Präsident in Gottes Namen nicht aktuell Krieg führt, so hat er doch den Krieg als Option vorzubereiten; denn nur das zählt zum unerläßlichen Ausweis seiner Stärke. So war es immer: Will ein König kein Johann ohne Land sein, so braucht er eine starke Armee. Sie ist gewissermaßen sein verlängerter Arm, in ihr befinden sich die Tötungsexperten seiner vollstreckenden Gewalt, und er braucht sie, um sich selber, seine Bürger und die Grenzen seines Landes zu sichern. Es ist schwer zu sehen, wie Jesus mit dieser Selbstverständlichkeit, die noch bis heute die Strategie politischer Verantwortung diktiert, je hätte einverstanden sein können. Wenn schon auch nur die Begriffe Gerechtigkeit und Gesetz zweideutig sind, um wieviel mehr dann erst ein konkretes «Gesetz», wie zum Beispiel das einer allgemeinen Wehrpflicht oder gar die auf einen aktuellen militärischen Konflikt projizierte Vorstellung eines «gerechten Krieges»? – Wann je wäre ein Krieg «gerecht» gewesen? Im ganzen 20. Jh. konnte man sehen, wie aus jedem Krieg ein jeweils noch scheußlicherer Krieg hervorging. Wir aber haben speziell nach 1989 erneut gelernt, daß unter bestimmten Umständen Kriege eventuell halt doch unvermeidbar seien. Man hat dafür mindestens drei Argumente: Das eine heißt Auschwitz, das andere Kosovo, das dritte der Kampf gegen den Terror. Läßt sich gegen die Evidenz, notfalls mit militärischen Mitteln Ordnung gegen das Chaos zu setzen, irgend etwas Vernünftiges sagen, irgend etwas Heilendes antworten im Sinne Jesu? Das Verhältnis von Gesetz und Notwendigkeit läßt sich mit einer einfachen Erfahrung beleuchten. Janosch, der Erfinder der Tigerente, hat sein Leben lang darum gerungen, ein Kind bleiben zu dürfen, und jedenfalls hat 85

er nie aufgehört, die Welt mit Kinderaugen zu betrachten. In Polski Blues beschreibt er einmal, wie jemand im letzten Krieg einen Deutschen erschossen hat2. Der Mann war im Begriff, unschuldige Frauen und Kinder zu töten, – ihm ist er zuvorgekommen. Er sagt in seinem Buch: «Ich würde es wieder tun, aber ich habe ein schlechtes Gewissen, ich habe Skrupel.» – Das ist entscheidend. Solange noch Skrupel bleiben, läßt sich aus der Not keine Rechtfertigung machen. Es ist rein logisch nicht möglich, aus einer Ausnahme ein Gesetz abzuleiten; doch genau diese logische Unmöglichkeit vollführen die Militärtheoretiker und Sicherheitsexperten jeden Tag: Die eigentliche Ausnahme setzen sie als Alltagsnormalität. Weil es den Kosovokonflikt gab, brauchen wir – immer noch! – den Euro-Fighter. Obwohl auf der Erde in einem unvorstellbaren Maße der Hunger herrscht, so daß 50 Millionen Menschen jährlich an ihm zugrunde gehen, geben wir pro Jahr rund 30 Milliarden Euro für Rüstung aus, damit wir für Militäreinsätze rund um den Globus gewappnet sind, von der Kalahari bis zum Nordpol. Auf alles, was irgend passieren kann, müssen wir uns solidarisch mit den USA vorbereiten, und wir müssen im Ernstfall unbedingt dabei sein, – oder wir zählen zum «alten Europa», zu einer veralteten Form von Politik. 30 Milliarden Euro, das ist so viel, daß wir es uns ohne ein kleines Gedankenexperiment überhaupt nicht mehr vorstellen können: Wollten wir, wie alljährlich in den Kirchen üblich, vor Weihnachten, vor Ostern sammeln und kämen dabei auf 30 Millionen Euro, so wäre das sehr viel; und doch hätten wir von Jesus aus Nazaret bis Otto III. zu sammeln und zu sammeln, tausend Jahre lang, um den Militärhaushalt der Bundesrepublik Deutschland für ein einziges Jahr zusammenzubekommen. Doch wer da sagen wollte, so transportierten wir doch allererst das Elend, die Not, den Hunger und die Gründe für alle möglichen Kriege in die Welt, der würde für einen Spinner und Phantasten ausgegeben. «Mit der Bergpredigt kann man nicht Politik machen!» heißt es. Aber in welchem Sinne nennen wir uns dann Christen? Wieso bezeichnen wir dann überhaupt Jesus als «Christus» – als «König»? Vor dem Hintergrund dieser Frage müssen wir die vorliegende Erzählung noch einmal ganz neu lesen. In Jerusalem soll es gewesen sein: sie hätten an der Straße gestanden und Jesus zugejubelt: «Er hat den Tod besiegt! Er hat den Lazarus aufgeweckt! Er hat die Gefängnistore der Gräber gesprengt!» – Er habe die Totenkammer eines Lebens geöffnet, in dem immer nur wieder getötet und getötet wird und in dem gegen den Tod nur der Tod verwaltet wird! Damit habe er Schluß gemacht! Da hätten sie mit Palmzweigen gestanden und laut gerufen: «Hosianna (da helfe uns Gott)! 86

Das ist der König Israels!» – Wohlgemerkt, es ist eine Legende, zu sagen, die zeitgenössischen Juden hätten so über Jesus gesprochen. Das haben sie (leider) nicht. Was aber bekommen wir zur Antwort, wenn wir zu heute lebenden Juden sagen: «Wir glauben, daß Jesus der Messias Israels ist»? Jeder Jude wird entgegnen mit dem Blick auf die Schoah: «Wenn der Messias kommt, ändert sich die Welt. Was aber habt ihr, die Christen, geändert im Namen eures Messias in der menschlichen Geschichte? Was denn, bitte schön? Und da soll er gekommen sein, der Mann, der alles verändert, der Friedensfürst des Sacharja? Euch ist er erschienen auf Erden? Da seid ihr die rechten Leute, uns das zu zeigen! Es ist nie schlimmer gewesen als in euren Tagen, und je besser es euch ging, desto erbärmlicher ging es uns und allen anderen. Das ist euer Christus! In seinem Namen habt ihr alle möglichen Verbrechen begangen. Also schafft ihn schnell wieder ab, euren Christus! Auf einen solchen haben wir nie gehofft!» In der Tat, um in Jesus den «Messias» zu sehen, müßten wir alle Vorstellungen über Macht und Recht revidieren. Wenn dieser Mann als «König» gilt, dann als Anti-König schlechterdings. Nie mehr geht es ab jetzt um die Absolutsetzung politischer, sozialer, wirtschaftlicher, kultureller oder kirchlicher Sonderinteressen; einzig von Bedeutung ist nunmehr die Wahrung einer Menschlichkeit, die universell allen zugute kommt. Künftig kann, wenn es so steht, der Begriff «Menschlichkeit» oder «Vernunft» nicht länger «dialektisch» definiert werden, so als sei Wahrheit nur die Kehrseite der Lüge und Gewalt die Voraussetzung der Güte. Hüten muß man sich derzeit insbesondere vor der sozusagen «amerikanischen» Logik, man habe ja Auschwitz nur mit Stalinorgeln aufbrechen und Dachau nur mit Shermanpanzern befreien können, – Kriege seien nötig, um Unrecht zu beseitigen. Überflüssig zu sagen, daß der Zweite Weltkrieg auf seiten der Alliierten niemals geführt worden ist, um irgendein Konzentrationslager zu öffnen; in Wahrheit zeigte sich, daß Krieg stets darin besteht, das zu bekämpfende Böse durch die eigene Bosheit noch schlimmer zu machen. Es war Mahatma Gandhi, der nach 1945 sagte, in Dresden und Hiroshima sei Hitler durch Hitler besiegt worden. Durch einen Krieg kann man nicht den Frieden gewinnen, was auch immer sonst man durch Kriege gewinnen mag. In der menschlichen Geschichte kann die Gewalt durch die Logik des Krieges immer nur weiter eskalieren. Wohl, es mag Wahnsinnszustände einer menschlichen Gesellschaft geben, bei denen wir, wie im Umgang mit einem Amokläufer, über keinen anderen Ausweg mehr zu verfügen meinen als die Anwendung von Gewalt. Eine traurige Pflicht mag das sein, eine Notfallmaßnahme zum äußer87

sten, – aber eine Rechtfertigung, um die ganze menschliche Gemeinschaft in einen solchen Notstand als in ihre eigentliche Normalität zu überführen, geht daraus nicht hervor. Vielmehr sollten wir uns umgekehrt fragen: Was sind denn die Ursachen dafür, daß Menschen verrückt werden, daß mitunter offenbar ganze Kulturen aus dem Ruder laufen, daß ganze politische Regionen abdriften ins Abseits des völkerrechtlich Kriminellen, wie der Irak, wie der Iran, wie Libyen, wie andere Staaten, die seit einem Jahrzehnt und länger bereits im Zielfernrohr amerikanischer Außenpolitik liegen – und, wie wir seit dem Krieg von G. W. Bush im März 2003 allem Anschein nach ergänzen müssen, die USA selbst? Wäre es nicht möglich, daß nicht zuletzt die Summation unserer eigenen Fehler zu Gewalt, Terror und Fanatismus mit beitrüge? Dann müßten wir erneut und jetzt in aller Entschiedenheit im Sinne des Jesus von Nazaret uns fragen: Was ist Gerechtigkeit, außer wir versuchten Menschen gerecht zu werden in ihrer Bedürftigkeit? Wir bekämpften ihre Not, statt dauernd auf Notzustände zu antworten, die zumeist die Folgezustände unserer eigenen selbstverschuldeten Blindheit und selbstverordneten Taubheit sind! Jesus als König – was für ein Bild! Da würde der Frieden geboren nicht aus dem Machterwerb, sondern aus der Demonstration der Ohnmacht. Genau das offenbar war der Gedanke Jesu, der in der Legende vom Einzug in Jerusalem sich verdichtet: Wie aber Jesus ein Eselchen fand, setzte er sich darauf. Die Juden in der Zeit des Sacharja hatten die Macht der Ohnmacht gelernt aus dem Untergang Jerusalems. Was alles noch müßten wir, im Besitz von enormer politischer und wirtschaftlicher Macht, da lernen, um den Einzug Jesu in Jerusalem zu begreifen! Eine reine Utopie ist ein solches Umlernen nicht, es ist nur die Frage, in welch einem Umfang Katastrophen sich erst einmal ereignen müssen, bis wir endlich umkehren, – ob wir immer erst voll gegen die Wand laufen müssen, gewissermaßen mit dem Bug der Titanic auf den Eisberg, ehe wir zu Verstand kommen, oder ob wir aus Einsicht und Weitsicht die richtigen Konsequenzen früher zu ziehen bereit sind. – Die Titanic übrigens ging unter, weil die britische Handelsmarine sich weigerte, Nachtgläser zur Beobachtung einzusetzen; englische Matrosen hatten offenbar prinzipiell so gute Augen zu haben, daß sie auch bei Nacht genügend sehen konnten. – Es ist stets diese sonderbare Mischung aus Vermessenheit, Stolz und Blindheit, mit der wir bei vollem Tempo in jede Katastrophe rasen. Zur Rechtfertigung unseres Dünkels haben wir regelmäßig die alten famosen Begriffe parat: Gerechtigkeit, Ordnung, Recht, Gesetz, – Gott selbstredend steht da stets auf unserer Seite. Wie sollten wir unter diesen Umständen Jesus als «König» 88

bekennen, außer wir schafften es, mindestens den Krieg abzuschaffen nebst all seinen ideologischen, psychologischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen? Es wäre die wichtigste Änderung der menschlichen Geschichte! Es wäre der Anfang eines wirklichen Christusglaubens. Wer ist dann «Christus» als «König»? Von Jesus als dem wahren «König» muß man in gewissem Sinne träumen in dem Kommentar so mancher Märchen. Aus den Geschichtsbüchern heute lernen wir keinesfalls mehr, was ein «König» ist; doch die Völkerüberlieferungen, die wir den Kindern zum Träumen in die Nächte mitgeben, die Märchen, erzählen, ein König sei nichts weiter als ein Mensch an unserer Seite, den wir so liebhaben, daß wir unsere Seele ihm ganz in die Hand geben. Ein solcher König hat uns nichts zu sagen, aber er sagt uns in gewissem Sinne alles. Wir lieben ihn wie verschmolzen mit ihm. Drum spricht er nie von außen zu uns, sondern er bringt zur Sprache, was in uns immer schon gelebt hat. Das macht ihn zum «König». Und noch ein Stück tiefer: Eine solche Person zeigt uns unsere eigene königliche Würde; sie macht uns im eigenen Leben urteilsfähig und entschlußfreudig, sie schenkt uns den Mut zu unserer eigenen Souveränität. Sie herrscht nicht von oben herab über uns; sie drückt vielmehr unserem Haupt einen goldenen Reif zur Zierde selbständigen Denkens auf. Sie nimmt uns bei der Hand und führt uns hinweg über die Barrieren des Ich-habe-Angst, des Das-kann-ichnicht, des So-hab’-ich’s-noch-nie-getan, des So-kenn’-ich-mich-noch-garnicht. Ihre Liebe schmilzt alle Widerstände auf dem Weg zu uns selber dahin. Das macht sie zum König, das macht sie groß: die Universalität ihrer Menschlichkeit; aber wiederum nicht abstrakt, nicht als Idee, nicht als philosophischer Begriff, sondern in Form konkreter Begegnung. Da zeigt sich, wie sie heilt, wie sie böse Geister vertreibt, wie sie öffnet, wie sie leben läßt. Der libanesische Dichter Khalil Gibran schrieb einmal über die Person Jesu und über das Königreich Gottes Worte, die in ihrer Neuorientierung der Auffassung von Schwäche und Stärke, von Armut und Reichtum, von Leiden und Glück wie eine Zusammenfassung des Gesagten wirken können3: «Die Menschheit», meinte er, «betrachtet Jesus von Nazareth als einen von den Armen, der wie so viele Arme Elend und Demütigung erfahren hat. Man hat Mitleid mit ihm, denn die Menschheit glaubt, daß er unter Schmerzen gekreuzigt wurde … Und alles, was ihm die Menschheit dafür anbietet, sind Tränen, Jammern und Wehgeschrei. Jahrhundertelang hat die Menschheit die Schwachheit in der Person des Erlösers verehrt. (Aber:) Der Mann aus Nazareth war nicht schwach. Er war stark und ist es noch 89

heute. Nur die Menschen weigern sich, die wahre Bedeutung seiner Kraft anzuerkennen. – Jesus kam nicht aus dem Inneren des Lichtes, um die Wohnungen zu zerstören und auf ihren Ruinen Klöster und Abteien zu errichten. Er überredete nicht die Starken, Mönche oder Priester zu werden. Er kam, um einen neuen Geist auf diese Erde zu senden mit der Kraft, die Grundfesten eines jeden Reiches zu erschüttern, das auf Gebeinen und Totenköpfen von Menschen errichtet ist … Er kam, um die majestätischen Paläste einzureißen, die auf den Gräbern der Schwachen errichtet sind; er kam, um die Götzen zu stürzen, die auf Kosten der Armen ihre Tempel erbauten. Jesus wurde nicht gesandt, um die Menschen zu lehren, wie man großartige Kirchen und Heiligtümer inmitten kalter, elender Hütten und düsterer Schuppen erbaut … Er kam, um die Herzen der Menschen zu Tempeln zu machen, ihre Seelen zu Altären und ihren Geist zu Priestern. – Sicherlich habt ihr genug gebetet, auf daß es bis zum Ende eurer Tage ausreiche. Von nun an sollt ihr Kirchen nicht mehr wie einer der Gläubigen betreten: den von euch so sehr geliebten Jesus werdet ihr nicht in Kirchen finden. Es gibt viele Orte, wo Gott angebetet wird, aber nur wenige Menschen sind reinen Geistes und verehren Gott in Wahrheit.» Fast wörtlich sind diese Zeilen genommen aus dem 4. Kapitel des Johannes-Evangeliums, aus dem Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen: «Und ja: der Vater – solche sucht er, die sich verneigen im Gebet zu ihm – in Geist und Unverstelltheit» (Joh 4,23); da wird es nicht mehr die Frage sein, ob wir anbeten müssen in Jerusalem oder auf dem Garizim. Gibran fährt fort4: «Vergeblich sind Überzeugungen und Lehren, die die Menschen elend machen, und falsch ist die Tugend, die sie in Kummer und Verzweiflung stürzt. Es ist Aufgabe des Menschen, auf dieser Erde glücklich zu sein, den Weg zur Glückseligkeit zu finden und das Evangelium zu predigen, wo immer er geht. Wer das himmlische Königreich in diesem Leben nicht erblickt, wird es auch im kommenden nicht sehen. Wir sind nicht in dieses Leben geschickt worden wie ins Exil, wir kamen als unschuldige Geschöpfe Gottes, um zu lernen, wie man den heiligen und ewigen Geist anbetet, und um die verborgenen Geheimnisse des Lebens in uns selbst zu suchen im Angesicht der Schönheit des Lebens. – Die Menschen sind geteilt in verschiedene Sippen und Stämme, sie gehören vielen Ländern und Städten an. Ich aber fühle mich fremd in allen diesen Gemeinschaften und zähle mich zu keiner der Siedlungen. Das All ist meine Heimat und die ganze Menschheit meine Sippe. Die Menschen sind schwach, und es ist traurig, daß sie untereinander 90

geteilt sind. Die Welt ist so eng, es ist unklug, sie in Königreiche, Imperien und Provinzen zu spalten.» In seinem Buch Jesus Menschensohn läßt Gibran schließlich Josef von Arimathäa Jesus zitieren5: «‹Judäa will einen König haben und gegen die Legionen Roms aufmarschieren. Ich aber werde nicht ihr König sein. Die Diademe Zions wurden für kleinere Stirnen angefertigt. Und der Ring Salomons ist zu eng für diesen Finger. Schaut meine Hand an! Seht ihr nicht, daß sie zu stark ist, um ein Szepter zu halten, und zu kraftvoll für ein gewöhnliches Schwert? Nein, ich habe nicht die Absicht, die Syrer gegen die Römer anzuführen. Ihr aber werdet mit meinen Worten die Stadt wecken, und mein Geist wird zu ihrer zweiten Morgenröte sprechen. Meine Worte werden eine unsichtbare Armee sein mit Pferden und Streitwagen; ohne Beil und ohne Schwert werde ich die Priester von Jerusalem und seine Caesaren besiegen. Ich will auf keinem Thron sitzen, auf dem Sklaven saßen, die andere Sklaven regierten. Ebensowenig habe ich vor, gegen die Söhne Italiens ins Feld zu ziehen. Vielmehr werde ich ein Sturm an ihrem Himmel sein und ein Lied in ihrem Herzen. Und sie werden sich meiner erinnern. Sie werden mich, Jesus, den Gesalbten nennen›. All dies sagte Er außerhalb der Mauern Jerusalems, bevor Er die Stadt betrat. Und seine Worte bleiben bestehen, als wären sie mit einem Meißel gestochen worden.»

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Joh 12,20-50: Wer so stirbt, in dem verherrlicht sich Gott und: Als Licht bin ich in die Welt gekommen 20Es

waren aber etliche Griechen unter denen, die hinaufstiegen, um am Feste kniefällig zu beten. 21Die nun traten an Philippus heran, den aus Betsaida in Galiläa (1,43), und fragten ihn; sie sagten: Herr, wir möchten den Jesus sehen. 22Kommt Philippus und sagt es Andreas, kommt Andreas und Philippus und sagen es Jesus. 23Jesus aber antwortet ihnen, indem er sagt: Gekommen ist die Stunde, daß der Menschensohn verherrlicht werde (2,4; 13,31). 24Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch, wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, trägt es viel Frucht (Röm 14,9; 1 Kor 15,36). 25Wer sein Ich lieb hat, verdirbt es (Mt 10,39; 16,25), doch wer sein Ich haßt in dieser Welt, – zu unendlichem Leben wird der es bewahren. 26Wenn mir jemand dient, so folge er mir (Mt 16,24), daß, wo ich bin, auch mein Diener sei (14,3; 17,24). Wenn jemand mir dient, wird ihn der Vater ehren. 27Jetzt ist mein Ich erschüttert (Ps 6,4 f.; Mt 26,38). Und soll ich etwa sagen: «Vater, rette mich aus dieser Stunde»? Nein, deswegen bin ich doch in diese Stunde gegangen! 28Vater, verherrliche deinen Namen (8,54; 17,4)! Da kam eine Stimme aus dem Himmel: Ich habe verherrlicht und werde noch einmal verherrlichen (13,31; Mt 3,17; 17,5). 29Die Menge nun, die da stand und es hörte, sagte, ein Donner sei ergangen; andere sagten: Ein Engel hat zu ihm geredet. 30Geantwortet hat Jesus, er hat gesagt: Nicht meinetwegen ist diese Stimme ergangen, sondern euretwegen (11,42). 31Jetzt ist Gericht über diese Welt. Jetzt wird der Führer dieser Welt hinausgeworfen werden (14,30; 16,11). 32Ich aber, wenn ich erhöht sein werde von der Erde, werde ich alle zu mir ziehen (8,28). 33Das aber sagte er, um anzudeuten, durch welchen Tod er sterben werde (21,19). 34Geantwortet hat da ihm die Menge: Wir haben aus dem Gesetz gehört, daß der Christus (der Messias) bleibt in Ewigkeit (8,35; Ps 89,37; Ps 110,4; Ez 37,24; Dan 7,14); wie sagst da du, erhöht werden müsse der Menschensohn? Wer ist das: der Menschensohn? 35Gesagt hat da zu ihnen Jesus: Nur kurze Zeit noch ist das Licht bei euch. Macht euch auf den Weg, so ihr das Licht habt, damit nicht das Dunkel euch einholt. Wer unterwegs ist im Dunkeln, weiß nicht, wohin er zieht (11,10). 36So ihr das Licht habt, glaubt an das Licht, damit ihr Söhne des Lichtes werdet (Eph 5,8; 1 Thess 5,4). Das hat Jesus gesagt; dann ging er fort und verbarg sich vor ihnen (8,59). 37So große Zeichen hatte er getan vor ihnen (2,11.23), und

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doch vertrauten sie nicht auf ihn, 38auf daß das Wort Jesajas, des Propheten, sich erfüllte, das er gesprochen: Herr, wer findet Vertrauen durch unsere Kunde (Röm 10,16)? Und der Arm des Herrn – wem ward er enthüllt (Jes 53,1)? 39Deswegen vermochten sie nicht zu vertrauen, denn noch einmal hat Jesaja gesprochen: 40Blind werden ließ er ihre Augen und harthörig ihr Herz (Mk 3,5), daß sie nicht sehen mit den Augen und Einsicht gewinnen mit dem Herzen und zurückkehren, daß ich sie heilte (Jes 6,10; Mk 4,12). 41Das hat Jesaja gesprochen, weil er seine Herrlichkeit gesehen (Jes 6,1) und von ihm geredet hat. 42Gleichwohl fanden freilich auch von den Anführern viele Vertrauen auf ihn; doch der Pharisäer wegen bekannten sie es nicht, um nicht exkommuniziert zu werden (9,22). 43Sie liebten nämlich die Verherrlichung von seiten der Menschen mehr als die Verherrlichung von seiten Gottes (5,44). 44Jesus aber hat laut und deutlich erklärt und gesagt: Wer auf mich vertraut, nicht vertraut der auf mich, sondern auf den, der mich gesandt hat (7,28). 45Wer mich schaut, der schaut den, der mich gesandt hat (6,40; 14,9). 46Ich, als Licht bin ich in die Welt gekommen, auf daß jeder, der auf mich vertraut, nicht im Dunklen bleibt (1,9; 8,12; 11,27). 47Selbst wenn jemand meine Reden hört und nicht beachtet, richte ich ihn nicht (3,17-19). 48Wer mich verwirft und meine Reden nicht annimmt, der hat seinen Richter (Lk 10,16): das Wort, das ich gesprochen, das wird ihn richten am Letzten Tag (3,18; 6,39). 49Denn ich – aus mir habe ich nicht gesprochen (8,28), sondern der mich gesandt hat, der Vater selbst, hat mir Weisung gegeben, was ich sprechen und was ich sagen soll. 50Und ich weiß: Seine Weisung ist unendliches Leben. Was ich also sage, wie er zu mir gesprochen, der Vater, so sage ich es (6,40; 17,2).

Im 12. Kapitel des Johannes-Evangeliums wurde bisher von dem Einzug Jesu in Jerusalem berichtet. Da wurde Jesus begrüßt, förmlich gefeiert als der «König» Israels. Was aber will das besagen? Beim Weiterlesen im 12. Kapitel des Johannes-Evangeliums findet sich die Erklärung: Jesus ist der König des Lebens, weil er zum Herrn wird über den Tod. Wie das geht, erläutert der johanneische Jesus in einer seiner letzten großen Reden. Es gibt Musiktheoretiker, die von den Werken Johann Sebastian Bachs sagen, sie seien mathematisch so klar durchkomponiert, daß man 93

sie auf einem Computer generieren könne. Von der Musik etwa Johannes Brahms’ wird man so niemals sprechen; sie setzt die üblichen Kompositionsschemata virtuos voraus, aber sie wendet sie gewissermaßen auf die intimsten, persönlichsten Gefühle an, sie schafft immer wieder neue, überraschende Sequenzen und schwebt dabei über Abgründe der Dunkelheit und der Verzweiflung, um etwas mitzuteilen, das tröstlich zu sein vermag. Ähnlich zuhören muß man dem Vierten Evangelium. Die ersten drei Evangelien liegen ihm vor und sind ihm vielleicht sogar bekannt, und doch versucht es, all das Geschriebene noch einmal neu auszusagen. Denn die großen mythischen Schemata, die überkommenen Ausdrucksweisen müssen individuiert, müssen existentialisiert werden, um glaubwürdig zu wirken und die einzig wirkliche Frage des Johannes-Evangeliums zu beantworten: die Frage nach dem Tode Jesu. Warum mußte der Mann aus Nazaret sterben? Und wie war seine Antwort auf das Leid der Welt? Sein Tod war kein Sterben, er war seine Verherrlichung, ist Johannes überzeugt. Daß Jesus in den Tod ging, war sein Gehorsam, war sein Werk, das er erfüllen mußte. Doch man kann über den Tod Jesu nicht in dieser Weise nachsinnen, ohne zugleich zutiefst verunsichert zu sein über den Tod jedes einzelnen Menschen. Was hilft einem Menschen, sein Leben zu bestehen angesichts dieses Endes, das als einzig sicheres auf ihn wartet? Wie leben wir Menschen miteinander, die wir doch allemal nur Opferlämmer sind an der Schlachtbank des Daseins? Ein uralter Menschheitsbrauch rankt sich um die Gräber unserer Angehörigen und all der Menschen, die uns nahegestanden haben: unserer Eltern, unserer Geschwister, unserer Lebensgefährten, unserer Kinder, unserer Freunde. Oft haben wir keine Worte, uns klarzumachen, was geschehen ist, als sie von uns gingen, und wir versuchen, unsere Hilflosigkeit mit Riten zu besänftigen. Wir legen auf den Grüften Kränze nieder. Unser Verstand mag uns sagen, daß im Abstand auch nur von fünfzehn, zwanzig Jahren das Grab nichts mehr enthält, was, real betrachtet, an den Verstorbenen erinnert, außer dem Grabstein; und dennoch legen wir einen Kranz ebendort nieder – ein uraltes Bild, das uns versichern möchte, es sei das Leben nie nur wie eine Linie, die auf einen festen Punkt zulaufe, um dort zu enden, sondern es sei wie ein Kreis, der sich nur schließe, um neu zu beginnen. Daß dieses Leben nie endet, sondern in seinem scheinbaren Ende einen neuen Anfang setzt, das soll uns, als ein Geheimnis, das Bild des Kranzes sagen. Auch Blumen bringen wir mit, in irgendeiner Gärtnerei am Friedhofseingang erstanden, – und es ist erneut ein uraltes Bild zum Trost gegen den Tod. Die Paläontologen meinen, bereits die Neandertaler hätten 94

vor über 70 000 Jahren ihre Angehörigen in eben dieser Weise beigesetzt: mit Blumen. Sie wollten offensichtlich sagen, daß, wenn wir Menschen sterben, es so sei, wie wenn Blumen im Herbst all ihren Lebensinhalt, zu dem sie gereift sind, der Erde anvertrauen, und es ist ihr vermeintliches Sterben nichts weiter als eine Aussaat zu neuem, noch größerem Leben. Bilder der Natur sind das, die uns hinwegheben möchten über all das, was dem Einzelnen an Leid aus der Natur zugefügt wird. Doch tröstet es uns wirklich, zu sehen, wie aus dem Samen, der sich ausstreut, selbst über die Wintermonate hinweg neues Leben sich bildet? Ist nicht sogar der Gedanke selber mißbrauchbar, der in den mythischen Religionen anklingt und hier im Johannes-Evangelium aus dem Munde Jesu selbst aufgegriffen wird: «Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, trägt es viel Frucht»? – Ohne Zweifel bildet dieser Glaube einen Widerhall der großen ägyptischen Religion des Osiris, des Gottes des Sterbens und der Regeneration. Ihn verehrte man gerade so: man streute Korn, Weizensamen, in eine Schale, gefüllt mit Erde, deren Form der Statue des Gottes selber entsprach, und das Wiederaufblühen des eingesäten Korns galt für seine Auferstehung1. Die Natur mit ihrer unsterblichen Fruchtbarkeit sollte antworten auf eine Frage, die nur ein Mensch an die Natur zu stellen vermag: Wofür aber lebe ich denn? Ambivalent, wie alle mythischen Bilder sind, kann man die Antwort auf diese Infragestellung von außen diktieren und damit das an sich Tröstliche ins Zerstörerische verwandeln: «Du lebst, um zu sterben, und nur wenn du den Tod akzeptierst, gehst du ein in den großen Gang der Dinge, die dich allemal übermögen, da sie weit größer sind als deine kleine Existenz.» Unter dieser Perspektive wird der Tod der Menschen fast vergleichgültigt, ja, ihr Sterben wird verfügbar für die vermeintlichen Sachwalter des Lebens bis hin zum Zynischen; doch man mißversteht auf solch äußere Weise das Geheimnis des Todes ganz und gar. Eine wirklich hilfreiche Antwort auf die Sterblichkeit unseres Daseins müßte völlig anders ausfallen, indem sie uns lehrte, die kreatürliche Angst vor dem Tod in Weisheit umzuformen; sie könnte dann lauten: «Du siehst den Tod vor dir und siehst voller Angst kaum eine andere Hoffnung, als dich noch fester an das flüchtige Leben zu klammern; doch wenn du so tust, verbringst du dein Leben allein mit den Sorgen, wie du am besten am Leben bleiben kannst, wie du immer noch einmal die nächste Bedrohung überstehst, und dabei verschleißt du dich doch nur in einem kummervollen Kampf gegen das an sich Unvermeidliche. Nennst du das wirkliches Leben? Du hältst es für Liebe zum Leben, du möchtest dein eigenes Leben für liebenswert pflegen und erhalten; aber 95

vorangejagt, vorangepeitscht von so viel Angst, ist das, was du in der Zeit verbringst und was du der Zeit abringst, kein Leben. Du verlierst in Wahrheit dein Leben in einer falschen Fürsorge. Du magst empört laut aufschreien und sagen: ‹Es gibt aber doch dann nur die Alternative, das Leben zu hassen! Soll ich es denn wegwerfen? Soll ich mir selber gleichgültig werden?› Natürlich sollst du das nicht! Nehmen wir einmal an, du klammertest dich nicht an dich selbst, du wüchsest auf in Vertrauen, du vertieftest dich selbst in einen Zustand, der sich einer gewissen Freiheit von Leid, Schmerz und Angst annäherte, würdest du dann nicht wirklich sein wie ein Korn, das nur fragt, was aus seinem Leben an Fruchtbarem, an Nahrhaftem, an Lebenstiftendem hervorgehen mag? Du ‹haßtest› dein Ich in dieser Welt, um es zu gewinnen!» Das Johannes-Evangelium gibt an dieser Stelle deutlicher Auskunft darüber, für wen es geschrieben wurde und aus welchen Gruppen es entstanden ist, als andere Überlieferungen des Neuen Testamentes. Komplizierter kann eine Einleitung kaum sein als die zu diesem Text: «Es waren aber etliche Griechen unter denen, die hinaufstiegen, um am Feste kniefällig zu beten. Die nun traten an Philippus heran», und Philippus wendet sich an Andreas und die beiden an Jesus. Schon daß es griechische Juden sind, zeigt den ursprünglichen Adressaten dieses Evangeliums die Brücke, die zwischen der frühen Gemeinde in Palästina und dem Johannes-Evangelium hier gespannt wird. Das ganze Neue Testament ist uns griechisch überliefert, und wir nehmen das für eine selbstverständliche Tatsache; aber wir müssen uns klarmachen, daß alles, was Jesus gesagt, gedacht und getan hat, nicht nur philologisch im Neuen Testament ins Griechische übersetzt werden mußte, sondern daß es auch auf griechische Weise weitergedacht wurde. Da kommt eine Vermittlung zwischen zwei grundverschiedenen Kulturen zustande, und sie soll hier geschehen sein durch Menschen, die selbst im engsten Kreis der Jünger Jesu griechische Namen tragen, nämlich durch Philippus und Andreas; die also wären die ersten gewesen, die das Anliegen jüdischer Griechen (hellenistischer Judenchristen) aufgenommen und weitergetragen hätten; sie hätten die Bitte vermittelt: wir wollen Jesus sehen! und hätten sich schließlich an Jesus selber gewandt. Wenn eine Sonate von Brahms über die dunklen Täler und Schluchten der menschlichen Seele hinweggleitet, dann schwebt dieser Text hier über den Urgrund und Abgrund des jüdischen Pessah-Festes. Für die jüdische Gemeinde ist dieses Ritual, noch einmal gesagt, die Feierstunde der Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens, – eine quasi geschichtliche Erinnerung an den Exodus. Aber das Christentum, wenn es vom jüdischen 96

Pessah redet, übersetzt, ob es das weiß oder nicht, ob es das wissen will oder nicht, auch und gerade das jüdische Pessah ins Griechische, genauer gesagt in die griechische Religionsform, die dem jüdischen Pessah so ähnlich sieht wie die linke Hand der rechten: in den Kult des Dionysos. Da wurde, wie im jüdischen Ritus der Pessahnacht, ein Lamm getötet; in deutlicher Abwehr verfügte das Buch Exodus selber in seinen Ritualgesetzen, es dürfe das junge Tier nicht gekocht werden in der Milch seiner Mutter (Ex 23,19), und unzerteilt solle es gegessen werden (Ex 12,9). Das ist die genaue Umkehrung des ursprünglichen Dionysosrituals2. Dieses symbolisierte, wenn man so will, das Leben selber in dem Gott der Reben und des Bocksgesangs: des betäubenden Honigs in den Sommermonaten sowie im Rauschtrank des Weins. Die Mutter Natur zeigte sich in diesem Ritual als diejenige, die ihr eigenes Erzeugnis zerreißt und wieder zurücknimmt: Sie spendete alles Leben, aber sie verkochte es auch darin, – ein grausiges Ritual, das aber gerade so bejaht werden wollte3. Vielleicht der einzige Philosoph deutscher Sprache, der diese Denkweise verstanden hat, war Friedrich Nietzsche. Er ließ die Tragödie, das Wissen um das unvermeidbare Leid des Lebens, aus dem Geist der Musik hervorgehen, aus den Festtagsstunden des Dionysos4: Wenn die Lust am Leben so stark wird, daß sie in sich selbst zurückschlägt und den Schmerz besiegt, den sie sich selbst zufügt, dann begreift man Dionysos als Gott. Wann immer das Christentum auf das jüdische Pessah zu sprechen kommt, vor allem im Johannes-Evangelium, hat es viel mehr diese «dionysische» Einsicht in die Einheit von Leben und Tod als die alte geschichtliche Exodus-Erinnerung vor Augen. Es geht um die Frage: Wie deutet man den Tod? Ist er nichts weiter als ein solches dionysisches Zerrissenwerden, damit anderes Leben sich davon nähre? Ist der Inhalt des Todes wirklich nur das Mysterium der Osiris-Religion: ausgestreut zu werden wie Samen, der sich vermählt mit der Erde und vermahlen wird in neuem Brot für künftige Generationen? Dann wäre unsere eigene, persönliche Existenz nichts weiter als ein kurzlebiger Trug, und alle Weisheit läge darin, sie zu überwinden. Nietzsche und Schopenhauer träten in einer solchen Daseinsdeutung zusammen als Zeugen einer letzten Wahrheit. Oder wir vernähmen die alten Mythen um Dionysos und Osiris noch einmal ganz neu aus dem Munde Jesu: auf die Art und Weise seines Lebens und seines Sterbens hin. Dieser Weg ist es, den das Johannes-Evangelium den griechisch Suchenden anbieten möchte. Sie wollen Jesus sehen; doch seine abrupte, scheinbar völlig unverständliche, steile Antwort lautet: Gekommen ist die Stunde, daß der Menschensohn verherrlicht werde. Alles, was Griechen in 97

ihren Vegetationsriten ersehnen konnten, soll hier seine Erfüllung finden, aber eingefügt in das Leben Jesu. Einzig die Person des Mannes aus Nazaret steht da als Lösung, als Antwort für das intimste, persönlichste, verzweifeltste, nach Hoffnung verlangende individuelle Fragen. Diese Entgegnung ist – wie an einer Reihe von Stellen zuvor bereits – der Menschensohn, die Gestalt einer Menschlichkeit, die wir finden und bewahren müßten, indem wir lernten, nach der Art Jesu mit dem Tod umzugehen. An dieser Stelle wird eingefordert werden, ihm zu dienen, will sagen: sein Vorbild so zu übernehmen, daß wir dort sind, wo er ist. Da wären wir nie mehr allein, nie mehr verlassen. Er ging voraus! – Das ist ein Trost, wie er für viele von uns gilt: da gab es vor uns Menschen, die wir geliebt haben und die uns in ihrem Sterben vorangegangen sind. Darin liegt, daß wir nie im Leben etwas durchmachen werden, das nicht schon auch andere betroffen hat; und es bedeutet ferner, daß wir nie ganz allein sind, sondern uns immer begleitet fühlen dürfen. Unser Leben verläuft nach einem uns vertrauten Vorbild. Und nun versichert uns Johannes: Alles, was wir als Liebe unter uns Menschen bezeichnen, verdichtet sich in der Person des Mannes aus Nazaret. Dieses Versprechen und diese Vergewisserung ist überaus wichtig. Denn nie werden wir Menschen einer dem anderen alles das sein können, was wir bräuchten, um unsere Angst zu beruhigen. Immer wieder werden wir dem anderen fehlen und dadurch Fehler begehen. Es bleibt indessen der entscheidende Trost, daß alles, wonach wir uns sehnen: die Liebe selber, die Kraft, die Gott ist, in unserem Leben Gestalt gewinnt in der Person des Jesus aus Nazaret. So wie er starb, so sollten wir unser Leben aufnehmen, ohne zu fürchten, was daraus wird und was man uns antut. Existentiell gesprochen, ist es mehr als zweifelhaft, daß die alten mythischen Bilder ein solches Lebenskonzept tragen können. In der Natur rentiert sich der Tod, indem er neuem Leben Raum schafft. Wenn ein Landmann sät, darf er damit rechnen, daß er in der kommenden Erntezeit einen Ertrag erzielt. Es müßten schon sehr üble Witterungsumstände herrschen, die seine Aussaat nutzlos verderben ließen. Aber ist das so sicher auch für uns Menschen als Einzelne? Gibt es existentiell überhaupt eine Garantie dafür, daß das, was wir dem Leben mitteilen möchten, in irgendeiner Weise Frucht bringt? Nehmen wir aus dem 20. Jh. nur einige Persönlichkeiten, die versucht haben, der Menschheit etwas für sie selbst Entscheidendes mitzuteilen; nehmen wir etwa den Kommunisten Carl von Ossietzky, einen Mann, der im Konzentrationslager Papenburg von den Nationalsozialisten inhaf98

tiert wurde. Das einzige, was er wollte, war Frieden zwischen den Völkern, – daß man aus dem, was heute der Erste Weltkrieg genannt wird, lerne, niemals sei mit einem Krieg Friede zu schaffen und niemals sei in einem Krieg ein Sieg zu erringen; jeder Krieg sei in sich selbst der Verlust aller Menschlichkeit in befohlenem Grauen. Diese Wahrheit lebte in Carl von Ossietzky so sehr, daß er es bis zum äußersten ablehnte, durch den Tod sich abschrecken zu lassen. Doch hat es sich gelohnt? mag man fragen. War er nicht bis zu seinem schrecklichen Dahinsiechen und schließlichen Sterben lediglich ein bloßer Spielball der Nazis, geehrt zwar als Friedensnobelpreisträger, aber politisch vollkommen unbedeutend, lächerlich geradezu für die Propaganda, die ihn als einen Feigling, als einen Internationalisten, also als einen antinationalen Abweichler und Defätisten, als einen charakterlosen, vaterlandslosen Gesellen schilderte? Aufgehalten hat er den Marsch in den Zweiten Weltkrieg ganz gewiß nicht. Keine einzige seiner Ideen ist auch nur annähernd so glühend wirksam geworden, wie er sein eigenes Leben ins Feuer warf. Und am Ende des Naziregimes: – wir heute, ein halbes Jahrhundert danach, werden als wohlerzogene «Demokraten» «mit Kommunisten nicht reden»; wir haben unsere eigenen Heiligenlegenden. Carl von Ossietzky – für die wirkliche Geschichte bedeutet er überhaupt nichts. Mag sein, man gedenkt seiner irgendwo einmal, doch was soll das? Menschen sterben, man senkt sie in die Erde, man gräbt sie ein, doch da ist nichts, was sich aussät. Mit Menschen kann man das machen: Die Regierenden diktieren im Besitz der Macht die Bedeutung des Vergangenen für die Gegenwart; sie lassen nur zu, was ihnen nützt; sie säen Gift über die Erde, so daß, was sich ausstreut, für alles menschliche Bewußtsein im Boden verdirbt. Wußten denn die anderen, Dietrich Bonhoeffer oder Alfred Delp etwa, in den Konzentrationslagern der Nazis, was das Opfer ihres Lebens bewirken würde? – Es ist ein erschreckend wahres Wort hier im Johannes-Evangelium, das Jesus über sein Getsemane spricht: mein Ich, meine Person, ist erschüttert. Es gibt Momente, in denen die Psychologie versagt. Sie würde anraten, in Krisenaugenblicken ein gesundes Selbstbewußtsein an den Tag zu legen, eine Strategie der Angstvermeidung zu pflegen und vor allem die eigene Identität gegen die äußere Verneinung zu festigen. Sie würde empfehlen, Stolz und Selbstachtung gegen die Entwürdigung des Terrors zu setzen. Doch irgendwann kommt jener Zeitpunkt, in dem all diese Ratschläge versagen. Und von einem solchen Augenblick redet dieses knappe Wort, – die verschlüsselte Erinnerung an einen Jesus, der in Getsemane am ganzen Leib bebte und darum bat, wenn es nur möglich sei, möge ihm doch er99

spart bleiben, was da an Qual und an Schmerz auf ihn zukomme, – so wie wir im Vaterunser mit einem Satz, der vermutlich von der Gemeinde später angehängt wurde, beten: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern entreiße uns dem Bösen (Mt 6,13) als von einer Prüfung, die zu bestehen wir zu schwach sind. Die exegetische Erklärung hilft kaum weiter, daß mit diesem Ausdruck – meine Person, mein Ich ist erschüttert – ein Psalmenzitat aufgegriffen werde, ein Gebet also, dessen Text man weiterlesen müsse, bis daß es sich am Ende aus der Verzweiflung ins Vertrauen übersetze (Ps 6,4 f.). Richtig bleibt freilich, daß Jesus in seiner Erschütterung sich bergen möchte in einem anderen, und dieses Bemühen allerdings entscheidet über alles. Der psychologische Rat, zu sich selber zu stehen, mag kostbar und korrekt sein, was aber, wenn das eigene Ich sich selbst zweifelhaft wird? wenn die besten menschlichen Pläne sich um ihren Sinn bringen, weil die sichere Erfolglosigkeit evident ist? Für wen denn dann! Wozu das alles! Und könnte es nicht auch viel einfacher gehen? Es ist Jesus, der hier spricht: «Und soll ich etwa sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? – Ich bin doch absichtlich hineingegangen in diese Stunde!» Eine Aussage wie diese kann man nur im Sinne des Johannes richtig verstehen. Es geht nicht darum, daß Jesus den Tod gesucht hätte. Selbst am Ende dieses Textes wird noch einmal berichtet, daß Jesus sich verbarg vor ihnen (Joh 8,59; 12,36). Er will nicht den Tod, im Gegenteil, er flieht ihn, solange es geht; nur: er vermeidet ihn keinesfalls um jeden Preis. Das Leben darf nicht eine ewige Flucht bleiben. Wenn die religiösen und staatlichen Behörden es partout nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können, dann muß die Auseinandersetzung irgendwann halt bis zum äußersten geführt werden; man kann sie nicht vertagen, so wenig wie eine Blume darauf warten kann zu blühen, – sie muß es jetzt tun oder nie, eine andere Chance im Leben gibt es nicht, dafür ist das Leben zu kurz. Gerade dieser unglaubliche Zugzwang bestimmt die menschliche Existenz. Entweder jetzt oder gar nicht, entweder ich oder keiner – das bedeutet es, als Mensch zu leben, und das liegt in dieser Äußerung Jesu: Nein, deswegen bin ich doch in diese Stunde gegangen! Alle ringsum halten Angst für ein Argument, etwas zu vermeiden, und immer ist der Inhalt ihrer Angst die Drohung mit dem Tod. Doch wenn es ein Wort gibt, von Gott gesprochen, eine Wahrheit, die man nicht verraten darf, um wirklich zu leben, dann ist es diese johanneische Aussage, daß Gott sich verherrlicht in einem Menschen, der so fühlt und glaubt, wie Jesus es hier tut. – Im Lukas-Evangelium erzählt die Legende, Jesus sei auf Golgota gestorben mit dem Wort des Psalms 31,6 auf den Lippen: Vater, in deine Hände gebe 100

ich mein Ich, – meinen «Geist», meine «Seele» (Lk 23,46). Das atmet einen gleichen Geist und deutet das gräßliche Sterben des Mannes aus Nazaret in vergleichbarer Weise. Wir sind gewöhnt, daß sich aus der Geschichte, wie sie sich später gestaltet, ein gewisser Erfolg unserer Bemühungen ablesen lasse. Nichts von all dem weiß Jesus hier, nichts von all dem kann er wissen, nichts von all dem will er wissen. Denn wollte er einen «Erfolg» haben, der sichtbar ist bei Menschen, so müßte er kalkulieren, wie er sich von Fall zu Fall so ausdrücken könnte, daß die Leute es für bare Münze nähmen, daß sie darauf eingingen; er müßte immer wieder gegen ihre Mißverständnisse ankämpfen, das heißt, er würde eine unendliche Zeit damit vertun, das längst schon Bekannte zum hundertsten Mal zu kommentieren, und dennoch würde er die Angst all der Widersprüche niemals wirklich durchschreiten, nicht einmal für sich selber. Genau das aber will Jesus, und genau das tut Jesus im Johannes-Evangelium: Er möchte nichts weiter, als daß alle Menschen unzweideutig erfahren, was aus ihnen wird, wenn sie begreifen, daß der Hintergrund ihres Lebens eine väterliche, sagen wir: eine mütterliche, jedenfalls eine unbedingt gütige Macht ist. Nur einer solchen Macht kann ein Mensch sich gegen den Abgrund des Todes anvertrauen. Gegen Angst hilft nicht die Parole, die Hacken zusammenzuschlagen oder Mut und Haltung anzunehmen oder geradeaus weiterzumarschieren; gegen Angst hilft nur ein persönlich gebundenes Vertrauen, und das wird einzig geboren durch die Nähe eines anderen Menschen. Alles aber, was das Gegenüber einer anderen Person an Vertrauen uns zu schenken vermag, wirft sich in die Vorstellung einer absoluten Macht, die die Liebe selber ist, und es ist diese Kraft, die wir Gott nennen. Der Glaube an diese Macht vermittelt das «Wort», das der johanneische Jesus uns bringen möchte. Denn nur dieses Vertrauen schafft Licht im Dunkeln, so daß, wer ihn hört, eine Stimme hört, die zu ihm durch die Zeiten sagt: «Ich liebe dich; und der Tod hat nicht länger Gewalt über dich.» Da ist es, wie wenn aus dem Himmel eine Stimme käme. Der «Unglaube» wird sagen: Es hat gedonnert; und der Aberglaube wird sagen: Ein Engel hat geredet; aber die Wirklichkeit lautet: Nicht meinetwegen ist diese Stimme ergangen, sondern euretwegen. Es ist die Frage, wie wir Menschen reagieren auf das, was vom Himmel her hörbar wird, wenn Jesus sich uns mitteilt. Wir sagten soeben, daß das Johannes-Evangelium sich alter mysthischer Kompositionsformen und Vorstellungsschemata bediene, daß es diese aber dicht an die persönliche Existenz heranführe. Nun freilich steigert sich 101

diese Erlebniseinheit von Mythischem und Persönlichem aufs ungeheuerliche. Plötzlich nämlich erklärt der johanneische Jesus: Jetzt wird der Führer dieser Welt hinausgeworfen werden. Der «Führer dieser Welt» ist unzweifelhaft der Teufel, der Satan, eine Macht, die Gott diametral widerspricht. Diese mythische Sprache ist immer wieder fälschlich metaphysiziert und dogmatisiert worden. Selbst der römische Katechismus für 900 Millionen Katholiken im Jahr 1992 dekretiert und diktiert, daß zu glauben sei an den Teufel, wörtlich, leibhaftig, wohlgemerkt5; irgendwann hat da laut katholischer Lehre der Oberste der Engel sich gegen Gott aufgelehnt; er wurde zur Strafe auf die Erde geworfen, und seither bringt er alles ins Verderben, indem er die Menschen verführt; der Satan ist der Ursprung des Bösen, die Menschen aber durch ihre Freiheit lassen sich zum Bösen verleiten; erst am Ende der Tage wird Gott den Teufel überwinden, und erst dann wird er in alle Ewigkeit in der Hölle bleiben, – das alles weiß man und glaubt man aus Bibelzitaten wie diesen ableiten zu können. Alles aber erscheint ganz anders, wenn wir begreifen, was der johanneische Jesus als den «Führer dieser Welt» bezeichnet: keinen dionysischen Bock mit Hörnern und Kratzfuß, sondern die Furcht vor dem Tod! Sie regiert die «Welt» als alleinige Macht; sie gilt es zu besiegen, einzig nur sie. Man schaue sich um, und man wird in dieser Diagnose eine geradewegs geniale Formel für all das Grauen erkennen, das Menschen über Menschen bringen: es ist ihr ständiges Spiel mit dem Tod gegen den Tod! Immer wieder fürchten sich Menschen vor diesem Äußersten und werden aus Angst vor dem Tod zu willigen und billigen Sklaven der unmenschlichsten Befehle. Für ein paar Atemstöße Leben begehen sie die schlimmsten Verbrechen gegenüber ihren Mitmenschen, sie verhalten sich wie hypnotisiert durch diese Stelle des Nichtseins, die wir den Tod nennen. Könnten wir ihn überwinden, so würden die Menschen in der Tat zurückkehren an der Seite des «Menschensohnes» zu ihrer Menschlichkeit. Wir brauchen keinen Teufel, um das Durcheinander der menschlichen Seele zu erklären. Was wir verstehen müssen, ist einzig diese Selbsthypnose der Angst, ist das ständige Gefühl einer Totalentwertung durch dieses biologische Nein am Ende jedes Lebens. Diese Angst vor der endgültigen Verneinung aus der Welt zu bringen war das Hauptanliegen Jesu im Johannes-Evangelium. Eben deshalb geht er in diese Stunde; der «Führer dieser Welt» – jetzt wird er hinausgeworfen werden. Gottes Wort, wenige Sätze später, ist unendliches Leben. Da steht es einander gegenüber, woraufhin ein Mensch sich entwerfen kann: auf die Endgültigkeit des Todes oder auf eine andere von Gott bestimmte Welt. Da ist die Kreuzigung Jesu ein Erhöhtwerden, – ein Über102

winden der Macht des Todes und damit der gesamten Weltordnung, wie wir sie in seinem Schatten kennen. Und dieser Sieg ist Gottes Verherrlichung. An dieser Stelle öffnet sich die Sicht zu einer großen Vision. Die Perspektive des Lebensentwurfs Jesu wird alle Menschen zu sich ziehen, das heißt zu sich hinaufziehen. Eine griechische Ikone hat diese Wandlung unseres Selbstverständnisses wunderbar gemalt, – fast ein Gegenbild zu Albrecht Dürer: der zeichnete einen Ritter gegen Tod und Teufel – einen Mann, gewappnet mit eisernem Harnisch, auf einem trutzigen Pferd einherreitend, die Lanze eingelegt; ein solcher in seinem Mut fordert unangefochten heraus das Grab und die Hölle, sollen wir denken. Doch sind wir die Leute, die so wären? Die griechische Ikone meint, daß Jesus, indem er starb, hinabgestiegen sei in den Abgrund des Todesrachens und Adam und Eva bei der Hand gefaßt habe, um die ganze Menschheit, einen jeden persönlich, herauszuholen (Abb. 1 a/b). Diesen Vorgang legt Matthäus in einer quasi mythischen Szene so aus, daß in der Todesstunde Jesu die Gräber sich geöffnet hätten und Tote in die Stadt gekommen seien (Mt 27,52.53). Die Auferstehung in das Leben hat begonnen. Noch hat sich das Grab Jesu nicht geöffnet am Ostermorgen, da sind doch die Gräber geöffnet durch die Art Jesu, in seinen Tod zu gehen. Das ist sein Werk, seine Vollendung, seine Verherrlichung, das ist die Herrlichkeit des Vaters. Gewiß, man kann das alles noch einmal vertun, indem man sogleich zur gelehrten Theologie übergeht und Fragen von dieser Art stellt: Wer ist denn nun Jesus? Ist er, wenn er so ist, als der Herr über den Tod, nicht eben doch der Messias, der König Israels, als der er ja nach der Weissagung des Propheten Sacharja (9,9) auf einem Esel einritt in Jerusalem? Dann muß man die Bibel nach entsprechenden Zitaten durchforschen, was sie alles über den Messias aussagt. Textstellen findet man dann wie in Psalm 89,5.29.30.34.35.37.38 oder wie in Ezechiel 37,26: Wenn das Reich des Messias beginnt, heißt es dort, bleibt es ewig bestehen. Doch in diesem Falle kann Jesus der Messias nicht sein, eben weil er gleich nach seinem Einzug in Jerusalem starb und kein ewiges Königreich hinterließ. Oder wir versuchen es mit einem anderen Begriff aus der Traditionsgeschichte: mit dem Titel «Menschensohn». Darüber wird in der apokalyptischen Literatur berichtet, im Buch Daniel (Kap. 7) zum Beispiel und in verschiedenen Pseudepigraphen zum Alten Testament wie dem Äthiopischen Henochbuch. Ein neuer Diskurs ist da fällig: Wer ist er, der «Menschensohn»? Viele Vorlesungen können dafür verwandt werden, die Frage nicht gerade zu klären, aber doch anzugehen. Habilitationsschriften und Disser103

tationen werden Jahr um Jahr aus dem Boden gestampft zu diesen Fragen: Wer ist der Messias? Wer ist der Menschensohn? Doch dann muß man sehen, wie leichthin Johannes das alles hinwegfegt mit einer einzigen Erklärung: Gesagt hat da ihnen Jesus: Nur kurze Zeit noch ist das Licht bei euch. Macht euch auf den Weg, so ihr das Licht habt. – Da wird nicht theologisiert, sondern existentialisiert. Da wird nichts gewußt über einen anderen, sondern gelebt aus seiner Vision, aus seiner Perspektive, und entweder man vertut diese einmalige Chance, indem man wieder nach «objektiven» Gründen und lehramtlichen «Beweisen» sucht, oder man beginnt, man macht sich auf den Weg. Dann – und nur dann – wird man sehen, wer Jesus ist; nur so wird man erfahren, daß er das Licht ist; und man wandelt sich selbst zu einem Kind des Lichts. Wieder greift Johannes so ein wunderschönes mythisches Wort auf, das auch schon in den Qumran-Texten belegt ist: von den Kindern der Sonne, von den Töchtern und Söhnen des Lichts. Übertragen wir diese Einsicht auf unser eigenes Leben, so bedeutet «Glauben» soviel, wie jenseits der Todesangst frei zu werden für jeden Augenblick des Glücks in diesem Leben, für jeden Moment einer absichtslosen Güte und Liebe, für jede Begegnung, in der wir spüren, daß es gilt: Der Tod hat keine Macht mehr über uns. Da tritt ein Mensch in sein Dasein, und alles, was er ist, steht bei Gott – ganz! Unterwegs im Dunkeln weiß er nicht, wohin er geht, und es gibt keine sichere Auskunft; aber sein Gebet sollte nicht lauten: «Herr, schenk mir Licht», sondern vonnöten ist allein eine Haltung, die sich in die (unseren Augen unsichtbare) Hand legt, die uns begleitet und hinausführen wird, wenn wir uns ihr überlassen. Die gerade skizzierte Alternative besteht deshalb um so mehr: entweder wir gehen «theologisch» vor, indem wir wissen wollen, indem wir schriftgelehrte Informationen sammeln, indem wir zu Doktoren und Dozenten werden, dann vertun wir das Leben noch einmal und bleiben im Tod –, oder wir gehen auf den Funken Licht zu, den wir vor Augen sehen, dann wird sich’s fügen Schritt für Schritt. Mehr brauchen wir nicht, mehr hat auch Jesus uns nicht zu sagen. Er ist nicht der Verkünder dogmatischer Rätselwahrheiten, die sich kirchlich verwalten ließen; er ist der Weg (Joh 14,6), und nur wer ihn geht, wird finden, daß Jesus das Leben ist und – allerdings nur in der Reihenfolge – daß er selbst wahr wird, wenn er diesem Weg folgt. Wie also geht man an gegen die Angst vor dem Tod? Wie geht man so zu einem Grab, daß es sich öffnet und zu einem Ort wird, da der Himmel zur Erde herabsteigt? Auch das ist Inhalt alter mythischer Religiosität: die 104

Menschen hörten auch jenseits der Todesmarke nicht auf, miteinander verbunden zu sein; sie blieben einander zugewandt in ihrer Liebe, und sie ließen nie davon ab, nacheinander zu suchen, so wie im Aufgang der Sonne die Welt nach den trennenden Schatten der Nacht an jedem Morgen sich erneuert. Jesus hat diese Bilder und Überzeugungen nicht ersonnen, er hat sie gelebt und durch sein Leben bewahrheitet. Indem er die Angst vor dem Tod überwand, besiegte er zugleich die Macht, die bis in den Körper hinein Menschen krank machen kann und sie blind und gelähmt zurückläßt oder die sie süchtig werden läßt nach ihrer eigenen Habe und unfähig, miteinander zu teilen; mit dem Wunder von Kana (Joh 2,1-12) beginnend, bis dahin, daß Jesus selber über die Wasser (des Todes) hinwegging (Joh 6,16-21), hat der Mann aus Nazaret ein Zeichen nach dem anderen gewirkt, von den Wundern der Heilung des Gelähmten (Joh 5,1-18) und Blinden (Joh 9,1-17) bis hin zur Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1-54). Gerade dann aber entsteht hier etwas Unbegreifliches, das das JohannesEvangelium sich vorlegt. Wie ist es denn möglich: Ein Mann wie Jesus weilt auf Erden, alle Wahrheit wird gesagt, sie wird so rein gelebt, wie ein Mensch sie nur leben kann, – und es bewirkt nichts außer dem Vorsatz, ihn möglichst bald zu töten? Jedes seiner Worte der Liebe wird man in Haß umkehren; da, wo er von Leben sprach, wird man den Tod einsetzen, und wo er von Gott redete, wird man den Teufel gewärtigen. Wie kann so etwas sein? Wieder taucht da eine alte mythologische Vorstellung auf, die schon im Markus-Evangelium als eine Ableitung aus Bibelzitaten zur Beantwortung dieser Frage verwandt wird (Mk 3,22-30; 4,12). Jesaja hat es so formuliert im 6. Kapitel seiner Prophetie (Jes 6,10): Es ist Gott selber, der sein eigenes Volk verhärtet, der es blind macht, der sein Herz verfettet, der ihm die Ohren verstopft, – der es verstockt. Ältere Traditionen der Bibel begründeten mit solchen Erklärungen bereits die Dramatik des Exodus: daß der Pharao sich weigerte, Israel ziehen zu lassen, war das Werk Gottes! Er hatte ihn verstockt (Ex 7,13), und der Zweck war, sein Rückgrat hart zu machen, auf daß der Schlag Gottes ihn desto sicherer zermalmen konnte. Da wird der Widerstand des Menschen von Gott selber erzeugt, damit desto verheerender die Vernichtung erfolgen kann. Was da mit dem Pharao geschah, meinte Jesaja, das könne über Israel genauso hereinbrechen, ja, es sei schon dabei, sich zu ereignen: Schon flackern im Osten am Horizont die Lichter der Militärmacht Assurs auf, und sie drohen, Israel auszunehmen wie ein spielender Junge ein Vogelnest. Jesaja sieht das als eine drohende religiöse Katastrophe, aber als eine wohlverdiente, wenn die Men105

schen und, da die Menschen so bleiben, wie sie sind: vernarrt und vernagelt; man kann ihnen sagen, was man will, sie werden nicht hören. Das ist biblische «Theologie» schon im Alten Testament, und so greift hier in zwei Zitaten Johannes den alten Verstockungsgedanken auf. Daß man Jesus nicht verstand, ist kein Widerspruch zu Gott, sondern Gott selber hat es so gefügt. Man begreift nicht, warum Gott so tut, aber es gibt eine Blindheit, die Gott gerade nicht widerspricht, indem sie doch nur um so mehr seiner Herrlichkeit dient. Diese Herrlichkeit ist für Johannes Jesus selbst. Absichtsvoll fügt er hinzu, daß Jesaja, als er in seiner eigenen Berufung (Jes 6,1-13) Gottes Herrlichkeit sah, im Grunde Jesus selbst geschaut habe in seinem Zeugnis und in seinem Widerspruch (Joh 12,41). Aber es wäre nicht Johannes, wenn seine Darstellung nur in der Verneinung stehenbliebe. Trotz der Verstockung Gottes, sagt er, kamen doch viele sogar von den Anführern der «Juden» zum Vertrauen auf Jesus, allerdings bekannten sie sich zu ihm nicht offen, aus Furcht vor dem Ausschluß aus der Synagoge. Das ist im Grunde eine auch historisch vielleicht zutreffende psychologische Erklärung, die sich hier aber, wie gesagt, verschränkt mit dem Verstockungsgedanken: Gott wirkt auch in unserer Angst. Da ist es also möglich: wir sehen die ganze Wahrheit vor uns, wir halten sie zum Greifen nahe, aber wir kommen nicht dazu, sie auszusprechen, geschweige denn sie zu leben, aus lauter Furcht, wir könnten aus dem Sozialverband, aus der tradierten Religionsgemeinschaft, entfernt werden, es drohte die Exkommunikation! Über diese Darstellung des Johannes-Evangeliums kann man nur staunen. Was war das Christentum einmal, als es damit anfing, Verbannung und Verfolgung nicht mehr zu fürchten, um Jesus kennenzulernen! Da ist die Gruppenpsychologie plötzlich zu Ende, denn man begreift: sie hat mit Gott nichts zu tun; das, was alle reden, zählt gar nichts! Was aber Gott sagt zu einem Menschen, der es lebt und wahrmacht, das bedeutet alles. (Vgl. die Seligpreisungen Mt 5,10-12; Lk 6,2223!) Es war eine wunderbare Entdeckung Sören Kierkegaards am Anfang der Existenzphilosophie im ersten Drittel des 19. Jhs.: Gott ist nicht, wie die idealistischen Philosophen und Theologen sich einbildeten, identisch mit dem Allgemeinen: – was die Gesetze fordern, was die Vernunft verspricht, was der Staat verlangt, was die Kirche behauptet, das sei Gott, dem gleiche dich an, – genau so nicht! Sondern: Gott ist jenseits des Allgemeinen, er ist der Einzelne6, der will, daß wir den Mut gewinnen, Einzelne zu werden, und sei es im Widerspruch, und sei es um den Preis der Exkommunikation. Es ist ja nicht, daß wir dabei fürchten müßten, nur um uns 106

selbst zu kreisen; das Finale dieses wunderbaren Textes lautet: «Wer mich hört und Vertrauen auf mich gewinnt, der gewinnt Gott, der hört, der sieht Gott, der lernt Vertrauen auf den, der mich gesandt hat. Wie er zu mir gesprochen, der Vater, so sage ich es.» Da schließt sich der Kreis. Denn alles, was Jesus zu sagen hat, ist dies: Der Urgrund, der Hintergrund unseres Lebens, so abgründig er uns auch erscheinen mag, bleibt väterlich, ist liebevoll; er schickt uns ins Leben, und er empfängt uns im Tod; und es gibt kein Leben mehr und kein Sterben mehr, es gibt nur eine Wahrheit, die sich vollzieht, die reift und die sich erhält als unendliches Leben. Sammeln wir die Zeiten in unserem Dasein, in denen wir so waren, wie wir immer schon sein wollten, erinnern wir uns der Momente, in denen wir so glücklich waren, daß die Stunden, die sich da formten, nie hätten vergehen sollen, und denken wir uns all diese Momente als Augenblicke der eigentlichen Wahrheit, dann hätten wir jenes unendliche Leben, dann wüßten wir, was es hieße, Kinder des Lichts zu sein, entronnen den Schatten, entflohen dem Tod, geborgen einzig in Gottes Hand.

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Joh 13,1-38: Das Zeichen der Fußwaschung und: Zwischen Judas und Petrus 1Vor dem Pessahfest aber, da Jesus wußte, daß seine Stunde gekommen war (2,4; 7,30; 17,3), um hinüberzugehen: von dieser Welt zum Vater, – weil er die Seinen liebte, die in der Welt waren, wollte er sie bis ans Ende hin lieben. 2Und als ein Mahl stattfand, – der Teufel hatte schon ins Herz gesetzt, daß Judas, der Sohn Simons Iskariot, ihn überliefern sollte, – 3im Wissen, daß ihm alles der Vater in die Hände gegeben (3,35), daß er von Gott ausgegangen (16,28) und zu Gott hingehe, 4da erhob er sich vom Mahl, und legte die Obergewänder ab; er nahm ein Leinentuch und gürtete es sich um; 5dann schüttete er Wasser in ein Waschbecken und fing an, die Füße der Jünger zu waschen und mit dem Leinentuch zu trocknen, womit er umgürtet war. 6Er kommt nun zu Simon Petrus. Der sagt ihm: Herr, du? Mir willst du die Füße waschen? 7Geantwortet hat Jesus, er hat ihm gesagt: Was ich tue, weißt du jetzt nicht, du wirst es aber verstehen, danach. 8Sagt ihm Petrus: Nein, nicht sollst du mir die Füße waschen, in Ewigkeit nicht. Geantwortet hat Jesus ihm: Wenn ich dich nicht wasche, hast du nicht Teil an mir. 9Sagt ihm Simon Petrus: Herr, nicht meine Füße nur, sondern auch die Hände und den Kopf. 10Sagt ihm Jesus: Wer gebadet ist, braucht sich nicht, außer den Füßen, waschen zu lassen, vielmehr rein ist er ganz. Auch ihr seid rein (15,3), jedoch nicht alle. 11Er kannte ja den, der ihn ausliefern würde (6,64). Deshalb sagte er: Nicht alle seid ihr rein. 12Als er nun ihre Füße gewaschen, seine Obergewänder genommen und sich wieder niedergelassen hatte, hat er ihnen gesagt: Versteht ihr, was ich euch getan habe? 13Ihr ruft mich: «Lehrer», und: «Herr», und zu Recht sagt ihr’s, denn ich bin es (Mt 23,8.10). 14Wenn nun ich eure Füße gewaschen habe, ich, der Herr, der Lehrer, dann auch ihr: ihr schuldet einander, die Füße zu waschen. 15Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß, wie ich euch getan, auch ihr tut (Phil 2,5; 1 Petr 2,21). 16Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Nicht ist ein Knecht größer als sein Herr (Mt 10,24) und ein Bote nicht größer als der ihn gesandt hat. 17Wenn ihr das bewußt haltet, glücklich seid ihr, wenn ihr es tut (Mt 7,24). 18Nicht von euch allen rede ich. Ich bin mir bewußt, welche ich erwählt habe, – aber auf daß die Schrift sich erfülle: Der mein Brot ißt, hebt auf gegen mich seine Ferse (Ps 41,10). 19Schon jetzt sage ich’s euch, bevor es geschieht, damit ihr Vertrauen findet, wenn es geschieht, daß ich bin. 20Bei Gott, ja, bei

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Gott, ich sage euch: Wer jemanden aufnimmt, den ich sende, mich nimmt er auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat (Mt 10,40). 21Als Jesus das gesagt hatte, wurde er geistig erschüttert (11,33; 12,27); er bezeugte, er sprach: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern. 22Blickten einander die Jünger an, ratlos, von wem er spreche. 23Es lag aber einer von seinen Jüngern in Jesu Schoß, er, den Jesus liebte (19,26; 20,2; 21,20). 24Winkt also dem Simon Petrus, in Erfahrung zu bringen, wer es denn sei, von dem er spreche. 25Der also lehnt sich an die Brust Jesu und sagt ihm: Herr, wer ist es? 26Antwortet Jesus: Der ist es, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Er taucht also den Bissen ein [, nimmt] und gibt ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. 27Und nach dem Bissen, da fuhr in ihn der Satan. Sagt da ihm Jesus: Was du tust, tue bald! 28Davon aber verstand niemand der zu Tisch Liegenden, wozu er mit ihm redete. 29Einige meinten wohl, weil Judas Kassenhalter war, daß Jesus ihm sage: Kaufe, was wir brauchen zum Fest, oder den Armen, daß er was gebe. 30Als der nun den Bissen genommen, ging er bald hinaus. Es war aber Nacht. 31Als er nun hinausgegangen, sagt Jesus: Jetzt ward verherrlicht der Menschensohn, und Gott ward verherrlicht in ihm (12,23.28). 32Ward Gott verherrlicht in ihm, so wird auch Gott ihn verherrlichen in sich; bald wird er ihn verherrlichen (17,15). 33Liebe Kinder, (nur) auf wenig noch bin ich bei euch (16,16); ihr werdet mich suchen; doch wie ich den Juden gesagt habe (7,34): wo ich hingehe, dorthin könnt ihr nicht kommen (8,21), – so sage ich auch euch. 34Eine neue Weisung gebe ich euch: daß ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, – daß auch ihr einander (so) liebt (15,12.13-17)! 35Daran sollen alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe habt untereinander. 36Sagt ihm Simon Petrus: Herr, wohin gehst du? Geantwortet hat [ihm] Jesus: Wohin ich gehe, kannst du mir jetzt nicht folgen; folgen aber wirst du – später (21,18.19). 37Sagt ihm Petrus: Herr, warum kann ich dir nicht folgen, jetzt schon? Mein ganzes Ich – für dich will ich’s geben! 38Geantwortet hat Jesus: Dein ganzes Ich – für mich willst du’s geben? Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage dir: Nein, kein Hahn wird krähen, ehe du verleugnet hast – mich, dreimal (18,25).

Es gibt im Johannes-Evangelium kaum einen Text, der so kontrastreich, so dramatisch antithetisch komponiert ist wie diese Eingangsszene der sogenannten Abschiedsreden. So viel ist deutlich: Hier bereitet sich ein Mensch nicht vor auf seine Hinrichtung – es kommt der Tod nicht über ihn wie ein 109

gräßliches gefräßiges Verhängnis –, sondern hier erfüllt sich ganz von innen her seine Bestimmung. Immer sonst spricht das Johannes-Evangelium von dem Gehorsam, den der Sohn dem Vater schulde; an dieser Stelle sagt es, daß ihm, Jesus, alles der Vater in die Hände gegeben habe. Es ist, mit einem Wort, alles, was jetzt kommen wird, ganz und gar Jesu freie Entscheidung. Es wird um die Auslieferung (den «Verrat») durch den einen und um die Verleugnung des anderen der Jünger gehen, Jesus aber wird durch all das hindurchgehen als ein verkannter Souverän, der auf den Antritt seiner Herrschaft vor den Augen aller wartet. Es ist vor dem Pessahfest. Diese bei Johannes so häufige und nuancenreiche Zeitangabe verweist hier auf die Erfüllung der Religion Israels. Was irgend einst in der Pessahnacht von der möglichen Befreiung des Menschen geglaubt wurde, wird jetzt zur Wahrheit kommen. Wenn es früher darum ging, dämonische Götter von dem Zugriff auf die Erstgeburt von Mensch und Tier abzuhalten, indem man das Blut getöteter Lämmer an die Pfosten der Haustüren strich, so wird nunmehr all dieses Grausige sein Ende finden durch eine völlig neue Beziehung zwischen Gott und Mensch, die sich zueinander verhalten wie Vater und Sohn, wie ein alles in die Hände Legender und wie ein alles in die Hände Nehmender, und zwischen beiden wird eine Einheit bestehen, die keine Furcht mehr kennt. (Vgl. 1 Joh 4,18.) Die Rede geht nicht von «Auferstehung» im Sinne der ersten drei Evangelien: als von einem Geschehen nach dem Tode, am «Ende der Welt»; was dort gemeint ist, wird vielmehr ganz und gar in den Innenraum der menschlichen Existenz hineingenommen und verdichtet, so daß das, was sie Sterben nennen, hier als ein Hinübergehen von dieser Welt zum Vater betrachtet wird. O wenn wir das lernen könnten! Dann wäre die Grenze überschritten, an der man uns noch einmal aufhalten könnte auf dem Weg zur Freiheit, zur eigenen Bestimmung, zur Menschlichkeit. Sterben, das hieße dann nicht mehr, etwas zu verlieren, sondern sich hineinzugeben in Hände, die uns auffangen – «väterlich», «mütterlich»… Natürlich, der Tod kann auch anders erlebt werden. Wie er im einzelnen einen jeden von uns antreffen wird, ist in keiner Weise vorhersehbar noch vorzubereiten. Es gibt keinen «Entwurf» auf den Tod hin, wie manche Existenzphilosophen uns versichern mochten; wohl aber gibt es eine Einstellung zum Leben, die den Tod integriert, und sie besteht darin, zu spüren, daß unser Leben auf ein Unendliches ausgelegt ist, von dem die Jahre unserer irdischen Existenz nur wie ein Anfang sind. Nicht einmal die Trennung zwischen Zeit und Ewigkeit läßt sich aufrechterhalten im Sinne dieser johanneischen Vision, sondern zu leben, das bedeutet, wie Israel auf 110

dem Wüstenzug das Manna jeden Morgen aus den Händen Gottes, so das ganze Dasein zu empfangen: als ein Geschenk der Ewigkeit an die Zeit. Gerade dies, meinte Sören Kierkegaard um 1840, heiße es, im Augenblick zu existieren, darin allein liege die Wahrheit der ganzen menschlichen Existenz1. Was heißt da Hin(weg)gehen aus dieser Welt? «Welt» ist für Johannes nicht der Ort, auf dem wir hier stehen, «Welt» ist vielmehr ein Entwurf des menschlichen Lebens weitab von Gott, ein Leben, hineingetaucht in eine buchstäblich gnadenlose Sphäre des Daseins. Tod, Dunkelheit, Lüge, Nacht, Meer, Grab – das sind die Chiffren, mit denen Johannes diese «Welt» malt. Aber umgekehrt: Leben, Licht, Wahrheit, das Hinübergehen über das «Wasser» – das sind die Bilder, in denen Jesu Sieg über den Tod beschrieben wird. Die Worte Abschied und Hinübergang wecken Gefühle der Traurigkeit, der Einsamkeit und der Verlassenheit. Bei der Trennung von einem geliebten Menschen fühlen wir uns oft wie in den Tagen, als wir noch Kinder waren und es für unsere Eltern womöglich keine Sprache gab, uns zu erklären, warum sie fortgingen und wann sie wiederkämen. Die Angst eines Kindes, das nicht wissen kann, was seine Eltern beabsichtigen, kann sich nur beruhigen, wenn es fest daran glaubt: nie werden diejenigen, die es lieben und denen es sein Leben verdankt, es allein zurücklassen. Gerade an dieser Stelle redet Jesus deshalb seine Jünger an mit: liebe Kinder. In allen Ängsten sind wir wie Kinder, die ihres Trostes harren und ihn nicht finden, und er wird uns nur geschenkt in einem größeren Raum der Liebe. Zu einer solchen angstüberwindenden Liebe ist Jesus entschlossen, bis ans Ende hin – «vollendet» also, und als das Bild dafür setzt er die Fußwaschung. Ganz überraschend und unvorbereitet für die Jünger, ist sie ein Akt der Hochachtung und der Zärtlichkeit. Manche in der Physiotherapie Tätigen betonen zu Recht, wie wichtig es sei, die Füße zu streicheln und zu massieren; der gesamte Körper bilde in ihnen sich ab, und sie recht in bestimmten Reflexzonen zu betasten heiße, den ganzen Menschen einzuhüllen in Geborgenheit und ihn von Verkrampfungen und Schmerzen zu lösen. In den Tagen Jesu war die Fußwaschung ein Sklavendienst, um den Schmutz und den Staub langer Fußwege von seinem Herrn, von einem Gast zu nehmen. Es geht ganz wörtlich darum, den anderen zu reinigen; doch eben darin liegt auch ein Symbol: als Zeichen geht es darum, dem anderen ein Gefühl für seine Unschuld zurückzugeben. Das ist nicht anders möglich, als daß jemand ganz und gar aufhört, Herrschaft über sein Gegenüber zu beanspruchen; und das wiederum geht nur, wenn der eine sich in gewissem Sinne vor dem anderen 111

niederbeugt, wenn er sich vor ihm klein macht, wenn er sich an seine Seite setzt, wenn er sich mit ihm auf dasselbe Niveau begibt. Es kann sogar sein, daß der andere in gewissem Sinne sich auf einem höheren Niveau befindet, dann wird es darauf ankommen, ihm dahin zu folgen. In jedem Falle geht es darum, sich dahin zu stellen, wo der andere steht – ihn zu «verstehen» also – und ihn dahin zu begleiten und zu geleiten, daß er seinen eigenen Standpunkt einzunehmen vermag. Rein sein, heißt das im 15. Kapitel des Johannes-Evangeliums einmal; da sagt Jesus wörtlich: Schon seid ihr rein wegen des Wortes, das ich euch gesagt habe (Joh 15,3). Es geht im Johannes-Evangelium im Zeichen der Fußwaschung also nicht um einen ErsatzRitus für die Taufe, der sich entsprechend der kirchlichen Sakramentenlehre mit Tod und Auferstehung Jesu verbinden würde; im Gegenteil: alles Rituelle wird im Johannes-Evangelium ganz und gar ins Innere gezogen; es geht einzig darum zu verstehen, was Jesus wollte. Und was will er? Daß wir es lernen, einander zu verstehen! Da wird eine kleine Gebärde beim Abschied Jesu von seinen Jüngern zu dem Ende von allem, was uns normal scheint. Es gibt Herren, die uns sagen, wo es langgeht, das sind wir gewohnt; es gibt Lehrer, die uns erklären, wo wir mit uns dran sind, auch das kennen wir; wenn aber Jesus «Herr» ist, so befiehlt er uns gar nichts mehr, was wir immer noch in der Weise tun müßten, als gehorchten wir einem fremden, unverständlichen äußeren Befehl. Wenn er redet, so einzig in der Sprache unseres Herzens. Wenn er etwas von uns möchte, so geschieht es, daß sich unser Inneres aufschließt zur Liebe; ist er unser Lehrer, so wird er uns nie etwas anderes bedeuten als das, was in uns selber an Wahrheit bereitliegt. Er bringt uns «Gott» nicht von außen bei; sein Beistand vermittelt uns von innen Gott und bewirkt, daß sich auch unser Wesen von innen her entfalten kann. Was da geschieht, ist eine Umwertung von allem. In den ersten drei Evangelien hätte sich dergleichen dartun müssen nicht in einer Gleichnishandlung wie der Fußwaschung, sondern in einer Gleichniserzählung, wie etwa in der Geschichte vom Schalksknecht (Mt 18,21-35), in der Jesus schildert, daß wir Verlorene sind, wenn Gott uns nicht vergibt, und daraus folgert, auch wir müßten einander vergeben. Das ist so ein Hinübergehen von dieser Welt zum Vater, ein Sterben in gewissem Sinn und ein Neubeginn, ein Tod und eine Auferstehung in dem Sinne, wie Leo Tolstoj einmal einen seiner großen Romane benannt hat2. Vielleicht ist, um das Gemeinte zu verdeutlichen, die Geschichte des Oskar Schindler geeignet. Steven Spielberg in seinem Film Schindlers Liste3 hat einen Dialog gestaltet, in dem ein inzwischen durch die Ausbeu112

tung von Juden reich gewordener Email-Fabrikant mit dem Leiter eines polnisch-jüdischen Arbeitslagers redet: Schindler mit Göth. Schindler hat gehört, daß dieser Nazi-Scherge nach Belieben, einfach zur Schießübung, vom Fenster aus auf Menschen zielt und abdrückt. Selbst die Juden bemerken davon nichts, wenn einer der Ihren stirbt, – es ist zu alltäglich. Aber die Jüdin, die er erst als seine Mätresse, dann als seine Geliebte bei sich hält, hat weinend über diesen Göth zu Schindler gesagt: – «Ich verstehe nicht, ich begreife nicht, was er will. Es gibt keine Regeln, daß man wüßte, wenigstens wenn man sie einhielte, wäre man sicher.» Diese Frau würde jede Sklaverei, jede Quälerei über sich ergehen lassen, wenn es ihr nur das Leben verspräche. – «Er hat», erzählt sie, «eine alte Frau, die durch die Straßen ging – so wie sie alle gehen, nichts Besonderes war an ihr –, hinterrücks erschossen.» – «Siehst du», beruhigt sie Schindler, «das liegt daran, daß sie ihm alle gleichgültig sind; es kommt für ihn nicht darauf an. Es gibt keine Regel, nach der das passiert, eben weil alles gleichgültig ist. Aber du bist ihm nicht gleichgültig, auf dich legt er Wert. Das ist eine Chance.» Göth aber wird Schindler fragen: – «Warum haben wir nur so viel Macht über sie?» – «Nun», antwortet Göth, «weil wir sie töten können; davor haben sie Angst.» Doch Schindler, sich in die absurden Gedanken dieses überzeugten Nationalsozialisten hineindenkend, im Willen auch, alles umzukehren an dieser Logik einer gräßlichen, barbarischen, buchstäblich gnaden- und gottlosen Welt, erwidert: – «Das ist’s nicht. Daß wir sie töten können, das ist nicht die wirkliche Macht. Die Macht ist, daß wir sie töten können aus jedem beliebigen Grund. Das ist soviel wie eine totale Hinrichtung, eine totale Aburteilung. Aber es gibt eine größere Macht, die üben die Kaiser: Da kam jemand, irgendeiner, ein Nichts von Mensch, ein Schuldiggewordener womöglich, und sie begnadigten ihn. Das ist die wahre Macht von Kaisern, von Königen: zu begnadigen.» Tags darauf wird Göth versuchen, das Begnadigen zu spielen, so ähnlich wie in Jean-Paul Sartres Drama Der Teufel und der liebe Gott der Landsknechtführer Götz versuchsweise die Rolle des Guten einzunehmen sucht4. Viel ändert sich dadurch objektiv nicht, aber für Schindler wird sich alles verändern. Bald schon wird er vor der Frage stehen, was er machen soll. «Wenn Göth sie alle umbringen will, soll ich es dann ändern? Kann ich es dann ändern? Ich habe so viel Geld verdient wie nie in meinem 113

Leben; ich habe getan, was meine Eltern von mir wollten; ich habe heute ganze Koffer voll Geld.» Aber sein leitender Angestellter Itzak Stern, der bei diesen Worten zu weinen beginnt, führt einen aberwitzigen Entschluß herbei, nämlich mit dem Geld alle dem Tod geweihten, jüdischen Zwangsarbeiter der Email-Fabrik zurückzukaufen und in einer neu gegründeten Firma für rüstungswichtige Produkte zu beschäftigen – für Granatensprengköpfe, von denen Schindler betont: «Ich will in meiner Firma niemals Granaten herstellen, die man auch verschießen kann.» Aber er wird sie produzieren, weil man für ihre Fabrikation auch Kinder braucht, die die kleinen, millimetergroßen Patronen von innen her mit ihren Händen ausschmirgeln können. Alle – Kinder, Frauen und Alte – werden kriegswichtig sein bei der Rüstung: – und es werden über tausend Menschen gerettet werden! Da plötzlich besitzt Geld keinen Wert mehr, da plötzlich ist Reichtum kein Motiv mehr, da plötzlich wird Macht ein absurder Begriff; vielmehr verändert sich die ganze Welt in dem Raum einer Ohnmacht, die so etwas zuläßt wie Gnade. Ganz so hier. Wo irgend ein Mensch von seinem Gegenüber gar nichts mehr wissen will, sondern sich nur noch fragt: «Was braucht denn der andere zum Überleben wenigstens eines Tages, vielleicht zum Leben überhaupt, eines baldigen Tages vielleicht gar, um glücklich zu leben?», so erfüllt sich alles, was Jesus wollte. Das ist die ganze Reinigung des Lebens. Es gibt keine Schuldigen mehr, es gibt keine Unschuldigen mehr, es gibt nur noch Menschen, die hinübergehen von dieser Welt zum Vater. Das ist das ganze Wunder der Auferstehung bei Johannes. Wie um die Alternative Göth und Schindler auf seine Weise zu beleuchten, führt das Johannes-Evangelium an dieser Stelle zwei konträre Gestalten ein: Judas und Petrus. Von dem einen ist das Johannes-Evangelium überzeugt, daß die schlimmsten negativen Begriffe für ihn tauglich sind. Im Kreise der Jünger selber denkt man schlicht, Judas sei der Kassenwart, doch für Johannes ist klar: er ist ein Dieb. Johannes schreibt sogar, daß es der Satan gewesen sei, der Judas den Gedanken des Verrats eingegeben habe, und wenn immer bisher von Gott als dem Vater die Rede war, so wird hier generell (Joh 13,2.26) eingefügt, des Judas Vater sei Simon Iskariot, ein Mann aus einem Dorf in Judäa. Selbst der Bissen, den Jesus ihm reicht, wird wie eine Droge sein, die diesen «Teufel» in Menschengestalt bis in die Seele hinein vergiftet; was er tut, ist ein Werk der Nacht. Jesus selbst, wird uns indessen versichert, hat diesen Mann in den Kreis der Jünger nicht etwa aus mangelnder Kenntnis des Menschlichen hineingeholt, sondern er hat es getan eines Psalmenzitats wegen, um die Schrift 114

zu erfüllen, wissend, daß alles gerade so kommen mußte, wie es dann kam (Ps 41,10; Joh 13,18). Das Johannes-Evangelium will ganz offensichtlich alles, was sich um die Passion Jesu bis hin zum Ostermorgen zuträgt, nicht als die Katastrophe malen, die es historisch gesehen war, sondern als etwas, das gemäß den Schriften von Gott her im Willen Jesu selber sich gerade so habe ereignen müssen. Was diese Sicht der Dinge psychologisch freilich bedeutet, ist noch viel tiefgründiger, als wir es etwa von der griechischen Tragödie her kennen: Das johanneische Menschenbild legt es nahe, zu denken, wir Menschen wären wirklich so: Unter den Augen eines absolut Verstehenden wie des Mannes aus Nazaret erschienen wir wie vorhersehbar, – man müßte uns nur tief genug ins Herz schauen, und man wüßte, wie wir in einem bestimmten Augenblick handeln werden. Ein solcher Gedanke mutet unheimlich an. Sollte das tatsächlich so sein: gesetzt den Charakter eines Menschen, hinzugefügt die Umstände, unter denen er antritt, und wir erhielten die sichere Prognose seines Verhaltens? Freilich, im Raum des Vertrauens wäre das ein wunderbarer, ein überaus kostbarer Gedanke: für einen Menschen, den wir liebhaben, könnten wir zumindest negativ die Hand ins Feuer legen und beschwören: «Dies und das wird er niemals tun, denn das ist ihm wesensfremd!» Positiv werden selbst dann eine Fülle von Möglichkeiten immer noch unvorhersagbar bleiben, aber negativ glauben wir den anderen, wenn er uns nahesteht, doch immerhin so weit zu kennen, daß wir eine Fülle von «Sataneien» ausschließen können. Aber nun umgekehrt davon ausgehen zu sollen, wir vermöchten einen Menschen so genau zu kennen, daß wir ihm eine bestimmte Missetat unter gegebenen Umständen als sicher zutrauen müßten, bedeutete das nicht das Ende des Menschlichen im ganzen? Deutlich ist, daß das Johannes-Evangelium über den Jünger Judas historisch ungerecht urteilt und daß diese Verzerrung seiner Person schon bis in die Anfänge der Passionsgeschichte bei Markus zurückreicht5. Es ist schwer einsehbar, welch einen Grund ein Mann wie Judas gehabt haben sollte, Jesus zu «verraten». Die Konstruktion, daß er der Anhänger eines politischen Messiasverständnisses gewesen sei und in einer aberwitzigen Aktion Jesus zum Gewaltaufstand gegen die Römer habe zwingen wollen, ist denn doch zu romanhaft entworfen, um wahr sein zu können: – als wenn es möglich gewesen wäre, dem Mann aus Nazaret auch nur ein paarmal richtig zuzuhören und ihm dann einen organisierten Aufstand zuzutrauen. Mitanzusehen, wie er sich mit Zöllnern, mit Römerfreunden also, einließ, wie er keine Skrupel kannte, einen römischen Hauptmann zum Vorbild des Glaubens zu erklären (Mt 8,5-13), und über denselben Mann 115

dann zu denken, daß er im letzten Moment in einem dilettantischen Putschversuch gegen die Römer blankziehe, ausgerechnet im Schatten der Burg Antonia, unter den Augen der römischen Besatzungstruppen, das alles ist eine solche Phantasterei, daß es sich mit dem Wesen und mit der Botschaft Jesu nicht verträgt und im übrigen auch einen unglaublichen Dummkopf auf den Schultern des Mannes Judas voraussetzt. Was vor allem sollte nach dieser Deutung die Auslieferung Jesu an die Römer, wenn Judas ernstlich von Jesus erwartet hätte, daß er sich, wenigstens im Ölberggarten, in Todesnot, noch gründlich wehrte und schlüge? Ganz anders indessen macht die Vorgehensweise des Judas Sinn, wenn wir sie im Raum des Religiösen belassen und nicht, wie es in manchen Deutungen geschieht, politisch motivieren. Dann müßten wir denken, daß Judas seinen Meister womöglich besser verstanden habe als sie alle, daß er gelitten habe unter der frommen Provokation und Revolution des Mannes aus Nazaret. Da ist das Gesetz des Mose, heilig und gültig, doch dann zeigt Jesus, wie in der Szene von der Ehebrecherin (Joh 7,53b; 8,1-11), daß niemand schuldlos genug ist, es anzuwenden! Wer ohne Sünde ist von euch, als erster auf sie werfe der den Stein (Joh 8,7), hat er gesagt. Er hat das Gesetz des Mose so ernst genommen, wie wenn jemand alle Kraft anstrengt, um eine Schraube in ein Metallstück zu drehen, so lange, bis das Gewinde überdreht ist; man kann sie dann auf einmal ohne Widerstand herausziehen, – sie faßt nicht mehr. Das zu Ende geschraubte Gesetz ist der Anfang der Gnade, so lebte Jesus, so dachte später Paulus. Doch im Unterschied zu Paulus diskutierte Jesus nicht schriftgelehrt mit Schriftgelehrten; er befragte einfach die Menschen, was sie denn täten, wenn sie ehrlich seien: Sie bräuchten – so die Überzeugung Jesu – einen absoluten Freispruch, weil sie ihre Schuld gar nicht begleichen könnten. (Vgl. Mt 18,21-35: Das Gleichnis vom Schalksknecht!) Denken läßt sich deshalb, daß der ganze Konflikt zwischen den Orthodoxen in Israel und dem Manne aus Nazaret quer durch das Herz des Judas ging und er zwischen beiden Seiten stand, indem er es mit beiden Seiten halten wollte: Er liebte seinen Herrn und hoffte, ihn zu retten, wenn man ihn nur zwingen könnte, mit dem Hohen Priester Kajaphas endlich zu reden, und umgekehrt, er glaubte auch an die Integrität des Hohen Priesters; wenn man Kajaphas nur nötigen könnte, nach dem Buchstaben des Gesetzes Jesus anzuhören, so würde er unweigerlich erkennen, daß er keinen Schuldigen, sondern einen Gottesmann vor sich habe. In einem solchen Widerstreit der Gefühle wäre es in der Tat ein Akt der Liebe des Judas zu seinem «Herrn» gewesen, die würdelose Flucht Jesu vor der dro116

henden Verhaftung zu beenden und ein gemeinsames Gespräch zwischen den verfeindeten Lagern herbeizuzwingen. Beide Parteien weigerten sich offenbar, miteinander zu reden: Jesus, weil er anscheinend nicht mehr daran glaubte, in den Gesetzeslehrern und Hohen Priestern aufrichtige Männer Gottes statt «Heuchler» zu finden (Mt 23,11.13-15), und Kajaphas nicht, weil er es als gar nicht nötig empfand, die Schuld Jesu noch festzustellen – sie war in seinen Augen längst erwiesen; nur ein Widerruf hätte in dieser Situation Jesus noch retten können, doch dazu würde er nie bereit sein. So mag es eine verzweifelte, eine paradoxe Hoffnung des Judas gebildet haben, durch die Auslieferung an den Hohen Rat Jesus retten zu können. Was aber sollte man dann «Satan» nennen? Es hat keinen Sinn mehr, im Rahmen altorientalischer Mythologie bestimmte Symbole auf falsche Art wörtlich zu nehmen, indem man sie als metaphysische Gegebenheiten statt als Daseinsmöglichkeiten der menschlichen Existenz auffaßt. Ein Mann wie der russische Dichter Dostojewski hätte gewiß die paradoxe, verzweifelte Situation des Judas verstanden: wie man zum Verräter werden kann aus Liebe, zum Mörder aus dem Bestreben, Leben zu bewahren, wie man hinterhältig werden kann aus verlorenem Vertrauen, – wie Menschen immer wieder das eine wollen und das andere tun werden. Dostojewski hätte auch begriffen, was es bedeutet, wenn der Satan in das Herz eines Menschen fährt. Er hätte nie geglaubt, daß man Menschen dämonisieren könnte oder dürfte; aber daß Menschen wie hypnotisiert beginnen, Gedanken nachzuhängen, die ihrem eigentlichen Wollen vollkommen widersprechen, das galt ihm fast für normal, – er mußte sich nur umschauen in ihren Zimmern und Wohnungen. So konnte Dostojewski in dem Roman Die Dämonen einmal von einer ganzen Jugendgeneration sagen: «Sie sind wie Engel, die mit gebrochenen Gliedern auf die Erde gefallen sind.»6 Es ist die unheimlichste, genaueste Kennzeichnung dessen, was wir das «Satanische» nennen, und es entspricht sogar dem biblischen Mythos selbst, wonach es reine Geister, «Engelwesen», unbedingte Idealisten gewesen seien, die schon im Akt der Schöpfung sich mit der Wirklichkeit der Welt nicht einverstanden erklären konnten und seither lieber alles vernichteten als dessen Bestand noch länger zu dulden. Ähnlich verzweifelt müssen wir wohl Judas sehen, auf dessen Handeln wir noch einmal bei der Szene im Ölberggarten zu sprechen kommen werden. Wir sollten bei einer solchen Auslegung Johannes allerdings in aller Form bitten, die Gestalt des Judas aus der «Hölle», in die er ihn verbannt, unter die Jünger Jesu, in den Raum der Liebe, zurückzuholen. Es darf nicht dabei 117

bleiben, daß der von Jesus Eingeladene zum Ausgeschlossenen erklärt wird. Und so müssen wir erzählen, was Johannes nicht erzählt, um zu verstehen, was er erzählt. Wir erhalten dann eine Geschichte, die in sonderbarer Weise der des Petrus ähnelt. Wenn wir uns Judas denken als einen mit sich Zerfallenen, als einen Unsicheren, der sich hochrankt nach Halt, indem er den Gang der Ereignisse voranpeitscht und sie dabei dem Untergang entgegentreibt, so finden wir in Petrus genau den Widerpart dazu: nicht den Zergrübelten, nicht den von Zweifeln Verstörten, nicht den die Not der frühen Jesusgemeinde Vorwegnehmenden, sondern den Selbstsicheren, den anscheinend Unangefochtenen, den Mann der vermeintlich totalen Hingabe und Entscheidungsbereitschaft, Petrus, den Fels eben (Joh 1,42). Alle Legenden, die über ihn im Neuen Testament überliefert sind, haben dieses Format: Ein Mann der Tat steht da vor uns, ein Mann, der weiß, was er will, eine Gestalt, auf die man bauen kann, ein fester, kompetenter, kompakter Charakter, – und so auch redet er hier. Gehört aber wirklich viel an Menschenkenntnis dazu, um zu sehen, wie in dieser Pose der Sicherheit die eigene Angst durch eine Flucht nach vorn überspielt werden soll, wie da der Zweifel sich in falsche Gewißheiten kleidet, wie die eigene Furcht mit Garantieerklärungen verdrängt wird und wie schließlich das Verdrängte das Ich wieder einholt? Die verdrängte Angst gelangt nicht ins Bewußtsein, sie wird nur abgespalten, und so bildet sie ein Zwangsschicksal: Weil wir sie nicht zulassen, um sie bewußt zu bearbeiten, kehrt sie zurück. Aber das Unheimliche ist nun, daß Jesus seinem Freunde Petrus einfach, indem er seine Worte wiederholt, in aller Deutlichkeit aufzeigt, daß, wer so spricht, schon dabei ist, das Gegenteil dessen zu tun, was er subjektiv durchaus ehrlich als seinen Willen gelobt und sich vorsetzt. Kaum daß der Morgen dämmert, wird gerade der scheinbar so Getreue zum wirklichen Verräter. Von Judas kann man nur sagen, er habe Jesus ausgeliefert oder überliefert; verraten, verleugnet aber hat ihn Petrus. Judas wird sich später, erzählt das Matthäus-Evangelium in einer eigenen Judas-Legende (Mt 27,3-5), das Leben nehmen aus Verzweiflung; Petrus wird im Morgengrauen bittere Tränen vergießen. Woher nur, wenn es so zugeht, sollen wir je noch das Recht nehmen, Menschen zu messen nach Sündig und Nicht-Sündig, nach Gut und nach Böse? Was für ein Bild ist das von den Menschen: wie sie hilflos im Netz ihres eigenen Lebens zappeln? Das einzige jedenfalls, was sie zu erlösen vermöchte, wäre die Gnade, ihre Angst besiegen zu können durch ein Vertrauen, das Liebe ermöglicht! Es wäre wirklich die einzige, die ganze, die einzig im ganzen notwendige Antwort. 118

Wir werden auch auf die Gestalt des Petrus noch einmal zurückkommen, wenn wir seinen «Verrat» miterleben. Wichtig an dieser Stelle sei nur erst die Antwort des Mannes aus Nazaret. Da erklärt er dem Petrus: Wohin ich gehe, kannst du mir (jetzt) nicht folgen; folgen aber wirst du später. Ein ähnliches Wort erging bereits an die «Juden» (Joh 8,21); hier aber trägt es nicht mehr den Charakter einer Verweigerung, sondern eines Versprechens. Sollte es sein, wir könnten es doch und es wäre das «später» von einst das «heute», das «jetzt»? Dann brauchten wir gar nicht länger zu warten, sondern wir wüßten: eine solche Liebe ist möglich, die den anderen beruhigt in seiner Verwirrung, die seine oft von Angst heiße, schweißbedeckte Stirn kühlt, die seine zitternden Hände nimmt und die ihn umfängt, wo er zu straucheln fürchtet. Und es gäbe keine «Herren» mehr und keine «Lehrer» mehr, es gäbe in gewissem Sinne auch keine Dienenden mehr, sondern nur noch Menschen, die allesamt wüßten, wie hilflos sie sind und wie eben darum bedürftig der Hilfe des anderen. Es wäre eine geschwisterliche Lebensform. Es wäre der Anfang von Ostern. Es gäbe keinen Tod mehr, der uns einschüchtern könnte, es gäbe keine Angst mehr, vor der wir fliehen müßten; es wäre, daß wir uns aufrichteten und gingen hinüber von dieser Welt zum Vater (oder zur Mutter), und wir fänden uns wieder in dem Raum einer Güte ohne Grenzen. An der Brücke, die über die Pader führt, hat ein «Schmierer» vor Tagen mit der Spritzpistole geschrieben: «Abschieben ist Mord – Für ein Leben ohne Grenzen!» Natürlich war, der das schrieb, wieder einer der notorisch linken Spinner, die wir als Ruhestörer polizeilich zu verfolgen trachten; doch die Botschaft des Neuen Testaments in zwei Sätzen, in Schwarz geschrieben auf die weißen Mauern einer Brücke, läßt sich besser nicht wiedergeben.

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Joh 14,1-14: Ich bin der Weg … oder: Zwischen Angst und Vertrauen 1Nicht erzittere euer Herz (14,27). Ihr habt Vertrauen auf Gott. So auch auf mich – habt Vertrauen (12,44)! 2Im Hause meines Vaters – Bleiben sind viele (1,38). Wenn nicht, hätte ich euch dann gesagt: Ich gehe hin, euch einen Platz zu bereiten? 3Und bin ich hingegangen und habe einen Platz euch bereitet, so komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit, wo ich bin, auch ihr seid (12,32; 17,24). 4Wohin ich gehe – ihr wißt ja den Weg. 5Sagt ihm Thomas: Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst, wie könnten wir den Weg wissen (11,16; 13,36)? 6Sagt ihm Jesus: Ich bin der Weg, die Unverstelltheit Gottes, das Leben (10,9; 11,25; Röm 5,12; Hebr 10,20). Niemand kommt zum Vater, außer durch mich (Mt 11,27). 7Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen (8,19). Somit: von nun an kennt ihr ihn, ja, ihr habt ihn gesehen. 8Sagt ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater; das genügt uns. 9Sagt ihm Jesus: So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen, hat den Vater gesehen (12,45). Wie sagst du: Zeige uns den Vater? 10Vertraust du nicht, daß ich im Vater bin und der Vater in mir ist? Die Worte, die ich euch sage, – aus mir rede ich nicht (12,49); der Vater aber, der bleibend in mir ist, tut seine Werke (8,28). 11Vertraut mir: ich im Vater, und der Vater in mir. Wenn aber nicht – der Werke selbst wegen habt das Vertrauen (10,38; 5,36)! 12Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Wer auf mich vertraut: die Werke, die ich tue (Mt 28,19), er selbst wird sie tun, ja, größere als diese wird er tun (5,20), denn ich gehe zum Vater. 13Und was ihr erbittet in meiner Wesensart, das werde ich tun (15,16; 16,23), damit verherrlicht werde der Vater im Sohn (17,4). 14Wenn ihr um etwas mich bittet, in meiner Wesensart, – ich werde es tun.

Etwa ein Fünftel des ganzen Johannes-Evangeliums ist konzentriert in den sogenannten Abschiedsreden Jesu. Im Zentrum steht die Frage, wie man den Tod Jesu verstehen, wie man ihn menschlich verbindlich auslegen kann. Johannes versucht es, indem er Jesus selber reden läßt. Er legt ihm Worte in den Mund, die historisch so niemals von Jesus gesagt wurden, die aber in christlicher Absicht so etwas darstellen wie einen platonisch geführten Dialog oder besser Monolog. Nie hat der johanneische Jesus deutlicher ausgesprochen, was er von Gott denkt, was von seiner Mission, was 120

von der Welt, was von seinen Jüngern; – das gesamte Glaubensbekenntnis des Vierten Evangeliums ist in diesem Abschnitt, der mit dem 14. Kapitel beginnt und mit dem 17. Kapitel endet, verdichtet. Wie ein Beschwörungstext gegen die Angst ist alles, was der johanneische Jesus in den letzten Stunden seines Lebens seinen Jüngern verkünden wird. Aber hält es stand, unser Herz, – zwischen Angst und Vertrauen, zwischen Sehnsucht und Ermüdung? Werde ich meine Tochter wiedersehen? fragte vor einer Weile eine Frau mit offenen, rotverweinten Augen. Ihre Tochter hatte sich mit sechzehn Jahren das Leben genommen; und sie, die Mutter, fühlte sich schuldig für die Drogenabhängigkeit, für die zerstörte Jugend ihres Kindes. In Wahrheit konnte sie selbst kaum dazu. Keine Mutter erzieht ein Kind allein, allenfalls die Hälfte der Verantwortung trägt sie selbst; aber das waren nicht die Betrachtungsweisen, die diese Frau hätten trösten oder ihr wenigstens ein bißchen hätten Erleichterung verschaffen können. «Ich hätte doch mit ihr noch so vieles zu bereden gehabt!» – Sie hätte an ihr ein ganzes Leben wiedergutmachen mögen, aber sie wußte nicht, wie. Wenn es doch irgendwie – so ihre einzige Hoffnung – noch eine Verbindung mit ihr geben könnte, noch einen gewissen Austausch, nicht diese abrupte, scheinbar endgültige Trennung, die der Tod bedeutet! Je länger wir sprachen, bewegten wir uns indessen auf einen Raum wachsender Gelassenheit zu. War nicht im Leben dieser Frau gerade dies die Hauptursache für alle Verwirrung gewesen, daß sie selbst in all dem Durcheinander kaum je zu sich selber hatte finden können? Immer hatte sie dasein müssen für die anderen, für ihre Familie, für ihren Mann, der immer wieder zu Alkoholexzessen neigte. Was hätte sie unter solchen Umständen tun sollen? Wenn es für sie etwas zu lernen gab, sogar aus dem Selbstmord ihrer Tochter, dann war es dies, daß solch eine Handlung geschehen kann aus einem starken Verlangen, irgendwo möge endlich sich etwas finden wie Ruhe und Geborgenheit, und diese Sehnsucht wie ein Vermächtnis selber in das eigene Leben zu übernehmen erschien vielleicht als die eigentliche Botschaft des «Hinübergangs» ihrer Tochter. Wenn dieses Mädchen zu ihrer Mutter noch hätte etwas sagen können, wären es wohl diese Worte gewesen: «Du selbst meintest alles ganz gut, Mutter, du hast getan, was du konntest, dich trifft in keiner Weise irgendeine Schuld, und ich wäre die letzte, die dir irgendeinen Vorwurf machen würde. Aber mein Wunsch für dein Leben, für unser Leben wäre (gewesen), es hätte befreite, ruhige Zeiten geben dürfen, in denen einmal nichts gemacht worden wäre, in denen nichts notwendig gewesen wäre, in denen nicht wieder Pflicht und Angst 121

geherrscht hätten, sondern in denen wir einfach hätten dasein können.» – «Ich muß mehr auf mich selber achten», überlegte die Frau, «das ist wahr; es müssen wieder Augenblicke der Stille in meinem Leben vorkommen; es muß überhaupt wieder eigene Ziele geben.» Vermutlich ist die Religion zu gar nichts anderem da, als solche Freiräume des Atmens, als solche Augenblicke der Einkehr, als solche Stunden einer absolut in sich ruhenden Selbstverständlichkeit zu schenken. Die Rede, in der Jesus die Worte des «Abschieds» an seine Jünger richtet, dient dem Trost über seinen Weg in den Tod. Seine Jünger wissen davon; durch zahlreiche Zeichen und Worte Jesu sind sie auf diese Trennung vorbereitet worden, aber jetzt, da sie sich ihr nähern, weigern sie sich, an all die vorauseilenden Andeutungen sich auch nur zu erinnern. Sie verstehen nicht, sie fühlen den bevorstehenden Abschied nur wie einen dumpfen Schmerz. Was ist der Sinn dessen, was wir Tod nennen? Gründe dafür, daß es ihn gibt, können die Biologen ausreichend geltend machen. Gültig ist da der zusammenfassende Satz des großen Naturwissenschaftlers Ludwig von Bertalanffy, der über die Tragödie der Lebewesen auf dieser Erde urteilte: «Mit der Vielzelligkeit kam der Tod, mit dem Nervensystem kam der Schmerz, und mit dem Bewußtsein kam die Angst.»1 Über den physischen Tod, über den körperlichen Schmerz kann auch die Religion nicht hinwegheben, und was macht es für einen Sinn, daß wir als Menschen so kurzzeitig einander nur begleiten dürfen? Wie bewahren wir unsere Zusammengehörigkeit, unser Mitgefühl, angesichts der blinden und grausamen Verwüstung und Zerstörung durch das Schicksal des Todes? Wie gehen wir um mit der kreatürlichen Angst schon der Tiere, die sich in unserem Menschengehirn bis ins Unendliche potenziert? Die Antwort Jesu auf all diese Fragen im Johannes-Evangelium lautet: Der Tod des einen hat für die Hinterbliebenen keinen anderen Sinn als den einer Vorbereitung. Jeder, der stirbt, geht fort, aber nur, um dem anderen vorauszugehen an eine Stätte des Wiedersehens. «Ja, Sie werden mit Ihrer Tochter wieder zusammensein, denn schon jetzt doch wartet sie auf Sie»; – einen anderen Trost wird es für jene Frau zum Beispiel nicht geben. Alles Ungesagte auf Erden ist nichts als der Anfang eines Gesprächs, das sich immer weiter in jener anderen Welt fortsetzen wird. Sterben, meint der johanneische Jesus, das ist, etwas zu tun, das auf den anderen, den scheinbar Zurückbleibenden, noch wartet, das ihm aber helfen wird, wenn es für ihn soweit ist. Sterben, das ist, jenseits des Stroms am anderen Ufer für ihn eine Bleibe zu bereiten, gerade in dem Erfahrungsraum also, der uns auf Erden nicht zugänglich ist. Im Hause meines Vaters – Bleiben sind viele. 122

Wenn nicht, hätte ich euch dann gesagt: Ich gehe hin, euch einen Platz zu bereiten? – Da wäre, was wir Sterben nennen, der Anfang einer tiefen Stille, genau das Gegenteil von dem also, was wir das Nichts nennen oder die Auflösung oder das Auslöschen von allem; da ist der Tod kein schwarzes Tuch mehr, das sich über uns legte, sondern der Anfang eines Frührots für einen Tag ohne Ende, ein Ausruhen, ein Ankommen, ein allmählich reifendes Wissen, wofür alles gut war, – das muß der Tod sein; denn nur so ist er das Hinübergehen zu einem wirklichen, einem unendlichen Leben. Manche Philosophen, wenn sie darüber nachdachten, wie wir mit unseren wenigen Jahrzehnten des Lebens auf Erden zurechtkommen könnten, meinten, es gebe zwei gewichtige Gründe, an ein ewiges Leben zu glauben. Vor zweihundert Jahren bereits erkannte Immanuel Kant, daß sich die menschliche Moral nach den Entdeckungen Isaac Newtons in alle Zeit nie mehr auf die Ordnung der Natur werde beziehen lassen; die Mechanik des Kosmos beantwortet nicht eine einzige Frage des menschlichen Herzens, kein einziges Problem der menschlichen Vernunft. Am allermeisten klaffen das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und die ersichtliche Ungerechtigkeit im Verlauf der Welt auseinander. Der Schöpfer der Ordnung der Dinge und der Schöpfer des Guten im menschlichen Gewissen, – wenn sie ein und derselbe sein sollen, so muß sich ein Punkt finden lassen, an dem beide eins werden; dieser Punkt aber kann nur wie im Fluchtpunkt Euklidischer Parallelen im Unendlichen liegen. Es gibt noch ein anderes sehr persönliches, weises Argument des Philosophen aus Königsberg: Wir Menschen, dachte er, suchen nach Wahrheit, wir ringen um Erkenntnis, wir schwanken immer wieder hin und her zwischen Täuschung und Enttäuschung, zwischen Irrtümern, die wir sinnloserweise begehen, und dem möglichen Lernen aus Fehlern, zwischen Einsichten, die ganz allmählich wieder neue Unklarheiten gebären, und Fragen, die zu neuen, sich erweiternden Antworten führen. Nicht nur gegenüber der Welt und ihren Unergründlichkeiten verhält es sich so, sondern noch viel mehr gegenüber dem Ungewissen, wer wir denn selber als Menschen sind. Das größte Übel unter den Sterblichen, zitierte Immanuel Kant einen römischen Schriftsteller, liege darin, daß wir erst, wenn wir zu alt geworden seien, um unser Leben noch zu ändern, wüßten, wie wir eigentlich hätten leben sollen. Wie viele Erkenntnisse kommen einfach zu spät! Hat das menschliche Ringen, sich selber zu finden, überhaupt einen Sinn, wenn es über die Willkürschranke des Todes hinaus keine Hoffnung geben darf, sich zu vollenden? Man sollte biblisch sich den Tod nicht 123

anders vorstellen, als daß wir ein für allemal und endgültig der Macht gegenübertreten, die wollte, daß wir sind, und die wir schon deshalb die unendliche, die reine Liebe nennen. Was aber bedeutet es, wenn wir unter die Augen oder in das Licht der absoluten Person treten, der wir uns verdanken? Gott kennt uns ganz. Er weiß um das Verborgenste in unserem Leben. Er versteht uns besser, als wir uns je zu verstehen vermocht haben. Selbst für die Taten und Zusammenhänge in unserem Leben, für die wir begonnen haben uns zu verfluchen und zu hassen, wird Er Verständnis haben und uns zeigen, was wir eigentlich wollten und welche Möglichkeiten es gegeben hätte, aus dem Gewirr herauszufinden. Vielleicht auch gab es solche Auswege für uns damals gar nicht, und sie werden erst jetzt in der Begegnung mit dem Gegenüber einer Liebe sichtbar, die will, daß wir sind, und die möchte, daß wir das werden, wozu wir von Ewigkeit her bestimmt sind. Eine solche Zuversicht enthält unendlich viel mehr als all das, was wir in menschlichen Erfahrungen andeutungsweise und bruchstückhaft erleben dürfen. Die Psychotherapie ist in unseren Tagen ein gewiß mühseliges, doch beispielgebendes Unterfangen, Menschen ohne Verurteilung zuzuhören, einfach nur um herauszufinden, was wirklich geschah und wer ein Mensch wirklich ist. Liebt einer den anderen, wird er an ihn glauben, selbst in dem, was scheinbar böse ist, selbst an den Stellen, über die andere den Stab brechen; selbst an den Punkten, an denen der andere Schlimmes getan hat, wird der Liebende sich bemühen, es zu verstehen. Das besagt nicht, daß das Geschehene richtig war, doch wenn man es genauer betrachtet, zeigt sich oft, daß das Dunkle im Leben eines Menschen nur das Schattenfeld eines um so helleren Lichtes war. Findet jemand aus all den Wirrungen nach und nach heraus und wird er sich selber durchsichtig, so tritt ein Moment der Ruhe ein; und das muß es heißen: einer bereite dem anderen Bleibe. Dann aber ist es in unserem Leben sonderbar: Jemand ist «von uns gegangen», wie wir sagen. Wir umschreiben die Härte der äußeren Erfahrung wirklich mit diesem an ein eigenes Tun erinnernden Wort; wir übersehen bewußt die gräßliche Willkür, mit welcher der Würger Tod Menschen nach Belieben auseinanderreißt; wir setzen das Sterben in ein Wort, das den Eindruck erweckt, der andere habe zumindest noch eine Chance gehabt, Abschied zu nehmen und ein eigenes Wollen und Tun mit seinem Tod zu verbinden. Aber nehmen wir an, dieses Wort habe recht: ein anderer vor uns sei «gegangen», jemand, den wir sehr liebten, – ist es dann nicht, daß wir buchstäblich Schritt für Schritt hinter ihm her kommen wollen, hinter ihm 124

her lieben und leben wollen, um immer mehr noch mit ihm im Verlaufe der Zeit zusammenzuwachsen? Am deutlichsten ganz sicher ist diese innere Bewegung im Verhältnis zu unseren Eltern. Es kann sein, daß jahrelang, jahrzehntelang die Beziehung zwischen Vater und Sohn, zwischen Mutter und Tochter wie zerbrochen schien, daß kaum je ein wirklich verständnisvolles Gespräch zustande kam, daß die wechselseitigen Erwartungen unerfüllbar, erdrückend, vorwurfsvoll am Ende nebeneinander oder gar gegeneinander standen; schließlich hatte man sich schwerlich noch etwas zu sagen. Nehmen wir dieses gewissermaßen schlimmste Szenarium an; dann wird es dennoch so sein: Spätestens von dem Moment an, da wir selbst in das Alter kommen, das unsere Mutter, unser Vater hatten, als wir sie zum erstenmal bewußt kennenlernten, entsteht das Gefühl einer merkwürdigen Verschmelzung. Erwachsen werden, sagt man, bedeute, um die Endlichkeit des Lebens zu wissen und sie zu akzeptieren. Solange wir jung sind, scheint das Leben noch reich und vielfältig vor uns zu liegen; alles ist möglich noch mit zwanzig Jahren, – unser ganzes Dasein kommt uns vor wie ein Wunschkatalog an unsere Existenz, frei zur Auswahl. Spätestens ab fünfzig ist das nicht mehr der Fall. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen liegt bei siebzig Jahren, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig Jahre, meint der Psalm 90,10, und stets geht der Weg bergab – im Längerwerden der Schatten – hurtiger und schneller als bergauf. Es bleibt am Ende nur ganz wenig noch zu tun, eigentlich gar nichts mehr; nur wirklich zu sein, einzig das zählt. Aber dann ist dies das Merkwürdige: Je mehr wir uns selber in unseren Eigenarten verstehen, desto deutlicher dämmert uns, wer eigentlich unser Vater, unsere Mutter – «waren», kann man nicht sagen, sondern – sind. Sie sind längst tot, aber sie rücken uns näher. Es sind nicht einmal die einzelnen Worte, die sie vor Zeiten gesagt haben; gewiß, dies und das ist behalten worden, dies und das hat sich als falsch erwiesen oder als richtig; doch entscheidend ist einfach die Art ihrer Persönlichkeit: So waren sie, und wir spüren ganz deutlich: so sind wir selber immer mehr dabei zu werden! Es gleicht sich an, es wächst aufeinander zu, es läßt sich nicht los, sondern es verbündet sich täglich mehr. Je älter wir werden, desto mehr gehen wir hinein in diese Bleibe, die uns bereitet ist. Es ist diese Gemeinsamkeit, die, je mehr alles Unwesentliche abfällt, als einzige noch «bleibt». Am Ende nehmen wir nichts weiter mit als uns selbst. Aber dies ist der Trost: Drüben ist etwas, das auf uns wartet, etwas Vertrautes, etwas Bekanntes, etwas schon vorweg Gestaltetes, – drüben ist jemand, der uns erwartet, der uns liebt, den wir ersehnen. 125

Johannes nimmt sich das unglaubliche Recht, ein ganzes Evangelium zu schreiben, ohne ein einziges historisches Jesuswort zu verwenden, bis auf ganz wenige Anklänge an die synoptische Tradition. Das einzige, was er schildern möchte, ist diese innere Erfahrung, die von der Begegnung mit der Person des Mannes aus Nazaret bleibt. Und so wird sein Jesus sagen: Und bin ich hingegangen und habe einen Platz euch bereitet, so komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit, wo ich bin, auch ihr seid. In der Sprache des Johannes-Evangeliums heißt das soviel wie: «Ich schicke euch meinen Geist», – meinen Zu-Sprecher, müßte man wörtlich sagen, denjenigen, der «tröstet» in der Verzweiflung, der Mut macht gegen die Angst, der durch seinen »Zuspruch» Zuversicht schenkt angesichts der Aussichtslosigkeit. Je innerlicher die Jünger Jesus verstehen, je näher sie sich ihm fühlen, hebt sich die Schranke des Todes auf: Er kommt wieder zu ihnen! Das ist für Johannes kein Vorgang, den man zeitlich einordnen könnte – etwa eine Aussicht für den Jüngsten Tag wie in den ersten drei Evangelien –, sondern es gibt existentiell eine innere Entwicklung wieder, und man kann im Grunde gar nicht sagen, daß man von sich her etwas dazu beitragen, durch einige Anstrengung daran etwas machen könnte, – es kommt buchstäblich auf uns zu, es gestaltet sich ganz aus innen. Wohin ich gehe, sagt der johanneische Jesus, ihr wißt ja den Weg. Thomas aber versteht nicht, er kann oder er will nicht verstehen, daß Jesus sich in jene andere Welt begibt. Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst – wie könnten wir den Weg wissen? fragt er fast vorwurfsvoll. Die Antwort des johanneischen Jesus lautet: Ich bin der Weg, die Unverstelltheit Gottes (die Wahrheit), das Leben. «Hat Jesus das wirklich gesagt?» fragte nach einem Vortrag ein junger Mann einmal. Er wollte zum Ausdruck bringen: «Wenn Jesus diesen Satz wirklich so gesagt haben sollte, dann müßte er doch sehr intolerant gegenüber allen anderen Religionen und menschlichen Erfahrungen gedacht haben. Wenn er tatsächlich so unbedingt und exklusiv von sich geredet haben sollte, gäbe es dann überhaupt noch eine Vermittlung zwischen den Religionen und den Menschen? Alles würde doch erdrückt unter einem absoluten dogmatischen Anspruch.» Nun denn: Jesus hat diesen Satz historisch nie gesagt; dieses Schibboleth aller Evangelikalen oder Neokatechumenatsanhänger ist durchaus kein Wort des historischen Mannes aus Nazaret. Doch auch das, was der johanneische Jesus hier vorbringt, ist in Wahrheit das genaue Widerspiel dogmatischer Selbstgewißheit und Selbstzufriedenheit. Ich bin der Weg, verkündet Jesus, und er meint damit sicher nicht: «Ich bin die Burg, das Bollwerk, die Bastion, die Festung oder die 126

Kathedrale.» Derselbe johanneische Jesus, der eben noch versicherte: Ich gehe hin, euch einen Platz zu bereiten, erklärt jetzt, daß unser Leben eine einzige Dynamik sei, ein einziges Fließen, ein Strom, der seine Ruhe erst finde im Meer. Ich bin der Weg. Wie weit ist das entfernt von all den Glaubensformulierungen, die inhaltlich an einer bestimmten Stelle sich festmachen möchten. Jesus ist der Sohn Gottes, das sagt Johannes hier, aber was er «Glauben» nennt, läßt sich durchaus noch übersetzen mit dem hebräischen Vertrauen. Ich bin der Weg, das heißt demnach: «Alles, was ich bin, läßt sich nur erfahren, wenn ihr meine Art zu leben – ganz wörtlich im Griechischen: meine Methode – selber erprobt, Schritt um Schritt.» Es geht demnach nicht an, die Sache Jesu intellektuell zu lernen und dann als fertiges «Glaubenswissen» herzusagen; es gilt vielmehr, etwas abzuschreiten, etwas unter die Füße zu nehmen, etwas als richtunggebend in die eigene Lebensgestaltung einzufügen. Machen wir nur die Probe: Alle Wahrheiten, die religiös und menschlich relevant sind, stehen in der größten Gefahr, aus einem Weg in ein Ziel, in ein planbares Vorhaben, verwandelt und damit verfälscht zu werden. Der Jesus des Johannes-Evangeliums wird wenig später sagen: Frieden hinterlasse ich euch, Frieden, meinen, gebe ich euch (Joh 14,27). Es ist eines der kostbarsten Worte der Religiosität und der Menschlichkeit. Aber schauen wir uns um, so erscheint der Friede zumeist als die Absicht, als das Ziel, als die Finalursache unseres Handelns, als ein Ergebnis, das wir erhalten, wenn wir nur richtig durchhalten. Immerzu verspricht man uns, der Friede werde sich einstellen, wenn wir nur richtig kriegsfähig und kampfentschlossen blieben, wenn wir eine «Friedensstreitmacht» unterhielten, wenn wir «Friedenseinsätze» unterstützten, wenn wir die militärische Logistik aufbesserten für viele Milliarden Euro, angeblich, um den Frieden sicherer zu machen, de facto um das Töten von vielen hunderttausend Menschen als zynische Routine zu trainieren und zu exekutieren; danach, verheißt man uns immer wieder, werde Frieden sein. Doch die Wahrheit sieht anders aus: Jeder Krieg im 20. Jh. ist nur immer scheußlicher geworden als der vorangegangene. Inzwischen haben wir es so weit gebracht, daß wir uns die eigenen Taten gar nicht mehr mitansehen müssen, wir vollbringen sie aus so großer Höhe, aus so großer Distanz, wir sind militärisch so haushoch überlegen, wir killen und morden so perfekt, daß es uns selber nicht mehr erreicht, und wir schauen es uns dann auf Video an, ganz wie die Propagandaindustrie in den Medien es uns als Unterhaltungskost verabreicht; am Ende sind wir noch stolz auf unsere Tapferkeit. So sind wir groß darin geworden, Frieden zu machen! 127

«Ich gebe euch einen Frieden, wie die Welt ihn nicht geben kann», wird der Jesus des Johannes-Evangeliums verheißen (Joh 14,27), und er wird mit seiner leisen Stimme den lautesten Protest gegen das Triumphgeheul der Sieger aller Zeiten anstimmen. Es war Mahatma Gandhi, der sagte: «Der Friede ist nicht das Ziel, der Friede ist der Weg; wer nicht damit beginnt, kommt auch niemals dort an.» Es gibt kaum eine bessere Erläuterung zu diesem Wort Jesu: Ich bin der Weg. «Verwandele», heißt das, «alles, was man dir als Ideal vorgelegt hat, nicht in ein Produkt, das sich aus bestimmten Einzelergebnissen zusammenmultipliziert, sondern betrachte alles, was gelten soll, als die Methode selbst.» Es ist der klarste Einspruch gegen die Dialektik der Geschichte, wie Friedrich Engels sie lehrte: «Der eine tut etwas, und dagegen tut ein anderer etwas, und heraus kommt etwas, das beide nicht gewollt haben.» So sei, meinte G. W. F. Hegel, die List der Vernunft, so präge die Vernunft die Geschichte. Da muß man stets anders, ja, geradewegs gegenteilig zu dem handeln, wie man es wirklich meint und beabsichtigt. Ganz im Kontrast dazu meint der johanneische Jesus: «Schiebe das, woran du glaubst, nicht auf, sondern beginne damit sofort. Dann stellt sich dir nicht mehr die Frage, was es einbringt; einfach indem du es tust, indem du mich als Methode wählst, indem du mein Vorbild als Lebensform begreifst, wirst du merken, daß es stimmt. Für dich selber wirst du es feststellen. Denn mehr und mehr beginnst du, dich selbst zu finden, beginnst du, der Mensch zu sein, der du eigentlich immer hast sein mögen. Du wirst in dir wahr, und du wirst entdecken, daß es so geht, weil du so gehst. Es wird dir erstmals gelingen, wirklich zu leben. Alles, was sie dir bisher beigebracht haben, war wie ein langsamer Erstickungstod, wie ein systematisierter Wahnsinn, wie ein Leben in schalldichten Folterkammern; sie haben dich nie gehört, wenn du riefst; doch jetzt fängt es an, in dir zu leben.» Auch das ist ein kostbares Wort im Johannes-Evangelium: Ewiges Leben gebe ich euch, – eines, mit anderen Worten, das sich selber auf Dauer stellt, von dem wir nur wünschen können: so sollte es bleiben. «Lebe also und bleibe und dazwischen wähle den Weg!» Wieder fragen da die Jünger, Philippus jetzt: «Aber wie ist es denn mit dir und mit dem Vater, von dem du sprichst?» – Es ist das Wichtigste im ganzen Hintergrund dieser Abschiedsreden, daß Jesus sagt: «Wer mich gesehen, hat den Vater gesehen. Ihr vertraut auf Gott, so vertraut auch auf mich; vertraut darauf, daß ich im Vater bin und daß der Vater in mir ist.» Wenn wir Worte wie diese hören und sie zudem auf griechisch lesen, macht sich wie von selbst ein Verständnis geltend, wie es die kirchliche 128

Lehre dogmatisch im Verlauf von 1500 Jahren immer verfeinerter und immer ausgeklügelter zum Glaubensinhalt aufgeworfen hat: Jesus ist in Gott, und Gott als der Vater ist in ihm als dem Sohn, – das bedeutet metaphysische Gottessohnschaft, das ist Teilhabe Jesu an der göttlichen Natur, das ist eine der Beweisstellen für die Dreifaltigkeit der Personen in der Einheit des Göttlichen. Von all dem kann im Sinne des Johannes indessen so nicht die Rede sein. Ich bin im Vater, und wer mich gesehen, hat den Vater gesehen, – das heißt soviel wie, daß sich ein bestimmtes Vertrauen überträgt, so wie Jesus es lebte, und sich vertrauenswürdig macht auch für die Suchenden. Wer ist denn Gott, und was heißt: ich glaube Gott? Man kann darauf antworten wie Goethes Faust zu Gretchen redet: Mein Liebchen, wer darf sagen: Ich glaub’ an Gott? Magst Priester oder Weise fragen, und ihre Antwort scheint nur Spott Über den Frager zu sein.2 Was Jesus uns bringen wollte, war, abseits jeder philosophisch-metaphysischen Beweissuche, die Erfahrung, daß dieses unbegreifbare Geheimnis in der Tiefe unserer Existenz väterliche Züge trägt. Religion sollte aufhören, die Verehrung von etwas zu sein, das wir mehr fürchten als lieben, und das, selbst wenn wir sagen, wir könnten es erkennen, mehr verkannt als gelebt wird. Der Unterschied ist überdeutlich. Was denn ist «Gott» in der Geschichte der Religionen anderes als ein Gegenstand von verfeierlichten Priesterritualen, von schriftgelehrten Rechthabereien, von Nationalegoismen, die immer die stärkeren Bataillone absegnen und jedes Volk dazu bestimmen, die spitzesten Bajonette zu schmieden? Was ist der Gott der Religionen anderes als ein Popanz der Angst, als das Gegenüber endloser Selbstbezichtigungen und Selbstdemütigungen? Zwiespältig stets ist dieser Gott, ein Würgeengel, der den Menschen vergibt allenfalls für die Opfer, die sie ihm darbringen, blutige Opfer, psychische Opfer, ständige Unterdrückungen und Abspaltungen im Leben. Jesus hat historisch, im Erbe der Propheten seines Volkes, diesem ganzen Gottesspuk ein Ende bereiten wollen: keine autoritäre, keine immer kompliziertere Thora-Auslegung, keine feierlich-klerikalen Zeremonien im Tempel wollte der Mann aus Nazaret uns bringen, sondern einen Gott, der sich zeigt den Schwachen, den Ohnmächtigen, den Unmündigen. Das ist eine Gesinnung, die Johannes hier 129

aus dem Echo der Synoptiker aufgreift, näherhin aus dem 11. Kapitel des Matthäus-Evangeliums: «Ich preise dich», sagt Jesus dort, «Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vor Gebildeten und Vernünftigen verhüllt hast, und hast es enthüllt den Kindlichen.» (Mt 11,25) Jesus wollte, daß Menschen sich Gott zumuten können wie Kinder ihrem Vater; jenseits der patriarchalischen Sprachwelt des Neuen Testaments sollte man sogar sagen: nicht wie einem Vater, sondern eigentlich eher wie einer Mutter. Tatsächlich gibt es diese Differenz zwischen Männern und Frauen, wie auch immer wir soziologisch oder psychologisch darüber debattieren mögen: Eine Frau, die ein Kind auf die Welt bringt, wird sich ihm, soviel unter Menschen davon überhaupt die Rede sein kann, absolut zuwenden. Sie liebt ihr Kind, weil es ihr Kind ist, weil es lebt, weil es da ist. Alle anderen Gründe der Liebe wird sie in dieses neue Wesen hineinsehen: daß es Haare trägt wie der eigene Vater oder daß es Augen hat ganz wie der eigene Mann und daß es schon so lieb lächelt wie der eigene Bruder, – das alles sind, genau betrachtet, Nebensachen. Eine Frau wird lernen, aus dem Gestammel ihres Kindes, in Antwort auf sein Lallen und Lächeln, eine eigene Sprache zu erfinden, die wiederum dem Kind zur Muttersprache wird, und sie wird wissen, daß jedes ihrer Kinder eine ganz individuelle Person ist, der man sich in ihrer Eigenart zuwenden muß. Wir Männer lernen das in unserer Gesellschaft ganz gewiß nicht so, und anscheinend haben wir es uns bisher in gar keiner Gesellschaft angeeignet. Wir treten in aller Regel erst auf, wenn die Kinder anfangen zu laufen und zu sprechen, und dann stehen wir da, um es gut zu finden oder schlecht zu finden und um es zu trainieren, auf daß es auf die richtige Bahn komme. Da allererst beginnt für gewöhnlich unser Interesse an unseren Kindern. Mit uns verknüpft sich von daher geschlechtsspezifisch ein System von Prämien, von Lohn und Strafe, von Leistungserwartung und Angst. Ob wir von Mutter oder Vater sprechen, erzeugt deshalb einen unterschiedlichen emotionalen Kontext. Wenn wir sagen: Jesus wollte, daß, wer ihn sah, den Vater sah, so sollte man religionspsychologisch unbedingt ergänzen, gemeint sei die Mütterlichkeit Gottes selbst, ein Erbarmen ohne Grenzen jenseits aller Zwiespältigkeiten, ein nicht-ambivalentes Verhältnis zu Gott, das ganz und gar gründet in Vertrauen. Das heißt es: «Ich bin im Vater.» Man müßte ergänzen: «Ich bin in ihm ganz und gar geborgen und aufgehoben; er umhüllt mich, er umgibt mich, er leitet mich; es gibt keinen Moment, da ich aus seiner Gegenwart fallen könnte. Schon deshalb gibt es für mich keine Angst, nicht einmal angesichts der Schrecken des Todes und all der Schrecklichkeiten, die Menschen in der Instrumentalisierung des Todes 130

über Menschen bringen können.» Wer auf Jesus sieht, umgekehrt, der erfährt, daß Gott wirklich so ist, – so väterlich, so mütterlich. Demjenigen, der einen solchen Weg geht, jemand, der die Wahrheit Jesu in sich erlebt, dem wird Gott zu diesem väterlichen, mütterlichen Hintergrund: einem Mann wie Jesus, einzig ihm, glaubt er, traut er Gott als Vater. Nicht also, wer Jesus «sieht», sondern wer ihn einsieht, wer ihn ersieht für sein Leben, wer ihn sich ausersieht, erfährt in der Botschaft Jesu Gott. Doch fragt man nun: «Aber wieso glaubt man das? Vielleicht war ja Jesus ein Träumer? Und ist nicht alles, was er hier sagt, religionspsychologisch ein reines Wunschdenken, eine Stabilisierung im Dasein auf Grund von Projektionen, die aus dem Jenseits zurückgeholt werden ins Diesseits?», so gibt es auch für den Jesus des Johannes-Evangeliums kein anderes Zeugnis als das, was daraus erwächst: «Wenn ihr all das nicht glauben könnt, dann habt das Vertrauen doch wenigstens der Werke selbst wegen.» Es zeigt sich einfach, daß, wer so lebt, Macht bekommt über die Angst. Sein Vertrauen wirkt, wie wenn ein Stein, der ins Wasser geworfen wurde, Wellen schlägt, und diese Wellen überziehen die ganze Fläche eines ruhigen, spiegelgleich daliegenden Sees bis hin zu den Uferrändern. Wer aus dieser Haltung des Vertrauens lebt, verspricht Jesus hier, wird Werke tun, ja größere noch als all die, welche von ihm selbst berichtet werden: Menschen zu heilen von den Abgründen ihrer Not, sie aufzurichten in ihrer Niedergebeugtheit, ihnen Licht zu schenken, wo sich ihre Seele umdüstert, ihre Haut reinzustreicheln, wo sie verwundet ist von den Härten des Lebens, – das alles wird schon bei den Synoptikern erzählt von dem historischen Jesus aus Nazaret. Doch all das geht weiter, es ist nur der Anfang, es beginnt alles erst. Wer eigentlich hat uns eingeredet, die Evangelien seien «die letzte Offenbarung Gottes», der Abschluß von allem, «das Ende der apostolischen Zeit», – mehr werde Gott uns nicht zu sagen haben? Ganz im Gegenteil! Je mehr wir begreifen, wer Jesus ist, desto fruchtbarer wird es in uns selber weiterwachsen, wenn wir nur nicht aus dieser größten Revolution in der Geschichte der Menschheit ein barockes Bürgertheater machen, eine reine Posse zur Verfeierlichung, eine rituelle Clowneske, gegen die sich das Johannes-Evangelium gerade in aller Entschiedenheit bis hinein in seine Schlußworte richtet (Joh 20,31!). Bei dem folgenden Wort denkt gewiß jeder, wenn er je «christlich» erzogen wurde, an die eigene Kindheit zurück. Und was ihr erbittet in meiner Wesensart, das werde ich tun. Hat man nicht die Kinder schon gelehrt: «Wenn du nur betest, wenn du nur artig bist und ganz lieb bittest, dann wird Gott dir alles geben»? Es hat erfahrungsgemäß manchmal gestimmt, 131

aber die Zufallsstatistik erklärt diese Zusammenhänge weitaus besser als die Religionsphilosophie oder die Metaphysik. Wieviel Enttäuschung entsteht daraus, das bettelnde Bitten von Kindern aufzuladen mit falschen Gewißheiten! Hat Gott unser Gebet schließlich nicht erhört, so soll es daran gelegen haben, daß wir halt zu unvollkommen waren, – wir waren halt Sünder! Wären wir heiliger gewesen, noch fügsamer, noch frömmer, so hätte Gott uns doch gewiß erhört. Die Erwachsenen in aller Regel sind insgesamt nicht «unverdorben», nicht «unschuldig» genug, darum, daß Kindergebet bevorzugt durch die Wolken dringt; denn die Kinder vermögen vermeintlich noch mit reiner Seele den Himmel zu bestürmen, wo die schuldbefleckten Erwachsenen zu Gott eigentlich gar nicht den Mut fassen dürfen, zu sprechen. – Was Jesus im Sinne des Johannes-Evangeliums hier meint, ist indessen ein ganz anderes: eine «Gebetsschule» im Vertrauen. Natürlich, solange wir Kinder sind, beten und bitten wir um alles mögliche, um lauter Greifbares, Sichtbares: beim nächsten Schulausflug soll es nicht regnen, oder es soll gerade regnen, um den Ausflug ausfallen zu lassen; die nächste Schularbeit soll ganz gut werden; daneben stehen nicht selten weit dringlichere Wünsche: es soll die Mutti gesund werden, es soll die jüngere Schwester nicht so schwer krank sein, es soll der Vati wieder eine Arbeitsstelle finden. So lernen Kinder zu beten; aber in diesem Sinne Kinder zu bleiben wäre unser nicht würdig. Je länger wir es tun, gerade im Namen Jesu, werden wir merken, daß es nicht darum gehen kann, dies und das von Gott zu erlangen oder zu verlangen beziehungsweise uns würdig zu schleifen für die Paßformen möglicher Erfüllung, sondern daß es einfach gilt, sich mehr und mehr in die Hände Gottes zu schmiegen: – wie ein Kind in den Weihnachtstagen, dem die Mutter gesagt hat, es möge einen Wunschzettel schreiben; der Wunschzettel war vielleicht so lang, daß er unbezahlbar wurde; es blieb der Mutter gar nichts anderes übrig, als dem Kind zu erklären, daß all das so nicht sein wird wie gewünscht, auch nicht, wenn «das Christkind» kommt. Das Christkind, wird das Kind nach und nach lernen, wird überhaupt nur kommen durch die Liebe von Menschen und in der Gestalt liebender Menschen. Fühlbare Liebe aber ist mehr als jedes materielle Geschenk. Kein Ding auf Erden kann sie ersetzen. Selbst das Kostbarste, ein Diamant, den ein Mann seiner Frau verehrt, besagt gar nichts, solange seine Liebe zweifelhaft bleibt oder solange die Frau annehmen muß, er habe sich nur ausnahmsweise mal angestrengt, um irgendeinen Fehltritt zu verschleiern oder wiedergutzumachen. Alle Dinge bedeuten nur das, was sie im Feld der Liebe auszusprechen vermögen, sie sind lediglich Symbole, sie sind bloß Zeichen; es kommt auf sie nicht wesentlich 132

an, wenn die Grundbeziehung stimmt. Das zu erfahren heißt: zu erbitten in meiner Wesensart. Die indische Mythologie überliefert eine berühmte Geschichte, die jedes Hindu-Kind kennt: Es war einmal eine schwere, große Schlacht, und sie war – was Kriege allesamt sind! – ein brudermörderischer Frevel. Zerrauft hatten sich die Kauravas und die Pandavas einer Wette wegen. Aber Männer von Ehre stehen dafür ein. Die Schlachtreihen also standen einander gegenüber, und die Generäle beider Seiten baten die Götter um Beistand. Die aber machten ihr Angebot: Die Generäle konnten von den Himmlischen erflehen, was sie zu bedürfen glaubten. Der General der Kauravas erbat sich die Streitmacht der Götter; wenn er mit ihr kämpfe, so werde es keinen Feind geben, ihn zu besiegen, dachte er. Arjuna aber, der General der Pandavas, sagte sich: «Ein Mann bin ich selbst, und mich auseinanderzusetzen im Kampf, das vermag ich; das ist es nicht, wozu die Götter mir helfen müßten. Mir genügt daher, daß sie bei mir sind.»3 – Was die indischen Kinder aus dieser Geschichte lernen, ist nicht die Heiligkeit des Krieges; was ein Junge wie Mahatma Gandhi daraus entnahm, war, daß man, wenn man betet, lernen sollte, um nichts zu beten, außer dem Göttlichen ganz nahe zu kommen. Alles, was Jesus im Johannes-Evangelium den Jüngern geben wird, wenn sie in seiner Wesensart bitten, erweist sich Zug um Zug, je länger diese Rede erklingt, als das Geschenk seines Geistes. So zu fühlen wie er, so zu hoffen wie er, derart aus dem gleichen väterlich-mütterlichen Grunde zu leben wie er, um nach derselben Wahrheit zu greifen, angetan von derselben Sehnsucht und Leidenschaft des Lebens, das ist alles, aber das ist alles wirklich, was Jesus denen gibt, die sich an Gott wenden in seinem Namen. «Den Heiligen Geist wird der Vater im Himmel denen geben, die ihn bitten», überliefert in Form eines Deuteworts zur Gebetshaltung Jesu das Lukas-Evangelium (Lk 11,13) diese Einsicht.

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Joh 14,15-31: Von Liebe und Treue oder: Vom «Trost», der Jesus bleiben wird 15Wenn

ihr mich liebt, – meine Weisungen werdet ihr wahren (15,10). 16Und ich werde fragen den Vater, und einen anderen Zusprecher wird er euch geben (15,26), um bei euch auf ewig zu sein: 17den Geist der Unverborgenheit Gottes (16,13), den die Welt nicht empfangen kann; – sie sieht ihn nicht, sie erkennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn bei euch bleibt er, in euch ist er (1 Joh 4,6). 18Ich lasse euch nicht als Waisen zurück; ich komme zu euch (20,19.26). 19Noch ein wenig, und die Welt – mich sieht sie nicht mehr; ihr aber seht mich: Ich lebe, und so werdet auch ihr leben (6,57). 20An jenem Tage werdet ihr erkennen: ich in meinem Vater (10,38), ihr in mir und ich in euch. 21Wer meine Weisungen hat und wahrt sie, der ist es, der mich liebt. Wer aber mich liebt, wird geliebt werden von meinem Vater (16,27), und auch ich werde ihn lieben und mich ihm zeigen (17,23). 22Sagt ihm Judas – nicht der Iskariot –: Herr, was ist geschehen, daß du dich uns erzeigen willst, doch nicht der Welt (7,4)? 23Geantwortet hat Jesus, er hat gesagt: Wenn jemand mich liebt, wahrt er mein Wort, und mein Vater wird ihn lieben; ja, zu ihm werden wir kommen und Bleibe bei ihm schaffen (Spr 8,17; Eph 3,17). 24Wer mich nicht liebt, wahrt nicht meine Worte. Doch das Wort, das ihr hört, ist nicht meines, sondern von dem, der mich gesandt hat, – vom Vater (3,34; 7,16.17)! 25Das habe ich zu euch gesprochen im Bei-euch-Bleiben. 26Der Zusprecher aber, der Geist, der heilige, den der Vater senden wird in meiner Wesensart, der wird euch lehren alles und euch erinnern an alles, was ich euch gesagt habe (16,13). 27Frieden hinterlasse ich euch, Frieden, meinen, gebe ich euch (16,33; 20,19.21.26; Phil 4,7). Nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch. Nicht erzittere euer Herz (14,1), nicht verzage es. 28Ihr habt gehört, daß ich euch sagte: Ich gehe hin; doch ich komme zu euch (14,3). Wenn ihr mich liebt, würdet ihr glücklich sein, daß ich zum Vater gehe (16,28), denn der Vater ist größer als ich. 29Schon jetzt habe ich zu euch gesprochen, bevor es geschehen, damit, wenn es geschieht, ihr Vertrauen bewahrt (13,19). 30Nicht mehr viel werde ich mit euch reden, denn es kommt der Herrscher der Welt (12,31; Eph 2,2). Wohl, an mir hat er nichts; 31aber erkennen soll die Welt, daß ich den Vater liebe, – wie der Vater mir angewiesen, so tue ich (10,18). Auf, gehen wir, fort von hier.

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Im 14. Kapitel des Johannes-Evangeliums beginnen die sogenannten Abschiedsreden Jesu. Was bleibt gültig von all dem, was er war, von seiner Person, von seiner Botschaft, angesichts der sicheren Tatsache seines «Abschieds», seines Weggangs, seines Hinübergangs? Jeder der Jünger Jesu weiß in diesem Augenblick, daß mit diesen leichthin zu sagenden schwebenden Worten die Härte von Tod und Hinrichtung, von Ver- und Aburteilung gemeint ist. Es geht um den schroffen Gegensatz zwischen Gott und «Welt», zwischen dem Gott der Wahrheit und dem Fürsten der Finsternis, – ein Kontrast wie zwischen Licht und Dunkelheit, wie zwischen Sonne und Schatten, wie zwischen Leben und Tod; doch dazwischen befinden wir uns, und in dieser Zerrissenheit stehen auch die Jünger mit Fragen, auf die sie kaum eine Antwort bekommen werden, und wenn, werden sie sie nicht verstehen; dabei wird von ihnen immer wieder gesagt, daß sie «sehen», daß sie «sehen werden» und daß sie für sich selbst etwas «empfangen», das weit über ihr eigenes Fassungsvermögen hinausgehen wird. Berufung, Auftrag, Chance, Lebensinhalt – all das verdichtet sich hier in ein paar Bibelversen. Manchmal mag man Menschen und ihre Werke, um sie zu charakterisieren, vergleichen mit einem Tier oder mit einer Blume. So erscheint das Johannes-Evangelium manchmal wie eine Alpenrose, wie ein Rhododendron, der schon in seiner eigentümlichen Namengebung das Fremdländische seiner Herkunft verrät, – ganz gewiß aber in der üppigen Pracht seiner Blüten. Ein Rhododendron-Strauch hat zu seinem Ausweis nichts anderes als seine Schönheit und seine völlige Ungeschütztheit. Oft noch liegt Schnee, da wagt er sich vor, wie unzeitgemäß, um etwas zu verkünden, von dem er selbst doch lebt, obwohl es in die ganze ihn umgebende Welt so kaum schon hineinpassen will: die Gewißheit des Sommers. Und wahrlich: wie leicht kann noch der Nachtfrost über ihn kommen! – Ganz ähnlich das Johannes-Evangelium: Es spricht wie kein anderes von Licht und Liebe, und doch ist es so leicht, es nicht nur mißzuverstehen, sondern auch zu mißbrauchen. Worte wie diese hier sind so lyrisch und intim-persönlich, als sie nur sein können, doch stehen sie jedem dogmatischen Zugriff schutzlos offen: Wenn ihr mich liebt, – meine Gebote werdet ihr wahren, – meine «Weisungen», wie man auch übersetzen mag. Da scheint aller Inhalt des Lebens gebunden an die Liebe selbst; doch wer so spräche, dem würde die kirchliche Lehre augenblicklich den Umkehrvers desselben Evangeliums wenige Sätze später entgegenhalten: Wer meine Weisungen hat und wahrt sie, der ist’s, der mich liebt. Beides läßt sich nach johanneischer Meinung nicht trennen; es geht um die Gebote; und sie zu befolgen 135

ist Ausdruck der Liebe. Wie aber kann Liebe ein «Gebot» sein, und wie sollen «Gebote» Liebe erzeugen? Natürlich lesen sich solche Worte vollkommen anders, wenn man sich in die Sprache, die Stimmung, mitunter auch in die Satzmelodie des Johannes-Evangeliums hineinhört. Da nimmt jemand Abschied, so endgültig, wie nur der Tod Menschen auf Erden zu trennen imstande ist, und in dieser Situation sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums zu seinen Jüngern: Wenn ihr mich liebt, meine Weisungen werdet ihr wahren, – meine «Aufträge», ganz wörtlich übersetzt. Wer «Gebote» erteilt, hat für gewöhnlich jemanden vor sich, dem er bestimmte Verhaltensanweisungen, bestimmte praktische Regeln mitteilen will, und zwar ohne Begründung, einfach weil seine Macht sie befiehlt: der hierarchische Abstand und die Unantastbarkeit der Autorität selber sind für den anderen Grund genug, sie zu befolgen. Gerade das aber meint der Jesus des Johannes-Evangeliums durchaus nicht. «Alles», müßte man frei wiedergeben, «was hier gesagt ist, tut ihr ganz aus innen, wenn ihr mich liebt, weil ihr mich liebt, und es gibt gerade in der Dichte der Beziehung keinen Unterschied mehr zwischen dem, was ihr wollt, und dem, was ich will.» Liebe ist die Aufhebung dieses Gegensatzes, sie ist das Dahinschmelzen jeglicher Distanz. «Du bist nun nicht mehr Knecht, sondern Kind», wird Paulus den Galatern (Gal 4,7) schreiben, um den «Fluch des Gesetzes», das Denken überhaupt in den Kategorien von Gebot und Gesetz, für beendet zu erklären. Wie überhaupt erlernen Menschen Gebote und Regeln für ihr praktisches Tun? Eine bestimmte Art von Pädagogik betont sehr stark, man müsse schon den Kindern sagen, wie sie sich zu verhalten hätten. Man argumentiert, Kinder fühlten sich alleingelassen, wenn man ihnen nicht durch klare Führung, durch eindeutige Weisung und durch das strikte und strenge Richtmaß entsprechender Befehle den Weg zeige, auf dem sie ins Leben gelangen könnten. Stünde es wirklich so, sollten wir an dieser Stelle des Johannes-Evangeliums eine Fülle konkreter Bestimmungen erwarten. Unbedingt müßte uns da mitgeteilt werden, was der Inhalt dieser «Gebote» denn nun eigentlich sei und woran genau und im einzelnen man erkennen könne, daß man Jesus liebe. So wie man die Fähigkeit zu richtigem Rechnen daran feststellen kann, daß man die mathematischen Verfahren aufzählt, die jemand beherrscht, so müßte hier gezeigt werden, wie weit jemand im «Diskurs» der Liebe gekommen ist, bis zu welchen «Gebotserfüllungen» er sich durch- und emporgearbeitet hat. Aber tatsächlich wird hier kein einziges Gebot erwähnt, auch nicht eines, und das kann doch nur heißen, daß es im Sinne Jesu kein inhaltlich fixierbares Gebot gibt, sondern 136

daß, wer liebt, den Inhalt aller möglichen Gebote bereits in sich trägt; und umgekehrt: daß ein bestimmtes Wissen um das, was der andere braucht oder möchte, für den, der ein Liebender ist, immer schon besteht. Um auf jene pädagogische Auffassung einer rigorosen Geboteerziehung zu antworten, müßte man vielleicht nur darauf hinweisen, daß ein Kind manchmal gewiß zu Recht zu hören bekommt: «Dies tu jetzt!», und: «Das solltest du nicht tun!» Aber ein Kind zu erziehen mit dem erhobenen Zeigefinger, mit dem ständigen: «So ist es das Gebot, so befehle ich dir, so mußt du tun!» zerstört geradewegs das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter, seinem Vater. Ein Kind lernt aber nur in der Einheit mit seiner Mutter, mit seinem Vater, wie es selber leben kann, wie es selber leben möchte, und in begrenztem Umfang auch, wie es leben soll. Es lernt die «Gebote» weniger aus bestimmten Vorschriften, sie erwachsen vielmehr aus der Gemeinsamkeit selbst. Die zu erhalten ist natürlicherweise sein ureigenstes Interesse. Keine «Strafe» ist für ein Kind schlimmer, als zu spüren, daß die Übereinstimmung zwischen ihm selbst und seiner Mutter oder seinem Vater brüchig werden könnte, falls es dies und das tut oder nicht tut. Sigmund Freud hat in der Psychoanalyse immer wieder betont, daß der eigentliche Kern einer Bestrafung nicht darin besteht, einem Kind Schläge zuzufügen, sondern daß der Inhalt aller Strafen die Angst vor dem Kontaktverlust, vor dem drohenden Abbruch der Beziehung ist. Alles, was ein Kind in der Verbundenheit mit seiner Mutter und mit seinem Vater aufnimmt, besteht darin, daß die Beziehung selbst erhaltenswert ist und bleiben soll, und die Bedingungen, die dazu gehören, realisiert es wie von selbst, so wie es sich die Sprache seiner Mutter aneignet, so wie es ihre Ausdrucksgebärden übernimmt, so wie es das Bild von sich selbst im Gegenüber ihrer Person formt. Würde man einem Kind ständig sagen müssen: «Dies darfst du und das darfst du nicht tun», hätte man am Ende mit Sicherheit einen sehr kontaktgestörten, einen innerlich zutiefst verunsicherten Menschen vor sich. Nehmen wir zwei, drei Beispiele. Wenn etwa eine Mutter ihrem Kind das siebente Gebot einschärfen wollte, indem sie es ständig ermahnt: «Du sollst aber nicht naschen», so schaffte sie sich nur allzu leicht die Voraussetzung dafür, daß ihr Kind, kaum daß sie sich eine Weile entfernt, genau das, was sie ihm verboten hat, täte. Mit dem bloßen Befehl der Mutter würde vor allem weggedrängt, daß das Naschen auf der Seite des Kindes womöglich den Wert eines Symptoms besitzt: Dem Kind geht es nicht um das Sauerkraut, dem Kind geht es nicht um das Rübenkraut; was es wirklich möchte, ist, daß die Mutter es liebt, 137

und alle Nahrungsmittel, die es naschen könnte, sind nichts weiter als ein ersatzweiser Fetisch für den Mangel an Liebe, den es spürt. Ihn auszugleichen, ihn gewissermaßen wegzuzaubern und wieder die liebe Mutter auf den Plan zu rufen ist der Sinn seines «Diebstahls». Je schärfer indessen das Gebot sich gegen eine bestimmte Symptomatik, in diesem Falle gegen die Neigung zum Naschen, richtet, desto fester werden die Gedanken des Kindes an dem Verbotenen haften, desto größer wird seine Angst und desto unwiderstehlicher die Verführbarkeit, sich an einen Gegenstand zu klammern, der die Mutter ersetzen könnte. Anhand eines solch simplen Beispiels begreifen wir plötzlich: Gebote werden um so nötiger, als die Beziehung der Liebe und des Vertrauens in irgendeiner Weise empfindlich gestört ist. Dabei gilt das, was wir beim siebenten Gebot gesehen haben, generell, etwa auch beim achten Gebot: Du sollst nicht lügen! Das kann eine Mutter so oft sagen, wie sie will; ein Kind, das immer wieder lügt, weist eigentlich auf ein Problem hin. Es sagt vielleicht, fast unschuldig, die Unwahrheit, weil es sich in Träume wegstehlen muß, um die Härte der Wirklichkeit zu umgehen; da, wo ein anderes Kind längst zwischen Realität und Phantasie unterscheiden kann, geht ihm womöglich beides durcheinander; es weiß nicht, was Wunsch ist, was Wirklichkeit, was berechtigte Angst oder was nur subjektiver Alptraum. Es sind die Erwachsenen, die beides klar voneinander zu unterscheiden vermögen; die aber müßten dann auch sehen, daß ein Kind manchmal etwas sagt, nur um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Gewiß, ein solches Verhalten sollte nicht sein. Aber merkt man nicht, daß ein Kind, wenn es lügt, gerade diese Fürsorge nicht nur herbeiwünscht, sondern dringend braucht und daß es das, was wir Lüge nennen, nur einsetzt, weil es einen anderen Weg, um Wertschätzung zu erringen, noch nicht kennt? Was aber ist es erst mit einem Kind, das lügt, um die Mutter, um den Vater irrezuführen? Es hat etwas angestellt, das in den Augen der Erwachsenen nicht richtig ist; aber immer wieder, selbst wenn man ihm mit Strafen droht, selbst wenn man es hart maßregelt, wird es darauf bestehen, daß es dies und das gar nicht begangen hat. Ist dann nicht deutlich, daß es viel mehr als alle Strafen sich davor fürchtet, die Liebe der Eltern zu verlieren, falls offensichtlich würde, was es an Strafenswertem wirklich verbrochen hat? Läßt sich sein Lügen dann nicht ganz einfach übersetzen mit: «Ich möchte nicht das gemacht haben, wofür ihr mich schuldig sprecht; ich möchte überhaupt nie etwas tun, das mich in euren Augen schuldig spräche»? Aber aus lauter Angst ist das Kind so verstrickt in seinen Lügen, daß es objektiv immer schuldiger wird. 138

Oder im sechsten Gebot: Bis vor Jahren noch gab es eine Erziehung, die streng und ängstigend die «Reinheit» verlangte. Alles im Bereich des sechsten Gebotes war Sünde, – was ein Kind «freiwillig» tat, war sogar schwere Sünde. Sollte also ein Sechsjähriges noch vor dem Erstbeichtunterricht irgend etwas in sexueller Hinsicht getan haben, was nach strengem Maßstab Todsünde war – worauf die ewige Höllenstrafe stand –, so hatte es diese Sünde zu beichten. Was aber, wenn ein Kind von seinen sexuellen «Unarten» und «Schamlosigkeiten» partout nicht lassen mochte? Möglicherweise ist ein solches Kind nur neugierig: – es möchte forschen, es möchte wissen, wie es selbst und wie sein Geschwisterchen entstanden ist. Es könnte aber auch sein, daß es sich einsam fühlt und ersatzweise bei sich selber nach der fehlenden Liebe sucht, früher und intensiver womöglich, als es altersgemäß für «normal» gilt. Gibt man ihm in letzterem Falle die Geborgenheit nicht, die es braucht, wird es sich unter Umständen auf ein bestimmtes Symptom fixieren, und ein verhängtes Verbot erzeugt dann zusätzlich Angst, es verschlimmert das Fehlverhalten, statt es zu heilen. In summa: Kein einziges der Gebote wird auch nur ein fünfjähriges, ein achtjähriges Kind zu halten vermögen, einfach weil es ihm anbefohlen wird. Es wird feststellen, daß es nicht geht. Und es wird mit dieser Erfahrung völlig recht haben: Ermöglichungsgrund und Inhalt, Motivation und Verwirklichung aller Gebote liegen einzig in der Liebe. So ist es schon bei Kindern, so ist es auch bei uns Erwachsenen. Gewiß wird es Situationen geben, in denen der Zusammenhang gilt: «Wenn du mich liebst, dann tust du, was ich dir sage.» Im Deutschen muß man manche biblische Worte immer wieder durch Beifügungen ergänzen, die es im Hebräischen nicht gibt. Hebräisch bedeutet das Wort Thora die Weisung, die Lehre schlechthin; sie ist schon etymologisch das, was man lehren und lernen kann. Im Deutschen aber, wenn wir von «weisen» sprechen, kennen wir eine Vielfalt von Zusammenfügungen zum Teil recht gegensätzlicher Art. Man kann im Deutschen auf etwas hinweisen, dann braucht man es eigentlich dem anderen nicht zu sagen, es genügt ein Anlaß, die Aufmerksamkeit in die richtige Richtung zu lenken. Man kann einem Kind aber auch eine Anweisung geben; dann wird es diese Anweisung vermutlich einhalten aus Angst vor Abweisung. Man kann jemanden auch verweisen auf etwas; im Passiv aber: verwiesen werden, heißt soviel wie zurechtgewiesen werden, entweder im positiven oder auch im negativen, im strafenden Sinne. In all diesen Bedeutungen spielt ein und dasselbe Wort, und man müßte hinzufügen, was das Johannes-Evangelium selber hier ausdrücken möchte: All die Angst vor Verweis und Zurechtweisung 139

muß gar nicht bestehen, sie hebt sich auf in der Liebe; sie ist das, was Jesus möchte, sie ist das, woraus er lebt und wovon er will, daß die Jünger es erleben. Deswegen braucht das Johannes-Evangelium an dieser Stelle keinen einzigen Inhalt der «Gebote» einzufügen. Die Liebe selber ist der einzige Hinweis, Anweis, Verweis und Ausweis; nur Ausweisung und Abweisung vereinbaren sich mit ihr niemals; aus ihr ergibt sich vielmehr der Inbegriff aller «Weisungen»: Weisheit. Dann ist klar, daß das meiste von dem, was in unserem Leben wichtig ist, gar nicht ausgesprochen zu werden braucht. Pädagogen der Gebotemoral kann man nur darauf aufmerksam machen, daß es in jeder Gemeinschaft eine Fülle von moralischen Inhalten gibt, die gerade darin verbindlich sind, daß sie gar nicht erst ge- oder verboten werden müssen. In unserer Gesellschaft beispielsweise käme niemand darauf anzuordnen, daß man nicht als Kannibale leben dürfe. Würde etwa in einer Zeitung stehen, daß jemand sich mit Menschenfleisch ernährt habe, so wüßte vermutlich sogar der zuständige Staatsanwalt, daß ein solcher Mann kein krimineller, sondern ein seelisch kranker Mensch wäre.1 Es gibt Taten, die so unfaßbar sind, daß sie aufhören, noch ein Verbrechen zu sein. Und dieser Gedanke läßt sich verallgemeinern: Immer dann, wenn Menschen etwas tun, das sich in schwerer Weise gegen bestimmte Gebote richtet, so müssen sie seelisch schwer verletzt sein, so müssen sie innerlich zutiefst selber Leidende sein. Nicht eine noch deutlichere Klarheit von Gebot und Strafvollstreckung kann in diesem Falle einem Menschen helfen, nur eine um so innigere Intensität der Liebe. Und gerade mit diesem Gedanken beginnt der hier einsetzende Teil der «Abschiedsreden» Jesu im Johannes-Evangelium. Der johanneische Jesus antwortet mit seinen Worten auf eine Gefahr, die er bereits heraufziehen sieht. Er selbst, in dessen Gegenwart die Liebe, in dessen Nähe die Einheit der Menschen untereinander möglich scheint, droht fortgerissen zu werden durch den Spruch des Todes, durch seine eigene strafweise Hinrichtung. Was bleibt, wenn er «geht», wenn er hinweggenommen wird? Auf was läßt sich Zuversicht setzen, wenn der, welcher zum Inhalt des ganzen Lebens wurde, selbst dem Tod überantwortet wird? Für den Jesus des JohannesEvangeliums ist es überaus wichtig, den Jüngern im voraus zu sagen, was sie erleben werden, wenn es soweit ist, damit nicht Trostlosigkeit aus Trauer, damit nicht Zynismus aus Schmerz all das überwuchert, was jetzt noch so blühend lebendig steht. Die Erfahrungen, an die Johannes mit den Worten seines Jesus hier anknüpft, lassen sich von jedem von uns in gewisser Weise bestätigen. 140

Jesus «geht fort», aber all sein Bemühen liegt darin, die Jünger zu versichern, daß er wiederkommt. Darin allein bereits liegt ein unerhörter Trost. Versetzen wir uns, um das zu verstehen, einmal in jene Stunden zurück, in denen wir als Kinder des Nachts am Fenster standen und hinausschauten, wann denn unsere Eltern wiederkämen. Die Schatten an der Wand, von der Straßenlaterne durch die schwankenden Zweige der Bäume gespenstisch an die Wände des Zimmers geworfen, konnten unsere Phantasie zu Vorstellungen bedrohlicher Art aufstacheln; – es blieb aber dieses eine Wort, an das wir uns klammern konnten: die Eltern würden wiederkommen, und zwar bald schon, hatten sie gesagt. Da mochte die Zeit sich dehnen, wie sie wollte, – die Eltern hatten versprochen, sie würden wiederkommen! Ein Kind wird niemals denken, daß seine Eltern nicht stark genug wären, allen Wechselfällen standzuhalten. Daß sie verunglückt sein könnten, daß der Blitz sie erschlagen hätte, wird einem Kind niemals einfallen. Die Eltern haben zugesichert, sie werden wiederkommen, und also werden sie wiederkommen. Wenn irgend etwas in der Seele eines Kindes Macht hat, so sind es die Worte seiner Eltern. Es wird ihnen glauben, unbedingt, so sehr, daß alle Dinge sich danach zu richten haben, also auch die Angst des eigenen Herzens. – So ähnlich fühlen wohl die Jünger hier. Und noch ein anderes: Es wird Jesus wiederkommen, verheißt er, allerdings nicht so, wie sie ihn kannten: äußerlich fühlbar, sinnlich wahrnehmbar, als Erfahrung in Raum und Zeit; der Tod verändert alles, und es wäre ein falsches Versprechen, diese Art der «Wiederkehr» sich als eine Rückkehr ins Alte, ins Gewesene vorzustellen. Mitunter kann es sein, daß sich ein Mann von seiner Frau, eine Frau von ihrem Mann verabschiedet; er tritt eine Dienstreise an, er fährt in Urlaub, – was auch immer; seine Abwesenheit kann ein oder zwei Wochen dauern; manchmal erzählen in einer solchen Situation selbst erwachsene Menschen, daß sie in dieser Zeit versucht haben, das Leben ihres Partners nachzubilden, schon rein im Äußeren. Sie sprechen sich die Worte vor, die er an dieser Stelle gesagt hätte; sie halten sich in demselben Raum auf, in dem er immer am liebsten saß; ja, grotesk genug: sie wählen sogar das Fernsehprogramm, gegen das sie oft genug protestiert haben, nunmehr nach seinem Geschmack aus; sie gehen in sein Bett statt in ihr eigenes, sie schlüpfen gewissermaßen in die Rolle des so ersehnten anderen, um doch eine Art von Verbindung mit ihm herzustellen, die räumlich zwar nicht besteht, geistig aber unbedingt gesucht wird. Inhaltlich entspricht ein solches Verhalten wohl genau dem, was Jesus an dieser Stelle meint. All der Schmerz, all das Vermissen des anderen wird 141

dazu führen, innerlich noch weit aufmerksamer auf ihn zu werden. Da wird ein «Geist» geschenkt werden, der an alles erinnert, was war, und zwar ganz sorgfältig, ganz treu. Winzige Kleinigkeiten, die damals übersehen wurden als Nebensachen, verwandeln sich plötzlich in einen sprechenden Kommentar; Dinge, die seinerzeit nur angedeutet wurden, können jetzt plötzlich einen starken Halt bieten; etwas, das früher womöglich als nichts weiter erschien denn als eine bloße Gewohnheit oder als eine Laune, ahmt man jetzt als vorbildlich nach; es tritt aus der Vergangenheit in eine lebendige Gegenwart. Alles, was der andere einmal gesagt hat, gewinnt eine geistige Bedeutung, die sich mehr und mehr verdichtet und immer stärker wird. Auf ähnliche Weise wird Jesus «zurückkommen» wie ein geistiges Geschenk, nicht als ein Vermächtnis, das man von außen lernt und formelhaft nachspricht, sondern ganz im Gegenteil als etwas, das von innen her mit dem eigenen Leben verschmilzt. Ich lebe, und so werdet auch ihr leben, kündigt der Jesus des Johannes-Evangeliums an, und er bezeichnet alles, was sein «Geist» den Jüngern vermittelt, als «Zuspruch». Den «Geist» selber nennt er den Zusprecher; das übliche Wort: «der Tröster» ist ein zu schwaches Wort, um das Gemeinte wiederzugeben. Wenn ein Mensch zum Beispiel am offenen Grabe haltlos weint, dann lautet die deutsche Umschreibung dafür, daß jemand ihm «Trost» spendet: «Er hat ihm Zuspruch gegeben.» Worin auch immer die Worte im einzelnen bestehen mögen, die dem anderen zu einem solchen «Zuspruch» werden, sie helfen allemal, daß er sich in seiner Person weiter gemeint weiß, daß er auch künftig der Angeredete bleibt, daß nichts verlorengeht von all dem, was er in Richtung auf seine eigene Person vormals gehört hat. Das ist der ganze «Trost» – ein solcher Zuspruch. Da werden Worte gesagt, die der andere zunehmend zu sich selber sprechen kann; doch es ist unendlich wichtig für ihn, daß sie noch einmal wie von außen wiederholt werden, bis sie sich innerlich in ihm festigen, bis sie sich innerlich durchsetzen, bis sie all das zu ersetzen beginnen, was je äußerlich war. Das ist der «Geist des Zuspruchs» Jesu in diesen Abschiedsreden. Ich lasse, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums weiter, euch nicht als Waisen zurück. Vielleicht ist es nützlich, wenn wir als Deutsche einmal in unserer Sprache, im Vergleich zum Beispiel mit dem benachbarten Französischen, über diesen Ausdruck, eine Waise, ein Waisenkind zu sein, einen Moment lang nachdenken. Im 19. Jh. und bis weit in die Mitte des 20. Jhs. war es für Kinder in Frankreich wie in Deutschland fast eine Pflicht, das früher 142

schon einmal erwähnte Buch von Hector Malot zu lesen, das im Deutschen Heimatlos heißt, auf französisch aber Sans famille – Ohne Familie. Die Übersetzung ins Deutsche ist genial. Indem Franzosen von der Familienlosigkeit eines Kindes reden, beschreiben sie im Grunde einen sozialen Zustand. Im Deutschen ist das Wort «Familie» sehr spät überhaupt erst als ein Wertbegriff aufgetaucht, – manche Sprachhistoriker und Sozialgeschichtler denken, frühestens im 17. Jh. sei das der Fall gewesen, selbst wenn manche Anfänge schon im 16. Jh. gelegen haben mögen. Auf deutsch ist «familienlos» gar kein bildbarer Begriff. Wo im Französischen von Familie gesprochen wird, um den Inhalt zentraler menschlicher Gefühle zu beschreiben, setzt das Deutsche gewissermaßen einen Raumbezug, eine Beziehung der ortsgebundenen Umgebung der Kindheit, und redet von «heimatlos». Dieses Wort ist für deutsches Empfinden erschütternd. Ein «Heimatloser» ist von Grund auf ein Entwurzelter, ein Flüchtling, ein Exulant, und kein Mensch kann ihm wirklich helfen. Selbst wenn er in einer Familie leben würde, – auch sie wäre heimatlos! Ein «Heimatloser» ist durch das Eigengewicht der Familie mit seinen Wurzeln aus dem Grund gerissen. All diese Vorstellungen steigen in uns auf, wenn wir «heimatlos» hören. Der Roman von Hector Malot beginnt auf französisch mit den Worten: «Ich bin ein Findelkind.»2 Die deutsche Übersetzung ist an dieser Stelle genauso genial; sie sagt: «Meine Eltern kenne ich nicht.»3 Wieder markiert dieser Satz einen Unterschied nicht nur in der Sprache, sondern im Gefühl. «Ich bin ein Findelkind» beschreibt erneut einen sozialen Status, aber: «Meine Eltern kenne ich nicht» bedeutet die völlige Beziehungslosigkeit zum eigenen Ursprung. Das heißt es, ein Waisenkind zu sein. Für das Deutsche scheint es wie unwichtig, wann man gefunden wurde und von wem; für entscheidend gilt, daß die Personen, die uns in die Welt geschickt haben und die uns hätten finden müssen, unbekannt sind. Schon damit wird das Thema dieses Romans deutlich: Da wird ein Junge auf die Suche gehen, bis er seine Eltern wiederfindet. Derartige Nuancen der Sprache sind erwähnenswert, weil genau in diesem Sinne der Jesus des Johannes-Evangeliums, fast beschwörend, davon spricht, wie er eine solche Waisenkindsituation für seine Jünger aufzuheben entschlossen ist: Er wird wiederkommen zu den Wartenden; sie sind schon gefunden, gewissermaßen, noch ehe sie zurückgelassen werden; sie werden, mit einem Wort, niemals wirklich verlassen sein, – bei ihm nicht und bei Gott nicht. Sie werden sich ein Gefühl dafür erhalten, daß, wenn sie so leben, wie sie es in der Nähe Jesu gelernt haben, eben diese Lebensweise in ihrem Dasein sich bewahrt und bewährt, und dieses Empfinden 143

wird der wichtigste Trost für sie sein – ihre Heimat, ihre Geborgenheit, ihre Zuversicht. Gleich dabei wird betont, daß «die Welt» von all dem nichts sehen noch verstehen wird. Die «Welt» ist das Heimatlose, – sie ist das Grundlose und Abgründige, das Wurzellose und Entwurzelte. Verwaist in der Welt und geborgen in Gott – dieser konträre Zustand ist es, den Jesus «hinterläßt» beziehungsweise den er mit diesen Worten schafft. Es geht um eine dreifache Einsicht, die nicht mehr als ein grammatikalisch korrekter griechischer Satz formuliert wird, sondern ein reines Beziehungsgefüge darstellt, im Inhalt wie in der Syntax: An jenem Tage werdet ihr erkennen, sagt Jesus: ich in meinem Vater, ihr in mir und ich in euch. Alles, was das Johannes-Evangelium ausdrücken und vermitteln möchte, liegt in dieser Art einer «dreifaltigen» Rede. Nichts wird davon verstanden, wenn man sie dogmatisch auflöst und von der Einheit zwischen Vater und Sohn metaphysisch oder physisch zu dozieren beginnt. Was der johanneische Jesus meint, ist dieses: «Es gilt zu erkennen, daß ich in meinem Vater bin; das will besagen: Wann immer ihr mir vertraut habt und in Vertrauen stark geworden seid, so gründete es in einer Beziehung und in einem Zutrauen, das ich selber besaß und von dem ich selber mich tragen ließ. Der Gott, von dem man euch predigte, der euch oft so fern war und fremd, so strafend und zwiespältig, den habe ich entdeckt für euch als ganz und gar gütig, als väterlich, als mütterlich. Wann immer ich euch das Gefühl schenken konnte, Vertrauen sei möglich, gewann ich es und gewinne ich es durch diese Beziehung. Alles, was ich bin und was ihr je von mir habt lernen können, hat darin seine Wurzel. Ihr selber, wenn ihr Angst überwinden konntet durch Vertrauen, habt es gelernt, indem ihr euch festmachtet in mir; und darin wuchset ihr auf, darin fandet ihr Schutz gegen jegliche Gefahr; und je mehr euch das wurde, habt ihr gefühlt, wie ich Raum gewann in eurem Leben, da wurde und war ich in euch. Und wie sollte es uns jetzt je wieder trennen?» Es ist eine Erfahrung, die wir im Grunde alle suchen und irgendwie alle kennen: Wann immer wir Vertrauen von einem anderen Menschen und zu einem anderen Menschen lernen, werden wir finden, daß er selber nicht in sich gründet, sondern daß er sich bezieht auf etwas, das ihn umgreift und dessen Zeuge, dessen Gesandter in gewissem Sinne er ist. Er braucht davon gar nicht eigentlich zu sprechen, wir merken es einfach. Vor einer Weile fragte eine Mutter: «Aber wie soll ich denn mein Kind religiös erziehen? Wenn ich in der Kirchensprache mit ihm rede, kann ich mich ihm kaum verständlich machen. Soll ich es zu den Sakramenten 144

führen? Mir erscheint das alles zwanghaft, aufgesetzt und unlebendig. Wenn ich ihm bestimmte vorformulierte Gebete beibringe, habe ich Angst, es zu überformen; es lernt dann etwas nur wie eine Redensart, die man so dahinsagt. – Wie soll ich mein Kind religiös erziehen?» Wir einigten uns darauf, daß die beste religiöse Erziehung für ein Kind darin bestehe, es empfinden zu lassen, daß die Mutter selber ihm vertrauenswürdig ist und daß dies ihm vor allem Schutz und Geborgenheit bietet; doch wenn es die Mutter fragt oder genauer ihr Verhalten betrachtet, wird es merken, daß die Mutter ihre Angstfreiheit sich nicht willentlich andiszipliniert oder magisch anhext; sie hat dafür einen Grund außerhalb ihrer selbst, den sie kaum benennen kann, aus dem sie aber wesentlich lebt. Dieser Hintergrund und Urgrund für das Vertrauen der Mutter ist im Erleben des Kindes der Fluchtpunkt von allem, auf was Religion je hinweisen kann. Verdeutlichen wir uns im Umkehrschluß einmal, wie anders es auch sein kann. Ein so großes religiöses Genie wie der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hatte von seinem Vater immer wieder die Religion des Christentums als überaus schwer und schwermütig kennengelernt. Der junge Sören war ein sehr frommes Kind. Er wollte in Fragen der Religion so leben, wie es gesagt wurde, und er glaubte, daß sein Vater ein aufrechter Mann sei, ehrlich und ernst gerade in seiner religiösen Überzeugung. Und doch war Sören Kierkegaard noch nicht fünf Jahre alt, als er spürte, daß sein Vater zwar ständig vom Glauben an Gott sprach, daß aber in seiner Stimme, in seinem ganzen Verhalten, gerade beim Reden von Gott, Angst mitschwang, daß sein Herz zitterte, wie der johanneische Jesus später zu den Jüngern sagen wird. Für den jungen Kierkegaard bedeutete diese Tatsache eine ständige innere Beunruhigung. Da ist ein Mensch, der es ganz aufrichtig meint, er will ganz und gar sich Gott hingeben, und doch findet er das Wichtigste, von dem er immer wieder spricht, gar nicht: ein wirkliches Vertrauen zu Gott; vielmehr zerfrißt eine unablässige Angst seinen Glauben. Erwachsen geworden, wird Kierkegaard sagen, daß die Angst eines Vaters das im Herzen eines Kindes sich aufrankende Suchen nach Vertrauen auf Gott so schwer erschüttern kann wie die Gehorsamsbereitschaft Abrahams am Schlachtopferaltar im Erleben seines Sohnes Isaak (Gen 22,1-19)4. Jesus kam in diese Welt, um das grausige Gemälde eines strafenden Gottes ein für allemal aus der Seele der Menschen zu nehmen. Der Mann aus Nazaret muß es gelernt haben, über Schuldangst hinwegzureifen zu diesem reinen Vertrauen, und das hieß es für ihn, in Gott geborgen zu sein. Es war diese Haltung, die er allen weiterschenken wollte, – 145

eine Einladung, in ihm und mit ihm geborgen zu sein und je für sich zu entdecken, wie seine Gedanken, wie die wundervollen Bildgeschichten, die er vortrug, im Herzen selber sich als Erfüllung dessen nachgestalten, wonach wir uns sehnen. Alles läuft da auf ein einziges Ziel, auf ein einziges Wort zu, das es sammelt, wie wenn eine Kugel am Rand eines Trichters, immer schneller kreisend, auf einen zentralen Punkt zugetrieben würde, noch einmal hochschnellte und dann in stabiler Lage an den Mittelpunkt des Trichters gelangte. Judas (nicht der Iskariot) fragt an dieser Stelle nach, was denn geschehen sein möge, daß Jesus sich nur den Jüngern zeige, nicht der Welt; – und Jesu Antwort, parallel zu allem schon Gesagten, wird noch einmal betonen: die Welt kann es nicht verstehen, nur der Liebende wird es begreifen; doch wenn er es begreift, wird er eine Erfahrung machen, welche die Kluft zwischen einem Leben in der Nähe zu Jesus und einem Dasein in dem, was hier Welt heißt, unüberbrückbar aufreißt. «Nicht erzittere euer Herz, nicht verzage es. Euer Herz verwirre sich nicht und habe niemals mehr Angst», sagt der johanneische Jesus, und er erklärt damit sein «Geschenk»: Frieden hinterlasse ich euch, Frieden, meinen, gebe ich euch. Nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch5. Es ist ein Satz, der absolut alternativisch gesprochen ist und der über zweitausend Jahre hin an Aktualität und Dringlichkeit auf eine geradewegs unheimliche Weise gewonnen, jedenfalls nicht verloren hat. Welch ein Zynismus, wenn selbst die christliche Auslegung dieses Verses den Frieden, den Jesus uns geben wollte, für etwas rein Innerliches erklärt und gewissermaßen als einen Seelenfrieden interpretiert, der auf «ordentliche Weise» nur in der Einheit mit der Kirche zu gewinnen sei, der aber auf die Welt nicht Bezug habe! Ja, welch eine Unverfrorenheit, wenn sie aus diesem ihrem allzu praktischen Theorem folgert, daß sie als die Kirche «Christi» ihr Arrangement mit dem «Frieden» der «Welt» sehr wohl finden müsse und könne! Untersuchen wir den «Frieden» einmal näher, den die Welt gibt. Schon in den Tagen Jesu und in der Zeit, als die Texte des Neuen Testaments entstanden, gab es eine staatsphilosophische Maxime politischer Moral, die im ganzen Römischen Reich galt und zweitausend Jahre lang programmatisch gültig geblieben ist: Si vis pacem, para bellum – wenn du Frieden willst, dann halte dich fähig zum Töten, dann präpariere den Krieg – so die alten Römer6. Pretium pacis vigilia, sprachen sie auch – der Preis des Friedens ist die ständige Wachsamkeit –, mit einem Wort: Gewehr bei Fuß! Dieser Satz ist so modern, daß er bis heute die NATO-Fahne ziert. Dieses Denken bestimmt das politische Handeln mehr oder minder in allem, was wir Geschichte nennen. Frieden im ganzen 20. Jh. hat nie etwas anderes 146

geheißen, als daß wir im Gleichgewicht des Schreckens uns immer schrecklicher einrichten zu müssen glaubten. Wenn du würgen kannst so stark wie der andere und sogar noch ein bißchen effizienter, dann hast du «Frieden», will sagen: eine Friedhofsruhe in ständiger Angst und Bereitschaft zum Totschlagen. Am Anfang des 21. Jhs. befinden wir uns in einem von den USA erklärten monumentalen Krieg gegen das Böse, und wir hören, daß die USA auf Jahrzehnte hin mit militärischen Mitteln der ganzen Welt Friede, Freiheit und Sicherheit zu bringen gedenken. Jeden Tag geben allein die USA mehr als 1 000 000 000 Dollar für Rüstung aus. In all der Zeit fehlt es nicht an Reden von den Schrecknissen des Krieges und von dem kriminellen Charakter atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungsmittel, doch wahrhaft abscheulich sind diese Mordmittel anscheinend stets nur in den Händen der «potentiellen Gegner», niemals der eigenen Seite. Wann sagt man uns je, daß Krieg und Kriegsvorbereitung in sich selbst und unter allen Umständen verbrecherisch sind? Allenfalls daß wir im Abstand vieler Jahrzehnte einen vergangenen Krieg für «wahnsinnig» erklären, wie etwa den Giftgaskrieg 1916 zwischen Franzosen und Deutschen beim «Weißbluten» des Gegners vor Verdun; was aber hätten wir gelernt aus dem «Wahnsinn» von Verdun, außer daß wir sogar nach den 50 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg bereit waren, mit der permanenten Drohung, viele Hunderte von Millionen Menschen in wenigen Stunden zu ermorden, das Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg bis zum Totrüsten des Gegners aufrechtzuerhalten? Etwa 50 Millionen Menschen starben in dieser Zeit jedes Jahr an Hunger und Verelendung und tun es nach wie vor; das war und ist das «Pretium pacis», der Preis dieser Art von Frieden. Bakterienbanken, die ganze Landstriche mit Pest und Botulismus heimsuchen können, heißen immer noch «Waffen»; eine «militärische Option» nannten wir die Bereitschaft, im Januar 1991 im Zweiten Golfkrieg über vierhundert Atombomben auf den amerikanischen Flugzeugträgern zu lagern, um sie, für alle Fälle, gegen das Regime in Bagdad in petto zu haben; und dasselbe Szenario findet schon wieder statt, da diese Zeilen im März 2003 geschrieben werden; bei ihrer Drucklegung hat dieser neue Krieg für den Frieden der Welt vermutlich längst schon seine Akzeptanz gefunden. Abrüstung nennen wir es, wenn wir zur Perfektionierung möglicher Waffen für die nächsten zehn Jahre im Computer stets neue militärische Systeme entwickeln. Das ist der Friede, wie ihn die Welt gibt. Er besteht darin, das Wort Friede zu einem hölzernen Eisen zu machen und darunter nichts anderes zu verstehen als den Sieg des Stärkeren, – der im vermeintlich besten Falle wir jeweils selber sind! 147

Der johanneische Jesus mochte seine Jünger befähigen, im Widerspruch zu dem, was er «Welt» nannte, Frieden wirklich zu glauben. Gibt es dazu denn überhaupt eine Alternative? – Im deutschen Fernsehen Anfang 1992 zeigte man in einer Gesprächsrunde eine Frau, die inmitten der bosnischen Tragödie mit Tränen in den Augen in die Kamera rief: «Wir brauchen Waffen, Waffen, Waffen!» – und sie meinte: «Wir müssen wenigstens unsere Kinder schützen.» Der Kindergarten, in dem sie arbeitete, war überfallen worden. Sie war überzeugt, daß es unter solchen Umständen keine andere Lösung gebe als Gewalt gegen die Gewalt. Doch was für eine Hoffnung bleibt dieser Frau für ihre Kinder? Soll die Lektion für ein Kind wirklich lauten: «Du mußt wissen, mein Sohn, wir haben dich damals geschützt; du warst noch nicht zwei Jahre alt, da haben wir getötet und getötet, um dein Leben zu retten. Und hörst du, das ist das Gesetz der Welt. So war sie, so ist sie, und so wird sie immer sein. Wir haben es für dich getan, und das erste, was du üben solltest, wäre, es uns gleichzutun und sogar noch besser zu tun, denn deine Gegner werden genau so üben, und sie werden wiederkommen. Du darfst nur leben, wenn du ein Meister des Todes wirst; du hast überhaupt nur eine Chance zu leben, wenn du dich bewährst im Töten»? – Kein Kind der Welt möchte leben für eine solche Welt und in einer solchen Welt. Im Gegenteil: Es kommt auf die Welt, um Vertrauen zu lernen und Liebe, und es läge an uns, den Erwachsenen, es ihm zu ermöglichen. Zweitausend Jahre, gerade so viele, wie es christliche Kirchen gibt, sind eine ziemlich lange Zeit; alle, die je von Jesus geredet haben, hatten gewiß genügend Gelegenheit, etwas davon der Welt zu sagen und in die Welt zu tragen. Doch jeder begreift: Wir sind während all der Zeit der Kirchengeschichte im «christlichen» Abendland nicht auch nur ein paar Millimeter weiter an die Bergpredigt und die Botschaft Jesu herangerückt; wir wollten es überhaupt nicht, wenn wir ehrlich sind. Der johanneische Jesus gibt dabei sehr präzise den ewigen Grund für das Desaster des politischen Terrorfriedens an: wir haben Angst. Eben deshalb beschwört er uns förmlich kaum daß er von Frieden spricht: Nicht erzittere euer Herz, nicht verzage es. Diese Mahnung ist dringlich. Denn: Es kommt der Herrscher der Welt – der «Verwerfer», der Diabolos. Er wird Jesus ermorden mit famosen Begriffen von Gott, von Recht, von Gerechtigkeit, von staatlicher Ordnung, von geschichtlicher Vernunft, von Gottesspruch und Priesterspruch, von Autorität und Normalität. Er wird hundert Gründe wissen, um Jesus zu liquidieren. Die ganze «Ordnung» dieser Welt wird über den Mann aus Nazaret hinweggehen und ihn zum Verlierer stempeln. Doch was beweist das? Das letzte Wort Jesu an dieser 148

Stelle wird heißen: Auf, gehen wir, fort von hier. Das heißt in der «Topographie» des Johannes-Evangeliums nicht: vom Abendmahlssaal zum Ölberg, es heißt: Verändern wir unseren ganzen Standpunkt. So wie es steht, kann es und darf es nicht bleiben. Krieg gegen Krieg? Wollen wir wirklich böser werden als jegliches Böse, teuflischer als jeder «Teufel»? Dann werden wir aus der «Nacht» dieser Welt, aus ihrer geistigen Umnachtung, niemals herausfinden. Statt dessen gilt es, ein einziges Mal standzuhalten. Das wäre alles, worauf es ankommt. Dieser kleine Text aus dem Johannes-Evangelium könnte zur geistigen Sammlung dienen für alle im 20. und 21. Jh., die wirklich Frieden wollten und wollen, ob in Israel, ob in Palästina, ob im Irak, ob in Afghanistan, ob in Somalia, ob auf dem Balkan, ob im Kaukasus – für alle, die nicht länger auf den Frieden warten wollen, sondern die ihn geradewegs jetzt verlangen: Sie alle leben gefährlich; denn sie stellen die ganze Wirtschaft in Frage, sie stellen die ganze Politik in Frage, sie stellen die ganze Welt in Frage. Doch ohne jedes Zögern erklärt uns Johannes: Kein Wunder! Die Logik dieser «Welt», ihre gedankliche Maschinerie, das, was sie beherrscht, ist von vornherein klar erkennbar die blanke Satanei. Wer das durchschaut, versteht das ganze Johannes-Evangelium und die Art, wie es seinen Jesus deutet: ein Rhododendron, der blüht, wenn noch Schnee liegt, ein Baum, fast gar zu weit in den Norden gepflanzt, doch das unsterbliche Bild einer Schönheit, die trotz Nachtfrost und Kälte gedeiht und nie mehr vergeht, wenn ihre Wurzeln nur tief genug sind.

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Joh 15,1-17: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Rebzweige oder: Bleibt in mir wie ich in euch 1Ich bin der Weinstock, der wahre (Jes 5,1-7; Jer 2,21; Ps 80,920), und mein Vater ist der Winzer. 2Jeden Rebzweig an mir, der nicht Frucht trägt, nimmt er weg, und jeden, der Frucht trägt, den reinigt er, auf daß er noch mehr Frucht trage. 3Schon seid ihr rein (13,10; 1 Petr 1,23), wegen des Wortes, das ich euch gesagt habe (6,63). 4Bleibt in mir und ich in euch. Wie ein Rebzweig nicht Frucht bringen kann aus sich selbst, es sei denn, er bliebe am Weinstock, so auch nicht ihr, es sei denn, ihr bleibet in mir. 5Ich – ich bin der Weinstock, ihr die Rebzweige. Wer bleibt in mir und ich in ihm, der trägt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun (2 Kor 3,5.6). 6Wenn jemand nicht in mir bleibt, wird er abgeschnitten wie ein solcher Rebzweig und verdorrt (Ez 15,1-8); dann sammelt man sie und wirft sie ins Feuer, daß sie verbrennen. 7Bleibt ihr in mir und meine Reden bleiben in euch (8,31), so bittet, was immer ihr wollt, es wird euch geschehen (14,13; 16,24; Mk 11,24). 8Dadurch wird mein Vater verherrlicht, daß ihr viel Frucht tragt und werdet meine Jünger (8,31; Mt 5,16). 9Wie mich der Vater liebt, so habe ich euch lieb. Bleibt in der Liebe, in meiner. 10Wenn ihr meine Weisungen wahrt, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich die Weisungen meines Vaters gewahrt habe und bleibe sein in der Liebe. 11Das habe ich euch gesagt, auf daß meine Freude in euch sei und euer Glück vollkommen (16,24; 17,13). 12Das ist meine Weisung: Liebet einander (13,34 Mk 12,31), wie ich euch lieb habe. 13Größer als so hat niemand die Liebe, daß einer sein ganzes Ich setzt für seine Freunde (10,11). 14Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch weise (8,31; Mt 12,50). 15Nicht mehr nenne ich euch Knechte (Lk 12,41), denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; euch aber habe ich Freunde genannt, denn alles, was ich gehört habe von meinem Vater her, – ich habe es kundgemacht euch. 16Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt. Ja, ich habe euch gesetzt, daß ihr hingeht und Frucht tragt und eure Frucht bleibt, auf daß, was immer ihr bittet den Vater in meiner Wesensart, er euch gebe (14,31). 17Dazu weise ich euch an: daß ihr einander liebt.

Immer wieder, wenn über das Verhältnis des Menschen zur Religion in christlichem Sinn nachgedacht wird, kommt man auf diesen Satz aus dem Johannes-Evangelium zurück. Ein fast organisches Verhältnis wird da beschrieben, aber auch eines, das eben deshalb auf gefährliche Weise 150

mißbrauchbar ist; zwischen beidem: dem Gefährlichen und dem Rettenden, bewegt sich dieser Text, – je nach der Art, wie man ihn auslegt. Von allen Dingen auf Erden gilt, daß man sie richtig oder falsch benutzen kann. Es ist möglich, ein Messer am Griff oder an der Schneide anzufassen; es ist möglich, ein Fernrohr so zu halten, daß es das Ferne nahebringt, oder umgekehrt: daß es das Nahe fernrückt; es ist möglich, in eine Einbahnstraße in falscher Richtung hineinzufahren, so daß die Straße zur Falle wird. Von der Religion gilt mehr als von allem anderen, daß sie entweder ein Gift ist oder ein Medikament: man darf sie genaugenommen nur in korrekter Dosierung für die «richtige» Krankheit verwenden. Vor Jahren zitierte eine junge Ordensfrau mit glühenden Augen und flammenden Worten gerade diesen Text hier aus dem 15. Kapitel des Johannes-Evangeliums: «Das ist mein Leben», stieß sie hervor. «‹Ohne mich›, hat er gesprochen, ‹könnt ihr nichts tun; ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben›.» – Die Art, wie diese Schwester redete, verriet deutlich, mit welcher Leidenschaft, ja, mit welcher Verzweiflung sie all das glauben mochte, was im Neuen Testament steht. Es zeigte aber auch, wie sehr jedes Wort in ihrem Munde sich gegen das Gefühl ihres eigenen Herzens richtete. «Ich bin nichts», wollte sie sagen, «das hat man mir beigebracht seit Kindertagen. Was du willst, gilt schon deswegen nicht, weil du es willst. Denn wer bist du schon, daß du überhaupt ein Recht besäßest, etwas zu wollen? Du, in deiner Person, bist ein Nichts. Nur wenn du dich dem anschließt, was deine Mutter will, was dein Vater will, bist du in Ordnung, bist du richtig.» – Alles, was diese Schwester Christus nannte, alles, was für sie Gott war, ergab sich aus der Verunendlichung solcher kindlichen Ängste, Schuldgefühle und Abhängigkeiten. All das war ihr freilich nicht bewußt. Sie litt persönlich scheinbar keine Not, sie schritt dahin auf einem kirchlicherseits garantiert(ermaßen) ganz richtigen Pfad, und sie merkte nicht, wie sie dabei ständig an sich vorbeilebte. Die Verbote von einst bedeuteten ihr die Pflichten von heute, die Ängste von damals die Tugenden der Gegenwart, die Erniedrigungen in Kindertagen hatten sich umgewandelt zur Erhöhung ihres besseren Ichs. Ihr Ich-Ideal, psychoanalytisch ausgedrückt, war ganz und gar definiert im Über-Ich, und dieser Text hier schien sie zu bestätigen, ja, sogar zu rechtfertigen; eine andere Auslegung auch nur zu versuchen, wäre ihr völlig unsinnig vorgekommen, und wenn schon, dann wäre es in ihren Augen wie ein Verrat an der Wahrheit gewesen, die sie kannte und die sie wußte. Unbestreitbar liegt es gar nicht so fern, das gesamte Johannes-Evangelium als Grundlage einer solchen Entfremdung der Seele zu lesen, als das Dokument einer derartigen Tyrannei 151

des Über-Ichs, als die Manifestation einer festgeschriebenen Herrschaft des Äußeren. Dabei ist gleich in den ersten Worten dieses Textes ein besonderer Akzent zu vernehmen, der vor vielen Jahren einen bedeutenden Religionsgeschichtler und hervorragenden Interpreten namentlich der griechischen Religion hellhörig gemacht hat. Ich bin der Weinstock, der wahre, sagt hier der Jesus des Johannes-Evangeliums. Karl Kerényi meinte, daß diese Betonung «der wahre Weinstock» sich gegen diejenige Religion richte, deren Mittelpunkt einmal um den Wein gekreist sei1. Auch in den christlichen Mythen und Riten, in Dogma und Sakrament ist noch der Gedanke verdichtet, daß ein sterbender Gott den Menschen sich in der Gestalt des Rauschtranks, des Weines, zum «Genuß» gebe. In den zerstoßenen Trauben erscheine das Göttliche; es sei gewissermaßen das vergossene Blut der Gottheit, das sich in den Adern der Gläubigen bis zum Ekstatischen kondensiere und assimiliere. Karl Kerényi war der Ansicht, daß diese Stelle bei Johannes das Erbe der Dionysos-Religion übernehmen wolle: Da war ein ehedem zerrissener Gott, ein gestorbener, der als Nahrung seine Auferstehung im Kulte feierte und zum Vorbild des Christus im Sakrament des Abendmahls der Kirche wurde. Möglicherweise ist diese Textstelle wirklich, wie schon im Bild der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-12), ein spätes Abbild der Dionysos-Religion, der Religion des Unbewußten, der Vergöttlichung der Triebe, psychoanalytisch gesprochen: des Es. Da erscheint die Gottheit in beseligendem Überschwang, im Vergessen des Ichs; nicht unter der Diktatur von Moral und pflichtgemäßer Anstrengung offenbart sie sich, sondern im Versinken in einen Abgrund, der dem Geist wie undurchdringlich ist, und die Mysterien geben lediglich, ähnlich dem Schaum, den das Meer auf seinen höchsten Wellen auswirft, von dieser Tiefe im Untergrund Zeugnis. Da wo es gischtet, wo die Welle sich selbst überrollt, wo ihre stärkste Kraft durchbricht, wo die Woge aufsteigt und sich wieder hinabschwingt wie zwischen Wolken und Tiefsee, da, in der Stärke einer Strömung, die das Ich ausgeliefert und verloren sein läßt, erscheint das Göttliche. Nehmen wir diesen religionshistorischen Anknüpfungspunkt als Ausgang und Hintergrund für gegeben an, so stellt sich uns die Frage, ob dieser Text im Johannes-Evangelium wirklich so gelesen werden kann, daß er das kleine Boot des Ichs trägt zwischen Oben und Unten, zwischen ÜberIch und Es, zwischen Wolken und Tiefsee, als Stärkung und Begründung der Person, nicht als ein dionysisches Verlöschen. Alles in den Worten des johanneischen Jesus ist verstehbar, wenn man es 152

gerankt um das Wort liest, das hier den Mittelpunkt und das Zentrum bildet, das Wort: Liebe, und, stets parallel dazu, das Wort: Weisung. Schon im 14. Kapitel (Joh 14,9-17) stellte sich die Frage, wie denn beides ineinander geht: Liebe und Weisung. Sind die Gebote, wenn sie gehalten werden, Grund und Voraussetzung der Liebe unter den Menschen, oder verhält es sich umgekehrt: daß alle Gebote und alle Weisungen nur den äußeren Ring einer Verbundenheit darstellen, die von der Liebe allererst gebildet wird? Ich bin der Weinstock, ihr die Rebenzweige. Man braucht, um zu erfassen, wie ein solches Bild zustande kommt und sich selber erklärt, nur den Gefühlen zu lauschen, die Liebende, die Verliebte äußern und austauschen. In der einfachen Sprache des Herzens wird gern der eine dem anderen sagen: «Ich wüßte kaum zu leben ohne dich; du bist es, woraus ich selber meine stärksten Energien ziehe und in mir forme; in deiner Liebe und in dem Geschenk, dich lieben zu dürfen, machst du, daß ich gerne auf der Welt bin. Deine Liebe durchrauscht mich wie ein Strom; sie ist mir wie eine alles gestaltende Kraft. Alles, was ich bin, kommt von da her, und daß es in mir wächst, aufblüht und groß wird, liegt eben darin beschlossen.» Statt von Liebe als dem einzigen Ausdruck, der dem Griechischen des Neuen Testaments zur Verfügung steht, zu sprechen, sollten wir, um eine solche Poesie zu verstehen, heute, zweitausend Jahre danach, in der deutschen Sprache diese Zusammengehörigkeit besser, entfalteter, in einer Mehrzahl von Worten und Begriffen beschreiben; sprechen wir nur einmal von Wohlwollen, von Güte oder von Zugewandtheit; dann können wir erleben, daß ein einfaches Tier bereits imstande ist, uns zu kommentieren und zu erklären, was in der Einheit von «Weisung» und «Liebe» vor sich geht. Angenommen, jemand hält sich einen Hund; all die Stunden seiner Abwesenheit hat das Tier gewartet, doch nun, als sein «Herrchen», sein «Frauchen», kommt, läuft er ihm, läuft er ihr, außer sich vor Freude, entgegen; der ganze Hund ist ein einziges Bündel von Glück: jauchzen, hochspringen, händelecken und am Ende das Sich-auf-den-Rücken-legen, – wenn dann das Bäuchlein gestreichelt wird, ist seine Wonne kaum mehr zu übertreffen; sein Herrchen, sein Frauchen, ist wieder bei ihm! – Die Verhaltensforscher und die Neurophysiologen rätseln bis heute vergebens, wie ein Tier herauszufinden vermag, daß ein Mensch ihm wohlwill: Wie öffnen sich seine Augen, daß sie sein Gegenüber in diesem Vertrauen eines zugewandten Wohlwollens anschauen? Noch ist kein einziges Wort gesagt, und doch spürt der Hund sehr genau, wie man zu ihm steht: Er ist gemeint. Da hebt die Distanz der Angst sich auf, und alles weitet sich. Da wird der 153

Blick des einen zu einem Spiegel für die Seele des anderen, und es öffnet sich sein Herz für ihn. Die Verhaltensforscher meinen, die Art, wie der Körper sich bewege, die Stellung der Hände, des Mundes, der Augen, des Gesichtes verrate unbewußt die wahren Gefühle, klarer sogar, als es irgendein Mensch absichtlich tun könnte, er müßte denn in langen Studien als Schauspieler auf die Körpersprache trainiert worden sein. Da wächst etwas wie unbeabsichtigt, wie willenlos einander zu, organisch, harmonisch, lebendig eben. – So etwas Ähnliches muß es bedeuten, wenn der johanneische Jesus davon spricht, die Beziehung zwischen Liebenden sei wie die einer Rebe zum Weinstock. Unter uns Menschen verhält es sich nicht anders, als wir es in gewissem Sinne schon bei höher entwickelten Tieren beobachten können. Wenn wir miteinander sprechen, ist das Empfinden der Zuneigung im Klang der Worte oft weit hörbarer als in ihrem Inhalt. Es mag sein, daß wir die Vokabeln eines anderen, sein Französisch oder sein Japanisch, gar nicht zu übersetzen wissen, aber wie er intoniert, wie er zu uns redet, wie seine Stimme vibriert, das, in dem Erbe von vielen Jahrzehntausenden der Menschheitsentwicklung jenseits der Auffächerungen in verschiedene Sprachen und Kulturen, ist ein gemeinsamer Besitz an Erfahrung, der es uns Menschen erlaubt, daß der eine hört, was der andere in sein Herz legen möchte; es hängt nicht an der Semantik, viel eher an der Phonetik. Aber auch die Worte fügen sich dann ineinander. Was der eine sagt, wird dem anderen zur Ermutigung, sich selber worthaft tiefer zu erschließen. Man könnte denken, das Bild vom Weinstock und den Reben sei ganz und gar einseitig: Hier steht der Weinstock, er trägt das Ganze; durch ihn hindurch geht die befruchtende Kraft in die Reben ein – ein Verhältnis vollkommener Abhängigkeit scheinbar. Doch jeder, der das Leben einer Pflanze kennt, weiß, daß es sich so nicht beschreiben läßt. Ein Weinstock ist kein Weinstock, wenn er nicht in seinen Blättern atmen kann, und er findet seine Erfüllung nicht, wenn er nicht Frucht ansetzt, sich weiterzuzeugen. Die Reben sind nicht das Produkt des Weinstocks, sie sind die Art, wie der Weinstock selbst lebt; ohne sie wäre er selber buchstäblich nichts –, so muß man denken. Insbesondere das Bild vom Fruchttragen läßt sich gewiß nicht produkthaft, merkantil übersetzen in die Logik eines Weinbauern. In manchen Traktaten kirchlicher Moral taucht die Ansicht auf, Liebe sei dazu da, etwas hervorzubringen, etwas zu «zeugen», «fruchtbar» zu sein im wörtlichen Sinn. Jahrtausende wollte man vor allem die Frauen dazu verpflichten, wenn sie schon liebten, Kinder zu bekommen. Die menschliche Nähe 154

mußte zu etwas nutze sein, sie mußte sich also auch benutzen lassen, und über all dem standen gewisse gewichtige Leute, die darüber wachten, wieviel an «Ertrag» sich zu ergeben hatte. Eben erst im November 2002 mahnte Papst Johannes Paul II. bei seiner ersten Rede im italienischen Parlament die Bevölkerung zur Zeugung von noch mehr (katholischen!) Kindern. Doch es gibt überdies noch andere, weitaus schlimmere Arten des Mißverstehens gerade dieses Textes. In der Gleichnisrede Jesu im 15. Kapitel des Johannes-Evangeliums soll der Winzer der Vater sein, – soll er Gott selbst sein. Gerade diese Vorstellung hat in zweitausend Jahren Kirchengeschichte die furchtbarsten Folgen gezeitigt: Ich bin der Weinstock, ihr die Rebzweige, und: «Mein Vater wird kommen, um, was nicht Frucht bringt, abzuschneiden und ins Feuer zu werfen.» – Es war gerade diese Stelle, die das Argument zur Rechtfertigung der Inquisition lieferte. Frucht bringen, das hieß: übereinzustimmen mit dem Kirchendogma und Propaganda zu machen für die Kirchenideologie; jede Abweichung wurde geahndet mit dem Weggeschnitten-Werden, mit dem In-den-Tod-gestoßen-Werden, – ins Feuer der Autodafés zunächst und in die Hölle sodann. Stand es nicht hier: im 15. Kapitel des Johannes-Evangeliums? Natürlich wurde das organische Bild des Weinstocks dabei absolut fehlgedeutet: an die Stelle des «vegetativen» Reifens setzte man ein Prinzip der Gewalt, der Zerstörung und der Auslöschung, – aber wir können den Grund psychologisch sehr gut verstehen, der zu dieser Auslegung führte: Aus Angst vor dem Es schmiedete man die Religion um in ein Schwert des Über-Ichs; die Furcht vor Dionysos verlangte Menschen als Engel; ihre Lust, ihre Freude, ihr einfaches Glück, das «Tierhafte» im Menschen erschien als zu unheimlich, man wollte es niederzwingen mit der Waffe des Erzengels Michael gewissermaßen – ein ständiger Kampf zwischen Himmel und Hölle, zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis. Gerade die Worte des Johannes-Evangeliums galten für die Bestätigung einer solchen scheinbar gottgewollten Zerrissenheit. Wie aber, wenn wir diesen Worten genauer zuhörten und merken würden: die Frucht, die da wachse, müsse nicht «abgeliefert» werden, sondern sie bestehe geradezu in dem Glück, das die Liebe sich schaffe! Etwas Höheres solle dabei gar nicht «herauskommen», – es genüge vollkommen, daß Menschen zueinanderfänden und glücklich seien! Das steht hier auch: Das habe ich euch gesagt, auf daß meine Freude in euch sei und euer Glück vollkommen sei, und: Dadurch wird mein Vater verherrlicht. – Da sollten wir erkennen, Gott selber im Himmel, Gott als Schöpfer der gesamten Welt, erscheine uns in ganz und gar väterlichen (mütterlichen) Zügen, 155

und er werde nicht besser verehrt, als indem wir Menschen es wagten, wir selber zu sein. Genug, wenn uns die Liebe dazu begleitet, uns selbst zu riskieren und unser Herz so zu weiten, daß es zusammenwächst mit der Person auch nur eines einzigen anderen Menschen. Dazu weise ich euch an: daß ihr einander liebt, sagt am Ende der Jesus des Johannes-Evangeliums. Nichts ist da von außen einzusehen, alles kommt da aus innen. Wie aber steht es dann mit den Worten, die doch hier auch gesprochen werden und die fast wie entmutigend wirken müssen: «Wenn jemand nicht in mir bleibt, wird er abgeschnitten wie ein solcher Rebzweig und verdorrt?» Man kann auch ein solches Wort richtig auffassen: Es ist gerade die Erfahrung einer starken, dichten Beziehung, die zu einer endgültigen Alternative drängt, wirklich zu einer Entscheidung wie auf Leben und Tod, wie auf Alles oder Nichts, wie zwischen Blühen und Verdorren, wie zwischen Reifen und Sterben. Alle Liebe kann nur wachsen oder verkümmern. – Bei der Deutung solcher Texte bildet es stets eine Hauptfrage, wie wir uns das Tun Gottes vorstellen. Folgen wir der Interpretation von außen, so wirkt Gott wie eine Macht, die man irgendwie objektiv dingfest machen kann und muß. Gott redet dann mit uns wortwörtlich aus dem Grollen des Donners (Ex 20,18), er fährt wie in Sodom und Gomorrha mit Feuer und Schwefel hernieder (Gen 19,24), oder er führt uns als eine Wolkensäule durch die Wüste (Ex 13,17-22) – immer ist er irgendwie äußerlich wahrnehmbar, eine Art übernatürliches Naturphänomen, etwas Greifbares auf jeden Fall. Und wenn dieser Gott nun straft, wie soll er es dann anders tun als ebenfalls durch geradewegs physikalische Erschütterungen? Er fügt unserem Leben etwas zu, das wir selber nicht wollen noch tun können. Eben darin liegt nach dieser Vorstellung der Sinn einer Strafe, daß unser Wille durch eine höhere Macht gebrochen wird und werden muß, bei einem schlimmen Vergehen und Abirren sogar ins Endgültige. Tatsächlich handelt, bei Licht betrachtet, der Gott der Bibel so niemals. Die ersten Strafen, die er ausspricht, finden sich schon im dritten Kapitel des ersten Buches Mose, in der sogenannten Genesis, gleich auf der dritten Seite der Bibel (Gen 3,8-24). Da kommt Gott zurück in das Paradies seiner Welt, so wie er es immer zu tun pflegte, er geht durch die Abendkühle und sucht seinen Menschen, den er gemacht hat (Gen 2,8) als ein vollkommenes Wesen, weil glücklich in der Liebe. So hatte Gott noch vordem erkennen müssen, daß es für einen Menschen, einen «Adam», nicht gut ist, allein zu sein (Gen 2,18), und er hatte ihm die Tiere (Gen 2,19) und eine Gefährtin zugesellt (Gen 2,22). Jetzt hält Gott Ausschau nach den Menschen in ihrem Glück, doch er findet sie verkrochen vor Angst unter den Bäumen 156

im Garten und ruft sie an: Mensch – Adam –, wo bist du? (Gen 3,8.9) – Es gibt Theologen, die in dieser Szene unterstellen, daß Gott hier so menschlich gezeichnet sei, daß er nicht wirklich habe wissen können, wie gut sich die Menschen versteckt hielten, – das Paradies als Vexierbild für den Allmächtigen. Tatsächlich aber fragt Gott niemals in der Bibel, um etwas wissen zu wollen, auf das er selbst von allein nicht kommen könnte; all seine Fragen ereignen sich in unserem wirklichen Leben in schlaflosen Nächten, in Beunruhigungen quer durch die Tage, in Infragestellungen, die wir nicht mehr loswerden: wo bin ich? wer bin ich? was ist der Ort, an den ich gelangt bin? – Wer so bohrend immer wieder in sich diese Fragen gestellt hört, zu dem redet Gott und spricht: Wo bist du, Adam? Was Gott dann als Strafe ausspricht über den Menschen, ist nie etwas von außen Zugefügtes. Gott stellt fest, im doppelten Sinn: er bemerkt und vermerkt, er sieht und kann nicht unsichtbar machen, daß ein Mensch in seiner Angst sogar die Nähe der Liebe zu erleben vermag wie etwas Beschämendes. Statt des Glücks, beieinander zu sein, wirft der eine dem anderen vor, von ihm abhängig zu werden, er fühlt sich in seiner Blöße angeschaut mit den Augen der Kritik, – blamabel, wenn er sich öffnet, drum daß er um so mehr sich verhüllt; ja, ihm wird die Nähe seines Gegenübers zu einer Last, zu einer Qual. Von Liebe kann und mag man da nicht mehr reden, wo sich das innigste Gefühl unter dem Druck der Angst derart verformt. Und das ist es, was Gott in seiner «Strafrede» in Gen 3,14-19 lediglich in Worte faßt. Es ist keine Strafe, die er verhängt, es ist die Feststellung eines Zustandes, der nicht notwendig wäre unter seinen Augen, der aber durch menschliches Tun eingetreten ist. Es ist nicht, daß Gott den Menschen etwa verflucht, arbeiten zu müssen im Schweiße des Angesichts, den Tod stets vor Augen (Gen 3,19), es ist einfach, daß nichts mehr im menschlichen Leben Sinn macht, wenn es mit der Frage belastet ist: Wie bringe ich mich hervor in meinen eigenen Werken? Wie begründe ich mich aus dem Nichts, das ich bin, als ein Etwas durch Leistung, Produktivität und Tun? Unter solchen Voraussetzungen wird alles zu Mühsal und Plage. Gott stellt das nur fest. Das ist seine Art zu strafen2. Ganz analog müssen wir hier denken: Es ist nicht Gott, der etwas «wegschneidet» oder «ins Feuer wirft»; es bestünde allerdings die Gefahr, daß in unserem Leben alles verlorenginge, glühte die Liebe aus, verformte sie sich selber in Angst. Ja, noch genauer sollten wir sagen: Das Abschneiden der Reben muß gar keine «Strafe» sein, und es ist an dieser Stelle auch gar nicht so zu sehen, solange wir es nicht auf den Umgang der Kirche mit ein157

zelnen Menschen beziehen, sondern als Teil des Reifungsvorgangs der Seele deuten – wenn wir das Gleichnis mit anderen Worten nicht soziologisch, sondern, wie unbedingt nötig, psychologisch verstehen. Es dient ja dem Wachstum der Reben, daß das Überflüssige verschwindet, daß das störend Wuchernde weggenommen wird, und selbst das Bild des Verbrennens in der Glut kann noch gelesen werden als ein Symbol für die Liebe selbst. Sollten wir es dann nicht für ein göttliches, für ein wirklich mütterlich-väterliches Tun erachten, daß uns die Liebe dahin bringt, fortzugeben, was hinderlich ist, und zu entfernen, was nutzlos: all die lästigen Schnörkel, die nur Energie kosten und rauben, und es hinwegzuschmelzen wie in einem Feuer? Ist nicht die Liebe gerade die Energie, die es uns ermöglicht, so offen und wahr und identisch mit uns selber zu sein, daß sie uns ganz erfüllt und daß alles, was nicht Lust und Frucht, was nicht Schönheit und Beglückung ist, nach und nach beiseite getan wird? Das zum Genuß am meisten Bereitete, das am dichtesten aus allen Kräften des Lebens Geformte sich wechselseitig zu schenken – das eben ist Liebe. Und so handelt Gott an uns immer wieder: Er schneidet uns nicht ins Fleisch, er droht uns nicht mit der Hölle, er entfaltet einfach Tag um Tag mehr, was wir sind. Was dann nicht nötig ist, braucht nicht länger zu sein. Sagen wir so: die Liebe macht uns täglich mutiger, sie macht uns im besten Sinne «unverschämter», sie erlaubt uns, weniger verkrochen zu leben; sie bewirkt, daß wir selber werden, was wir von innen her sein sollen; und alles Unwesentliche, alles Unwichtige, alles nur Lästig-Belastende entfällt wie von selbst. Da wird im Johannes-Evangelium an dieser Stelle noch einmal die vorgebliche Gegensätzlichkeit von Liebe und Lehre angesprochen: Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch weise, und umgekehrt: Das ist meine Weisung: Liebet einander, wie ich euch lieb habe. – Wie verhalten sich da zueinander Gnade und Gesetz, lutherisch gesprochen, wie Freiheit und Knechtschaft, wie Selbstbestimmung und Fremdbestimmung? Man wird dieses bis heute um und um diskutierte Problem, diesen Hauptgrund der Trennung zwischen den Konfessionen: zwischen den Protestanten und Katholiken, nur verstehen können, wenn man das ganze reflexive Gedankensystem der Theologen und «Schriftgelehrten» in menschliche Erfahrung zurückübersetzt: Es ist das Allereinfachste, daß es in der Liebe zwischen dem eigenen Wollen und dem vermeintlich von außen kommenden Sollen gar keinen Unterschied gibt; in der Liebe ist Weisung und Weisheit vollkommen eins. Wenig lyrisch, aber begrifflich klar hat Sigmund Freud sich ausgedrückt, wenn er von der Liebe sprach. Man merkt den Schriften dieses 158

Mannes aus dem kaiserlichen Wien des Fin de siècle förmlich an, wie schwer ihm das Wort «Liebe» über die Lippen kam; er fürchtete förmlich, sein eigenes Werk ins Romantische zu verkitschen, wenn er es ohne Kommentar gebrauchte. Viel lieber redete er lateinisch, wie mit der Pinzette angefaßt, von dem kostbarsten Gefühl des Menschen, indem er von der «Libido» sprach, die er nach Gesetzen der Elektrophysik zu erforschen trachtete, als wäre es möglich, die Empfindungen des menschlichen Herzens in Form von Maxwellschen Gleichungen zu beschreiben. Worauf es Freud im eigentlichen ankam, ist indessen so verkehrt nicht. Ihm fiel auf, daß Verliebte sich ähnlich verhalten, wie er es während seines Pariser Aufenthalts in Charcots Demonstrationsversuchen zur Hypnose hatte sehen können. Kein Mensch weiß genau, wie es kommt, aber wenn Charcot auch nur eine Handbewegung vor den Augen eines seiner Probanden machte, verwandelte sich dessen Gemütszustand dahin, daß er wie blind in aller Folge tat, was der Versuchsleiter von ihm verlangte. Kein Hund könnte braver dressiert sein als ein der Hypnose Ausgelieferter. Freud nun schrieb allen Ernstes, die Liebe erscheine ihm als eine natürliche, normale, wenn auch vorübergehende Form von Hypnose. Vor allem die Psychologie der Massen3 – diesen Alptraum im 20. Jh., daß viele tausend Menschen zusammenströmen und gemeinsam einer einzigen Gestalt, einem einzigen Befehl folgen – deutete Freud als eine mißgeleitete Liebe, als eine Art kollektive Hypnose. Dagegen wollte er seine Art der Aufklärung durch Psychoanalyse setzen. Er meinte, in einer hypnotischen Liebe falle ein nur scheinbar erwachsener Mensch in die Rolle eines hilflosen, anlehnungsbedürftigen Kindes zurück, und so vermute er in dem anderen, in dem Geliebten, den beschützenden Vater, die bergende Mutter; nur deshalb laufe er wie ein kleines, weinendes, Schutz suchendes Kind hinter diesem anderen, diesem Großen, diesem all seine Strebungen Vereinigenden her. Eine reife Form der Liebe hingegen sollte so nicht sein, das war das Ziel Sigmund Freuds; allerdings hat er gerade eine solche bewußt gewordene Form der Liebe eigentlich kaum beschrieben. Fast war es ihm, daß die therapeutische Mühe im Umgang mit seinen Patientinnen und Patienten zu lange währte, Liebe zu ermöglichen, – viele Jahre gingen dahin, und wenn endlich ans Ziel gelangt, stand die Verabschiedung voneinander bevor. Freud verstummte, wenn er von dem reden sollte, was Menschen am meisten glücklich macht. Aber könnten wir nicht wenigstens davon ausgehen, der Jesus des Johannes-Evangeliums habe gerade das im Sinne gehabt: das reife Glück der Liebe zwischen Menschen, die Frucht gerade darin brächten, daß sie sich ganz entfalteten? 159

Dann wäre es nicht einfach nur wieder eine neue fundamentaltheologische oder apologetische Finesse, zu sagen, in der richtigen Religion erblühe ein Mensch ganz von allein, und besser könne er gar nicht tun, als daß er sich einem bestimmten Gegenüber wie seinem Wurzelgrund anvertraue, sondern wir setzen jetzt einmal, daß es menschlich wirklich so stimme: Jeder kann in der Liebe spüren, wie auch nur die Nähe des anderen eine magische Anziehungskraft auf ihn ausübt, ein Hingeführtsein in die Tiefe, ein Gar-nicht-mehr-von-einander-loskommen-Wollen, eine Verschmelzung buchstäblich zweier Personen; da ist in der Tat der Wunsch des einen Weisung für den anderen, derart, daß zwischen dem Meinigen und dem Seinigen ein Wechselspiel, ein Austausch bis zur völligen Identität entsteht. «Hypnotisch» geleitet zu werden bedeutet dann gerade nicht, wie in einem dionysischen Alkohol- und Schlafrausch zu versinken, aber es heißt auch nicht, willentlich, asketisch, moralisch eine Pflicht abzuarbeiten und mit verbissenen Zähnen, komme, was da wolle, gegen einen Wind aus Eiskristallen anzumarschieren. Die Versicherung des johanneischen Jesus: Das habe ich euch gesagt, auf daß meine Freude in euch sei und euer Glück vollkommen, ist offenbar der Schlüssel zu einem rechten Verständnis des ganzen Textes. Freilich, wenn dieses Wort so heiter, so gelöst, so persönlich erfüllend gedeutet wird, tritt dann nicht der folgende Satz fast schneidend dazwischen: «Größer als so hat niemand die Liebe, daß einer sein ganzes Ich setzt für seine Freunde»? Tatsächlich spricht auch dieser Vers von Liebe, nur unter anderen Umständen und in anderen Zusammenhängen. Vielleicht ist es ein guter Kommentar zu gerade dieser Stelle, wenn wir an einen Mann wie den Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg erinnern, der 1996 von der katholischen Kirche selig gesprochen wurde. 1938 hatte er die Kraft aufgebracht, sich gegen jenes dunkle Ereignis zu stellen, das man in der Sprache der Nazis die Reichskristallnacht nannte, kristallen deshalb, weil ab sofort zwischen Juden und Ariern eine klare Grenzziehung herrschen sollte wie zwischen zwei Kristallgittern, – wie wenn zwei harte Steine unerbittlich aufeinanderstoßen und es nur die Frage der Konsistenz ist, wer wen zerbricht. Propst Lichtenberg ergriff damals das Wort: Er sah in den Juden deutsche Mitbürger, er handelte als Christ und noch viel mehr als Mensch, und er konnte nicht wissen, was auf ihn zukam. Er hatte durchaus nicht pathetisch von der Liebe zu den Juden geredet, er fühlte ganz einfach Mitleid mit ihnen und war imstande, durchzuhalten. In dieser Art einzig beginnt jeder wirkliche Widerstand, 160

jede Courage, die sich riskiert: sie überlegt niemals taktisch, was sie erreichen kann, sie kalkuliert niemals den Erfolg. Vor allem: sie organisiert sich nicht in riesigen Haufen, die dann als Pressure-group auftreten, um in großer Zahl etwas zu bewegen. Hätte Lichtenberg 1938 etwas Derartiges versucht, so hätte er nur so handeln können, wie es die katholische Kirche als ganze damals tat: sie schwieg zu den Judenpogromen, und sie redete unterstützend zum Krieg, in der Absicht, immerhin ihre Gottesdienste ungestört durchführen und eine Verfolgung der Gläubigen in größerem Stil verhindern zu können. Hingegen geradezustehen für das, was man als richtig erkannt hat, ist Liebe in einer Form, die wirklich groß zu nennen ist. Sie basiert durchaus nicht, wie die Liebe im rein Privaten, auf dem seligen Gefühl der innigen Vereinigung zweier Personen, sie ergibt sich einfach aus einer humanen Evidenz: Menschen gehören zusammen, und man darf sie nicht trennen, niemandem zuliebe, nicht um einer Religion willen, nicht einer Konfession wegen, nicht aufgrund einer bestimmten Rassenzugehörigkeit. Wer Menschen liebt, weiß, wie untrennbar voneinander sie sind. Propst Lichtenberg kam für diese seine Überzeugung zwei Jahre lang in das Gefängnis von Tegel und war am Ende so erschöpft und physisch ruiniert, daß er beim Abtransport in das Konzentrationslager von Dachau 1943 in Hof starb. Ein solches Leben ist ganz ohne Zweifel ein Beispiel für das in diesem Kapitel im Johannes-Evangelium Gemeinte. Doch um von der Vorstellung loszukommen, ein solches Handeln sei nur denkbar unter gewissen konfessionellen oder spezifisch religiösen Vorzeichen, muß man betonen, daß es für Propst Lichtenberg damals in seiner Einsamkeit innerhalb seiner Kirche gar nicht so wichtig war, ob er katholisch war oder nicht, am Ende zählte vermutlich noch nicht einmal die Tatsache, daß er christlich getauft war. Das, was er tat, hätte jeder tun können, hätte jeder tun müssen. Was jemand als Christ ist, offenbart sich einzig darin, wie er als Mensch lebt; der Umkehrschluß aber ist nicht gangbar, daß die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche auch schon zeige, was für ein Mensch jemand ist. Woran etwa hätte in denselben Jahren der Kommunist Carl von Ossietzky glauben sollen, in dieser Zeit, in der selbst die Kirchen den Krieg rechtfertigten? Noch im Dezember 1941 redeten sie in einem flammenden Aufruf anläßlich der Eröffnung des Feldzugs «Unternehmen Barbarossa», des Überfalls auf die Sowjetunion, den deutschen Soldaten ein, wie tapfer sie kämpfen müßten und wie die Gläubigen sie durch ihr Gebet zu unterstützen hätten, wie heldenhaft und mutig dieses Ringen im Bekenntnis zu Christus gegen den atheistischen Bolschewismus doch sei, auf 161

einer Frontlänge, wie sie nie zuvor war … Man muß diese Texte nur lesen! Auch Propst Lichtenberg hat nicht gegen den Krieg protestiert, sein Engagement fiel noch in die Zeit vor 1939 und 1941. Carl von Ossietzky aber hat die beabsichtigte Bereitschaft zum Krieg schon 1935 angeprangert, als man die Jugend zu unbedingtem Gehorsam auf den «Führer» vereidigte. Selbst der Mann, den man heute den Löwen von Münster nennt, Kardinal Clemens August Graf von Galen, erklärte 1938 in seiner eigenen Kirchenpresse, daß ein Eid, geschworen auf Adolf Hitler, ein Eid sei geschworen auch auf Gott. Theologische Einlassungen dieser Art bedeuteten das Ende auch der Erlaubnis, zu desertieren und verbrecherische Befehle zu verweigern. Man verriet nicht nur den Staat, man versündigte sich nach Kirchenkommentar an Gott selbst, dem Allerhöchsten, hätte man nein gesagt zu dem Krieg der Nazis, – das stand auf dem Spiel! Es findet sich in jener Zeit nicht ein einziges wesentliches Wort, überhaupt keines von irgendeinem hochrangigen Kirchenmann, der bekannt hätte, dieses Vom-Zaun-Brechen eines Kriegs in ganz Europa durch die Nazis sei ein Staatsverbrechen. Nein, so sprachen sie durchaus nicht. Sie wollten uns weismachen, daß wir ein gutes Recht besäßen, unseren Lebensraum zu erweitern und die Schmach von Versailles aus der Welt zu bringen; 1939 nach dem «Sieg» über Polen läuteten sie die Glocken, sie schwenkten die Fahnen nach dem «Sieg» über Frankreich, sie waren immer dabei. In Paderborn zum Beispiel posierte der Erzbischof und spätere Kardinal Lorenz Jaeger, soeben zurückgekehrt als Militärpfarrer von der siegreichen deutschen Wehrmacht an der Westfront, mit dem Abzeichen des Eisernen Kreuzes aus dem Ersten Weltkrieg vor der Kamera; stolz trug er zu der Uniform, die ihm die Kirche überstülpte, noch diese andere soldatische, deutsch-nationale Auszeichnung des Waffenrocks. Was also blieb Menschenfreunden wie Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky, im Stich gelassen von den «christlichen» Kirchen, anderes übrig, als etwa Anschluß zu suchen an die Utopie der Internationalen, Menschen seien Menschen überall auf der Welt, sie ließen sich nicht trennen, bloß weil es die Kapitalherren wollten? Es war das letzte Wort, das ein DRK-Komitee aus dem Konzentrationslager von Carl von Ossietzky überlieferte, wie er mit leiser Stimme, als ein gebrochener Mensch, wie zur Erklärung für all sein Leiden sagte: «Ich wollte doch nur Frieden.» – Dieser Mann war groß; und könnten wir nicht denken, solche seien es, die glücklich sind? Wir sprechen sie nicht selig, um sie postum bestimmten Kircheninteressen zu weihen, sie sind «selig» einfach in der Kraft ihrer Seele! 162

Doch wenn wir schon an solche großen Zusammenhänge anknüpfen, warum dann nicht auch an die kleinen, an die privaten und intimen Tragödien, zum Beispiel an den fast schon vergessenen Protestanten Jochen Klepper? Manche seiner Gedichte stehen heute noch in den Gesangbüchern der Katholiken wie der Protestanten, – ein wirklich gutes ökumenisches Zeichen könnte allein darin schon liegen. Aber das tiefste, alle verbindende Vermächtnis Jochen Kleppers ist es, daß er, aufgefordert von den Nazis, nach Skandinavien zu emigrieren und dort seine Sicherheit zu suchen, die Bedingung nicht zu erfüllen willens war, die man ihm setzte: seine Rettung zu erkaufen um den Preis, seine Familienangehörigen zurückzulassen. In seinem Tagebuch Unter dem Schatten deiner Flügel beschreibt Klepper, wie sehnsüchtig er gehofft habe, mit seiner Frau Hanna, einer Jüdin, hätte er teilen können, was ihm selbst in so viel Trostlosigkeit Halt gab, den Glauben an den Mann aus Nazaret4; doch sie, die Jüdin, sah in der Gestalt Jesu nicht den Erlöser, nicht den Messias, und wie hätte sie auch sollen, nach zweitausend Jahren «Christentum»? Bis dahin hatte die Religion Klepper und seine Frau Hanna getrennt; aber jetzt, als die Nazis sie auseinanderreißen wollten auf Leben und Tod, war Klepper überzeugt, daß dieser Versuch selbst ein Verbrechen sei. Er trug sich mit Gedanken, die er als treuer Protestant nie hätte denken dürfen. Der bedeutendste Theologe dieser Zeit, Karl Barth, hatte geschrieben, jeder Suizid sei eine unvergebbare Sünde, weil begangen mit erhobenem Arm; es müsse gerade der Glaube die Menschen versichern, daß keine Situation so aussichtslos sein könne, daß nicht Rettung sei bei Gott; bei ihm allein stehe unser Schicksal in Anfang und Ende. Jochen Klepper indessen vertraute darauf, bei einem gemeinsamen Selbstmord mit seiner Frau und seiner Tochter sich vereint in die Hände Gottes werfen zu können. Sollte seine Frau unter den Schergenhänden der Nazis sterben müssen, so würde er mit ihr gehen; anstatt einzeln und getrennt in den Tod gezwungen zu werden, würden sie selbst gemeinsam den Freitod wählen. Klepper schreibt selbst auf den letzten Seiten seines Tagebuches noch, er wisse, daß nach kirchlicher Moraltheologie ein solches Tun mit ewiger Pein, mit nie endender Gottesferne, bestraft werde. Er aber wollte dem Vater Jesu Christi zutrauen, größer zu sein als alle Kirchendogmen; Gott als die Liebe selber, meinte er, werde die Liebenden verstehen, die sich gegenseitig alles sind, das Leben und der Tod; kein Zweifel: Bei allem Schmerz kann es Seligkeit sein, so zu fühlen. Wie also können sich Menschen verhalten, die miteinander derart verbunden sind, wie der Jesus des Johannes-Evangeliums es hier schildert? 163

Wir müssen an dieser Stelle den Text etwas anders übersetzen. Das Problem liegt darin, daß der griechische Wortlaut die Vergangenheitsform verwendet; es ist aber im Griechischen auch üblich, diese Form zu gebrauchen, um eine als sicher bekannte Tatsache in der Gegenwart zu beschreiben; man nennt eine solche Konstruktion, über die wir auch im Deutschen verfügen, in der Sprache der Grammatiker einen Aoristus gnomicus. Wir sagen: «Man hat schon Pferde kotzen sehen», und wollen damit ausdrücken: «Es gibt Dinge, die man in der Vergangenheit kennengelernt hat, die aber auf immer bestehen und die noch heute so sind.» Wenn wir also den Satz vor uns sehen: Wie mich der Vater geliebt, so habe ich euch geliebt, so müßten wir sinngemäß lesen: Wie mich der Vater liebt, so habe ich euch lieb. Da wird eine Gewißheit ausgedrückt, die aus tiefem Vertrauen erwächst, eine Geborgenheit, die sich irgendwann eingestellt hat, die aber jetzt eine Gegenwart beschreibt, die unverbrüchlich ist. Des weiteren sagt Jesus seinen Jüngern, wörtlich wiedergegeben: Nicht mehr nenne ich euch Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; euch aber habe ich Freunde genannt, denn alles, was ich gehört habe von meinem Vater her, – ich habe es kundgemacht euch. Auch hier müssen wir gegen den griechischen Wortlaut übersetzen, um das Gemeinte im Deutschen richtig aufzufassen. «Nicht mehr» würde bedeuten, daß die Jünger doch ehedem Knechte waren, und man müßte davon ausgehen, daß allein solche Knechtschaft zur Freundschaft erziehe; um zu Jesu Freunden zu werden, müßten wir dann erst einmal lernen, gehorsam, pünktlich und genau zu tun, was in den vorgegebenen Weisungen stehe. Entsprechend erklärt man denn auch, nur der könne befehlen, der selbst Gehorsam gelernt habe. Nicht mehr Knechte – das charakterisierte demgemäß ein Verhältnis der Untertänigkeit, das am Ende durch langes Training so routiniert und perfekt verinnerlicht worden wäre, daß es wie im Reflex instinktgesteuerte Handlungsketten hervorbrächte, ähnlich wie der Ton einer Glocke bei Pawlowschen Hunden sogleich den Speichelfluß auslöst. Doch so ist es nicht gemeint. Nicht mehr nenne ich euch Knechte – sollten wir besser so deuten: In alle Zukunft heißt ihr nicht Knechte, sondern die ganze Beziehung ist eingebettet in reine Freundschaft, in zwanglose Nähe; nicht G. W. F. Hegels Dialektik von Herr und Knecht5 findet da statt zwischen Gott und Mensch, zwischen Jesus und seinen Jüngern, sondern ein Austausch in Freundschaft und Liebe. Das Wechselspiel von Weisung und Weisheit, von Gebot und Gesinnung, von Satzung und Setzung, von Ich und Du, ist damit vollkommen beschrieben. Betrachten wir die Liebe als einen Energiestrom und die Weisungen als Ordnungsmuster, so umfassen diese Sätze 164

die gesamte lebendige Wirklichkeit. Alle «Weisungen» im Johannes-Evangelium, die Jesus erläßt, laufen einzig darauf hinaus: Liebet einander, wie ich euch lieb habe. Dann freilich heißt es immer wieder: Wenn ihr meine Weisungen wahrt, bleibt ihr in meiner Liebe, oder: Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch weise; und wir verstehen nach allem Gesagten, daß hier eine Ordnung gemalt wird, die ganz aus innen entsteht, – sich selbst organisierend und regulierend, autokatalytisch, und eben darin in wörtlichem Sinne vital. Auf allen Ebenen zeigen uns die Evolutionsbiologen, daß das Leben im eigentlichen so ist und daß die Strukturen, die es erzeugt, ihm nicht von außen aufoktroyiert werden, sondern sich ganz und gar aus Prozessen entwickeln, die auf sich selber zurückwirken. Gerade eine solche lebendige «Ordnung» der Liebe beschwören die Abschiedsworte des johanneischen Jesus. Alles hängt mithin davon ab, wie wir diesen Text hier begreifen zwischen Inquisition und Freiheit, zwischen Gift und Medikament, zwischen Über-Ich-Tyrannei und Befreiung zum eigenen Leben, zwischen Versinken in Dunkelheit einerseits und einer wachsenden Geborgenheit andererseits. Beglaubigen lassen wird eine solche absolute Hoffnung sich letztlich in der Tat nicht anders, als daß wir sogar angesichts des Todes bleiben, was Jesus hier verspricht: seine Jünger. «Warum denn aber», insistierte vor einer Weile ein Journalist, «brauchen wir dauernd ein Vorbild, zum Beispiel diesen Jesus von Nazaret?» – Diese Frage läßt sich beantworten: Der Grund liegt einfach darin, daß wir in einer Welt leben, die wir in ihrer Finsternis für ganz normal halten würden, die wir alternativlos ganz selbstverständlich so, wie sie ist, akzeptieren würden, gäbe es nicht im finsteren Kerker unseres Daseins wenigstens diesen einen Lichtstrahl, der zeigt, daß eine andere Welt längst schon wirklich ist jenseits der Wände unseres Kerkers und realisierbar selbst im Innenraum der Schatten und der Spukgestalten von Angst und Gewalt, die immer wieder unsere Seele in Beschlag zu nehmen drohen. Weil wir anderenfalls gar nicht darauf kämen, wer wir als Menschen sind, brauchen wir dieses Idealbild einer Güte, die selbst durch den Tod nicht einzuschüchtern ist, indem sie von sich erklärt: «Euch aber habe ich Freunde genannt, denn alles, was ich gehört habe von meinem Vater her, – ich habe es kundgemacht euch. Fortan glaubt ihr nicht mehr an die Macht des Todes, ihr laßt euch nicht länger verwirren aus Angst, ihr zerbrecht lieber die heiligsten Gesetze als die Herzen von Menschen; – für euch ist Weisung und Liebe ein und dasselbe.» So also verhalten sich zueinander Gott und Mensch, so Weinstock und Rebzweig, so Jesus und seine «Jünger». 165

Joh 15,18-26; 16,1-4: Der Welten Haß und Jesu Beistand 18Wenn

die Welt euch haßt, so wißt: Mich hat sie als ersten von euch gehaßt (7,7). 19Wenn aus der Welt ihr wäret, würde die Welt ihr Eigenes lieben (8,23); doch weil aus der Welt ihr nicht seid, sondern ich euch auserwählte, heraus aus der Welt, deswegen haßt euch die Welt (17,14; 1 Joh 4,4.5). 20Erinnert euch des Wortes, mit dem ich euch sagte: Kein Knecht ist größer als sein Herr (13,16; Mt 10,24); hätten sie mich gejagt, so würden sie auch euch jagen; hätten sie mein Wort gewahrt, so würden sie auch das eure wahren. 21Aber das alles werden sie euch antun um meiner Wesensart willen, weil sie den nicht kennen, der mich gesandt hat (8,19; 16,3; Mt 5,11; 10,22). 22Wäre ich nicht gekommen und hätte zu ihnen geredet, so hätten sie keine Sünde. Nun aber haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde (9,41). 23Wer mich haßt, der haßt auch meinen Vater (Lk 10,16). 24Hätte ich nicht Werke unter ihnen getan, die kein anderer je getan, so hätten sie keine Sünde (7,31; 9,41); nun aber: sie haben gesehen, und sie haben gehaßt: mich sowohl wie meinen Vater. 25Doch erfüllt werden sollte das Wort, das in ihrem Gesetz geschrieben ist: Sie haben mich gehaßt ohne Grund (Ps 35,19; 69,5). 26Wenn der Zusprecher kommt, den ich euch sende vom Vater her, den Geist der Unverborgenheit Gottes, der vom Vater ausgeht (14,17; 1 Joh 5,6), wird er Zeugnis ablegen für mich. Und auch ihr legt Zeugnis ab, weil ihr von Grund auf mit mir seid (Apg 1,8.21; 5,32). 16 1Das habe ich euch gesagt, damit ihr nicht strauchelt. 2Zu Exkommunizierten werden sie euch machen (Mt 10,21). Ja, es kommt eine Stunde, da jeder, der euch tötet, denkt, er verrichte einen Gottesdienst (Mt 24,9). 3Freilich, das tun sie, weil sie den Vater nicht kennen noch mich (15,21). 4Doch euch sage ich es hiermit, damit, wenn ihre Stunde kommt, ihr euch daran erinnert, daß ich es euch gesagt habe. Das habe ich euch von Grund auf so (noch) nicht gesagt: daß ich bei euch bin!

Wie so oft im Johannes-Evangelium geht es im 15. und 16. Kapitel um die Frage nach der Stellung des Menschen zu sich selbst und zur Welt. Alles scheint in Bewegung geraten zu sein durch die Botschaft Jesu. Aber nun in einer Rede zwischen Tod und Leben, zwischen Unleben und wirklichem Sein, findet der Jesus des Johannes-Evangeliums für seine Jünger eine Sprache der Zeitlosigkeit mitten in die Zeit hinein. Es geht um das Be166

rühren einer anderen Wirklichkeit, ausformuliert aber wird eben deswegen die Infragestellung der gesamten «Welt»-Wirklichkeit. So also, zwischen Berufung und Bewährung, zwischen Anfechtung und Vertrauen, zwischen Zweifel und Geborgenheit bewegt sich dieser Abschnitt dessen, was wir nennen: die Abschiedsreden Jesu im Johannes-Evangelium. Vielleicht kann man sich am besten in den Text des Johannes-Evangeliums im 15. Kapitel zur Einleitung hineinversetzen mit Edvard Griegs Musik zu Henrik Ibsens Drama Peer Gynt. Niemand hat im 19. Jh., vorgreifend auf die Dramaturgie der Aufgewühltheit der Seele im 20. Jh., so sehr die tragische Odyssee der menschlichen Existenz: ihr Hoffen, ihr Scheitern, ihr Glauben zu beschreiben versucht wie der norwegische Dichter Henrik Ibsen; in seinem psychologisch meisterhaften Bühnenstück schildert er die Gestalt eines Mannes, Peer Gynt, der in dieser Welt alles hätte werden können: ein reicher Unternehmer, ein Wissenschaftler, ein Politiker; er aber zerbricht an allem, weil keine dieser Hüllen der Äußerlichkeit ihn einzuschließen imstande ist und weil sein Verlangen, ein Mensch zu sein, alle erreichten «Erfolge» wie ein Gefängnis auf dem Weg zu sich selber zersprengen muß1. Umgetrieben wird Peer Gynt von einer Liebe, die er verloren hat, die er aber immerfort suchen wird; und eben diese Hoffnung auf eine Liebe, die nie aufhören wird, zu warten, erklingt bei Grieg in Solveigs Lied, dem Gesang einer Frau über eine nie vergessende, alles umfangende Güte2. Man hat dem norwegischen Komponisten in der Fischerstadt Bergen an einem der Fjorde eine Konzerthalle als Denkmal gesetzt, gleich neben seinem Haus, gleich neben der Hütte am Wasser, in der er zu komponieren pflegte. Troldhaugen – «der Hag, an dem die Geister zur Ruhe kommen», nannte er den Ort, ein norwegisches «Wahnfried» in Antwort auf den deutschen Komponisten Richard Wagner in Bayreuth. An Johannes Brahms schrieb Edvard Grieg einmal: «Ich biete Ihnen die Schönheit der Natur und die hellen nordischen Nächte.» Das war rein äußerlich gemeint und doch auch ganz und gar innerlich zu verstehen: Wie findet ein Mensch die Welt so wieder, wie sie aus der Hand Gottes hervorging, und wie bewahrt er sich die Reinheit seiner Träume inmitten einer Welt der Nacht? Vielleicht hat die Seelenheilkunde, die Psychotherapie, im 20. Jh., zumindest in seinen letzten Jahrzehnten, keinen besseren Gedanken hervorgebracht als die Idee, daß selbst das Leid, daß selbst die Krankheit, daß selbst Wahnsinn und Psychose sich nur nach Art eines dynamischen Systems verstehen ließen. Nicht irgend etwas ist da aus den Fugen geraten, sondern es bildet sich, in Erwiderung auf eine Welt der Lebensfeindschaft 167

und -verneinung, eine in sich geschlossene Antwort, die selber in all ihren Teilen eine Art Gegenwelt darstellt. Alle Energie absorbiert sie zu ihrem Selbsterhalt, und es ist nicht möglich, in sie einzudringen, ohne in gewisser Weise die Richtigkeit beziehungsweise die Ordnung ihrer Wahrheit zu verstehen: Man muß begreifen, was da gewünscht, was da erbeten, was da als unbedingt nötig empfunden wird, und erst wenn sich das so Erbetene und Erwünschte in der Realität draußen ein Stück weit verwirklichen läßt, löst sich die Schattenwelt von Angst und Entfremdung nach und nach auf. Die Bibel vor zweitausend Jahren, wenn sie berichten wollte, was Jesus tat, hat nicht psychologisch gedacht, sondern dämonologisch, und doch hat sie in ihren auf uns heute oft absonderlich wirkenden Worten und Vorstellungen etwas mit einer solchen therapeutischen Situation Vergleichbares gemeint: Jesus sei in diese Welt gekommen, schildert etwa das MarkusEvangelium, indem er den Menschen in einer Art Besatzungszustand vorgefunden habe; genau gesprochen, erklärt Markus (als der erste uns erhaltene Evangelist), es habe Jesus diese unsere Welt im Besitze und unter der Herrschaft des Satans angetroffen. Das Reich der Finsternis habe die ganze Welt erobert und eine Gegenwelt des Göttlichen errichtet, erfüllt von Geistern der Zerstörung. In der markinischen Weltsicht bereits erscheinen die Menschen in ihrem Alltag, in ihrer Normalität, wie Sklaven, wie ausführende Organe dieses höllischen Schattenreiches, im Widerspruch zu allem mit ihnen ursprünglich Gemeinten. Zug um Zug, mit jedem seiner Worte, Gleichnisse und Wunder habe Jesus, so Markus, diese Welt zurückzugewinnen versucht für das Reich Gottes. (Vgl. Mk 3,22-30; 5,1-20.) Auch das Johannes-Evangelium beschreibt einen solchen Kampf zwischen Himmel und Hölle, und es greift dabei bestimmte Bilder als vorgegeben auf. Wenn es von «Welt» spricht, meint es – ganz wie das MarkusEvangelium – eine an die Unterwelt verfallene Wirklichkeit. Welt ist für das Johannes-Evangelium beides: das, was wir für gewöhnlich im Alltag so nennen, halt wie es «in der Welt» nun einmal zugeht, eben was man «in der Welt» so tut, und gleichzeitig die radikale Umqualifizierung dieses so ganz Normalen, dieses so überaus Vertrauten. Eben weil diese Welt so ganz vertraut erscheint, ist sie vor Gott eine Ungeheuerlichkeit; aber man würde diese Tatsache nicht wahrnehmen, ohne zuvor so etwas empfunden zu haben wie eine neue Berufung. Sie bildet die eigentliche Erklärung zu den Worten des vorangehenden Abschnittes in Joh 15,16, wo Jesus zu seinen Jüngern sagte: Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt. Man hat, wie üblich in der Theologie, auch und gerade diese Worte in 168

systematischer Absicht in ein bestimmtes logisches Ganzes zu bringen versucht. Vor allem Johann Calvin zog aus Textstellen wie diesen die Folgerung, nicht der Mensch wähle in seiner Freiheit Gott, sondern alles stehe in der Gnadenwahl Gottes3. Gott sei der Souverän, der über alles entscheide, und der Mensch sei nur sein Werkzeug oder sein Spielball. Nicht ihr habt mich erwählt, das bedeutete für den großen französisch-schweizerischen Reformator die Ohnmacht des Menschen, die Ausgeliefertheit seiner vermeintlichen Selbstverfügung, je nachdem an das Satanische oder an das Göttliche, denn nur Gott selber vermöge den Menschen aus der Klammer des Abgrunds zu erretten. – Man wird Calvin bis dahin zustimmen müssen, daß es niemandem möglich ist, sich selber aus einer Welt zu befreien, die sich ihm alternativlos so darbietet, wie sie es tut; er hat gar keine andere Chance, als sich ihr zu fügen und ein jedes ihrer Gebote und Vorschriften zu übernehmen; es scheint aussichtslos, sich darüber hinaus etwas anderes auch nur vorzustellen, und wollte tatsächlich jemand etwas Neues, Eigenes probieren, vielleicht sogar unter dem Druck schweren persönlichen Leids, würde man ihn sehr bald wieder zur Ordnung zurückrufen, um ihm die Phantastereien abzugewöhnen, um ihm zu sagen, daß er gewissermaßen die Pflicht habe, ein ordentlicher, ein in der Welt verantwortlich handelnder Mensch zu werden. Möglicherweise sind wirklich die ersten Hörer der Botschaft Jesu die am meisten Leidenden, Verzweifelten, die diese Welt nicht ertragen können noch wollen; – sie zumindest bleiben sensibel für die Unzumutbarkeiten, für die Ungeheuerlichkeiten dessen, was sich täglich begibt, und die Antwort auf ihre physische und psychische Not kann immer wieder nur, wie in Peer Gynt, die Suche nach einer wartenden Liebe sein, die trotz allem am Ende der Welt, am Zielpunkt aller Anstrengungen, uns nicht vergessen hat. Die ganze Wahrheit, die Johann Calvin mit den harten dogmatischen Begriffen der Gnadentheologie zu präzisieren versuchte, steht im JohannesEvangelium unausgesprochen zwischen den Zeilen: es kommt darauf an, daß es ein Gegenüber gibt, das uns meint, das möchte, daß wir Augen dafür gewönnen, in unserer Existenz etwas Gewolltes, etwas Einmaliges zu sein. Das ist es, wonach ein jeder Mensch am meisten sich sehnt. Alles in der Welt zeigt und belehrt ihn womöglich, daß er ein Nichts sei, etwas Beliebiges, etwas Manipulierbares, etwas Bedeutungsloses; aber nun der Gedanke, eine besondere Berufung zu besitzen, etwas zu sein, das in sich selbst Geltung, Wert und Würde trage! Man kann die Idee der Auserwählung nur jedem Einzelnen nahebringen; nie ist sie in großer Zahl zu vermitteln. Es gibt keine Auserwählung in Massen, – schon deshalb ist die 169

Vorstellung eines «auserwählten Volkes», bezieht man sie nicht als Symbol auf die Existenzweise individueller Menschen und auf die Form eines religiös vermenschlichten Zusammenlebens, in gewissem Sinne eine nationalistische ideologische Selbstverführung, ein gruppenegoistischer Wahngedanke. Wie denn soll man, in Reih’ und Glied angetreten, sozusagen nach Uniformen dekoriert, «Auserwählung» zelebrieren können, ohne menschlich alles zu verraten, was mit diesem so sensiblen, so persönlichen Wort gemeint wäre? Auch das droht ja sofort, das heißt es droht nicht nur, es ist sogleich die Gefahr einer christlich-dogmatischen Auslegung des Textes, daß nun wir, die Gläubigen, die Jünger Jesu, eben aufgrund unserer «Ausgewähltheit» die gesamte Welt, alle Menschen vor, neben und nach uns, zu widerlegen hätten als in der Sünde gefangen, als der Hölle überantwortet; nur wir wären da die Geretteten, – was für ein fanatischer Irrsinn! Doch übersetzt man solche Worte der «Erwählung» bei Johannes ins Zärtliche zurück, ins ganz und gar Dialogische, ins Intime, dann klingen sie stimmig, und man versteht, welch eine buchstäblich psychotherapeutische Kraft in ihnen liegt. Jeder, der seelisch leidet, findet sich in einer Welt vor, die zerschlagen wurde, kaum daß sie sich in seinem Bewußtsein ordnen konnte. Noch ehe sein eigenes Ich nach und nach erstarkend sich zu bilden vermochte, waren die Prägekräfte der Umwelt, der Erziehung, des Milieus, der Personen ringsum, von den Eltern beginnend bis hin zu den «Ausbildern», bis hin zu den Machthabern in Kultur und Staat, maßgebender, wichtiger, entscheidender als die versuchsweise Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen und Selbstentwürfen. «Eigene Wünsche – die sind das Egoistische, das Individualistische», hat man ihm eingeredet, «die sind das Verbotene», mit einem Wort. – Dabei ist eines ganz klar: Nur wenn das Gefühl wachsen könnte, selber sein zu dürfen, ließen all diese Erfahrungen von Selbstentfremdung und Lebensverneinung sich noch einmal überreifen in einer größeren Kraft der Liebe. Doch diese Liebe müßte sich weiten, sie bräuchte so viel Geduld, sie benötigte ein unglaubliches Maß an Zeit, um neu Wurzeln in einem Boden zu fassen, der wie vergiftet ist, und junge Blätter zu treiben in einem Klima, das zu kalt ist, unter Winden, die zu rauh und stürmisch sind: – wie soll da die nötige Lebensenergie aus der Erde durch den Stamm bis in die Blüten emporsteigen? Gerade darin aber besteht seelische Heilung, daß sich eine neue psychische Struktur bildet, die das System von Zwang, verinnerlichter Gewalt und selbstzerstörerischer Überforderung von innen her umgestaltet. Immer wenn eine neue Gelegenheit, selber zu sein, auch nur andeutungsweise in einer Welt der organisierten Lebensverweigerung bemerkbar wird, ist es, wie wenn in einen 170

Körper ein Virus eindringt, – eine Lebensform, die eigentlich nur sich selber erhalten möchte, die aber nun auf die gesammelte Abwehrkraft des in sich geschlossenen, zweckmäßig organisierten Immunsystems des Wirtsorganismus als seines Feindes trifft. Jede Neurose, jede Psychose wird als ein in sich geschlossenes System um ihr Leben ringen und ihr Scheinleben zu verteidigen trachten. Das ist wohl die Erklärung dafür, daß das Johannes-Evangelium Jesus hier sagen läßt: «Deswegen haßt euch die Welt – weil ich euch auserwählte, – weil ihr von mir seid, weil ihr so anders seid, weil ihr Gott kennt als den Vater.» Da ist etwas spürbar, das man auf der einen Seite dringend braucht, um zu einer eigenen Person zu reifen, das aber auf der anderen Seite alles Bisherige in Frage stellt. Das merkwürdigste, das rätselhafteste Moment im ganzen Neuen Testament ist ohne Zweifel die Tatsache, daß man einen Menschen wie den Propheten aus Nazaret mit einer solchen Konsequenz, mit einem derart unerbittlichen Haß in so kurzer Zeit in den Tod treiben konnte – ja, geradezu in den Tod treiben mußte! Vielerlei Opfertheologie hat man späterhin in priesterlicher und theologischer Absicht um das Schicksal Jesu gerankt, die Wahrheit aber ist viel einfacher: Man zeige einem Menschen, der alles gegeben hat, was man von ihm verlangte, der sich selber verschlissen hat bis zum äußersten und der darin seinen Stolz, seine Anerkennung, die Prämie der Wertschätzung von seiten aller anderen gesetzt hat, daß sein eigentlich so grausames, strenges, in sich starr gewordenes Leben auf diese Weise gar nicht nötig war! Ein solcher Mensch wird sich in allem wie widerlegt fühlen, er wird ringen um den letzten Besitz seiner Leistung, der ihm noch verbleibt, und er wird denjenigen am meisten ablehnen, der ihm am innigsten helfen könnte. Er wird hassen, was er im Grunde als Liebe spürt und mit Liebe beantworten möchte. Es ist, wie wenn man die Inuit – trainiert durch Jahrtausende an das Überleben im ewigen Eis, fähig, selbst mit den Knochen getöteter Tiere auf Jagd zu gehen und aus ihrem Fell Gewänder und Pelze zu schneidern, geübt in der Kunst, Eisblöcke zu bewohnbaren Häusern aufzuschichten – sagen würde, es gebe, nur wenige hundert Meilen südwärts, blühendes Land, und all ihr Kampf in der ewigen Wüstenei aus Eis und Schnee sei durchaus nicht erforderlich; man lüde sie ein zu einem ganz anderen Dasein, milder, gütiger, weniger streng, mit mehr an erdenklicher Freude! Alles, was diese Spezialisten des ewigen Eises gelernt haben, würde man ihnen damit als etwas Nutzloses entziehen. Sie würden eine solche Einladung nicht erleben wie einen Aufbruch in ein schöneres Leben, sondern wie die Widerlegung von allem, was sie sich unter so viel Mühe angewöhnt haben. Daher kommt die Neigung, gerade 171

das, was uns leben ließe, als Bedrohung zu empfinden und sogar das zu hassen, was wir als Resonanz der Liebe selber in uns fühlen. Bei jedem Prozeß psychotherapeutischer Heilung wird man das nämliche Phänomen antreffen: da wächst eine Chance, mehr an Freiheit zu gewinnen, und augenblicklich beginnt der Abwehrkampf alter Angst: Als erstes steht da kein freudiges Ja zu erwarten, sondern ein krampfhaftes Nein, eine Weigerung, über die Schwelle zu treten; – es hat ja die alte Gefangenschaft uns auch Sicherheit und Vertrautheit geboten! Jeder, der zu Hause ein Vögelchen hält, wird etwas Vergleichbares kennen: Eigentlich verfügt der Vogel über Flügel, die ihn weit in die Freiheit hineinheben könnten und ein ganzes Luftreich unter seine Schwingen legen ließen. Dennoch wird dieses Tier, wenn es Angst bekommt, immer wieder die Gitterstäbe seines Käfigs aufsuchen. Das, was es gefangenhält, ist gleichermaßen sein Schutz. So auch unsere Seele. Erst ganz langsam wird sie sich an ihr wirkliches Format gewöhnen, erst nach und nach, wenn ihr Vertrauen stärker wird, wird sie überhaupt das Maß ihrer eigenen Berufung und Befähigung wirklich zu ergreifen imstande sein. Nur über all diese Gegenwehr von Widersprüchen, von Haßgefühlen und sogar von wachsender Verzweiflung hinweg bahnt sich der schmale Pfad von Glück und Selbstbestimmung. Nicht selten erklären «politische» Theologen, daß eine psychotherapeutische Interpretation des Evangeliums ein bürgerlicher Luxus sei, etwas ganz und gar Überflüssiges. Psychotherapie, so wissen sie, könnten sich ohnedies nur die Reichen leisten; die aber kümmerten sich nur um sich selbst und ließen sich pflegen, statt die wirklichen Probleme dieser Welt anzufassen; außerdem habe diese Form der Selbstbespiegelung, der Dauerreflexion, der Ichverhaftetheit überhaupt nichts, aber auch gar nichtszu tun mit der erlösenden Botschaft des Jesus aus Nazaret. Dieses Vorurteil ist oft zu hören und gilt für ein kategorisches Verdikt. Doch alle, die so sprechen, sollten sich am besten einmal anschauen, was ein Mensch durchmacht, der aus dem ganz normalen Unglück einer ganz normalen bürgerlichen Familie herauswächst und nach und nach für sich selbst verantwortlich wird – als eine erwachsene Persönlichkeit, als ein reifer Mensch. Muß er nicht all das, was man ihn gelehrt hat, noch einmal umlernen? Und ist das nicht viel schwieriger, als sich etwas einfachhin Neues unter an sich neutralen, weniger vorbelasteten Voraussetzungen anzueignen? Vor einer Weile sagte jemand: «Was Sie mir hier in den Gesprächen zumuten, habe ich schon einmal erlebt, als Kind bereits. Ich sollte ein Musik172

instrument spielen lernen, ich hatte auch zwei Jahre lang schon geübt, als ich einen neuen Lehrer bekam, der mir beibrachte, daß meine ganze Grifftechnik, die ich bis dahin trainiert hatte, verkehrt sei. Ich hätte den Mann erschlagen können vor Zorn. Er versicherte außerdem noch dabei, daß alles viel einfacher werde, wenn ich seine neue Grifftechnik erst routiniert anwenden könnte; aber für mich war eine solche Umschulung natürlich das Allerschwierigste. Ich hatte ja etwas gelernt; jetzt aber mußte ich alles noch einmal umlernen, ich mußte sogar gegen meine Gewohnheit anlernen. Dabei bezieht diese Schilderung sich nur auf zwei Jahre Musikunterricht! Dies jetzt, worüber wir reden, ist indessen mein ganzes Leben, das sind immerhin etliche Jahrzehnte, all das, woran ich bisher geglaubt habe, was mir vernünftig erschien, was man mir vorgelegt hat als das schlechthin einfache, natürliche Leben.» – Erst wenn man begreift, daß seelisches Leid eine in sich geschlossene Welt bildet, versteht man, daß «Heilung» nur gelingen kann als Totalwiderlegung, nicht als Korrektur in diesem und jenem Detail, sondern als ein Anschlag gegen das Ganze. Wir können, ja, wir müssen dieses therapeutische Modell durchaus auch auf die Welt im wörtlichen Sinn übertragen, wie Johannes sie hier in den Abschiedsreden schildert. Nicht nur die Sphäre des Individuums wartet auf ihre Vermenschlichung, die gesamte Welt befindet sich in einem Zustand, der, mit den Augen des Mannes aus Nazaret betrachtet, einer Ungeheuerlichkeit gleichkommt. Der Jesus des Johannes-Evangeliums sagt das in äußerster Zuspitzung: Wäre ich nicht gekommen und hätte zu ihnen geredet, so hätten sie keine Sünde. Das soll heißen: Wenn sie eine Alternative nie gezeigt bekommen hätten, könnte man durchgehen lassen, daß alles so läuft und daß sie so weitermachen wie bisher; sie hätten ja nie die Möglichkeit gehabt, noch einmal neu Stellung zu beziehen. Deutlicher gesprochen: Hätte der Mann aus Nazaret unter uns seine «Werke» nicht gewirkt, behielten wir eine mögliche Ausrede für unsere Art zu leben, eine Entschuldigung für unsere «Sünde». So aber sind wir unentschuldbar. Das ist wieder die charakteristische Sprache des Johannes-Evangeliums. Immer wieder betont es, Jesus sei nicht gekommen, um zu richten, dann aber redet sein Jesus ständig Worte einer vollkommenen Verurteilung, und man kann nur begreifen, wie beides ineinandergeht, wenn man dieses Ringen um die Welt des Menschen vor Augen hat – ein ständiges Suchen, für etwas Verständnis aufzubringen, das im Grunde empörend ist, etwas durchzuarbeiten, das sich monströs auswirkt, und mit aller Macht zu fordern, bereitzustellen, anzubieten, darauf zu dringen, daß eine andere Welt lebbar ist und längst schon lebendig sein sollte. 173

Wir müssen, um zu erklären, was Johannes oder was sein Jesus hier meint, nur die ersten Zeilen noch einmal genau lesen: «Wenn aus der Welt ihr wäret, würde die Welt ihr Eigenes lieben; doch weil aus der Welt ihr nicht seid, sondern ich euch auserwählte, heraus aus der Welt, deswegen haßt euch die Welt, und das einzige, was euch dabei bleibt, ist der Zuspruch, der Zusprecher, der Geist, der euch versichert, daß ich bei euch bin, so wie ich es euch in dieser Intensität der Verbundenheit und der Erfahrung einer gültigen Wirklichkeit bisher noch nie gesagt habe. Alles wird bei euch, je mehr ihr euch auf mich einlaßt, so sein, wie es mir selbst widerfuhr. Die Weichen sind längst gestellt, und es gibt nur dieses Entweder-Oder.» Es ist in diesem Sinne eine absolute Frage auf Leben und Tod, was man in dieser Welt will. Nehmen wir zur Veranschaulichung einmal die Berichterstattung, die, gewissermaßen in der journalistischen Nachfolge des großen Autors Lion Feuchtwanger, weit weniger genial zwar, auch weniger virtuos meist, kleinkariert oft, aber immerhin, in dem Magazin Der Spiegel uns Woche für Woche geboten wird. Lion Feuchtwanger war ein Meister in der Schilderung menschlicher Schicksale eingebunden im geschichtlichen Unglück. Da webt jemand auf dem Thron der Mächtigen einen bestimmten Faden; unter Umständen hat er es dabei noch gut gemeint; vielleicht wollte er, daß ein bestimmtes Gefüge in das Muster sich einpräge, aber sehr bald schon wird es von anderen durchkreuzt. Ein geringfügiges Mienenspiel während einer Verhandlung, und die Überlegungen des Kontrahenten gehen in eine völlig andere Richtung4; Menschen kennen in dieser Welt einander nur, um sich zu belauern; jeder denkt sich in die gegnerischen Berechnungen hinein, übernimmt sie, instrumentalisiert sie, verwandelt sie in seinen eigenen neuen Plan; aber auch der Gegner eignet sich die Ideen seines vermeintlichen Widersachers zur Instrumentalisierung für seine eigenen Absichten an. In all den Komplikationen ist es unmöglich, so etwas wie eine Entwicklung zum Menschlichen auszumachen oder wie eine Logik der Vernunft zu bestimmen. Die Besten kommen dabei unter die Räder. Sie glauben, zumindest durch ihr Opfer etwas aufhalten oder retten zu können, doch in Wahrheit wird ihr Bemühen ständig vergeblich sein5. Die Welt des Lion Feuchtwanger ist gewissermaßen das, was das Johannes-Evangelium hier als die Welt schlechthin bezeichnet, und es ist beim Lesen seiner Romane über die Zeit des alten Israel oder über die Zeit der Nationalsozialisten (Die Geschwister Oppermann6) durchaus nicht möglich, auch nur auf die Idee zu kommen, irgend etwas in den letzten zweitausend Jahren habe sich geändert oder es sei auch nur vorstellbar, 174

daran etwas zu ändern, außer man würde jeden einzelnen Menschen bei der Hand nehmen und ihm zeigen, wie er herausfände aus all den Festlegungen, in die er sich von innen wie von außen verflochten hat. In einer Spiegel-Ausgabe im Juni 1996 zum Beispiel konnte man einen Bericht über den amerikanischen Vorwahlkampf finden und darin lesen, wie Präsident Bill Clinton als Kind aufwuchs, wie er als Schüler sich durchgesetzt hat, wie er auf dem College sich zu behaupten versuchte, wie er als Gouverneur von Arkansas regierte und wie er schließlich zum Präsidenten der Vereinigten Staaten wurde, zu dem ersten Mann, zur Number One, – und man lernt den Preis dafür kennen; denn man begreift: Man wird in dieser Welt Macht nur gewinnen können um den Preis der ständigen Lüge. Man sieht einen Mann vor sich, dessen Frau einmal gegen die Todesstrafe demonstrieren wollte; aber kann ein Gouverneur von Arkansas in der Politik bleiben, wenn er entgegen dem «gerechten» Zorn der Volksmeinung ein Gnadengesuch unterzeichnen würde? Müßte er sich nicht, falls er zustimmt, den Widerstand all der untadeligen und gerechtigkeitsbewußten Männer von Arkansas zuziehen? In dem Spiegel-Bericht erfährt man von einem Bill Clinton, der genau weiß, daß der Krieg in Vietnam ein Verbrechen ist, und der die Einberufung dazu als monströs empfindet. Aber er kann diese seine wahre Meinung nicht sagen, er darf sie nicht kundtun; denn würde er sie öffentlich äußern, wäre seine politische Karriere zu Ende, noch ehe sie recht begonnen hätte. Also bleibt ihm nur, sich mit windigen Winkelzügen aus der Affäre zu ziehen7. Oder: Es kann sein, ein Politiker hält eine Rede, zuvor aber telefoniert er mit den Leuten, die er attackieren wird, um ihnen zu sagen: «Ihr müßt das richtig verstehen. Wir machen unser Spiel jetzt, wir brauchen eine gewisse Stimmung im Volk, nehmt es mir nicht übel; in Wahrheit sind und bleiben wir Freunde. Nur: das dürfen und brauchen derzeit noch nicht die Leute draußen zu wissen!» So macht man Wahlkampf, so macht man Politik, so verrät man jeden Tag seine innere Überzeugung! Wäre es möglich, es gäbe Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit nur um den Preis, Abschied von der Macht nehmen zu wollen? Offenbar! Man würde auch nur bei einer einzigen Gelegenheit gegen die Todesstrafe sein, glaubhaft, menschlich und entschieden, – und alles wäre vorbei, natürlich! Man würde sich ein einziges Mal einsetzen gegen den Krieg, konsequent, vertrauenerweckend, verbindlich, – und alles wäre zu Ende! Man wäre kein vernünftiger Mann, man gälte nicht mehr als ein wählbarer Patriot, man würde nicht länger als Verteidiger der Großmachtstellung der Vereinigten Staaten von Amerika angesehen! Aber läge es nicht auf der Hand, 175

man könnte nur so etwas Unentbehrliches gewinnen: sich selbst nämlich! Es käme endlich Wahrhaftigkeit in das eigene Leben. Man könnte irgendwann wieder morgens aufstehen und müßte nicht mehr vor dem Spiegel «cheese» grinsen, nur um eine wählbare Visage zu erhalten; man könnte sich selber wieder ehrlich ins Gesicht schauen. Wäre es dann nicht geradezu verlockend, man könnte sich die Unsummen an Ausgaben für Rechtsanwälte sparen, weil man einfach bekennt: «Das habe ich getan, und dies habe ich nicht getan»? Man würde nicht zur Weisheit des politischen Umgangs das Motto ausgeben: Wenn sie dir etwas anhängen wollen, gerade wenn du weißt, daß es stimmt, streite dennoch alles ab und mach weiter wie bisher. Was machen wir aus Menschen beim Kampf um die Macht, und was sind das für Leute, die die Macht erringen? Niemals dürfen sie dem widersprechen, was die Menge will. Mit anderen Worten: Sie regieren nicht, sie sind lediglich die Strohpuppen der öffentlichen Meinung, die sie ihrerseits ködern, indem sie in vorauseilendem Gehorsam möglichst exakt ihre absurden Slapsticks tanzen. Dann fällt die Presse darüber her und vervielfältigt die Wirkung des Ganzen, – ein Feuchtwangersches Tragödienspiel oder Komödienspiel, je nachdem, ob man es vor oder hinter sich hat. Oder eine andere Begebenheit: Im Herbst des Jahres 2002, während diese Zeilen geschrieben werden, wird es zur Hauptfrage der Regierung von George W. Bush, mit was für Vorwänden und Behauptungen sein eigenes Land und vor allem die UNO auf einen Krieg gegen den Irak eingeschworen werden können; angeblich geht es darum, die Welt friedlicher und sicherer zu machen; man darf kaum noch im Rahmen der politischen Korrektheit darauf hinweisen, daß es im Wettlauf mit Franzosen und Russen um die Interessen der amerikanischen Erdölindustrie an den Erdölreserven am Golf geht und man dafür bereit ist, viele tausend Araber zu töten8. – Politische Zielsetzungen und Vorgehensweisen dieser Art sind unendliche. Für Johannes vor zweitausend Jahren sah die Welt im antiken Römischen Reich durchaus nicht anders aus, nur stellte er sich die Frage: Wie werden wir zu Menschen, die sich in dieser Welt nicht länger korrumpieren lassen? Mag sein, derartige Menschen bewegen in einer Welt wie dieser äußerlich gar nichts, sie sind völlig außerstande, irgend etwas im Kampf um den Erwerb und den Erhalt von Macht zu erreichen; sie werden keine Bankiers, sie drehen nicht strafverschärfend an den Rädern der Gesetzesmühlen, sie reüssieren nicht in der Verwaltung staatlicher und kirchlicher Institute und Institutionen, ganz im Gegenteil: sie werden versuchen, 176

sich von all dem möglichst weit zu distanzieren. Es war zeitgleich zum Johannes-Evangelium, daß einer der besten römischen Schriftsteller und Historiker, Tacitus, in seinen Annalen einen winzigen Satz auch über die Christen übrig hatte; er sagte, daß unter den Juden, die nach Rom wie in eine Kloake geschwemmt worden seien, sich auch eine Gruppe befinde, die sich Christen nenne; dieser Personenkreis gehe zurück auf einen Mann, der unter Kaiser Tiberius (14-37) ans Kreuz geschlagen worden sei; diese «Christen», fügte er hinzu, seien der Haß des ganzen Menschengeschlechtes, das «odium totius humani generis».9 Tacitus kam zu diesem Urteil, weil er feststellte, daß dieser Kreis von Jesusjüngern alles anders macht, als es für «normal» gilt. Wo die übrigen die Macht in Gestalt des vergöttlichten Kaisers anbeten, weigern sich diese; wo es für ganz normal angesehen wird, Wehrdienst zu leisten für die Verteidigung der Vormachtstellung Roms, verweigern sie sich; wo alle anderen sonst ihre Feste feiern, halten sie sich abseits und nennen es Gotteslästerung. Diese Christen sind und wollen die absolute Ausnahme sein und durchsetzen. – Selbst anderthalb Jahrhunderte später noch kann in Nordafrika der Kirchenvater Cyprian über den Zustand dieser Welt notieren: »Wenn ein Einzelner einen Menschen ermordet, dann nennt man ihn einen Verbrecher; zwingt aber der Staat seine männlichen Bürger zur Ermordung von Tausenden, dann nennt man den, der es tut, tapfer, stark und zuverlässig; man erklärt das Verbrechen für Tugend; drum trieft die Welt von Blut.»10 Das Christentum fing einmal mit der radikalsten Revolution an, die die menschliche Geschichte je gesehen hat: mit einem Entweder-Oder aus Liebe zum Menschen, aus Liebe zu Gott. Besser den ganzen Haß der Welt als das geringste Nachgeben! Das ist tatsächlich der «Zusprecher», der «Versprecher», den Jesus hinterlassen hat, seinen Geist, der immer wieder in der Kraft einer größeren Bejahung Nein sagen wird zu all dem ganz Normalen, was da Welt heißt. Deren ganze Logik, deren Sichtweise wird und kann nicht mehr akzeptabel sein in den Augen von Menschen, die diesen Geist Jesu in sich aufgenommen haben: Sie wollen nicht länger, daß die Welt so bleibt, wie sie ist! Natürlich wird diese sogenannte Welt sich wehren wie jedes in sich geschlossene System im Verteidigungsfall. Es genügt, nur an ein paar Stellen dezidiert genug zu widersprechen: gegen die Normalität etwa, mit der man junge Menschen auf den Kasernenhöfen der Welt zum Töten dressiert; gegen die ganz alltägliche Quälerei im Umgang mit Tieren in der Massentierhaltung; gegen die Todesstrafe in den USA; gegen die Folterpraktiken des israelischen Mossad; gegen die Waffenexporte der Bundesrepublik … Ein paar Beispiele nur genügen, – verficht 177

man diese konsequent, sagt man auch nur in wenigen Punkten entschieden Nein, zugunsten von ein bißchen mehr Menschlichkeit wird man heftige Aggressionen provozieren und schließlich im «Erfolgsfall» auf den systematisierten, organisierten Haß all derer treffen, denen an dem Erhalt der «Welt», wie sie sie kennen, gelegen ist. Etwas anderes darf nicht hochkommen, es ist eine Krebsgefahr, es ist ein tödliches und deshalb zu tötendes Virus, – so reagiert jedes System auf eine zentrale Infragestellung. Darum kann es nicht anders sein, als daß wir uns werden entscheiden müssen. Wer denkt, die Sache Jesu lasse sich organisieren, begeht den ersten Fehler schon darin, daß er glaubt, einen berechenbaren Erfolg aus der Botschaft des Mannes aus Nazaret ableiten zu können. Vermutlich ist das der Kern des Irrtums, den wir heute «Kirche» nennen: Man nimmt die Botschaft Jesu, faßt sie in eine bestimmte Form, definiert eine Gruppe von Menschen als Gläubige, schreibt einigen unter ihnen eine zentrale Führung und Leitung zu und erwartet dann kalkulatorisch die Durchsetzung dieser neu geschaffenen religiösen Elite. Man erhält bei diesem Vorgehen nichts weiter als das Gegenbild dessen, was es immer schon gab: Politik, lediglich unter anderem Vorzeichen. Man hört auf, Jesus verstehen zu wollen, der es vorzog, daß wir selber mit unserer Existenz für das geradestehen, was gilt. Kaum eine andere Belohnung wird den Jüngern von dem johanneischen Jesus verheißen, als daß sie, mitten im Durcheinander oft, ordnend, gestaltend, leise und stark trotz allem die Stimme hören könnten, die wie flüsternd durch den Sturm ihnen und uns versichert: «Ich bin bei dir.» Und einzig diese Begleitung nicht zu verlieren ist das Wesentliche unseres Lebens – einer solchen Peer Gyntschen Odyssee, eines angesichts der Umstände fast schon lachhaft wirkenden Suchens nach Liebe, eines Zersprengens all der äußeren Formen, die so verlockend sind und doch nichts weiter darstellen als ein viel zu frühes provisorisches Verweilen an Stätten, die doch niemals zu Orten innerer Ruhe werden. Nur: Wo vermenschlicht sich diese Welt? Wo hören wir auf, die falschen Helden zu verehren, die sich immer von neuem rühmen, möglichst viele Menschen für ihren «Sieg» totgeschlagen zu haben? Das Christentum, die Botschaft Jesu, ist eine vollendete Gegenwelt zu der Travestie des Göttlichen, die wir normal nennen. Alles ist da dialektisch, doch nur, um endlich mit sich identisch zu werden, – geradlinig, mutig, lebendig, unbelastet in gewisser Weise; in Auseinandersetzungen ständig, aber nie mehr allein; behütet inmitten aller Ausgesetztheit; von allen Seiten bedrängt, und doch ohne Angst; verfolgt, doch nicht verlassen; in steter Todesnähe, und doch verbunden dem Leben. So wird es Paulus 178

darstellen in 2 Kor 4,8-10. Es gibt kaum einen Text, der derart lyrisch in Worte faßt, was christlich zu existieren bedeutet! Damit gegeben ist allerdings auch das Ende der Ausreden, vor allem der so wohlfeilen Erklärungen, das, was Jesus wollte, sei schön gesagt gewesen, lasse sich aber (noch) nicht im Vollsinne leben, – noch sei das Himmelreich halt nicht gekommen. So ist es die Haltung der «christlichen» Kirchen bis heute: Jesu Worte, freilich, die möchte man gern glauben, nur die Tatsachen, das heißt die politische und wirtschaftliche Realität, stünden, leider, dagegen. – Gerade wider eine solche Einstellung bloßer «Bekenntnisse» spricht der Jesus des Johannes-Evangeliums von seinen «Werken». Er hat gezeigt, wie es gehen könnte, er hat mit seiner Existenz bewiesen, daß diese andere Welt wirklich ist, keineswegs ist sie nur erträumt, keineswegs ist sie utopisch. Der johanneische Jesus hat Menschen, bildlich verstanden, bis zum Weinrausch glücklich gemacht, beginnend mit den Wundern seiner Werke auf der Hochzeit zu Kana. Er hat Brote den Hungrigen geschenkt, und er lehrte seine Jünger, bloßen Fußes über das Wasser zu wandeln; er heilte Blinde, indem er sie mit eigenen Augen sehen ließ; er erweckte einen Toten aus den Gefängniskammern seines Grabes, – so waren seine Taten, das war seine Wirklichkeit. Selbst totgesagte Menschen wie Lazarus, wenn man nur aus innerstem Herzen an sie glaubt, können auferstehen in ihr Dasein, und uns können die Augen sich dafür öffnen. Uns, die wir wähnten, im Dunkeln zu sehen – Nachteulen gleich, als geborene Kinder der Dunkelheit, als Ausgeburten der Finsternis, vollkommen angepaßt schon an die Lichtlosigkeit –, uns könnten Augen werden für die Herrlichkeit des Lichts! Wir könnten werden zu Kindern der Sonne, zu Vermählten der Schönheit, und all das wäre nicht nur möglich, es wäre das wirkliche Leben. Erwählte wären wir, wenn wir’s nur erwählen würden. Mit den Worten des Epheser-Briefes (5,14): «Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird Christus dir als Licht aufgehen.» Die Auferstehung des Lazarus (Joh 11,9.43) – auf diese Weise tritt sie ins Leben inmitten der «Welt».

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Joh 16,5-15: Zwischen Welt und Gott, Schmerz und Glück, Angst und Frieden oder: Die einzig ernstzunehmende Alternative 5Nun gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat, und niemand von euch fragt mich: Wohin gehst du (7,33; Mk 9,32!)? 6Vielmehr weil ich das zu euch gesagt habe, hat Trauer euer Herz erfüllt (Mt 17,23). 7Doch ich sage unverstellt zu euch: Zuträglich ist es für euch, daß ich fortgehe; denn wenn ich nicht fortgehe, kommt der Zusprecher nicht zu euch (14,16); wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch schicken. 8Dann, wenn er kommt, wird er die Welt überführen in puncto: Sünde, rechtes Leben vor Gott und Gericht, – 9Sünde, weil sie nicht vertrauen auf mich (15,22.24); 10rechtes Leben vor Gott, denn ich gehe zum Vater und ihr schaut mich nicht mehr (Apg 5,31; Röm 4,25); 11Gericht, denn der Herrscher dieser Welt ist gerichtet (12,31). 12Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen (1 Kor 3,1). 13Wenn aber jener kommt, der Geist der Unverborgenheit Gottes (14,17), wird er euch leiten in aller Unverstelltheit. Denn nicht wird er reden aus sich, sondern was er hört, wird er reden, und das Kommende tut er euch kund. 14Er wird mich verherrlichen (8,54), denn aus dem Meinen wird er nehmen und tut es euch kund. 15Alles, was der Vater hat, ist mein. Deswegen habe ich gesagt: Aus dem Meinen nimmt er und tut es euch kund (3,35; 17,10).

Es ist eine sehr merkwürdige Erfahrung: Jemand, den wir wirklich lieben, kann nicht von uns gehen. Selbst wenn er stirbt, bleibt er doch bei uns, und alles, was wir von ihm in uns aufgenommen haben, redet zu uns weiter und erklärt sich uns inniger. Vielleicht sind unsere Eltern vor vielen Jahren schon gestorben; aber es ist ganz sicher, daß wir sie heute weit besser verstehen als damals, als wir noch mit ihnen sprechen und sie nach allem befragen konnten. Alle Traurigkeit beim Abschied eines Menschen, den wir lieben, weigert sich, den anderen gehen zu lassen; er hätte immer bei uns bleiben müssen, sagt uns das Gefühl, und um ihn bei uns zu behalten, dem Tod zum Trotz, die Trennung leugnend, nehmen wir ihn innerlich noch tiefer in uns auf als jemals vorher. Sein Bild, seine Gestalt, das, was er geistig für uns ist, bleibt unser Trost und Beistand und bietet uns Orientierung und Halt. In den «Abschiedsreden» versucht das Johannes-Evangelium die Frage zu beantworten, wie es denn nun weitergehen soll – in dem ständig wach180

senden Abstand der Zeit gegenüber der Botschaft Jesu –, und seine Lösung lautet: daß Jesus niemals aufgehört hat, zu uns zu reden. Es geht nicht darum, historisch korrekt zu überliefern, was er vor zwei, drei Generationen gesagt hat, es kommt darauf an, nach innen zu hören, was er uns dort in ewiger Gegenwart, im Augenblick heute, zu sagen hat. Verstehen wir nicht jetzt bereits viel besser, was sein Leben war – dieser erklärte Gegensatz zur «Welt»? Immer stellt er uns die gleiche Frage, woran wir wirklich glauben: an die «Welt» oder an ihn. Wir wissen genau: Es gibt nur eine einzige Form wirklicher «Sünde», wirklicher Destruktivität, wirklicher Aussichtslosigkeit, wirklicher Verzweiflung: – wenn wir akzeptieren, daß die Dinge so sind, wie sie halt sind. «Die Menschen sind so»; das bedeutet: Wir brauchen immer noch (oder schon wieder) Kriegsrüstung, Soldaten und Schlachtfelder. «Die Geschichte lehrt uns»; das heißt: «Recht hat immer der Stärkere», «Weh dem, der schwach ist»1, «Man muß mit den Wölfen heulen», und: «Wenn wir’s nicht machen, machen’s die anderen». All das besagt: «Als einzelner richtet man nichts aus»; «man bringt sich nur nutzlos in Gefahr»; und das tut man wirklich, sobald man Befehle verweigert, den Gehorsam aufkündigt, seinen Vorgesetzten widerspricht und partout seine Wahrheit leben will; man ist in der Tat ein Verlorener, wenn man inmitten der «Welt» den Mut aufbringt, die Mächtigen herauszufordern oder in die Schranken zu weisen. Aber so war er, der Mann aus Nazaret, gerade so tat er, und gerade so spricht er uns weiter ins Herz! Seine ständige Frage lautet: «Was ist eigentlich daran so schlimm, wenn einer unter die Räder kommt, nur weil er sich treu bleibt?» Es war – auch für Jesus persönlich – doch offenbar richtig, der Angst nicht nachzugeben und sich selbst durchzuhalten, auch wenn in dieser Welt auf Ehrlichkeit die Todesstrafe steht. «Fürchtet doch nicht die Leute, die nur die Macht haben, euch physisch zu vernichten, – nehmt einzig Gott ernst.» (Mt 10,28) Je länger es dauert, desto deutlicher verstehen wir, was er damit meinte, und all seine Worte reden hell und klar zu uns. Sich einig zu fühlen mit Gott – das ist weit mehr wert als aller Beifall von Thron und Altar. Alle «Teufelei» in dieser «Welt» besteht in der Entmutigung der Hoffnung, daß eine «andere» Welt zumindest möglich sei. Es gibt eine bestimmte Form von «Realismus», die letztlich ruinös wirken muß. Da hat auch ein Mann wie Jesus scheinbar keine Chance mehr. «Aber die Bergpredigt funktioniert ja nicht», erklärte in einer Diskussion ein ehedem hochgestellter Politiker, «und wir müssen jetzt etwas tun, – wir können nicht warten, bis das Reich Gottes kommt.» Genau dagegen steht dieser 181

Text. Das «Reich Gottes» muß gar nicht kommen, meint das JohannesEvangelium; die Wahrheit Gottes ist einfach, und die Frage ist nur, ob wir sie ergreifen oder ob wir so weitermachen wie bisher, – trotz allem. Wer den Geist Jesu in sich aufnimmt, wird die Welt in drei entscheidenden Punkten widerlegt finden: Sie ist «Sünde», weil sie ihre Bindung an Angst und Gewalt nicht aufgibt, weil sie sich weigert, von dem Mann aus Nazaret zu lernen; die Folge: sie gelangt niemals zu einem «rechten Leben vor Gott» – zu einer «Gerechtigkeit», die nicht das eigene Recht durchsetzen will, sondern die sich bemüht, durch ein «rechtes Leben vor Gott» der Not des anderen gerecht zu werden; und so ist sie selber zum Scheitern, zum «Gericht», verurteilt, weil sie nur töten, nicht aber Leben schenken kann. In der Sprache des Matthäus-Evangeliums bilden die Botschaft Jesu vom Reich Gottes und seine Predigt an «alle, die übel dran waren» (Mt 4,24), das entscheidende Kernstück einer alles verändernden Vision von einer nicht nur möglichen, sondern absolut notwendigen Welt. Gemessen daran ist es wirklich nichts als eine Ausrede, zu behaupten: «Die Bergpredigt funktioniert nicht.» Denn wann in Kirche und Gesellschaft hätte man sie jemals in «Funktion» gesetzt? Und wie hat unterdessen die bisherige Politik und «Vernunft» funktioniert? Ein Krieg wurde stets schlimmer als der vorherige, die Produktion von «Waffen» wurde bis hin zur Neutronenbombe «optimiert», die Erklärung, daß selbst Milzbrand, Pest und Cholera unter Umständen willkommene «Kampfmittel» seien, ist gesellschaftsfähig; – all das hat nie eine moralische Schranke gefunden. Die Ausbeutung der Dritten Welt und die Zerstörung der Umwelt treiben mittlerweile die Menschheit global an den Rand des Untergangs. Was eigentlich braucht es noch, endlich zu erkennen, daß es nur diese Wahl gibt: aus den Evidenzen der Menschlichkeit Jesu zu leben oder die Welt in großem Stil «zum Teufel gehen» zu lassen? Nur: wenn es erst einmal so steht, was soll dann immer noch das Zögern? So viel ist klar: Die Bedeutung der Person des Mannes aus Nazaret kann nur wachsen, – alles, was er verkörpert, erweist sich als die letzte Gelegenheit, als die einzige ernstzunehmende Alternative. «Utopisten» sind nicht die Menschen, die jene Sphäre für glaubwürdig halten, in welche er uns hinüberziehen will. «Utopisten» sind diejenigen, die sich auch heute immer noch vormachen, sie könnten Erfolg haben, indem sie so weitermachen wie bisher. In gewissem Sinn zeigt der «Abschied» Jesu von daher nur, wie nah er uns bleibt und wie innerlich er uns ist, wenn wir wahrhaft geistig und geistvoll zu existieren versuchen. 182

Joh 16,13: Vom Geist der Unverborgenheit Gottes Die Worte aus den Abschiedsreden Jesu im Johannes-Evangelium bestätigen, was die frühe Gemeinde bereits erlebt hat: Man stößt sie aus der Synagoge aus und verfolgt sie im gesamten römischen Imperium. Dennoch ist es nicht möglich, Texte wie diese auf eine bestimmte Zeit zu beschränken und sie von fern, im Abstand von Jahrhunderten, als Dokumente der Vergangenheit zu lesen. Täte man so, wäre ihre Wahrheit nur äußerlich verstanden. Diese Reden aber stellen ins Zentrum der Grundentscheidung jeder Kultur und jeder Religion die Frage, ob man die Wahrheit von außen her weitergibt und verstehen will oder ob man sie innerlich begreift und von innen her zu leben versucht. Es ist das Entweder-Oder zwischen dem fremden und dem eigenen Gott, eine Wahl, die Israel zu treffen hatte seit seinen Anfangstagen. Es war das wesentliche Gebot, das Gott am Sinai erließ: «Du sollst keine fremden Götter neben mir haben (Ex 20,3). Seid treu dem Gott eurer Väter.» Aber selbst dieses Geheiß kann man äußerlich auffassen. Dann geht es um das Bekenntnis eines auserwählten Stammes zu einer unfehlbaren göttlichen Offenbarung, die dieses Volk besonders auszeichnet vor allen anderen, und um den Gehorsam zu diesem einen Gott, den man begründen muß in einer Fülle von besonderen Gesetzen, von festgeschriebenen Überlieferungen und von ehernen Vorschriften. Eigentlich um dagegen die Botschaft der Freiheit, der Menschlichkeit und der Liebe zu stellen, ist Jesus diese Auseinandersetzung auf Leben und Tod eingegangen. Der Konflikt war und ist unvermeidbar. In einer Religion der Äußerlichkeit und der Außenlenkung sind alle Angelegenheiten der Wahrheit scheinbar sicher verwaltet, institutionell wohlgeborgen und rituell wohlverwahrt, eben indem man sie äußerlich wohlfeil verordnet, festschreibt und verfügt. Alle Dinge scheinen da evident und sicher zu stehen, alle Zweifel gelten für ausgeräumt, alle Bedenken für aufgehoben, jeder einzelne im Verband eines solchen Religionssystems hat seinen Ort, besitzt seinen Halt, es gibt keine Fragen mehr, die nicht längst durch die Tradition beantwortet wären. Eigentlich brauchte alles nur so weiterzugehen, und wehe den Unruhestiftern, die das verhindern wollten! Eine solche Religion liegt da wie eine Landschaft im Winter unter Schnee. Sie ist sauber und ordentlich; an jeder Stelle ist die Erde hart und kalt gefroren; sogar die Seen und die Flüsse sind sicheren Fußes begehbar, und die Eisflächen liegen spiegelblank unter dem Nordwind. Nichts muß eine solche Landschaft mehr fürchten als den Frühlingswind, der mit seinem wärme183

ren Atem die Böden in Morast und Sumpf verwandelt, die Flüsse zu Überschwemmungen treibt, die Seenflächen aufreißt, bis nichts mehr eindeutig, klar vorgezeichnet und tragfähig scheint. – Ist nicht, diesem Bilde entsprechend, die menschliche Freiheit ein einziges Chaos, etwas geradewegs Fürchterliches für all die ordentlichen Leute? Doch eben diesen Frühlingswind hat Jesus gewollt, ja, er hat ihn verkörpert. Er hat sogar noch hinzugefügt, er betrachte sich selber, seine ganze Mission, wie ein Feuer, das vom Himmel komme und endlich brennen wolle, mit aller Leidenschaft und verzehrenden Glut (Lk 12,49). Das ist es, was in den sanften Worten des Johannes-Evangeliums ausgedrückt ist mit Geist. Es gilt, alles noch einmal zu lernen, von innen her, und die Wahrheit Gottes so aufzunehmen, daß sie «väterlich» ist, uns eingeschrieben in das eigene Wesen. Auf Schritt und Tritt ist im Sinne Jesu die Probe aufs Exempel zu machen: Nur das ist wahr, was ganz von innen her sich bestätigt und was wir lieben, anbeten und verehren können mit allen Kräften unseres Gemütes, unserer Seele und unseres Geistes (Mk 12,30); nur das verdient den Namen Gott. Was hingegen in uns und zwischen uns trennt, spaltet, unterdrückt, erniedrigt und versklavt, mag den Namen Gottes beanspruchen, es führt ihn zu Unrecht, denn es richtet sich gegen den Geist. Alles Geistige ist inwendig, es vollzieht sich kraft eigener Überzeugung, es umfängt das gesamte eigene Empfinden, und es hebt den Unterschied auf, der zwischen Gott und den Menschen gesetzt wird. Die ganze Wahrheit Jesu war dies: daß Gott uns innerlich ist, eingeschrieben ins eigene Herz, so daß man ihn nicht von außen zu lehren, zu verfügen und zu verordnen braucht. Das einzige, was not tut, ist ein tiefes Vertrauen zu der Väterlichkeit Gottes; dann wird es in unserer eigenen Seele beginnen, sich zu regen, stark zu werden und immer höher zu wachsen. Wir selber tragen Gottes Atem in uns, wir sind aus seinem Geschlecht, und alles, was wir aus 2000 Jahren Kirchengeschichte lernen können, ist eigentlich nur dies: daß wir immer wieder das Leben selber töten würden, ließen wir uns in eine Religion buchstäblich der Geistlosigkeit einzwängen. Je mehr Traditionen, Gesetze, Verordnungen und beamtetes Tun in Sachen Religion walten, desto weiter weg von der Haltung Jesu, desto weiter entfernt von Gott selber befinden wir uns. Es gibt daher nichts anderes, das Jesus beglaubigt, als das Hören nach innen, als das Vernehmen der leisen Sprache, die Gott zu uns spricht. Das Ureigenste, wenn es wach wird, unser wahres Wesen, verbindet mit Gott, und dann entfaltet es sich durch sich selber weltweit. Es gibt keinen Kampf mehr zwischen den Religionen, sondern überall auf dieser Erde werden 184

Menschen sein, vor denen wir uns tief verneigen sollten, weil sie Gottes Geist und Odem in sich tragen. Unendlich viel hätten wir von ihnen zu lernen, gleich welcher Religionsgemeinschaft formal und äußerlich sie sich zugehörig fühlen. Gott in Wirklichkeit redet nur eine einzige Sprache, und das Wunder des «Geistes» besteht gerade darin, die Grenzen zu vergessen, die Universalität der Menschlichkeit zu spüren und zu wissen, daß Gott der Vater aller Menschen ist.

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Joh 16,16-33: In der Welt habt ihr Angst, doch: besiegt habe ich die Welt 16Ein

wenig, und ihr seht mich nicht mehr (7,33; 14,19), und wieder ein wenig, und ihr werdet mich sehen. 17Da sprachen sie von seinen Jüngern zueinander: Was heißt das, was er uns sagt: Ein wenig, und ihr seht mich nicht, und wieder ein wenig, und ihr werdet mich sehen? Und: Ich gehe hin zum Vater? 18Sie sagten also: Was heißt das [, was er sagt]: Ein wenig …? Wir wissen nicht, was er redet. 19Jesus erkannte, daß sie ihn fragen wollten; so sagte er ihnen: Darüber forscht ihr miteinander, daß ich gesagt habe: Ein wenig, und ihr seht mich nicht, und wieder ein wenig, und ihr werdet mich sehen? 20Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Ihr werdet weinen und Tränen vergießen, die Welt aber wird sich freuen. Es wird für euch schmerzlich sein, doch euer Schmerz – zur Freude wird er! 21Eine Frau, wenn sie gebiert, hat Schmerz, weil ihre Stunde gekommen ist (Jes 26,17). Doch wenn sie ihr Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Angst, wegen des Glücks, daß ein Mensch zur Welt gekommen ist. 22So auch ihr: jetzt fühlt ihr Schmerz. Doch ich werde euch wiedersehen. Dann werdet ihr von Herzen glücklich sein, und dieses euer Glück wird keiner von euch nehmen (Jes 66,14). 23Und an jenem Tag werdet ihr mich nichts mehr fragen (21,12). Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Wenn ihr den Vater etwas bittet in meiner Wesensart, er wird es euch geben (14,13). 24Bis jetzt habt ihr nicht erbeten in meiner Wesensart. Bittet, und ihr werdet empfangen, auf daß euer Glück vollkommen sei (15,11). 25Das habe ich in Klauseln zu euch geredet. Es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Klauseln zu euch rede, sondern offen über den Vater euch Kunde gebe. 26An jenem Tage werdet ihr in meiner Wesensart bitten. Doch ich sage euch nicht: Ich werde den Vater für euch bitten. 27Er selbst nämlich, der Vater, hat euch zu Freunden, weil ihr mir Freunde geworden seid und mir vertraut habt, daß ich vom Vater ausgegangen (14,21). 28Ausgegangen bin ich vom Vater und in die Welt gekommen. Ich verlasse wieder die Welt und gehe zum Vater. 29Sagen seine Jünger: Da, nun redest du offen und keinerlei Klausel sprichst du. 30Nun wissen wir, daß du alles weißt und es gar nicht brauchst, daß jemand dich frage. Dadurch vertrauen wir, daß du von Gott ausgegangen bist. 31Geantwortet hat ihnen Jesus: Jetzt habt ihr Vertrauen? 32Da, es kommt eine Stunde, ja, sie ist gekommen, daß ihr isoliert werdet, ein jeder für sich (Sach 13,7; Mt 26,31), und mich allein laßt. Und doch

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bin ich nicht allein, denn der Vater ist mit mir. 33Dies habe ich euch gesagt, auf daß ihr in mir Frieden habt (14,27; Röm 5,1). In der Welt habt ihr Angst; aber faßt Mut: ich – besiegt habe ich die Welt (1 Joh 5,4).

Die Abschiedsreden im Johannes-Evangelium, so weit wir sie bisher gehört haben, entwickeln zwei miteinander verbundene Aussagen; zum einen: die innere Nähe Jesu zu Gott; sie macht, daß der Tod kein Sterben mehr ist, sondern ein «Hinübergehen zum Vater»; und zum anderen: die Teilhabe an diesem Verhältnis für jeden, der sich auf den Mann aus Nazaret einläßt; für den, der ihm glaubt, daß Gott so ist, wie er in ihm aufscheint, hebt der Tod sich auf, und es öffnet sich das Tor in ein Leben, das gänzlich bei Gott steht. Auch im folgenden Abschnitt setzen diese beiden Leitgedanken sich fort, doch konfrontiert mit zwei bleibenden Infragestellungen: Jeder Tod bedeutet «Abschied»; was also kann derjenige hinterlassen, der vor uns «zum Vater» «hinübergegangen» ist? Anders gesagt: Wie soll es möglich sein, Jesus durch den Tod hindurch zu glauben? Das ist das eine Problem. Daneben meldet sich der unablässig bestehende Einwand der «Welt» zu Wort: für sie ist der Tod das letzte Ereignis im Leben eines jeden Menschen, ein banales Schicksal, was seine Ursachen angeht, ein Mirakel aus Trauer und Angst, was seine Bedeutung betrifft. Wie darauf antworten? Ebenso richtig wie tröstlich hat Joseph von Eichendorff einmal von Tod und Trennung geschrieben: Trennung ist wohl Tod zu nennen, denn wer weiß, wohin wir gehen? Tod ist nur ein kurzes Trennen auf ein ewiges Wiedersehn.1 Die Worte gelten: Wenn Menschen «auseinandergehen», innerlich, in einer Bewegung ohne Wiederkehr, in einem «Nicht-mehr-zueinanderfinden-Wollen», weil die Bindungsenergie der Zuneigung zu schwach geworden ist, um die abstoßenden Kräfte in den Unterströmungen noch kompensieren zu können, tritt in der Seele eines jeden der so Getrennten etwas ein, das einem Sterben gleichkommt. In der Liebe bildete der andere in seiner Eigenart einen Teil des eigenen Ichs; seine an sich fremde Person wurde derart vertraut, daß sie mit der eigenen Seele verschmolzen war. Geht er nun fort, so ist es, als sei das Kostbarste und Schönste in einem selber verlorengegangen; man fühlt sich wie amputiert, wie entleert, ja, wie bestraft, so als hätte man den anderen gar nicht verdient gehabt. Wer ist man jetzt 187

noch? Da gab es ein Feuer, das brannte, doch sein Leuchten verlosch, seine Wärme erkaltete, und was bleibt, ist nur rußige Asche. Es ist ein überaus mühsamer Weg, jenseits einer zerstörten Liebe eine neue Identität aufzubauen, ein neues Selbstwertgefühl zu gewinnen und die vormaligen Motive zum Dasein neu zu beleben. Eine «Trennung» hingegen muß kein «Abschied» in diesem Sinne sein; sie kann sich ergeben zwischen Menschen, die unter allen Umständen zusammenbleiben möchten, die aber durch ein äußeres Schicksal auseinandergetrieben werden. Der Abstand im Raum, die Entfernung in der Zeit bedeuten an sich noch gar nichts, und doch bilden sie eine auf Dauer immer reichlicher fließende Quelle für Befürchtungen aller Art. Niemand kennt die Zukunft; alle Versprechungen von Wiedersehen und Rückkehr bleiben rein hypothetisch; alles ist möglich, und niemand weiß, was geschehen mag. Wohl, prinzipiell besteht die gleiche Ungewißheit auch bei physischer Gegenwart Seite an Seite, doch der ständige Austausch verdeckt sie. In der Nähe erhält sich die Zuversicht, füreinander im Notfall schützend einstehen und einspringen zu können; in der Ferne erst wird deutlich, was grundsätzlich gilt: im letzten ist ein solcher Schutz gar nicht zu garantieren. Und so erhebt sich die Angst um den anderen; so sehr wir ihn lieben, so stark wird unsere Sorge. Was aber können wir tun? Die Worte, mit denen der johanneische Jesus angesichts des herannahenden Todes, das heißt genauer: angesichts des eingegangenen Todesschicksals, seine Jünger zu trösten sucht, schildern ein Verhältnis jenseits aller Ungewißheit inmitten dieser Welt bloßer Vorläufigkeiten. Vorbei sind an sich schon die «Maßnahmen», die etwa Petrus wenig später im Ölberggarten ergreifen wird (Joh 18,10), vorbei das Sorgen und Besorgen, wie das vorausberechenbare Desaster seines «Meisters» sich vielleicht doch noch vermeiden ließe. Das Vorherzusehende ist das Vorgesehene: Scheitern und Schande in den Augen der zuständigen religiösen und politischen Behörden; ein qualvoller Tod zur «Abschreckung» aller, die es wagen sollten, zu denken wie er, zu handeln wie er; ein Ende, das alles beenden soll, was er, ein «Versucher», zur Rettung verlorener Menschen versucht hat, – das alles ist in den Augen Jesu nicht länger zu umgehen, er geht darauf zu, er geht da hindurch. Das Bedrohliche schreckt ihn nicht mehr. Mit Absicht wohl streicht das Johannes-Evangelium die Überlieferung der ersten drei Evangelien von der Todesangst, die Jesus, betend, im Ölberggarten, überkommen sei, bis daß, wie Lukas (22,43) erzählt, ein Engel des Herrn erschienen sei und ihn gestärkt habe. Der johanneische Jesus hat die Bitte längst schon verinnerlicht, die von den Synoptikern ihm in 188

den Mund gelegt wurde: «Abba, Vater, alles ist dir möglich. Laß diesen Becher an mir vorübergehen; doch nicht, was ich will, sondern du!» (Mk 14,35.36) Für den johanneischen Jesus gibt es keine zwei Willen mehr, die miteinander ringen würden und nur mit aller Anstrengung in Übereinstimmung gebracht werden könnten. In den «Abschiedsreden» des Johannes ist kein «Engel» des Trostes mehr vonnöten. Die Würfel sind längst gefallen, die Auseinandersetzung bestanden. Wer sich für Gott entscheidet, kann nicht anders, als die Gotteswächter der religiösen Instanzen und Institutionen auf das tödlichste herauszufordern, denn er muß Partei ergreifen im Namen Gottes für die Menschen – zugunsten ihrer Not, zugunsten ihrer Einsamkeit, zugunsten ihres Leids, und indem er eintritt für ihre Freiheit, wird er zugleich auch den Menschenverwaltern der politischen Behörden gefährlich werden auf Leben und Tod; sie werden reagieren: um selber am Leben zu bleiben, werden sie töten. Doch ist das Grund genug, das Leben zu verleugnen? Soll man deshalb den Glauben an Gott für einen Irrtum erklären? Das ganze «Geheimnis», die «Klausel», unter welcher der johanneische Jesus antritt und auftritt, liegt in der festen Überzeugung, daß im Leben nichts anderes zählt, als dem «Licht» zu folgen, das Gott in unsere Seele sendet. Mit ihm sich eins zu fühlen ist sein einziger Schutz und Trost, dies ist die ganze Sicherheit, mit der er alles andere akzeptiert. Insofern muß und kann Jesus seine Jünger nicht mit der Ausrede beschwichtigen, es werde vermutlich doch alles noch «gut» ausgehen, irgendwie werde es alles in allem nicht wirklich so schlimm sein; nach menschlichen, irdischen, welthaften Maßstäben wird ganz im Gegenteil alles sehr schlimm werden und bis zum äußersten übel kommen. Alles Nachdenken darüber ist jedoch längst bereits abgeschlossen, die Sache selber beschlossen; der einzige Trost, den Jesus seinen Jüngern in dieser Lage zu schenken vermag, besteht darin, ihnen seine eigene Klarheit und Unangefochtenheit zu vermitteln und vorzuleben. Er kann dabei nicht eine stoische Gelassenheit und Unerschütterlichkeit gleich einer sittlichen Tugend ins Feld führen; alle Psychologie vermöchte in diesem Augenblick lediglich das Szenarium all der nur allzu berechtigten Ängste widerzuspiegeln; alle Moral könnte nur hilflos einen «Mut» anmahnen, den man durch nichts von außen befehlen oder empfehlen kann. Die ganze «Stärke» Jesu gründet in einem Vertrauensverhältnis, – in der Beziehung zu seinem «Vater». Darin allein ist die Begründung für die Unentrinnbarkeit seiner Lage gegeben; zugleich aber liegt in ihr auch die Ursache für die Überwindbarkeit eben dieser Lage. Es ist der «Geist», den Jesus zuvor noch als «Zuspruch» vom Vater verheißen hat (Joh 15,26), der ihn selber hindurchträgt. 189

Man muß sich noch einmal klarmachen, was alles an dieser Stelle nicht gemeint ist. Die kirchliche Dogmatik, wie des mehrfachen bereits mit Bedauern erwähnt, hat diese überaus dichten, sensiblen, feinnervigen Beziehungsaussagen in ontologische Definitionen über die Seinsidentität zweier personal verschiedener Seiender verwandelt und diese Art von «Christologie» zu einer höchst komplizierten «dreifaltigen» Gotteslehre ausgestaltet; für «Glauben» gilt seither, die «Einheit» von «Vater» und «Sohn» als an und für sich bestehend, als «seinshaft» gegeben, anzusehen; die Beziehung der «Gläubigen» zu diesem «göttlichen Mysterium» besteht seither in «Anbetung» und in «Lobpreis», und die «Segnungen» dieser «Offenbarung» Gottes werden den Christen nunmehr durch den Ritual- und Sakramentaldienst der Priester der (Römischen) Kirche zuteil. Wie anders lesen sich demgegenüber diese Texte wirklich – um wie vieles einfacher und heilsamer! Wer sich Jesus anschließt, wer sich auf seine Seite stellt, der wird in dieselbe Haltung eines Vertrauens hineinwachsen, das all die sonst nur natürlichen Irrungen und Beunruhigungen hinter sich läßt. Er wird in seiner ganzen Lebensausrichtung einig mit Gott, denn er spürt, daß Gott das einzige ist, wofür zu leben sich lohnt; und eben darin wird er einig auch mit sich selbst. Nicht «Ontologie» und «Metaphysik» bieten da die Erklärung, wohl aber die Intensität eines ganz und gar persönlichen SichVerhaltens. Aber auch psychologisch ist diese Einstellung nicht oder doch nur der Tendenz, nicht der Wirklichkeit nach zu vermitteln. Gefühlsmäßig begreifbar ist gewiß die Sehnsucht nach Halt und Trost angesichts schwerer Schicksalsschläge und Infragestellungen; seelisch verstehbar ist desgleichen auch, daß die Art solcher Krisen ebenso wie die Art der möglichen Lösungsversuche in der Biographie und der Persönlichkeitsstruktur einer bestimmten Person vorbereitet ist; doch daß jemand als «Sieg» interpretiert, was alle Außenstehenden als die schlimmste Niederlage ansehen müssen, daß er vor dem Furchtbaren keine Furcht mehr zuläßt, das ist psychologisch nur noch als Wahn zu diagnostizieren – oder es geschieht hier etwas jenseits der Psychologie, etwas, das sich nicht mehr aus der Vergangenheit ableiten läßt, sondern nur aus einem Zukunftsentwurf, von einer inneren Ausrichtung, von einer Zielsetzung her, die alle Immanenz sprengt. Zwischen beiden Ansichten muß man sich entscheiden. Psychologisch ist es durchaus möglich, alles, was hier geschieht, für bloßes Wunschdenken, für simple Realitätsverleugnung, für narzißtische Regression zur Dualunion mit wirklichkeitsfernen Unsterblichkeitshoffnungen, kurz: für einen psychiatrischen Fall zu erklären; wie aber, wenn sich zeigte, daß dieses Leben 190

inmitten der «Welt» sich menschlich und menschenwürdig überhaupt nur bestehen ließe in gerade der Unbedingtheit, mit der Jesus sich festmacht in eben jenem Gegenüber, das er seinen «Vater» nennt? Offenbarte sich dann nicht in diesem Aufsprengen der Welt allererst die eigentliche Wahrheit unseres Daseins? In jedem Herbst zählt es zur Freude der Kinder, unter den mächtigen Kastanienbäumen, wenn die grünen stacheligen Fruchtschalen herabfallen und sich unter dem Druck ihres eigenen Fallgewichts öffnen, die braunen Früchte aufzusammeln und aus ihnen die verschiedensten Figuren anzufertigen. Wenn die Kastanien ein Bewußtsein hätten, würden sie darauf bestehen, auf immer in der schützenden Hülle am Baume verbleiben zu dürfen; sie würden den tiefen Fall in den Abgrund fürchten als ihren Untergang; sie vermöchten ein anderes Leben als in der Unversehrtheit ihrer Stachelschale sich gar nicht vorzustellen; der Auflösung im Erdboden ausgesetzt zu werden – preisgegeben dem Regen, dem Wind, auch dem Frost und den Zähnen wilder Tiere – bedeutete für sie eine nicht auszudenkende Katastrophe; wenn aber der alte Kastanienbaum zu ihnen sprechen könnte, so würde er sagen: «Meine Kinder, ich habe euch großgezogen und getragen einen Sommer lang; ihr seid die Früchte meiner blühenden Schönheit im Frühling, und ihr ernährtet, längst ehe ihr wurdet, bereits die Blütenstaub sammelnden Insekten; nun ist die Zeit gekommen, euch in ein eigenes Leben zu entsenden. Was euer wartet, ist nicht euer Tod, es ist die Vervielfältigung des Lebens, das ich euch geschenkt habe und für das ihr herangewachsen seid. Jetzt, für den Augenblick, lasse ich euch los, doch nur, auf daß ihr aufwachst und werdet wie ich.» Gedanken sind dies, wie sie der johanneische Jesus ähnlich schon in dem Bild von dem Weinstock und den Reben geäußert hat (Joh 15,1-8). Doch was dort für eine Aussage zwischen Jesus und den Jüngern mitten im Leben galt, bewährt sich jetzt, angesichts des Todes, durch das Empfinden, in die Beziehung zwischen Jesus und seinem «Vater» selber hineingenommen zu sein. Es ist, wie wenn eine Mutter manchmal ihr Kind zu trösten versucht, indem sie ihm ihr Geheimnis verrät: daß sie sich, in aller Hilflosigkeit sonst, gesichert und geborgen fühlt in der Gegenwart ihres Mannes, dem ihr ganzes Herz gehört und als dessen gemeinsamen «Sohn» oder gemeinsame «Tochter» sie ihren Jungen oder ihr Mädchen betrachtet. Es ist dabei nicht gemeint, daß ihr Gefährte äußerlich dies und das für sie tun könnte, es ist einfach, daß er da ist, daß er für sie da ist. Die persönliche Gegenwart dieses «Dritten», der räumlich nicht «anwesend» sein muß, um da zu sein, formt eine «Psychologie», wie sie höchst «vernünftig» und wün191

schenswert scheint, wenn auch ihre Begründung von der «Welt» her sich nicht verständlich machen läßt. Wie wichtig es dem johanneischen Jesus ist, diese «Nähe» zu Gott seinen Jüngern zu vermitteln, zeigt sich an der Art, in der er sich hier zurücknimmt. Sonst sind wir vom Johannes-Evangelium gewöhnt, von der absoluten Notwendigkeit Jesu als des Mittlers zwischen Gott und Mensch zu hören; er ist der Weg, die Wahrheit, das Leben, – so lasen wir vorhin noch (Joh 14,6); er ist es, der am Throne Gottes (als der ewige Hohe Priester, nach katholischer Ausdrucksweise) Fürbitte einlegt, – so werden wir im folgenden Kapitel noch hören (Joh 17,1-26). Hier aber betont Jesus, er sage nicht: Ich werde den Vater für euch bitten. (Joh 16,26) Und der Grund ist, daß alle Gebete in Jesu Namen erfüllt sein werden, wenn nur die Jünger sich nahe und unmittelbar genug in Gott geborgen wissen. Das Motiv der Gebetserhörung, auf das wir früher schon zu sprechen gekommen sind (vgl. Joh 14,13), hat im Neuen Testament eine lange Geschichte. Der «historische» Jesus wird wohl so ähnlich gedacht haben, wie es in der Gebetsschule des Matthäus-Evangeliums (Mt 6,6-15) und des Lukas-Evangeliums (Lk 11,5-13) zum Ausdruck kommt: alles werde Gott dem geben, der sich vertrauensvoll an ihn wende; doch was er damit versprechen wollte, war gewiß nicht ein göttliches Sesam-öffne-dich für alle beliebigen Wünsche; was er beabsichtigte, war eine Vertiefung in dem Gefühl der Geborgenheit selbst, war das Überflüssigwerden aller materiellen Befriedigungsgesuche. Das Lukas-Evangelium spricht deshalb bereits davon, daß die Erfüllung aller Gebete in der Aussendung des Geistes Gottes zu sehen sei (Lk 11,13). Das Johannes-Evangelium aber geht noch einen Schritt weiter; es meint, wer den «Geist» Jesu in sich trage, der werde sich in Gott und von Gott so getragen fühlen, wie Jesus selbst, – wie ein Kind in den Anfangstagen seiner Existenz im Schoß und auf dem Arm seiner Mutter; alles Flehen, Klagen, Wimmern, Schreien oder Brüllen eines Neugeborenen mag allen erdenklichen Gründen von Hunger bis Kälte, von Langeweile bis Ärger entstammen, – worum es immer gehen wird, ist das Verlangen, die Nähe der Mutter zu spüren. Alle Wünsche erfüllen sich darin; alles wunschlose Glück findet sich so. Aber kann denn die Nähe der «Mutter» wirklich ein Schutz sein gegen Krankheit und Not, gegen Unglück und Tod? Das kann sie mitnichten, muß man zugeben, aber das ist es auch nicht, was der johanneische Jesus hier in Aussicht stellt. Vor keinerlei Unheil wird Gott uns bewahren; daß er uns die Kraft schenken möge, uns darin zu bewähren, ist alles, was zu erhoffen steht. Und doch: um ein solches Vertrauen in Gott zu gewinnen, 192

um der kreatürlichen Angst vor dem Tod standzuhalten, um der natürlichen Furcht vor Schmach und Verspottung zu widerstehen, muß das Gefängnis der Todesgewißheit sich über den Horizont des Irdischen hinaus ins Unendliche öffnen. Das immer neu wiederholte Rätselwort dafür lautet bei Johannes: noch eine kurze Weile («ein wenig»). Es ist ein Ausdruck, der die Mitte hält zwischen «Trennung» und «Tod» in Eichendorffs Sinne; denn er bezeichnet sowohl das, was wir «Abschied» nennen, als auch das Versprechen des Wiedersehens – ein «kurzes Trennen», ganz wörtlich. Der Punkt, den das Johannes-Evangelium hier berührt, ist – immer wieder – von höchster Bedeutung. In Theologenkreisen wird die Rede des johanneischen Jesus vom wahren oder vom unendlichen Leben vielfach als eine «uneigentliche Chiffre» interpretiert, die nichts anderes beschreibe als ein Leben, das im Glauben, in Gott, zu seiner Wahrheit gefunden habe; «Auferstehung» bedeute in dieser Sicht soviel wie eine «Auferstehung ins Leben» – in dieses irdische Leben, wohlgemerkt, denn ein anderes gebe es nicht. Die Frage indessen, die das Johannes-Evangelium beantworten möchte, stellt sich gerade umgekehrt: Wie gelangt ein Mensch dahin, in Gott ein todüberwindendes Vertrauen zu setzen, außer er traute Gott zu, den Tod besiegen zu können? Wie sollte es möglich sein, sich den Händen Gottes zu überlassen, wenn diese Hände identisch wären mit den Fingern des «Schnitters», des «Würgers» Tod? Daß die Liebe stärker ist als der Tod, wie bereits das Hohelied überzeugt ist (Hld 8,6), muß, weit mehr noch als zwischen den Liebenden sonst, in Geltung stehen vor Gott, und zwar in bezug auf jeden, der ihn als die absolute Liebe glaubt: Wie sollte unser «Vater», der uns ins Dasein rief, uns endgültig dem Tod überlassen? Wie sollte er, der uns mit seinem «Wort» aus dem «Dunkel» ins «Licht» rief, uns in den Kammern der Todesschatten belassen? Was die Religionen aller Völker zu allen Zeiten bezeugen, daß der Tod nicht das letzte Wort über unser Dasein besitze, wird für Jesus zu einer Gewißheit des Vertrauens. Ist Gott wahrhaft der absolut Liebende, der immer Zu-Liebende, ist er tatsächlich der, dem alle menschliche Sehnsucht gilt, so scheint es unmöglich, zu glauben, er trage mit uns nichts weiter im Sinn, als uns dieser «Welt» zu überlassen, nur um darin nach beliebiger Zeit und auf beliebige Weise zugrunde zu gehen – nur um in dem Haushalt dieser so anderen «Mutter Natur» unerbittlich zermahlen zu werden. Gott verdient unser Vertrauen nur, wenn er und weil er im Tode uns nicht allein läßt. Alle Hoffnung der Religionsgeschichte der «Völker» bestätigt sich in diesem Bewußtsein und folgert aus dieser Erfahrung, die der Jude aus Nazaret mit Gott als dem «Vater» gemacht hat. 193

Diese Überzeugung läuft hinaus auf eine entschiedene Widerlegung all der melancholischen Betrachtungen über die «Kürze des Lebens». In der stoischen Philosophie konnte die brevitas vitae lehren, möglichst intensiv zu leben und stets mit dem baldigen Ende all unserer Bemühungen zu rechnen2; doch wie soll ein Mensch sich energisch auf diese Welt einlassen, wenn die Flüchtigkeit des Augenblicks ihm jederzeit die Hohlheit und Leere von allem vor Augen stellt, was er so kühn gerade eben beginnen mochte? Wie soll er der Liebe eines anderen Menschen Vertrauen schenken, wenn der Geliebte, wenn er selber an seiner Seite in jedem Moment dahinsinken kann? Die Kürze des Lebens und die Wahnhaftigkeit aller Dinge demonstrieren uns im Gegenteil Stunde um Stunde, daß inmitten der «Welt» auf gar nichts Verlaß ist. Doch jetzt, da Jesus die Stunde (Joh 16,25), seine Stunde, gekommen sieht, von der seit der Hochzeit zu Kana (Joh 2,4) immer wieder die Rede war, erklärt er so offen, so «klausellos» wie bisher nie, was der Tod ihm bedeutet: er ist sein Weg, um aus der «Welt» hinüberzugehen zum Vater (vgl. Joh 7,32-36). Wenn wirklich dies gilt, dann erhält in der Tat die Kürze der Zeit eine völlig andere Bedeutung: dann ist dieses ganze Leben nichts weiter als eine «kurze Weile», um sich jenseits der Todesschranken «wiederzusehen», um erkennen zu dürfen, wie derjenige, der von uns gegangen ist, vom anderen Ufer her uns schon entgegenkommt. Stets wenn Menschen durch den Tod zu einem Zeitpunkt voneinander getrennt werden, da sie es weder wissen noch wünschen können, bleibt dies zumeist die wichtigste Zuversicht: Die Jahre eilen dahin, und wir werden uns wiedersehen. Ein solcher Trost ist durchaus keine «Vertröstung» auf eine Anderswelt, er ist durchaus keine todessehnsüchtige Verromantisierung der Härte des Daseins; die Aussicht, das Verlangen, das Versprechen auf ein Sich-Wiederfinden in jener anderen Sphäre, die Gottes ist, bewirkt vielmehr eine Ermutigung, nur um so inniger die irdische Vorbereitungszeit dieses «Wiedersehens» mit Inhalt zu füllen. «Was», fragte ich vor Jahren einen Mann, der unter dem vorzeitigen Tod seiner Frau physisch wie psychisch zu zerbrechen drohte, «was würde Ihre Frau sagen, wenn sie hier unter uns säße und laut hörbar mit Ihnen zu sprechen vermöchte?» «Würde sie Sie nicht auffordern», überlegten wir miteinander: «‹Sammele aus dieser Welt all das noch auf und versuche zu ordnen, was Du wert findest, um es mir mitzubringen. Laß es gemeinsam uns durchgehen wie die Photoalben, die wir einander aus der Zeit gezeigt haben, da wir uns noch nicht kennengelernt hatten. All diese Bilder haben wir uns seinerzeit anvertraut und geschenkt, weil wir in ihnen eine Vorbe194

reitung auf etwas erblicken durften, von dem wir damals, als es geschah, noch gar nicht wissen konnten, daß es uns einmal zusammenführen würde. Doch das hat es getan. Und so laß es uns auch jetzt halten. Setze all das Glück fort, das wir uns wechselseitig ermöglichen durften, und laß uns gemeinsam aufeinander zuwachsen über die Zeit hinaus›.» Es liegt ein unendlicher Trost darin, aus dem Munde Jesu zu hören, daß diese verbleibende Zeit nur «ein wenig» noch dauern werde. Denn wie lang oder wie kurz sie im meßbaren Ablauf der «Welt» sich auch erstrecken mag, sie bildet ein für allemal nicht mehr den eigentlichen Maßstab zur Bewertung dessen, was wir sind und was wir tun. Gleichgültig, wann Gott uns abberufen wird, – wir stehen jederzeit in seiner Obhut. Paulus hat in Röm 8,38 diese Erfahrung, die er Jesus verdankt, einmal so ausgedrückt: «Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.» Es ist das einzige, was wir in Händen haben: dieses Bewußtsein, dieses Gefühl, daß Gott uns ganz in seinen Händen hält. Wieder freilich ist es nötig, daran zu gemahnen, daß sich aus dieser «Auferstehungs»-Hoffnung kein metaphysisches Konstrukt im Sinne der griechischen Philosophie ableiten läßt. Erneut ist es nicht möglich, die Evidenz einer gelebten Beziehung in ein ontologisches Theorem zu verwandeln. Das Vertrauen, das Jesus uns im Gegenüber Gottes schenken wollte, läßt sich nicht festschreiben in dogmatisierten Spekulationen über die unsterbliche Substanz der menschlichen Seele, sondern es liegt ganz und gar in der persönlich gebundenen Zuversicht, daß die Macht, die wollte, daß wir sind, uns nicht für den Tod geschaffen hat. In der abendländischen Philosophie- und Theologiegeschichte wurde die Frage: «Was ist Seele?» um und um diskutiert. Das Problem ist alt, doch hat es eine neue Dringlichkeit erhalten durch die Fortschritte der Neurologie und Hirnphysiologie unserer Tage. Entschieden wurde es vorgeblich im Jahre 1312 auf dem Konzil von Vienne, als man die Seele als die «Form des Körpers», als das Gestaltprinzip der Materie, bestimmte3; die Theologen des Mittelalters vermeinten, mit dieser Definition eine sichere Grundlage für die dogmatische Behauptung von der Unsterblichkeit der Seele zu besitzen; denn wohl vermochten sie sich vorzustellen, daß etwas Geistiges formend auf die Materie einwirken könne, doch daß umgekehrt die «tote» Materie Leben hervorbringen sollte, erschien ihnen völlig undenkbar. Gleichwohl braucht man die Auffassung der Seele als einer «Form» oder 195

«Struktur» der Materie nur beim Wort zu nehmen, um sie den modernen systemtheoretischen Modellen anzupassen. Danach ist «Seele» oder «Geist» eine Struktureigenschaft aller komplexen Systeme, das heißt solcher Zusammenhänge, in denen die Wirkungen bestimmter Ursachen verändernd auf diese Ursachen selbst wieder zurückwirken. Wenn «Seele» auf diese Weise definiert wird, als eine gestaltbildende Form der Wechselwirkung von Ursachen, ist sie zwar nichts Materielles, aber sie ist dann auch nicht unabhängig von den materiellen Prozessen der Selbstorganisation und der Selbsterhaltung; vielmehr muß man sagen, daß die Seele, so verstanden, mit diesen Prozessen entsteht und mit diesen Prozessen vergeht. Gilt diese Anschauung, die in den Neurowissenschaften heute fast durchgängig vertreten wird, so steht ein Glaube an ein ewiges Leben, der sich an dem Dogma von der metaphysischen Unsterblichkeit der Seele festmachen möchte, in höchster Gefahr. Um so wichtiger ist es, daß wir die Hoffnung Jesu im Johannes-Evangelium richtig begreifen: Grund aller Zuversicht ist nicht das Theorem einer metaphysischen Anthropologie, sondern allein das persönliche Vertrauen in jene Macht im Hintergrund unserer Existenz, der wir unser Dasein verdanken. Es ist der einzige Glaube, der standhält und der das Zeugnis aller Religion miteinander verschmilzt. Der Prophet Mohammed, 600 Jahre nach Christus, wird die Lehre von der Auferweckung der Toten durch Allah zu dem Inbegriff aller «wahren» Religion erklären: «Die nicht an ein zukünftiges Leben glauben, fallen in Strafe und sind in großem Irrtum», sagt er. «Haben sie denn noch nicht betrachtet, was über und was unter ihnen ist, den Himmel und die Erde?» (Koran, XXXIV 9.10) Daß Allah will, daß wir sind, und daß seine Macht größer ist auch als die Macht des Todes, ist die wohl beste Wiedergabe der Haltung, die auch Jesus als tragend für sein Leben wie für sein Sterben empfand. Allerdings bleibt ein Unterschied zu beachten: Der johanneische «Dualismus» teilt rigoros zwischen der «Welt» und der Sphäre des Göttlichen. Anders als in den ersten drei Evangelien wird die Grenze zwischen beiden Bereichen nicht durch ein zeitliches Nacheinander «dieser Welt» und des kommenden «Reiches Gottes» bestimmt, sondern durch das existentielle Entweder-Oder zweier völlig unvereinbarer, ja, konträrer Lebensformen, die sich bilden, je nachdem, ob ein Mensch «von Gott her kommt» oder «von der Welt ist». Dieser Gegensatz erscheint an dieser Stelle als identisch mit einem Leben in Vertrauen oder einem Dasein in Angst: «In der Welt habt ihr Angst.» (Joh 16,33) – All die Bilder und Szenen, in denen das Johannes-Evangelium die Person und das Leben Jesu schildert, verdichten 196

sich «unverklausuliert» in diesem einen Satz: die Angst der Jünger beim Gang Jesu über den See zum Beispiel (Joh 6,16-21) oder die tödlichen Anfeindungen durch die «Juden» (die «Gottesbesitzer») oder die Angst jetzt, die Jesus bei seinen Jüngern vermutet, wenn sie miterleben müssen, wie man ihn selber verhaften wird (Joh 13,36-38). Alles Leben von der «Welt» her, so zeigt sich, ist ein Leben in Sorge und Angst, und es kennt kein anderes Sicherungsmittel als Vorsorge und Angstverbreitung, als ständigen Krampf und ständigen Kampf. Erst ein Vertrauen von oben, wie Jesus in dem Nachtgespräch mit dem Ratsherrn Nikodemus sich ausdrückte (Joh 3,1-13), vermag die Angst der Welt und die Angst vor der Welt zu besiegen. Was aber sollten wir dann noch befürchten? Wir werden sterbend zu ihm gehen! Wir werden sterbend uns wiedersehen! Wir werden sterbend endlich die Welt der Angst überwunden haben! Der «historische» Jesus wird seit Kindertagen die Worte des 23. Psalms (Ps 23,1.4) gebetet haben, die für den wohl innigsten Kommentar zu der Gelassenheit gelten dürfen, die der johanneische Christus in dieser Stunde des «Abschieds» seinen Jüngern zu vermitteln sucht: Der Herr ist mein Hirte. Nichts wird mir mangeln. Und muß ich auch gehen durch Todschattenschlucht, so fürcht’ ich kein Unheil, denn du bist bei mir.

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Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 1. Teil: daß sie dich erkennen und den du gesandt hast (Joh 17,3) 1Das hat Jesus gesagt, und die Augen zum Himmel erhoben, sprach er: Vater, gekommen ist die Stunde (7,39), verherrliche deinen Sohn, auf daß der Sohn dich verherrliche, 2 wie du ihm Macht gegeben hast (Mt 11,27) über alles fleischliche Wesen (alle irdische Existenz) (Mt 28,18), auf daß er in bezug auf alles, was du ihm gegeben, selber ihnen gebe unendliches Leben. 3Das aber ist das unendliche Leben: daß sie dich erkennen, den einzig wahren Gott, und den du gesandt hast: Jesus, als Christus (6,47; 1 Joh 5,20). 4Ich verherrliche ja dich auf Erden, indem ich das Werk vollende, das du mir zu tun gegeben hast (5,36). 5Doch jetzt: Verherrliche mich du, Vater, bei dir, mit der Herrlichkeit, an der ich Teil hatte vor dem Sein der Welt, bei dir (1,1; Phil 2,6). 6Sichtbar gemacht habe ich deine Wesensart den Menschen, die du mir aus der Welt gegeben hast (6,37). Dein waren sie, und mir hast du sie gegeben, und so bewahrten sie dein Wort. 7Jetzt haben sie erkannt, daß alles, was du mir gegeben hast, von dir her ist. 8Denn die Reden, die du mir gegeben, habe ich ihnen gegeben, und sie nahmen sie an, und so erkannten sie unverstellt, daß ich von dir ausgegangen bin (16,30); und so gelangten sie zu dem Vertrauen, daß du mich gesandt hast. 9Ich – für sie bitte ich. Nicht für die Welt bitte ich, nur für sie, die du mir gegeben, denn dein sind sie (6,37.44). 10Und all das Meine ist dein und das Deine mein (16,15); so bin ich verherrlicht in ihnen. 11Schon bin ich nicht mehr in der Welt, nur sie noch, sie sind in der Welt, wo ich zu dir komme. Vater, heiliger du, bewahre sie in deiner Wesensart, in der du mir gegeben hast, auf daß sie eins sind wie wir (10,30).

Gewiß haben die Surrealisten recht: um zu zeigen, was ein Baum, eine Brücke, ein Berg oder das Meer »wirklich» ist, darf man die Dinge nicht zeichnen, wie man sie auf einer Photographie sehen würde. Um ihre Wahrheit wiederzugeben, muß man ihre Außenseite oft genug deformieren und verändern, fast bis zur Karikatur, um ihre tiefere Bedeutung, um ihr wahres Sein desto klarer hervorzuheben. Vollends, um zu schildern, was ein Mensch ist und was er zu sagen hat, darf man seine Äußerungen nicht mit der Aufnahmetechnik eines Tonbandgeräts protokollieren. Wenn etwa der russische Dichter Fjodor M. Dostojewski Menschen beschrieb, ließ er sie 198

Worte finden, die niemals so waren, wie sie sich in der äußeren Realität auszudrücken pflegten; er ließ sie so sprechen, wie sie hätten reden müssen, wenn sie sich selbst bis in die Tiefe hinein ganz zu verstehen vermocht hätten, wenn sie Zeit genug dafür gehabt und ein offenes Ohr gefunden hätten, sich anzuvertrauen. Um zu vermitteln, wie sie dachten, ließ er sie sprechen, wie sie an und für sich in ihrem ganzen Leben niemals sprachen; aber diese ihre «irreale» Rede drückte ihre Wahrheit aus. Ganz ähnlich das Johannes-Evangelium, wenn es den fast vergeblichen Versuch unternimmt darzustellen, was Jesus – man kann nicht sagen: war, sondern wer er ist und was er uns in alle Zeit mitzuteilen hat. Die ersten drei Evangelien geben Jesu Worte wieder, wie man sie in Galiläa gehört hat oder in der späteren Überlieferung hat hören wollen. Das Johannes-Evangelium aber läßt Jesus sprechen, wie er zu allen Zeiten zu uns redet, das heißt, wie er in Judäa und Jerusalem den Worten nach vielleicht niemals gesprochen hat, wie er aber in der Tiefe zu allen Zeiten unbedingt zu uns redet. So schildert Johannes in den Abschiedsreden die Gestalt Jesu in einer Weise, die seinem Sprechen dem Sinne nach am nächsten steht. Bezeichnenderweise läßt er Jesus die Sprache des Gebetes wählen, ist doch das ganze Leben des Mannes aus Nazaret ein nicht endendes Gespräch gewesen zwischen Gott und Mensch und ein ständiger Versuch, ein jedes Menschenleben unmittelbar vor Gott zu stellen. In der Tat: Um zu erkennen, wer Jesus ist, muß man ihn beten hören. Denn das Gebet ist seine tiefste und erste Wahrheit; und von daher muß man noch einmal all die Worte vernehmen, die er uns schenken wollte. Besinnt man sich auf den Kern all dessen, was er lebte und uns anvertrauen mochte, so war es nur dies eine: wir sollten Gott nicht sehen als einen fernen, fremden Despoten; wir sollten ihn glauben dürfen als unseren «Vater». Diese Überzeugung lebte in Jesus so stark, und sie kam uns durch ihn so fühlbar nahe, daß die Evangelisten, Johannes zumal, nicht zögern, ihn als den Sohn Gottes schlechthin zu bezeichnen und Gott seinen «Vater» zu nennen, ja, mit Berufung auf ihn, hoffend, vertrauend und wagend, auch unseren Vater. Wir sind es in christlicher Erziehung oft seit Kindertagen gewöhnt, die Worte des Gebets zu sprechen, das Jesus uns auf die Lippen legte, als er uns aufforderte: «Wenn ihr euer Herz bis zur Wahrheit hin erschließt, mögt ihr beten: «Unser Vater, himmlischer du, was du willst, geschehe.» (Mt 6,10) Uns sind diese Worte derart vertraut, daß wir für gewöhnlich den Abgrund vergessen, über den sie gesprochen sind. Gott als unseren Vater 199

zu erkennen und zu verehren ist eine Perspektive, die sich uns im Umkreis der Natur verschließt. Alles, was wir mit den Sinnen erfahren und was unser Verstand uns im Umgang mit der Natur lehrt, sind Gesetze, die zwar unsere Existenz ermöglicht und hervorgebracht haben, die aber von kalter Notwendigkeit und blinder Zufälligkeit regiert werden und die uns zudem nach kurzer Zeit schon mit der größten Gleichgültigkeit wieder in den Austausch von Materie und Energie einschmelzen werden; wir Menschen sind die einzigen Kreaturen, die in dieser Welt mit dieser Welt nicht zurechtkommen, einfach weil wir mit Bewußtsein leben müssen. Wie oft werden Menschen in die Welt geschickt, die von vornherein keine Chance haben, im irdischen Sinne glücklich zu sein? Oft sind sie physisch krank, und ihr ganzes Leben wird heimgesucht von tausend Qualen. Oder ihre Not ist psychischer Natur: Kaum sind sie auf der Welt, da schnürt sich das Getto ihrer Umgebung so sehr um ihre Seele, daß sie wie nur dazu bestimmt erscheinen, ein endloses Maß an Leiden zu ertragen. So viel steht fest: In unseren Augen widerspricht die Natur den elementarsten Begriffen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Es ist ihr völlig egal, was wir von ihr halten. Uns aber kommt es so vor, wie wenn sie mit uns Menschen ein grausames Spiel triebe, als hätte sie mit uns nur ein Experiment unternehmen wollen, um herauszufinden, ob Wesen wie wir, die denken und selbstbewußt sein können, inmitten einer solchen Natur nicht zwangsläufig dem Wahnsinn und der Verrücktheit verfallen oder bis zu welchem Grad von Schmerz sie überhaupt zu treiben sind1. Es gehört unendlich viel dazu, den Hintergrund, den Urgrund der Welt als unseren Vater zu entdecken, als eine Macht, die möchte, daß wir sind, und die ihre Hände ausbreitet, – gütig und bewahrend über das Haupt eines jeden Menschenkindes, das zur Welt kommt. Wie sollen wir so etwas glauben? – das ist die dauernde Frage, und wie sollen wir danach leben? Für gewöhnlich vergessen wir Widersprüche dieser Art. Wir sehen sie erst rein, gewissermaßen kristallin, im Dasein Jesu. Für gewöhnlich scheint es uns zu genügen, wenn wir in den Tag leben nach der Existenzart sprechender Tiere. Da gibt uns die Biologie die Aufträge, und wir vollziehen sie mehr oder minder stumm und gehorsam, rein triebgebunden. So gibt es eine Vielzahl von Notwendigkeiten, in denen alle Lebewesen antreten müssen: den Brutpflegetrieb, den Trieb zum Machterwerb, zum Nestbau, zur Bildung von Eigentum oder den Instinkt zur Revierverteidigung; nach all den instinktiven Handlungsprogrammen, gewiß, gilt es biologisch zu leben. Aber wird man auf diese Weise ein Mensch? Man wird, wenn man all das, was die Tiere tun, mit Verstand plant und 200

durchführt, lediglich grausamer und barbarischer als alle Tiere. Die Frage entsteht daher: Wie können wir selber zu Menschlichkeit finden? Das in der Tat ist die entscheidende Aufgabe. Der johanneische Jesus stellte sie so: Wie kann man es einem jeden Menschen, der auf der Welt ist, ermöglichen, noch einmal zur Welt zu kommen (Joh 3,3)? Wie kann man es erreichen, das Leben eines Menschen noch einmal hervorzubringen in einer anderen, verwandelten Existenz, in der nicht mehr die Angst regiert, nicht das Schreckbild des Gegenübers einer Natur, die ihn nötigt, dumpf und gleichgültig dahinzuvegetieren? Wie ist es möglich, des Menschen Leben zu begründen in einem tief verwurzelten Vertrauen, sich selber angenommen zu wissen, sich gleich einem Kinde geliebt zu fühlen, sich als geborgen zu empfinden in einer Welt, die ihm sonst fremd und kalt bliebe? Wir haben, um uns selbst wirklich kennenzulernen und um Gott in Wahrheit zu vertrauen, keine andere Grundlage für unser Leben, als daß es jemanden an unserer Seite gibt, der uns so nahe, so zugewandt und verbunden ist, daß wir ihm Gott als seinen Vater glauben können. So haben wir es gelernt bei der Person Jesu, und das Johannes-Evangelium betont, eben dies sei sein Auftrag, das Werk, das er habe vollenden sollen, uns den «Namen» Gottes, das Wesen Gottes, rein und unverfälscht zu vermitteln; indem wir ihn als den Sohn Gottes zu sehen lernten, sollten wir uns mit dem eigenen Leben versöhnen und uns geschwisterlich miteinander verbrüdern. Die Abgründe der Angst sollten sich unter unseren Füßen schließen, die Unendlichkeit des Alls sollte sich über unserem Haupt zu der Gestalt von Händen formen, die uns schützend umfangen, und der Augenblick der größten Anfeindung in der Stunde seines «Abschieds» sollte der Moment seiner Offenbarung werden. Wenn, ein Kapitel später, nach den Abschiedsreden, der tödliche Widerspruch konkret einsetzt und man den Mann aus Nazaret verurteilt, seiner Wunder und Werke wegen, so gibt uns der johanneische Jesus an dieser Stelle bereits vorweg als Deutung auf den Weg, daß das grausame Leid der Hinrichtung seiner Verherrlichung dienen wird. Denn wenn man Grund nimmt, ihn zu bekämpfen, seiner Wahrheit wegen, so wird man wenig später schon merken, daß man ohne diese Wahrheit selber nicht leben kann. Wenn man meint, ihn hassen zu müssen, seiner Liebe wegen, so wird man unmittelbar danach feststellen, wie kalt die Welt ist ohne ihn. Gerade wenn man ihn glaubt töten zu müssen, seiner Lebensweise wegen, so wird man am deutlichsten spüren, was es heißt, zu leben, und der Augenblick seines Todes wird der Anfang seiner endgültigen Offenbarung sein. Denn dies ist es, was Jesus uns am tiefsten lehren wollte: Keine Stunde 201

der Angst ist größer als die Begegnung mit dem Tod, wir aber brauchten niemals mehr im Erleben des Sterbens nur die äußere Wahrnehmung der Natur zum Zeugnis zu nehmen, sozusagen den physischen Verlauf des Todes. Der Körper eines Menschen mag zerstört werden durch etwas, das uns sinnlos dünkt – irgendein beliebiger Schicksalsschlag, irgendein winziges Detail der Naturordnung, und das Schönste und das Liebste an unserer Seite wird hinweggerafft –, wir aber könnten gerade in dem Moment der höchsten Herausforderung mit den Augen des Geistes ein anderes sehen: nämlich daß das Leben eines jeden Menschen bei Gott steht und daß der Tod nur die Rückkehr in seine eigentliche Heimat ist, keine Trennung, sondern nur ein Warten aufeinander, eine Heimkehr zu dem Ort, von dem er kam. Noch sind wir in der Welt, aber daß wir sie bestehen und nimmermehr ein bloßer Teil der Welt sind und bleiben, ist uns gegeben und ermöglicht mit dem Blick auf den Mann aus Nazaret. Wenn in alle Zukunft von Gott eine wahre Ahnung in unser Herz dringt, so werden wir zu keiner Zeit anders können, als von der Person Jesu zu sprechen, der sich fühlte als Sohn Gottes und der uns lehrte, uns selbst als seine Kinder zu betrachten. Brüder Jesu sind wir und darin zugleich Brüder miteinander. Bis zum Ende der Tage wird uns dieses Bild Jesu begleiten: wie er betet für uns und wie alles, was er uns sagt, zu einem Gebet wird, das wir füreinander verrichten. In uns wird er verherrlicht, und niemals schöner, niemals größer wird er sein, als wenn wir die unendliche Würde begreifen, mit der Gott einen jeden Menschen ausgestattet hat in alle Ewigkeit.

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Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 2. Teil: Bewahre sie in deiner Wesensart (Joh 17,11) Das Tiefste, was wir im Leben eines Menschen tun können, und das Letzte, was wir am Ende eines Lebens füreinander zu wirken vermögen, ist das Gebet. Jede starke Liebe wird an die Grenze dessen stoßen, was wir füreinander besorgen, machen und verrichten können. Für ein endliches und begrenztes Wesen, wie wir es sind, bleibt dann nur übrig, den anderen, den man liebt, in den Bereich des Unendlichen zu entlassen und für ihn von Herzen zu beten. So enden konsequenterweise gerade die Abschiedsreden Jesu im Johannes-Evangelium mit einem Gebet: Am Scheidepunkt unseres Lebens, am Ende aller menschlichen Möglichkeiten, bleibt uns nichts anderes, als miteinander vor Gott hinzutreten und füreinander einzutreten, ganz so, wie der johanneische Jesus es hier tut. An dieser Stelle unseres endgültigen Nicht-mehr-weiter-Könnens verfügen wir allein über diese unendliche, jedenfalls unendlich tröstliche Möglichkeit des innigen Gebetes darum, der andere möge ewig leben. Alles, was wir zutiefst einander in der Liebe wünschen, ist ja gerade dies: der andere möge in seiner ganzen Existenz, die von Gott ist, ewig sein, und in Gott möge er glücklich sein für immer. Beide Gebetsinhalte stammen aus der Liebe. Wenn man jemanden liebt, kann man ihn nur als ewig wünschen, und man bittet für ihn um so viel Glück wie irgend möglich; das heißt, man hofft für ihn, daß er Gott im eigenen Herzen auf eine Weise spüre, daß Gott innerlich sein ganzes Leben ausfüllen und leiten möge. Man hat dieses Gebet am Ende der Abschiedsreden Jesu das Hohepriesterliche Gebet genannt, sehr mit Recht, weil etwas anderes gar nicht «priesterlich» genannt zu werden verdient, als eben so füreinander im Gebet einzutreten, daß das Leben des anderen in Gott zu seiner Reinheit und zu seinem Schutz und zu seiner Wahrheit finde. Die Worte Jesu bitten den Vater, er möge einem jeden der Seinen zeigen, wie einzigartig er ist und wie ganz und gar in Gott gehalten er bleibt. Gerade dies hat Jesus mit allem, was er tat, uns vermitteln wollen; in bezug zu seinen Jüngern ist sein Gebet daher ein Dankgebet. Aber da wir noch in der Welt sind, gefährdet und mitten unterwegs, ist es auch eine Fürsprache: daß Gott uns so bewahren möge, wie es in der Person des Jesus aus Nazaret mit uns angefangen hat. So steht das Gebet Jesu zwischen Dankbarkeit und Zuversicht, und in jedem seiner Worte ist es ein Gebet des Vertrauens. «Vater» – so beginnt es: Alles, was Jesus uns anvertrauen und wie ein Vermächtnis übergeben 203

möchte, ist darin ausgedrückt. Wir möchten uns inmitten dieser Welt als väterlich (mütterlich) geborgen und behütet fühlen können, wir selbst in unserem kleinen Dasein als ein Teil von Gottes Herrlichkeit; wir selber möchten uns entdecken als etwas, das zur Größe Gottes beiträgt. Wenn wir daher im Umraum dieses Vertrauens füreinander beten, so können wir uns eigentlich nur aus tiefstem Herzen ersehnen, daß wir an diesem ewigen Gebet teilhaben, mit dem der Herr am Throne seines und unseres Vaters für uns eintritt. Möge, so beten wir, ein jeder von uns innerlich erfahren, was der Mann aus Nazaret war: eine Bestätigung, daß auch unser Leben vor Gott etwas gilt und daß es mitgemeint ist in dem Plan des Ganzen. Zu einem jeden von uns möge das Wort gesagt sein, das der Herr an den Gelähmten richtete, der hilflos und vereinsamt am Teich Betesda lag: nach Jahrzehnten der Trostlosigkeit konnte er unter den Augen und durch die Anrede Jesu sich bewußt werden, daß er selber einen eigenen Standpunkt einzunehmen vermöge und eigene Schritte ins Leben tun könne, ja, daß er selbst am Sabbat seine Bahre nach Hause tragen dürfe (Joh 5,1-18); mögen, so beten wir, die Hände Jesu sich auch auf unsere Augen legen und sie öffnen für das Licht (Joh 9,11-17); ja, möge unser Dasein aus der Dunkelheit des Todes heraustreten in den ewigen Glanz des Tages (Joh 11,28-54) – wir selber uns und den anderen wie ein Sonnenschein; und möge für uns wahr werden, was der Herr als seinen Auftrag und sein Werk gelebt hat: daß er selbst unsere Speise, unser Brot sei (Joh 6,35), – besteht doch unser ganzes Leben darin, Gott zu erkennen als die einzige und wahre Wirklichkeit und endgültig zu wissen, woraus wir eigentlich existieren. Es ist in dem Abschiedsgebet des johanneischen Jesus die Grenze noch einmal sehr scharf gezogen zwischen der «Welt», wie das Johannes-Evangelium sagt, und denen, die an Jesus glauben. Auch dies ist ein Hauptinhalt dessen, was wir im Gebet einander wünschen: daß unser Leben sich niemals verschließe gegenüber seinem ursprünglichen Glück, daß es nie mehr zurückgezogen werde in die Verzweiflung, in die Ausgeliefertheit, in die Finsternis, in den Tod, eben in die «Welt». Denn für die «Welt» der gnadenlosen Angst hat sogar Gott letztlich kein zusätzliches Wort mehr übrig, das über die Botschaft Jesu noch hinausreichte, und auch der Jesus des Johannes-Evangeliums hat dafür schließlich kein Wort der Fürbitte mehr auszurichten. Aber gerade das ist so eigentümlich: wenn es um Gott geht und um das, was uns im letzten glücklich macht, ist es für uns stets wie eine Herzensbestimmung, wie eine innere Fügung, die wie passend und notwendig alles 204

gerade dergestalt anordnet, daß es am Ende für uns richtig ist und wir dafür vor Gott und füreinander nur auf das innigste danken können. Wenn es uns hinüberträgt in den Raum Gottes, merken wir ganz genau, was unsere Wahrheit ist und unsere Berufung und wer wir selber sind. Und daher greift es ineinander: Gott zu erkennen heißt zugleich auch zu wissen, wo wir selber stehen, und im Vertrauen auf Gott können wir es aneinander weitergeben, – ein jeder ist auf diese Weise durch die Liebe für den Menschen an seiner Seite «priesterlich»: wenn er in seinem Leben etwas von der Schönheit Gottes wirklich nach außen sichtbar werden läßt, so öffnet er dem anderen ein Fenster, das auch ihm selbst den Blick zum Himmel freigibt. Und damit endet denn dieses Gebet: daß Gott, der Vater, uns so bewahren möge, wie wir im Vertrauen und in der Liebe ein Stück weit schon geworden sind. So wie Jesus eins ist mit seinem Vater, mögen auch wir in ihm eins sein miteinander (Joh 17,21) bis ans Ende dieser Tage, in alle Ewigkeit.

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Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 3. Teil: daß er ihnen gebe unendliches Leben (Joh 17,2) Mehr als der Kirche des Abendlandes, als der römisch-katholischen Kirche, verdanken wir vor allem dem kulturellen Erbe des Orients und seiner Weltsicht eine Fülle von Bildern und Symbolen auf dem Weg zwischen Zeit und Ewigkeit, die dem Johannes-Evangelium sehr nahe stehen. Würden wir nur diese Worte aus den Abschiedsreden Jesu kennen, so müßte sich allein aus ihnen, fast zwingend, der Schluß ergeben, daß der Ort ihrer Entstehung im Alten Ägypten zu suchen sei. In der Oase am Nil träumte man Jahrtausende vor Christus, daß alles, was in diesem irdischen Leben sich ereignet, so begrenzt es auch scheinen mag, nur wie der Schatten, wie der flüchtige Widerschein einer anderen, ewigen Welt hoch oben über den Sternen sei; droben am Himmel werde es unvergänglich alles das noch einmal geben, was uns hier auf Erden umgibt, dort droben sei die eigentliche Wirklichkeit zu suchen, von der wir selber nur Traum seien und Schatten; noch einmal führen am himmlischen Nil des Morgens die Kähne unter geschwellten Segeln dahin, um die Last des Getreides zwischen den Städten hin- und herzutransportieren, noch einmal gingen des Morgens die Tiere zur Weide, die Männer zur Arbeit, die Kinder zur Schule, und alles, was wir in unserer Welt hier unten tun, sei nur wie ein Vorausbild oder wie ein Nachbild dieser in sich geordneten, dieser aller Vergänglichkeit enthobenen, dieser von allem Leid so himmelhoch entfernten ewigen Welt. Was uns im Christentum aus dieser Weltsicht überkommen ist, hat die Frömmigkeitshaltung des Orients in Gestalt der Ostkirche gewiß tiefer zu bewahren vermocht als der lateinische Ritus des Westens. Schlägt man in den Kirchen Byzanz’ das Evangelium auf, so feiert man das Wort Gottes wie den Duft von Weihrauch und wie ein Abendopfer, das emporsteigt aus den Herzen der Menschen und das zurück will zum Himmel, während es doch herabgestiegen ist als das ewige Wort Gottes in unsere Zeit. Man begeht nicht, wie wir es gewohnt sind, das Opfer Christi wie eine Wegzehr auf einem langen Pfad durch die Wüste hinüber ins Land der Verheißung, man feiert vielmehr die Gemeinschaft des Göttlichen unter den Menschen, wie wenn für die Dauer einer kurzen Stunde der Himmel selber auf die Erde kommen wollte und wir der ewigen Musik des Glücks und der Seligkeit in der Anschauung Gottes teilhaftig würden, so daß die Ostkirche in 206

der Ikonostase, einer dreitürigen Bilderwand, die ebenso durchscheinend ist wie verhüllend, eine Fülle von Gemälden: von Engeln und Heiligen, den Gläubigen vor Augen stellt, auf daß sie im Sichtbaren das Unsichtbare zu ahnen begönnen und im Unsichtbaren das Irdische verklärt zu finden vermöchten1. Gerade so sind auch die Worte aus den Abschiedsreden Jesu im Johannes-Evangelium: sie wirken nicht wie auf Erden gesprochen, sondern wie am Throne Gottes gesagt – während sie doch hier auf Erden verkündet werden. Man hat sie, wie schon erläutert, das Hohepriesterliche Gebet Jesu genannt, und diese schöne Bezeichnung ist richtig. Denn sie sind nicht vorgetragen als die Worte eines einmal verfaßten Fürbittgebetes für uns Menschen, als etwas also, das sich mit dem Weggang Jesu erledigt hätte, sondern umgekehrt: es ist, wie wenn Zeit und Raum ihre Gültigkeit verloren hätten, als ob es einen Tod gar nicht gäbe, sondern hier schon auf Erden uns die Gnade zuteil würde, Gott zu erkennen, – und ihn zu erfahren und in seiner Nähe wirklich zu leben bildete fortan unsere eigentliche Aufgabe. Das aber ist das unendliche Leben, erklärt dieser Text ganz wörtlich, daß sie dich erkennen, den einzig wahren Gott. Es ist der Inbegriff all dessen, was Jesus in der Deutung des Johannes-Evangeliums ist, was er war und was er sein wird. Das Johannes-Evangelium kennt, wie immer wieder vermerkt, keine Trennung zwischen dieser Welt und einer anderen Welt, zwischen einer Zeit, die vorübereilt, und einer ewigen «Zeit», die anbricht jenseits des Todes; für das Johannes-Evangelium gibt es nur eine einzige Wirklichkeit, in der alles miteinander verschmilzt; denn da gibt es die Angst nicht mehr, die uns lähmt und unser Herz umdunkelt; es gibt die Gewalt und die Nötigung der Schuld nicht mehr, in der wir unser Leben verfehlen und in welcher einer des anderen Dasein beschwert; es gibt den Abgrund der Verzweiflung nicht mehr, an dessen Rand wir uns an diese Welt klammern, mit einer Energie, wie wenn es nur dieses kurze Dasein für uns gäbe und ein anderes uns niemals bestimmt wäre. Das Johannes-Evangelium meint, daß Jesus und seine Botschaft uns dieses Vertrauen schenkten: wir vermöchten auf eine Weise zu leben, daß der Tod nicht mehr sei, daß eine Macht der Finsternis nimmer existiere und daß es keinen Schatten mehr gebe, den das Licht Gottes über unsere Seele zu werfen vermöchte. Deshalb sind diese Worte Jesu wie ein einziges Gebet, nicht vorgetragen eigentlich, sondern gelebt, eine Zusammenfassung all dessen, was irgend Leben heißen kann. Kein Evangelium schildert Jesus so sehr als den Sohn Gottes, als den aus der anderen Sphäre des Lichts Herabgestiegenen, wie das Johannes-Evan207

gelium, und dennoch sind die Worte die «bescheidensten» im ganzen Neuen Testament, mit denen Jesus an dieser Stelle versichert, er habe uns niemals etwas von sich her gegeben. Eben dies, daß er durchscheinend wurde für die Welt Gottes, bedeutet gerade, daß er auf alles Eigene, man kann nicht sagen: verzichtete, sondern daß er wußte, Besseres gebe es gar nicht zu tun, als daran zu glauben, daß Gott hell zu erkennen sei, wenn man ihm nicht im Lichte stehe, wenn man nicht den eigenen Willen zwischen sich und die anderen Menschen schiebe, sondern wenn man möglichst absichtslos, weitherzig, vertrauensvoll und offen dem anderen begegne, damit Gottes Wahrheit sichtbar werde und es im anderen zu leben beginne, so wie Gott es vorgesehen habe. Mehr sei nicht möglich, füreinander zu tun, mehr aber sei auch nicht nötig. Wir müssen uns demnach nicht fragen, was wir selber geben können, es genügt, in der Macht Gottes einfach zu sein und sich als offen zu erweisen für Gott, so daß es uns durchfließt mit einer Kraft, über die wir nicht verfügen, die sich aber wie durch ein Rinnsal weiterleitet, wie durch einen Seitenarm des großen Stroms des Nils, der Felder befruchtet und zum Leben erweckt, die sonst unter der Dürre wie brachliegend wären. Alles, was wir von Jesus entsprechend diesem Gebet der Abschiedsreden erfahren können, besteht darin, immer mehr zu fühlen und zu wissen, daß es sich so verhält: Kein Wort aus dem Munde Jesu, wenn wir es richtig verstehen, war und ist darauf bezogen, Macht für sich selber zu gewinnen. Alles, was Jesus vermitteln konnte, ist gewaltfrei und offen auf Gott hin, und immer wenn es diesen Mut erweckt, werden wir wissen, was Johannes hier überliefert und was er seinen Jesus sprechen läßt. Da besteht kein Unterschied mehr zwischen Gott und dem, den er gesandt hat. Beide sind eins; die Bedingung aber und der Grund, es zu bemerken, liegt ganz und gar darin, daß wir persönlich eins werden mit Gott und mit uns selber. Dies ist die Hoffnung, die Jesus uns anvertraut hat bis zum Ende der Tage: daß wir einer im anderen Gott wiederzuerkennen vermögen und uns aufeinander verwiesen fühlen. Denn nichts verbindet Menschen stärker als ihr Heimweh nach der Ewigkeit und als das Gespür, daß das, was wir die Welt nennen, niemals uns sättigen und erfüllen, niemals unser Zuhause sein kann. Inmitten dieser Sehnsucht sind wir verwandt, inmitten dieser Zuversicht verschwistert, inmitten dieser Hoffnung zu Gott Berufene. Über dem Haupt von uns allen aber liegt es wie ein sich ausbreitender Segen in dem Gebet der Fürbitte, das hier der johanneische Jesus am Throne Gottes für uns alle und für einen jeden einzelnen zu jeder Stunde und zu jedem Augenblick spricht. Wenn wir dieses Gebet das eines 208

Hohen Priesters nennen, dann ganz in diesem Sinne, daß ein Priester eben so sein sollte: ein Mittler zwischen Zeit und Ewigkeit, eine Brücke zwischen zwei Welten oder besser noch: ein Zeichen dafür, daß es nur eine einzige Wirklichkeit gibt, in der wir in Gott miteinander verbunden sind. Vielleicht daß man in diesem Punkte von fremden Religionen das Eigene am schönsten lernen kann. Wenn die Indios in Mittelamerika zum Beispiel in ihren Statuen und Bildern darstellten, was ein Priester sei, so zeichneten und formten sie die Gestalt eines Menschen, dessen Leib sich in die Achsen der Welt zwischen Oben und Unten, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ausdehnt. Dort, wo ein Priester ist, meinten sie, sei der Ort, an dem die Welt sich in ihrem Zentrum heiligt, an dem sie hinfindet zu dem verborgenen Mittelpunkt ihres Daseins. Ein Priester sollte ein Mensch sein, in dem sich, was sonst auseinanderfällt, vereinigt. So war Jesus für uns, und so ist er der Mensch, an dem unser Leben sich ordnet; und man weiß nicht: weist es zurück in die Erinnerung eines verlorenen Paradieses oder hinaus in jene Welt, die uns verheißen ist? Wohl: Anfang und Ende sind eins in der Ewigkeit Gottes; wir aber sind dieser winzige Punkt, diese flüchtige Note, diese verschwebende Stelle in der unendlichen Fuge des ewigen Gesangs der Sphären, der Teil eines nicht endenden Gebetes im Munde Jesu, im Herzen Gottes.

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Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 1. Teil: In der Welt, doch nicht von der Welt 12Solange

ich bei ihnen war, habe ich sie bewahrt in deiner Wesensart, in der du mir gegeben hast; ich wachte, und niemand von ihnen ist zugrunde gegangen (6,39!), außer dem «Sohn des Untergangs», (und auch der nur,) auf daß die Schrift erfüllt würde (Ps 41,10; Jes 57,4; Spr 24,22). 13Jetzt aber: Zu dir komme ich. Das sage ich (noch) in der Welt, damit sie die Freude haben, die meine, die vollkommene, in sich (15,11). 14Gegeben habe ich ihnen dein Wort, und so haßt sie die Welt, denn sie sind nicht (mehr) aus der Welt (15,19), so wie ich nicht aus der Welt bin. 15Ich bitte nicht, daß du sie herausholst aus der Welt, sondern daß du sie bewahrst vor dem Bösen (Mt 6,13; 2 Thess 3,3). 16Aus der Welt sind sie nicht, so wie auch ich nicht aus der Welt bin. 17Heilige sie in (deiner) Unverborgenheit. Das Wort, das deinige, ist (deine) Unverborgenheit (Ps 119,160). 18Wie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie in die Welt (20,21). 19Ja, für sie heilige ich mich selbst, damit auch sie geheiligt seien in (deiner) Unverborgenheit (Hebr 16,16).

Eine gewöhnliche Predigt sollte sein wie ein Seil: ein gut vertäuter Anfang, ein gerader Strang und ein gut vertäutes Ende. So aber läßt sich über das «Evangelium» eines Teils der Abschiedsreden Jesu keine gute Predigt halten; denn dieser Text besitzt weder einen Anfang noch ein Ende. Es ist ein ewiges Gebet über uns und unser Leben. Um es richtig zu verstehen, müßten wir uns zusammentun und möglichst jeden Satz und jedes Wort gemeinsam durchsprechen. Ein jeder müßte dem anderen sagen, was ihm diese Worte zu bedeuten vermögen, und so, im Austausch miteinander, würden wir schon ein Stück weit zusammen leben, was dieses Evangelium uns lehren will. In einer Predigt über diese Worte wird man daher nichts anderes tun können, als Anregungen für ein solches wechselseitiges Gespräch in einer möglichst stillen Stunde an einem Sonntagnachmittag zu geben. Ein jedes Wort verdient, daß man es in sich selbst bedenkt und hin und her wendet wie einen Kristall, wie einen Edelstein in den Brechungen des Lichtes. Wir haben das Gebet des Abschieds Jesu vor uns, und wir brauchen nur einmal zu vergleichen, wie wir, getrennt voneinander, an dieser Stelle Worte der Verbundenheit wechseln würden. Solange ein solcher Austausch im Rahmen der gewöhnlichen Sprache geschieht, würden wir beim Ab210

schiednehmen uns wünschen, daß wir Glück haben möchten, daß wir Erfolg haben möchten, daß wir gesund bleiben möchten, – kurzum: alle möglichen Liebenswürdigkeiten der irdischen Existenz würden wir einander auf den Weg geben mögen. Man muß schon sehr vertraut miteinander sein, um eine Schicht tiefer zu sprechen, weil es sonst fast wie aufdringlich und unanständig empfunden würde. So zu bitten, wie hier, setzt ein Höchstmaß an Innigkeit voraus, – ein Wünschen, das in sich selbst ist wie ein Gebet. «Vater, heiliger du, bewahre sie in deiner Wesensart, in der du mir gegeben hast, auf daß sie eins sind wie wir.» – Es geht, wohlgemerkt, hier um den Tod, um den endgültigen Abschied. Und schon daß davon in derart einfachen Worten gesprochen werden kann, in einer so ruhigen Zuversicht und sicheren Gewißheit, daß vom Sterben kaum noch die Rede ist, sondern nur noch von einem Hinübergehen, ist erstaunlich und in gewissem Sinne umstürzend. Wenn wir uns liebhaben, möchten wir das Beste füreinander tun und besorgen, und doch wissen wir genau, daß all unsere Mühen ihre Grenzen haben. Zu unerbittlich ist die Schranke des Todes, und es wird uns Angst an dieser Wegmarke der unabänderlichen Trennung beschleichen. Nichts mehr können wir dann zum Schutz des anderen besorgen; es bleiben in unserem Munde nur noch die Worte des Gebetes übrig: «Bewahre sie, die uns anvertraut wurden auf dem Weg unseres Lebens, wesentlich, in deinen Händen, Gott.» All unsere Sorge umeinander wird einmünden in dieses Flehen, daß Gott unsere schwachen Anstrengungen füreinander fortsetzen möge. Aber: «Bewahre sie», sagt der johanneische Jesus, «nicht in äußerem Sinne vor irgend etwas, schütze sie nicht vor bestimmten Einflüssen von draußen, sondern: erhalte sie in der Geborgenheit und in der Unverborgenheit deiner Wesensart.» Eine solche Aussage ist vollkommen eins mit der Anrede Jesu an Gott: Vater, heiliger du. Das Gewicht solcher Worte wird man erst zu wägen vermögen, wenn man spürt, wie wenig selbstverständlich sie sind. Ein Großteil der Bevölkerung in Europa ist wohl eher zufälligerweise ins Christentum hineingelangt, von Kindesbeinen an, fast ohne darüber nachdenken zu müssen, oft genug im Schatten eines päpstlichen Zentralismus, der einen irdischen Menschen von Amts wegen selber mit dem göttlichen Gebetstitel eines «heiligen Vaters» überzieht; unter solchen Umständen mag es wie selbstverständlich scheinen, Gott den Vater zu nennen; erst wenn man auf Menschen stößt, die dieses Wort kaum über die Lippen bekommen, merkt man, wie wenig eindeutig, wie wenig vertrauenbildend Reden dieser Art sind. Was für ein Unterfangen, Gott den «heiligen Vater» zu nennen! 211

Es war zum Beispiel Albert Einstein, der sagte, er glaube an eine höchste, absolute Vernunft in den Dingen, an ein geistiges Gesetz, das alles, was existiert, durchziehe1. Doch ein solches absolutes Gesetz in allen Dingen ist vollkommen jenseits aller menschlichen Gefühle; es ist völlig fremd jeder menschlichen Rücksichtnahme! Diesem höchsten geistigen Gesetz muß es in gewissem Sinne egal sein, was sich auf der winzigen Erdkruste abspielt, denn es rechnet in riesigen Dimensionen des Raumes und der Zeit. Es ist zu keiner besonderen Treue uns Menschen gegenüber verpflichtet, es hat weder die Macht, Tränen zu trocknen, noch Leid zu trösten. Wie käme man dazu, an eine solche absolute Vernunft in den Dingen auch nur ein einziges Gebet zu richten oder auch nur irgendeine Hoffnung an sie zu knüpfen? In vielen Gesprächen begegnen wir Menschen, die wohl an eine höchste Vernunft in den Dingen glauben, doch sie werden diese «Vernunft» niemals Gott nennen in dem Sinne, wie es in den Abschiedsreden im JohannesEvangelium geschieht. Und doch kann es sein, daß, unklar oft woher, ein Gefühl in uns wächst, mit unserer kleinen Existenz von ein paar Jahrzehnten berechtigt und bestätigt zu sein. Eigentümlich ist es, daß dann, bei einer reifenden Form, sich selber ein Stück weit für richtig zu finden und für gewollt zu halten, im Untergrund auch ein Vertrauen sich entwickelt, daß es so etwas wie einen Gott geben könne. Immer im Wechsel zwischen persönlicher Erfahrung und religiöser Haltsuche zeigt es sich, daß der Glaube an Gott abhängt von einem menschlichen Gegenüber, an dem man ein Stück Geborgenheit und Akzeptation erfährt. Sagen wir so: Wir Menschen können füreinander wie Fenster in der dunklen Kerkerwand der Schöpfung wirken, so daß Licht aus einer unbegreifbaren Ferne in den Innenraum unserer Gefangenschaft zu fallen vermag. Wo wir einander ein Stück begleiten und der andere sich selber durch uns für wichtig und wesentlich angesehen fühlt, so sehr, daß er das Vertrauen aufbaut, in alle Ewigkeit eine solche Gültigkeit und Unvertauschbarkeit in seinem Dasein zu besitzen, da richten sich, wie am Anfang dieses Gebetes Jesu, die Augen zum Himmel, und wir werden fähig, das abgründige Geheimnis hinter aller Welt zu bezeichnen als unseren Vater. Die christliche Religion gründet in der Erfahrung, daß wir menschlicher Mittler bedürfen, um Gott als unseren Vater zu erkennen; doch ihm, Jesus, war dieser Name «gegeben»; ihm zuliebe ist und wurde es möglich, Gott als Vater wahrzunehmen. Diese Haltung eines neu gewonnenen Vertrauens begründet sich weder theologisch noch naturphilosophisch: Jesus glaubte nicht aufgrund rationaler Beweisgänge über die Herkunft der Welt an Gott 212

als den «Schöpfer»; in seinem Herzen und in seinem Munde lebte vielmehr ein unverbrüchliches Vertrauen in die Güte aller Dinge; und so konnte man in seiner Gegenwart erfahren, wie das Leben sich selbst zurückgegeben wurde; angerührt von seinem Wort, rückten die Menschen näher aneinander, wurden sie eins mit sich selber und miteinander. Sie verloren einfach die Gründe, aus Angst, sich voneinander zu entfernen, aus Angst, gegeneinander zu kämpfen und in der angstverengten Abgeschlossenheit des Herzens böse zu sein. Dies ist deshalb der Kernpunkt der ewigen Bitte Jesu über uns: wir möchten bewahrt bleiben in diesem Vertrauen zu Gott als unserem heiligen Vater; nichts sei wichtiger in unserem Leben, als daß wir – über alle Zeiten hinweg – diesen Namen Gottes nie mehr aus unserer Seele verlören. Ich wachte, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums, und niemand von ihnen ist zugrunde gegangen, und er betet, daß dieser Schutz in der Obhut Gottes sich fortsetzen möge über uns! Jetzt aber: Zu dir komme ich, spricht er weiter, doch er hinterläßt uns diese Worte, damit wir, statt von Angst geprägt zu sein, die Freude, das Glück eines gelingenden Lebens in uns tragen. Es ist an dieser Grenzzone eines richtigen Lebens vor Gott im Raum der «Gerechtigkeit» nur um so deutlicher, wie viel einer solchen Wirklichkeit widerspricht. Gerade weil wir im Vertrauen zu Gott einander herzlich zu lieben vermögen, einfach in der Offenheit den anderen gelten zu lassen, ohne ihn für uns selbst zu benutzen oder in Dienst zu nehmen für die Stärkung unseres Selbstwertgefühls, werden wir in der «Welt», wie sie ist, Angst erregen, werden wir neuerliche Barrieren aufrichten, werden wir Schwierigkeiten erfahren, bekommen und schaffen. Der johanneische Jesus formuliert es ganz klar: «Gegeben habe ich ihnen dein Wort, und so haßt sie die Welt, denn sie sind nicht (mehr) aus der Welt, so wie ich nicht aus der Welt bin.» Es klingt wie ein ewiges Gesetz, wie eine Art Gütesiegel dafür, dem Vorbild Jesu zumindest ein wenig ähnlich zu werden. Die Diskrepanzen sind dabei immer dieselben: – Paulus beschreibt sie zwischen dem «alten» und dem «neuen» Menschen (Röm 5,12-19; Kol 3,1-17), zwischen dem «natürlichen» («fleischlichen») und dem «geistlichen» Menschen (1 Kor 2,14.15); das Johannes-Evangelium schildert dieselbe Erfahrung unter dem Begriff der Welt und der Wirklichkeit des Vaters. Die stets gegenwärtigen Belege für diesen Kontrast ergeben sich heute aus der Spannung zwischen dem Weltbild der Naturwissenschaften und dem Standpunkt des Glaubens. Worum dreht sich die Welt? Um den Kampf ums Überleben, sagen die Biologen, und sie haben recht. Im Pflanzenreich wie im Tierreich stellen 213

sich dieselben Fragen: Wer ist der Größte, wer ist der Stärkste, wer erreicht mit dem geringsten Energieaufwand das meiste, wie besetzt man jeden Kubikmillimeter Erdoberfläche randvoll mit den Angehörigen der eigenen Art? – Worum dreht sich die menschliche Geschichte? Um die Probleme der Geldbeschaffung: wie man es anlegt, wie man es vermehrt, sagen die Wirtschaftsfachleute, und auch sie haben recht. Geld ist der Energieträger der sozialen Kreisläufe. Mit Geld kommt man an die Macht; mit Geld besetzt man Stellen; «denn wer das Geld hat, hat die Macht, und wer die Macht hat, hat das Recht, und wer das Recht hat, bricht es auch, denn über allem steht Gewalt», heißt es in Carl Orffs Oper Die Kluge2, und in der Tat, so dreht sich’s zynisch immer weiter. Das ist «die Welt», wie wir sie auf allen Ebenen kennenlernen und zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist der wichtigste Trost, von dem Mann aus Nazaret zu hören, daß wir mit dem Blick zum Himmel im Namen Gottes als unseres Vaters ganz anders zu leben vermögen, nicht aus der Welt und doch inmitten dieser unbarmherzig erscheinenden Wirklichkeit. Kein Gott kann uns und wird uns dies ersparen: In die Welt «gesandt» sind wir wie Jesus selber, notfalls bis zum Scheitern. Denn das Ziel dieses Lebens ist nicht die Sorge zur Sicherung unseres irdischen Daseins, sondern daß wir in der Wahrheit bleiben mögen, daß unsere Existenz geheiligt, gottgeweiht sei für immer. Das Wort Gottes ist in diesem Sinne kein Ensemble logisch kohärenter Sätze, es ist eine Wirklichkeit des Existierens. Nur ein Wort des Vertrauens läßt uns richtig leben, das ist die ganze «Wahrheit», die vollkommene «Unverborgenheit» eines väterlichen Gottes. Daß umgekehrt die Welt dieses Bild nie mehr zu verdunkeln imstande ist, dafür kann und soll unser Leben so etwas darstellen wie einen Beweis.

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Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 2. Teil: … daß du sie bewahrst vor dem Bösen (Joh 17,15) Weil es für eine tiefe Liebe keinen Ausdruck gibt, der sensibler und innerlicher wäre als das wechselseitige Gebet, geschieht es hier, daß die letzten Worte Jesu bei seinem Abschied von den Jüngern Worte eines ewigen Gebetes sind. Jede andere Art, miteinander umzugehen, hat etwas Äußeres an sich. Wir können einander Gefühle der Zuneigung und der Fürsorge entgegenbringen, wir vermögen uns Mühe zu geben, das Wohl des anderen zu fördern und nach Möglichkeit Schaden von seiner Person fernzuhalten, aber wir werden bei aller Anstrengung im Rahmen unserer Sorgen von seinem Wesen allenfalls den äußeren Rand berühren. Allein das Gebet entstammt einer Haltung, die offen genug ist, um das Wesen des Geliebten in seiner Wahrheit zu erreichen, verdankt es sich doch selber einer Erfahrung, die einzig die Liebe schenken kann: wie sehr der andere in seiner ganzen Eigenart bereits durch sein bloßes Dasein unsere eigene Existenz über die Welt hinaus zu erheben vermag und Brücken über den Abgrund zu schlagen imstande ist zum Ufer einer anderen Welt. Jede Liebe entdeckt den Menschen, auf den hin sie sich versammelt, in bereits angegebenem Sinn als «priesterlich» – als fähig, die Welt hoch zu machen bis zu den Sternen und weit bis zum Unendlichen. Unter den Augen der Liebe entstammt der andere unmittelbar den Händen Gottes; einzig die Liebe taucht in den Zauber seines Wesens, seiner Wahrheit und seiner Schönheit ein. Wenn dieses Gefühl der Dankbarkeit von uns Besitz ergreift, verwandeln sich alle Worte und Gefühle in ein unablässiges Gebet. Es ist in solchen Momenten nicht möglich zu sagen, worum wir dann eigentlich beten. Äußerlich gesehen, möchte uns mancherlei in den Sinn kommen, was Gott, wenn er es gut mit dem anderen meint, für ihn tun und besorgen sollte. Aber sonderbar, daß diese Art betender Fürsorge immer weiter zurücktritt, je verbindlicher die Liebe reift und sich verwurzelt. Denn im Grunde geht es nur um eines: einander wechselseitig zu dem Sternenweg zurückzuführen, von dem her wir von Gott zur Welt gelangt sind. Dies ist die wichtigste und wahrste Erkenntnis, die wir in der Liebe gewinnen und im Gebet bestätigen können: Der andere in seiner Existenz ist unableitbar von Gott gekommen; die Freiheit seines Wesens verdankt er keinem anderen Menschen, im Gegenteil, oft sogar ist er genötigt, den Dirigismus des vermeintlich verantwortlichen guten Willens seiner Umge215

bung ein Stück weit abzuschütteln, um zu sich selber finden zu können. Diese mächtige, himmelweit aufschwingende Kraft seiner Seele, die ihn beflügelt, frei zu sein, verdankt er einzig der Erinnerung an das Licht der Sterne, an das Wesen Gottes, aus dem er selber stammt. Worum also sollten wir beten, wenn nicht gerade um das Anliegen, das Jesus als das einzig wesentliche in sein Herz schließt und das er uns selber mit auf den Weg gibt? Es geht nicht um die Fürbitte, Gott möge in dieser Welt uns irgend etwas ersparen; im Gegenteil, je entschiedener und entschlossener jemand zur Wahrheit seiner eigenen Person zu stehen beginnt, desto sicherer wird er erleben, wie sehr von außen Zweifel, Kritik, schließlich Zorn, der johanneische Jesus sagt sogar: Haß, über ihn hereinfallen. Die Gläubigen der frühen Kirche gaben dafür selber ein Beispiel: Der altrömische Geschichtsschreiber Tacitus am Ende des 1. Jhs. nannte, wie schon erwähnt, die Christen kurz und bündig «den Haß des ganzen Menschengeschlechtes».1 Und er hatte in gewissem Sinne Grund, so zu schreiben. Denn was alle anderen sonst auf Erden zu erfreuen schien, galt diesen merkwürdigen Sonderlingen für roh, unmenschlich und primitiv. Worauf alle anderen sonst ihre wohlerworbenen Rechte, ihre einklagbaren Titel, ihre hartumkämpften Ansprüche gründeten, hielten diese für nebensächlich, für überholt und für völlig irrelevant. Was alle anderen sonst als den höchsten Inhalt des Lebens betrachteten, kümmerte diese gar nicht. Kurz, sie waren in gewissem Sinne in ihrer Lebensweise ein lebendiger Vorwurf, in ihrer Abgrenzung eine Provokation, in ihrem eigenen Weg eine wandelnde Anklage, und sie reizten alle ordentlichen Bürger geradewegs dazu an, über sie herzufallen und sie zu zwingen, sich ihnen gleichförmig und gleichartig zu machen, um so zu sein wie all die «vernünftigen Menschen» sonst. Aber eben, was den Vernünftigen als weise vorkam, war für diese, die sich als «Christen», als die Söhne des ewigen Vaters bezeichneten, sinnlos und töricht (1 Kor 1,20). Sie sind nicht (mehr) aus der Welt, das heißt: sie sind imstande, alles zu relativieren, was es in der Welt gibt. Schon deshalb sind sie für die Kinder dieser Welt hassenswert. Ihre Zuversicht auf ein ewiges Leben ist eine ständige Beunruhigung gegenüber der üblichen Art, sich gegen den Tod zu schützen, so wie es alle anderen sonst tun: indem sie sich mit allen Kräften in das Irdische vergraben. Die Herausforderungen, die sich daraus ergeben, die Konflikte, die Skandale, möglicherweise auch die Bedrohungen und Verfolgungen, kann man im letzten gerade dem Menschen, den man liebt, nicht abnehmen, so wenig wie es Jesus sich gefallen ließ, als Petrus auf dem Wege nach Jerusalem ihn bat, den Gang in das absehbar Todgefährliche nicht fortzusetzen; 216

er fuhr ihn förmlich an, nicht nach solcher Weise Menschengedanken statt Gottespläne im Herzen zu tragen (Mk 8,33). Es gibt nur eines, worum es sich lohnt, wirklich zu beten, das aber unablässig: daß Gott uns bewahren möge vor dem Bösen, oder anders ausgedrückt, daß er die Wahrheit unseres Wesens in uns täglich reicher, blühender und schöner sich entfalten lassen möge, sind wir doch ihm anvertraut und ihm anheimgestellt in Zeit und Ewigkeit. Nur dieses eine Gesetz gibt es: in reifenden Ringen die eigene Wahrheit zu leben. Sie entfaltet sich im Umkreis der Liebe, und sie bestärkt sich in der Güte und im Wohlwollen des begleitenden Gebetes. In beidem: in der Liebe des Gebetes und im Gebet der Liebe, weitet sich unser Herz, wird es fähig zu einer Güte, die keine Grenzen kennt, ist es imstande, schon hier auf Erden den Himmel zu berühren.

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Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 3. Teil: Heilige sie in deiner Unverborgenheit (Joh 17,17) Es ist die Vision des Johannes-Evangeliums, sein Jesus habe unmittelbar vor dem Beginn seines Leidens in einem großen Gebet sich an Gott gewandt und darin alles ausgedrückt, was ihm wesentlich war und was er uns Menschen bedeuten wollte. Sein ganzes Leben, will Johannes sagen, war ein solches Gebet und wird es in Ewigkeit am Throne Gottes für uns bleiben. Alles, was Jesus verkörperte, sagte und tat, läßt sich dahin zusammenfassen, daß er uns betend den Namen Gottes gelehrt hat. Was wir von Gott niemals wissen würden, was wir durch keine Philosophie noch Wissenschaft erforschen könnten, ist uns nahegebracht worden und wird uns evident in der Gegenwart Jesu: Da sehen wir, daß der Hintergrund der Welt kein dunkler Abgrund ist und daß das, was diese Welt durchzieht und umfängt, keine schweigende Macht ist, der wir wesenhaft gleichgültig sind, sondern daß sie das Antlitz und Gesicht unseres Vaters trägt. Wir selber, inmitten unseres kurzen Lebens, dürfen Vertrauen setzen in eine Kraft, die will, daß wir sind, und die es gut mit uns meint, ob wir es jeweils spüren oder nicht. In dieser Zuversicht können wir leben, solange Jesus bei uns ist; immer, wenn wir seine Worte hören, sind wir in seiner Nähe zugleich nahe bei Gott. Und diese Hoffnung bleibt, daß wir aus der Nähe Jesu nie herausfallen werden, was immer wir tun oder was immer uns geschehen mag. Wohl, es kann sein, daß wir von uns selber und von anderen Menschen durch Schuld getrennt werden. Doch Jesus lehrte uns zu glauben, daß Gott nicht bereitsteht, über uns Gericht zu halten, daß er im Gegenteil nicht unseren Tod will, sondern unser Leben, und daß er gewillt ist, uns alles zu vergeben. Es kann sein, wir entdecken, daß wir eigentlich noch nie wirklich gelebt haben, weil wir uns wie in einer dunklen Nacht durch diese Welt getastet haben und gestolpert sind. Und trotzdem sind wir fähig, zu entdecken, daß wir in der Gegenwart Jesu noch einmal von vorn anfangen können, um zu wachsen und zu reifen und ein eigenes Bewußtsein für unser Dasein zu entwickeln. Es ist auch möglich, daß wir zu empfinden beginnen, wie reich und wie glücklich wir leben könnten, wenn wir uns die Wahrheit unseres Lebens nicht weiterhin von außen durch die Macht der Lüge umprägen ließen, sondern von innen heraus wahrhaftig zu sein wagten. Es ist dann so etwas wie eine Wiedergeburt aus Geist (Joh 3,3). 218

Dann bleibt, daß, je mehr wir ahnen, was Jesus uns zu sagen hat und aus welcher Wahrheit wir innerlich zu leben vermögen, die Kluft zu der Ordnung der Welt, die uns umgibt, auf fast groteske Weise zunimmt. Je mehr wir begreifen, wie sehr es stimmt, was Jesus uns mitzuteilen hat, desto phantastischer und spukhafter werden uns die ganz normalen Einrichtungen unserer Gesellschaft, des Staates, all dessen, was wir alltäglich zu sehen bekommen, erscheinen – eine Welt, die wesentlich gegründet ist auf Angst und deren Hauptabwehrformen von Angst darin bestehen, Geld, Macht, Rechthaberei, autoritäres Gehabe, Dominanzverhalten und Vernichtungskonkurrenz bis zum Extrem zu steigern. Dies alles heißt nicht Leben, doch es gibt sich dafür aus, es behauptet sich als «Realität». Das alles hat mit Vernunft nichts zu tun, aber es zelebriert sich als eine selbstverständliche, nicht weiter hinterfragbare Tatsache. Jesus hat nie gewollt, daß wir rings um uns her derartige Dämme eines angstbedingten Egoismus bildeten oder in irgendeinem klösterlich wohlversorgten Institut verschwänden, um uns derlei Auseinandersetzung und Spannung gegenüber der Welt zu ersparen. Keine Kirche, die sich auf den Mann aus Nazaret beruft, darf und kann eine feste Burg sein, hinter deren Mauern wir die Welt in ihren Untergang treiben lassen könnten. Ganz im Gegenteil: Wir selber sind mitten in der Welt, und wir müßten an der Seite Jesu den Mut aufbringen, jeden notwendigen Konflikt und jede sinnvolle Auseinandersetzung einzugehen. Es gibt etwas Schlimmeres, als an dem Druck von außen leiden zu müssen. Viel schlimmer wäre es, die Wahrheit, die wir in uns selber längst kennen, zu verleugnen, – wieder nur aus Angst. Am Ende steht eine Bitte Jesu, die im Johannes-Evangelium so rigoros ausgesprochen wird, daß man deutlich spürt, daß sie schon in den Tagen, als dieses Evangelium entstand, gefährdet und bedroht war. Es ist diejenige Bitte Jesu, die nach 2000 Jahren Christentum fast widerlegt scheint: daß wir, die Jünger Jesu, untereinander eins sein sollten, so wie Jesus und der Vater eins sind. Jede menschliche Gemeinschaft sonst mag sich zusammenrotten zur Überwindung irgendeiner akuten Gefahr, von jeder Gruppierung sonst mag gelten, daß sie über kurz oder lang an der verinnerlichten Gewalt scheitern wird. Von den Jüngern Jesu indessen sollte gelten, daß sie zueinanderfinden, getragen von der Kraft der Liebe: nicht der Angst, sondern der Brüderlichkeit, nicht der Machtbesessenheit, sondern des wechselseitigen Respekts. Allerdings: irgend etwas müssen wir im Verlauf der Kirchengeschichte falsch gemacht haben und immer noch falsch machen, wenn wir das Schauspiel betrachten, in dem mitten im Christentum die Worte Jesu als Waffen und Kampfmittel eingesetzt werden, um gegenein219

ander recht zu behalten, wenn wir mitansehen müssen, wie das Zeugnis der Geschichte verwandt wird, um Menschen aus der Gemeinschaft Jesu konfessionell gegeneinander zu organisieren. Es scheint der wesentliche Fehler zu sein, daß wir denken oder denken zu müssen glauben, wir könnten irgend etwas von Jesus oder von Gott nach Art einer fertigen Lehre vortragen. Um es möglichst kraß auszudrücken: Nicht einmal die Worte Jesu sind «Wahrheit» in der Weise, daß man sie nehmen und in jeder Lebenslage unterschiedslos, einfach weil sie so gesprochen sind, als fertige Formeln verwenden könnte. Alles, was Jesus sagt, ist bezogen auf bestimmte Augenblicke, auf bestimmte Fragestellungen, zur Überwindung konkreter Not. Es gibt keine Weltenformel im Umgang mit Gott; was es gibt, ist immer wieder nur ein Suchen unter bestimmten Umständen, in bestimmten Situationen, gewissermaßen als eine immer neue Verpflichtung, aufmerksamer hinzuhören. Gott ist nicht nie «fertig», er ist nichts, was man in ein Gesetz pressen könnte. Und von der Person Jesu gilt dasselbe. Gewiß, wenn wir jemandem vorschreiben, er solle bekennen, Jesus Christus sei der Sohn Gottes, so können wir so tun, wie wenn wir damit etwas Objektives, etwas an und für sich Wahres, Allgemeingültiges und Unabänderliches ausgesprochen hätten. Aber so ist es nicht. Selbst die Worte der Evangelien sind zeitbedingt und überholbar, sie sind Hinweise auf Wahrheiten, die sich erleben lassen, wenn man sich auf sie einläßt, aber sie sind nur ein begrenzter Ausdruck dessen, was Jesus wirklich ist und sein kann. Er ist in jedem Falle viel mehr. – Würden wir statt der Wendung: «Ich glaube an Jesus Christus als an den Sohn Gottes» ganz einfach sagen: «Ich habe erfahren, daß im Mittelpunkt meines Lebens die Person des Mannes aus Nazaret steht; wenn ich mich von ihr entferne, wird es um mich dunkel; wenn ich sie verleugnen würde, dann müßte es in Stunden schmerzlichster Verzweiflung geschehen; doch je näher ich ihr komme, desto dichter bin ich dem Licht. Ich kann und weiß ohne ihn nicht zu leben», so würden wir ohne jede dogmatische Begrifflichkeit durchaus gültig beschreiben, wie an Jesus als an den Sohn Gottes zu glauben ist. Wir hätten damit zu einer Ausdrucksform gefunden, die keine Rechthabereien, keine Kämpfe, keine Konfessionsstreitigkeiten mehr kennt. Da gäbe es nur noch Menschen, die sich alle gemeinsam bemühen, die suchend auf dem Weg sind und miteinander austauschen, was ihnen Jesus Christus bedeutet. Dann kann es sein, je nach den Lebensumständen, daß der eine noch sehr am Anfang steht, während der andere vielleicht schon etwas weiter vorangekommen ist, – aber wer weiß das von außen, und wer hätte ein Recht, sich darauf zu berufen? Es gibt im Grunde nur eine einzige Mensch220

heit, die gemeinsam auf diesem langen, gefährlichen, großartigen Pfad zwischen Zeit und Ewigkeit unterwegs ist. Ein jeder Mensch ist bestrebt, ein Stückchen Wahrheit in seinem Leben zu verwirklichen, und je mehr er das tut, desto deutlicher wird er von der Wahrheit Jesu sich getragen fühlen. Woher eigentlich beziehen wir die Arroganz, einem anderen das bißchen an Einsicht, was er gerade in Händen hält, wegzunehmen, weil wir es angeblich schon besser, vollkommener und richtiger wüßten? Was soll das nur für eine Selbstberuhigung sein, die in fertigen Formeln am Ende das Suchen verhindert, indem sie das Finden nicht mehr erlaubt, weil wir ja alles Wesentliche schon immer gefunden haben müssen? Jede Generation, jeder Mensch steht jeden Tag in Sachen Gottes und in den Anliegen Jesu am Anfang. Das jedenfalls ist es, was wir Ewigkeit nennen, – etwas jenseits der Zeit, etwas außerhalb jedes festen Standpunkts. Von daher müssen wir dieses Gebet des Herrn am Throne Gottes, zeitlos und schwebend, jeden Tag uns existentiell noch einmal sagen lassen: «Bleibt in der Wahrheit.»

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Joh 17,20-26: … auf daß sie alle eins sind (Joh 17,21) 20Doch

nicht für diese allein bitte ich, sondern auch für die, die durch ihr Wort auf mich vertrauen (Röm 10,17), 21auf daß sie alle eins sind (Gal 3,28), wie du, Vater, in mir und ich in dir, auf daß auch sie in uns sind, auf daß die Welt vertraue, daß du mich gesandt hast. 22Ja, ich – die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, damit sie eins seien (Apg 4,32) – eins wie wir: 23ich in ihnen und du in mir (1 Kor 6,17), auf daß sie vollendet seien auf eins hin, auf daß die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast und du sie liebst, wie du mich liebst. 24Vater, was du mir gegeben hast, – ich will: daß, wo ich bin, auch sie mit mir sind (12,26), damit sie schauen die Herrlichkeit, meine, die du mir gegeben, weil du mich geliebt hast (schon) vor Grundlegung der Welt (Spr 8,25-31). 25Vater, gerechter du! Nein, die Welt hat dich nicht erkannt; ich aber habe dich erkannt, und sie haben erkannt, daß du mich gesandt hast. 26Ja, zu erkennen gab ich ihnen deine Wesensart und tue es weiter, auf daß die Liebe, mit der du mich (seit eh und je) liebst, in ihnen sei und ich in ihnen.

Das Abschiedsgebet Jesu im Johannes-Evangelium war bisher ein Bittgebet für die Jünger: Gott möge sie bewahren – in der Welt vor der Welt. Durch die Botschaft Jesu sind sie, die in ihm und an seiner Seite Gott (als «Vater») erkannt haben, der «Welt» «entnommen»; endgültig definieren sie sich nicht mehr von der Welt her, ein für allemal sind sie nicht mehr aus der Welt (Joh 17,14); und doch spricht in allem eine Sorge sich aus, die bereits in den Aussendungsreden bei Matthäus (Mt 10,16) und Lukas (Lk 10,3) dem «historischen» Jesus zugetraut wird. «Ich sende euch wie Schafe unter Wölfe», soll Jesus zu seinen Jüngern gesagt haben, als er sie vor sich her in die Dörfer Galiläas sandte. Ohne Zweifel mußte er wissen, wie konträr, wie fremd, wie grotesk, wie paradox ein Leben sich gestalten wird, das so anders sich versteht und bestimmt, als es im Rahmen der «Welt» alternativelos notwendig scheint; alle späteren Erfahrungen von Spott und Haß, von Verleumdung und Verfolgung finden ihr Resümee in einem Vers, der bereits das Schicksal Jesu selbst andeutet. «Und führe uns nicht in Versuchung, sondern entreiße uns dem Bösen» – mit diesen Worten lehrte Jesus im Matthäus-Evangelium (Mt 6,13) seine Jünger beten. Den Begriff «Versuchung» sollte man besser mit «Krise» oder «Bewährungsprobe» überset222

zen: es geht nicht um eine moralische «Anfechtung», gemeint ist vielmehr eine schicksalhafte Herausforderung, in welcher der Wert und der Sinn des ganzen Lebens sich bewahrheiten müssen; niemand aber kann gewährleisten, sie zu bestehen. Es ist ein Gebet, das um die menschliche Schwachheit weiß und Gott anfleht, keine Situation herbeizuführen, die einer solchen Prüfung, einer solchen Infragestellung auf Sein oder Nichtsein gleichkommen würde. Und doch blieb Jesus selber ein solcher Entscheidungsaugenblick nicht erspart! Worum also bitten? Das Johannes-Evangelium läßt Jesus nicht mehr darum beten, Gott möge die Jünger «aus der Welt herausholen», also sie gewissermaßen mit einem magischen Schutzschild umhüllen; das einzige, was sich erhoffen läßt, besteht darin, daß Gott uns angesichts des «Bösen», wenn schon nicht «erlöst», so doch mindestens «bewahrt» (Joh 17,15), – daß er uns von Fall zu Fall «aufbewahrt in seinem ‹Namen›», in seiner «Wesensart» (Joh 17,11). Inhaltlich heißt das, Gott selber möge bewirken, daß sich sein Bild als einer väterlichen, gütigen Macht niemals bis dahin vor den Augen der Jünger verdunkle, daß der Glaube der «Welt» an die Normalität der Herrschaft des «Bösen» auch von ihnen wieder Besitz ergriffe. Es wäre so einfach vorstellbar! Es wäre in gewissem Sinne so selbstverständlich! Wenn es möglich ist, einen Mann wie Jesus auf ganz legalem Wege hinzurichten, was, um Himmels willen, soll dann noch passieren, um die Ohnmacht des «Guten» und die Allmacht des «Bösen» in dieser «Welt» zu erweisen! Wie oft bisher haben wir auf die Dialektik der «Welt» – der Geschichtsphilosophie, der Politologie, der Staatsrechtslehre, der gesellschaftlichen Moral, der Justiz, der mit dem Staat verbundenen kirchlichen Ethik usw. – hingewiesen, nur um uns bewußt zu machen, wie die Spirale von Angst und Angstverbreitung, von Gewalt und Gegengewalt, von Schmerz und Schmerzzufügung sich immer rascher und immer selbstgerechter auf stets höherer Skala im Kreise dreht; wie soll es gelingen, dagegen anzugehen, wenn jede Erinnerung an die Botschaft des Mannes aus Nazaret mit dem süffisanten Kommentar versehen wird, man könne mit der Bergpredigt nun einmal keine Politik machen, es gebe gegen das Böse nun einmal keinen anderen Weg, als mit militärischen Mitteln vorzugehen, sprich: die Bösen weltweit zu «neutralisieren», sprich: sie «tot oder lebendig» den Vertretern des «Guten» auszuliefern. Bis heute ist es wesentlich die Gestalt des Mannes aus Nazaret, die beim allmorgendlichen Lesen der Zeitung die einzig mögliche Alternative verkörpert. Wer Gott als «Vater» erkannt hat, der weiß, daß sich Angst nur 223

überwinden läßt durch Vertrauen, Gewalt nur durch Güte, Schmerz nur durch Begleitung; doch als wie brüchig muß selbst den «Jüngern» Jesu diese Gewißheit erschienen sein, wenn die ganze «Welt» ringsum dagegensteht? Es ist immer wieder nötig, sich auf die Person Jesu zu beziehen, um trotz allem an der Realisierbarkeit einer anderen Welt festzuhalten und im eigenen Leben diesen Wandel vorwegzunehmen. Dann aber ist es tatsächlich, wie wenn von der Person Jesu immer von neuem dieses Gebet sich zum Himmel erhöbe, Gott möge die «Jünger» bewahren in seiner Wesensart – er möge den «Jüngern» den Glauben an die Liebe und ihre Fähigkeit zur Liebe erhalten. An dieser Stelle setzt der letzte Abschnitt des Abschiedsgebets Jesu ein. Da wird es Menschen geben, die auf das Wort der «Jünger» hin sich absolut, mit allem, was sie sind, auf die Person Jesu beziehen werden; sie werden finden, daß das, was der Mann aus Nazaret verkörpert, wahrer ist als alles, was man ihnen sonst befehlen und empfehlen mag. Quer zum Lauf der «Welt» werden sie ihr Vertrauen auf diesen Mann setzen. Es ist dabei nicht davon auszugehen, daß das Leben der «Jünger» selber in einer vollständigen Entsprechung zum Leben Jesu stünde; es genügt, daß dahinter oder dadurch etwas sichtbar wird, das in sich selber überzeugt. Was Menschen irgend an Sehnsucht nach Menschlichkeit in sich tragen, wird plötzlich wach und verschmilzt mit der Gestalt des «Menschensohnes». Sein Dasein ist wie ein Beweis, daß es doch anders geht! In dieser Überzeugung liegt das ganze «Vertrauen», das Menschen zu Jesus fassen können: Man möchte nicht nur sein wie er, man läßt sich wirklich darauf ein. Von diesem Augenblick an wird der «Jünger» als «Mittler» oder «Vermittler» der «Botschaft» mehr und mehr unentbehrlich. Sören Kierkegaard war es, der dieses Verhältnis immer wieder reflektiert hat, um das «sokratische» Verständnis der «Wahrheit» von der christlichen Auffassung abzusetzen1. Für Sokrates brachte jeder Mensch die Kenntnis der Wahrheit aufgrund der Präexistenz seiner Seele in dieses Leben mit; es bedurfte in seinen Augen lediglich eines erinnernden Anlasses, zum Beispiel eines guten Gesprächs, um dieses immer schon vorhandene Wissen wieder bewußt zu machen; der Lehrer brachte die Wahrheit dem Lernenden nicht bei, er holte sie nur, gleich einer Hebamme, hervor. Nicht so, meinte Kierkegaard, im Christentum: hier handle es sich nicht um ein intellektuelles Verhältnis zu einem an und für sich bestehenden geistigen Inhalt, hier gehe es vielmehr um die ganz und gar persönliche Beziehung einer Person in Angst zu der Person ihres Retters; dieser Bezug sei unmittelbar, so daß, bezogen darauf, jeder «Vermittler» des Christlichen in der Tat als ein vor224

übergehender Anlaß im Sinne des Sokrates erscheine, während das, was er vermittle, in sich selbst absolut sei. Doch um so gravierender unterschied sich nach Kierkegaards Meinung die Weitergabe der christlichen Überzeugung von jeder akademischen Lehrtradition eben durch die Bedeutung des Personalen: der «Glaube» an Jesus sei nicht eine Doktrin nach Art des Kirchendogmatismus, er sei eine Existenzform; überliefert werden könne er daher nicht durch eine theologische «Ausbildung» zum Zwecke der Schulung von Kirchenideologen, sondern die «Weitergabe» des «Glaubens» an die Person und Botschaft Jesu sei eine reine Existenzmitteilung. Allein dadurch bereits wird die Gefahr sichtbar, die darin liegt, das Christentum zusätzlich zu einem doktrinären System von «Lehrsätzen», außerdem noch an eine Reihe von Riten und «Sakramenten» binden zu wollen, die angeblich überhaupt nur von besonderen Kirchenbeamten «gespendet» werden können; in diesem Falle müßte das Absolute: die Beziehung eines Menschen zu dem Mann aus Nazaret und durch ihn zu Gott, verschmolzen werden mit der Notwendigkeit bestimmter hierarchischer Ämter (wie eines Bischofs, der die «Firmung» «spendet», oder eines Priesters, der die «Lossprechung» von den «Sünden» «erteilt») sowie gewisser unerläßlicher «Zeichen»; auf diese Weise würde selbstredend das Relative zum Absoluten hochstilisiert, und was als bloße Vermittlung sich fortschreitend überflüssig machen sollte, würde sich zunehmend als das vorgeblich Wesentliche behaupten. Aber das Verhältnis zwischen Jesus als dem «Lehrer» und dem «Jünger» als dem «Schüler» duldet keinen «Stellvertreterdienst», der die Unmittelbarkeit der Beziehung stört oder gar zerstört. Wenn Jesus also in Joh 17,11 Gott anredet als «Vater, heiliger du», wie soll es dann, noch einmal gefragt, richtig sein, einen «Heiligen Vater», einen «Vater aller Väter», einen pater patrum – einen Papa oder Papst –, als «unfehlbaren Lehrer» und Christus-Stellvertreter den Gläubigen vorzusetzen, ohne den Titel schon als eine Gotteslästerung zu empfinden? Unzweifelhaft denkt das Johannes-Evangelium in diesem Punkte nicht anders als der Jesus des Matthäus-Evangeliums, wenn er sagt: «Laßt ihr euch nicht Vater oder Lehrer oder Meister (Doktor) nennen; ein einziger sei euer Vater, Lehrer und Meister: der im Himmel ist.» (Mt 23,8.9) Nur in dem Glauben eines Menschen, der mit seiner Gottunmittelbarkeit die ganze «Welt» veränderte, konnte Gott als «Vater» sichtbar werden; und nur in seiner Nähe vermögen Menschen sich als «versöhnt» beziehungsweise als verschwistert zu empfinden. Wie selbstverständlich setzt sich das Abschiedsgebet Jesu daher in der 225

Bitte um die «Einheit» der «Jünger» fort; sie gilt dem johanneischen Jesus für so wichtig, daß er darin das Wahrheitskriterium seiner «Botschaft» für die «Welt» insgesamt erblickt: Die Frage, ob mit der Sicht auf einen «väterlichen» (mütterlichen) Gott sich die Angst und die Unruhe des menschlichen Herzens bis dahin beruhigen lassen, daß ein Zusammengehörigkeitsgefühl in sich «versöhnter» Menschen möglich wird, entscheidet darüber, ob die Worte Jesu «wahr» sind oder ob sie eine bloße Illusion darstellen. Alles hängt dabei von der Art und Weise ab, nach der man diese Verbundenheit zwischen uns Menschen sich vorstellt. Das Leitbild in allem bildet die «Einheit» zwischen Jesus und Gott, zwischen dem «Sohn» und dem «Vater»; doch was ist das für eine Einheit? Indem die «Christologie» schon der ersten drei Jahrhunderte das Verhältnis Jesu zu seinem «Vater» nicht existentiell, sondern ontisch, nicht personal, sondern seinshaft zu bestimmen suchte, fand sie in gerade diesen Worten eine Bestätigung für das Dogma der Seinsidentität und der Wesenseinheit des Menschen Jesus aus Nazaret mit Gott; damit eine solche Einheit möglich sei, schien es unerläßlich, Jesus selber die Seinsweise Gottes, eine göttliche Natur also, zuzuschreiben. Wie aber paßt eine solche Aussage zu der an dieser Stelle klar ausgesprochenen Bitte des johanneischen Jesus, seine Jünger möchten mit ihm und untereinander in der gleichen Weise eins sein, wie er selber mit dem «Vater» eins sei? Um die «Hineinnahme» der Gläubigen in die Seinseinheit von «Vater» und «Sohn» zu gewährleisten, bedurfte es laut kirchlicher Auskunft eines eigenen «Sakraments» (der Taufe und der Firmung), auf daß objektiv, durch die Gabe des Heiligen Geistes als der dritten Person der Gottheit, der Kirchenchrist ebenfalls seinshaft an dem «Geheimnis» der Einheit von «Vater» und «Sohn» «teilhabe». Die Schwierigkeit einer solchen Lehre tritt offen zutage: Sie verkehrt das Persönlich-Subjektive in das Ontisch-Objektive, sie verwandelt Fragen der Beziehung unter Personen in seinshafte Gegebenheiten, sie verdinglicht und vergegenständlicht mit einem Wort gerade denjenigen Bereich des Religiösen, der ganz und gar innerlich ist und vor jeder Veräußerlichung geschützt bleiben müßte. Parallel zu dieser rituellen «Objektivierung» der Gottesbeziehung setzte man die «Einheit» der «Christgläubigen» nicht länger in ihre Existenzform, sondern in das Nachsprechen einer identischen auswendig zu lernenden Formelsprache, die man im Namen von Staats- und Kirchenmacht als göttlich beglaubigte Wahrheit den Untertanen und Kirchenmitgliedern vorzuschreiben trachtete. Die dogmatisch erzwungene «Einheit» der Lehre sollte die Einheit der Menschen untereinander garantieren; doch natürlich 226

bewirkte sie das gerade Gegenteil: indem die Religion zu einem bloßen Verwaltungsinstrument in den Händen von Kaisern und Päpsten verkam, vermochte sie zwar eine Meinungshomogenität unter den jeweiligen Gruppenmitgliedern durchzusetzen, doch endete diese «Einheit» aus «Kirchenzucht» und «Inquisition» just an den Grenzen des jeweiligen Regierungsbezirks. In der sogenannten ökumenischen Bewegung, die der Einheit der in verschiedenen Lagern getrennten Christenheit dienen soll, betont man zwar immer wieder mit Recht den «Skandal» der Glaubensspaltung, doch setzt man die Ursache des Übels ebenso wie seine Überwindung ins rein Moralische: angeblich waren es gewisse bedauerliche Mängel und an sich vermeidbare Fehler der Kirchengeschichte, die zu den Spaltungen geführt haben, und so waltet die Vorstellung, daß nach dem Austausch wechselseitiger Schuldeingeständnisse und neu verfaßter dogmatischer Gemeinsamkeiten die Formulierung einer doktrinären «Glaubenseinheit» auf höchster Ebene zu erzielen sei, die sich dann den Kirchenmitgliedern als «Kircheneinheit» verordnen lasse. Was man in all dem nicht begreift und auch wohl nicht begreifen kann, solange Theologie nicht anders als unter der Kontrolle kirchlicher Aufsichtsbeamter («Episkopoi» – Bischöfe) betrieben werden soll und darf, ist die einfache Tatsache, daß die Umformung von Fragen des Existierens in Angelegenheiten des Dozierens notwendig immer neue Dispute nach sich ziehen muß. Nicht um ein «moralisches» Defizit der Kirche(nleitungen) handelt es sich daher, sondern um ein strukturelles Problem der ganzen Art, «Glauben» nicht als den Ausdruck einer Haltung (des Vertrauens), sondern als das Bündel einer Vielzahl vorgeschriebener Lehren zu verstehen. Ist die Wahrheit des Göttlichen eine «objektiv gültige» Doktrin, die von bestimmten Institutionen bewahrt und gewährleistet wird, so besteht die «Einheit» der «Jünger» Jesu wesentlich in der Angleichung an die offiziellen Sprachspiele, unabhängig von der Person der Einzelnen und ihrem Leben. Selbst das Gebet des johanneischen Jesus um die «Einheit» der Jünger läßt sich dann lesen als Wunsch nach «Rückkehr» aller «kirchlichen Vereinigungen», die sich von der «Mutter»-Kirche (Roms) «getrennt» haben, in den «Schoß» der einen heiligen und allein seligmachenden (römisch-)katholischen Kirche. Doch gerade diese Auslegung zeigt das Mißverständnis im ganzen: So wenig die «Einheit» zwischen Jesus und seinem Vater eine «Einheit» austauschbarer «Bekenntnisformeln» ist, so wenig kann die «Einheit» der «Gläubigen» dogmatisch organisiert und verwaltet werden. Im Gegenteil: je konsequenter die doktrinäre Umwandlung der Botschaft Jesu im kirchlichen Dogmatismus vollzogen wird, desto 227

unversöhnlicher wird der Kampf um Macht und Einfluß zwischen den jeweils gleichgeschalteten konfessionellen Gruppierungen ausfallen. Es ist diese Art der Vorstellung von «Einheit» selbst, die zu Spaltungen führt. Noch einmal mag dabei ein Nachdenken über Jesus als das «Wort» Gottes hilfreich sein. Solange das religiöse «Wort» wesentlich als ein theologischer Begriff interpretiert wird, drängt es zu einer «rationalen» Lehre von Gott, und augenblicklich führt es zu Lehrstreitigkeiten und Rechthabereien aller Art. Wir aber haben Jesus als das «Wort» Gottes in johanneischem Sinne wesentlich als Anrede Gottes an den Menschen verstanden, und um dieses «ansprechende» Verhältnis von Gott und Mensch nach dem Vorbild Jesu zu beschreiben, fühlten wir uns weit eher an die Worte der Dichtung und an die Klänge der Musik erinnert als an die lebensferne Sprachwelt theologischer Rede. Der Unterschied liegt auf der Hand: Ob Jesus als der «Sohn» dem «Vater» wesensgleich (homousios) oder wesensähnlich (homoiousios) sei, erschien schon der frühen Kirche als eine Frage, für die man Jh.elang Spaltungen, Verfolgungen und Unterdrückungen aller Art in Kauf nahm, und als das Christentum erst einmal den Status der Staatsreligion des Römischen Reiches erlangt hatte, ging man bald schon im Namen Gottes (!) mit den Mitteln rechtlicher und sogar militärischer Gewalt gegen «Ungläubige» drinnen wie draußen vor. Wie ganz anders indessen muß sich die Wirkung von Worten gestalten, die sich dichterisch darbieten! Mit Goethe kann man nicht Krieg führen gegen Gorki, mit Dostojewski nicht gegen Dante, mit Schiller nicht gegen Shakespeare. Wer Dichtung begreift, der fühlt sie im eigenen Herzen und erkennt sie sogleich als die Sprache, die, jenseits der einzelsprachlichen Grenzen, alle Menschen wesentlich reden, wenn sie über die großen Themen des Daseins: über Liebe und Tod, über Angst und Verzweiflung, über Vertrauen und Tröstung sich austauschen wollen. Und genauso in der Musik: es ist unmöglich, mit J. S. Bach gegen Beethoven vorzugehen oder mit Mozart gegen Mendelssohn. Worte, die dichterisch sind oder die in der Seele erklingen wie die Weisen der Musik, verbinden die Menschen in den gleichen Erfahrungen, in den gleichen Gefühlen, in den gleichen Empfindungen der Menschlichkeit. Ein jedes religiöse Wort, das Menschen nicht zusammenführt, sondern kraft bestimmter «Definitionen» voneinander trennt, befindet sich unterhalb des Niveaus seines eigenen Inhalts und Anliegens. Der johanneische Jesus spricht an dieser Stelle, selber dichterisch, von der Herrlichkeit Gottes, die einerseits Voraussetzung für die Einheit der 228

Jünger ist, andererseits in ihrer Einheit zum Ausdruck kommen soll. Das Wort von der Herrlichkeit, von dem Kabod Jahwes hebräisch, von der «Gewichtigkeit» Gottes ganz wörtlich, besitzt im Alten Testament den Charakter einer Gotteserscheinung von vernichtender Majestät, so wenn Jesaja in seiner Berufungsvision im Tempel beim Anblick der Herrlichkeit Gottes zu vergehen meint (Jes 6,5); wie unglaublich fern von solchen Vorstellungen formuliert hier der johanneische Jesus, wenn er Gottes Größe nicht länger in schreckgewaltiger Erhabenheit sieht, sondern einzig wiedererkennt in gelebter Nähe und Menschlichkeit! Wie ernst, wie «wichtig» man Gott nimmt, hängt demnach nicht davon ab, wie viele Tieropfer man im Tempel und wie viele Schlachtopfer man auf den Schlachtfeldern darbringt, sondern es zeigt sich nur daran, wie nahe Menschen einander kommen, wie «einig» sie untereinander sind, – «daß sie vollendet seien auf eins hin», sagt der johanneische Jesus an dieser Stelle, und auch dieses Wort hat eine eigentümliche Geschichte schon im Neuen Testament. Das Matthäus-Evangelium (Mt 5,48) läßt Jesus in der Bergpredigt einmal die Mahnung aussprechen: «Seid ihr also vollkommen, wie euer Vater, der himmlische, vollkommen ist.» Stets, wenn man diesen Satz unmittelbar hört, wird man ihn als eine unbegreifbare Überforderung verstehen: – wie kann ein Mensch «vollkommen» sein wie Gott, schildert doch die metaphysische Theologie Gott selber als ein «allervollkommenstes Wesen», als ein ens perfectissimum, das in seinem Sein vollkommen identisch ist mit seinem Wesen; wir Menschen sind niemals «vollkommen» identisch mit dem, was wir sein sollten; Gott ist, wir aber werden. Was also sollen derartige Aufforderungen? Erneut ergibt sich ein Mißverständnis, wenn man das Griechisch des Neuen Testamentes nach Art der Begrifflichkeit der griechischen Philosophie auslegt. «Vollkommen» bedeutet für Matthäus noch soviel wie das hebräische thamim, also: ganz, vollständig, in Ordnung. Als Gott in der Genesis (Gen 17,1) Abraham beruft, erteilt er ihm diesen Auftrag: «Geh vor mir her und sei ganz.» Ein ganzer Mensch zu werden – das ist auch der Auftrag, mit dem Jesus das «Hauptgebot» an den Menschen formuliert (Mk 12,30): Gott zu lieben aus ganzem Herzen, aus ganzem Gemüt, aus ganzem Denken und mit allen Kräften. Sich wesentlich zu Gott zu verhalten ist da ein und dasselbe wie die Ganzwerdung des eigenen Lebens. Bezeichnenderweise hat jedoch Lukas dasselbe Wort der Logienquelle noch anders wiedergegeben: «Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist», heißt es dort (Lk 6,36). Da wird die Einheit mit sich selbst gewissermaßen ausgedehnt zu der «praktischen» Einheit mit allen Menschen in Not. 229

Verglichen damit, spricht das Johannes-Evangelium gewissermaßen auf einer dritten Ebene, unterhalb der Differenz von Sein und Tun, die Voraussetzung für beides an: für das Verhältnis zu sich selber ebenso wie für das Verhalten zu den anderen. Beides wird ermöglicht durch die Verbundenheit der Liebe, die Gott zu uns einnimmt; sie ist die Grundlage dafür, sich selber annehmen zu können, und sie allein schenkt die Kraft, auf den anderen ohne Vorurteil und ohne Vorbehalt zugehen zu können. Doch eben: daß Gott «unser Vater» ist, daß diese unglaubliche «Welt» sein «Wort» ist, daß Gott uns in dieser «Welt» und trotz dieser «Welt» liebt, daß selbst das Dunkel, in dem wir leben, nur der Schatten des Lichts ist, das wir erblicken, wenn wir uns aus der «Welt» lösen, das alles können wir nur erkennen mit dem Blick auf den Mann aus Nazaret, – wenn wir glauben, daß er von Gott gesandt ist. Auch dieses Wort von dem Gesandten muß man mit hebräischen Ohren vernehmen: «Der Gesandte eines Menschen ist wie dieser selbst (schilucho schäl adam kemoto)» – lautet eine rabbinische Formel. Wer sagt: «Jesus ist von Gott gesandt», der meint demnach nichts anderes, als daß er in den Worten des Mannes aus Nazaret Gottes Wort selber vernimmt. Wieder stoßen wir dabei auf das «Problem» der Einheit von Jesus und Gott, von «Sohn» und «Vater»; doch wir sehen, daß das Verständnis dieser Einheit überhaupt nur zu einem «Problem» aufwächst, solange wir sie im Sinne der Ontologie und nicht existentiell und personal (oder «funktional») zu denken versuchen. So wie die Sonne ihre Strahlen auf die Erde sendet, wird selbst Athanasius im 4. Jh. zu erklären versuchen2, so sendet Gott seinen Sohn; und so wie wir die Sonne nur sehen können in den Strahlen, die sie aussendet, so können wir auch Gott nur erkennen in dem, den er gesandt hat; beim Blick in die Strahlen der Sonne aber können wir das Licht und das Lichtgestirn voneinander durchaus nicht unterscheiden; und so meint auch das Johannes-Evangelium hier: Einzig in der Person Jesu sei es möglich, Gott als einen väterlich Liebenden zu erkennen; dies ist die «Wahrheit», die «Unverborgenheit» Gottes, wie sie sich in Jesus offenbart. Beides ist von daher eins: wer Gott als Vater glaubt, der wird zugleich glauben, daß Jesus der Gesandte Gottes ist: – sein «Sohn», sein «Knecht», sein «Wort»; und umgekehrt: wer glaubt, daß Jesus der «Gesandte» Gottes ist, der wird ihm auch glauben, daß Gott so ist, wie er ihn uns zu schenken kam. Sagen wir es so radikal, wie das Johannes-Evangelium selbst es darstellt: Überhaupt nur aufgrund der Person und des Wirkens Jesu läßt sich Gott in «Wahrheit» «erkennen»; und nur indem man Gott als die ewige 230

Liebe zu «glauben» beginnt, wird der Anspruch der «Welt» als «Lüge», als Verformung des Menschseins, als Zwang zu nicht endender Zerstörung – als «Tod» erkennbar. «Wie du mich liebst» – wer dieses Empfinden des johanneischen Jesus in sein Leben und Erleben aufnimmt, der gelangt aus der Finsternis ins Licht, der läßt die «Welt» der «Todesschatten» hinter sich, der tritt, wie Lazarus aus dem Grabe (Joh 11,28-54), hinein in das unendliche Leben, das Jesus denen, die auf ihn hören, verheißen hat (Joh 8,12; 11,23). Für einen solchen gilt freilich, daß er «da ist», wo Jesus ist (Joh 17,24), – daß er den «Standpunkt» Jesu teilt, daß er sich dem gleichen Engagement verschreibt, daß er eintritt in dieselbe «Herrlichkeit», von der wir längst wissen, daß sie in den Augen der «Welt» erscheint wie Scheitern und Schande. Alle intensiven Beziehungen unter Menschen lassen sich durch eine zentrale «Standpunktgemeinsamkeit» beschreiben. Gewiß, es gibt Verbindungen, die, in der Sprache des Johannes-Evangeliums (Joh 1,13), durch den Blutandrang, also durch das Wollen der Natur oder des Mannes zustande kommen, doch tragen solche Verhältnisse einen eher zufälligen und flüchtigen Charakter; sie basieren auf ästhetischen Bestimmungen, auf Lenkungen von außen, sie enthalten wenig oder gar nichts an freiheitlichem, von innen gestaltetem Ausdruck in sich. Fragt man nach Jahren, was Menschen wesentlich, jenseits aller Augenblicksschwankungen, zusammenhält, so ist es fast immer eine Gemeinsamkeit fundamentaler Wertempfindungen und (religiöser) Überzeugungen. Dazu zählt nicht, daß zwei Menschen sich in allen Fragen «einig» sind – daß sie dieselbe politische Partei wählen oder in dieselbe Kirche gehen, daß sie dieselben Hobbys hegen oder den gleichen Freizeitsport betreiben –, unverzichtbar aber ist eine gleiche Sicht auf die Menschen, bedeutsam ist eine Gleichartigkeit der Wahrnehmung menschlicher Not, entscheidend ist eine zumindest vergleichbare Bereitschaft, darauf einzugehen. »Am selben Strick zu ziehen» bildet irgendwann das wohl tiefste Gefühl der Verbundenheit, vorausgesetzt, an diesem «Strick» hängt menschlich Wertvolles, bewegt sich etwas, das über Sinn und Unsinn, über Gelingen und Mißlingen des Lebens entscheidet. Und diese «Standpunktgemeinsamkeit» ist es, die der johanneische Jesus als Übereinstimmung sowohl zwischen sich und seinen Jüngern als auch zwischen den Jüngern untereinander betrachtet. Äußerst wichtig wird dabei die Neuinterpretation beziehungsweise die vollständige Uminterpretation des Wortes «Herrlichkeit». Die «Gewichtigkeit» Gottes (Jahwes), sahen wir gerade, ist für Johannes inhaltlich zu dem geworden, worauf Gott, wie Jesus ihn den Menschen nahebringen wollte, 231

selber das größte Gewicht legt: auf eine radikale Parteinahme für die sonst Chancenlosen, für die allein aus Gnade Lebenden (Joh 1,16.17), für alle Menschen mithin, die in der «Welt» unterzugehen drohen. Die «Gewichtigkeit» oder Gewichtung Gottes, die in Jesus erscheint, verschmilzt aber jetzt mit Aussagen, die klassischerweise der göttlichen Weisheit gelten: sie ist es, die nach einem berühmten Wort aus dem Buch der Sprüche (Spr 8,22-31) vor Grundlegung der Welt bestand. Wieder findet die dogmatische Christologie an dieser Stelle den Stoff für ihre Auffassung von dem «präexistenten Logos», der (als die zweite Person der Gottheit) in «Christus» «inkarniert» sei. Doch wir sahen bereits bei der Auslegung des «Prologs», daß der Eintrag metaphysischer Begriffe und Erklärungsmuster dem Verständnis des Johannes-Evangeliums nicht dienlich ist; entscheidend kommt es vielmehr darauf an, die griechisch-hebräische (aramäische) Mischsprache Punkt für Punkt in die Ebene menschlich relevanter Erfahrungen (zurück)zuübersetzen; dann allerdings wird auf überraschende Weise noch einmal die zentrale Dimension der johanneischen «Christologie» deutlich: Jesus als die «inkarnierte Weltvernunft» zu betrachten oder seine «Herrlichkeit» vor Grundlegung der Welt zu erschauen heißt nicht mehr und nicht weniger, als den «Grund» aller Wirklichkeit in einer Liebe zu entdecken, die einzig Gottes ist. Was wir uns immer wieder von den johanneischen Texten haben sagen lassen, gilt auch jetzt: Kein Mensch findet den «Grund» seiner «Existenz» in den kausalen Abläufen der Natur oder in den Zufallskonstellationen der menschlichen Geschichte; nichts von all dem, was «Welt» ist, trägt einen Menschen wesentlich über das «Meer» der Zeit (Joh 6,16-21); einzig eine Liebe, die sich so niemals in der «Welt» findet, vermag einem Menschen zu sagen, «warum» es ihn gibt und wozu es ihn geben soll. Und nur indem diese (nicht metaphysisch, sondern existentiell) in wörtlichem Sinne «daseinsbegründende» Liebe sich in Jesus mitteilt, erscheint seine «Herrlichkeit», seine «Ausstrahlung», seine Faszination als etwas absolut Notwendiges, um «richtig» leben zu können vor Gott und den Menschen. Das Wort für ein «richtiges Leben vor Gott» heißt hebräisch tzedaqah, und meint so viel wie «Heiligkeit» eher als «Gerechtigkeit»; doch das entsprechende griechische Wort dikaiosyne erinnert kaum noch an diesen Hintergrund; es wird lateinisch ganz korrekt wiedergegeben mit justitia. Schon im Deutschen denkt man bei «Gerechtigkeit» kaum noch an die etymologisch mögliche Bedeutung einer «Richtigkeit» von Leben und Handeln; «Gerechtigkeit» bezeichnet im gewöhnlichen Verständnis den Ausgleich von Rechtstiteln und Rechtsansprüchen vor «Gericht». Das alles 232

scheinen philologische Finessen zu sein, doch deren Bedeutung erhellt sofort, wenn der johanneische Jesus im nächsten Satz seines Abschiedsgebetes Gott anredet als «Vater, gerechter du.» (Joh 17,25) An sich umschreibt dieses Wort noch einmal, was schon mit der Anrede «Heiliger Vater» (Joh 17,11) gemeint war, der Akzent aber ist jetzt ein wenig anders. Denn: das Gesetz ward durch Mose gegeben; die Gnade, die Unverborgenheit Gottes ward durch Jesus Christus – dieser Schlüsselsatz des ganzen Johannes-Evangeliums (Joh 1,17) erlaubt es nicht, den Begriff «Gerechtigkeit» «griechisch» oder «lateinisch» zu interpretieren; tut man es dennoch, so muß man unbedingt das Wort Jesu am Anfang der Bergpredigt bei Matthäus (Mt 5,20) hinzunehmen: «Wenn eure ‹Gerechtigkeit› nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, könnt ihr in das Himmelreich nicht eingehen.» Die «Gerechtigkeit» der Theologen und Thorajuristen bezieht sich auf die Bewertung menschlicher Handlungen nach Verdienst und Vergehen entsprechend einem göttlichen Prämiensystem von Lohn und Strafe; doch gerade diese Art der Beurteilung von Menschen nach ihrem Verhalten und nicht nach ihrer Persönlichkeit: in Anbetracht ihrer Veranlagung, mit Rücksicht auf ihre Psychogenese und gemäß ihrer Biographie, tut ihnen nur allzu oft Unrecht; – die Göttin Justitia, die mit ihren verbundenen Augen die Person der Menschen gar nicht erst wahrnimmt, über die sie ihr Urteil spricht, sollte selber als eine gestaltgewordene Warnung vor eben dieser Art von «Gerechtigkeit» dienen3. Doch wenn man unter «Gerechtigkeit» die Fähigkeit verstünde, dem anderen in seiner Not «gerecht» zu werden, das heißt: ihm gerade so zu begegnen, wie er es am dringlichsten braucht, so kämen wir der Vorstellung des johanneischen Jesus von einem «gerechten Vater» gewiß sehr nahe. Damit verbunden freilich wäre zugleich ein vollständiger Umsturz in Kirche und Gesellschaft, liefe ein solches Verständnis göttlicher «Gerechtigkeit» doch darauf hinaus, überhaupt gar niemanden zu verurteilen, sondern selbst im Kampf gegen das Verbrechen bedingungslos und wesentlich auf das Verstehen der Not des anderen zu setzen. «Richtet nicht, denn mit dem Maß, mit dem ihr meßt, werdet ihr (von Gott) bemessen werden», sagt bei Matthäus (Mt 7,1.2) am Ende der Bergpredigt, wie als deren Quintessenz, Jesus selber. Wie aber soll eine Welt aussehen, ohne daß Menschen übereinander zu Gericht sitzen? Wie soll eine menschliche Gemeinschaft Bestand haben, in der die Normen des Zusammenlebens, im Falle ihrer Übertretung, nicht durch empfindliche Strafen geschützt werden? Man begreift, warum das Johannes-Evangelium an dieser Stelle abschließend noch einmal den Kontrast zwischen der Botschaft Jesu und der «Welt» ins Absolute treibt, 233

indem es das «Ich» Jesu der «Welt» entgegensetzt: «Nein, die Welt hat dich nicht erkannt; ich aber habe dich (Gott) erkannt (als den Vater)» – das heißt ein für allemal: die Welt erkennt Gott nicht, und so kann sie auch Jesus nicht als von Gott gesandt anerkennen. In den Augen der «Welt» hat mit dem Namen «Gott» etwas bezeichnet zu werden, das sich zur Stilisierung und Ideologisierung von Gruppeninteressen und Machtvorteilen, von Nationalegoismen und Unfehlbarkeitsansprüchen eignet. In den Augen der «Welt» wird Jesus nie etwas anderes sein als ein hoffnungsloser Träumer, bestenfalls, oder als ein gefährlicher Anarchist und Utopist, den man im Grunde zu Recht beseitigt hat. Für die «Jünger» Jesu hingegen bedeutet diese Entgegensetzung nicht mehr und nicht weniger als für alle Zeiten eine prinzipielle und radikale Entscheidung: Entweder man legt noch in irgendeiner Weise Wert auf die Meinung der Menge, auf die Akzeptanz der «Autoritäten», auf die Honneurs der Hierarchen, dann wird man an der Botschaft Jesu immer mehr Abstriche machen und sich irgendwie arrangieren und kompromittieren müssen, – oder man hält den Gegensatz zur «Welt» aufrecht, dann muß man einstehen für die Wahrheit, wie man sie sieht, gleichgültig, was daraus werden wird. Die einzige Bestätigung, die wichtigste Form der Selbstvergewisserung, ist dann gegeben in diesem Empfinden einer unverbrüchlichen Verbundenheit: Jesus schließt uns ein in sein Gebet, das vor dem Throne Gottes niemals enden wird. Dieses Wissen muß genügen – und es kann genügen.

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Joh 18,1-27: Verhaftung und Verhör Jesu oder: Zwischen «Ich bin» und «Ich bin nicht» 1Als Jesus das gesprochen hatte, ging er hinaus mit seinen Jüngern jenseits des Winterbachs Kidron, wo ein Garten war; in den hinein ging er und seine Jünger. 2Es wußte aber auch Judas, der ihn auslieferte, um den Ort, denn oft hatte Jesus sich dort mit seinen Jüngern versammelt (Lk 21,37). 3Der nun, Judas, nimmt die Truppe und Amtsdiener, von den Hohen Priestern sowohl wie von den Pharisäern, und kommt dorthin mit Fackeln und Laternen und Waffen. 4Jesus nun, im Wissen um alles, was über ihn kommen sollte, ging hinaus und sagt ihnen: Wen sucht ihr? 5Sie antworteten ihm: Jesus, den Nazoräer. Sagt er ihnen: Ich bin da(s). Es stand aber auch Judas, der ihn auslieferte, bei ihnen. 6Wie er nun sagte zu ihnen: Ich bin da(s), gingen sie weg, nach rückwärts, und fielen zu Boden. 7Abermals nun fragte er sie: Wen sucht ihr? Die aber sagten: Jesus, den Nazoräer. 8Antwortete Jesus: Ich sagte euch: Ich bin da(s). Nun, wenn ihr mich sucht, laßt die da laufen, 9– auf daß sich erfüllte das Wort, das er gesprochen: Die du mir gabst, nicht habe ich zugrunde gehen lassen von denen auch nur einen einzigen (17,12). 10Simon nun, (der) Petrus, hatte ein Schwert, das zog er und schlug auf den Knecht des Hohen Priesters ein und hieb ihm das rechte Ohr ab; es war aber der Name des Knechtes Malchus. 11Sprach nun Jesus zu Petrus: Steck das Schwert in die Scheide. Den Becher, den mir der Vater gegeben, den sollt’ ich nicht trinken? 12Die Truppe nun und der Kommandant sowie die Amtsdiener der Juden nahmen Jesus, banden ihn 13und führten ihn zu Hannas, als erstes. Er nämlich war der Schwiegervater des Kajaphas, der war Hoher Priester jenes Jahres. 14Es war aber Kajaphas gewesen, der den Juden den Willen dahin bestimmt hatte: Zuträglich ist’s, daß ein Mensch stirbt – zugunsten des Volkes (11,49-50). 15Es folgte aber Jesus Simon, der Petrus, und ein anderer Jünger. Jener Jünger aber war dem Hohen Priester bekannt, und (so) ging er mit Jesus hinein in den Hof des Hohen Priesters. 16Petrus aber stand am Tor draußen. Herausging deshalb (noch einmal) der andere Jünger, der Bekannte des Hohen Priesters, sprach mit der Torwächterin und führte Petrus hinein. 17Sagt da zu Petrus die Magd, die Torwächterin: Nicht, auch du – von den Jüngern bist du, von diesem Menschen! Sagt er: Nicht bin ich (das). 18Es standen aber die Knechte und die Amtsdiener da; ein Kohlenfeuer hatten sie gemacht, weil es kalt war, und

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wärmten sich. Es war aber auch Petrus bei ihnen, stand da und wärmte sich. 19Da nun der Hohe Priester: er fragte Jesus aus nach seinen Jüngern, nach seiner Lehre. 20Geantwortet hat ihm Jesus: Ich – in offener Rede habe ich gesprochen zur Welt. Ich – allzeit habe ich gelehrt in Synagoge und Tempel, wo alle Juden zusammenkommen; und im verborgenen habe ich gar nichts gesagt (7,14.26). 21Was fragst du mich? Frage die Hörer, was ich ihnen gesagt habe. Ja, die wissen, was gesprochen hat – ich! 22Das aber, wie er das sagte, – einer der Amtsdiener, der dabeistand, gab Jesus eine Ohrfeige und sagte: So antwortest du dem Hohen Priester? 23Antwortete ihm Jesus: Wenn ich fahrlässig gesprochen habe, weise das Fahrlässige nach; wenn aber wahrheitsgemäß, – was mißhandelst du mich? 24Wegsandte ihn nun Hannas gebunden zu Kajaphas, dem Hohen Priester. 25Es war aber Simon, der Petrus, (immer noch) da, stand da und wärmte sich. Sagen sie nun zu ihm: Nicht, auch du – von seinen Jüngern bist du! Geleugnet hat er, er hat gesagt: Nicht bin ich (das). 26Sagt einer der Knechte des Hohen Priesters, ein Verwandter dessen, dem Petrus das Ohr abgehauen: Nicht? Ich, dich hab ich doch im Garten mit ihm gesehen! 27Abermals leugnete da Petrus. Und sogleich krähte ein Hahn (13,38).

Im Markus-Evangelium ist die Passion Jesu noch erzählt als das eigentliche Kernstück nicht nur der historischen Entwicklung des Auftretens Jesu, sondern auch als Folge der inneren Logik von allem, was der Mann aus Nazaret versucht hat: Er betrat eine Welt, die wie von Dämonen beherrscht ist, und es gab keinen anderen Weg, als unter Einsatz der eigenen Person die Menschen aufzurufen, ihre Freiheit und ihre Menschlichkeit inmitten dieser Welt der Inhumanität und der verwalteten Angst zu wagen. Im Johannes-Evangelium geht es eigentlich nicht um eine Abfolge (theologisch gedeuteter und arrangierter) biographischer Szenen; im Grunde ist die Passionsgeschichte im Vierten Evangelium zum Kristallisationspunkt einer Auseinandersetzung geworden, die zu allen Zeiten spielt. Streng genommen existiert für Johannes nur eine ewige Geschichte, die zwischen Himmel und Erde lagert, zwischen der Welt Gottes und einer in sich gefangenen Menschenwelt, und die Frage dieses Evangelisten lautet: Wie läßt sich der geschlossene Raum der Dunkelheit, der Verzweiflung, der Gottesferne so öffnen, daß das Licht, die Güte und die Wahrheit darinnen sichtbar werden? – Als eine solche Verkörperung des Lichts tritt Jesus schon im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums auf (Joh 1,5), und er wird es bleiben bis zum 18. Kapitel der Passionsgeschichte. In seiner Person verdichtet 236

sich exemplarisch die Frage auch an unser eigenes Leben, wer wir selber denn sind. Von daher wundert es nicht, daß die Erzählung der Passion Jesu im Johannes-Evangelium sich anders liest, als es der geschichtlichen Ordnung nach zu vermuten stünde. Rein äußerlich bereits haben wir Schwierigkeiten, die Abfolge der Ereignisse richtig zu verstehen. Da wird Jesus als erstes ausdrücklich zu Hannas, dem Schwiegervater des Hohen Priesters Kajaphas, geführt, – dann aber findet ein Verhör statt eben vor dem Hohen Priester selbst; nach diesem Verhör dann schickt Hannas Jesus zu dem Hohen Priester Kajaphas, von dem er doch gerade erst verhört wurde. Irgend etwas in dem Text scheint verderbt, und so liegt es nahe, das Problem textkritisch zu lösen, indem man einfach den Vers 24 vor den Vers 19 stellt; dann erhielte die Erzählung zumindest erst einmal eine plausible Reihenfolge. Aber kann man mit überlieferten Texten einfach so verfahren, daß man sie wie die Vorlage einer Photomontage behandelt? Schwieriger noch für das Verständnis ist die Art und Weise, wie das Johannes-Evangelium sich bemüht, symbolisch Stelle für Stelle deutende Hinweise in einer Szene zu geben, die historisch-real zu den dunkelsten und unheimlichsten im ganzen Neuen Testament zählt. Da wird nach der Überzeugung des Vierten Evangelisten der Sohn Gottes in den Tod gegeben, – aber so berichtet er es nicht. Was hier geschieht, ist in seinen Augen nicht eine Stunde der Erniedrigung, sondern eine Manifestation nie gekannter Größe: Nirgends auf der Welt leuchtet das Licht so hell und strahlend wie im Dunklen, – ganz entsprechend dient alle Finsternis, die im Johannes-Evangelium sich malt, nur den um so helleren Umrißlinien einer Lichtgestalt, die nie mehr, durch keinen Schatten zu verstellen ist. Die ersten versteckten Andeutungen tauchen in der johanneischen Darstellung fast wie nebenbei auf, sie werden von den Auslegern in aller Regel denn auch überlesen, aber sie sind für Johannes von immenser Wichtigkeit. Immer wieder verwendet er auf die wenigen Sätze der Einleitung seiner Perikopen die größte Sorgfalt. «Als Jesus das gesprochen hatte», schreibt er hier: «das» – das sind die langen Gebete und Abschiedsworte aus den Kapiteln 14 bis 17 im Johannes-Evangelium. Was sich jetzt begibt, soll das heißen, ist wie die Bewährung und Bewahrheitung dieser Rede; all das, was Jesus zwischen Gott und Mensch, zwischen seinem Vater und seinen Jüngern, gesagt hat, wird jetzt in Erfüllung gehen. Aber der Ort, an dem das geschieht, liegt «jenseits des Winterbachs». Nur Johannes benützt diesen Ausdruck für das Kidrontal, das wie ein Wadi nur in der Regenzeit (im «Winter») Wasser führt. Man muß das Wort wohl mit griechischen, nicht 237

mehr mit hebräischen Ohren hören: den «Winterbach», ebenso wie die Wendung «jenseits» davon. Da werden zwei Welten markiert, die in dem Areal dieses sonderbaren Flußlaufs aneinanderstoßen, und man muß von Anfang an wählen, wo man selbst steht: diesseits des Baches oder jenseits, in der alten, bekannten, vertrauten Welt, in der Menschen absolut über Menschen verfügen, oder in dieser anderen, göttlichen Welt, aus der heraus Menschen noch einmal ganz neu zu leben beginnen können. Allein schon daß man den «Winterbach» überschreitet, ist soviel wie wenn man über den Jordan ginge. Man tritt heraus und weiß nicht: ist dies ein Schritt in den Tod oder in das wirkliche Leben? Die zentrale Überzeugung des Johannes ist es, daß beides sich voneinander nicht trennen läßt. Man kann nicht sagen: Hier lebt ein Mensch, und dann stirbt er, und danach tritt er Gott gegenüber, sondern: Sterben, um zu leben, ist für Johannes ein Entscheidungsaugenblick, immer, ständig; das ist das ganze Leben, wenn man es richtig betrachtet! Gott kommt nicht irgendwann in der Zeitordnung, er ist immer da, und es ist lediglich die Frage, wie man ihn ergreift, oder besser, wie man sich von ihm ergreifen läßt. Dafür als erstes steht die Person Jesu in der Passionsgeschichte. Die Stelle, an die Jesus sich begibt, heißt, zweimal betont, «der Garten»; Johannes unterstreicht, daß es ein häufig aufgesuchter Ort gewesen sei, an dem Jesus mit seinen Jüngern sich zu versammeln liebte; doch auch hier stellt sich bereits wieder die Schwierigkeit, wie man diesen «Garten» betritt: auf die Art Jesu oder auf die Art des Petrus oder des Judas. Die Frage muß sein, warum Johannes ausgerechnet die Ortsbezeichnung dieses Gartens derart interessiert, und die Antwort kann nur im Symbolischen liegen. Wer in dieser an sich schon sinnbildhaften Situation von Garten spricht, benützt ein biblisches Wort, das von den Anfangsseiten der Heiligen Schrift her bekannt ist (Gen 2,4b-25). Da war die ganze Welt unter den Augen und in den Händen Gottes ein Garten, und darinnen lebten die Menschen, geborgen, behütet, im Einklang mit sich selbst und miteinander sowie mit der Welt, die sie umgab. Man kann, dieses Bild vor Augen, nicht denken: «Jesus ging in den Garten», man muß symbolisch korrekt sagen: «Er versammelte sich mit seinen Jüngern auf eine Weise, daß diese Welt sich wiederfinden und sich wiederentdecken ließ als jenes anfanghaft geschenkte, als jenes urzeitlich verlorene Paradies.» Das war und ist das Geschenk des Jesus aus Nazaret an uns, sofern wir auf ihn hören und ihn als ein Wort verstehen, das von Gott in die Seele der Menschen fällt: diese Rückkehr in ein Dasein, wie es von Gott her wesentlich gemeint ist. Alles 238

wird wahr, alles leuchtet von innen her auf, alles wagt sich unverfälscht hervor, und was Menschsein heißt, reift auf zu seiner Schönheit und Würde, so daß diese ganze Erde zu einem Ort des Einklangs und des Glücks wird1. Das Johannes-Evangelium spricht, in bewußtem Unterschied wohlgemerkt zu den ersten drei Evangelisten, niemals von der «Einsetzung» der «Eucharistie», von der Gründung eines Sakraments der Gemeinsamkeit der Menschen untereinander und mit Gott, aber man braucht nicht anzustehen, diese Versammlung Jesu mit seinen Jüngern im Garten gerade dafür zu nehmen, daß der Mann aus Nazaret all die, die ihn verstehen, an die Stätte zurückgeleitet, an der ein Baum voller Früchte stand, der die Menschen ernährte und seine Zweige zum Zeichen des Segens über die Menschheit breitete, – ein uraltes mythisches Motiv, das sich nur einlöst durch jemanden, der es für einen anderen wirklich lebt; denn nur dann vermittelt sich das Vertrauen und das Wissen darum, daß das Wesentliche nicht zerstört werden kann für den, der sich festmacht in Gott. In einer solchen Zuversicht, wie Jesus sie seinen «Jüngern» zu schenken kam, bereitet sich die Erde unter unseren Füßen wie ein Weg, der durch den Tau des Schöpfungsmorgens geradewegs hinüberführt zu Gott, – ein «Sakrament» niemals, eine gelebte Wirklichkeit immer; nichts, was sich feiern ließe an einem Sonntagmorgen pünktlich unter Glockenläuten, stets aber etwas, das auftaucht, sobald man sich dafür entscheidet; eine Sphäre, die immer existiert, auch wenn sie nicht stets und ständig für uns hörbar ist. Betrachten wir die Person Jesu an dieser Stelle in dem Moment des Verrats beziehungsweise ihrer Auslieferung, so wird das ganze Kapitel 18 des Johannes-Evangeliums in diesem ersten Abschnitt geprägt durch einen Kontrast, den man freilich nur wahrnimmt, wenn man das Wort, das immer wieder da steht, so deutlich betont, wie es offenbar betont sein will; dieses Wort lautet: «Ich bin», am Anfang des Satzes, am Ende des Satzes; sogar noch die Antwort Jesu an die Häscher wird lauten: «Ich bin (das) der, den ihr sucht». Doch gerade diese Ausdrucksweise stellt für jeden, der die Bibel ein Stück weit kennt, die Art dar, mit welcher Gott selbst sich offenbart. Nur Er, der Ewige, kann, wie schon früher erläutert, für jüdische Ohren sagen: «Ich bin», weil Er der Grund jeder persönlichen Wirklichkeit ist, weil Er der einzige ist, der in absoluter Weise Person, das «Subjekt» von allem ist. Ein großartiger Zug der reformatorischen protestantischen Theologie bis in unsere Tage hinein hat sich festgemacht an gerade diesem Wissen: Gott ist, und Er wird nie zum Objekt; Er entzieht sich jedem Zugriff des 239

Wissens, der Definition, der Dogmatik, der Theologeneinrede. Gott ist Person, das heißt: es gibt ein absolutes Gegenüber, das man nur von Augenblick zu Augenblick hören kann, jemanden, der sich nie auf das Vergangene festlegt und der deshalb schon, um seinen Namen zu erläutern, seit den Tagen des Mose nur sagen kann: «Ich bin da» (Ex 3,14), – eine Gegenwart der Liebe, die uns umfängt, nie etwas, das man auswendig kennen oder in eine Doktrin fertiger Sprachregelungen verwandeln könnte, in ein Lehrsystem theologischer Diskurse, in ein Pensum abfragbaren Wissens2. Gott als Person – dieses absolute «Ich bin» bietet den Hintergrund und den Ursprung auch für das Wagnis eines Menschen, selbst zu sagen: «Ich bin». Person werden, das bedeutet, herauszutreten aus all den Festlegungen der Umgebung und einem absoluten individuellen Ruf in die Freiheit zu folgen. Wir als Menschen, wenn wir es wagen, unser Ich zu leben, werden zu einem Spiegel des Göttlichen. Mit dem Wenigen an Liebe, über das wir verfügen mögen, bilden wir doch den Widerschein all dessen, dem die Welt sich verdankt und wovon sie sich herleitet. Mit jedem Stückchen, das wir als unser Ich in die Welt bringen, fügt sich eine neue Silbe im Worte Gottes zusammen, wird ein neuer Klang in dem Gedicht der Schöpfung hörbar. Theologisch gesehen, steht die Gestalt Jesu im Johannes-Evangelium als unantastbar, als souverän, als in gewissem Sinne fertig da. Wenn er sagt: «Ich bin», tritt er heraus aus dem Spiel von Frage und Antwort und offenbart sich selbst in einer absoluten Dimension. Daraus war nur zu leicht das dogmatische Wissen abzuleiten, wer denn der Mann aus Nazaret seiner wahren Natur nach gewesen sei. Es hat über drei Jahrhunderte gedauert, bis die Theologen «wußten», daß man gar nicht von seiner wahren Natur reden könne, sondern daß man im Plural von seinen wahren Naturen sprechen müsse, von denen die eine, die wirkliche, die göttliche, just in diesem Worte sichtbar werde: Ich bin. Wie aber, wir setzten das, was Johannes hier schreibt, in die Spannung, die er selber vermittelt? Da ist ein Mensch, der aufs äußerste im Augenblick einer Herausforderung auf Leben und Tod ganz einfach zu sagen wagt: «Ich bin» – alles Weitere mag sich dann finden! Daß es auch anders geht, als in dieser Identität der Person des «Ich bin» zu leben, zeigt sich an der Gestalt des Petrus. Sein Verrat stellt in den ersten drei Evangelien eine Zusatzlegende über die Schwachheit des Menschen dar, eine fast reumütige Geschichte über die Person eines Mannes, der zumindest in der syrischen Gemeinde des Matthäus eine bedeutende Rolle in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod gespielt zu haben scheint3. Hier, bei Johannes, fungiert Simon, der Petrus, der Mann aus Fels, 240

aramäisch: der Kepha, als die Gegengestalt, als der Kontrapunkt zu dem «Ich bin» des Jesus aus Nazaret. Petrus wird ständig (Joh 18,17-27) sagen: «Nicht bin ich. – Ich bin nicht das, was ich war, ich bin nicht das, was ich getan habe, ich bin überhaupt nicht.» Und zwischen beidem: zwischen dem Ich bin und dem Nicht bin ich steht die Passionserzählung Jesu im Johannes-Evangelium. Es geht um die Frage, was wir zu sein wagen zwischen Selbstbejahung und Selbstverneinung, zwischen Selbstwerdung und Selbstzerstörung, zwischen dem Aufblühen vor Gott und dem Dahinsiechen in Angst. Schauen wir uns die Szene der Verhaftung Jesu deshalb noch ein Stück genauer an: Da beantwortet Jesus die Frage derer, die ihn zu verhaften kommen, mit dem «Ich bin» – «Wen sucht ihr?» – «Jesus von Nazaret.» – Und augenblicklich tritt er ein in das Fadenkreuz ihrer Hinrichtungspläne, hat er den Mut, sich an die Stätte zu begeben, da der Tod schon vorbereitet, schon verordnet ist, um subaltern exekutiert zu werden. Jesus schaudert vor all dem nicht zurück, was er als sicher kommen sieht. An dieser Stelle freilich lautet die übliche Theologenauslegung (die, existentiell gesehen, Theologenausrede) erneut, daß Jesus als der Sohn Gottes so sprechen mußte: Eben aufgrund seines göttlichen Wissens lag ihm alles vor Augen, gerade deswegen tat er den Willen des Vaters. Nicht Menschenabsicht – Gottes Vorsehung fügt hier in johanneischer Deutung Detail um Detail bis zur Hinrichtung, bis zur Auferstehung aneinander. Ist jemand metaphysisch ein Gottessohn, so ist es kein Kunststück, tapfer zu sein. Ausgestattet mit einem Panzer aus Gold, unerreichbar für jeden gewöhnlichen Menschenschmerz, kann man tatsächlich dastehen und verkünden: «Ich bin», und zugleich noch erleben, wie die Feinde voller Schrecken zurückweichen, – plötzlich sinken sie zu Boden und kriechen vor dem göttlichen Helden wie Würmer. Er, der Sohn Gottes, hätte es in der Hand, über sie hinwegzugehen. Wenn er es gleichwohl nicht tut, dann nur des Geheimnisses wegen, daß Gottes Plan sich erfüllen muß und daß sein «Kelch» getrunken werden will. Die Theologen erklären diesen «Plan» Gottes so: Es sei nötig gewesen, kommentieren sie, daß der einzig Unschuldige litt und in den Tod gegeben wurde als Opfer für die Sünden der Menschen. Dieses priesterlichopferritualistische Denken taucht schon in den synoptischen Evangelien auf, doch wichtig ist die Feststellung, daß Johannes in dieser Weise nicht glaubt; er schreibt – bis auf die Worte vom «Lamm Gottes» (Joh 1,29) – nichts dergleichen, sondern was er schildert, läßt sich unmittelbarer, menschlicher, in gewissem Sinn verbindlicher festmachen: Derjenige, der in dieser Welt wagt, zu dem zu stehen, was Gott mit ihm gemeint hat, der241

jenige, der durch die Angst hindurchgeht, statt vor ihr zu fliehen, wird augenblicklich erleben, daß die anderen, die scheinbar so mächtig sind, um selbst über Leben und Tod zu entscheiden, in Wahrheit nur aus Angst vor dem Leben wie vor dem Tode bestehen und daß es gar keinen Grund gibt, sich vor ihnen länger zu fürchten. Es genügt, daß ein Mensch sich zu seiner eigenen Größe bekennt und darin einen eigenen Stand und eine eigene Standfestigkeit gewinnt, dann wird alles hinfällig, was bis dahin dermaßen bedrohlich aussah. Kein göttliches Mysterium liegt hier vor, sondern eine menschliche Erfahrung gilt es da unter den Augen Gottes zu machen. Der französische Dramatiker Jean Anouilh konnte in seinem Bühnenstück Jeanne oder Die Lerche über die Geschichte der Johanna von Orleans von der Überwindung der Angst einmal so erzählen: Das vierzehnjährige Mädchen, durch Visionen vom Erzengel Michael und der heiligen Katharina dazu berufen, die Freiheit Frankreichs von den Engländern zu erkämpfen, wagt sich nach Chinon zum Dauphin Charles, der in der Ecke sitzt und sich durch einen seiner Diener vertreten lassen möchte; Jeanne erkennt den wahren König Frankreichs sogleich, geht auf ihn zu und redet ihn an: «Kleiner Charles, ich sehe, wieviel Angst du hast; doch das zeigt nur, daß du intelligent bist; du siehst voraus, was dir passieren könnte. Aber stell dir nur alles vor, was sich ereignen könnte, füg es zusammen – einen ganzen großen Haufen voller Angst, und jetzt geh hindurch durch deine Angst. In diesem Moment wird dir Gott begegnen. Das ist mein ganzes Geheimnis. Ich bin keine Hexe, ich habe keine Alraunen, keine magischen Zaubersprüche, nur das: Wenn du durch deine Angst hindurchgehst, wird dir Gott begegnen.»4 – Die johanneische Szene im Garten von Getsemane atmet eine solche Freiheit, die Stärke eines Souveräns, der durch Angst nicht länger einzuschüchtern ist und der nun plötzlich allen anderen Angst macht und sie, im Bild gesprochen, durch sein bloßes Erscheinen niederwirft. Hoheitsvoll in gerade diesem Sinne ist das Auftreten des johanneischen Jesus auch im Verhör vor dem Hohen Priester. Da befragt Kajaphas den Mann aus Nazaret, wie zur Erstellung einer Polizeiakte, wer seine Jünger seien, was er gelehrt habe, doch Jesus wird das ganze Protokoll sabotieren. Er gibt der priesterlichen Behörde keinerlei Auskunft über das, was er verkündet hat, vielmehr verweist er auf die Menschen, die ihm zugehört und ihn erkannt haben. Damit verschiebt sich bezeichnenderweise das Kriterium der Wahrheit vom objektiv Konstatierbaren in das subjektiv Erlebte. Was hat Jesus gesagt? Das können nur diejenigen aussagen, die ihn so verstanden haben, daß sich ihr Leben änderte! 242

In gewissem Sinne gilt das generell. Wer wissen will, was jemand gesprochen hat, muß den Menschen zuhören, die ihn in ihr Herz geschlossen haben, und gerade das ist die Meinung Jesu hier. Zudem: welch eine unglaubliche Heuchelei, ihn zu fragen: «Was hast du gesagt?», nachdem man längst die nötigen Erkundigungen eingezogen und sich ein fertiges Urteil gebildet hat, so daß man jetzt lediglich noch zusätzliche Beweise für den bereits vorgefaßten Schuld- und Todesbeschluß sammeln will (Joh 11,50)! Längst verfügt man über die Informationen, die den eigenen Entschluß begründen; und die ganze Befragung verfolgt nur den Zweck der Selbstbestätigung und Selbstrechtfertigung. Wie anders aber wäre es, man würde die Menschen anhören, die Jesus anders zugehört haben als die ausgesandten Spitzel, als die getreuen Laufburschen der alten Angst? Diese Leute könnten den Priestern erzählen, was sie erlebt haben, während sie Jesus folgten, als sie seinen Worten lauschten und sich vor ihnen eine andere, neue Welt auftat. Der Gegensatz ist überdeutlich: «Ich» – betont hervorgehoben –, sagt Jesus, «in offener Rede habe ich gesprochen zur Welt. Ich – allzeit habe ich gelehrt in Synagoge und Tempel, wo alle Juden zusammenkommen.» Im Sinne des Johannes müßte man sogar hinzufügen: Da, wo Jesus sprach, entstand eine Synagoge, errichtete sich immer neu das Heiligtum Gottes; denn gerade so wurde es erfahren, weil er in Freiheit redete und weil er im Licht auftrat: «im verborgenen habe ich gar nichts gesagt». Genau anders steht es mit dem Verhalten des Hohen Priesters. Alles, was er tat, geschah nur im verborgenen, will heißen: hinterhältig, gemein, verdeckt, – ein Spiel der List. Es ist, wie im Gespräch mit Nikodemus (Joh 3,19-21): Ja, jeder, der faule Dinge tut, haßt das Licht, und nicht kommt er ans Licht, damit nicht nachgewiesen werde sein Tun. Wer aber jemand ist, der die Unverborgenheit Gottes tut, kommt ans Licht, damit sichtbar werde von ihm das Tun, denn in Gott ist’s getan. Paradoxerweise hat man freilich aus genau dieser Stelle in der kirchlichen Auslegungsgeschichte eine Rechtfertigung von Selbstverteidigung und Krieg herauszulesen gewußt5: Jesus hat sich vor dem Hohen Priester ja auch «verteidigt»! – Nichts könnte absurder sein; der Text selbst zeigt es. Es beginnt damit, daß im Moment der Angst bei der drohenden Verhaftung im Garten Getsemane der Mann Petrus sein Schwert blankzieht und damit nach dem Knecht des Hohen Priesters, Malchus mit Namen, schlägt; dieser Name ist eine Sonderüberlieferung des Johannes; bei Markus (14,47) wird er nicht erwähnt; auch daß es bei Johannes das rechte Ohr des Knechtes ist, das abgeschlagen wird, zeigt die fortschreitende Präzision der Legendenbildung. Freilich ist das phantasievolle Interesse an 243

dem Stoff mehr als gerechtfertigt, bietet diese Geschichte nach Art einer rabbinischen Halakha doch eine Antwort auf die Frage nach der Einstellung Jesu zur Gewalt. Das Urteil ist eindeutig. Schon bei Matthäus verbietet Jesus seinem Jünger, mit Gewalt vorzugehen. «Steck das Schwert an seinen Ort», befiehlt Jesus bei Matthäus (Mt 26,52) und fügt bei Johannes noch hinzu, ganz parallel: «Den Becher, den mir der Vater gegeben, den sollt’ ich nicht trinken?» – Es gibt in den Evangelien bei Matthäus und Johannes keinen klareren Kommentar zu dem, was Jesus in der Bergpredigt anmahnt: «Ich aber sage euch: Überhaupt nicht reagieren auf den Bösen! Sondern: wer dich schlägt auf deine rechte Wange – wende ihm auch die andere zu. Und wer dich gerichtlich belangen und deinen Leibrock nehmen will – laß ihm auch das Obergewand.» (Mt 5,39.40) – Der Kirchenvater Tertullian folgerte aus dem Befehl Jesu an Petrus, auf Gegenwehr zu verzichten, ganz richtig: «Mit diesen Worten hat Jesus jedem Soldaten das Schwert verboten.»6 In die Scheide damit! – Das ist das Ende jeder Rechtfertigung von Krieg und Gewalt mit Berufung auf die Botschaft Jesu. Denn genauer gesagt: Es gibt nichts, was Christen so heilig sein sollte wie die Person des Heilandes selber; doch Jesus persönlich ist es, der im Garten von Getsemane verbietet, ihn mit dem Schwert zu verteidigen. Kein Widerspruch zur Lehre vor allem der katholischen Kirche könnte größer sein. Alle Kriege sind vom 4. Jh. an von der Kirche bis zur Gegenwart zum Schutz bedrohter Ansprüche gerechtfertigt worden; darum, daß es stets «heilige», «gerechte» und «gute» Kriege gab und selbst die gemeinsten Übergriffe noch in diesem Sinne interpretiert wurden. Nie hat die Kirche im 20. Jh. in einem Land, in dem sie selbst zu sagen hatte, einen Krieg untersagt, nie. Nicht im Oktober 1935 beim Überfall Italiens auf Äthiopien, nicht im Juli 1936 beim Beginn des spanischen Bürgerkriegs, nicht am 1. September 1939, als Hitler-Deutschland mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg begann. Im Gegenteil: «Gott (ist) mit uns» – diese Formel vom Heiligen Krieg aus Jes 7,14 stand eingraviert auf dem Koppelschloß der «Großdeutschen Wehrmacht», und die Kirchen läuteten zu ihren Siegen über Polen, über Frankreich … Man verteidigte im August 1941 bei der Eröffnung des «Unternehmens Barbarossa», bei dem Angriff auf die Sowjetunion, Christus gegen den bolschewistischen Atheismus …7 Es ist erst neuerdings, daß die Kirchen relativ geschlossen und verbindlich den amerikanisch-britischen Angriffskrieg gegen den Irak kategorisch ablehnen und moralisch verurteilen; God’s own country und seine erdölabhängige Regierung freilich scheint das nicht zu beeindrucken; im Gegen244

teil: man verspricht, die Welt «sicherer» zu machen; man gibt vor, das irakische Volk von seinem Diktator zu befreien, und schon finden sich im Berliner Tagesspiegel und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Kommentatoren, die für so hehre Ziele auch einen «präventiven Militärschlag» gerechtfertigt finden. Doch Tertullian hat recht: Das Johannes-Evangelium so wenig wie das Matthäus-Evangelium wollen im Namen des «Christus» irgendeinen Griff zu den Waffen gestatten. Die Legende im Lukas-Evangelium (Lk 22,51) fügt sogar noch hinzu, daß Jesus die Macht gehabt habe, das abgeschlagene Ohr des Malchus wieder zu heilen. Das freilich wäre ein Wunder, auf das die Kirchengeschichte immer noch wartet: es müßten die Wunden, die Menschen beigebracht wurden, vermeintlich um Jesus zu schützen, von ihm selber geheilt werden, – die Hunderte von Frauen und Kindern der Katharer zum Beispiel, die 1229 am Ende der Albigenserkriege im Languedoc in den Tod sprangen, um von Papst Innozenz III. nicht zwangsbekehrt zu werden8. Wer macht solche Taten wieder gut, – die Kreuzzüge von Christen gegen Christen? All das, was geschah, geschah vorgeblich der Wahrheit Christi zuliebe. «Heilt das Ohr des Malchus, eines heidnischen Römers!» das war Jesu Gesinnung. Wann wird der Tag kommen, an dem wir die wahre Menschlichkeit aus dem Munde dieses Mannes unverfälscht vernehmen werden und nicht mehr zulassen, daß man sie mit dem Schwerte verteidigt? Aber die kirchliche Interpretation, windig und wendig, wie sie ist, sah und sieht das alles ganz anders. Als einer der Knechte Jesus schlägt und ihn anfährt: So antwortest du dem Hohen Priester?, hat Jesus ihn zur Rede gestellt: «Wenn meine Rede» – was folgt ist ein griechisches Wortspiel: – kakós oder kalós, – «fahrlässig oder wahrmäßig ist, zeige es und mißhandle mich nicht.» Da habe also Jesus selber, erklärt man, eben nicht die andere Wange auch noch hingehalten, sondern er habe sich verteidigt; wenn er sich aber verteidigt habe, so sei die Selbstverteidigung doch offenbar legitim, und dann müsse auch ein Krieg unter Umständen legitim sein, dann müsse aber auch ein Recht zur Verteidigungsbereitschaft bestehen, und wenn es ein Recht auf nationale Selbstverteidigung gebe, so gebe es auch eine Pflicht für jeden Christgläubigen, die allgemeine Wehrpflicht des Staates mitzutragen. Kurz: es folgte aus der Antwort Jesu vor dem Hohen Priester die Pflicht zu Kriegsdienst und Kriegsrüstung als Zeichen eines «christlichen» Staatsverständnisses! Die Stärke der Person, die Jesus hier im Prozeß zeigt, wurde in solchen staatstragenden Auslegungen uminterpretiert in die Demütigung des Menschen, der wieder einmal in Paradeuni245

form anzutreten hatte, um den Mächtigen gehorsam zu bleiben; aus der Souveränität eines Einzelnen, der erklärt «Ich bin», wurde durch solche theologischen Tricks am Ende erneut eine Ideologie des Machterhalts und der Rechthaberei. In Wahrheit zeigt sich an dieser Stelle etwas ganz anderes: die einzige «Verteidigung» eines Menschen ist diejenige, daß er zu seiner Wahrheit steht! Mehr als sein «Ich bin» braucht Jesus nicht zu sagen, und mehr hat er auch nicht zu sagen. Entweder es wird begriffen oder es wird nicht begriffen; darum noch «Kriege» zu führen ist weder möglich noch sinnvoll. Das einzige, auf das es ankommt, liegt darin, möglichst unverfälscht zu leben; dann mögen die anderen tun, was ihnen richtig scheint. Da allerdings beginnt es! Die folgende Handlung konzentriert sich in drei, eigentlich vier Personen: Kajaphas, Hannas, Judas und dann noch angehängt zum vierten in der Person des Petrus. Er bildet, wie gesagt, den eigentlichen Eckpunkt oder Gegenpunkt in der Tragödie beziehungsweise in der göttlichen Dramaturgie dieser Passionsgeschichte. Kajaphas wird hier in einem einzigen Satz erwähnt. Sein eigentlicher Name ist Joseph; der Beiname Kajaphas bedeutet auf Aramäisch: der Untersucher, der Inquisitor; offenbar war er ursprünglich als Untersuchungsrichter berufen9. Im Verhör bei Johannes spielt er, anders als bei den ersten drei Evangelisten, kaum eine Rolle. Das Wesentliche aber, wozu er den «Juden» – nicht als dem Inbegriff eines historischen Volkes, sondern als den Symbolgestalten einer bestimmten Art zu leben – an entscheidender Stelle geraten hat, das läßt sich tatsächlich in einem einzigen markanten Satz aussprechen. Man muß dieses sonderbare Griechisch so kompliziert übersetzen, wie es dasteht und wie es in Rechtsdeutsch zu klingen pflegt (Joh 18,14): Zuträglich ist’s, daß ein Mensch stirbt – wörtlich: für das Volk; dieses Wort ist schillernd, denn es belebt unvermeidbar noch einmal die archetypische Denkvorstellung von dem Opferlamm wieder beziehungsweise von dem Sündenbock, dem die Schuld aller aufgeladen wird; genauer sollte man den Ausdruck indessen übersetzen: daß einer stirbt zugunsten des Volkes, im Sinne von: anstelle des Volkes, anstelle aller. Dann hat man in einem einzigen Satz alles, was wir unter politischer Vernunft subsummieren. Selbst Goethe, selbst Bismarck, ganz gewiß die Politiker unserer Tage würden sofort und ohne Zögern die Maxime des Kajaphas aus Joh 11,50 unterschreiben und sie als Staatsphilosophie höchsten Ranges würdigen. Denn mehr wissen sie im Zweifelsfalle alle nicht, als daß ein Einzelner kein Recht hat weiterzuexistieren, wenn es um die Wohlstandswahrung des Ganzen geht. Der Leitsatz gilt: Das Gemeinwohl ist wichtiger 246

als das Wohl des Einzelnen. Die Phrase wird allen Lesern, die älter sind als sechzig Jahre, bekannt vorkommen; auf nationalsozialistisch hieß sie: «Gemeinnutz geht vor Eigennutz»; oder: «Du bist nichts, dein Volk ist alles»; sie drückte die Ideologie des Kollektivismus, des Zwangsstaats, am prägnantesten aus. Aber schauen wir uns nur um, wo es denn anders zugeht als nach der Demarche des Kajaphas! Es ist zuträglicher, daß das tschetschenische Volk stirbt, so denkt derzeit und handelt Wladimir Putin, als daß Rußland auseinanderbreche. Es ist zuträglicher, daß die Kurden weiter unfrei bleiben zwischen Irakern, Türken und Iranern, als in der Region einem Volk von mehr als zwanzig Millionen Menschen Freiheit und Menschenrecht zu gewähren, so wissen es die USA; die Stabilität des NATO-Partners Türkei fordere halt das Opfer Einzelner. Selbst der Krieg gegen den Irak wird den Kurden im Nordirak und in Südanatolien wohl kaum die ersehnte Autonomie bringen, – die Erdöllagerstätten von Kirkuk und Mosul gehören selbstredend in die Hände amerikanischer Firmen … Allerorten herrscht die Devise: Besser ist es, wenn einer stirbt anstelle des Volkes. Nur – wovon lebt eigentlich das Volk, wenn nicht aus vielen Einzelnen? Und was ist die Wahrheit eines Volkes ohne Menschen, die wagen, wahrhaftig zu leben? Diese Frage kann ein Mann wie Kajaphas nicht beantworten. Historisch immerhin mögen wir für ihn Verständnis aufbringen. Was er vor sich sah, war der Alptraum der römischen Legionsadler, die über der heiligen Stadt Jerusalem kreisten und bei jeder größeren Beunruhigung wie Raubvögel herniederstoßen konnten. Kajaphas bildete historisch über ein Dutzend Jahre als Hoher Priester die Schaltstelle zwischen Juden und Römern. Es gibt kaum eine Gestalt, die von Amts wegen so sehr dem Vorbild des Kajaphas ähnelt, wie das, was wir im römischen Staatskirchentum in der Person des Papstes antreffen. – Immer wieder mochte und mußte Kajaphas vermitteln zwischen Welt und Gott, und immer wieder auch wird der römische «Stellvertreter Christi» nach der Devise des Kajaphas handeln müssen: Im Einzelfall muß man Opfer bringen – Opfer an der Wahrheit, Opfer am Recht, Opfer an Menschenleben – Opfer an der Botschaft Christi. «Wußten wir denn nicht», konnten ehrliche Protestanten nach 1945 fragen, «daß Karl Barth 1935 mit seinen Warnungen vor dem Faschismus völlig recht gehabt hatte, als hochgestellte Prälaten und Bischöfe die Gläubigen immer noch aufforderten, sie müßten in die NSDAP eintreten, um dort das Christentum zu bezeugen, sie müßten den Fahneneid auf den Führer leisten, um Deutschland gegen den Bolschewismus zu verteidigen? Als die Nürnberger Rassengesetze 1935 erlassen wurden, haben wir keinen Wider247

stand gewagt, wir haben uns gefügt, weil sonst eine ganze Pfarrergeneration gefährdet gewesen wäre.» So wurde es 1945 in Stuttgart ehrlich geäußert: «Wir hatten Angst; wir haben mit den Wölfen geheult, um nicht mit draufzugehen. Uns war die Institution Kirche wichtiger als das christliche Leben der Menschen.»10 Immer kann man den Ernstfall durch Ausweichen vermeiden, und es sind stets wohlmeinende Leute, für die Kajaphas hier als Prototyp steht. Sie haben Angst, sie ordnen die Angst; alles, was wir heute als Staatskunst bezeichnen, scheint nach wie vor nichts weiter zu sein als ein solcher etablierter Egoismus im Schatten aller möglichen Ängste. Wo immer wir hinschauen, finden wir die Wahrheit in Interessenkonflikte fraktioniert. Es gibt kein politisches Problem, das nicht durch die Scheuklappen der Parteienzugehörigkeit betrachtet würde. Menschen, die irgendwann einmal zu denken gelernt haben, wirken wie völlig verblendet, kaum daß man sie ins Parlament gewählt hat oder kaum daß sie irgendeinem Verband angehören. Sie haben dann die Aufgabe, die Dinge so zu wahrzunehmen, daß es ihrer Firma, ihrer Partei, ihren Sponsoren nützt. Bis in die Rechtsprechung hinein geht das so: Man hält sich einen Rechtsanwalt, der die Pflicht hat, seinen Mandanten zu vertreten, und das wird er tun mit allen Tricks; was bei dem Kampf der Egoismen gegeneinander herauskommt, soll dann die Wahrheit sein. Auf diesem sonderbaren Aberglauben basiert nahezu all das, was wir heute noch als Politik und Staatskunst bezeichnen. Neben dem Hohen Priester Kajaphas steht sein Schwiegervater Hannas11. Von diesem Mann wissen wir historisch nur, daß ihm die HannasHallen gehörten. Er war ein hochgestellter Bürger, der wußte, daß zur Religion, wenn sie sich institutionalisiert, auch das Geschäft gehört. Nichts geht ohne Geld: Geld ist der Nerv des Krieges, Geld ist das universale Zahlungsmittel auf dem Markt, – es ist die Eintrittstür zur sogenannten Realität. Ein Geschäftsmann wie Hannas weiß das, und er findet nichts dabei, im Namen Gottes auf diese Weise in den Hannas-Hallen Opfertiere zu verkaufen. Zudem erlaubt ihm die Herrschaft über den Tempelbereich den Einzug von Wechselgeldern, weil nur koscheres Geld im Heiligtum gestattet ist12. Kurz: es gibt, wie schon bei der Geschichte von der Tempelreinigung (Joh 2,13-25) gezeigt, viele Möglichkeiten, an Geld zu kommen, wenn erst einmal Priester regieren, die dem Volk ungestraft in die Tasche greifen können. Wallfahrtsorte, Devotionalienverkauf, Ablaßhandel, das alles kennen wir selbst zur Genüge, und für all das steht Hannas als Prototyp. Wenn Jesus sich den Tod verdient hat in den Augen der sadduzäischen Tempelverwalter, dann gleich zu Beginn des Johannes-Evangeliums, als er in jener 248

Szene zur Peitsche griff und die Händler aus den Hannas-Hallen jagte. Vermutlich hätte Jesus lehren dürfen, was immer er wollte; er hätte seine Geschichten und Gleichnisse erzählen können – revolutionäre oder antirevolutionäre, es wäre diesen Leuten egal gewesen; sie aber von ihrer Geldzufuhr und ihrem Machtgewinn abzuschneiden, indem er die Angst vor Gott zu überwinden suchte, das überschritt offensichtlich jegliche Schmerzgrenze. Spätestens vom Augenblick der Tempelreinigung an muß deutlich geworden sein, daß mit einem solchen Mann kein Kompromiß zu schließen ist. Und so wird man den Satz des Kajaphas auch wiedergeben können: Es ist besser, wenn einer stirbt, als daß wir aufhören, im Namen Gottes Geld zu verdienen. In diesem Punkte sind sich beide einig, Schwiegervater und Schwiegersohn, Hannas und Kajaphas. Es bleibt das Verhalten der Diener, der Marionetten der Herrschaft: Ohne sie käme die ganze Passionsgeschichte nicht zustande; gleichwohl haben diese Leute selber keinen Standpunkt, ihr Kopf wird überwölbt vom Stahlhelm, ihre Person wird eingehüllt durch die Uniform; sie haben kaum eine Chance, sich zu Menschen zu entwickeln, und sie unterliegen der Pflicht, die geklonte Verfügungsmasse der befehlgebenden Macht zu bleiben, reine Exemplare des Allgemeinen, Individuen nie13. Wie bringt man Menschen dahin, zu sich selber aufzuwachen? Diese Frage richtet sich insbesondere auch an zwei der Jünger Jesu, an Judas und an Petrus. Die Person des Judas wird im Johannes-Evangelium diffamiert wie in keinem Evangelium sonst. Für Johannes ist Judas ein Dieb, in den der Teufel gefahren ist (Joh 13,2), ein Agent der Hölle mit anderen Worten. Das Evangelium, dem sonst das Wort «Liebe» so gern von den Lippen geht, kann, was Judas angeht, bis zum Haß formulieren. Mit anderen Worten: Dieser Evangelist sieht in Judas eine Art rein theologische Figur, keinen Menschen, dessen Motive sich psychologisch verstehen ließen. Anders die Judas-Legenden bei Matthäus und Lukas. Sie erzählen, daß dieser Mann sich das Leben genommen habe, als er sah, was mit Jesus geschah (Mt 27,3-10; Apg 1,18). Danach hat Judas alles gewollt, außer den Tod Jesu, und dafür spricht auch historisch einiges14. Nehmen wir die Szene bei Johannes selber beim Wort. Da taucht zur Verhaftung Jesu im Garten von Getsemane der Jünger Judas im Kreis der Diener der Hohen Priester und der Pharisäer sowie der römischen Truppe beziehungsweise der Tempelwache auf. Die beiden treibenden Kreise im Hintergrund der Festnahme Jesu sind also die Priester auf der einen Seite und die superorthodoxen, die moralisch-reinen Pharisäer auf der anderen 249

Seite. Mit beiden gemeinsam paktiert offensichtlich Judas. Sollten wir diese Mitteilung nicht so verstehen, daß dieser Mann subjektiv versucht hat, etwas zu vereinen, das objektiv nicht zu verbinden war? Er muß Jesus mehr geliebt haben als sein Leben selber; er muß begeistert diesem Mann aus Galiläa überall hin gefolgt sein. – Manche Theologen meinen, Judas sei ein messiaspolitischer Phantast gewesen, er habe Jesus mit seinem Verrat zu einem messianischen Putsch gegen die Römer zwingen wollen, dann aber habe er sehen müssen, daß alles viel zu dilettantisch gehandhabt worden sei und daß der Mann aus Nazaret militärisch nicht zu agieren verstand; der Putsch sei gescheitert. Aber wieso hätte er Jesus dann überhaupt in die Hände seiner Häscher ausliefern sollen? Um ihn zu einem «Wunder» zu nötigen? Abergläubische Erwartungen gab es in den messianischen Bewegungen der Zeit in der Tat genügend, doch gerade Wundersüchtigkeit war dem historischen Jesus absolut fremd. Und dann: wie wäre mit den Lehren dieses Mannes ein zelotisches Bubenstück zu machen gewesen? Die historische Wahrheit scheint viel näher zu liegen und uns selber wie auf den Leib geschrieben zu sein; sie lautet, daß wir immer wieder vermitteln möchten zwischen dem, was wir aus der Tradition kennen, was institutionell im priesterherrschaftlichen Dienst sowie in den moralischen Festschreibungen aus Ethik und Recht verfügt wird, und dem, was an Freiheit von Jesus in unser Leben gebracht worden ist. Zwischen beidem muß Judas wie zerrissen worden sein, und man darf annehmen, daß er geglaubt hat, wenn er Jesus an seine Gegenspieler ausliefere, so müsse zwangsläufig unter dem hohen Druck zusammenkommen, was offenbar von beiden Seiten, weder vom Hohen Rat noch von dem Mann aus Nazaret, als Einheit gesehen wurde. Wenn jedoch beide Parteien nur erst gezwungen würden, miteinander verbindlich zu reden, würden die Hohen Priester erkennen müssen, daß Jesus das mosaische Gesetz nicht unterhöhlte, sondern erfüllte, und auch Jesus würde merken, daß die Hohen Priester wirklich Gott und nicht nur das Geld meinten, wenn sie die Opfer im Tempel einrichteten. Erst wenn beide: die Tradition des Tempels und die religiöse Revolution des Mannes aus Nazaret, zusammengekommen wären, würde auch er, Judas, in seiner Zerrissenheit eine Erlaubnis zum Leben wiedergefunden haben; ein Konflikt gelangte dann an sein Ende, den er selber nicht lösen, mit dem er aber auch nicht länger existieren konnte. Lange vor Paulus hätte der «Mann aus Kariot» (der Is-Kariot) dann den Gegensatz von Gesetz und Gnade in einer Ernsthaftigkeit gefühlt, die kein anderer Jünger an der Seite Jesu begriffen hätte, und er hätte mit der Auslieferung Jesu wirklich seinem Meister einen Freundschaftsdienst zu erweisen gesucht. 250

Eine solche Rekonstruktion der Ereignisse, die sich auf legendäre Überlieferungen stützt, ist historisch natürlich nicht beweisbar, doch bietet sie den Vorteil, daß sie eine Entscheidung auf Entweder-Oder anmahnt, die uns selber immer wieder schier unmöglich scheint. Wie Judas können wir offenbar immer wieder nicht klar und entschieden für die Sache Jesu einstehen, wie er sitzen wir zwischen den Stühlen und versuchen zu vermitteln, und zwar gerade dann, wenn wir einsehen müssen, daß es so weder einen Mittelweg noch einen Ausweg für uns geben kann, und so handeln wir natürlich auch wie er: wir liefern aus, ganz wörtlich, als erstes uns selber, als nächstes unseren Nächsten. Das Drama des Judas ist wirklich auf Leben und Tod eine Tragödie des guten Willens, der sich immer wieder bemüht zu glauben, die Tradition habe doch auch recht; wenn wir nur mitmachten, wenn wir nur durchhielten, wenn wir im Rahmen der vorgegebenen Ordnung in kleinen Schritten mit vielen Kompromissen das System zu verändern trachteten, wenn wir mutig wären, wenn wir den Mund aufmachten, – irgendwie würde es dann schon weitergehen. Aber es wird überhaupt nicht gehen. Es wird ganz im Gegenteil dabei bleiben: Wir müssen uns entscheiden; wir müssen sagen: «Ich bin» oder «Nicht bin ich», und manchmal vor allem: «Ich bin nicht für euch da.» Wir müssen, so oder so, einen Standpunkt beziehen, um wirklich zu sein. Nehmen wir schließlich das Beispiel des Petrus, des Simon mit dem Beinamen Kepha, «Fels», wie Johannes ihn immer wieder entsprechend der Tradition nennt, und nehmen wir hinzu seinen Begleiter: die Gestalt des «anderen Jüngers». Von Petrus hörten wir (Joh 13,37), ganz wie es auch die ersten drei Evangelisten erzählen, er habe förmlich geschworen, Jesus bei keiner Gelegenheit zu verlassen, er werde ihn nicht verraten, er werde nicht schwach werden an ihm. Doch wenig später wird dieser «Petrus» der erste und einzige Jude sein, der je bekannt hat: «Nicht bin ich (das). Ich kenne diesen Menschen nicht». Das kann Angst aus Menschen machen. Derselbe Petrus, der eben noch – wie vor allem die Dichtung des Heliand preist – zum Schwerte greift15, dieser mutige Recke an der Seite Jesu, ist in Wirklichkeit ein angstgepeinigter Schwächling, und man begreift sofort: er hat mit seinem Schwert gar nicht Jesus verteidigt, sondern im Grunde sich selbst. Seine heldische Aktion war nichts als eine Flucht nach vorn, und vermutlich war bereits sein lautstarker Schwur Stunden zuvor nichts als ein Versuch, die eigene Verzweiflung zu betäuben, ein subjektiv ehrliches Versprechen, das eine Angst verdrängen sollte, deren Macht gerade dadurch schicksalhaft aufwuchs16. Das weitere ist offenbar wieder johanneisch zu lesen: Da gibt es diesen 251

anderen Jünger, der dem Hohen Priester bekannt ist; der geht in den Versammlungsraum hinein und nimmt Petrus mit. Warum dieses Umständliche? mag man sich fragen. Hätte dieser andere Jünger Petrus draußen stehenlassen, wäre dann der Verrat nicht zustande gekommen? Tatsächlich ist diese sonderbare Szene ähnlich aufgebaut wie zwei Kapitel später die Erzählung vom Ostermorgen (Joh 20,2-10). Wieder, wie schon in der Ansage des Verrats (Joh 13,23-25), taucht dieser «Lieblingsjünger» auf, und er wird nach der Hinrichtung des Nazareners mit Petrus gemeinsam zum Grab Jesu laufen; er wird es geöffnet und leer finden, doch er braucht nicht hineinzugehen, um das festzustellen, er glaubt an die Auferstehung des Lebens, während Petrus sich erst noch im Innenraum der Grabkammer davon überzeugen muß. Petrus und der Lieblingsjünger symbolisieren offenbar einen Konflikt zwischen zwei ganz verschiedenen Einstellungen zur Wirklichkeit: zwischen Intuition und Realismus, zwischen Fühlen und Denken, oder, besser noch: zwischen unserer Außenseite und unserer Innenseite. Alles, was von diesem «Lieblingsjünger» gesagt wird, spielt gewissermaßen in Petrus selbst: Er ist dem Hohen Priester bekannt (Joh 18,15), steht er doch schon aus lauter Angst mit ihm in Zusammenhang; gleichzeitig aber ist er auch derjenige, der zu den Jüngern Jesu zählt und zählen möchte; insofern ist er der Mann, der draußen steht und doch die Schwelle zum Versammlungsraum des Hohen Rats überschreitet. Beides ist Petrus. Und eben deshalb gibt es in ihm, neben ihm diesen anderen auch, denjenigen, der ihn wie ein guter Geist, wie ein Schutzengel begleitet. Ein solcher lebt in jedem von uns, – einer, der in den Augenblicken der Schwäche noch an das erinnert, was wir sind, der ja sagt, wo wir nein sagen; er ist das Licht in dem Schatten unseres Selbst, das wir verleugnen, wenn es draußen kalt wird, wenn wir um einen Platz für die frierenden Hände und noch mehr für die frierende Seele betteln. Diesen anderen, der uns hilft, selbst nach Schwäche und Verrat später noch umzukehren, dürfen wir für das Kostbarste in uns selber betrachten. Dieser andere, der Liebling Jesu, braucht keinen Namen, weil er viel mehr verkörpert als alles, was wir von uns sagen können17; er trägt dazu bei, an uns selbst als Menschen zu glauben. Denn: wir sind nie nur die Gejagten unter der Furcht vor Folter und Qual; wir sind nie nur die Prügelknaben der Ängste, die andere uns machen können; irgendwo sind wir auch fähig zur Wahrheit, zur Reue, zum Vernehmen des Hahnenschreis am Morgen, – zwiespältig immer, wenn wir sprechen: «Nicht bin ich», doch auch reifungsfähig, eines Tages zu verkünden: «Ich unbedingt», und zwischen dem einen und dem anderen liegt das Hinübergehen aus der «Welt», liegt das 252

Kidrontal, liegt der «Winterbach», liegt der lange Weg zum Garten von Getsemane. Was wir in all dem vor uns haben, ist eine einzige Szene aus dem Johannes-Evangelium, doch sie ist so vielschichtig, so facettenreich gebrochen wie nirgend sonst im Neuen Testament als eben bei diesem Vierten Evangelisten, einem der Gnosis Nahestehenden, einem Mann, der mit seinen Symbolismen virtuos auf dem Instrument der menschlichen Seele seine Finger übt, genau wissend um die psychologische Innenseite dessen, was er darstellt. Man wird ihn nie anders verstehen als indem man sich in den Zwischenzonen zwischen Traum und Tag mit der Frage konfrontiert: «Und wer bin ich denn selbst? Und wo ist meine Existenz entschieden genug, einer ganzen Welt standzuhalten?»

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Joh 18,28-40 (19,4-16): Pilatus oder: Zwischen Macht und Wahrheit 28Sie

führen nun Jesus von Kajaphas ins Prätorium; es war frühmorgens. Doch selber gingen sie nicht ins Prätorium, um nicht unrein zu werden, sondern das Pessah essen zu können. 29Herauskam also Pilatus, heraus zu ihnen, und spricht: Welch eine Anklage bringt ihr vor gegen diesen Menschen? 30Geantwortet haben sie, sie sagten ihm: Wenn der kein Verbrecher wäre, hätten wir dir den nicht ausgeliefert. 31Hat da ihnen Pilatus gesagt: Nehmt ihn ihr doch und nach eurem Gesetz richtet ihn (19,6.7). Haben ihm die Juden (die Gottesbesitzer) gesagt: Uns steht es nicht frei, zu töten – niemanden,32 – auf daß das Wort Jesu sich erfülle, das er gesprochen hatte, um anzudeuten, durch welchen Tod er sterben werde (3,14; 12,33). 33Hineinging also wiederum ins Prätorium Pilatus, rief Jesus und hat ihm gesagt: Du bist der König der Juden (12,13)? 34Geantwortet hat Jesus: Du, sagst du das von dir her oder haben es dir andere von mir gesagt? 35Geantwortet hat Pilatus: Nein, bin ich etwa ein Jude? Das Volk, deines, und die Hohen Priester haben dich mir ausgeliefert. Was hast du getan? 36Geantwortet hat Jesus: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn von dieser Welt mein Königtum wäre, hätten meine Diener für mich gekämpft, daß ich nicht den Juden ausgeliefert worden wäre. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier. 37Gesagt hat da zu ihm Pilatus: Also nicht, ein König bist du? Geantwortet hat Jesus: Du sagst, daß ich ein König bin. Ich – dazu bin ich geboren und in die Welt gekommen, daß ich Zeugnis ablege für die Unverborgenheit Gottes (8,40.45; 16,7). Jeder, der aus der Unverborgenheit Gottes ist, hört meine Stimme (1 Tim 6,13). 38Sagt ihm Pilatus: Was ist Unverborgenheit? Und als er das gesprochen, ging er wiederum hinaus zu den Juden und sagt ihnen: Ich – nicht das geringste finde ich an ihm an Schuld. 39Es ist euch aber Gewohnheit, daß ich einen ablöse für euch am Pessah. Wollt ihr nun, ich löse euch ab den König der Juden? 40Sie aber erklärten laut und deutlich und sagten noch einmal: Nicht den, sondern Barabbas. Barabbas aber war ein Bandit.

Pontius Pilatus ist zweifellos eine historische Gestalt, und so wollen wir bei der Darstellung seiner Person einmal rein von den historischen Daten ausgehen, allerdings um an seinem Beispiel, wie das Johannes-Evangelium es tut, einen konkreten Einblick in das Typische der menschlichen Geschichte zu gewinnen. Man kommt bei der Auslegung dieser Stelle dann nicht umhin, zum Text des Johannes auch die Seitenreferenten Markus und 254

Lukas hinzuzuziehen; man muß vor allem mit berücksichtigen, was wir aus den historischen Quellen, das heißt archäologisch von den Bauwerken, numismatisch von den Münzen, philologisch aus den Berichten des Herodes Agrippa, sowie vor allem aus den Darstellungen des Flavius Josephus und des Tacitus, aber auch von der römischen Geschichte insgesamt wissen1; dann erst vermögen wir den Konflikt zu schildern, den jeder, der damals in Palästina von Pilatus hörte, vor Augen gehabt haben muß. Im August des Jahres 14, nach dem Tode des Augustus, besteigt Tiberius den römischen Kaiserthron. Januar 15 ernennt er Aelius Sejanus zum Präfekten der Prätorianer, im Deutsch des «Dritten Reiches» ausgedrückt: der römischen «Gestapo» oder der «Sturmstaffel». Denn, wie glaubwürdig berichtet wird, bildete einen Hauptpunkt in dem Programm des Rassisten Sejan die «Endlösung» der Judenfrage. Dieser fanatische Antisemit forderte wiederholt die Ausrottung der gesamten jüdischen Rasse. Im Jahre 26 nun zieht Tiberius sich aus Rom zurück; Sejan verfügt damit über alle Macht. Im gleichen Jahr kommt Pontius Pilatus nach Judäa, ein Feind der Juden nicht anders als Sejan. Als er im Frühjahr 27 in Jerusalem einzieht, provoziert er die jüdische Bevölkerung absichtlich durch das Mitführen von kaiserlichen Medaillons auf den Feldstandarten; fünf Tage lang versammeln sich Demonstrationszüge vor dem Gouverneurspalast in Caesarea; sie weichen auch nicht, als Pilatus mit der Niedermetzelung der Protestierenden droht; schließlich gibt der Prokurator nach; die Kaiserbilder verschwinden aus Jerusalem2. Stattdessen häufen sich jetzt Hinrichtungen, Plünderungen und Willküraktionen aller Art. Zum Bau einer Wasserleitung wird der Tempelschatz beraubt: – Maßnahmen zum öffentlichen Wohl sind wichtiger als die Verehrung eines unsichtbaren Gottes. Bereits im Jahre 29 bringt Pilatus Kupfermünzen heraus, die das Simpulum, das Schöpfgefäß des römischen Kaiserrituals, zeigen. Im Frühjahr 30 erscheint sogar der Lituus, der Krummstab, das Triumphbild und Wahrzeichen der Kaisermetaphysik, auf den Geldstücken3. Im gleichen Jahr trifft Sejan Vorbereitungen zu einer durchgreifenden Offensive gegen die Juden in aller Welt. Das Große Synhedrium verliert die Blutgerichtsbarkeit, das heißt, es vermag nur noch Fahndungsedikte oder Haftbefehle zu erlassen. Alle Kapitalprozesse müssen vom Prokurator genehmigt werden; alle Hinrichtungen sind von diesem durchzuführen. Der Sitzungssaal, die «Quaderhalle», muß vom Tempel, zu dem die Römer keinen Zutritt haben, zu den Hannas-Hallen auf dem Tempelberg verlegt werden. Der Höhepunkt der Laufbahn Sejans ist im Januar 31 erreicht, als er mit Tiberius zusammen für 255

fünf Jahre das Konsulat erhält. Pilatus, sein getreuer Helfer in Palästina, bekommt den Titel Amicus Caesaris, Freund des Kaisers (Joh 19,12). Wohl noch im Frühjahr 31 läßt Pilatus die galiläischen Pessahpilger niedermachen (Lk 13,1)4. Da wird im Oktober 31 Sejan in Rom wegen Hochverrats verhaftet und hingerichtet. Zahlreiche seiner Freunde kommen durch Selbstmord oder durch den Henker um. Gleichzeitig beginnt im ganzen Reich eine Untersuchungswelle nach Komplizen und Mitarbeitern. Alle antisemitischen Maßnahmen in den Provinzen sind augenblicklich einzustellen. Pilatus hat sich mithin neu zu orientieren; ein Beispiel dafür ist vermutlich die Verhaftung statt der augenblicklichen Hinrichtung des aufständischen Bandenkämpfers Barabbas5. In diese Zeit eines abrupten Kurswechsels und eines unerwarteten antisemitischen Tauwetters fällt nun auch der politische Prozeß Jesu vor Pilatus. Nach allem, was wir aus den Überlieferungen wissen und erschließen können, ist Pilatus nicht nur von der Art, wie Herodes Agrippa ihn schildert: «Arrogant, stur und brutal», und es besteht seine Verwaltungspraxis durchaus nicht nur aus «Bestechungen, Gewaltakten, Ausplünderungen, Mißhandlungen, Provokationen, unaufhörlichen Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, willkürlicher und brutalster Grausamkeit»6. Das alles wird es gegeben haben; so wird nach übereinstimmendem Zeugnis der jüdischen, arabischen und christlichen Quellen Pilatus historisch wirklich gewesen sein. Aber seine Verbindung zu Sejan und seine Einstellung zu Rom zeigen ihn zugleich als eine Art Idealisten, der nach Plan und Methode handelt. Pilatus ist ein Gläubiger, seine Religion ist die Reichsmetaphysik des Kaiserkults, seine Verehrung gilt der Macht, – ihr gehört sein Leben. Der Ausspruch: «Was ist Wahrheit?» (Joh 18,38), den Pilatus im Johannes-Evangelium tut, ist sicherlich nicht auf seine Person hin zu lesen, und dennoch trifft diese durchaus nicht historisch überlieferte Frage die Persönlichkeit des Pilatus, wie wir sie geschichtlich eruieren können, erstaunlich gut. Wie müssen, wie können wir uns diesen Mann vorstellen? Als erstes: Pilatus ist der Vertreter einer Weltmacht. Im Verlauf weniger Jahrzehnte hatte das Römische Reich die gesamte damals bekannte Welt erobert. Alle möglichen Überzeugungen, Bekenntnisse, Riten und Kulturen waren von Rom eingeschmolzen und integriert worden. Alle Anschauungen erwiesen sich dabei als relativ, als kulturell abhängig, als zweitrangig. So verschieden wie die Sprachen der Menschen, so unterschiedlich waren ihre Gebräuche und Sitten. Pilatus hat daraus den Schluß der römischen Reichsideologie gezogen: das Recht und die Wahrheit lassen sich nicht in 256

sich finden, sondern nur in ihren Auswirkungen; die militärische und zivilisatorische Überlegenheit der Macht beweist die Überlegenheit der Lebensform. Außer der Macht gibt es keinen absoluten Wert. Die Macht ist das, was allem anderen überhaupt erst eigentlich Wert verleiht. Die Macht ist Gott. Sie ist das Einzige, was überall und allerorten präsent ist und Anbetung heischt. Sie selbst ist der höchste Gott, die Hüterin des Erdkreises, und ihr Repräsentant, der Kaiser, ist die menschliche Inkarnation des höchsten Gottes. Diese Ableitungen, besser, diese Erfahrungen müssen das Handeln des Pilatus zutiefst bestimmt haben. Er war überzeugt von der absoluten Vormachtstellung Roms vor allen anderen Völkern. Sein Idealismus, wenn wir ihn so nennen wollen, war zu einem guten Teil ein unangefochtener Nationalismus, gepaart mit einem gerüttelt Maß an Menschenverachtung. Konsequenterweise! Denn wenn der einzige absolute Wert die Macht ist, dann gibt es in ihren Händen nur plastisches, formbares Material; dann sind Menschen Rohstoff, und nichts ist wahr, außer es bewährt sich durch positive Decision und Festsetzung. Damit sind wir beim zweiten: Sejan und sein Werkzeug Pilatus sind, wie man sieht, auf ihre Weise logische Menschen. Sie sind fähig, folgerichtig zu denken, auch wenn das Ergebnis dieser Konsequenz die gewohnten Vorstellungen sprengt. Sie machen Ernst mit einem neuen Glauben, mit einer neuen Religion, entschlossener als sogar der römische Kaiser selbst. Die Leitsätze dieser neuen Weltanschauung weisen in die Zukunft. Für Jahrhunderte werden die Überzeugungen dieser Ideologie die Grundlage aller Entscheidungen der Caesaren abgeben. Und der Tempel dieser Religion der kaiserlichen Macht ist der Raum der sichtbaren Erfahrung. Es scheint nicht zuviel gesagt, wenn wir behaupten: Keine Religion war im Sinne des Machtkalküls rationaler als der Kaiserkult (mit Ausnahme vielleicht des derzeitigen «Heiligen» Reiches amerikanischer Nation). Alles scheint ihrer Bestätigung zu dienen, keine Interpretation der Wirklichkeit ist umfassender, zwingender, unangreifbarer. Die Wahrheit alles Wahren ist die Macht. Vielleicht ist und war das der Grund für den Antisemitismus, den Sejan vertrat und der immer wieder vertreten wird. Keine Lehre ist der Religion der Macht im Grunde so konträr wie der Glaube der Juden an den einen, absoluten, unsichtbaren Gott. Er ist der äußerste Widerspruch zu dem Gedanken jeder absolut gesetzten Menschenmacht. Unübertrefflich hat die jüdische Dichterin Nelly Sachs auf dem Hintergrund der Erfahrungen der Schoah den Zwiespalt beschrieben, wie er zwischen Jerusalem und Rom, zwischen Israel und den «Völkern» besteht: 257

Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel? Fremdling du, einen Stern von weiterher als die anderen Verkauft an diese Erde damit Einsamkeit fort sich erbe. Deine Herkunft verwachsen mit Unkraut – deine Sterne vertauscht gegen alles was Motten und Würmern gehört, und doch von den Traumsandufern der Zeit wie Mondwasser fortgeholt in die Ferne. Im Chore der anderen hast du gesungen einen Ton höher oder einen Ton tiefer – der Abendsonne hast du dich ins Blut geworfen wie ein Schmerz den anderen sucht. Lang ist dein Schatten und es ist späte Zeit für dich geworden Israel! – . – . – (gekürzt) O solcher Tod! Wo alle helfenden Engel mit blutenden Schwingen zerrissen im Stacheldraht der Zeit hingen! Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein Israel?7 Daß Israel ein Stern- und Hoffnungszeichen ist von weiterher, daß es nicht stehenbleibt an den Traumsandufern der Zeit, daß es stets höher oder tiefer als alle anderen Völker gesungen hat und singen mußte, dafür trifft es auf tödlichen Haß, seiner Beunruhigung wegen, seiner fremden Herkunft wegen, seines leidenschaftlichen Schmerzes wegen, seiner fortzeugenden Einsamkeit wegen. – Der Gott, an den Israel glaubt, widersetzt sich der Relativierung. Er erträgt es nicht, daß man ihn einreiht unter den Oberbegriffen Folklore und Auswendiggelerntes. Er ist der unsichtbare Wider258

spruch gegen die Logik des Sichtbaren; er ist die unantastbare Macht hinter der plastischen Knetmasse menschlicher Wirklichkeit; er ist der ewige Aufstand gegenüber jeder Form einer immanenten Gleichschaltung. Mit diesem Glauben an einen absoluten Gott ist natürlich die Religion des Pilatus von der Macht als der Wahrheit alles Seienden völlig unvereinbar. An dieser Stelle des Johannes-Evangeliums, im Verhör Jesu, soll nun die endgültige Antwort auf die Frage des Pilatus nach der Wahrheit gegeben werden. Sie lautet eindeutig: Gott ist die Wahrheit, er ist der Grund der Wahrheit; und also gibt es Wert und Wahrheit vor der Macht; auch die Macht stammt demnach von Gott. Schärfer läßt der Gegensatz sich nicht herausarbeiten. Man kann ihn zugespitzt und ein wenig vom Text entfernt, auch so formulieren: Der Mensch, nur in sich betrachtet, mag in der Tat als Stoff und Masse erscheinen, als wertlos, als gleichgültig, als das Objekt einer Herrschaft, die durch sich selbst ihr Recht behauptet, ihn nach Belieben zurechtzudrücken und zurechtzurücken. Und wie auch nicht? Wir haben es schon oft gesagt: Erst durch die Liebe wird dem Einzelnen ein Wert in seiner eigenen Existenz verliehen; es gibt aber zweifellos zahlreiche Menschen, die nirgendwo hingehören, die ungeliebt durch ihr Leben irren müssen; ihr Wert scheint nichtig; niemand klagt, wenn sie verschwinden; ihr Ableben bleibt wie unbemerkt. Die eigentliche Frage also lautet: Gibt es eine unsichtbare Liebe, die nicht der Menschenwelt angehört? Nur wenn es sie gibt, hat jedes Leben seinen Wert; wenn nicht, hat nur Wert, was sich durchsetzt und herrscht. Das ist der Kern, das Zentrum des Konfliktes zwischen Jesus und Pilatus. Der johanneische Jesus kann dem Prokurator an dieser Stelle nur einen Hinweis geben: Es gibt ein anderes Reich, das sich nicht aus der Immanenz der Welt wahrnehmen läßt, und er selbst trägt es in sich; Pilatus aber – ja, was tut Pilatus? Pilatus schwankt. Die Macht selber erweist sich als unsicher. Ihre Konstellationen wechseln. Den neuen Kurs aus Rom kann Pilatus nur als inkonsequent, als widersprüchlich, als schwächliche Anpassung an neue politische Gegebenheiten verstehen. Aber er muß sich fügen. Um der Macht willen beugt er sich der Macht, obgleich sie im Sinne Sejans machtvoller und größer ausgeübt werden könnte, als es Tiberius wahrnimmt. Pilatus also schwankt. Die biblische Darstellung gibt sich Mühe, den römischen Landpfleger, soweit irgend möglich zu entlasten. Nicht er, nicht Rom – der Hohe Rat, die Juden seien schuld an der Ermordung Jesu gewesen. Pilatus habe, von der Unschuld Jesu überzeugt, den Mann aus Nazaret sogar freilassen wollen. Und doch verlagert das Johannes-Evangelium 259

auch historisch zu Recht den wesentlichen Anteil der Verantwortung an der Hinrichtung Jesu auf Pilatus. Denn eben: Pilatus schwankt, er zaudert, und das spricht ihn durchaus nicht frei. Es bleibt dabei, daß er, dem Befehl der blanken Macht gehorchend, mit Menschen spielt. «Wen soll ich euch freigeben. Wollt ihr nun, ich löse euch ab den König der Juden?» Der Gnadenakt der Macht ist eigentlich noch tödlicher als das Vollstreckungsurteil. Doch was anders wäre Macht, wenn nicht das Aushandeln derartiger Möglichkeiten? Pilatus handelt und verhandelt, – und so verkauft er die Wahrheit der Welt. Der ewige und unaufhebbare Widerspruch von Macht und Wahrheit verlangt durch eines im Grunde kleinen Mannes Schwäche in diesem Augenblick sein größtes Opfer8. Pilatus, der die Macht verehrt, ist innerlich ein unsicherer Mensch. Niemals ist die absolute Macht das Zeichen absoluter Stärke; sie ist im Gegenteil das Zeichen absoluter innerer Ohnmacht, persönlicher Wertlosigkeit und vollständiger Haltlosigkeit. Wir dürfen denken, daß Pilatus nie aufgehört hat, auch im folgenden weiter an die Macht zu glauben. Es gibt dafür vielleicht sogar einen Beweis. Am 16. November 1961 berichtete Antonio Frova in der Mailänder Akademie von einem Fund bei Ausgrabungsarbeiten in Caesarea Maritima9: einem Quader mit der Aufschrift Pontius Pilatus Praefectus Judaeae und dem Wort Tiberieum. Vermutlich dürfte es sich dabei um einen Stein handeln, der die Inschrift an einem kultischen Tempel des Tiberius trug. Nach allem, was uns von Tiberius berichtet wird, hat der Kaiser selbst den Bau eines solchen Gotteshauses zumindest nicht gefordert, vermutlich sogar abgelehnt; dennoch wurden ihm zu Lebzeiten Kultstätten dieser Art gewidmet; Pilatus hat, wohl nach dem Tode Jesu, allem Anschein nach ein solches Heiligtum zu Ehren des Gottes Tiberius errichten lassen. So viel jedenfalls scheint gewiß: Pilatus hat trotz allen Einlenkens nach der Sejan-Affäre an seinem Glauben an die Göttlichkeit kaiserlicher Macht festgehalten. Kurz nach der Hinrichtung Jesu läßt er ein paar vergoldete Weiheschilde mit dem Namen des Tiberius im alten Königspalast zu Jerusalem aufhängen. Die Inschrift ersetzt die anstößigen Bilder der Caesarenmajestät auf ebenso ungebührliche Weise. Die Juden protestieren erneut und appellieren, als Pilatus starr bleibt, an den Kaiser. Tiberius reagiert daraufhin mit einem sehr ungehaltenen Brief, in dem er befiehlt, die Schilde unverzüglich aus Jerusalem zu entfernen und im Augustustempel zu Caesarea aufzuhängen10. Vielleicht ließ Pilatus, wie in geheimer Rache gegen diesen unmodernen Kaiser, der seinen eigenen Kult ablehnte, das Tiberieum bauen! 260

Noch im Jahr 35 jedenfalls veranstaltet Pilatus allem Anschein nach erneut ein Blutbad unter frommen Wallfahrern, wie bereits im Frühjahr 31, diesmal begangen an Samaritanern, nicht an Galiläern. Es ist die letzte Maßnahme des Pilatus, die wir historisch kennen11. Der Reichsstatthalter von Antiochien, Lucius Vitellius, der Vater des späteren Kaisers, sorgt für die Suspendierung des Pilatus. Mit sofortiger Wirkung wird er der Verantwortung für Palästina und Samaria enthoben und nach Rom beordert. Dort verlieren sich seine Spuren, die Wege eines Mannes, den die Macht hervorgebracht hat und den die Macht zugrunde gerichtet hat – Pontius Pilatus, der Mann, der Jesus für einen alles entscheidenden Augenblick gegenüberstand und der ihn in diesem Moment aus taktischen Erwägungen dem Mehrheitswillen des Volkes freigab. Nicht der direkt verfügte Mord an der Wahrheit, sondern die Taktik, die Strategie der Macht tötet die Wahrheit! Sie tut es immer wieder! Das ist es, worauf es in dieser Szene ankommt. Und wie also glauben wir selber? Sagen auch wir: «Wir haben keinen anderen König als den Kaiser!»? Und wenn wir so nicht sagen, – woran glauben wir dann? An die Ohnmacht? An die Wahrheit? Es bleiben an dieser Stelle tausend Fragen, und auch die Kirche, gerade sie, hat im Werdegang ihrer Geschichte nicht eine einzige von ihnen je beantwortet. Nur: Pontius Pilatus, dieser Charakterkopf der Religion des Irdischen, des Verfügbaren, des Planbaren, diese Gestalt aus Idealismus, Nationalstolz und Zynismus, diese Verkörperung aus Hochmut, Schwäche und Verachtung, aus Gehorsam, Flexibilität und Zähigkeit, – Pilatus ist eine jener Gestalten, die trotz ihres flüchtigen und momentanen Auftritts Schlüsselfiguren zum Verständnis dessen sind, was uns Geschichte heißt. So also sehen diejenigen Leute aus, die einen Christus töten! Und sind wir davon denn wirklich so verschieden? Auch wir glauben stets nur an Lösungen, die möglich sind, und daher glauben wir nie wirklich an Erlösung; wir glauben an Gerechtigkeit nur auf dem Hintergrund von Gesetzen und Gewalt; daher glauben wir nicht tatsächlich an das Recht der Armen. Vielleicht Mahatma Gandhi, vielleicht Martin Luther King – Leute wie diese haben es versucht; sie gingen zugrunde wie Jesus auch. Wir aber leben, und die Kirche lebt heute sogar schon seit 2000 Jahren; wie, muß man sich fragen, kann das nur angehen, – nach was für Verfahren und Methoden? Pilatus, wohlgemerkt, war eine rein passagere Randfigur, aber gerade an einem Menschen wie ihm mußte ein Jesus scheitern. Denn dieser Mann tat nur, was alle tun. Nicht an Pilatus scheitert, recht verstanden, deshalb Jesus, sondern an der Geschichte, wie sie ist. Und auch noch wichtig: nicht 261

so ein Opportunist wie der Tetrarch Herodes Antipas tötet Jesus; es ist der Idealist Kajaphas, der im Namen einer falschen Wahrheit tötet; es ist der Idealist Pilatus, der im Namen einer wahren Falschheit tötet; und so geht die Ermordung Jesu Tag für Tag weiter – oder: wir vernähmen die Botschaft jener Frau aus Magdala am Ostermorgen, daß Er lebt. Warum nur, mag man bei dem Zusammenspiel von Pilatus und Kajaphas, von Politiker und Priester, sich fragen, entfaltet die Macht der Außenlenkung im Namen von Weltvernunft und Gottesgebot nur immer von neuem eine so tödliche Wirkung über uns Menschen? Die Antwort ergibt sich aus verschiedenen stets gleichen Tricks, die allesamt in der Unterdrückung der Person und der persönlichen Liebe angesiedelt sind. «Wenn du liebst», schrieb der Inder Osho (Bhagwan Shree Rajneesh), «fühlst du dich von unendlicher Kraft erfüllt. Wenn du aber nicht liebst, hast du vor Kleinigkeiten Angst. Wenn du nicht liebst, interessierst du dich mehr für Sicherheit und Ordnung … Man hat den Menschen nicht erlaubt zu lieben, weil es der einzige Weg ist, um ihnen Angst zu machen. Und wenn sie vor Angst zittern, rutschen sie auf den Knien herum und verbeugen sich vor dem Priester und dem Politiker. – Es ist eine große Verschwörung gegen die Menschlichkeit … Die Politiker und die Priester … sagen: ‹Wir sind da, um euch zu dienen und euch zu helfen, ein besseres Leben zu führen. Wir sind da, um euch ein gutes Leben zu schaffen.› Und dabei sind sie es, die das Leben zerstören.» Das Verbot der Liebe aber, die verordnete, die beamtete Lieblosigkeit ist nur das Gegenstück zu dem Gebot des Unglücks; auch darin liegt ein probates Herrschaftsmittel zur Unterdrückung und Zerstörung der menschlichen Person. «Man muß die Menschen so unglücklich wie möglich halten. Denn ein unglücklicher Mensch ist verwirrt, hat kein Selbstwertgefühl, ein unglücklicher Mensch verurteilt sich selbst, ein unglücklicher Mensch hat das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ein unglücklicher Mensch hat keinen Boden unter den Füßen. Man kann ihn hierhin und dahin schubsen, kann ihn wie ein Stück Treibholz behandeln. Und ein unglücklicher Mensch ist immer bereit, Befehle anzunehmen; er läßt sich herumkommandieren und disziplinieren, weil er weiß: ‹Allein bin ich nur unglücklich. Vielleicht kann mir jemand anders Regeln für mein Leben geben.› Er ist ein bereitwilliges Opfer.»12 Es leidet keinen Zweifel, daß Jesus genau dieses Verbot der Liebe, diese Pflicht zum Unglück, diese Zerstörung des Personalen und Individuellen zum Zwecke der Absolutsetzung des Institutionellen und Kollektiven durch seine Art der Menschlichkeit wie einen dämonischen Spuk aus der 262

Seele der Menschen vertreiben wollte. Doch eben deshalb mußte er den tödlichen Widerstand der Politiker und Priester seiner Zeit und jeder Zeit auf sich lenken; gerade dadurch aber hat er uns die Tödlichkeit der als ganz «normal» aufgenötigten Lebensform zu Bewußtsein gebracht. Seither können wir wählen und müssen wir wählen zwischen «Leben» und «Tod», zwischen dem «Königtum» Gottes und der vergöttlichten Menschenmacht in den Händen der «falschen» «Hirten» (Joh 10,1), zwischen der Freiheit des Vertrauens und der Sklaverei der Angst.

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Joh 19,1-42: Da – der Mensch 1Da also nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. 2Und die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen und setzten ihm den auf den Kopf, und einen Purpurmantel legten sie um ihn. 3Dann gingen sie auf ihn los und sagten: Grüß dich, du König der Juden! und gaben ihm Hiebe. 4Und heraus kam noch einmal Pilatus, nach draußen, er sagte ihnen: Da, ich führe euch ihn heraus, damit ihr erkennt, daß keinerlei Schuld ich an ihm finde. 5Heraus kam da Jesus, nach draußen, mit Dornenkranz und Purpurmantel; und er sagt ihnen: Da – der Mensch! 6Als sie ihn da sahen, die Hohen Priester, die Amtsdiener, schrien sie auf, immer wieder, die Worte: Ans Kreuz! Ans Kreuz! Sagt ihnen Pilatus: So nehmt ihn ihr, kreuzigt ihn, denn ich – ich finde an ihm keine Schuld. 7Geantwortet haben ihm die Juden (die Gottesbesitzer): Wir – ein Gesetz haben wir (Lev 24,16), und nach dem Gesetz muß er sterben, denn zum Sohne Gottes hat er sich gemacht (5,18; 10,33). 8Als nun Pilatus diese Aussage hörte, fürchtete er sich noch mehr. 9Und er ging hinein ins Prätorium, noch einmal, und sagt zu Jesus: Woher bist du? Jesus aber – eine Antwort gab er ihm nicht. 10Sagt ihm Pilatus: Mit mir redest du nicht? Weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht habe, dich kreuzigen zu lassen? 11Geantwortet hat [ihm] Jesus: Nein, Macht über mich hast du keinerlei, außer sie ist dir gegeben von oben. Darum: der mich dir übergeben, hat größere Sünde (ist der eigentlich Schuldige). 12Von da an suchte Pilatus ihn freizulassen. Die Juden aber schrien auf, sie sagten: Wenn du den freiläßt, bist du nicht ein Kaiserfreund. Jeder, der sich zum König macht, steht im Widerspruch zum Kaiser (Apg 17,7). 13Als nun Pilatus diese Worte hörte, führte er Jesus hinaus und setzte sich auf den Richterstuhl – an einem Platz, der «Steinpflaster» heißt, auf hebräisch Gabbata. 14Es war aber PessahRüsttag, um die sechste Stunde (12 Uhr) war es. Da sagte er den Juden: Da, euer König. 15Auf schrien da sie: Weg, weg, ans Kreuz mit ihm! Sagt ihnen Pilatus: Euren König soll ich kreuzigen (18,37)? Geantwortet haben die Hohen Priester: Wir haben keinen König, nur den Kaiser. 16aDa also überlieferte er ihn ihnen, daß er gekreuzigt werde. 16bSie übernahmen Jesus also. 17Und sich selber das Kreuz tragend, ging er hinaus an die sogenannte Schädelstätte, auf hebräisch Golgota, 18wo sie ihn kreuzigten, und mit ihm noch zwei andere, einen hier, einen dort, in der Mitte aber Jesus. 19Geschrieben aber hatte auch einen Schuldtitel Pilatus und an das Kreuz gesetzt, drauf war geschrieben: Jesus der Nazoräer,

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der König der Juden. 20Diesen Schuldtitel nun lasen viele von den Juden, denn nahe bei der Stadt war der Ort, wo Jesus gekreuzigt wurde, und geschrieben wars in Hebräisch, Römisch und Griechisch. 21Sagten nun zu Pilatus die Hohen Priester der Juden (der Gottesbesitzer): Schreib nicht: «Der König der Juden», sondern: «Er hat gesagt: Ich bin der König der Juden.» 22Geantwortet hat Pilatus: Was ich geschrieben, habe ich geschrieben. 23Die Soldaten nun, als sie Jesus gekreuzigt, nahmen seine Oberkleider und machten vier Teile, jedem Soldaten einen Teil, und auch das Gewand. Das Gewand aber war nahtlos, von oben herunter ganz durchgewebt. 24Sagten sie da zueinander: Wir wollen es nicht auftrennen, sondern losen darum, wem es gehören soll, – auf daß die Schrift sich erfülle [, die sagt]: Sie verteilten meine Oberkleider unter sich, und um mein Gewand warfen sie das Los (Ps 22,19). Das also taten die Soldaten. 25Es standen aber beim Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria, die Frau aus Magdala (Mk 15,40 f.). 26Jesus nun, wie er die Mutter sieht und daneben stehen den Jünger, den er liebte (13,23!), sagt zu der Mutter: Frau, da, dein Sohn. 27Drauf sagt er dem Jünger: Da, deine Mutter. Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. 28Danach – obwohl Jesus wußte, daß schon alles am Ziel war –, damit die Schrift ans Ziel komme, sagt er: Ich habe Durst (Ps 22,16). 29Ein Gefäß stand da voll Essigwein. Einen Schwamm also, voll mit Essigwein, steckten sie auf ein Ysoprohr und brachten es an seinen Mund (Ps 69,22). 30Als nun den Essigwein Jesus genommen, da hat er gesagt: Es ist am Ziel, und neigte den Kopf und übergab den Geist (10,18; Ps 31,6!). 31Die Juden (die Gottesbesitzer) nun, da Rüsttag war, damit nicht am Kreuz die Körper blieben am Sabbat – ein hoher Festtag nämlich war jener Sabbat (Dtn 21,23) –, baten Pilatus, ihre Schenkel zu zerbrechen und sie wegzuschaffen. 32Kamen also die Soldaten, und dem ersten brachen sie die Schenkel und dem anderen mit ihm Gekreuzigten. 33Als sie aber zu Jesus kamen, wie sie sahen, er war schon tot, brachen sie seine Schenkel nicht, 34sondern einer der Soldaten mit einer Lanze stieß in seine Seite, und heraus floß sogleich Blut und Wasser. 35Und der es gesehen, bezeugt es hiermit (21,24), und wahr ist sein Zeugnis, und er weiß, daß er Wahres sagt, auf daß auch ihr Vertrauen findet (20,31). 36Geschah doch das, daß die Schrift sich erfülle: Keinen Knochen zerbrecht ihm (Ex 12,10.46; Ps 34,21). 37Und wiederum eine andere Schriftstelle sagt:

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Hinsehen werden sie auf den, den sie durchbohrt haben (Sach 12,10). 38Danach aber bat den Pilatus Josef von Arimathäa, der ein Jünger Jesu war, freilich nur im verborgenen aus Furcht vor den Juden (7,13), daß er wegschaffen dürfe den Körper Jesu (1 Kön 13,29); zugestanden hat es Pilatus. Da kam er und schaffte hinweg seinen Körper. 39Es kam aber auch Nikodemus – der zu ihm gekommen war bei Nacht das erste Mal (3,2) – mit einer Mischung aus Myrrhe und Aloe (12,3!), etwa hundert Pfund. 40Sie nahmen nun den Körper Jesu, banden ihn in Leinentücher mitsamt den Aromastoffen, wie es Brauch ist bei Juden zur Beisetzung. 41Es war aber an der Stelle, wo er gekreuzigt wurde, ein Garten und in dem Garten ein neues Grab, darin noch niemals jemand gelegen. 42Dorthin also, wegen des Rüsttags der Juden, weil nah genug dieses Grab war, legten sie Jesus.

Das 19. Kapitel des Johannes-Evangeliums erzählt davon, wie Pilatus die Hinrichtung Jesu verhängt, gegen sein eigenes Wollen und Wissen, wie betont wird, und es berichtet, wie dieser Befehl ausgeführt wird, wie er exekutiert wird bis zum äußersten. Es gibt keinen Text im ganzen Neuen Testament, in dem die Außenseite eines Geschehens so sehr kontrastieren würde mit seiner Innenseite, mit seiner symbolisch angedeuteten inneren Wahrheit, die, bei Lichte betrachtet, gemalt ist in Farben und Formen von Goldglanz und Größe. Die Geschichte, wie Jesus stirbt, will in allen Evangelien gelesen werden wie ein sich erfüllendes Gebet, wie eine göttliche Verheißung, die endlich an ihr Ende kommt; kein Evangelium aber geht in dieser Konzeption so weit wie das Johannes-Evangelium. Keines ist daher zwischen Innen und Außen so widersprüchlich. An jedem Karfreitag, wenn die Passionsgeschichten aus diesem Evangelium verlesen werden, taucht deshalb, äußerlich betrachtet, ein Bild auf, archaisch geformt, mit einem gräßlichen, grausigen Antlitz: So verstarb historisch der Mann aus Nazaret am Kreuz, in einer Orgie der Marter und der Qual, wie sie im Verlauf von Jahrhunderten im Alten Assyrien und schließlich im Römischen Reich erdacht, kultiviert, zelebriert, perfektioniert wurde1, vorgeblich zur Abschreckung möglicher Straftäter, ganz sicher aber zum Spektakel einer schadenfroh belustigten Menge, die gerade das Abscheuliche liebt, um sich daran zu vergnügen. Es hat den anderen getroffen, nicht die eigene Person, und wie gut ist es, jemanden an seiner «Schuld» verröcheln zu sehen, während man sich selber dabei auf der Seite der Gewinner, der Überlebenden, fühlt. Die christliche Überlieferung hat bis in die Gegenwart hinein das Kreuz 266

heiligzusprechen versucht. «Gott wollte es so», war ihre Erklärung, und so hängt ein Kreuz in jeder «christlichen» Schulklasse. Aber kann man eine Geschichte wie diese Kindern mit ein wenig Vorstellungsvermögen und Phantasie überhaupt zumuten? Muß man sie, darf man sie überhaupt an ein solches Szenario des organisierten Sadismus wie an einen selbstverständlichen Teil der Selbstdarstellung menschlicher Geschichte gewöhnen? Wenn irgend etwas aus dieser Erzählung für empfindsame Menschen hervorgehen sollte, so wäre es ein empörter Aufschrei des Widerspruchs: Man müßte dieses ganze Geschehen sich umwünschen; es hätte sich so nie ereignen dürfen, und in alle Zukunft dürfte es sich niemals wiederholen. Gerade in dem Gräßlichen dieser Szenerie liegt ein starker Impuls, sich dieser Art und jeder anderen Art der Hinrichtung von Menschen kategorisch zu widersetzen. Die Frage ist akut bis in die Gegenwart: Wir haben von Europa aus keine Möglichkeit, Einfluß zu nehmen auf die Politik des Iran oder auf die Rechtspraktiken in Rotchina; wir fühlen uns aber verbunden, wie immer wieder beteuert wird, mit der Wertegemeinschaft, die zwischen den Vereinigten Staaten von Nordamerika und den Ländern in Europa besteht. Nun denn, in amerikanischen Gefängnissen sitzen derzeit über 2500 Jugendliche ein, die zu Mördern geworden sind, davon über 350, die jünger sind als 16 Jahre. In 21 Staaten der USA gibt es nach unten hin keine Altersbegrenzung der Todesstrafe. Es ist der Oberste Gerichtshof, der für die Hinrichtung ein Mindestalter von 16 Jahren festgesetzt hat. Mit 16 Jahren ist es einem Jugendlichen nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit sich auch nur ein Glas Bier zu bestellen; aber er ist im Falle von Mord und Vergewaltigung schuldig zu sprechen, und man darf ihm, man muß ihm daraufhin zur Vergeltung sein Leben nehmen, weil er selbst Leben genommen hat (Gen 9,6)2. So scheint es immer noch richtig im Rahmen unserer Werte- und Rechtsgemeinschaft, und es wird begründet mit einer heiligen christlichen Tradition, gestützt auf Texte wie diesen, weil es angeblich der Wille Jesu war, gekreuzigt zu werden, um den Willen Gottes als seines «Vaters» zu erfüllen. Wenn es so steht, kann die Todesstrafe wohl vermeintlich nicht gegen den Willen Gottes sein3. Und was für ein Bild auch, wenn Jesus sich lebenslänglich später im Gefängnis verhockt hätte, statt großartig grausig zu sterben und öffentlich zum Schauspiel zu werden! Man hat aus der Szene der Hinrichtung Jesu 2000 Jahre lang offensichtlich immer wieder das Falsche gelernt. Man hat den «Leib Christi» auf eiserne Kreuze geflochten, und es konnte ihrer nicht genug geben. Im Gedenken daran, wie Jesus gestorben ist, hatten Soldaten an allen Front267

Abb. 4: George Grosz (1893–1959): Christus mit der Gasmaske. Maul halten und weiter dienen (1927). Kreide, 44 x 55 cm

abschnitten der Kriege christlicher und allerchristlichster Königreiche und Staaten die Pflicht, sich in den Tod zu stürzen, indem sie vorweg noch möglichst viele andere mitrissen. Religionspsychologisch wertete man es als eine Gotteslästerung, als George Grosz 1927 seinen Jesus malte, am Kreuz hängend, nackt, die Gasmaske aufgesetzt, betitelt: Maulhalten und weiter dienen (Abb. 4). Man sah darin eine Verhöhnung des Kruzifixus. Aber was Grosz sagen wollte, war ganz einfach und hätte christlich durchaus Sinn gemacht: Es ist nicht möglich, Menschen in einen Gaskrieg zu hetzen und sich dabei auf Jesus zu berufen; der Gekreuzigte müßte das Kreuz verlassen, damit dieser ideologische Irrsinn der Rechtsgeschichte im sogenannten christlichen Abendland endlich zu Ende käme. Zu Tode gemartert zu werden, sich ir268

gendwo im Niemandsland zwischen den Stacheldrähten zu verröcheln, auf blasphemische Weise heilige Opfer zu predigen, – was hat das alles denn zu tun mit der ursprünglichen Botschaft Jesu? Verfeierlicht und ritualisiert hat man sie bis zum Lächerlichen, ideologisiert bis zum absolut Mißbräuchlichen. Alle Ideologie aber ist gefährlich, weil sie die Menschen verblendet und sie um ihre Kraft bringt, menschlich zu sein. Nicht die Schuld an dieser Entwicklung, wohl aber ein gewisser Anlaß dazu verknüpft sich mit diesem Text im 19. Kapitel des Johannes-Evangeliums. Was das Vierte Evangelium zum Karfreitag malt, ist gewiß kein Historienportrait; im Grunde beschreibt es eine Art romanisches Kreuz, ein Gemälde auf Goldglanzhintergrund, eine Ikone. Jesus stirbt und wird in den Tod getrieben, – das ist das brutale historische Faktum. Aber schon im 10. Kapitel betonte das Johannes-Evangelium (Joh 10,18), wie Jesus selbst von sich sagte: Niemand nimmt es (das Leben) mir fort, sondern ich setze es ein, von mir aus. In einer solchen Freiheit und Souveränität steht der johanneische Jesus den Menschen gegenüber, weil er sich wesentlich zu Gott verhält. Und genauso hier. Als Jesus stirbt, drückt das Johannes-Evangelium es so aus: Er übergab den Geist (seine Seele, sein Leben) (Joh 19,30). Niemand eigentlich konnte Jesus töten; auch Pilatus hatte nicht die Macht dazu, Jesus hinzurichten, denn auch die «Macht» des Pilatus war ihm von Gott gegeben (Joh 19,11). So ging ein König, ein königlicher Mensch, der König Israels, der Messias, der Knecht Gottes, das Opferlamm am Pessahtag, in seinen Tod (Joh 19,31), und es ist für uns, die wir den Text lesen, die Frage, wie wir ihn verstehen: haften bleibend im Äußeren oder innerlich schauend zwischen den Zeilen. Das christliche Bekenntnis dieser Stelle lautet: Er ist der König der Juden. Das Vierte Evangelium spricht das Volk, die Führer des jüdischen Volkes, die Hohen Priester (Joh 19,15), die Gerichtsdiener (Joh 19,6) schuldig, daß sie an diese Königswürde Jesu nicht geglaubt haben, im Gegenteil, daß sie in seinem messianischen Bekenntnis, der Sohn Gottes zu sein, eine Gotteslästerung sahen, einen Verstoß gegen das mosaische Gesetz (Joh 5,18; 10,33). Da wird der Christenglaube selber als Anklage gegen das Judentum gerichtet4. Die Gräben erweitern sich zusehends zwischen denen, die sich auf den Juden Jesus beziehen, und dem Volk der Juden, aus dem er selber kommt. Was aber steht hinter alledem? Eine Paradoxie! Niemals hat Jesus sich als Messias verkündet5. Hätte er dies, man hätte ihn in gewissen Kreisen begeistert erwartet. Ein messianischer Aufstand gegen die Römer – das bildete im gesamten 1. nachchristlichen Jh. in Israel 269

die Glut, die unter der Asche immer wieder loderte und beim geringsten Atemhauch zu Feuer aufflackerte. Jedes Wort, das von Freiheit und Unabhängigkeit und vom Beistand Gottes für sein Volk Israel redete, konnte als eine mögliche Kampfansage gegen den Kaiser in Rom verstanden werden. In diesem Getriebe der Unterdrückung durch die herrschende Macht und des Kampfes gegen die Unterdrückung von seiten der herrschenden Macht hat Jesus sich konsequent geweigert, Macht im Sinne der menschlichen Geschichte anzunehmen. In seinen Augen gibt es eine eigenständige Macht von Menschen überhaupt nicht. An dieser Auffassung hält er im Johannes-Evangelium bis in den letzten Sätzen vor Pilatus fest (Joh 19,11). Was es gibt, ist eine Gabe, die von Gott ausgeht und das ganze menschliche Leben trägt. Allein diese Überzeugung machte, auch wohl historisch betrachtet, die Person Jesu «königlich» und ging über auf jeden, der ihn erkannte. Für Jesus war es nicht die Frage, ob die Römer politisch in Israel herrschten, seine Frage war es, ob Menschen sich selber zu Dienern und Sklaven der herrschenden Verhältnisse entwerten lassen. Freiheit ließ sich seiner Meinung nach nicht erringen und erzwingen durch einen gewalttätigen Aufstand, am Ende legalisiert durch neue gesetzliche Verordnungen; Freiheit kam für ihn niemals von außen. Man kann sie durch das Diktat der Mächtigen nicht wegnehmen noch gewähren. In beiden Fällen bliebe der Mensch ein Hund, nur einmal an die Kette gelegt und ein anderes Mal zum Stöckchenholen in der Landschaft herumgepfiffen. Ein Mensch wird man, indem man sich unmittelbar verhält zu Gott. Das war der ganze Glaube Jesu. Das Johannes-Evangelium wird später in einer nachösterlichen Legende erzählen, der Mann aus Nazaret habe die Macht besessen, durch verschlossene Türen zu gehen (Joh 20,19). In der Tat: Für Jesus gab es keine Kerkermauern, keine Wände, nichts, was ihn halten und einsperren konnte. Er war von innen her frei, und dieses Geschenk der Freiheit machte er allen. Selbst die Angst vor dem Tod vermochte ihn offenbar nicht zu entmutigen. Er biß nicht die Zähne zusammen, um mutig zu sein, sondern er wußte sich auf eine rätselhafte Art geborgen. Das war sein Königtum. Niemand konnte ihn einengen oder einschüchtern. Würden Menschen die Angst vor dem Tode verlieren, meinte er russische Dichter F. M. Dostojewski in seinem Roman Die Dämonen, so würden sie selber Gott sein. Kirillow, diese phantastische Romangestalt des Absurden, denkt so, – wir haben es schon einmal zitiert: Nur die Menschen, die den Tod nicht als ständigen Schrecken vor sich haben, leben wirklich. Nichts von außen mehr kann sie zwingen, sie gehören sich ganz. Dieser Mensch-Gott sollte erwachen durch Kirillow6. Die Botschaft 270

Jesu indessen lautet gerade umgekehrt: Man verliert die Todesangst nicht durch wahnhafte Selbstvergottung, sondern nur durch das Vertrauen, daß Gott ist. Nie hat Jesus sich als Gottmensch vorgestellt, als eine göttliche Person mit zwei Naturen, er hat sich nie im metaphysischen Sinn als Sohn Gottes ausgegeben, aber in seiner Freiheit und in der Weite seiner Güte, seines Einfühlungsvermögens, seiner Liebe war er ganz und gar königlich. Es muß gerade dieser Punkt gewesen sein, der seine Gegner immer wieder dahin trieb, ihn denn doch im Sinne eines verborgenen Messiasanspruches zu verstehen, also mißzuverstehen: «Er will wohl als Messias auftreten; aber er tut ja nicht, was ein Messias tun sollte!», das alles erschien in ihren Augen doppelt ärgerlich. Er erzeugte Erwartungen, die er dann nicht einhielt. Er trat auf mit einem Anspruch, wie er eigentlich nur dem Messias zukam; dann aber gebärdete er sich durchaus nicht so, wie man es von einem wirklichen Messias erwartete. Eine göttliche Guerilla müßte er ausrufen, er aber ruft sie nicht aus. Die Befreiung von den Römern sollte er proklamieren, doch sie ist ihm kein Anliegen. Im Gegenteil, er paktiert mit den Zöllnern, die das Ausbeutungssystem der Römer in Israel in Gang halten. So bleibt er der Menge rätselhaft und verwirrend, einfach weil er Befreiung von innen will. Und doch: er zieht Menschen an sich, vor allem psychisch Leidende. Er überzeugt. Er weckt eine Bewegung. Er wird gefährlich. Denn: er will nicht nur die innere Unabhängigkeit vom Kaiser; viel bedenklicher für die religiöse Zentrale in Jerusalem, für den Einfluß der Hohen Priester und der Schriftgelehrten wird es, daß dieser Mann die Menschen unmittelbar vor Gott stellt. Wenn man ihm Glauben schenkt, so braucht man diese Gottesexperten, diese Gotterklärer vom Dienst, diese autoritären Gesetzesausleger durchaus nicht länger, und noch viel weniger braucht man die Ritualvermittlung der Priester im Tempel. Es ist absolut nicht nötig, daß man Böcke und Rinder am Altar tötet und verbrennt und mit ihrem Blut herumspritzt, als wäre Gott irgendwie doch noch ein eiszeitlicher blutsaufender Dämon, der an der Seite archaischer Jäger hinter seiner Beute her ist, – ein Projektionsbild von Hungernden, von Zornmütigen, von Rachesüchtigen. Nie entsprach dieses Bild der Vorstellung Jesu von Gott. Nie sollten diese schattenverwirrten Gespenster der Angst sich über den legen, den er seinen Vater nannte. Sohn Gottes zu sein hieß für ihn, in Gott so geborgen und so versöhnt zu sein wie ein Kind in der Nähe seiner Mutter oder seines Vaters; es bedeutete für ihn auch, durch die Logik der vermeintlich Erwachsenen nicht mehr gebunden zu sein an all das, worauf man glaubt Rücksicht nehmen zu müssen, um im Leben er271

folgreich zu sein. Er, Jesus, blieb in gewissem Sinne ein unbefangenes Kind, er blieb bei dem Traum seiner zentralen Hoffnung: das Reich Gottes habe sich genaht (Mk 1,15). Er sah sich nicht als Herold der anbrechenden Königsherrschaft Gottes, sondern er wollte durch sein Leben zeigen, wie Gott Platz gewinnen könnte in den Herzen der Menschen. Nicht um das Kreuz, dieses scheußliche Marterinstrument der Römer, zu verherrlichen, sondern um uns als Menschen zu befreien, riskierte der Mann aus Nazaret das Äußerste. Das Neue Testament überliefert, daß Jesus durchaus zur rechten Zeit hätte fliehen können, daß er der Verhaftung hätte ausweichen können, wenn er sein Leben hätte retten wollen. Es muß im Leben Jesu in der Tat einen Grund gegeben haben, warum er das nicht getan hat, aber es scheint abwegig, diese Begründung in einer selbstquälerischen Leidensbereitschaft zu vermuten. Das Vierte Evangelium betont immer wieder, Jesus sei aus Gehorsam zu Gott in den Tod gegangen, und so dürfte es wohl wirklich gewesen sein. Die ganze Botschaft Jesu von dem rettenden Vertrauen in Gott wäre um jeden Kredit gebracht worden, hätte auch er schließlich sich denn doch, wie in einem Akt von Vernunft, der schieren Angst unterworfen und sich mit seinem innerlich gespürten Auftrag überworfen. Irgendwann empfindet ein Mensch die Pflicht zu innerer Treue, zu einer gewissen Konsequenz in seinem Leben. Es gibt etwas Schlimmeres als das, was Jesus im folgenden auferlegt wird: er wird gegeißelt werden, er wird moralisch von den Hohen Priestern vernichtet werden, er wird unter dem Spott und der Häme der allzu dienstwilligen, der ewig kujonierten und kommandierten Soldateska bespuckt und geschlagen werden, er wird unter falschen Beschuldigungen hingerichtet werden, er wird dem Gegeifer der Menge ausgesetzt sein. Doch schlimmer als all dies ist es, sich selber zu kujonieren, sich selber zu schänden, sich selber zu beschämen und selber lange schon, bevor der Tod kommt, den Mut zum Leben zu verlieren. Aus dem eigenen Leben eine Lüge zu machen ist viel verderblicher, als der taktischen Verlogenheit bestimmter Gegner zum Opfer zu fallen. – Das heißt es, «den Willen Gottes zu tun», eines Gottes, der nicht von außen redet, sondern ganz im Inneren dem Menschen hilft, entschlossen und geschlossen bei dem zu bleiben, was stimmt, mag es dann draußen werden, wie es will. «Du bist der König der Juden?» fragt Pilatus diesen rätselhaften Mann aus Nazaret (Joh 18,33), den die Hohen Priester ihm als jemanden vorstellen, der gegen den Kaiser polemisiere und der sich selber zum König (zum Messias) erklärt habe. Nicht einmal der römische Statthalter, so schildert es das Vierte Evangelium, erkennt in Jesus irgendeine Schuld. Er will nicht 272

den Kaiser stürzen, soviel steht fest. Er ist auch nicht im üblichen Sinne als König aufgetreten. Was denn auch hätte das nützen sollen? Mit einem militärischen Putsch wäre vielleicht die bestehende Macht umverteilt worden, doch es wäre gewesen, wie wenn man mit Spitzhacke und Schaufel Eis von der linken Straßenseite auf die rechte Straßenseite räumt, – am Gefrierzustand der Welt ändert all diese Mühe überhaupt nichts. Was Jesus wollte, war auf rätselhafte Weise deshalb etwas ganz anderes, eine Botschaft wie vom Himmel, wie aus einer gänzlich anderen Welt (Joh 18,36). Pilatus scheint etwas davon zu ahnen, aber Jesus, in dem Moment seines Verhörs, kann es dem Prokurator mit keinem Wort erklären. Es scheint eine spätere «christliche» Retusche zu sein, wonach Pilatus ein Mann gewesen sei, der gegen seine eigene Überzeugung Jesus immer wieder habe retten wollen, und wonach es einzig die jüdischen Hohen Priester und Schriftgelehrten gewesen seien, die ihn in den Tod getrieben hätten. Tatsächlich spielt sich in dem Drama zwischen Jesus und Pilatus auf dem Steinpflaster (dem Lithostrotos) (Joh 19,13) vor den Augen des Volkes eine Auseinandersetzung ab, die in der menschlichen Geschichte immer wiederkehren wird und in der historischen Konstellation zwischen «den» Römern und «den» Juden nur eine besonders klare konkrete Ausprägung erfahren hat. Woran glauben die Menschen wirklich, an welch eine Art von Macht? An die Weisungs- und Befehlsgewalt der Regierenden oder an die Kraft, die Gott in unser Herz legt? Diese Entscheidungsfrage auf Entweder-Oder stellt sich aus diesen Texten quer durch die Jahrtausende. Die christliche Lehre erklärt, daß Jesus der Messias sei, eben der Sohn Gottes, und sie hat bis heute nicht aufgehört, gerade im Sinne auch des Vierten Evangeliums, den Juden vorzuwerfen, daß sie dieses Bekenntnis nicht akzeptieren. Aber was heißt es dann, an Jesus zu glauben als an den Messias, als an den Sohn Gottes? Jeder Jude wird sagen: «Die letzten 2000 Jahre Christentum haben an der Geschichte nichts besser gemacht, wie es doch sein müßte, wenn der Messias wirklich gekommen wäre. Von einem Reich Gottes auf Erden fehlt jede Spur. Im Gegenteil, wir sind heute weiter davon entfernt als in jenen Tagen vor 2000 Jahren, und gerade ihr, die Christen, mit eurem Bekenntnis zu euerem Messias habt es schlimmer getrieben als jedes andere Volk und jede andere Religionsform. ‹Gott will es!› das war euer Schlachtruf; damit seid ihr in die Kreuzzüge gezogen. ‹Gott will es! Deus le volt›, das war euer Kampfruf zum Kriegführen nach innen gegen Ketzer, Katharer, Abweichler, Hexen, Sünder, nach außen gegen Muslime, Juden, Neger, Chinesen – gegen alle Welt. Immer wart ihr bereit, für euren Gott zu töten, weil euer Gott getötet wurde7. Was aber bedeutet es denn, 273

in Jesus den Messias erkennen, außer daß ihr anfangt, die Geschichte durch das bessere Beispiel eures Lebens umzuschreiben? Dann mag es sich entscheiden, bei der Lektüre der Zeitung an jedem Morgen neu, worauf ihr wirklich vertraut, – ob euer Jesus der Messias ist oder nicht.» Alles, was im Geschichtsbuch zu lesen steht und was sich in den aktuellen Zeugnissen zur Weltlage findet, spricht dafür, daß sich die Blutmühle der Geschichte immer so weiterdreht; es erscheint uns als politische Vernunft, bedingungslos an die Gesetze des Kalküls der Macht zu glauben: – wie man sie gewinnt, wie man sie erhält, wie man sie bekommt, wie man sie verteidigt, wie man vor allem das Geld einsetzt zugunsten der Macht, wie man mit Menschen spielt, indem man die Informationen über sie so dosiert und notfalls so manipuliert, daß sie am Ende wie gefolgsame Schafe werden. So macht man Politik. Alles andere wäre illusionär, wäre phantastisch, wäre die utopische Forderung nach einer anderen Republik, nach einer anderen Welt sogar. Doch was Jesus wollte, war eine andere «Welt», nicht mehr, nicht weniger, und wer sagt: «Er ist der König», erklärt damit, daß es für ihn nur einen einzigen wesentlichen – «Befehlsgeber» kann man nicht sagen, aber – inneren Halt und Träger gültiger Wahrheit, nur ein einziges Vorbild lebendiger Menschlichkeit gibt, eben ihn, den Geschändeten, den Gekreuzigten. Der Unterschied zwischen dem religiösen und dem pragmatischen Standpunkt ist eklatant. Als Politiker macht man etwas falsch, wenn man keinen Erfolg hat; augenblicklich werden die Sieger über den Verlierer triumphieren und nachweisen, daß er Fehler begangen hat, eben weil er nicht zur Durchsetzung seiner Pläne kam; sein Programm kann also nicht gestimmt haben! Das ist die «message», welche die Zeitungen uns morgens beizubringen versuchen. Die Person Jesu indessen möchte uns versichern, daß es durchaus zu erwarten steht, in ganz kurzer Zeit ganz furchtbar zu scheitern, eben weil man alles richtig gemacht hat, eben weil man überhaupt nichts «falsch» gemacht hat. Allein daß diese Möglichkeit besteht, ist so ungeheuerlich, daß sie alles verändert. Noch einmal hat Fjodor M. Dostojewski in seinem Roman Der Idiot recht: Da steht ein Kreuz, und es zeigt, daß alle Gesetze dieser Welt Lüge sein müssen, wenn sie zu einem solchen Ergebnis führen8. Der Hohe Priester beruft sich auf Gott, die Priester am Tempel führen das Gesetz Gottes im Munde, und doch widerlegen sie Gott und stehen weit entfernt von ihm. Der römische Landpfleger, diese Personifikation absolutistischer Macht in der Provinz Syrien, ist bei seinem Taktieren selber der Tatsache überführt, lediglich ein ohnmächtiger Spielball bloßer Augenblicksinteressen zu sein. 274

Geht man die Geschichte von dem Verhör Jesu durch, so beginnt sie damit, daß Pilatus eine Art Kompromiß mit der Rachelust und mit dem Sadismus der Menge schließt, schließen muß. Jesus ist nicht schuldig, glaubt er, weiß er, und er denkt aus der Klemme zu kommen, wenn er Jesus nach der Strafe der Geißelung vorführen läßt9. Genügt das nicht – einen Menschen durchzuprügeln und so zu schlagen, daß oft genug die Opfer allein durch die Geißelung zu Tode kommen? Der Atem ging ihnen unter den Hieben aus. So grausam konnte allein die Exekution der Auspeitschung wirken10. Welch ein Machtgefühl des Triumphs aber in denen, die da die Knute schwingen! Ein Mensch verwandelt sich unter ihren Hieben in ein schmerzempfindliches zuckendes Etwas, das sich vor ihren Augen erbarmungswürdig windet und sie um Gnade anfleht. Mitleid könnte es gewesen sein, auf das der Machthaber Roms spekuliert hätte. Wenn sie ihn so sehen, werden sie dann nicht von selbst erklären: «Es langt»? Da, der Mensch! Können sie bei seinem Anblick nicht sagen: «Es ist genug!»? Die christliche Überlieferung hat sehr sensibel und fein dieses Wort «ecce homo» als Sinnbild für das Schicksal all der Leidgeprüften dieser Erde genommen, als eine Aufforderung zu Mitgefühl, zu wirksamem Mitleid, zu gerade diesem Ruf: «Es langt!», zum Widerspruch gegen Tortur und Folter, zu der Kraft, Partei zu ergreifen für die Geschundenen. Bei jedem Menschen, sähen wir ihm nur in die Augen, könnten wir ein vergleichbares Elend wahrnehmen. Geprügelte sind sie alle, Mitleidverdienende ausnahmslos; so stehen sie vor uns – verspottete Könige auf gewisse Weise ein jeder. Daß die Soldateska tut, was ihr gesagt wird, ist das Normale. Sie ist dazu da, widerspruchslos das ausführende Organ ergangener Befehle zu sein. Es gehört zur militärischen Disziplin aller Zeiten, allerorten, aller Kulturen, Menschen zu produzieren, die aufhören, selber zu denken und die nur noch vollstrecken, was befohlen wird11. «Soldaten sind Mörder», auf dieses Tucholsky-Zitat können zwei Jahre Haft stehen. Aber das Johannes-Evangelium beschreibt, was sie wesentlich sind: Menschen, die Menschen umbringen und denen es vollkommen egal zu sein hat, mit wem sie es zu tun haben. Ist die Ermordung Jesu die Schuld dieses Exekutionskommandos, der vier abgestellten römischen Soldaten? – mehr können es nicht gewesen sein, wenn man die vier Wäscheteile Jesu unter sich verteilen will. Es genügt jedenfalls, die vier richtigen zu bestellen. Sie haben die Pflicht, blind wie Justitia selbst, zu tun, was ihnen aufgetragen wird. Und so ist es bis heute. Mitte der neunziger Jahre zeigte eine Wanderausstellung die Verbrechen der Wehrmacht; alle rechten Kreise empörten sich gegen den Eindruck, es hätte sich in der Mentalität von Soldaten bis 275

heute nichts geändert; denn ein solcher Verdacht würde die Moral der Truppe untergraben, er brächte das ganze demokratische Gefüge durcheinander, die geschichtliche Vernunft stünde plötzlich auf der Anklagebank, nichts mehr wäre in Ordnung. Aber es hat in Ordnung zu sein, damit wir weiter in Reih und Glied marschieren können, damit wir 120 000 jungen Männern in Deutschland Jahr für Jahr den Stahlhelm verpassen können. Die gesamte bürgerliche Selbstgewißheit gründet in der Überzeugung, irgendwann müsse man Gehorsam lernen, inklusive des Tötens von Menschen; erst wenn man trainiert hat zu töten, ist nach archaischer Logik offenbar die Initiationsprobe bestanden, endet die Kindheit12. Alle Weichlinge, alle Gefühlsseligen, alle Skrupulanten, alle Bedenkenträger gehören da nicht in diesen Kreis der wahren Männer. Man braucht eine lange Ausbildungszeit, nicht nur um mit technischem Gerät eine möglichst effiziente Form des Tötens zu erlernen, sondern auch um die Tötungshemmung herabzufahren; es gilt, Menschen wie Zielscheiben zu betrachten. Man sagt im Strafrecht, ein Mörder sei jemand, der aus niederen Motiven töte; aber ist etwa Gehorsam ein hohes Motiv? Ist die Fügsamkeit unter Einschüchterung kein niederer Beweggrund? Ist die Devise: «Ich bringe dich um, ehe du mich umbringst», ein verdienstvolles Motiv? Es kann bei der Kritik des Soldatenstandes nicht darum gehen, Menschen als Einzelne auf die Anklagebank zu setzen; aber ein System kann nicht richtig sein, in dem das Töten fabrikmäßig verordnet, geordnet und angeordnet, geübt und ausgeübt wird. Die Hinrichtung von Partisanen, von vermeintlichen Kriegsverbrechern, von Deserteuren aus den eigenen Reihen, der Einsatz von Foltermethoden bei Verhören – wo auf Erden waren das nicht die alltäglichen Gepflogenheiten des Militärs? Für was sonst wären Soldaten im «Ernstfall» da, als daß sie töteten? Doch wenn die Hinrichtung Jesu durch das römische Militär ein Justizmord war, welche Legitimation für eine derartige Vorgehensweise wird es dann je noch geben können? In alle Ewigkeit keine, niemals mehr! In jedem, den wir hinrichten, werden wir den Mann aus Nazaret wiedertreffen. Das ist die Wahrheit dieser Geschichte. In jedem von uns lebt ein verborgener König, – doch es ist auch wahr: aus jedem von uns kann man eine Witzfigur machen, aus jeder Krone kann man einen Spottreifen formen, aus jedem Gewand kann man einen «Purpurmantel» des Hohns weben. Alles, woran ein Mensch glaubt, kann man ins Lächerliche verkehren und mit Füßen treten. Alles, was jetzt folgt, ergibt sich deshalb folgerichtig. Die «Hohen Priester» werden sich zu allen Zeiten als «Kaiserfreunde» 276

ausgeben und erklären: «Wir haben keinen König, nur den Kaiser.» Daran ist auch historisch wohl so viel wahr, daß ein Mann wie Kajaphas, der Hohe Priester in den Tagen Jesu, ein großes Interesse hatte, mit Rom zu paktieren. Nichts konnte die Clique der Sadduzäer um den Tempel weniger gebrauchen als einen messiaspolitisch motivierten Aufstand, – wieder solch einen Verrückten, der die Macht Gottes wörtlich nahm und nicht begreifen wollte, welch eine ungeheure Vernichtungskapazität in den Legionen Roms lag. Wenn man sie reizte, würde Jerusalem zerstört werden! Das wußten sie, soweit kannten sie sich politisch aus13. Man muß kämpfen ums Überleben, – das bedeutete für sie: man muß sehr leise flüstern; um nicht zerschmettert zu werden, muß man sich sehr tief ducken; um nicht zertreten zu werden, muß man sich niedriger machen als das Gras. Man darf keinen König haben wollen außer denjenigen, den Rom erlaubt: als Herodes, als diese römische Marionette; politische Selbständigkeit ist auf absehbare Zeit unerreichbar. Das weiß der Hohe Priester, das wissen die Sadduzäer an seiner Seite, und so spricht sich in ihren Worten ein historisch glaubwürdiges Echo aus. Pilatus jedenfalls hat die Pflicht, jeden Messiasprätendenten auszuschalten. Das ist seine Aufgabe als römischer Statthalter, und er muß dabei auf die Treue und auf die Verläßlichkeit der Gruppe, die im Tempel das Sagen hat, zählen können. Der Hohe Priester der Juden und der Heide aus Rom, Altar und Thron, Himmlisches und Irdisches sind da wie die beiden Bügel eines Fangeisens, und sie schlagen berechnenderweise zusammen, um Jesus zu töten. Die Kreuzigung selbst vollzieht sich in eben der sadistischen Erbärmlichkeit, in der sie en détail erfunden wurde14: In Höhe des Gesäßes der Hinzurichtenden war ein Stützbalken angebracht, auf dem sich die an den Händen Aufgehängten immer wieder abstützen konnten. Wenn sie röchelnd bei dem Absacken des Bluts in den Unterleib um Atem rangen, konnten sie somit einen Aufschub gewinnen, indem sie diesen Stützbalken benutzten; auch der Schmerz ihrer Glieder konnte auf diese Weise für Sekunden überbrückt werden. Der Sinn einer solchen Anordnung bestand darin, die Qual in die Länge zu ziehen und aus Menschen nach Luft schnappende, unter Schmerzen sich windende Kreaturen zu machen, bis daß der Tod sie erlöste. Alles, was wir in dieser Szenerie vor uns sehen, ist nichts als eine verabscheuungswürdige Barbarei. Aber nun meint, angelehnt schon an die frühesten Passionsgeschichten, wie uns deren eine im Markus-Evangelium erhalten ist, das JohannesEvangelium in einer Kette von legendär-symbolischen Einzelmomenten, daß man die Barbarei im Äußeren von innen betrachten müsse. Es geht 277

den Evangelisten nicht psychologisch darum zu schildern, Jesus habe dies und das gefühlt oder gedacht; vielmehr malen die Evangelien das äußere Geschehen der Hinrichtung Jesu so, daß es zur Erfüllung einer Reihe von «Verheißungen» und Gebetszitaten wird. Jesus soll da gestorben sein nach Art eines erhörten Gebets, – das will der Text vor allem im Johannes-Evangelium uns sagen. Er wurde nicht das Opfer seiner Schwäche; er flehte nicht vor Gott mit den Worten, die noch im Markus-Evangelium (Mk 15,34) stehen: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!» Gerade dieser Ausruf wird immer wieder als der Entsetzensschrei eines Gottvereinsamten, eines Gottesverzweifelten gedeutet; in Wahrheit aber handelt es sich um den Anfang des 22. Psalms, der mit der Nähe der Gottesherrschaft, mit dem Anbruch seines Königtums endet. Was gerade das Markus-Evangelium sagen will, ist einfach, daß Jesus den Psalm 22 betete15; doch da eine solche Zählung zur Zeit der Niederschrift nicht existiert, zitiert es den Eingangsvers dieses Gebetstextes. Im Johannes-Evangelium freilich wird sogar dieser Satz komplett gestrichen; da soll Jesus selber die Gebetserfüllung arrangiert haben, indem er entsprechend dem 22. Psalm ausrief: Ich habe Durst. (Ps 22,16) Der Psalm malt den verzweifelten Ruf dieser Bitte ausführlich aus: «Die Zunge klebt mir am Gaumen, mein Leib klebt an der Erde.» Einzig damit sich das Psalmwort «erfülle», schildert Johannes den glühenden Durst eines Verröchelnden als den Teil eines Gebets, das sich in seinem Schicksal wiederholt. Auch wenn die Soldaten auf den Ausruf Jesu antworten, indem sie ihm mit einem Schwamm Essigwein, den ordinären Soldatenwein für die einfache Truppe, zu trinken geben, ein Mittel, das allerdings auch eine gewisse betäubende Wirkung besaß, ist damit keine Geste des Mitleids beschrieben, sondern diese Szene entspricht einem anderen Gebetstext, dem Psalm 69,22. Und selbst wenn die Soldaten über die Kleider Jesu das Los werfen, um seinen nahtlosen Leibrock nicht durchtrennen zu müssen, ist darin erneut ein Zitat aus Psalm 22,19 zu erblicken. Die Frage stellt sich bei der Art dieser Darstellung generell, was wir eigentlich wahrnehmen, wenn ein Mensch an unserer Seite stirbt. Äußerlich immer wieder wohl nichts, als daß die gequälte Physis sich auflöst; viel wäre da schon gewonnen, es geschähe nicht rein von außen diktiert. Wieviel Friede läge in der Bitte Rainer Maria Rilkes im Stundenbuch: O Herr, gieb jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not.16 278

Was das Johannes-Evangelium schildert, ist ganz betont Jesu eigenes Sterben. Für seine Liebe, für sein Glück nimmt er die Schmerzen dieses qualvollen Todes in Kauf. Wohl, man verhängt die Hinrichtung von außen über ihn, und doch geht er für sich selbst, für seinen Gott und für uns alle freiwillig bis zum äußersten. Selbst sein Tod bleibt seine freie Wahl und eigene Entscheidung. Eine noch wichtigere Frage aber lautet, wohin wir denn gehen im Augenblick des Todes. Die Kette der Gebetszitate möchte versichern, daß der Tod uns von Gott nicht trennt, sondern daß unser Leben, wenn es denn schließt und endet, sich beschließt und vollendet unter den Händen Gottes selber. Selbst der Ausdruck des Sterbens Jesu entstammt einem Psalmenzitat. Er übergab den Geist, – das bedeutete im 10. Kapitel des JohannesEvangeliums (Joh 10,18): er bleibt souverän bis zum letzten Atemzug; doch hier haben wir es mit einem Wort aus dem 31. Psalm zu tun, in dem es heißt: In deine Hände gebe ich meinen Geist (Ps 31,6). Jesus, will das besagen, verstarb in einem Akt des Vertrauens gegenüber Gott. Eine überaus erstaunliche Aussage! Alles steht nämlich in diesem Moment gegen ihn: das Urteil des Hohen Priesters, das Gejohle des Pöbels, das Machtkalkül der Römer; in den Augen der Menge ist er ein Gescheiterter, ist er ein Verlorener, ist er ein endgültig Abgetaner; selbst seine Jünger haben das Weite gesucht (Mk 14,50) oder ihn verraten wie Petrus (Joh 18,25-27); sie haben ihn einfach verleugnet aus Angst. Es ist einzig, daß Jesus auf den vertraut, den er seinen Vater nannte, auf Gott. Er muß es wissen, bei ihm wird es stehen, in seine Hände gibt er – nicht eigentlich seinen «Geist», sondern: – sich selbst, mit allem, was er wollte und war, mit allem, was er ist und je sein wird. Mehr kann ein Mensch nicht tun. Er kann nicht sagen: «Ich weiß, wer ich bin, ich weiß, wer ich war»; er kann nur beteuern: «Ich habe versucht zu tun, was du wolltest, so wie ich es verstand, so wie ich es glaubte. Und nun nimm mich auf, wie immer mein Leben verlief. Ob es sich lohnte, inwieweit es stimmte, weißt du allein.» Selbst er, Jesus, wird nicht wissen, was es mit seinem Leben auf sich hat; aber dieser Akt der Übergabe seines Selbst in die Hände Gottes macht aus seinem Tod eine Form innerer Kontinuität, eines Sich-Durchhaltens: in dieser Art des Sterbens beginnt endgültig ein wahres, ein unendliches Leben, wie es im Johannes-Evangelium so oft verheißen wird. Immer wieder suchen wir nach Antworten auf die Infragestellung des Todes, und wir setzen dagegen die Geschichten des Osterevangeliums, aber dies ist bereits das ganze Ostern, daß jemand so spricht wie Jesus hier: «Ich sterbe nicht, sondern ich gebe alles, was ich bin, in deine Hand.» 279

Die johanneische Passionsgeschichte enthält ein singuläres, merkwürdiges Motiv, das ebenfalls nur symbolisch wirklich verständlich ist. Erzählt wird, daß Jesus unter seinem Kreuz seine Mutter und bei ihr den Lieblingsjünger gesehen habe (Joh 19,26); es handelt sich dabei offenbar um eine Legende, – die ersten drei Evangelien wissen nichts davon, daß Maria ihren Sohn zum Kreuz begleitet habe. Daß das Vierte Evangelium diesbezüglich über neue Informationen verfügen sollte, ist völlig unwahrscheinlich. Historisch dürfte es sein, daß Jesus und seine Mutter, der eine im Aufbruch, die andere voller Besorgnis, mindestens für eine ganze Zeit lang sich kaum verstanden haben; im 3. Kapitel des Markus-Evangeliums (Mk 3,21.31) zum Beispiel kommt Maria an der Spitze der Brüder Jesu, um ihn nach Nazaret zurückzuholen, denn sie glauben, er sei verrückt geworden; Jesus aber sagt: Denn (nur) wer tut, was Gott will, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter (Mk 3,35). Das Markus-Evangelium weiß absolut nichts von einer besonderen Verbundenheit Mariens zu ihrem Sohn. Auch bei Johannes erzählt die Legende von der Hochzeit in Kana, daß Jesus seine Mutter recht barsch anredete: Was mir, was dir, Frau? (Joh 2,4) Wenn Jesus sie nun an dieser Stelle anspricht: Frau, da, dein Sohn, und umgekehrt zu dem Lieblingsjünger sagt: Da, deine Mutter, so dürfte diese Beziehung als erstes eine symbolische Beschreibung des Verhältnisses der frühen Jesus-Gemeinde zur Synagoge sein: die «Mutter» bleibt das Judentum, doch ihr Adoptivsohn ist die Jesus-Bewegung. Wenn diese Deutung, die von Rudolf Bultmann vorgeschlagen wurde17, zuträfe, so bestünde das letzte Vermächtnis des johanneischen Jesus in der Aussöhnung zwischen Judentum und Christentum18. In jedem Falle dürfte es auch Kreise gegeben haben, die hinter dem sogenannten Johannes-Evangelium standen und die in der Gestalt des «Lieblingsjüngers» eine reale Nähe zu der Mutter Jesu erblickten; doch selbst dann könnte die Szene noch symbolisch zu lesen sein, als ein legendäres Vorbild der Sorgsamkeit etwa: Jesus wäre im letzten Moment seines Lebens zu einem Akt der Fürsorge imstande gewesen! So etwas ereignet sich manchmal auch in der Wirklichkeit. Bertolt Brecht etwa notierte eine bemerkenswerte Begebenheit aus dem Leben Giordano Brunos, des Renaissance-Philosophen, über den die römische Inquisition den Tod verhängte19. In den Bleikammern von Venedig soll er jemanden getroffen haben, dem er noch Geld für einen versetzten Mantel schuldete, und Bruno verfügte, daß aus den Mitteln, die man ihm abgenommen, diese Summe entrichtet werde. Die Überlieferung ist historisch glaubwürdig, und Bertolt Brecht findet zu Recht, daß, unabhängig von 280

der Bedeutung und von der Berühmtheit des Philosophen Giordano Bruno, diese kleine Geste eines Mannes, der zu Tode geängstigt ist und unter der Folter leidet, indem er sich trotzdem für eine winzig scheinende Forderung eines anderen einsetzt, ihm zu allen Zeiten den Titel eines wirklich Großen eintragen sollte20. Denn in der Tat: Eine derartige Fürsorglichkeit angesichts unmenschlicher Grausamkeit ist für immer aller menschlichen Achtsamkeit wert. Aber vielleicht, wie vieles in diesen Texten, geht es noch weiter: Womöglich soll in dieser Szene der wechselseitigen Verweisung des Lieblingsjüngers und der Mutter Jesu aufeinander gezeigt werden, daß die Beziehung Jesu zu seinem Gott sich erweitert in eine Mütterlichkeit und in eine Sohnschaft, die fortan unter allen Menschen gelten soll: Setzte eine solche Botschaft sich fort, so wäre es doch zumindest im engsten Kreise möglich: Menschen könnten sich zueinander wie Kinder und Mütter verhalten, fürsorglich, zärtlich, und nie mehr wären sie zu trennen. Sogleich freilich bricht die Szene wieder ab. Das Exekutionskommando tut seine Pflicht: Man zerbricht die Beine der am Kreuz Hängenden, damit sie ihre Füße nicht mehr abstützen können; endgültig wird ihr Blut jetzt in die Leibeshöhle absacken, ihr Atem wird ausbleiben, der Herzstillstand in wenigen Minuten eintreten. Diese Prozedur ist eine Vorschrift des Gesetzes, das verfügt, am Sabbat dürften die Körper von Hingerichteten, die am Holz verstorben sind, nicht hängenbleiben; denn: ein solcher Anblick beleidigt Gott! Allein dieser Kontrast: eine Gebärde der Menschlichkeit soeben noch und nun die Skrupelhaftigkeit in den Details ritueller Gesetzeserfüllung! Dem Hinrichtungskommando unterläuft kein Fehler, man macht vor Gott alles richtig, man wird von dannen gehen, bis ins einzelne gehorsam der Gottheit. Doch welch einem Gott und welch einem Gesetz dient man da! Im Falle Jesu macht man nur noch die Probe auf seinen Tod, indem man in seine Herzkammer eine Lanze hineinstößt, – wiederum die Erfüllung eines Schriftzitats (Sach 12,10); man braucht seine Glieder gar nicht erst zu zerschlagen, – auch dies ein Hinweis auf das Pessahlamm, das nicht «zerbrochen» werden durfte (Ex 12,46). Was sich dann ereignet, ist wie ein Epitaph auf das schon Begangene, ein Rückblick von Menschen, die geglaubt haben, etwas verbessernd oder verhindernd erreichen zu können, indem sie mitmachten. An ihrer Spitze steht Josef von Arimathäa21. Er wird hier eingeführt als jemand, der im verborgenen ein Anhänger Jesu war; im verborgenen aus Angst vor den «Juden». So also war es: sie wußten alle, sie spürten genau, was die Wahrheit war, doch immer wieder hinderte sie die Angst, zu sagen, was sie wuß281

ten. Nach dem Markus-Evangelium soll Josef von Arimathäa sogar ein Mitglied des Hohen Rates gewesen sein (Mk 15,43), so wie Nikodemus im Johannes-Evangelium (Joh 3,1). Nikodemus kam schon damals nur bei Nacht, und wir mußten auch seinerzeit hinzufügen: «aus Angst vor den Juden». Was aber ist das für ein Leben, das die ganze Wahrheit kennt, sie jedoch fürs Dunkle versteckt, sie verschweigt, wo sie laut herauszurufen wäre! Schaut man genau hin, sind es am Ende womöglich noch die Besten unter uns, die es mindestens probieren, – sie suchen einen Kompromiß zwischen der Wahrheit und ihren Überlebensinteressen; sie erhalten sich die Illusion, sie könnten etwas bewirken, indem sie nicht widersprechen, sie müßten in dem System verbleiben, um die Strukturen von innen heraus zu verändern; nur wenn man dazugehöre, sagen sie, könne man doch mitreden, habe man noch Einfluß! Tatsächlich denken sie alle so, die Josefs von Arimathäa, die Männer mit Namen Nikodemus. Am Ende bleibt ihnen regelmäßig gerade so viel, daß sie nicht allzu weit entfernt ein Grab bereithalten, um vor Einbruch des Sabbats noch die Beerdigung auszurichten! Dieser Rest an Pietät also bleibt: Man schafft den Gekreuzigten nicht einfach beiseite. Doch vermutlich ist selbst die Geschichte von Josef von Arimathäa eine Legende, die historisch zumindest nicht ganz glaubwürdig erscheint22. Erzählt wurde noch im 12. Kapitel des Johannes von einer Salbung, die Jesus aus den Händen der Lazarus-Schwester Maria zuteil wurde (Joh 12,3); dies geschah zur Vorbereitung seines Begräbnisses – so schon im Markus-Evangelium (Mk 14,8) und so auch bei Johannes (Joh 12,7). Wenn es aber auf diese Weise sich verhielt, wieso dann noch eine spätere Salbung? Und zu welchem Zweck sollten am Ostermorgen wiederum Frauen mit Spezereien zum Grabe gekommen sein, den Leichnam Jesu zum dritten Mal zu salben? Wieso überhaupt diese ägyptischen Elemente der Konservierung des Körpers bei einem Gehenkten? Pilatus hätte es gestattet, – auch diese Nachricht wirkt mehr als inkonsequent! Die völlige Vernichtung des Hingerichteten, moralisch wie physisch, gehörte zum Ritual der Kreuzigung, selbst die Spuren der Erinnerung an ihn mußten geschändet werden. Nicht unmöglich ist es deshalb, daß der Leichnam Jesu in irgendeiner Kalkgrube verbrannt wurde. So jedenfalls war es üblich. Erst die christlichen Theologen sahen darin ein Problem: Wie konnte Jesus «auferstanden» sein, wenn sein Leichnam verbrannt worden war? Aber sollten wir wirklich glauben, die zufälligen Umstände der Beisetzung eines Körpers entschieden über irgend etwas Wesentliches? Daß Menschen wie Josef von Arimathäa oder wie Nikodemus die Kraft 282

aufbringen, gegen ein Exekutionskommando, gegen einen Hohen Priester, gegen einen römischen Landpfleger, gegen das Urteil der gaffenden Menge nun endlich doch das eigene Herz sprechen zu lassen und ein Stück Pietät wenigstens im nachhinein in diese grausige Geschichte zu tragen, das in der Tat ist der Anfang von Ostern – die Geschichte um eine hebräische Antigone gewissermaßen, deren Rolle diesmal von zwei Männern übernommen wird. Da mag ein höchstrichterliches Urteil gesprochen worden sein, aber die Verbundenheit unter uns Menschen hört dennoch nicht auf, und ein Gesetz gar, das Menschen voneinander trennen will, vertut sich im ganzen! Bereits als es den Tod verfügte, war es grundfalsch; doch wenn es glauben macht, es könnte sogar über den Tod hinaus noch seine Wirkung entfalten, so vermißt es sich vollends. Die Erfahrung bleibt: Jesus gab sich selbst, seinen Geist, in die Hände Gottes. Das war die Art seines Sterbens; und auch wir stehen zusammen und bleiben beieinander im Leben wie im Tod. Das ist das Dokument dieses Schlußzeugnisses des Johannes-Evangeliums von der Passion Jesu. Der französische Dichter Georges Bernanos im Tagebuch eines Landpfarrers hatte in diesem Sinne vollkommen recht, als er seinen jungen, hilflosen Priester zu Frau Chantal angesichts des Verlustes ihres viel zu früh verstorbenen Kindes sagen ließ: «Es gibt kein Reich der Lebenden und kein Reich der Toten; es gibt nur ein einziges Reich der Liebe, in dem wir auf ewig zusammen sind.»23 Frieden wohnt in diesem anderen zweiten Garten, der ein Grab birgt, das zum Anfang eines möglichen Paradieses wird, indem in ihm das Leben neu ersteht jenseits der Angst.

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Joh 20,1.11-18: Die Botschaft von der Auferstehung oder: Maria aus Magdala sieht den Herrn 1Am ersten Wochentag aber kommt Maria aus Magdala in der Frühe – Finsternis war noch – zum Grab und erblickt den Stein: weggenommen vom Grab! (…) 11Maria aber stand am Grab, draußen, weinend. Wie sie nun weinte, bückte sie sich ins Grab hinein. 12Da schaut sie: zwei Engel, in Weiß sitzen sie da, einen zu Häupten, einen zu Füßen, wo der Leib Jesu gelegen. 13Und die sagen ihr: Frau, was weinst du? Sagt sie ihnen: Weggenommen haben sie meinen Herrn, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben. 14So sprach sie und wandte sich ins Rückwärtige; da schaut sie: Jesus, er steht da! Doch wußte sie nicht, daß es Jesus ist. 15Sagt zu ihr Jesus: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie, in der Meinung, es sei der Gärtner, sagt zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sprich zu mir: wohin hast du ihn gelegt, und ich – ihn will ich holen! 16Sagt zu ihr Jesus: Marjam! Umwendet sie sich und sagt zu ihm auf hebräisch: Rabbuni, das heißt: Lehrer! 17Sagt zu ihr Jesus: Hafte nicht an mir! Noch bin ich ja nicht hinaufgestiegen zum Vater. Geh aber zu meinen Brüdern (Hebr 2,11.12) und sprich zu ihnen: Ich steige hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. 18So kommt Maria aus Magdala, wie ein Engel den Jüngern; denn: «Gesehen habe ich den Herrn.» Und das hat er zu ihr gesprochen!

Seit Urzeittagen bedeutet Licht für das Empfinden des Menschen, daß das Leben stärker ist als der Tod. Mit Sicherheit dürfen wir vermuten, daß unsere Vorfahren, die von uns durch einen Zeitabstand von vielen Jahrtausenden getrennt sind, die ersten religiösen Gedanken gehegt haben werden über das Rätsel von Feuer und Licht, wenn sie daran teilhatten, wie aus totem Stein und totem Laub Licht und Wärme hervorgehen konnten. Die Inder, noch heute, verehren in der Gestalt Agnis einen eigenen Gott des Feuers. Die göttliche Macht, die am Himmel in Gestalt der Sonne erstrahlt, wird in den menschlichen Händen wiedererweckt. Ein Stück Himmel kommt da auf die Erde, um das Dunkel zu teilen und die Kälte zu lindern. Für die frühe Kirche schon war das Bild für den auferstandenen Christus die unbesiegbare Sonne, der sol invictus. Die Monate des Winters vermögen im Treiben der Wolken die Sonne einzuhüllen und zu umdüstern, die Schneekälte der Dezembertage mag Frost und Reif über die Erde werfen, aber das alles geschieht nur, um im Verlauf des Jahres die 284

Sonne schöner und klarer zum Vorschein zu bringen denn je. Am ersten Sonntag nach Frühlingsvollmond jedenfalls findet die Feier der Auferstehung des Lebens in der ganzen Natur statt. Diese Vision bildete einen gemeinsamen Konsens der Religionen im Umkreis der Entstehung auch des Christentums. Da bietet die Natur ein erstes Sinnbild für die Auferstehung des Lebens in dem großen Konzert des Lichts, der Freude, der Wärme, der Sonnenhaftigkeit unserer Seele. Es gibt für das, was Auferstehung heißt, ein anderes uraltes, sinnenhaftes Argument, das vielleicht in keiner Tradition der Religionen der Menschheit so intensiv und stark beschworen wird wie im Koran, wie im Islam. Wann immer Mohammed über Gott und die Stellung des Menschen spricht, läuft es für ihn auf zwei Punkte hinaus: Des Menschen Leben ist bestimmt zur Unsterblichkeit, und Allah, der den Menschen liebt, ist gerecht und gut. Wenn Einwände sich gegen diese Überzeugung richteten, antwortete Mohammed fast stereotyp: Er, der den Menschen erschuf aus Staub, wie sollte der widerlegt werden mit dem Hinweis, der Mensch sei nur Staub? Der Tod mag die Nichtigkeit vor allem unter dem großen Gewölbe des Himmels erzeigen, aber die unsichtbare Hand Gottes, aus der alles hervorgeht, was ist, vermag auch einen Neuanfang zu setzen gegen den Tod und über den Tod hinaus1. Die «Auferstehung», die Wiedergeburt, gilt auch biblisch als eine «neue Schöpfung». Was aber ist all den Menschen zu sagen, die den Tod an ihrer Seite erfahren haben und die sich wie zurückgelassen fühlen ohne Trost? Seit Menschen über ihr Schicksal nachdenken, erfaßt sie das Grauen, wenn sie miterleben müssen, mit welch kalter, gleichgültiger und gnadenloser Hand der Tod Menschen auseinanderzureißen vermag, die durch ihre Liebe für ein ganzes Leben, ja, für eine ganze Ewigkeit füreinander bestimmt zu sein schienen. Bekannt sind die Klagen eines der größten deutschen Dichtwerke um 1400: Der Ackermann aus Böhmen aus der Feder des Johannes von Tepl. Dieser Mann, dem jäh seine Frau entrissen wurde, wagt es: Er fordert den Tod in die Schranken eines göttlichen Gerichts. Er will nicht länger die Ausrede des Todes hören, er sei nichts weiter als ein gehorsamer, pünktlicher, korrekter Diener in den Händen des Allmächtigen. Wenn er das ist, welche Befehle hat denn dann Gott gegeben? «Grausamer Würger aller Menschen!» erhebt der Ackermann den Wehruf aller Trauernden vor dem Throne Gottes. «Grausamer Schänder allen Glücks, euch, Tod, euch sei geflucht!»2 – Wieviel Segen und Versöhnung brauchen Menschen, um eine Ordnung zu begreifen, die im Gefüge der Natur Sinn machen mag, 285

weil in ihr der Tod seinen Part zu spielen hat, die aber einen Skandal darstellt in der Ordnung der Liebe auch nur zwischen zwei Menschen! Die Geschichte von der Auffindung des leeren Grabes will im Johannes-Evangelium keine Hoffnung erwecken, sondern deuten. Die Ostererzählungen von dem Geschehen am Grabe sind bereits in den ersten drei Evangelien zeitlich später anzusetzen als die Visionen am Anfang der Osterbotschaft, die sich ganz im Innenraum unserer Seele begeben. Doch genauso muß man auch diese Texte vom Grabe noch lesen: als einen verborgenen, geheimnisvollen Weg, der von Verzweiflung hinüberführt in Zuversicht, von Dunkelheit ins Licht, von Traurigkeit in Tröstung. Es bildet einen Fehler schon auf dem Boden dessen, was wir das Neue Testament heißen, wenn man, vor allem im Matthäus-Evangelium (Mt 27,57-66; 28,4.11-15), damit beginnt, die Bilder der Auferstehung objektiv dingfest machen zu wollen3; der «Dialog», der dann anhebt, steht bereits am Anfang des Christentums. – «Jesus ist auferstanden», verkünden die «Jünger». – «Sehr wohl, aber dann muß ja wohl sein Grab leer sein», antworten die Gegner. – «Es war auch leer», versichern die Christen. – «Aber wie denn? Dann habt ihr ihn gestohlen, den Leichnam!» folgern die Gegner. – «Nein», erwidern die Christen, «das Grab Jesu selber wurde ja bewacht.» – «Aber von wem denn?» – «Von einer römischen Wache! Die stand auf Posten.» – «Aber die Posten haben vielleicht geschlafen, als es darauf ankam.» – «Dann würden sie doch zur Verantwortung gezogen worden sein; auf Posten schlafen – darauf steht die Todesstrafe. So kann es also nicht gewesen sein», entgegnen die Christen. – «Dann habt ihr selber es so hinbekommen. Ihr habt den Wächtern erklärt, sie sollten sich schlafend stellen, ihr würdet bei Pilatus das übrige schon mit Geldmitteln ausbügeln», erklären die Gegner. In einem solchen Hin und Her verfängt sich die ganze Auferstehungsdebatte schon um 90 n. Chr. ins vollends Absurde, doch genau in dieser Weise steht sie noch heute im kirchlichen Dogma festgeschrieben. Will man derartigen Aporien einer falschen Wörtlichnahme der Ostertexte entgehen, so muß man sie symbolisch lesen. Was aber heißt es dann, eine Frau wie Maria von Magdala in dieser Stunde zum Grab zu begleiten?

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Wer da glaubt, er komme mit Kamera, Tonband und Stoppuhr an die Ereignisse des Ostermorgens heran, irrt gewaltig, und man muß fast erschrocken und entsetzt sein, zu hören, daß dieser elende Streit der Äußerlichkeit immer noch bis in die Gegenwart hinein geführt wird, sogar auf Lehrstühlen, die sich theologisch nennen. Kann man denn nicht begreifen, welch ein Unterschied im Nachträumen so dichterischer Szenen sich allein schon aus der nur wenig voneinander abweichenden Erzählweise bei Markus und Johannes ergibt? Markus (16,1-8) berichtet, es seien am Ostermorgen, als gerade die Sonne aufgegangen war, drei Frauen zum Grabe Jesu hinübergegangen, um den Leichnam als die Reliquie einer bleibenden Verehrung zu balsamieren4; sie hätten aber im Aufzug des Frührots das Grab leer geschaut, erfüllt nur von einem Engel. Markus überliefert nur eine kurze Botschaft, die der Engel im Grabe den Frauen gebracht habe, und daß diese vor Angst gegenüber dem Ungeheuren geflohen seien. Die Stunde des Auftritts der Frauen bei Markus muß der Sonnenaufgang sein – ein uraltes ägyptisches Bild mit der Mahnung: «Wenn du das Lichtgestirn wie getötet am Abend hinabtauchen siehst in die Nacht, dann sammele und erinnere dich an all die Dunkelheiten deines eigenen Lebens und halte dir vor Augen, wie es dich selbst nach kurzer Zeit schon umschatten wird. Aber gib nicht auf, denke nicht, der Augenblick des Nachtbeginns sei das Ende von allem, sondern besteige die Barke der Sonne und begleite sie durch die zwölf Stunden der Nacht, bis sie hervorkommt zum Morgen.» Sterben bedeutete für die Ägypter, von der Göttin des Himmels umarmt zu werden, welche die Sonne und einen jeden von uns wie ein kleines Kind an jedem Morgen neu hervorbringt, auch an dem Morgen, da der Tag der Ewigkeit anbricht, in jener Stunde jenseits des Todes, da wir eintreten in die Wirklichkeit unseres Daseins5. Was wir einen «Sarg» nennen, ist ein Ausdruck, der aus dem Griechischen stammt und übersetzt lautet: «das Fleischfressende – sarkóphagon»; aber die Alten Ägypter meinten den Sarg in der Gestalt der weiblichen Gottheit Nut formen zu dürfen, die sich allnächtlich über die Erde beugt, umkränzt vom Glanze der Sterne, dunkel und sanft, um uns aufzunehmen wie einen Gefährten der Liebe, den sie in ihrem Schoß birgt und nie mehr entläßt, außer zu ewigem Sein (Abb. 5, s. Farbtafel). Die scheinbar kleine Zeitangabe bei Markus: «als gerade die Sonne aufgegangen war», ist gefüllt mit dem Erbe von Jahrtausenden derartiger menschlicher Hoffnung. Aber genau das kann nicht gelten und soll gar nicht gelten in der so viel trostloseren Eingangsszene bei Johannes6. – Arnold Böcklin hat sie auf seine Weise wiedergegeben (Abb. 6). Schon eine Mehrzahl von Frauen 287

paßt nicht zum Gemütszustand einer Person wie Maria von Magdala, auch nicht ein Sonnenaufgang; unbedingt in der Frühe – Finsternis war noch – muß alles sich ereignen. Schon daß Menschen durch den Tod von anderen Menschen getrennt werden, kann furchtbar, grausam und unbegreifbar sein; aber was Maria Magdalena hier erlebt, läßt sich an Qual kaum steigern. Abstreifen müssen wir die Fehlinterpretationen der christlichen Legende, die Frau aus dem Fischerdorf von Magdala sei identisch mit jener Dirne, die im siebenten Kapitel des Lukas-Evangeliums sich Jesus nähert, um ihn zu salben (Lk 7,36-50). Beide Frauengestalten wurden miteinander verschmolzen, weil in Mk 14,3-9 erzählt wird, wie in Betanien eine Frau kommt, um Jesus zu salben, und in Joh 12,1-8 diese Frau in Betanien den Namen Maria trägt; doch haben diese verschiedenen Gestalten einer Maria historisch miteinander nichts zu tun7. – Das einzige, was wir historisch über Maria von Magdala wissen, steht in einer fast flüchtigen Bemerkung im achten Kapitel des Lukas (Lk 8,1.2): In einer Gruppe von Frauen, die sich Jesus anschließen, wird auch sie erwähnt; denn aus ihr, heißt es da, habe Jesus sieben böse Geister ausgetrieben. Diese kurze Notiz ist historisch der einzig korrekte Ausgangspunkt zur Deutung der Gestalt der Maria von Magdala.

Abb. 6: Arnold Böcklin (1827–1901): Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi (1867/68). Öl auf Leinwand, 84 x 149 cm, Kunstmuseum Basel

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Denken wir uns einen Menschen, der auf die Frage: «Wer bist du?» keine Antwort hat, sondern der nur sagen kann: «Es redet in mir stimmenvielfältig gegeneinander, widersprüchlich, zerreißend, so daß es keine Einheit gibt. Seit Kindertagen ist meine Person ausgeliefert und ausgesetzt wie eine Wolke im Sturmwind, außerstande, ein selbständiges Ich zu bilden, eine persönliche Rede zu führen, eine eigene Freiheit zu entdecken.» So muß es gewesen sein, ehe Maria von Magdala den Mann aus Nazaret kennenlernte. Er wurde für sie zu dem Ort, an dem ihre Person zum ersten Mal sich selbst zu finden und zu formen vermochte, und so schloß sie sich ihm an wie eine Schwalbe dem Frühling. Sie blieb bei ihm, weil ein anderer Platz des Lebens für sie gar nimmer zu finden war. Stellen wir uns doch einmal Maria von Magdala am Fuße des Berges vor, von dem herab Jesus, nach dem Zeugnis des Matthäus, zu all denen sprach, die übel dran waren: Mondsüchtige, Gelähmte, von Abergeistern Besessene, wie sie selbst (Mt 4,24); und er hebt an zu reden: «Glücklich die Menschen, die noch weinen können! Glücklich die Menschen, die den Mut haben, zu ihrer Armut und Armseligkeit ja zu sagen! Glücklich die Menschen, die es wagen, sich wehrlos zu geben! Sie allein werden aus der Armut das Erbarmen lernen und aus der Ohnmacht den Frieden; nur sie werden imstande sein, andere zu heilen als selber ganz und gar Heilgewordene.» (Mt 5,1-10)8 Die Frau aus Magdala muß genau gespürt haben, daß in diesen Worten ihr ganzes Leben lag – alle Hoffnung, alle Menschlichkeit. Gemessen daran muß ihr alles, was die Schriftgelehrten im Namen Gottes wie im Namen der Synagoge, im Namen der mosaischen Gesetze ebenso wie im Namen der staatlichen Gesetze, verordneten, wie Wahnsinn erschienen sein. Alles, was man Maria aus Magdala beigebracht hatte, konnte nur dazu führen, ihre Seele zu verwüsten und zu verheeren. Doch was der Mann aus Nazaret sagte in seiner Güte und in seiner Menschlichkeit, das war für sie Leben, das ließ sie leben. Welch eine andere Chance sollte sie haben, als bei ihm zu bleiben mit der ganzen Kraft ihrer Sehnsucht und ihrer Anhänglichkeit? – Aber nun sehen zu müssen, daß genau diese Erfahrung den Grund bilden würde, um den Mann aus Nazaret so rasch wie möglich zu beseitigen, und daß das Räderwerk dieses präzis gefaßten Entschlusses immer enger greifen würde, immer unentrinnbarer bis hin zu der Stunde von Golgota, das muß diese Frau erlitten haben, wie wenn alles in ihrem Leben von vorn anhübe: der ganze alte organisierte Wahn – systematisiert, legalisiert, kommandiert, exekutiert – steht wieder auf und beweist vermeintlich, daß er recht hat gegenüber dem Aufstand des Nazareners, daß 289

er zumindest stärker ist als er, ein für allemal stärker! Eine solche Deutung scheint durchaus historisch begründet zu sein. Das Markus-Evangelium zum Beispiel ist noch keine drei Kapitel alt, als dieser Gegensatz zwischen Menschlichkeit und Frömmigkeit ausgetragen wird. Gerade hat Jesus am Sabbat einen Besessenen in der Synagoge von Kafarnaum geheilt (Mk 1,21-28), da fallen die Gottesgelehrten über ihn her und urgieren gegen ihn das Sabbatgebot anläßlich des Ährenraufens seiner Jünger am Sabbat (Mk 2,23-28)9. Doch Jesus wird mit Bezug zu der Geschichte vom Schöpfungsmorgen (Gen 2,3) sagen, es sei kein Gott im Himmel, der es dulde, wenn auch nur ein Mensch auf dieser Erde länger leide als nötig. Es ist kein Ruhetag für Gott, es ist kein legitimer Sabbat, wenn Menschen nicht Menschen helfen dürfen, so schnell sie können. Die Ruhe Gottes liegt einzig in dem Glück, das wir einander zu schenken vermöchten, träten wir aus den Fesseln absurd interpretierter Gesetze nur endgültig heraus und würden die schnöde Angst aufgeben, mit der wir dauernd nach oben schauen, vermeinend, daß von dort die Wahrheit käme, statt auf unser eigenes Herz zu hören, das, folgten wir dem Mitleid und dem Mitgefühl, sehr deutlich zu uns redete. Herr ist der Menschensohn auch über den Sabbat, so faßt Jesus es pointiert zusammen (Mk 2,28). Aber man wird ihm entgegnen: was er da mache, wenn er Wunder der Heilung wirke, könne nicht länger als ein Tun Gottes verstanden werden, sondern allein mit dem Obersten der Satane, dem Baal-Zebul, führe er seine «Wunder» herbei (Mk 3,22)10. Wer da nur menschlich sein möchte in Freiheit, der verfällt dem Todesurteil der etablierten Religion, weil er mit seinem Anliegen unrecht geben muß all denen, deren Macht nur darin gründet, zugunsten der eigenen Wichtigkeit Gott im Munde zu führen gegen die Menschen. Die eigenen Angehörigen Jesu kommen eilfertig aus Nazaret, Maria an der Spitze, um ihn für verrückt zu erklären und nach Hause zurückzuholen (Mk 3,21.31); besser immer noch, man hält ihn für wahnsinnig als für einen vom Teufel Besessenen; denn nur so rettet man ihn vor dem drohenden Todesurteil wegen Schwarzmagie. Da wäre der Anfang auch schon das Ende, kaum daß die Sache Jesu begonnen hätte; doch Jesus wird nicht einen Zentimeter zurückweichen, nicht vor der Angst, nicht vor der Drohung; er wird vielmehr seine Jünger anmahnen wie bei der Aussendung in Matthäus 10,28: «Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten (wollen), die Seele aber nicht zu töten vermögen, sondern fürchtet vielmehr den, der es vermag, daß sowohl die Seele als auch der Leib verloren gehen: in der Hölle.» Doch wenn sich die Gegenmächte nun als stärker erweisen, fällt dann nicht alles wieder in sich zu290

sammen? Wenn man das Wunder solcher Menschlichkeit in Wahnsinn und Teufelei verdrehen kann, was bleibt dann im Kopf eines Menschen noch gerade zu denken, was in seinem Herzen noch gerade zu fühlen? Was macht da eine Frau, die eben erst begonnen hat zu leben, wenn man ihr alsbald vorführt, der Quell, aus dem ihr Leben kommt, sei vergiftet? Sie kann nur hoffen, daß Jesus seine Widersacher überwindet, doch je länger der Weg wird, desto schmaler verengt er sich zu einem kaum noch aufzufindenden Pfad. Man versteht die dramatische Auseinandersetzung im Leben einer Frau wie Maria Magdalena nur, wenn man den Tod Jesu nicht rituell, sondern existentiell betrachtet. Die Kirche – in Anlehnung an archaische, uralte Deutungsschemata von Opfer und Versöhnung – gibt sich seit je her sicher und gelassen in den Gründen, weswegen Jesus sterben mußte: Er habe im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen das Leid der Menschheit auf sich genommen, sagt sie, damit Gott im Himmel mit unseren Sünden versöhnt werden konnte. In einer solchen Erklärung hebt sich die ganze Spannung zwischen Jesus und den religiösen Behörden seiner Zeit in einem heiligen Drama auf. Da stirbt nicht länger mehr ein Mensch, da geht Jesus als der Messias in seine Herrlichkeit ein. Alles wirkt da entrückt und erhaben, aber es entfernt sich weit von dem, was in uns an Furchtbarem vor sich geht, in Menschen, die einen Mann wie Jesus zum Tode verurteilen, und ebenso von dem, was uns helfen könnte, wirklich zu leben. Entscheidend ist: Nicht Gott hat irgendein Opfer nötig, – nie hat Jesus so gedacht, ganz im Gegenteil; er wäre niemals Johannes dem Täufer, seinem eigenen Lehrmeister, an den Jordan nachgefolgt, wenn er an die rituellen Schlachtereien im Tempel auch nur die kleinste Hoffnung oder irgendeinen Wert geheftet hätte. Vor dem Jahr 70 zählte man in Jerusalem am Pessah-Tage allein die Schlachtung von über 245 000 Schafen als Opferbilanz11. So viel Blut brauchte da der Gott Israels, um wie ein Dämon an den blutbeschmierten Pfosten der Hütten seines Volkes vorüberzugehen (Ex 12,13). Jesus war sich sicher: wenn es im Gebetbuch Israels einen prophetischen Psalm gibt, so ist es der 50. Psalm: «Wenn ich Durst habe», heißt es da, «brauche ich nicht das Blut eurer Farren und Böcke, und wenn ich Hunger habe, brauche ich nicht das Fleisch von euren Opfertieren. Mir gehört alles, was lebt!» (Ps 50,9-13) Aber einem Menschen, der sich selber versteht in seiner Zerbrochenheit, einem zerbrochenen Herzen ist der Herr nahe» (Ps 51,18.19). Worte wie diese hätte Jesus ganz genau so sagen können. Gott braucht nicht den ewigen Masochismus von Blut und Leid und Tod und Folter. 291

Was er möchte, sind Taten der Menschlichkeit und des reifenden Verstehens untereinander. Das ist alles. Aber um dazu fähig zu sein, braucht man ein nicht-zweideutiges, ein nicht-ambivalentes Bild von Gott. Wir haben es schon mehrfach betont: Solange da ein Gott ist, der Opfer fordert, müssen immer wieder Vorleistungen erbracht werden, bis daß die Bedingungen erfüllt sind, unter denen dieser Gott die begangene Schuld zu vergeben vermag. Wie um dieses Gottesbild zu widerlegen, erzählt indessen Jesus in Mt 18,21-35 die Geschichte von einem königlichen Minister, der mit zehntausend Talenten derart tief verschuldet ist, daß sein Herr gar nicht anders kann, als auf eine mögliche Rückzahlung zu verzichten12. Gott vergibt uns, weil wir anders gar nicht leben könnten. So simpel sind die Grundüberzeugungen, die Jesus einer ganzen Menschheit, an der Spitze seinem eigenen Volke, vermitteln wollte. Aber es sind gefährliche Gedanken für alle Institutionen, die vom Opfer leben. Wenn Jesus schließlich sogar hingeht und die Händler und Wechsler aus dem Tempel treibt (Mt 21,12.13; Mk 11,1517; Joh 2,13-25), kann Matthäus noch erklären, es seien die Blinden und die Lahmen gekommen und am Ort des Heiligtums geheilt worden, und Kinder seien gekommen, um ihn zu preisen (Mt 21,14.15). Aber die großen Leute, die Hohen Priester und die Schriftgelehrten, werden ebenfalls vortreten, und sie werden wissen wollen: In welcher Vollmacht tust du das? Und als Jesus sie fragt: Die Taufe des Johannes – war sie vom Himmel oder von Menschen?, werden sie antworten: Wir wissen es nicht (Mk 11,27-33). Diese Leute wissen nur, daß sie töten müssen (Mk 11,18). Das allerdings wissen sie immer. Aber sie fürchten auch das Volk; und sie dürfen deshalb nicht einmal die Gründe vorbringen, warum sie so sind. Sie haben immer recht. Und noch im Nachfragen werden sie erklären: «Hier steht es: Verflucht ist, was am Holze hängt.» (Dtn 21,23; Gal 3,13) Das steht geschrieben, und das führen sie aus. Darum täusche sich niemand in der Hartnäckigkeit ihres Willens; sie werden sich durchsetzen gegen jeden, und sie werden sich widersetzen jedem, der sie in Frage stellt. In diesem Durcheinander schriftgelehrter Rechthaberei hinein wird eine Frau wie Maria aus Magdala sich gefragt haben, wer denn imstande sei, an der Seite Jesu zu bleiben. Die Geschichte, welche die Evangelien als «Passionserzählung» überliefern, stellt sich, wie schon mehrfach erwähnt, als ein erfülltes Gebet aus Psalmenworten und Prophetenzitaten dar. Stelle für Stelle tritt da Jesus selber ein in das, was man rückwärts liest als Weissagung und Verheißung auf den Messiaskönig, der für das Volk sein Leben läßt. Was sich indessen wirklich begibt, ist enorm viel gebrochener, erschütternder, kleinlicher, schäbiger und schrecklicher. Nicht 292

einmal die Leute, die zum engsten Kreis der Jünger Jesu zählen, erweisen sich da als zuverlässig. Nehmen wir nur noch einmal einen Mann wie Petrus: Er kann im Abendmahlssaal seinem Herrn zuschwören, er werde ihn nicht verraten; doch jemand, der den anderen gut genug kennt wie Jesus seinen Jünger, kann ihm auf die Stunde genau zusagen, wann er gerade das tun wird (Mk 14,26-31; Joh 13,36-38). Niemand, nicht einmal die Ankläger, haben Jesus verflucht, aber auf das Wort einer Magd im Hof des Hohen Priesters hin wird Petrus seinen Herrn verwünschen. Aus lauter Angst verleugnet ein Mann wie Petrus seinen Meister und erklärt, ihn überhaupt nicht zu kennen (Mk 14,66-72; Joh 18,17.25-27). Oder betrachten wir noch einmal einen Mann wie Judas. Wir sagten schon: vielleicht tun die Evangelien ihm sehr unrecht, wenn sie behaupten, nur aus Geldgier habe er so gehandelt und seinen Herrn verraten. Womöglich war Judas nur sensibler als die meisten anderen; er ahnte das Problem, das Petrus nicht einmal später in Antiochien, im Widerspruch zu Paulus, klar vor Augen sieht (Gal 2,11-21). Ist es denkbar, daß alles, was der Mann aus Nazaret tut, als menschlich und wahr zutiefst gefühlt und erlebt werden kann, daß es aber eben deshalb mit aller Tradition bricht und brechen muß? Auch so kann Jesus sagen: was er gebe, sei neuer Wein, – man könne ihn nicht in alte Schläuche gießen (Mk 2,22). Mit anderen Worten: Das, wofür er geradesteht, die Welt, die er heraufführen möchte, zerbricht und zerfetzt notwendigerweise all die alten Ordnungsschablonen; sie paßt endgültig nicht mehr zu den überkommenen Traditionen. Wer da immer noch versucht, mit Kompromißbildung und Anpassung sich zu arrangieren, verrät die Sache selber und zerstört am Ende alles. Neuer Wein in neue Schläuche! Neue Ausdrucksweisen also brechen sich in ihm Bahn und müssen es tun; es gibt von daher keine Anknüpfung nach rückwärts, es gibt keine Kontinuität; unvermeidbar ist vielmehr eine Revolution mitten im Heiligtum! Kann man nicht denken, daß ein Mann wie Judas, der einzige der Jünger, der aus Judäa kam und dem an den heiligen Überlieferungen seines Volkes zutiefst lag, zerrissen wurde zwischen diesen beiden konträren Erfahrungen: Es kann auf der einen Seite nicht verkehrt sein, was die Väter selbst gelehrt und geglaubt haben; es kann auf der anderen Seite aber auch nicht falsch sein, was der Mann aus Nazaret sagt? Es ist ein Widerspruch, den wir in unseren Kirchen bis heute auf Schritt und Tritt erleben: Da soll und muß ein Neues kommen, doch den Mut, es im Zerbruch des Alten zu riskieren, wer brächte den auf? – Die französische Dichterin Marie Noël konnte in ihren Notes Intimes, vor vielen 293

Jahren schon, sich erinnernd, einmal schreiben: «An einem Nachmittag unter Frauen sprachen wir über den Gang Jesu nach Jerusalem. Alle sagten, sie seien ihm gefolgt, ganz sicher, sie seien ihm gefolgt.» «Ich bin nicht so sicher», gibt sie ehrlich zu. «Wenn ich den Hohen Priester sähe, wenn ich hörte, wie er spräche: ‹Was brauchen wir noch Zeugen, er ist des Todes schuldig›, – mein Herz wäre zerrissen, meine Knie sänken nieder, aber ich würde gehorsam bleiben dem Hohen Priester. Außerhalb der Kirche ist kein Heil. Würde ich wagen, dem zu widersprechen im Namen des Gekreuzigten?»13 Kann man sich nicht vorstellen, daß Judas vor genau dieser Frage stand? Vielleicht empfand er sie selbst als tödlich; vielleicht dachte er um seines Überlebens willen, es müßten die verschiedenen Konfliktparteien miteinander sprechen: – der Hohe Rat müsse von Jesus lernen, daß der Prophet aus Nazaret nicht der Anarchist und der Teufelsbote sei, den man aus ihm gemacht habe, aber auch Jesus müsse erkennen, daß der Hohe Rat nicht ein solches Mausoleum des Geistes sei, als das er ihn geschildert habe. Kann man denn im Ernst von den Pharisäern, von den Schriftgelehrten, von den Hohen Priestern sagen wie Jesus: «Ihr gleicht getünchten Gräbern! Ihr schließt das Königtum der Himmel vor den Menschen zu; ihr selber nämlich kommt nicht hinein, und die hinein wollen, laßt ihr nicht hinein! Ihr fahrt über Meer und Land, um einen einzigen zum Proselyten zu machen, und wenn er es geworden, macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle, doppelt so schlimm wie ihr selber»? (Mt 23,13.15.27) «Solche Rede», wird Judas von Jesus gedacht haben, «darfst du länger nicht mehr führen; so sind sie nicht, so sind sie jedenfalls nicht nur. Nimm solche Worte zurück; sprich mit ihnen!» – Kann es sein, daß der «Verrat» des Judas, wie wir bereits überlegt haben, darin bestand, endlich zusammenzuzwingen, was freiwillig nicht zusammengehen mochte? Es muß Judas – nach der Legende des Matthäus-Evangeliums – bis zu seinem verzweifelten Selbstmord hin gelitten haben, als er sah, was aus seinem Anschlag wurde (Mt 27,3-5). Er küßte seinen Herrn womöglich ganz ehrlich als Freund im Ölberggarten, – doch als er dann sah, wie man ihn mit dem Hinrichtungskommando zum Kreuz führte, bedeutete dies das Ende seines Lebens. So hatte er es nicht gewollt! Jesus offenbar hatte recht: mit diesen zu reden ist vergeblich und unmöglich! Sie können nicht und sie wollen nicht, sie werden alle Taten der Menschlichkeit und alle Worte der Güte nur zertrampeln und zerstören. Doch diese Einsicht kommt jetzt zu spät. Oder sehen wir uns noch einmal den Hohen Priester Kajaphas an. Wir wissen von ihm historisch, daß er achtzehn Jahre lang die Schaltstelle zwi294

schen Synagoge und römischer Besatzungsmacht gewesen ist. Ein Hoher Priester: – was bringt ihn dazu, den Römern derart entgegenzukommen, immer wieder mit ihnen Kompromisse zu schließen und sich auf die Seite des Marionettenregimes des Herodes zu stellen, statt den messianischen Freiheitskampf der Zeloten in den Bergen Galiläas zu unterstützen? Wir sagten bereits: Man versteht Kajaphas wohl nur, wenn man ihm zutraut, daß er wußte, was passieren würde, wenn die römischen Kohorten sich in Marsch setzten. Jeder Widerstand würde vergeblich sein, wenn das geschähe. Also darf es nicht geschehen. Also ist es egal, wer Jesus aus Nazaret wirklich ist, die Frage ist einzig, wie sein Auftreten wirkt, und um das zu beurteilen, braucht es politische Vernunft: Zuträglich ist’s, daß ein Mensch stirbt – zugunsten des Volkes (Joh 11,50; 18,14). Das ist Politik. Da geht es nicht um Recht, da geht es um das, was man Überleben nennt. Selbst wenn es ein Mord wäre, Jesus hinzurichten, schlimmer wäre es, falsch zu handeln im Sinne der geschichtlichen Vernunft. Furchtbarer als ein Verbrechen sind in der Politik die Folgen von Dummheit. Selbst Goethe, nach den Zeugnissen der Gespräche mit Eckermann, hätte für Kajaphas Verständnis gehabt14. «Es ist nicht wahr,» lernen wir bei Max Weber, «daß aus guten Taten immer nur Gutes in der Geschichte erwächst und aus bösen Taten immer nur Böses. Wer nicht begreift, daß man manchmal Böses tun muß, um Gutes zu erreichen, bleibt politisch ein Kind.»15 Kajaphas, als er das «Kind» aus Nazaret tötet, ist politisch ein Greis an geschichtlicher Vernunft und Weisheit. Was aber hat eine Frau wie Maria aus Magdala in diesem Räderwerk aus politischem Kalkül, rechthaberischer Theologie, persönlicher Verzweiflung und charakterlicher Feigheit zu tun? Politik, Religion, Gesellschaft, die Reaktionen der «Mitmenschen» summieren sich in ihren Augen zu nichts als der Bilanz des alten Wahnsinns. Die Stunde des Karfreitags erlebt sie wie einen Weltuntergang, und das historisch wohl korrektermaßen. Schon Markus (15,33) übernimmt einen kleinen Vers aus dem Propheten Amos (5,18), um den Tod Jesu zu deuten: Es wird, wenn die Welt sich dem Ende entgegenneigt, die Sonne am Himmel sich umdüstern. Genau so erlebt es diese Frau; Matthäus (27,51.52) fügt noch hinzu, die Erde habe in der Stunde des Todes Jesu zu beben begonnen, die Gräber hätten sich geöffnet und die Toten hervorgespieen. Diese Nacht und dieses Beben werden in den Augen Magdalenens nie mehr vergehen, wenn die Ermordung Jesu das letzte Wort behalten sollte. Die Jünger, in dieser Stunde, da es geschieht, haben sich längst schon verlaufen (Mk 14,50-52), sie sind zurückgekehrt an den See von Gennesaret, um ihr Handwerk als Fischer 295

wieder aufzunehmen. Man kann ihre Haltung verstehen. Bei der Berufung der Söhne des Zebedäus zum Beispiel, wurde uns erzählt, daß sie eine Menge verließen: Geräte, Fangnetze, Boote, Angehörige (Mk 1,19.20), – jeder von ihnen hatte etwas zu verlieren, also auch etwas wiederzufinden, als scheinbar alles auf ein Desaster hinauslief. Die Frau aus Magdala hingegen hatte niemals etwas zu verlieren gehabt; erst in diesem Moment des Karfreitags verliert sie alles – den Grund ihrer Hoffnung, den Inhalt ihrer Liebe, sich selbst. Um so deutlicher wird, was es heißt, wenn das Johannes-Evangelium erzählt, sie habe sich am Ostermorgen zum Grabe begeben, in der Frühe – Finsternis war noch. Sie möchte sich klammern an die Reste des Verstorbenen, – wenigstens sie sollen ihr bleiben: ein Leben als Totenkult, eine Zukunft als Erinnerung und als ein endloses Weinen. Da ergeht aus dem geöffneten Grabe an sie eine Frage, wie von zwei Engeln gesprochen: Frau, was weinst du? Diese Szene entscheidet. Immer wenn wir einander zu trösten versuchen angesichts solchen Schmerzes, werden wir dem anderen nahelegen, dies und das doch auch wahrzunehmen, das relativieren könnte, was er empfindet: es ist alles gar nicht so schlimm …, es gibt aber ja daneben auch …, und man muß loskommen von all dem. Das ist unsere Weise zu «trösten». Die Art, wie Gott im Neuen Testament tröstet, ist gerade umgekehrt. Er fragt uns nach dem Warum, er möchte, daß wir es aussprechen. Denn nur wenn wir die Trauer zulassen, nur wenn wir Worte für das Unaussprechliche finden, kann unser Standpunkt sich ändern, – kann Maria von Magdala sich abwenden von der Grabkammer mit den zwei Engeln. Diese beiden Götterboten entsprechen dem altägyptischen Bild, wie zu Häupten und zu Füßen die beiden göttlichen Schwestern Nephthys und Isis am Katafalk ihres geliebten Bruders Osiris stehen (Abb. 7a/b; 7c s. Farbtafel), – so diese beiden Engel an der Stätte des Todes Jesu hier. Es ist die uralte Frage, wie wir betrachten, was im Tode geschieht. Man kann auf zwei Arten den Tod wahrnehmen. Man kann in ein Grab schauen und sieht nichts anderes als Auflösung und Verwesung; doch es gibt auch eine leise, kaum hörbare Stimme der Liebe in aller Verzweiflung, die zu uns redet, die uns beschwört, den Tod nicht zu akzeptieren. Das Leid an dem Un-Sinn und Wider-Sinn gerade der Ermordung des Kostbarsten, das je die Erde trug, kehrt sich selber um und zeigt eine neue Blickrichtung. Gerade für die Frau, die den Tod Jesu total erlebt, ist ein weiteres Leben gar nicht anders möglich, als noch einmal das Geschehene selber umzuwerten in das ursprünglich Gemeinte. Was denn haben all diese Leute ge296

Abb. 7a: Isis und Nephthys als Schützerinnen und Hüterinnen der Mumie Tutanchamuns

Abb. 7b: Isis und Nephthys am Sarg des Gottes Osiris

zeigt: Männer wie Kajaphas und Pilatus, die Arrangeure und Mitläufer des Verbrechens? Sie haben Gott im Munde geführt, das ist wahr; sie haben die Bibel zitiert, das ist richtig; sie haben die objektive geschichtliche Vernunft bemüht, – aber soll man ihnen deshalb glauben? War es nicht genau das, was Jesus fundamental im Namen Gottes anzweifelte, damit Menschen leben könnten und all der Wahnsinn unseres ganz normalen alltäglichen Daseins ein Ende fände? Aber ist dann nicht lediglich deutlich geworden, daß diese vermeintlichen Lenker der Welt überhaupt nichts anderes können als töten? Sie stehen da und erklären: Wir sind die Frömmigkeit, wir sind die Wahrheit, wir sind die Ordnung; doch in Wirklichkeit haben sie nur demonstriert, daß sie eine einzige tödliche Lüge, eine einzige infame Gotteslästerung sind. All ihre Gesetze sind nichts weiter als der präformierte Tod, als der verordnete Wahnsinn. Das lernt Maria Magdalena am Ende dieser Nacht am Grabe Jesu: Sie findet denjenigen wieder, der ihr ganzes Leben war. Wohl, was sie tut, ist nichts als ein Suchen nach einer verzweifelten Erinnerung, aber an sie sich zu klammern ermöglicht es ihr, noch einmal nach vorn zu schauen. Als sie die Frage der Engel hört, wendet sie sich zurück und sieht Jesus dastehen, ohne ihn zu erkennen; sie hält ihn für den Gärtner. Doch allein diese Bewegung nach «rückwärts» kann im Leben zahlreicher Menschen alles bedeuten, wenngleich sie viel Zeit benötigt. All ihr Interesse gilt in dieser Phase der Trauer der Wiederherstellung dessen, was einmal war und was niemals hätte verlorengehen dürfen, und viel ist schon gewonnen, wenn an die Stelle bloßer Schwermut und wehmütiger Gedanken lebende Menschen, wie dieser «Gärtner», treten. Doch alle Gestalten der Erinnerung werden in dieser Perspektive nur wahrgenommen als Vermittler und Übergangsgebilde zu dem eigentlich Gesuchten, zu dem ewig Vermißten, zu dem als lebend Ersehnten. Selbst sein Leichnam böte mehr Halt und Trost als alles Gegenwärtige! Es ist unendlich viel, wenn von dieser Zwittergestalt aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Traum und Wirklichkeit, erneut die Frage der beiden Engel im Grab sich zu Wort meldet: Frau, was weinst du? Jetzt allerdings klingt diese Anrede bereits weit intimer, und sie ergänzt sich im Munde Jesu genauer: Wen suchst du? Alle Depression und alle Trauer ist persönlich gebunden; sie besteht in diesem Empfinden, daß derjenige fehlt, den man zum Leben unbedingt braucht. Entscheidend ist, daß diese Gestalt aus Sehnsucht und Erinnerung Maria aus Magdala nun in der Gegenwart anredet mit ihrem Namen: Marjam. Sie ist gemeint! heißt das. Ihre eigene Person! Ihr eigenes Leben! 298

Mit anderen Worten: Ihre Wahrheit liegt fortan nicht mehr äußerlich in einem anderen, sie liegt, vermittelt durch alles, was war, in ihr selbst. Es geht um sie, um ihr Leben, um ihre Einsicht. Und diese «Anrede» hilft ihr, die wichtigere zweite «Wende» zu vollziehen: sie richtet sich aus ihrer Rückwärtsgewandtheit nach vorn; offenbar steht Jesus nun nicht mehr «hinter» ihr, sondern vor ihr; er ist nicht länger ein Teil ihrer Vergangenheit, er ist ihre Zukunft. Und so redet sie ihn an: Rabbuni, das heißt: (Mein) Lehrer! Alles in ihr drängt nun dahin, diese neu gewonnene Erfahrung festzuhalten, sie für sich zu behalten und die Zeit anzuhalten, damit vor ihren Augen nicht alles wieder wie ein Schemen zerfließe. Es ist ein letzter Schritt der Verinnerlichung, der Vergeistigung, der endgültigen Verlebendigung, wenn der Auferstandene Maria erklärt: Ich steige hinauf zu meinem Vater und eurem Vater. Nur so, im Aufblick zu dem fortan für alle Zeit Gültigen, in der für immer gefundenen Wahrheit des eigenen Herzens, in welche die Gestalt des Mannes aus Nazaret eingetreten ist, wird sich ein Leben jenseits der Gräber entwickeln können; und fragt man, worin diese Wahrheit des eigenen Herzens bestehe, die uns Jesus vermittelte, so liegt sie in dem endgültigen Geschenk dieser Zuversicht: er geht hinauf zu seinem Vater und zu unserem Vater. Sein Verhältnis zu Gott ist fortan auch unser Verhältnis zu Gott. So darf es sein, so soll es sein. Alles ist damit ans Ziel gelangt. Psychologisch gesehen, ist ein langer Weg der «Trauerarbeit» in einer Reihe typischer «Bewegungen» zum Abschluß gekommen; religiös aber ist in der Gegenwart und in der Auseinandersetzung mit der Person Jesu eine Gewißheit gewonnen worden, die man im Bilde des «Vaters» im «Himmel» nicht anders denn als «Versöhntheit» bezeichnen kann; sie liegt in der Überzeugung, niemals mehr vermöchte der Tod zu trennen, was die Liebe vereint hat. Das «Pessah» Jesu – das war: alle Menschen einzuladen ohne Grenzen, ohne Bedingungen, und denen, die nie eine Chance besaßen, zu sagen: «Kommt her, gerade auch ihr. Schon weil ihr Gott braucht, um zu leben, müßt ihr allen anderen sagen, woraus wahrhaftig zu leben ist!» So fing alles an, und so wird es jetzt weitergehen. Es wird der Tod seine Macht verlieren, – es hat der Tod seine Macht verloren! Wir daher dürfen aufhören, ihn zu fürchten; und mitten durch den Sturm, über das Fluten der Wogen hinweg kommt uns erneut die Gestalt des Mannes entgegen, der schon vormals vom anderen Ufer her auf uns zuging, auf daß der Abgrund dieser Welt uns hinübertrage bis zum anderen Gestade, bis zum Wiedersehen in Ewigkeit (Joh 6,16-21). 299

Wie mag man sich die «Verkündigung» der Maria Magdalena von dem Grab, das sie am Ostermorgen «leer» fand, an die Jünger vorstellen? In einem späten Rückblick, 30 Jahre danach, faßt Khalil Gibran in seinen Betrachtungen über Jesus Menschensohn die Botschaft dieser ersten Zeugin der «Auferstehung» in den Worten zusammen16: Noch einmal wiederhole ich, daß Jesus den Tod durch den Tod besiegte, und daß Er vom Grabe aufstand als ein Geist und eine Kraft. Er durchschritt unsere Einsamkeit und besuchte die Gärten unserer Passion. Er liegt nicht mehr dort in der Felsenspalte hinter dem Stein. Wir, die wir Ihn liebten, sahen Ihn mit diesen unseren Augen, die Er sehend machte, und wir berührten Ihn mit diesen unseren Händen, die Er lehrte, weiter als gewöhnlich zu reichen. Ich kenne euch, die ihr nicht an Ihn glaubt. Ich war eine von euch. Jetzt seid ihr noch zahlreich, aber eure Zahl wird schnell abnehmen. Ist es nötig, daß man eine Harfe oder Leier zerbricht, um die Musik darin zu entdecken? Ist es erforderlich, einen Baum zu fällen, um daran glauben zu können, daß er Früchte trägt? Ihr lehnt Jesus ab, weil jemand aus dem Land des Nordens behauptete, daß Er Gottes Sohn sei. Und ihr verachtet euch gegenseitig, weil jeder von euch sich zu erhaben dünkt, um der Bruder seines Nächsten zu sein. Ihr haßt ihn, weil jemand behauptete, daß Er von einer Jungfrau geboren wurde und nicht aus dem Samen eines Mannes. Ihr kennt nämlich weder Mütter, die als Jungfrauen begraben werden, noch Männer, die, an ihrem eigenen Durst erstickt, zu Grabe getragen werden. Ihr wißt nicht, daß die Erde mit der Sonne vermählt wurde, und daß es die Erde ist, die uns in die Berge und Wüsten aussendet. Es gibt einen klaffenden Abgrund zwischen denjenigen, die Ihn lieben, und denjenigen, die Ihn hassen, zwischen denen, die an Ihn glauben, und denen, die nicht an Ihn glauben. Wenn aber die Jahre eine Brücke über diesen Abgrund geschlagen haben werden, dann werdet ihr wissen, daß derjenige, der in uns lebte, unsterblich ist, daß Er der Sohn Gottes ist, wie wir selber Kinder Gottes sind, daß Er aus einer Jungfrau geboren wurde, wie wir aus der Erde geboren werden, die – ohne einen Gemahl zu kennen – das Leben schenkt. 300

Es mag seltsam erscheinen, daß die Erde den Ungläubigen weder die Wurzeln verleiht, um sie an ihrer Brust zu stillen, noch die Flügel, damit sie sich in die Lüfte aufschwingen und am Tau des Himmels erquicken. Ich aber weiß, was ich weiß, und das genügt mir.

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Joh 20,2-10: Der Wettlauf zum Grab 2Da läuft sie (Maria aus Magdala) und kommt zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger, den Jesus zum Freund hatte (13,23), und sagt ihnen: Weggenommen haben sie den Herrn aus dem Grab, und nicht wissen wir, wohin sie ihn gelegt haben. 3Hinaus also ging da Petrus und der andere Jünger, und sie kamen ans Grab. 4Losgelaufen aber waren die beiden zugleich. Doch der andere Jünger war schneller gelaufen, dem Petrus voraus, und so war er als erster an das Grab gelangt; 5und wie er sich hineinbückt, erblickt er: Da liegen die Leinentücher! Jedoch hinein ging er nicht. 6Es kommt auch Petrus, ihm folgend, und er ging hinein in das Grab. Und er schaut: Die Leinentücher, da liegen sie! 7Doch das Schweißtuch, das auf seinem Kopf gewesen war (11,44), lag nicht bei den Leinentüchern, sondern abseits, zusammengewickelt an einem Platz. 8Da nun ist hineingegangen auch der andere Jünger, der als erster ans Grab gelangt war. So fand er zum Sehen. So fand er zum Vertrauen. 9Denn noch nicht hatten sie die Schrift verstanden (Lk 24,25-27; Apg 2,24-32; 1 Kor 15,4), er müsse von den Toten auferstehen. 10Fort also gingen wieder nach Hause die Jünger.

Der Osterglaube der frühen Gemeinde dürfte begonnen haben mit Erscheinungen an Einzelne, vermutlich in Galiläa, womöglich am See Gennesaret, wohin die Jünger nach dem Tode Jesu, wie man vermuten darf, zurückgeflohen sind (Mk 14,50). Es mag sein, daß in der Anfangszeit der Neubildung der Jüngergemeinde Petrus eine besondere Rolle spielte: Es könnte sein, daß er als der erste galt, dem der Herr in einer Vision begegnete (1 Kor 15,3-5). Erfahrungen dieser Art müssen dann ins immer Größere gewachsen sein. Paulus berichtet im ersten Korintherbrief in Kapitel 15 (1 Kor 15,6) von mehr als 500 Menschen, die gemeinsam zu Zeugen einer einzigen solchen Erscheinung geworden seien. Man wird psychologisch unwillkürlich mißtrauisch, wenn man solche Darstellungen liest, denkt an Massenhypnose und Massenhysterie großen Stils. Die frühesten Texte, die uns von Erscheinungen Jesu zur Verfügung stehen, sind jedoch so sensibel und symbolisch fein erzählt, daß jeder Verdacht von bewußter Manipulation oder von Geschichtsklitterung ausscheidet. Vielmehr zeichnet sich dabei ein bestimmtes Deutungsschema ab: ein Suchen und Ringen, Zweifeln und Vertrauen und schließlich ein Sehen, das keine Erklärung mehr braucht, aber auch nicht zuläßt. Später erst, in der Auseinandersetzung mit den «Gegnern» des Auferstehungsglaubens, muß die Frage nach dem «leeren Grab» eine zunehmende 302

Rolle gespielt haben. Wie kann man jemanden als «auferstanden» erkennen, wenn er noch in der Erde ruht wie alle anderen und das Los mit allen sonst Verstorbenen teilt? Alle vier Evangelisten setzen mehr oder minder bei diesem Problem ein. Sie benutzen die Geschichte vom leeren Grab, eine recht späte, symbolreiche Erzählung, um den Glauben an die Auferstehung selber glaubwürdiger zu machen. Je länger dieser Prozeß währt, desto sicherer führt er, wie schon gezeigt, in eine bedenkliche Griffigkeit und Begreifbarkeit des «Auferstandenen» und schließlich in den dingfest gemachten Aberglauben. Das Reich der Legende verformt sich nach und nach zur historischen Tatsachenbehauptung. Johannes ist es, der mit seinem Evangelium dieser Entwicklung nachdrücklich entgegenzusteuern sucht. Bei ihm steht im Zentrum die Geschichte der Maria aus Magdala – sie bildet für ihn den Anfang –, doch dann erzählt er etwas, das nur bei ihm vorkommt: einen Wettlauf zwischen zwei Jüngern. Diese Schilderung ist rätselhaft in jeder Form, fast wirkt sie deplaziert; jedenfalls ist sie jedem Schriftkundigen als ein klarer Einschub aus späterer Zeit erkennbar. Was also soll das alles, und was sagt es uns? Man braucht diesen Text im Johannes-Evangelium nur zu hören, und man spürt, daß er etwas Besonderes sagen will. Man ahnt, daß der Inhalt symbolisch verschlüsselt ist. All seine Bilder beruhen auf bestimmten traumähnlichen Motiven; doch gerade deshalb können sie in die Irre führen oder auch mißbräuchlich verwandt werden, sie vermögen aber auch zu helfen, etwas bleibend Gültiges zu erschließen, das man eigentlich überschreiben sollte als: Einheit von Intuition und Empfindung, von Mystik und Denken, von Frömmigkeit und Rationalismus. Ein Moment solch «typischen» Erzählens wirkt bereits stereotyp. Da ist eine Frau – allein, traurig, weinend, und natürlich: sie wendet sich an Männer; die gleich machen sich auf, untersuchen die Situation und klären die Lage; die Rollen zwischen Frauen und Männern scheinen demnach eindeutig verteilt. Die Glaubenslehre der Kirche von der beamteten Dominanz der Männer und der konstitutionellen Schwäche der Frauen, die sich mit solchen Texten zu begründen sucht, findet in ihnen denn auch vermeintlich eine gewisse patriarchale Bestätigung, – wenn diese Geschichte tatsächlich so zu verstehen wäre. Doch in dieser Weise kann sie nicht gemeint sein. Warum sonst sollte im Fortgang einzig die Rede sein von Maria Magdalena, so als bildeten die beiden Jünger mit ihrem «Wettlauf» ein reines Intermezzo? Was ist es mit diesen beiden überhaupt? Petrus ist uns aus vielen Stellen des Neuen Testamentes bekannt; doch dieser andere, der «Lieblingsjünger», wird nicht namentlich genannt, und 303

er soll auch offensichtlich gar keinen Namen tragen. Das einzige, was wir von ihm hier und an mehreren anderen Stellen im Johannes-Evangelium erfahren, ist, daß Jesus ihm besonders nahestand, ja, daß er mit ihm in besonderer Weise vertraut und vertraulich war (Joh 13,23; 19,26; 20,2; 21,20). Dieser Lieblingsjünger ist ganz sicher nicht der Evangelist Johannes. Mutmaßen aber darf man, daß es in der frühen Kirche bestimmte Kreise gab, in deren Mittelpunkt er stand. Indes, wenn wir so weit schon sind, beginnt sogleich das historische Rekonstruieren, fängt das kirchengeschichtlich neugierige Forschen an: Gewiß gab es in der frühen Kirche eine andere Gruppe, die sich um Petrus zusammenschloß. Offensichtlich gewann diese Petrus-Gemeinde im Verlauf des 1. Jhs. zunehmend an Bedeutung, während die andere, leisere Gruppe um den «Lieblingsjünger» dahinter zurücktrat. Womöglich war sie weniger organisiert und durchsetzungsfähig; dafür aber erhob sie um so mehr Anrecht darauf, dem Geist Jesu, mithin dem von Jesus Gemeinten, auf das innigste verbunden und zugetan zu sein1. Der Text von dem «Wettlauf» zum Grabe ist, so betrachtet, jedenfalls nicht einfach «harmlos» zu lesen; vielmehr haben wir es hier mit dem Reflex einer uralten Auseinandersetzung zu tun, die fast mit dogmatischem Anspruch ausgetragen wird. Ein Richtungsstreit wird hier auf dem Boden des Neuen Testaments sichtbar, der darüber entscheiden soll, welch ein Typ von Glaube der richtige sei. Die Gefahr ist groß, daß buchstäblich am Grabe Jesu schon eine Gewohnheit entsteht, die bis heute nicht aufgehört hat: jeder sichert sich eine eigene Reliquie, irgendein Stück Stein, irgendeinen Raum in Jerusalem, und wer da ist, wer da Platz hat, der hat auch den Verkündigungsanspruch auf die Auferstehung Christi, der hat sie ersessen, der hat sie gepachtet. Was wir in einer derart äußerlich-historischen Interpretation vor uns sehen, ist nichts anderes, als daß selbst das kostbarste Ereignis, welches das Christentum der Menschheit vermitteln möchte: die Kunde vom Sieg des Lebens über den Tod, nicht dagegen gefeit ist, durch Zänkereien und Rivalitäten, durch «Wettläufe» der Konkurrenz alsbald bis zum Unsinnigen pervertiert zu werden. Doch dem Johannes-Evangelium, wie immer wieder betont, geht es nirgendwo um «Historie». Ihm liegt daran, eine gänzlich symbolische Konstellation zu schaffen. Dafür spricht, daß die nächsten Sätze Maria aus Magdala gehören, wie sie am Grabe steht, und sie wird dort noch einmal genauso reden wie soeben zu den beiden Jüngern: Weggenommen haben sie den Herrn aus dem Grab, und nicht wissen wir, wohin sie ihn getan haben. «Wissen wir», das scheint anzudeuten, daß Maria aus Magdala, 304

Abb. 8: Das mexikanische Ballspiel. Codex Borgia Blatt 21

auch nach Kenntnis des Vierten Evangeliums, am Grabe womöglich doch nicht völlig allein war, sondern daß ursprünglich eine Gruppe von Frauen vorausgesetzt wurde wie in den ersten drei Evangelien (vgl. Mk 16,1.2; Mt 28,1; Lk 23,55; 24,1.10); doch wir sahen schon: für Johannes ist es wichtig, daß Maria aus Magdala, die einsam Trauernde, die liebend Verzweifelte, als einzelne, reduziert auf ihr eigenes Ich, geschildert wird. Um so wichtiger aber könnte es sein, daß diese einzelne Frau, die den beiden Jüngern an dieser Stelle etwas Entscheidendes zu sagen hat, in ein Schema eintritt, das alle drei nun, die Frau und die zwei Männer, umfaßt. Bereits der Wettlauf selbst ist ein Symbol, das einen uralten Ritus aufgreift. Wettläufe sind nicht nur als Kampfsportart, als olympische Disziplin, beliebt, sie spielen eine große Rolle auch in den Mythen der Völker. Fast immer werden die «Wettläufe» dabei als kosmische Ereignisse gezeichnet: Die Sonne und der Mond treten da wie im Ballspiel der Azteken gegeneinander an2. (Vgl. Abb. 8) – Eine weit entlehnte Fassung solcher Mythologie ist uns womöglich durch das hamburgische Märchen der Brüder Grimm vom Wettlauf zwischen Hase und Igel vertraut3. Zum Verständnis dieser Geschichte muß man berücksichtigen, daß der Mond die Eigenschaft hat, als abnehmender Mond im Osten und als zunehmender Mond im Westen zu erscheinen. Er ist «all hier», und dazwischen nun bewegt sich hasengeschwind die Sonne; sie hetzt sich im Jahresumlauf regelmäßig zu Tode. Selbst der Sommer wird bald schon zu Ende sein, und der schnell folgende Winter ist wie der Tod der Sonne; unbeeindruckt von allen Jahreszeiten hingegen geht der Mond auf und unter, mal im Osten, mal im Westen. Nehmen wir noch hinzu, daß der abnehmende und der zunehmende Mond zusammengehören, so haben wir ein gutes Bild, um uns den 305

«Wettlauf» zwischen «Hase» und «Igel» nicht mehr auf irgendeiner Ackerfurche in Niedersachsen vorzustellen, sondern als ein kosmisches Geschehen am Himmel, als einen Entscheidungswettlauf für das Wohl und Wehe der ganzen Welt. Wie man auf solche Phantasien überhaupt kommen kann, ist so schwer nicht auszumachen, wenn wir daran denken, daß in uns drinnen alles, was wir äußerlich an den Himmel werfen, noch einmal existiert: der Tag und die Nacht, das Bewußtsein und das Unbewußte, Verstand und Gefühl, Denken und Intuieren. Beides jeweils bezieht sich in irgendeiner Weise aufeinander, aber es ist in seiner Zusammengehörigkeit nicht ohne weiteres auch schon zusammengefügt. Es bedarf vielmehr einer besonderen Anstrengung, damit Traum und Realitätssinn, Sehnsucht und Wirklichkeit zusammenzufinden vermögen. Genauer betrachtet, sind in der Ostergeschichte des Johannes-Evangeliums diese drei, eine Frau und zwei Männer, auf der Suche nach einem vierten, der tot ist. Diese Konfiguration folgt einem klassischen psychologischen Schema. Der erste, der darauf aufmerksam gemacht hat, war Carl Gustav Jung. Er fand heraus, daß unzählige Märchen und Mythen einer Art innerer Mathematik folgen: drei, die in sich widersprüchlich, aber doch zusammengehörig eins sind, brauchen, um ganz zu werden, etwas Viertes, das ihnen fehlt, das vermißt wird, das als verwunschen gilt, das vom Tode gezeichnet oder schon begraben ist; dieses gesuchte Vierte aber muß ins Leben zurückkehren, um dem Menschen Einkehr und Rückkehr zu ermöglichen4. So betrachtet, stellt sich uns die Aufgabe einer Auslegung der johanneischen Ostertexte gründlich anders, als man sie für gewöhnlich versteht. Stück um Stück müssen wir die Relikte vermeintlicher Kirchengeschichte oder Religionswissenschaft in Psychologie oder Religionspsychologie übersetzen; und fragen müssen wir nach dem Menschen und nach dem, was das Christentum auf dem Wege möglicher Vermenschlichung uns mit dieser kleinen, doch zentralen Erzählung zu sagen hat. Alles beginnt, schematisch betrachtet, damit, daß eine Frau zu zwei Männern kommt. Entsprechend C. G. Jungs Deutung der Drei-plus-einsStruktur vieler Erzählungen sollten wir denken, daß Maria von Magdala den Bereich von Sehnsucht und Intuition personifiziert; ihr gegenüber steht dann die Empfindung, die Wahrnehmung der äußeren Realität; die beiden männlichen Gestalten hingegen sind dementsprechend zu lesen als die Verkörperungen von Verstand und Gefühl. Natürlich stellt sich auf Theologenseite sogleich die skeptische Frage, was innerlich und inhaltlich 306

eigentlich von solchen psychologischen Spielereien abhängen soll. Die überraschende Antwort darauf kann nur heißen: alles! Wir müssen uns nur verdeutlichen, was denn gemeint ist, wenn wir von «Teilkräften» im Menschen reden, von den drohenden Gefahren innerer Zerrissenheit und von der Chance, eine Einheit zu bilden. Eines können wir von der Psychologie Jungs her an dieser Stelle vorweg hinzufügen: Die Teilkräfte im Menschen beziehen sich polar aufeinander; wo das eine ist, kann das andere nicht sein; beide schließen sich aus, obwohl sie zusammenhängen und sich wechselseitig bedingen5. Die Probe aufs Exempel für diese Aussage ist leicht gemacht. Das Denken vereinbart sich nur schwer mit dem Fühlen, und das um so weniger, wenn es isoliert für sich selber auftritt. Bei einem Menschen, der rein verstandesmäßig denkt und sich äußert, macht man sich in aller Regel vergebens auf die Suche nach einer wärmeren, gefühlsmäßigen Beteiligung. Bei einem Menschen umgekehrt, der sehr stark vom Gefühl bestimmt wird, mag man von außen her eine Klarheit der Gedankenführung, eine innere Logik seiner Äußerungen, eine Konsequenz seiner Darlegungen vermissen. Der erstere erscheint uns leicht als kaltschnäuzig, der andere leicht als zu heißblütig. Beide Extreme erscheinen uns als einseitig, als eine Zerrform des Menschlichen. Doch wir brauchen nur davon zu sprechen, wie Gefühl und Verstand eigentlich zusammenkommen müßten und sich doch so schwertun, zueinanderzufinden, so berühren wir mit einem Mal eine Dimension der Osterbotschaft von außerordentlicher Tragweite. Wir müßten nämlich sagen, daß die Erzählungen, wie wir Jesus als einen Lebenden wiederentdecken, gebunden seien an gerade diesen merkwürdigen Wettlauf zwischen Denken und Fühlen und daß erst, wenn diese beiden zusammenwirkten, sich das Entscheidende, die Botschaft: «Er lebt, er ist bei Gott, er geht mit uns gemeinsam durch die Wand des Todes», wirklich glauben ließe. Damit wir indessen nicht nur bei psychologischen Begriffen verharren, seien ein paar Hinweise gegeben, was denn von der Frage abhängt, wie wir Denken und Fühlen aufeinander beziehen. Das Ideal sollte darin liegen, niemals etwas nur zu denken, das sich nicht gleichzeitig fühlen läßt. Dieser Grundsatz sollte Geltung haben in allem, was menschlich unmittelbar relevant ist; er ist zweifelsohne gegenstandslos in einer Lehrstunde für Mathematik oder Chemie, aber er hat eine große Bedeutung bereits bei den Fragen der Anwendung von mathematischen oder naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. – Man denke nur an die Einleitung eines Films aus dem Jahre 2001 über den Mathematik-Nobelpreisträger John Nash: Beautiful Mind6; wie zur Ouvertüre heißt es: «Es waren Mathematiker, die den 307

Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, es waren Mathematiker, die den japanischen Code geknackt haben, es waren Mathematiker, die die Atombombe entwickelt haben, es sind Mathematiker, die den Kalten Krieg gewinnen werden.» John Nash wird in einer Welt groß, in der sogar die Mathematik der Rüstungsindustrie und dem Pentagon untersteht, er lebt in einer irrsinnigen Welt, die sich im Kopfe dieses genialen Spieltheoretikers in Gestalt einer Paranoia verinnerlichen wird: sein Denken entwickelt sich zu einer vollkommenen Wahnwelt der Gefühlskälte und der Einsamkeit. «Ich neige dazu», erklärt er etwa einer verehrten Blondine, «den kommunikativen Faktor möglichst effizient zu halten. Sie meinen doch nicht, ich sollte Ihnen einen Champagner bestellen; sollten wir nicht gleich zum Flüssigkeitsaustausch kommen?» Ist eine Welt reiner Gedanken, muß man sich bei Dialogen dieser Güte fragen, nicht in sich selbst die reine Geisteskrankheit? Offenbar! Die Konsequenz aus dieser Einsicht aber kann nur heißen, daß man niemals etwas fühlen sollte, dessen Vernünftigkeit in irgendeiner Art sich nicht plausibel machen läßt. Wo das nicht geschieht, droht Gefahr, von dem reinen Denken nicht weniger als von dem reinen Fühlen. Als Beweis dieser These mag gelten, daß die schlimmsten Verbrechen im 20. Jh. möglich geworden sind durch eine weitgehende Spaltung zwischen Denken und Fühlen beziehungsweise durch eine falsche Synthese zwischen Gedanken und Gefühlen. Fünfzig Jahre nach dem Desaster des sogenannten Dritten Reichs, nach den Orgien der Verwüstung, die von uns Deutschen über die Welt gebracht worden sind, besteht Grund genug, darüber nachzudenken, wie ein solches kollektives Verbrechen eigentlich möglich war. Für gewöhnlich gilt zur Erklärung die Psychopathie-Hypothese: ein ganzes Volk sei da durch irrationale Kräfte in den Wahnsinn getrieben worden. Das Kollektivereignis des Faschismus stellt, so betrachtet, einen Ausnahmezustand dar, ein Abgleiten der pragmatischen Vernunft in das Diktat von mythischen Chiffren, von wabernden Gefühlen, von durch keinerlei Verstand mehr koordinierten Handlungsimpulsen. An diesem Erklärungsmuster ist zweifellos etwas Richtiges. Es gibt einen eminent starken irrationalen Anteil an dem Grauenhaften des sogenannten Dritten Reiches. Schon der Name, das Dritte oder das Tausendjährige Reich, bedeutete gegen Mitte des 20. Jhs. eine germanisch-teutonische Tollheit; sie wurde aber geboren aus einem starken Gefühl von Haß und Ressentiment. Die «November-Verbrecher» von 1918, die Niederlage Deutschlands am Ende des später so geheißenen Ersten Weltkriegs, der Wille zur Revanche, der verletzte Stolz, die Entwürdigung eines Volkes, das dem Diktatfrieden von Versailles nur zähneknirschend folgen wird: gigantische Reparations308

leistungen, Massenarbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise – all das steigerte die Not und die kollektive Angst von Millionen Menschen vor dem Fortschritt der Technik, der wie ein Verhängnis über die bürgerliche, bäuerliche und industrielle Welt hereinbrach, und vor den Undurchschaubarkeiten der Geschichte, denen gegenüber das kaiserliche Deutschland im Rückblick wie ein Spielball erschien. All das sind und waren irrationale Kräfte, die sich seinerzeit in einem Selbstbild voller Glorie verdichteten, in einer weltpolitischen Aufgabe, in einem neu gestellten Mythos. Das zweifellos war der eine Teil. In all der Zeit prüfte man nicht, wie «vernünftig» das selbstgeschaffene Portrait der weltgeschichtlichen Rolle des deutschen Volkes war und wie es überhaupt in die kulturelle und zivilisatorische Welt hineinpaßte. Es gab keine psychisch wirksame Analyse der Gefühle. Ganz im Gegenteil, die Irrationalismen schufen sich ihre eigene Welt, – wenn auch eine wahnhafte. Aber ginge es nur um diese gefühlsmäßige, affektive Seite, so hätte der Nationalsozialismus von den Deutschen wohl niemals Besitz ergreifen können; er wäre eine Angelegenheit im Tollhaus geblieben. Das Eigenartige aber ist es, daß auf der anderen Seite eine genauso abgespaltene, eine eiskalte, planende Vernunft stand, und sie bildet den Anteil, der in den Analysen der Unmenschlichkeit bis heute meistens zu kurz kommt. Wir lernen, daß es falsch ist, Politik irrational zu betreiben; aber daß es genauso falsch sein kann, Politik nur rational kaltschnäuzig zu betreiben, das ist eine Lektion, von der wir weit entfernt scheinen, schon weil sie uns hindern würde, selber so fortzufahren wie bisher. Doch gerade darin liegt ein Hauptproblem des sogenannten Dritten Reiches. Die Nazis waren in gewisser Weise sehr modern, nicht nur bei der Herstellung von Flugzeugen und Panzerwagen oder beim Aufbau einer militärisch zum Teil brillanten Strategie, in der Einsatzleitung der Massenkommunikationsmittel oder auch in der psychologischen Kriegsführung – sie wußten, wie man diktatorische Macht verwaltet, wie man auf den Gefühlen eines Volkes spielt, indem man Nahrungsmittel verteilt, Arbeitsplätze durch Staatsaufträge beschafft, Kraft-durch-Freude-Schiffe über die Ost- und Nordsee fahren läßt –, es machte Spaß, auf diese Weise verrückt zu sein oder zu werden. – Und dann erst 1940 der Überfall auf Frankreich: Alles, was die Franzosen bis dahin gelernt hatten, war, genau wie auf deutscher Seite, daß es so etwas wie 1918 nicht mehr geben dürfe; aber sie als Sieger verteidigten den Sieg; sie errichteten die Maginot-Linie, einen Wall, der durch keine Attacken, weder mit Panzern, noch Flugzeugen, noch Maschinengewehren, je zu sprengen sein würde. Man wähnte sich in Sicherheit. Man ging 309

davon aus, der Zweite Weltkrieg gegen Frankreich werde genauso beginnen wie der erste: nämlich erneut über die Drehtür- und Falltürbewegung des alten Generals Schlieffen. Die deutsche Wehrmacht würde über Holland und Belgien auf Frankreich mit der Spitze Paris vorrücken. Alle französischen Generäle glaubten zu wissen, was ihnen bevorstand; alles, was sie hatten, zogen sie zusammen gegen diese erwartete Frontlinie im Nordosten. Doch genau das sollten sie tun. Was dann kam, war der Rausch Nazideutschlands für die nächsten Jahre: Man hatte den Franzosen gezeigt, was Deutsche können! Was die Pickelhauben in vier Jahren nicht geschafft hatten, besorgten die neuen Machthaber jetzt in sechs Wochen: von den Ardennen her die «Operation Sichelschnitt» – alle unbelehrbaren Faschisten sind bis heute stolz auf dies Ereignis: Guderians Panzer – im Rücken erfassen sie das gesamte Expeditionskorps der Briten einschließlich großer Teile der französischen Verbände, sie schneiden sie von den logistischen Verbindungen ab; es wird operiert, wie es nie zuvor in der Militärgeschichte geschehen war: eine Bewegung über viele hundert Kilometer ohne Flankensicherung. Manche Militärtheoretiker geben sich bis heute beeindruckt von den Verbrechen dieses Krieges. Und das muß man zugeben: Vernünftig konzipiert, rational geplant, eiskalt durchdacht und von Erfolg gekrönt war alles das zweifelsohne. Eben deshalb war es derart gefährlich, derart skrupellos. Wo aber stehen wir nach dem Ende des 20. Jhs., wenn ein isoliertes Gefühl bis zum Wahnsinn geht und eine unbarmherzige Vernunft sich austobt ohne jedes Hemmnis im Gefühlsbereich? Da können viele tausend Menschen abgeschlachtet werden, – es spielt etwa bei der Planung eines Kriegs gegen den Irak keine Rolle, es ist kein Argument, irgend etwas sein zu lassen, weil Gefühle gar nicht erst zugelassen werden dürfen. Wenn der Verstand sagt: es soll so sein, reduziert sich die Wirklichkeit auf ein Computerspiel. Das bedeutet es, in einer Welt zu leben, in der Gefühl und Verstand nicht zusammengehen. In einer solchen Welt waltet der Tod, und es gibt keine Rettung. Menschen, die derart zerrissen sind, haben keine Chance, mit sich zurechtzukommen; sie können der Welt nur begegnen als tötend, schädlich und destruktiv. – Ein kleiner Ausschnitt der schrecklichen Geschichte unseres eigenen Volkes kann das bestätigen. Ein einfacher Blick in unsere Gegenwart zeigt uns dasselbe. Betrachten wir nur, wie wir mit der Natur an unserer Seite umgehen. Auch da sehen wir zum einen eine eiskalt entwickelte Vernunft am Werke, die durch keinerlei Gefühlsrücksichten gebremst wird: allein der Markt bestimmt, wie 310

wir mit der Natur verfahren; da können viele tausend Tier- und Pflanzenarten ausgerottet werden, – es wird kein Hemmnis gegenüber unseren Praktiken bieten; da kann das Leid von Millionen Tieren glatt übersehen werden, – es wird kein Argument darstellen, von der Quälerei fühlender Wesen abzulassen; da werden wir eine ganze Industrie mechanisch mit totem Gerät über fühlendes Fleisch, über all unsere sogenannten Hausund Nutztiere herfahren lassen – oder einfacher und direkter gesagt: über das Schlachtvieh –, wie wenn es gälte, fossile Lebensreste aus der Karbonoder der Kreidezeit dem Erdinneren zu entreißen, – und es gibt kein wirksames Gefühl des Erbarmens, dem organisierten Sadismus Einhalt zu tun. Da ist ein Verstand am Werke, der in sich mit hoher Präzision arbeitet, der aber völlig losgelöst, gefühlsentbunden und deshalb tödlich agiert. Zum andern existiert zweifellos ein hohes Maß von Mitleid und Mitgefühl, aber es scheint ohnmächtig, weil es sich nicht in eine klare Argumentation übersetzt und kaum über Worte verfügt, um sich als verständig, als ethisch richtig, als moralisch verpflichtend mitzuteilen. Und dieser Zwischenbereich des Nicht-Vereinten, des in sich Gespaltenen schafft seine Tragödien, tagaus und tagein. Nehmen wir noch das andere Gegensatzpaar hinzu, auf das Jung hingewiesen hat: die Intuition und die Empfindung. Es gibt Menschen, die nicht nach außen, sondern in sich selbst schauen; all ihr Erleben wird von vielerlei seelischen Bildern und Gestalten beeinflußt; sie wirken wie taub für die Forderungen der Sinne; Geruch und Geschmack, die Schönheit draußen zählt ihnen fast für nichts, gemessen an dem Reichtum ihrer inneren Wahrnehmungen. Umgekehrt kennen wir reine Empfindungsmenschen, die mit allen ihren Sinnen an der Welt draußen haften; sie wiederum stehen in der Gefahr, daß alles, was sie schmecken, fühlen, riechen, sehen und hören, sinnlos bleibt, denn es gibt inwendig nichts, das darauf antwortet. Sie verfallen gewissermaßen dem Äußeren so wie jene anderen ihrem Inneren. Und wieder stellt sich die Frage: Wie hält man Balance zwischen diesen beiden auseinanderstrebenden Kräften? – Das alles ist gewiß eine an sich schon sehr wichtige psychologische Frage; religionspsychologisch aber, um die Botschaft des Christentums zu verstehen, steigert sich diese Problematik unmittelbar bis in den Bereich einer existentiellen Grundentscheidung hinein. Was von Gott können wir heute glauben? Die tiefste Diagnose der religiösen Krise in unseren Tagen scheint darin gelegen, daß wir in einer Welt uns aufhalten, die Glauben nicht zuläßt, eben weil zwischen Denken und Fühlen, zwischen Empfinden und Intuition keine Verbindung herrscht. Das 311

Ergebnis: Auf der einen Seite haben wir ein unvernünftiges Glauben und auf der anderen Seite einen vernünftigen Unglauben. Wir unterliegen förmlich der Pflicht, einerseits den Bereich von Empfindung und Denken zu isolieren, so wie wir zum anderen Intuition und Fühlen abzusondern haben, und zwischen beiden gegeneinander streng abgegrenzten Ausschlußpaaren gibt es scheinbar keine Brücke. Empfinden und Denken bilden heutigentags die Stärke dessen, was im Abendland als «Naturwissenschaft» bezeichnet wird: klare Beobachtung plus quantifizierbare Analyse des Befundes, empirisches Herantreten an die Wirklichkeit über die Sinne und Reflektieren der so gewonnenen Daten in klaren Begriffen. Empfinden und Denken gehören da in der Beschreibung der Außenwelt untrennbar zusammen. Die Religion hingegen flüchtet sich in etwas undefinierbar Mystisches zwischen Intuition und Gefühl, in etwas Unbeweisbares, aufruhend auf starken Sehnsüchten, Visionen und Bildern. Denjenigen, die religiös sein möchten, wird seit den Tagen Ludwig Feuerbachs im 19. Jh. entgegengehalten, daß alles, was sie glauben, nichts weiter sei als ein bloßes Wunschdenken, als eine reine Sehnsucht ihres Herzens, als ein Schrei der Verzweiflung, nichts weiter also als Projektion. Umgekehrt: Alles, was wir mit Empfinden und Denken erfassen, bleibt außen vor; es enthält nichts, was uns seelisch berühren könnte; es spendet keinen Trost, es bietet keinen Halt angesichts des sicheren Todes, es lagert im Rahmen einer machtpolitisch verwalteten Welt über einem dunklen, nie geklärten Abgrund. Die Rettung, die in den Kirchen, wenn überhaupt noch, gesucht wird, besteht demgegenüber in einer falschen Synthese: Man möchte den Glauben auf Empfindung und Denken, also auf Beweisbarkeit stützen und handelt sich dabei nichts weiter ein als den puren Fundamentalismus: Der Osterglaube kann im Sinne von Empfinden und Denken nur «wahr» sein, wenn das Grab am Ostermorgen als leer geglaubt wird. Besteht aber die Aufgabe der Theologen nun darin, zu zeigen, daß das Grab Jesu, wenn es ein solches denn überhaupt gab, drei Tage nach der Beisetzung leer war, so ist sie unerfüllbar in ihrer Beweislast. Man muß dann die Texte tatsächlich so zurechtbiegen und zurechtlügen, daß aus Legenden schließlich ein historischer Rapport über das naturwissenschaftlich Unmögliche wird. Dann wieder muß man von Gott her metaphysische Ableitungen konstruieren und Strickleitern zwischen Himmel und Erde flechten, bis daß Gott, der Allmächtige, am Ostermorgen halt zu tun imstande war, was er wollte und wie er es sollte. Derlei «Beweise» sind aussichtslos. Bei einer solchen Art von Religionsverkündigung genügt es, zwölf oder vierzehn Jahre alt zu sein, und man ist der theologischen Indoktrination müde. Eine solche auf 312

falsche Weise «bewiesene» Religion ist womöglich noch ärger als die ganz naive, unreflektierte Gottesfürchtigkeit des «einfachen Volkes». Gerade die gelehrte Fiktion, als ob wir Fakten in Händen hielten, wo es sie durchaus nicht geben kann, bringt am Ende die Religion um jeden Kredit und entwertet sie zu der Imprägnatur einer verpflichteten Dauerlüge. Aber gerade deshalb lautet die Frage auch umgekehrt: Wie können Überzeugungen sich bilden, in denen Fühlen und Denken zu einer Einheit zusammenwachsen, in denen Intuieren und Empfinden zusammenkommen und gemeinsam eine Brücke über das Chaos schlagen? Das jedenfalls ist es, wonach wir suchen: eine Synthese von Rationalität und Mystik. Es müßte gestattet sein, ebenso vernünftig zu denken wie stark und kräftig zu glauben; es müßte erlaubt sein, die äußere Welt so bruchlos zusammenhängend zu verstehen, wie nur irgend möglich, und dabei Gott noch viel tiefer zu erahnen. Erst dann könnten wir Abschied nehmen von dem Bemühen der Theologie, in den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Neuzeit immer wieder nach Fugen und Löchern zu suchen, in die hinein Gott als Lückenbüßer geschoben werden könnte. Wir müßten im Gegenteil darauf vertrauen, daß die Kraft, die uns leben läßt durch die Liebe, alles durchzieht, so wie die Seele nicht eine Stelle im Körper ist, sondern alles, was den Körper lebend macht, bestimmt. Sie ist nicht losgelöst von ihm, denn das wäre der Tod; sie ist dieser Körper, sie geht aus ihm hervor, und sie gestaltet ihn mit; da ist keine Trennung zwischen Geist und Materie vorstellbar. Vieles, was wir in der Gegenwart paradoxerweise von den Naturwissenschaften tiefer lernen denn je, könnte und müßte unsere Art, gläubig zu sein, entscheidend prägen. Wir würden Gott dann nicht mehr ersehnen in einem fernen Jenseits, wir würden ihn antreffen mitten in dieser Welt, und seine Bekundungen stünden nicht im Widerspruch zu dem, was wir sehen, sondern sie gingen mitten darin ein. Erzählen wir uns vor diesem Hintergrund die Geschichte von dem merkwürdigen Wettlauf zwischen Petrus und dem «Lieblingsjünger» noch einmal nach, so sollten wir denken, es gebe eine Kraft in uns, die imstande sei, die Wahrheit unseres Lebens zu schauen; diese Kraft findet zum Innenraum des Grabes offenbar erst durch eine realitätsorientierte forschende Neugier, die es schwarz auf weiß wissen will, verkörpert in Petrus, der ins Innere der Gruft sich begibt: auch er sieht all das, was jener andere Jünger wahrnimmt, – er betrachtet es sogar noch viel genauer als jener: nicht nur die Binden, die da liegen, bemerkt er, sondern er sieht sogar, daß sich das Kopftuch Jesu woanders befindet; alles wird da detailliert protokolliert. All diese Beobachtungen aber haben nichts zu tun mit dem, was wirkliches 313

Sehen bedeutet, was wahrhaftes Glauben heißt. Die bloßen Fakten besagen rein gar nichts. Die Frage ist vielmehr, wie man der Bedeutung der Ereignisse innewird und wie man ihrer gewahr wird. Eine solche menschlich stimmige Wahrnehmung der Welt lehrt einzig die Liebe. Eben deshalb ist es so wichtig, daß die Ostergeschichte des Johannes beginnt mit der Suche der trostlosen Maria aus Magdala und dann ihre Erzählung fortsetzt mit der Erfahrung der Begegnung Jesu. Denn mit einem Mal begreifen wir: das gesamte Intermezzo mit den beiden Jüngern läßt sich lesen als ein Vorgang in Maria Magdalena selber. Bei symbolischer Betrachtung lautet die Aussage dieses Textes nicht, daß eine Frau stets zu den Männern laufen müsse, um bei ihnen um Rat nachzusuchen, im Gegenteil besitzt sie ihre Wahrheit in sich. Alles «Männliche» lebt in ihr selbst, ganz so, wie die Männer das, was wir weiblich nennen, wenn sie nur recht bei sich nachschauen, in sich tragen; – wie sonst auch sollten sie jenes andere verstehen, das sie selber sind und das doch von außen auf sie zukommt? Dieses «andere» erweist sich als ein ständiger Begleiter der Petruswelt. Was Petrus verkörpert, wird in der Kirchengeschichte mit der organisierten Form der Religion, mit den vermeintlich als sicher bekundeten Bekenntnisformeln des kirchlichen Dogmatismus, verbunden bleiben; doch all das ist in Wirklichkeit nur sehr begrenzt «Glauben»7. Diesem Text zufolge gibt es keinen Weg zum Vertrauen auf Jesus ohne die Gestalt des «Petrus», aber mit ihm allein gelangt man nicht zu einer wahren Form des «Sehens». Was das Johannes-Evangelium zentral erreichen möchte, ist demnach eine Verbindung zwischen «Petrus», dem «Lieblingsjünger» und «Maria Magdalena». Schon am Ende des 1. Jhs. sieht es eine Gefahr darin, daß die Petruskirche siegen könnte und einseitig eine Art Durchmarsch durch die Geschichte anträte. Es möchte die Innenseite der Religion, das, was auf seiten des «Lieblingsjüngers» als Freundschaft zu Jesus begriffen werden kann, bewahren. Was da anklingt, ist religionshistorisch später als Gnosis bezeichnet worden; schon wer dieses Wort in den Mund nimmt, umschreibt die angeblich schlimmste aller Häresien der Kirchengeschichte; wer auch nur daran erinnert, Religion habe die Aufgabe, den Menschen zu sich selber zu führen, der gilt als ein «Gnostiker»; wer darauf hinweist, die Bilder des Religiösen seien therapeutisch zu verstehen, auch der erntet ipso facto den Vorwurf, ein Gnostiker zu sein. Wer sagt, Religion basiere auf der Freiheit des Einzelnen und nicht auf der Verwaltung des Religiösen, wird wohl ebenfalls als Gnostiker angesehen. Doch die Gnosis ist nicht einfach eine Ketzerei; sie stellt einen wichtigen Teil der Vorstellungswelt 314

des Vierten Evangeliums dar. Sie ist in gewissem Sinne «das andere» der verfaßten Kirche geblieben; und entscheidend nun: ohne dieses «andere», ohne den Jünger, den Jesus liebte und den er als seinen Vertrauten betrachtete, gibt es keinen Beistand zum Sehen, keine Hilfe zum Glauben, gibt es nichts als die steinernen, leeren Monumente des Todes. Alles findet statt in diesem »anderen», dem Freunde Jesu, dem «Lieblingsjünger». Und dann bleibt es die Frage, wie Maria aus Magdala, wenn denn ihre Seele zwischen «Petrus» und dem «Lieblingsjünger» sich soweit geeint hat, darauf vorbereitet sein kann, eine Erfahrung zu machen, die nur ihr selber gilt. Soviel ist gewiß: worauf Glaube sich gründet, liegt eben darin, daß kein Reden von außen mehr wesentlich sein kann8, sondern daß alles, was einer dem anderen zu sagen vermag, ganz wie in dem Gespräch Jesu mit der Samariterin (Joh 4,1-42), nichts als ein Hinweis ist: «Ich habe es so erlebt, meiner Meinung nach lohnt es sich, in diese Richtung zu schauen»; aber man kann nicht für einen anderen sehen, nicht für einen anderen lieben, nicht für einen anderen glauben, so wenig, wie man stellvertretend für einen anderen essen oder schlafen kann. Alle wirklichen Vollzüge unseres Lebens sind unsere eigenen, sie sind nie delegierbar. Aber selber zu sehen, selber zu spüren, selber zur «Evidenz» einer inneren Überzeugung zu gelangen, das ist der Weg zum Glauben hier; er besteht in der Einheit aller eigenen Seelenkräfte. In einem Satz klingt gerade noch an, was später als Problem auftauchen wird: Zwischen Maria von Magdala, Petrus und dem anderen Jünger entstand diese Geschichte, weil sie noch nicht die Schrift verstanden hatten, nach der er ja von den Toten auferstehen mußte. Das ist ein Wort, so fein eingeschoben am Ende dieses Kapitels, daß man staunen muß: Gründet denn darin nicht der ganze Stolz der Theologen, daß sie die Schriften verstehen und alle Rätsel unter ihren Händen sich lösen? Wer die heiligen Texte des Judentums liest, dem eröffnet sich nach schriftgelehrter Überzeugung alles, was Jesus war, beweisbar und erklärbar, der versteht Gott selber, dem liegen alle Planungen des Höchsten wie ein wohlgewirktes Muster vor Augen. Bis heute hat sich diese Auffassung erhalten: alles Herrschaftswissen der verwalteten Religion beruht auf der richtigen Schriftauslegung. Johannes indessen meint an dieser Stelle – ganz ähnlich übrigens wie Lukas im 24. Kapitel beim Gang der Jünger nach Emmaus (Lk 24,13-35) –, die richtige Art, die Schrift zu lesen, ergebe sich nicht aus ihrer Lektüre, sondern aus einer Einsicht, die sie trägt und leitet, und die vorweg müsse gegeben sein. Nicht einmal die Schrift also beglaubigt irgend etwas, es sei denn, man läse sie gläubig. Das aber geschieht nur von rückwärts her, von einem 315

Standpunkt aus, der in die Gegenwart hineinreicht und von dem her sich die ganze Zukunft entwirft. Es ist die Erfahrung der Maria aus Magdala und dieses anderen Jüngers, daß Jesus von den Toten auferstehen mußte. Doch fragt man: «Wie also liest man die Schrift, um dieses ‹muß› herauszubekommen?», dann sollte man erinnern an das, was im sogenannten Frühoder Spätjudentum fast schicksalhaft vor Augen stand: wie all das totgemacht zu werden pflegt, was von Gott her in diese Welt hineinreifen, leben und lieben möchte. Allerdings, wenn diese Erfahrung das letzte Wort behielte, wenn wir nur sähen, wie Menschen es fertigbekommen, alles zu töten, was Leben begründen könnte, so wäre wirklich keine Hoffnung und ohne diese Hoffnung auch kein wahrhaftes Leben. Ein solcher Eindruck muß sich ändern, oder es gäbe auch keinen Gott im Himmel mehr; nichts besäße dann noch Bestand und Rückhalt. Wenn aber jemals Gott in der menschlichen Geschichte zu Menschen gesprochen hat, dann kann der Tod, dann kann der organisierte Haß, dann kann die Rechthaberei im Namen Gottes nicht am Ende stehen, sondern dann wird es immer wieder Augen geben, wie die der Maria aus Magdala, weinend vor Trauer und überströmend von Tränen, die trotz allem kraft ihrer Liebe imstande sind, an der Stätte des Todes zwei Engel zu sehen, und mit dem inneren Ohr, gefüllt von den Klagen des Schmerzes und der Verzweiflung, die leise Frage, die Infragestellung zu vernehmen: Was weinst du?, und die Anrede zu hören, die von dem Auferstandenen an sie ergeht: Marjam. Wir sahen bereits: da wendet sie sich um, aus ihrer Vergangenheit in ihre Zukunft, und kommt erneut zurück und kündet’s den Jüngern. Eine kleine Geschichte voller Andeutungen, Bilder und Symbole haben wir, so gelesen, vor uns, die uns weiter in den Problemstellungen ebenso wie in den Lösungsansätzen voranträgt, als der Evangelist es selber je wissen konnte; und doch ist es nicht zu kühn, diesen Text so zu deuten. Selbst Archimedes mit seinem Gesetz vom Auftrieb hätte sich nicht ausmalen können, wozu seine Entdeckung eines Tages tauglich sein würde: – bis zum Bau von Supertankern, die über alle Ozeane fahren. Eine richtige Formel, ein richtig wahrgenommenes Motiv entwirft und erklärt eine ganze Welt, weit überragend den, der es zum ersten Mal geschaut und ausgesprochen hat. Der Wettlauf zum Grab, das Gespräch zwischen einer Frau und zwei Männern auf der Suche nach einem verstorbenen Vierten – zwei typische Schemata begegnen in dieser symbolischen Szene einander, doch was für ein Blick auf die Welt, auf unser Leben, auf unsere Seele, auf die Sprache der Religion setzt sich da frei!

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Joh 20,19-23: Die Gabe der Vergebung 19Als

es nun Abend war an jenem Tage, dem ersten der Woche, und die Türen waren verriegelt, dort wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden (den Gottesbesitzern), ist Jesus gekommen und in die Mitte getreten und sagt ihnen: Friede euch! 20Und als er das gesprochen, hat er die Hände und die Seite ihnen gezeigt (1 Joh 1,1). Freude ergriff da die Jünger, daß sie sahen – den Herrn! 21Gesprochen hat da Jesus abermals: Friede euch! Wie der Vater mich gesandt hat, so auch schicke ich euch (17,18). 22Und als er das gesprochen, – angehaucht hat er und sagt ihnen: Empfangt heiligen Geist. 23Wenn ihr welchen nachlaßt die Sünden, so sind sie ihnen nachgelassen; wenn ihr sie welchen behaltet, bleiben sie behalten (Mt 18,18).

Die erste Frucht der Erfahrung von der Überwindung des Todes in der Nähe Jesu besteht für das Johannes-Evangelium in der Gabe der Vergebung. In dem schwebenden Bild einer ersten Erscheinung Jesu an seine Jünger verdichtet sich dieser Glaube oder, besser ausgedrückt, diese neue, wiederentdeckte Gnade im Umgang miteinander. Alles, was wir da hören, nimmt uns bei der Hand und führt uns auf einem geheimnisvollen Weg zu uns selbst, in die Mitte, wie das Johannes-Evangelium verspricht. Wollte man die ganze Botschaft Jesu auf eine einzige Formel bringen, auf eine wesentliche Entdeckung hin zusammenfassen, so läge sie ohne Zweifel darin, daß es unmöglich ist, als ein Mensch dem anderen gegenüber Rechte, Ansprüche und Titel geltend zu machen. Das, was uns im bürgerlichen Leben das Allerwichtigste zu sein scheint, war für Jesus gerade das Schädliche, ja, Schändliche. Man hört völlig richtig: Die Tugend der Gerechtigkeit, Grundlage und Ideal aller Moral, das Beste an Sittlichkeit, was zur Begrenzung der Willkür des einen an der Willkür des anderen in Jahrtausenden im Verlauf der Humanisierung der menschlichen Geschichte erreicht wurde, genau das möchte Jesus aufgehoben wissen, weil es dem Menschen im Eigentlichen nicht hilft, sondern ihn durch ein falsches Prinzip zerstört, und zwar die Schwächsten am ehesten, die Stärksten am gründlichsten1. Die Legende der Synoptiker über den Mann aus Nazaret, noch bevor er in die Öffentlichkeit tritt, hebt an mit einer merkwürdigen, ungeklärten Gleichnishandlung, auf die wir zu Anfang des Johannes-Evangeliums (Joh 1,29-34) mehrfach zu sprechen gekommen sind: Markus erzählt, Jesus habe sich am Jordan von Johannes dem Täufer taufen lassen. (Vgl. Mk 317

1,9-11.) Im Munde dieses seines Lehrers waren alle Dinge klar und eindeutig. Es gab das Gotteswort, es gab das göttliche Gesetz mitsamt seinen vielfältigen Geboten; die zu halten war alles, worauf es im menschlichen Leben ankam. Nichts weiter galt es einzuschärfen und zu befolgen. Im Munde des Mannes am Jordan kam es auf Sein oder Nichtsein, auf Heil oder Unheil, auf Bestand oder Untergang der Welt allein darauf an, wie ein Mensch zum Gesetz und zum Gebot Gottes steht. – Jesus muß tief ergriffen worden sein von dieser Predigt. Nicht der Tempel in Jerusalem, nicht das Opfern von Tieren, nicht die unübersehbaren Komplikationen der rabbinischen Gesetzesauslegung, sondern dieser eine glühende Kernpunkt von allem: Mose jetzt, Elia heute, Gott ganz nahe – das muß er geglaubt haben, das war ihm sein Leben wert. Doch wir erinnern uns: die Tauflegende bei Markus erzählt weiter, daß, als er sich taufen ließ am Jordan zur Vergebung der Sünden, es ihm gewesen sei, wie wenn in dem Augenblick, da er aus den Wassern des Todes emporstieg, sich der Himmel öffnete und alle Sperr-Riegel zwischen Gott und Mensch wegfielen; eine Stimme aus den Wolken habe zu ihm gesprochen: Du bist mein Sohn, der geliebte (Mk 1,11; Joh 1,33.34). Was die Synoptiker als Erfahrung Jesu schildern, gibt Johannes als Zeugnis des Täufers über den Mann aus Nazaret wieder. Gleichwohl: Die kirchliche Auslegung, vielleicht schon die theologische Absicht der Evangelisten, hat dieses Erlebnis sehr stark ins Einzigartige der Person Jesu gedrängt. Wahrscheinlich jedoch verhält es sich gerade umgekehrt: die Person Jesu wurde einzigartig allererst durch dieses Vertrauen: Gott ist so, wie Johannes der Täufer ihn schildert, doch eben weil er so ist, ist er zugleich vollkommen anders, als der Täufer ihn je gesehen hat. Machen wir uns den Gegensatz noch einmal recht klar. Gott ist das Gesetz, Gott ist die Gerechtigkeit, oh ja; er ist der Inbegriff aller Ethik, das stimmt. Aber wäre Gott nur das, so vermöchte kein Mensch mehr aus dem Jordan aufzutauchen. Vor allem, es ist nicht richtig, was Johannes dachte: die Menschen könnten sich reinigen durch ihren eigenen guten Willen; wenn sie sich nur anstrengten, kämen sie in Ordnung. Über Gott mochte der Täufer zutreffend Bescheid wissen, aber über die Menschen dachte er nicht richtig und dann wohl auch über Gott nicht, der sie gemacht hat. Gott muß noch ganz anders sein, so nämlich, daß er den Menschen eine wirkliche Chance gibt, von vorn zu beginnen. Ein wirklicher Neuanfang kommt nicht zustande, indem man sein eigenes Leben übers Knie bricht wie ein Stück vertrocknetes Holz, nur um zu entdecken, daß man hernach durchaus nichts mehr in Händen hält; entscheidend wäre es, sich versöhnt zu fühlen mit der Macht, der wir unser ganzes Dasein verdanken; ihr müß318

ten wir zutrauen, daß sie als erstes nicht auf das schaut, was wir richtig oder falsch gemacht haben, sondern daß sie jenseits oder besser: unterhalb all der moralischen Scheidungen und Unterscheidungen uns umfängt. Diese Macht im Hintergrund von allem ist einfach nur gut, sie ist einfach nur gütig zu uns. Wer diese Entdeckung einmal gemacht hat, und zwar nicht am Rande seiner Existenz als eine fromme Idee am Sabbat- oder Sonntagmorgen, sondern wesentlich, als Ursprung seines Lebens, in der Gewißheit, daß er anders überhaupt nicht leben könnte als aus dieser Erfahrung, für den kehrt sich die ganze Welt um. Seine Frage lautet dann nicht mehr: Wie bekomme ich Recht vor dem anderen, sondern wie sehe ich selbst in seinem Unrecht noch seine Not; wie versöhnen sich Menschen miteinander, wenn doch ich selber nur lebe aus reiner Vergebung? Das heißt, nicht einmal das Wort Vergebung trifft hier zu; denn es ist immer noch mit dem Gedanken verbunden, schuldig zu sein und niederknien zu müssen aus Dankbarkeit. Was der Gott, den Jesus am Jordan gehört hat, den Menschen sagen will, lautet etwa so: «Ich möchte, daß du lebst, und ich glaube, daß selbst die Dinge, die du falsch gemacht hast, so schlecht nicht gemeint waren, wie sie erscheinen können. Wenn du nur erst versuchst, weniger verzweifelt zu sein, weniger hilflos, weniger vor lauter Angst hin und her getrieben, völlig ratlos deinen eigenen Zielsetzungen gegenüber, dann kommt nach und nach dein Leben wie von allein ins Reine.» Mit dieser Botschaft muß Jesus fortgegangen sein von seinem Lehrer Johannes dem Täufer. Der Bruch zwischen beiden scheint sehr schmerzlich gewesen zu sein; insbesondere das Johannes-Evangelium, indem es von gar keiner Taufe Jesu mehr spricht, sondern nur noch von dem Zeugnis des Täufers, tut alles, um die aufgetretenen Spannungen als gering erscheinen zu lassen, – wo sie doch so extrem gewesen sein müssen wie zwischen Nord und Süd, eine völlig konträre Richtungsbestimmung der ganzen Existenz, auf Grund eines Erlebnisses gewiß, das Jesus seinem Lehrer Johannes verdankte, durch das er aber alsbald dem Täufer entglitt, zurück allein in die Hände Gottes. Aus dem Zentrum dieser Überzeugung trat Jesus auf die Menschen zu. Hätte er auch nur einen Moment so weitergedacht und -geredet wie Johannes der Täufer, dann hätte er seine neue Erkenntnis in ein neues Gebot kleiden müssen, und es hätte gelautet: «Ihr müßt vergeben, weil Gott euch vergeben hat.» – Ein solcher Auftrag wäre an sich nicht verkehrt, und doch würde er völlig falsch wirken; er wäre nichts weiter als ein zusätzlicher erhobener Zeigefinger, und er würde, wahrscheinlich, schlimmer als alle erhobenen Fäuste zuvor, die Menschen mit Schuld319

gefühlen drangsalieren; denn ein derartiger Satz bedeutete moralisch, daß die Menschen ohne jedes Recht und ohne jede Berechtigung dastünden, und er wäre, außerhalb der Liebe, lediglich als ein neues ethisches Theorem, absolut unerträglich; besser wäre es da immer noch, in gewohnter Weise zu sagen, die Menschen hätten gewisse Rechte, an die sie sich freilich auch halten müßten und nach denen sie in Lohn und Strafe gemessen würden. Jesus indessen wollte diese ganze Art moralisierender Geboteverkündigung nicht länger mittragen. Wenn er von seiner Entdeckung zu sprechen versuchte, dann verarbeitete er sie nach der Weise der Poesie. Für ihn bedeutete seine neue Erfahrung eine Vision, einen Entwurf, wie wir als Menschen sein könnten, und so gestaltete er Szenen, die dichterisch diese neue Möglichkeit schildern. Jesus konnte, um sein Paradox zu beschreiben, Geschichten erzählen, die wie Kalauer wirken, z. B. im 16. Kapitel bei Lukas (Lk 16,1-8). Wie bringt man «Erzgaunern» in Galiläa bei, sie sollten an Gott glauben? Wie erklärt man solchen Leuten das vermeintlich Allerschwierigste: auf alles eigene Recht zu verzichten? Jeder Pädagoge würde an dieser Aufgabe verzweifeln. Jesus aber war großgeworden unter «Gaunern», und wohlgemerkt: er hatte gefunden, daß kein Mensch dem anderen etwas vorzuwerfen hat. Wenn das gilt, versteht man sein folgendes Gleichnis. Als die Leute es zum ersten Mal hörten, werden sie sich auf die Schenkel geschlagen haben vor Vergnügen: Das war nun mal eine Geschichte, wie sie sie verstanden! Man muß diese Erzählung tatsächlich einfügen, weil sie ein Diamant in der ganzen Verkündigung des historischen Jesus ist und weil sie uns hilft, die Botschaft von der Vergebung in der Ostererzählung des Johannes-Evangeliums zu verstehen; sie lautet, in eigener Übersetzung: Lk 16,1-8 1 Er sagte aber auch zu den Jüngern: Es war einmal ein reicher Mann, der hatte einen Hausverwalter; der ward bei ihm beschuldigt, er verschleudere sein Vermögen.2 Da rief er ihn und sprach zu ihm: Was muß ich da hören über dich? Leg vor die Abrechnung deiner Hausverwaltung. Denn länger kannst du das Haus nicht verwalten. 3 Da aber sprach bei sich der Hausverwalter: Was soll ich machen, da mein Herr die Hausverwaltung mir entzieht? Feldarbeit? Kann ich nicht! Betteln? Schäme ich mich. 4 Da fällt mir ein, was ich mache, damit, wenn ich abgesetzt bin von der Hausverwaltung, sie mich aufnehmen in ihre Häuser. 5 Und er lud einzeln einen jeden der Schuldner seines Herrn vor und sagte zu dem ersten: Wieviel schuldest du meinem Herrn? 6 Der sprach: Hundert Faß Öl. Er aber sprach zu ihm: 320

Nimm deinen Schuldschein, setz dich schnell hin, schreib: fünfzig. 7 Darauf zu einem anderen, er sprach: Du da, wieviel schuldest du? Der sprach: Hundert Sack Weizen. Sagt er ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib: achtzig. – 8 Und gelobt hat der Herr den Ungerechtigkeitsverwalter: Ja, verständig hat er gehandelt! Ja, die Söhne dieser Weltzeit verhalten sich verständiger als die Söhne des Lichtes gegenüber ihresgleichen. Diese Geschichte, wie man sieht, spricht jeder Moral Hohn. Bis in die Gegenwart hinein haben die Bibelausleger denn auch gemeint, hier widerlege sich die Humanität des Neuen Testaments selber. Das tut sie wirklich, solange wir unter Humanität dasselbe verstehen wie Gerechtigkeit, Ordnung und die Prinzipien der Moral; diese Normen verbieten ein solches Durchschlüpfen mit Tricks, sie bestrafen streng derartige Betrügereien. Aber genau das meint Jesus hier. Was er sagen will, ist klar: «Wenn ihr auch nur einen Moment lang daran dächtet, Gott werde prüfen, wer ihr seid, wie sähe es dann wohl um euch aus? – Zu Ohren des Allerhöchsten dürfte längst gekommen sein, wie ihr gewirtschaftet habt, nicht mit eurem Eigentum – denn was sollte euch gehören, wo doch alles eine Leihgabe aus den Händen des Allmächtigen ist –, Mißwirtschaft habt ihr getrieben mit Gottes Eigentum, soviel ist klar. Wollte nun Gott nach Gerechtigkeit euch beurteilen, so müßte er euch auf der Stelle das Handwerk legen und euch den Dienst quittieren. Das hättet ihr verdient, und das wäre noch nicht einmal das Schlimmste. Ihr müßtet die Mißwirtschaft bezahlen durch Abbüßen der Fehlbeträge, ihr müßtet die Schulden zurückzahlen, und wie sollte das geschehen?» – Das Gleichnis Jesu schildert einen Mann, der genau vor sich sieht, daß er keine Chance hat, außer er tut all das, was er bisher zu seinem eigenen Gewinn und zum Schaden seines Herrn getan hat, jetzt ein einziges und erstes Mal zum Vorteil der Schuldner seines Herren – und dann auch zu seinem eigenen Nutzen. Bei all der Schuld, die sich angesammelt hat, gibt es für ihn keine Flucht mehr in die Rechtfertigung durch das Gesetz; es gibt nur einen Weg: indem er fünf grade sein läßt – durch Güte! Und so handelt dieser Mann hier. Er treibt nicht länger seinem Herrn ein, was ihm zusteht, sondern er halbiert, er setzt auf ein Viertel, er rechnet um ein Fünftel herunter, genau wie die Leute es brauchen, um bezahlen zu können. Jeder Nicht-Gauner wird empört sagen: «Das ist nicht gerecht! So tut es selbst Gott nicht recht, welcher doch ist der Herr der Gerechtigkeit!» Doch um so grotesker scheint es, wenn Jesus erklärt: Und gelobt hat der Herr den Ungerechtigkeitsverwalter: Ja, verständig hat er gehandelt. Ein321

zig um diese Bauernschläue oder Verwaltersfindigkeit ist es Jesus an dieser Stelle zu tun. Begriffen wir unsere eigene Situation, will er sagen, so sollten wir die Gerechtigkeit wegschieben und einzig darauf schauen, was der andere nötig hat und was er ernsthaft zu tun vermag. Mag sein, die Moral, wie die Ethiker sie definieren, leidet dabei Schaden; mag sein, Gott selber, wie die Theologen ihn sehen, verliert dabei an Schreckgewalt. Doch was hätte Gott wohl für einen Schaden, würden wir Menschen einander vergeben? «Tut es doch!» meint Jesus. «Rechnet an Schulden auf die Liste Gottes, was ihr wollt, schreibt ihm jede Wirtshausrechnung auf den Bierdeckel, setzt ihm ein, was nötig ist, um zu leben, und ihr werdet Gott ganz neu entdecken. Daran hat er seine Freude, dafür wird er euch belobigen. Denn das ist das einzige, was er von euch möchte; nicht, daß ihr dasteht als Herrschaftsverwalter des lieben Gottes, der eine vor dem anderen: ‹Ich aber habe meinen Auftrag!› – das macht Gott selber, und er ist reich genug, er wird nie Verluste einfahren; aber wenn ihr die anderen Menschen unbeschädigt laßt, wenn ihr aufhört, im Namen eures Gottes (und eures Egoismus) Rechte einzufordern und Schulden einzutreiben, wenn ihr im Gegenteil auf Teufel komm raus einander eure Schulden erlaßt, macht ihr euch Freunde untereinander, und das ist die einzige Art, ein Entkommen für euch selber bei Gott zu erwirken.» Alles, was Jesus zum Thema Vergebung sagen wollte, hat er zusammengefaßt in dem Gebet, das er seine Jünger lehrte: Und laß uns nach, was wir verschuldet, wie auch wir hiermit nachlassen denen, die sich uns verschuldet (Mt 6,12). Das sind die Worte eines Vertrags zwischen Himmel und Erde. Wann irgend die Theologenrede Sinn macht, Jesus sei Gottes Sohn, er sei versöhnt mit Gott gewesen, so zeigt es sich in diesem Gebet, in dieser neuen Gnade einer umfassenden Vergebung an alle und für alles. Das ist die Botschaft, mit der Jesus historisch auf die Menschen seiner Zeit zuging, um ihnen Gott als seinen und unseren Vater zu bringen. Das Johannes-Evangelium aber greift bezeichnenderweise nicht auf diese historische Seite des Vermächtnisses Jesu von der Vergebung zurück. Es findet offenbar, daß alles, was sich mit der Person des Nazareners verbinde, noch einmal durchlitten und durchlebt werden müsse in der Erfahrung von Golgota. Was hat Jesus uns angesichts der Ereignisse des Karfreitags mit seiner Versöhnungsbotschaft noch zu sagen? Die schreckliche Infragestellung seines Todes verlangt eine neue Antwort. Vergebung – ist das nicht am Ende doch nur eine Illusion unter Menschen, die sich nach wie vor wechselseitig zerfetzen und töten, immer mit Rechtstiteln natürlich, immer mit Landkarten in ihren Händen, immer mit Paragraphen in 322

ihrem Munde, immer mit Schwertern in ihren Fäusten? Geht denn, über den Abgrund der stets gerechtfertigten Zerstörung hinwegführend, tatsächlich noch ein wirksames Wort von dem Mann aus Nazaret aus, das man glauben könnte? Die Überzeugung des ganzen Johannes-Evangeliums ist es, daß man Jesus ganz neu, so wie er selber historisch nie geredet hat, aber wie er zu den Menschen heute reden würde, zum Sprechen bringen müßte, um lebendig zu halten, was von ihm her gemeint war. Aber man kann das Gemeinte nicht in fertigen Begriffen erörtern und in deduzierenden Folgerungen zurechtlegen. Statt dessen entwerfen sich im Vierten Evangelium wie von selber Bilder zwischen Trauer und Trost, so wie jemand, der durch einen viel zu frühen Tod sein Liebstes verloren hat, von dem Geliebten träumt, sich seiner erinnernd; was er da sieht, was sich da innerlich ihm mitteilt, ist nicht fern und fremd dem gegenüber, was der andere vormals war, es vertieft nur sein Wesen, es zeigt, wer er wirklich war, das heißt für alle Zeiten ist. So meint es Johannes, wenn er das Bild von einer Erscheinung Jesu nach seinem Tode an seine Jünger entwirft. Speziell die katholische Kirche hat aus dieser kleinen Szene im 20. Kapitel des Johannes-Evangeliums gleich zweierlei abgeleitet, indem sie, wie üblich, den Inhalt dieser Vision historisierte und dann dogmatisierte. Zum einen: Es gibt die Vergebung als ein Geschenk des Osterabends, indem einer bestimmten Schicht der Römischen Kirche, den Priestern, den beamteten Apostelnachfolgern, die Gnade wurde, Menschen Sünden erlassen zu können: – die Vergebung der Sünden als Sakrament der Buße. Nicht der historische Jesus hat es eingesetzt, wie jeder in dieser Geschichte sehen kann, wohl aber «der Auferstandene», und mit dem Sakrament der Buße hat er nach katholischer Dogmatik auch zugleich die Priesterweihe, die vermeintlich schon mit der «Einsetzung» der «Eucharistie» im Abendmahlssaal erfolgte, inhaltlich mit einer erweiterten Vollmacht ausgestattet. Da ist die Vergebung gebunden an einen behördlichen Schiedsspruch. Da wird die Vergebung unter den Menschen, weil sie offenbar etwas persönlich recht Schwieriges darstellt, in ein reines Ritual gegossen, das allein schon dadurch wirken soll, daß es sich aufführt. Demgemäß kann der Papst, als der höchste aller Priester, wenn er am Ostersonntag auf dem Petersplatz den Segen «urbi et orbi», für die Stadt Rom und den Erdkreis, erteilt, auch einen Ablaß verkünden, der die zeitlichen Sündenstrafen der Menschen im Namen Gottes vergibt. Die Menschen können mithin der Vergebung teilhaftig werden, indem sie teilhaben an der so verfaßten Papst-Kirche. Alles Persönliche vermittelt sich da durch das Beamtete2. 323

Doch das ist noch nicht alles. Die zweite Folgerung, die man aus diesen Textstellen gezogen hat, lautet: Indem Jesus die Gabe der Vergebung den Menschen geschenkt hat, stehen sie in der Pflicht, einander zu vergeben. Aus der institutionellen Verrechtlichung der «Vergebungsgnade» im Sakrament ergibt sich die Vermoralisierung der Vergebung als Handlung und Haltung. Beides steht bis heute im Raum der Römischen Kirche wie ein fester, granitener Block da, auf welchen der Herr selber just diese Kirche als die seine habe «bauen» wollen (Mt 16,18.19). Tatsächlich kann kein Denken über das Geheimnis der Vergebung an diesem Osterabend irreführender sein, denn es macht die Menschen abhängig von einer klerikalen Administration, und das ist das gerade Gegenteil von Versöhnung: es ist Gehorsamsverwaltung, es ist ein pures Ausbeuten von Angst, es ist im Grunde ein formalistischer Leerlauf. Natürlich, jemand, der mit seiner Schuld von einem anderen, einem Priester zumal, gesagt bekommt: «Gott hat dir vergeben», mag Luft schöpfen und sich wie befreit fühlen. Aber gilt ein solches Atemholen in dieser Äußerlichkeit über den Augenblick hinaus? Kehren nicht am Ende alle Schuldgefühle unaufgelöst zurück, nur jetzt noch viel stärker? Ja, es kann sogar zum Vorwurf geraten, nicht wahrhaft an die Vergebung Gottes im Bußsakrament zu glauben. Wieviel an Skrupulantismus und an Zwangsneurose verdankt sich der seelenlosen Vergebungsmaschinerie in den Beichtstühlen der Römischen Kirche! Für das Erleben ist oft genug die «Lossprechung» nichts weiter als eine sakramental verfeierlichte Floskel, gehandhabt im Abarbeiten der Schlangen von «Beichtigern» vor dem Gitter des Priesters mit der Stola im «Beichtstuhl»3. Die Kehrseite der scheinbaren Erleichterung, den existentiellen persönlichen Vorgang der Vergebung durch eine rituelle Mechanik zu ersetzen ist deshalb eine Erschwerung in allem; sie besteht darin, aus der Vergebung eine moralische Forderung zu machen. Wie viele leiden seit Kindertagen darunter, daß man ihnen beigebracht hat: «Du bist nur ein guter Mensch, wenn du vergibst!» Sie aber konnten oft gar nicht vergeben. Wie viele Menschen werden depressiv, weil sie den nur allzu oft berechtigten Ärger herunterschlucken müssen unter der Strenge dieses Verdikts: «Du mußt aber vergeben!» Und schließlich wenden sie alle Aggression gegen ihr Ich und beginnen sich selber zu hassen an Stelle des anderen. Rechtlosigkeit in diesem moralisch erzwungenen Sinn ist eine furchtbare Hypothek, die bis zur Zerstörung allen Lebensglücks gehen kann, bis zur Unfähigkeit, überhaupt noch selber zu denken, zu fühlen, zu handeln. Eine Moral der Verge324

bung ist ein Widerspruch in sich. Moral hängt an Rechten und diese wiederum an einklagbaren Rechtstiteln, und diese sind im Prinzip das Gegenteil der Vergebung. Ein moralisches Postulat: «Du mußt vergeben!» konterkariert sich selber. Umgekehrt: Vergebung ist die Grundlage allen Lebens, und so ist sie das Ende von Moral und Recht. Von daher müssen wir die Geschichte von der Erscheinung Jesu vor den Jüngern noch einmal von vorn lesen, als eine Kette schwebender Bilder, als eine Vision, die auf die Frage antworten will, wie man einen Menschen dahin führen kann, überhaupt vergeben zu können, lebt er doch selber in aller Regel gerade wie hier die Jünger am Abend an jenem Tage, dem ersten der Woche: in Angst4. Schon die Zeitbestimmungen haben bei Johannes, gerade wenn sie so sperrig ausgedrückt werden wie hier, einen gewissen Hinweischarakter. Da geht ein Tag, ein Lebensabschnitt, sagen wir: eine ganze Lebenseinstellung im Dämmerlicht von Trauer, Schwermut und Verzweiflung zu Ende, und es soll etwas beginnen, das einem Aufbruch gleichkommt, der auf Dauer über den Abgrund hinweg trägt und eine wirkliche Perspektive eröffnet. Gemeint ist nicht einfach eine Terminsetzung, gemeint ist ein Umbruch in der ganzen Form zu existieren. Doch die unbedingte Voraussetzung dafür liegt einzig in der Möglichkeit, Menschen, die sich vor Angst in sich selber verschlossen haben, nahezukommen. Die Fähigkeit zur Vergebung kann überhaupt erst wirklich wachsen, wenn es gelingt, in das Herz von Menschen Zugang zu finden, die sich vor allen anderen hinter verriegelte Türen zurückgezogen haben. Das Gefühl von Fremdheit und Feindseligkeit erlaubt nicht die Herzensweite, daß einer dem anderen vergeben könnte. Inmitten der Angst erscheint es immer noch als das Beste, sich zu verkriechen wie manche Tiere, die gelernt haben, nur noch bei Nacht, ganz verhuscht, aus ihren Höhlen zum Vorschein zu kommen oder aber von vornherein unter den Erdboden zu flüchten, damit kein Beutegreifer sie finden kann; doch selbst dort, selbst in den Verstecken unter der Erde, werden wiederum Feinde ihnen nachspüren. In diesem Gefälle der Angst, in den Kammern der Abgeschlossenheit, ist so etwas wie Vergebung ganz unmöglich. Die erste Frage lautet daher: Wie findet man Zugang zu Menschen in Angst? Wie kommt man zu ihnen durch versperrte Türen? Wie öffnet man ihre Herzen? Sprechen wir einmal, statt von «Vergebung», von all dem, was Menschen guttut, was imstande wäre, sie zu heilen, so lautet das deutsche Fremdwort in unseren Tagen dafür Psychotherapie. Der Begriff stammt aus dem Griechischen, aber er mutet mittlerweile viel deutscher an als das Wort Vergebung. Wer «Vergebung» sagt, meint in den Assoziationen der 325

meisten Moral, er redet für ihre Ohren Kirchendeutsch, oder er benutzt eine abgestandene Gouvernantensprache. Aber wollte man sprechen von einem «heilenden Umgang miteinander» oder von «einem Wohlwollen, das den anderen erreicht», so bewegte man sich auf der Grenze dessen, was sich ohne große Mißverständnisse vermitteln läßt. In der Psychotherapie jedenfalls ist dies das Allererste und zumeist schon das Allerschwierigste, nicht zu verurteilen, sondern, so gut es geht, zu akzeptieren und zu verstehen. Akzeptieren und Verständnis ersetzen oder umschreiben das Wort Vergebung. Viele Leute lehnen es heute kategorisch ab, zu jemandem zu gehen, der ihnen eigentlich helfen könnte, der sie sogar, wenn das Wort nicht zu groß gewählt ist, heilen könnte, und der Hauptgrund ist: sie haben Angst, – Angst, sie könnten blamiert dastehen, als schwächlich gelten, als Versager denunziert werden, sie müßten sich schämen für das, was sie sind. Niemand tut das gern. Und selbst wenn er sich überwände und einen Therapeuten aufsuchte, begönne sogleich die Furcht, im Stich gelassen zu werden. Am Ende ist man nur wieder der Betrogene. Wie kann man Menschen vertrauen, wenn man sie sieht, so wie sie sind? Man leidet an sich selber, doch fast immer in dem Gefühl, daß die anderen all den Schmerz in die eigene Seele gepumpt haben. Wie findet man Zugang zu solcherweise verschüchterten, scheu gewordenen, sehr empfindsamen, stets auf der Flucht befindlichen Menschen? Das «Kunststück», von dem die Ostergeschichte des Johannes-Evangeliums erzählt, besteht, bildlich gesprochen, darin, durch verschlossene Türen zu gehen; allein dieser Vorgang kann Jahre in Anspruch nehmen, ein ganz langsames Locken, ein vorsichtiges Gehen mit möglichst ruhigen Bewegungen. Eine Frau erzählte vor Jahren einmal von einem Traum: Es war ihr, wie wenn jemand hinter ihr her komme, und immer, wenn sie stehenblieb, zu schwach noch, den Weg fortzusetzen, habe auch der andere gewartet oder er sei sogar ein Stück weggegangen, und nur deshalb habe sie seine Gegenwart dulden können; wenn er nähergekommen wäre, wäre sie weggelaufen oder hätte sie sich einen Berghang hinuntergestürzt; doch nach und nach habe der Abstand sich verringert. – Sie wollte mit ihrem Traum sagen: «Ich fange an zu glauben, es ließen sich wirklich Gespräche führen, in denen wir einander gleichzeitig wären.» So etwas Ähnliches muß das sein: durch verriegelte Türen zu kommen und in die Mitte zu treten. Bei der Übersetzung weiß man an dieser Stelle nicht recht, was man sagen soll: «Er trat in ihre Mitte» müßte es grammatikalisch richtig heißen, aber so steht es nicht da; «er trat in ihren Kreis» 326

behelfen sich deshalb die meisten Übersetzer, aber das ist dem Wort nach falsch. «Er trat in die Mitte» – genau das steht da, und wir sollten denken, genau das sei auch gemeint: Er trat nicht einfach räumlich in die Gruppe der Jünger, sondern indem er durch die verschlossenen Türen ging, führte er sie zur Mitte. Zur Mitte zu gelangen bedeutet in diesem Sinne nichts anderes, als daß wir all die unwesentlichen Fragen an unser Leben nach und nach verlieren: Was wollen die anderen? was machen die anderen? was haben die anderen mit mir gemacht? was haben sie aus mir gemacht? – eine solche Art von Überlegungen führt am Ende immer wieder zu dem Gefühl, das Opfer zu sein, also der Unterlegene, und nicht weiterzukönnen. Aber die Fragen: Wer bin ich selber? was liegt bei mir? wo bin ich mit meinem Leben hingekommen? was verbleibt da an Chancen? – das sind Gedanken von der Art, die «in die Mitte», zu dem Kern der eigenen Person führen. Vielleicht war es mit den verriegelten Türen ja so falsch gar nicht, – man wollte jedenfalls die anderen im eigenen Gesichtsfeld ausblenden, man wollte sie nicht weiter beachten. Darin liegt etwas Richtiges, es sollte aber nicht länger in Angst geschehen, sondern in bewußter Entscheidung. Man sollte sich konzentrieren auf sich selber. Das hieße: Mitte zu finden. Es bedeutete, nicht ständig unter den Augen der Beutegreifer die Welt zu betrachten und die eigene Person stets als zu klein und zu schwach wahrzunehmen, sondern aus der eigenen Perspektive sein Leben noch einmal anzuschauen. Du selber stehst im Mittelpunkt deiner Welt, – das meint: «Er trat in die Mitte». Es ist soviel wie die Aufforderung: «Tritt in das Zentrum deines Daseins, besieh dein Leben vom eigenen Kern her, werde dir bewußt, was dich trägt, wer du bist, welche Möglichkeiten in dir liegen, welche Sehnsüchte – wie viele Wünsche, die du bisher niemals hast leben dürfen.» Einzig von daher versteht man, warum der nächste Satz Jesu ein Angebot ist, ein Gruß: Friede euch! – Wenn wir sagen «Friede», beinhaltet es in unseren Tagen fast nur noch das Gegenteil von Krieg oder das Ergebnis einer gerade gewonnenen Auseinandersetzung; Friede ist für uns zunächst ein politischer Begriff. Hebräisch, aramäisch, arabisch indessen heißt «schalom» oder «salam» soviel wie «ganz sein, heil werden, im inneren Lot sein», es drückt die Fähigkeit aus, durch eigene Ausgeglichenheit Harmonie auch nach außen schenken zu können. Normalerweise ist die Lesart des Textes in diesen Worten denkbar äußerlich: Jesus begrüßt seine Jünger, so wie man auf der Straße nach Jerusalem auch heute noch sagen wird «schalom alechäm» oder auf arabisch «salam aleikum»; nach der Begrüßung muß Jesus sich vorstellen; und das tut er denn auch, indem er seine Wundmale zeigt, ganz wie in unseren 327

Tagen jemand seinen Personalausweis vorlegen würde, um seine Identität zu beglaubigen; sagen muß und möchte er: «Ich bin es wirklich, ich bin kein Gespenst»; versichert werden soll, daß der Auferstandene derselbe ist wie der Gekreuzigte. Und als die Jünger das sehen, freuen sie sich; noch einmal begrüßt Jesus sie mit dem üblichen Friedenswunsch, und dann kommt er zu dem, was er verkünden will: Wie der Vater mich gesandt hat, so auch schicke ich euch – zur Vergebung. Soweit die äußere Erklärung dieser wichtigen Erzählung; sie ist nicht ganz falsch, und doch wird man dabei nicht stehenbleiben können. Vielmehr sollte man betonen, das Angebot «Friede euch!» überwölbe eine so ungeheuere, eine so abgründige Spannung, wie wenn da zwei gänzlich unvereinbare Größen zueinandergefügt würden. Erstaunt müßte man als erstes vorlesen: «Friede euch!» Denn dieser «Friede» gilt Leuten, die vor lauter Angst nichts weiter sehen, als daß Menschen immer bereit sein werden, einander totzuschlagen, eine Welt von Kain und Abel, von Henkern und Opfern, eine endlose Blutmühle; in diesen Wahnwitz der Geschichte hinein fällt dieses unglaubliche Wort: Friede euch! Wenn wir schon hervorheben, alles, was Jesus hier tat, sei ein Sinnbild für das, was in uns und mit uns geschehen könnte, so sollten wir genauso auch das Zeigen der Wunden nicht als ein bloßes Erkennungsmerkmal lesen, sondern als eine Erlaubnis, als eine Notwendigkeit geradezu, von all den Wunden zu sprechen, die man uns zugefügt hat: von den Wunden an unseren Händen, – allein das schon kann ein halbes Leben dauern! Wie oft hat man uns auf die Finger geschlagen, wenn sie sich ausstreckten nach irgend etwas, das schön war, wenn sie etwas umgreifen wollten, um damit zu spielen, oder wenn sie sich daran festhalten wollten, weil sie es so dringlich benötigten wie eine Rettungsplanke! Stets hat man uns das verboten, immer nahm man uns das Leben aus der Hand, ständig wußten andere schon im voraus, wie wir zu «behandeln» waren, auf daß wir die eigenen Hände nicht gebrauchten. Man kann die Hände schon von Kindern durchbohren und festnageln wie am Kreuz, bis daß sie nichts weiter mehr sind als fixierte Opfer fremder Verfügbarkeit! Da ist nichts mehr zuhanden, sondern alles abhanden gekommen, man hat aufgehört, in irgendeiner Weise noch eigenhändig und eigenständig zu leben. All diese Zusammenhänge muß man «zeigen» dürfen, muß man durchgehen dürfen, wenn irgend Frieden und Vergebung möglich sein sollen. Da müßten Frauen erzählen dürfen von all dem, was man mit ihnen seit Kindertagen gemacht hat und wie es dann in ihrer Ehe weiterging. Männer müßten berichten dürfen, wie das war, auf dem Pausenhof, in der Schulklasse, im Betrieb 328

später, wie man ständig dafür etwas draufbekam, sich im Leben selber etwas herausnehmen zu wollen. Man ist ein guter Mensch, wenn man opfert, solange man verzichtet, wofern man weggibt, – das hat man gelernt; doch wenn man zwei Hände behält zum Zugreifen, zum Zärtlichsein, zum Streicheln, zum Umarmen, dann steht darauf die Strafe der «Kreuzigung». – Nur wenn man all das Verwundete artikulieren darf, wird man sich selber erkennen sowie den, der es einem antat, und sogar den, dem man selber solches zufügte, – alles zugleich. Die moralische Variante indessen: «Du mußt vergeben!» bewirkt, wie gesagt, oft nichts weiter als zusätzliche Schuldgefühle. Wie oft muß man deshalb Menschen unter den Depressionen selbst ihres Vergebungswillens erst einmal dahin führen, daß sie lernen, sich wehren zu dürfen, sich verteidigen zu können! All die Tragödien der Verletzungen von damals müssen sich noch einmal darstellen und buchstäblich wiederholen: Wie würde man heute reden mit dem eigenen Vater, mit der eigenen Mutter, mit dem Ehemann von damals, mit der Schwester, mit dem Bruder, mit dem Lehrer von einst? Wie kann man all die Szenen, die als Verwundungen im Erleben übriggeblieben sind, noch einmal so durchgehen, daß Worte zu finden wären, die angemessen und passend neue Lösungen eröffneten? Damals als Kind konnte man in aller Regel solche Worte schon deshalb nicht finden, weil man ganz einfach zu schwach war; hätte man wirklich Widerworte zu sagen vermocht, so wären sie so explosionsartig gewesen, daß man sich mit ihnen selbst ins Unrecht gesetzt hätte; und so ist es in aller Folgezeit geblieben. Wollte man heute so reden wie der Vater damals, als er betrunken nach Hause kam, so würde in der Gegenwart niemand einen solchen Ausbruch der Gefühle akzeptieren. Würde eine Frau heute einfach schildern, was ihr seit einer Mißbrauchsszene in Kindertagen auf dem Herzen liegt, so würde ihr Mann abwiegeln, sie sei nichts weiter als hysterisch, er könne es sich nicht länger anhören. An welchen Orten kann man üben, dem Gefühl entsprechend das mitzuteilen, was all die Zeit über bisher unaussprechbar war? Erst dann, nach und nach, wenn man die ursprünglichen Gefühle sich wieder bewußtmacht, wird man Worte finden, die in das Leben heute passen. Da geht es nicht mehr um «Vergeben», sondern um ein heilwerdendes Erinnern, Durcharbeiten und Vergegenwärtigen, – es geht nicht mehr um das Aufrechnen uralter, nie heilender Wunden, sondern um ein Überreifen und Überlieben uralter schmerzhafter langwieriger Verletzungen. «Und er hat die Seite ihnen gezeigt», – von all den Herzensverwundungen gilt das, und es ist derselbe Vorgang wie bei den durchbohrten Hän329

den. All die Verletzungen enttäuschter Liebe, all die zerplatzten Träume der Hoffnung, endlich könnte das Leben einmal anders werden an der Seite dieses einen besonderen Menschen, – all diese zögernd tastenden Versuche wurden nur hintertrieben, verlacht, für unsinnig erklärt. All diese Wunden aber muß und darf man jetzt «zeigen», sich bewußtmachen, bearbeiten; vorher kann von «Vergebung» keine Rede sein. Das alles sehen die Jünger, und sie freuen sich, sie erkennen. Wechselseitig ist das so: Je mehr wir selber verstehen, wie wir geworden sind, desto besser werden wir im gleichen den anderen verstehen, der mit uns gelebt hat. Beides ist austauschbar. Darum geschieht es wohl, daß als nächstes der Wunsch sich noch einmal wiederholt und nun wahrhaftig gilt: Friede euch. Dieses «euch» wird jetzt zu einem neuen Anknüpfungs- und Ausgangspunkt. Die Wirklichkeit des «auferstandenen» Jesus besteht wesentlich darin, daß seine Botschaft von der Vergebung auch durch den Karfreitag nicht totzumachen ist für Menschen, die wissen, wie er auf Erden es lehrte: Wir leben allesamt nur von Vergebung. «Wie der Vater mich gesandt hat, so auch ich schicke euch». Auch die Art beider «Sendungen» ist jetzt ein und dieselbe. Sicher: Jesus ist der besonders von Gott Gesandte im Johannes-Evangelium, und wir sind diejenigen, die in seiner Sendung stehen; Jesus hat uns gewissermaßen hineingenommen in seine Versöhnung mit Gott, die er uns erwirkt hat; im Sinne der johanneischen Theologie ist es absolut richtig, so zu sprechen; doch es liegt in den Worten «so auch schicke ich euch» das Moment einer Gleichzeitigkeit und Gleichartigkeit, das unglaublich ist. Da sollen Menschen noch einmal genauso ursprünglich von Gott her leben, wie Jesus selber es tat; dieses «auch» markiert keinen Abstand, allenfalls eine Parallele, eine vektorielle Gleichheit, etwas, das als Dynamik sich in völlig identischer Form weiterträgt. Auf seiten Jesu ist die Grundlage klar. Er konnte nicht beginnen bei den Menschen; er kam wie von einem anderen Ufer zu uns; er betrat diese Welt von Haß, Unfrieden, Schmerz, Leid, Revanche, Rachgier und Zerstörung wie von einem fremden Stern aus; er wollte die Menschen von den Alpträumen ihres Wahnsinns einzig von Gott her heilen und besänftigen. Und er hatte recht. Kein Mensch kann mit logischen Argumenten beweisen, daß es Gott wirklich gibt, den »Vater», von dem das Neue Testament selber sagt, er wohne in unzugänglichem Lichte (1 Tim 6,16). Doch schaut man auf die Person des Mannes aus Nazaret, so möchte man ihm unbedingt glauben, daß Gott unser Vater ist. Denn diese Zuversicht macht uns allererst zu Menschen, sie läßt uns so sein, wie wir eigentlich immer schon sein sollten. 330

Was aber bedeutet dann der an einen Vers im Matthäus-Evangelium (Mt 18,18) gemahnende Satz: «Wenn ihr welchen nachlaßt die Sünden, so sind sie ihnen nachgelassen; wenn ihr sie welchen behaltet, bleiben sie behalten»? In der katholischen Dogmatik wird dieser Text so gelesen, daß das, was ein Priester der Kirche jemandem im «Bußsakrament» vergibt, bei Gott vergeben ist; die Priester haben freilich auch die Macht, nicht zu vergeben, und dann bleibt die Sünde bei Gott bestehen. In dieser Auslegung liegt die Vergebungs-Gewalt, wie gesagt, in den Händen besonderer Amtsdiener5. Ursprünglich gemeint aber war in diesen Worten ganz sicher, wie die Stelle bei Matthäus uns zeigt, die Fähigkeit aller Menschen, einander alles an Schuld zu verzeihen, was sie sonst voneinander trennen würde. Insofern ist alles viel einfacher zu verstehen als im Rahmen einer kirchlich-sakramentalen Ämterhierarchie. Wenn ihr nachlaßt die Sünden, – das heißt: «Ihr storniert die alten Rechnungen, ihr werft sie einfach in den Ofen, ihr geht neu aufeinander zu; und dann existiert das alles nicht mehr, was einmal war; dann ist sogar der alte Schmerz wie verschwunden und ersetzt durch Reifung, Weisheit, Güte und Menschlichkeit. Es gibt dann nichts mehr, was ihr einander vorzuwerfen hättet, und das Verständnis, das ihr eurer eigenen Person entgegenbringt, ist völlig gleich dem, mit dem ihr auch das Leid und den Schmerz des anderen versteht. Wenn ihr es lernt, euch selbst zu vergeben, werdet ihr rasch bemerken, daß niemand einem anderen etwas Böses zufügt, außer er wäre selber sehr umdüstert und vergrämt in seiner Seele. – Aber natürlich, ihr könnt auch alles ganz anders machen. Ihr könnt sagen: Du sollst sie (die Sünden) behalten!» Das ist wirklich eine alternative Möglichkeit. Fast muß man es als eine Drohung lesen, wenn Jesus an dieser Stelle hinzufügt: dann bleiben sie behalten. «Behalten» werden sie ja zunächst gar nicht für den anderen, sondern für uns selber! «Du schleppst», heißt das, «wenn du nicht vergibst, mit immer noch demselben Karren die alten Steine aus dem ehemaligen Steinbruch deiner Sklavenarbeit hinter dir her. Das kannst du immer so weitermachen, aber es führt zu nichts.» Das ist die Entscheidung am Ende, um die es wirklich geht: «Vergeben» ist eine Form freier Rede in reifender Erkenntnis, in wachsender Einsicht und in der Kraft eines stärker gewordenen, erfüllteren Lebens. Dann bleibt die Frage, was wir mit der Schuld anfangen, die wir selber begangen haben und die wir definitiv nicht wiedergutmachen können. Da haben wir etwas getan – aus was für im nachhinein verständlichen Gründen auch immer –, das eines anderen Menschen Glück ein für allemal zer331

stört hat, das ihn vielleicht sogar das Leben gekostet hat. Kann es dann ein Trost sein, wenn wir in dieser «nachösterlichen» Vision gezeigt bekommen, daß das von uns Getötete bei Gott niemals «tot» sein kann? Im Grunde besteht darin merkwürdigerweise der einzige Trost. So viele «Rechnungen» werden in diesem Leben nicht mehr zu begleichen sein; so vielerlei Schuld steht da und ist irreparabel. Das einzige, was den Schmerz über das eigene Versagen einigermaßen zu mildern vermag, ist diese Zusage nach dem «Karfreitag»: daß der andere, den wir zum Tode verurteilt haben und zu Tode gemartert haben, auf uns zutritt als ein bei Gott Lebender, als ein Verklärter. Wenn wir sehen, daß der andere mit all dem, was ihm zugefügt wurde, wenn schon nicht in dieser Welt, so doch bei Gott lebt, ja, daß seine Wunden und Verletzungen ihn nur noch «schöner» und wertvoller gemacht haben, als er ohnedies war, so liegt darin zweifellos ein fast unerläßliches Moment der Aussöhnung mit der begangenen Schuld. Die größte Glückseligkeit freilich wäre es, wenn wir in diesem Leben schon sähen, wie ein anderer Mensch aus all der Schuld, die wir an ihm begangen haben, «verklärt» hervorginge – reicher, reifer und heiler, als er es sonst geworden wäre. Keinerlei Rechtfertigung für unser Tun läge in einer solchen Möglichkeit, aber eine unerhörte Erleichterung ergäbe sich daraus. Schließlich besteht noch die Hoffnung, daß andere Menschen für uns eintreten werden, indem sie die Folgen unserer eigenen Schuld an unserem Nächsten mit ihrem Wohlwollen und mit ihrer Güte auffangen und wiedergutmachen. Welch eine Hoffnung auch bliebe uns als die in die Zusammengehörigkeit aller Menschen? Sie wird uns bestimmen, zumindest stellvertretend an anderen die Schuld abzutragen, die wir an dem eigentlich Betroffenen von uns her nicht mehr zum Guten wenden können. Am Ende zerbricht aller Anspruch aneinander, und ein Mitleid mit allem und allen behält das letzte Wort über unser aller Schuld. Es gab einmal einen jüdischen Rabbi, der auf besondere Weise Beichte zu hören pflegte6. Er war berühmt für seine Art, von Vergebung zu sprechen, und die Menschen kamen von weit her zu ihm. Eines Tages, schwer gebeugt und gedrückt von der Last seiner Schuld, fand jemand den Weg zu des Rabbis Haus, er klopfte an, und es ward ihm bedeutet, der Rabbi sei nicht zu sprechen, er setze gerade Beichte. Der Mann aber im Warteraum hörte von drinnen Joho! und Gelächter! Schließlich vorgelassen, fragte er den Rabbi, was denn da los gewesen sei, und der Rabbi erklärte ihm: «Nun, ich hörte Beichte.» – «Aber wie denn? Joho! und Gelächter! war doch zu hören?» – «Ja,» sagte lachend der Rabbi, «siehst du, so geht es: Die Leute kom332

men hierher und weinen und klagen und sind ganz zerknirscht unter ihren Sünden. Doch solange sie so tun, hängen sie noch an ihren Lasten und Lastern und werden sie nicht los; sie winden sich in der Wollust der Reue und der Trauer über sich selber, ja, sie akzeptieren sich desto eher, je mehr an Schuldgefühlen sie auf ihr Haupt laden. Doch eben deshalb verbleiben sie in ihren Fehlern und kommen von ihnen nicht los. Wenn sie aber anfangen, über sich nachzudenken, warum sie so waren, und beginnen, sich selbst zu verstehen, wenn sie also begreifen, wie überflüssig es wäre, so fortzufahren, ja, wenn sie sich plötzlich fragen: ‹Wie konnte ich denn damals so sein?›, dann biegen sie sich vor Lachen und schlagen sich auf die Schenkel vor Vergnügen; und dann, mein Sohn, haben sie es hinter sich.»

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Joh 20,24-31: Thomas oder: Der lange Weg vom Trauern zum Vertrauen 24Thomas

aber, einer der Zwölf, der «Zwilling» genannte (11,36; 14,5; 21,2), war nicht bei ihnen, als Jesus gekommen war. 25Sagten da zu ihm die anderen Jünger: Gesehen haben wir den Herrn. Der aber hat ihnen gesagt: Wenn ich nicht sehe: in seinen Händen das Mal der Nägel, und lege (nicht) meinen Finger in das Mal der Nägel und lege (nicht sogar) meine eigene Hand in seine Seite (19,34), nein, nicht werde ich vertrauen. 26Und nach acht Tagen – abermals waren drinnen seine Jünger (versammelt), und (diesmal) auch Thomas bei ihnen – kommt Jesus bei verriegelten Türen; und er trat in die Mitte und sprach: Friede euch! 27Dann sagt er zu Thomas: Führe deinen Finger hierher und sieh: meine Hände! Und führe deine Hand und leg (sie) in meine Seite. Und sei nicht verzweifelt, sondern vertrauend. 28Geantwortet hat Thomas, er hat ihm gesagt: Mein Herr und mein Gott (1,1). 29Sagt ihm Jesus: Weil du mich gesehen, bist du vertrauend geworden. Glücklich, die nicht gesehen und doch zum Vertrauen gelangen (1 Petr 1,8; Hebr 11,1). 30Noch viele andere Zeichen hat nun Jesus wohl vor [seinen] Jüngern getan, die nicht aufgeschrieben sind in diesem Buche (21,24.25). 31Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr Vertrauen erlangt: Jesus ist der Christus (der Messias), der Sohn Gottes! Und damit ihr als Vertrauende Leben habt in der Wirklichkeit seines Wesens (1 Joh 5,13).

Für das Johannes-Evangelium bleibt es bis zuletzt die Frage, wie sich das Leben Jesu uns Heutigen, den Nachgeborenen, vermitteln läßt als etwas, das Trauer, Zerstörung und Tod nicht nur überdauert, sondern hinwegtröstet, überliebt und überreift. Deswegen schildert es in immer neuen Brechungen Erfahrungen, welche die Jünger mit dem «Auferstandenen» machen konnten, und setzt dazu die Leser in stete Korrespondenz, fragend jeweils, wo sie selbst sich befinden. Die Gestalt des Thomas, einer der Zwölf, steht dabei als ein Prototyp möglicher Zweifel und Verzweiflung. Solange Menschen über ihr Los nachdenken, spüren sie an den Wänden ihrer Hoffnungen immer wieder die gleiche Infragestellung ihrer Existenz emporsteigen. Was sie sich an Zielen auch vornehmen, es bleibt zerbrechlich und brüchig. Was sie mit ihrem besten Willen auch versuchen, es erweist sich als vergänglich und nichtig. Irgendwann über allem, was Menschen planen, hoffen, ersehnen und tun, schwebt als einzig gewisse 334

Tatsache der Tod. Seitdem Menschen sich der Kontingenz ihres Lebens auf Erden bewußt werden, haben sie gegen die absolute Nichtigkeit und Zufälligkeit ihres Daseins mit reifender Zuversicht ein Symbol zu setzen gesucht, einen Traum, einen Entwurf, unbeweisbar, weil weder durch Tatsachen noch durch Argumente herbeizuzwingen, aber doch fühlbar verdichtet: Auferstehung! Wenn das wäre, fügte sich ein sonst vom Einsturz bedrohtes gotisches Gewölbe in einem einzigen rettenden Schlußstein zusammen, der alles halten und bewahren würde. Die ganze Konstruktion unseres Lebens erführe Bestand und Zusammenhalt. So alt diese Zuversicht und dieses Symbol sind, so alt sind die Zweifel an seiner Berechtigung. Bereits gegen die Jenseitshoffnungen des antiken Ägyptens mit ihren großartigen beschwörenden Bildern richtet sich, ganz dem Diesseits verhaftet, das «Lied des Harfners»1: essen und trinken, im Schatten sitzen, den Salbkegel auf dem Haupt, um die sonnenverbrannte, schmerzende Haut zu pflegen, lieben und glücklichsein – das ist das Leben, ein anderes gibt es nicht, und nie noch hat jemand gesehen, daß aus dem Totenreich einer zurückgekehrt wäre … Unter dem Einfluß ägyptischer und griechischer Denkvorstellungen, setzt sich seit dem 3. vorchristlichen Jh. das gequälte Volk Abrahams immer mehr in den Glauben, Gott möge zumindest denen, die ihm, womöglich um den Preis ihres eigenen Lebens, treu gewesen sind, beistehen und wenigstens ihr Leben über den Tod hinaus in seinen Händen halten. Kaum so gesagt und gedacht, schreibt in demselben Buch, das wir die Bibel nennen, der sogenannte Prediger (Kohelet) lakonisch und schmerzhaft, fast zynisch: «Ein und der gleiche Geist ist in allem, in Mensch wie in Tier, und so fahren sie dahin unter dem gleichen Los» (Koh 3,19.20). Wieder: essen und trinken, – das ist keine Illusion (Koh 2,24; 3,22); alles andere aber ist Phantasmagorie, ist nichts als ein Traum, zu schön, um wahr zu sein. In der Neuzeit bestätigen Schlag auf Schlag Philosophen und Dichter mehr ihre Skepsis als ihre Hoffnung gegenüber dem Ende unserer rätselvollen Existenz. Ludwig Feuerbach erklärte schon um 1840 alles Hoffen für ein projektives Meinen2. Statt sich auszustrecken nach einem anderen Leben, das es nicht gebe, sollte man die Gründe befragen, die uns hier auf Erden nicht wirklich leben ließen. Karl Marx ergänzte diesen Vorschlag: Wofern Menschen an ein anderes Leben glaubten, lebten sie nicht wirklich, – Hoffnung auf Unsterblichkeit, das sei das Fiebersymptom einer in Krankheit phantasierenden, sich selbst entfremdeten Gesellschaft3. Ein Mann wie Leo Tolstoj ging noch viel weiter: Wofern Menschen glaubten, daß sie 335

mit ihrer Seele, mit ihrem Ich unsterblich seien, meinte er, blieben sie Egoisten und Egotisten4 und verlängerten eigentlich nur den Narzißmus ihrer Persönlichkeit; sie seien unfähig, sich auch nur die einfachen Tatsachen einzugestehen: das Leben, das sie umgibt, sei allemal größer als sie selbst. Schließlich kam noch Sigmund Freuds Arbeit Die Zukunft einer Illusion5 von 1927 hinzu. Man könne begreifen, warum Menschen bestimmte Wünsche haben, analysierte Freud, aber wenn man es eingesehen habe, solle man erwachsen genug sein, um sich von ihnen zu verabschieden. – Die meisten Schulkinder heute sind kaum vierzehn Jahre alt, da werden sie, nicht eigentlich mit solchen Gedanken, aber mit dem Gefühl, mit dem Geist, mit der Grundstimmung derartiger negativer «Gewißheiten» konfrontiert und davon infiziert. Die verordnete Religion hat sich gegen diese Infragestellungen im Grunde voller Angst an die Wörtlichnahme der Symbole geklammert, und bis heute findet der kirchliche Dogmatismus gerade in dieser Erzählung aus dem 20. Kapitel des Johannes-Evangeliums scheinbar seine beste Stütze. Wird da nicht durch den Zweifel des Thomas eindeutig positiv bewiesen, daß die Religion eben keine Illusion ist, sondern daß die christliche Hoffnung auf Tatsachen beruht? Zwar endet die ganze Geschichte mit der Versicherung, selig seien, die nicht sähen, die nicht «Tatsachen» feststellen müßten und doch zum Vertrauen gelangten; aber wenn wir zugegeben schon in der Situation sind, nicht zu «sehen», wie wohl dann uns, daß es Leute gab, die bestimmte Tatsachen durch eigenes Erleben glaubwürdig zu bezeugen vermochten und vermögen! Eben die Geschichte des Thomas muß unter solchen Voraussetzungen wie eine Beweisaufnahme gelesen werden. Da kommt Jesus gegen allen Zweifel und erfüllt dem Zweifelnden die Forderung, die er als Bedingung seines Glaubens formuliert: handgreiflich vor Augen geführt zu bekommen, was Glaubensinhalt sei: – leibhaftig, kompakt, fühlbar, erklärbar, objektivierbar. Es nutzt nichts, wenn die Exegeten gegenüber dem kirchlich verordneten Dogmatismus an Stellen wie diesen mehr oder minder stirnrunzelnd und mit dem Kopf hin und her wiegend konstatieren, daß die Tendenz zur Materialisierung des Osterglaubens auf dem Boden des Neuen Testaments spätestens in der zweiten, dritten Generation nach dem Tode Jesu offenbar bereits kräftig zugenommen habe; das Bild werde historisiert, das Zeichen werde zur dinglichen Gewißheit erhoben, die Auferstehung Christi, ursprünglich gebunden an Visionen, materialisiere sich zuerst im leeren Grab, und dann würden auch die Erscheinungen des Auferstandenen konkret und massiv umgestaltet. 336

Lukas zum Beispiel kann erzählen, daß Jesus komme, sich zu den Jüngern an den Tisch setze und Honig und Fisch mit ihnen esse (Lk 24,41-43). Muß man da glauben, daß der «Auferstandene» genauso gegessen habe, wie unsereins auch heute noch ißt, solange wir auf Erden weilen? Soll das der Inhalt dieses Textes sein? Johannes macht es an dieser Stelle nicht viel anders, wenn er versichert, Thomas habe buchstäblich ertastet, erfühlt und sinnlich begriffen, was zu glauben sein Verlangen gewesen sei. Glauben erscheint da als ein «Festhalten» von Aussagen, deren Ausgangspunkt die «Feststellung» von Tatsachen bildet. Wenn es so steht, haben wir den Glauben vermeintlich auf sehr harte Fakten gesetzt, auf derart unwiderlegbare historische Zeugnisse, daß wir am Ende den Worten Jesu nur zustimmen können; fortan erscheint es als die Pflicht aller Christgläubigen, gestützt auf derlei «Glaubensbeweise» nun aber auch wirklich endlich gläubig zu sein. Nichts zu «sehen» gibt es da, aber zu gehorchen. – Zweifellos finden sich solch gefährliche Ansätze zu einem historisierenden Dogmatismus bereits in dieser kleinen Erzählung, die sich damit indessen heute nicht besser verständlich macht, sondern sich mit den Denkvoraussetzungen der antiken, speziell griechisch geprägten Zeit, in der sie entstanden ist, wie von selbst aufzulösen droht. Sie begründet nichts; wir erkennen vielmehr und allzu deutlich, woher sie selber begründet wurde; alles scheint da obsolet und unwiederbringlich vergangen. Aber vielleicht gelingt es uns dennoch, diesen Text rückzuübersetzen, indem wir ihn nicht nach außen, in die Historie, ziehen, sondern indem wir ihn symbolisch stehenlassen und ihn schrittweise noch einmal von vorn miteinander durchgehen als die Geschichte eines Mannes, der nicht glauben will, was andere ihm sagen, nur weil sie es ihm vorgeben, sondern der unbedingt selber «sehen» möchte. Doch was er dann zu Gesicht bekommt, kann so wenig als ein optischer Vorgang verstanden werden wie in der Szene von Maria aus Magdala am Grab (Joh 20,1.11-18) oder in der Szene von der Erscheinung Jesu vor seinen Jüngern (Joh 20,19-23), die gerade dieser Geschichte vorausging. Worum eigentlich handelt es sich dann? Ostern, das bedeutet für das Johannes-Evangelium in der Überlieferung der ersten Erscheinung Jesu vor seinen Jüngern, daß ein schmerzhafter Bruch geheilt werden kann, der Menschen von Menschen trennt. Alles Leid kann dazu führen, daß der menschliche Zusammenhang zerbricht. Aus dem Schmerz erwächst der Gram, man zieht sich in sich selber zurück, man verbittert und stranguliert sich selbst mit dem Vorwurf gegen den, der diese Qualen bereitet hat. Jede tiefgehende Zerstörung in der menschlichen Seele kann diese Gefahr heraufbeschwören. Am Ende sind Menschen, 337

wie hinter verriegelten Türen, Vereinsamte, Trauernde, Verzweifelte, zum Leben unfähig Gewordene, nur noch erfüllt von einem verbitterten Ressentiment. Dagegen schilderte das Johannes-Evangelium in der voraufgehenden Szene, wie Jesus zu den Jüngern kommt und ihnen «Frieden» bringt – Heilung, Ganzheit –, und es machte dieses Geschenk fest an der Möglichkeit fest, Menschen könnten jenseits von Verletzung und Schuld wieder miteinander zusammenwachsen. Das Wort dafür hieß Vergebung. – Die Geschichte jetzt stellt sich im Grunde ein anderes Problem, das sie lösen möchte: nicht allein den Graben zwischen Mensch und Mensch zu überbrücken, sondern weit tiefer reichend: die Kluft in der eigenen Person zwischen Denken und Fühlen, zwischen Verzweifeln und Hoffen, zwischen dem Mut zum Leben und dem Zerbrechen jeglicher Kraft dazu. Es beginnt, kontrapunktisch zu jeder vermeintlichen Dogmengewißheit, mit einem kleinen, sonderbaren Einschub, auf dem scheinbar kein allzu großes Gewicht ruht. Doch so erzählt die Bibel ständig, – in winzigen Anspielungen orchestriert sie das eigentliche Thema. Thomas aber, heißt es hier, einer der Zwölf, der «Zwilling» genannte, war nicht bei ihnen, als Jesus gekommen war. Jedes Wort hat da seinen eigenen Akzent. Der wichtigste aber liegt auf der kleinen Ergänzung «Thomas, einer der Zwölf». Wir fragen uns so oft, was «Kirche» eigentlich sei, und an Versuchen der Theologen, herauszufinden, wie sich «Kirche» exegetisch, fundamentaltheologisch, historisch, christologisch, wie auch immer, begründen ließe, leidet es keinen Mangel. Dieser eine Satz aus der Geschichte des Thomas definiert uns zwar nicht «Kirche», aber er zeigt uns, was sichtbar würde, wenn von der Botschaft Jesu in einer Gruppe von «Gläubigen» irgend etwas eine lebendige Geltung besäße. Stellen wir uns vor: Da steht auf der einen Seite eine Gruppe von Jüngern, die völlig davon überzeugt sind, Jesus «gesehen» zu haben, und die darin ihre Freude, ihren Glaubensinhalt, ihre Sehnsucht und ihre Energie zum Leben setzen; alles, was sie sind, gründet sich in dieser neugeschenkten Überzeugung. Aber dann kommt von der anderen Seite ein einzelner, der sagt: «So will ich das nicht! Nur weil ihr etwas behauptet, glaube ich es noch lange nicht.» – Dabei sollte man in den Zweifeln des Thomas den Frage- und Klageruf einer ganzen Menschheit vernehmen. Hat es denn das nicht viel zu oft schon gegeben, daß da ein Kreis von Schwärmern sich einfach hinwegtrösten mochte über das Leid? Auch die Phrasen, die dann gebraucht wurden, waren immer die gleichen: «Die Zeit heilt alle Wunden», so eine der Beschwichtigungsformeln; oder: «Das Leben geht weiter», 338

oder: «Man darf den Kopf nicht hängenlassen», oder: «Es ist morgen auch noch ein Tag». In all diesen Wendungen versucht man, den Schmerz des Augenblicks hinwegzustreichen, hinwegzustreicheln in gewisser Weise. Es ist wohl niemals böse gemeint, und doch kann es weh tun, weil der Abstand unter den Menschen gerade in diesen Worten nur weiter wächst. Da verläuft eine neue Trennlinie zwischen denen, die schon wieder Tritt gefaßt haben, und denen, die nicht mehr mitkommen. Da sind die einen schon wieder arriviert, mittendrin, mit aufgekrempelten Ärmeln, voll dabei, – und die anderen verabschieden sich beinahe auf der Rückseite des so schöngeredeten Lebens. Sie können nicht mitmarschieren, sie treten auf der Stelle, sie schauen ständig nach rückwärts, sie kommen nicht los von der Vergangenheit. Es ist, wie wenn eine Eisscholle bricht und die Menschen trennt, die ursprünglich einmal gemeinsam auf ihr lebten. Nun driftet sie in zwei Teile auseinander und scheint sich nie mehr zusammenfügen zu können. Es ist der Skeptizismus, der Pessimismus, vielleicht aber auch nur die Ehrlichkeit des Thomas, sich nicht ein X für ein U vormachen zu lassen. Glauben, das bedeutet für ihn, eine persönliche Erfahrung einzulösen. Religion ist für ihn nicht das, was andere ihm vorsetzen, auch wenn sie selbst noch so glücklich dabei sind; er erwartet, über den eigenen Schmerz hinweggehoben zu werden durch etwas, das sich wirklich erfahren läßt. Dieses Etwas läßt sich indessen weder befehlen noch hervorzaubern noch herbeizwingen; entweder es gestaltet sich wie ein Wunder aus den Händen Gottes, oder es geschieht nie. Und je nachdem, ob ein Mensch es persönlich so erfährt oder eben nicht erfährt, bleibt er im Bann der Trauer wie hypnotisiert oder es dringt ein Schimmer von Licht und Freude in den Kerker seiner Seele. Nie behauptet die Bibel, es bilde eine Entscheidungsmöglichkeit menschlichen Tuns, so oder so zu fühlen, und schon darin ist sie groß: sie macht Glaubensunvermögen nicht noch zum Vorwurf. Gerade die Ostertexte tun das nicht. Sie können manchmal den auferstandenen Jesus, der die Jünger begleitet wie beim Gang nach Emmaus, mahnend, fragend sprechen lassen: Wußtet ihr denn nicht? Seid ihr immer noch unverständig? (Lk 24,25) – aber eine Verurteilung gibt es nie! Und nun noch einmal: Wenn wir uns überlegen, wie denn die Gemeinschaft derer beschaffen sein sollte, die in der Nähe Jesu Vertrauen gelernt haben, wie «Kirche» zu sein hätte, dann müßten wir im Sinne der kleinen Einfügung am Anfang dieser Erzählung: «Thomas aber, einer der Zwölf», denken: Eine solche Gemeinschaft, die sich formte im «Geiste» Jesu, schlösse niemanden aus. Da würde Glaube oder Hoffnung nicht benutzt, 339

um die Gemeinsamkeit unter Menschen mit dogmatischem Anspruch aufzukündigen. Da wäre es möglich, daß jemand sich kategorisch weigerte, von den anderen eine ihm selber fremde Erfahrung zu übernehmen, und doch würde er nicht nur geduldet, sondern als jemand betrachtet, der dabeibleiben sollte, der mit dazugehörte – mit seinen Zweifeln, mit seinem Selber-erfahren-Wollen. – Betrachtet man demgegenüber die Art, wie im verfaßten religiösen Verband der etablierten «Kirche» mit Menschen des Zweifels umgegangen wird, so bemerkt man sogleich erschrocken, verwirrt und empört den Unterschied. Vielleicht gab es im ganzen 20. Jh. keine zwei Menschen, die so sehr der Thomas-Existenz entsprochen haben, wie den spanischen Dichter und Philosophen Miguel de Unamuno und den deutschen Dichter Reinhold Schneider. De Unamuno hat in all seinen Werken nichts weiter gemalt als die Sehnsucht der Menschen, glauben zu wollen. Ihre Seele war in den Augen dieses großen christussuchenden Poeten wie ein See inmitten der Berge; rein und ruhig sollte er daliegen, fähig, den Schimmer des Himmels in sich aufzunehmen und ein Spiegel des Unendlichen zu sein6. Die Menschen brauchten mehr als Wasser und Brot; sie bedürften einer Hand der Vergebung zur Lossprechung von ihrer Schuld und zur Erlösung von ihrem Gefühl der Minderwertigkeit und der Nichtigkeit, und sie benötigten gegen die sichere Tatsache des Todes einen hoffnungspendenden Trost. Vergebung und Unsterblichkeit, diese beiden Verheißungen und Erfahrungen bildeten in de Unamunos Augen den Kern jeder wahren Religion. Doch auch wenn die Menschen eine so starke Sehnsucht nach Unschuld und ewigem Leben in sich tragen, was soll ein solches Bedürfnis an sich schon beweisen? Daß alles nichts weiter ist als eine bloße Illusion und Projektion? Widerlegt nicht bereits die Intensität dieses Verlangens seinen eigenen Wahrheitswert? Spiegelt sich in diesen Hoffnungen nicht im Grunde nur des Menschen Seele im Himmel und nicht der Himmel sich in der menschlichen Seele? Was ist da Einbildung, was Bildung, was Wahrheit, was Wahn? De Unamuno war ebenso suchend wie ehrlich genug, um nicht zu behaupten, er halte etwas «Festes» in Händen. Natürlich kannte er den wunderbaren Satz des französischen Philosophen Blaise Pascal, der Gott selber zu dem zweifelnden Menschen sagen läßt: «Du würdest mich nicht suchen, es sei denn, du hättest mich längst schon gefunden.»7 Das ist soviel, wie wenn in der Mitte des 17. Jhs. Pascal hätte sagen wollen: «Es gibt so viele Menschen, die mitten in der Wüste eine Fata Morgana sehen, in welcher eine Oase mit fließenden Quellen sich malt. Die Fata Morgana ist nicht Wirklichkeit; es kann ein großer Irrtum sein, sich 340

ihr mitten im Staub nähern zu wollen. Aber selbst die trügerische Fata Morgana beweist doch an sich die Realität des menschlichen Durstes, und der menschliche Durst wiederum ist ein Beweis dafür, daß es Wasser geben muß – wenn auch nicht unbedingt an der Stelle, wo es der Verdurstende sucht –, selbst das Verdursten zeigt am Ende nur, daß Menschen nicht leben können ohne Wasser: – also gibt es Wasser!» Anders gesagt: Die Menschen mögen mitten im Wahnsinn wie Verzweifelte nach einer Wahrheit streben, die sich ihnen entzieht, sie mögen in abartigen Tempelgebäuden der Götzendienerei nach Göttlichem verlangen, aber selbst dieses ihr Suchen, auch wenn es in die Irre greift, ist doch ein Zeichen dafür, daß der Mensch aus einer Wirklichkeit kommt, ohne die er nicht sein kann und die ihn überhaupt erst in dieses Leben gestellt hat. De Unamuno indessen war außerstande, sich mit solchen Analogien zu beruhigen. Er fühlte sich gewissermaßen wie ein Waagebalken ständig in der Schwebe, unaufhörlich zitternd, bei jedem noch so kleinen Gewichtsunterschied nach der einen oder nach der anderen Seite ausschlagend. Dieser hochsensible, ehrlich fragende Mensch, nur weil er zweifelte wie Thomas hier im Evangelium, wurde von der katholischen Kirche exkommuniziert, all seine Bücher kamen bis 1966 auf den Index librorum prohibitorum, so daß kein Katholik eine Zeile von Miguel de Unamuno lesen durfte ohne die Erlaubnis des vor Ort zuständigen Priesters, sonst versündigte er sich am Lehramt der Römischen Kirche. Der Erfolg blieb nicht aus: Kaum jemand kennt in Europa den derart mundtot Gemachten, den unverfälscht nach dem ewigen Leben Suchenden. Reinhold Schneider seinerseits fand die Verurteilung dieses mit ihm wesensverwandten Mannes ungeheuerlich8. Auch er, Reinhold Schneider, hatte sein Leben, schon unter dem Druck des Leids, dem Streben nach Gott und nach Gnade gewidmet. Die Geschichte der Menschheit, die er erlebte und die er zu deuten bemüht war, erschien ihm als ein einziges Waten durch Blut, ein Krieg folgte dem anderen, doch am schlimmsten wirkte auf ihn der Siegestaumel der Mächtigen, die scheinbare Unschuld der Triumphatoren, ihre Skrupellosigkeit, um der guten Ziele willen ohne Zögern die gräßlichsten Mittel einzusetzen, ihre Bedenkenlosigkeit, mit der sie nicht länger mehr «Waffen» erfanden, sondern gleich Ausrottungsmittel für Millionen Menschen in wenigen Sekunden, – und das alles mit kirchlichem Segen und vermeintlich mit Gott als Auftraggeber! Man erklärte der Menge, man müsse und könne ihm und seiner Gerechtigkeit, ja, sogar seiner recht verstandenen Liebe dienen mit der Vorbereitung derartiger apokalyptischer Greuel9. – Und nicht nur die menschliche Geschichte zeigte 341

sich Reinhold Schneider von dieser Art, die ganze Geschichte der Natur erschien ihm nicht minder grausam und tragisch. Ein einziger Gang durch das naturhistorische Museum in Wien enthüllte sie ihm: diese «Kathedralen der Sinnlosigkeit»10 – die Skelette der Dinosaurier, diese Orgien, mit denen ein Leben sich erhält auf Kosten eines anderen! Reinhold Schneider protokollierte seine Eindrücke jeden Tag, er las in den Biologiebüchern, wie bestimmte Schädlinge durch den Leib eines fremden Wirtstieres wandern11, mit welcher Raffinesse sie sich unter der Qual ihrer Opfer zu vermehren trachten, wie erfindungsreich und gleichzeitig wie gleichgültig die Natur dem Streben nach Glück oder nach dem bißchen Freude der Einzelwesen gegenübersteht. Reinhold Schneider litt unsäglich an diesem nicht endenden Karfreitag. Er kam nicht los von den Bildern des Grauens, dieses ewigen Kalvaria. Und welch ein Mensch sollte nicht so leiden? Gott selber erschien Reinhold Schneider als ein Keltertreter – nicht als ein «Vater» mehr12 –; monströs war er, unbegreifbar und schrecklich: Ein Gott, von dem die Kirche lehrt, daß er allmächtig sei, steht da einer Welt gegenüber, die aussieht wie die unsere! Beides ließ sich für Reinhold Schneider nicht zusammenbringen. Sogar die Hoffnung auf Auferstehung wurde ihm fast zerfasert von Schmerz. «Man kann doch», schreibt er sinngemäß im Winter in Wien, «auf ein ewiges Leben nur hoffen, wenn man die Kraft zum Leben besitzt. Aber die Müdegewordenen wollen nur Ruhe.»13 – Reinhold Schneider hat seinen Winter in Wien zu spät geschrieben, als daß man auch ihn noch auf den Index der verbotenen Bücher hätte setzen können; er verstarb am Ostertag des Jahres 1958; doch schon seiner pazifistischen Grundhaltung wegen blieb er der Kirche Pius’ XII. suspekt. Was ist da «Glauben»? Welch eine Art von Überzeugung begründet da Hoffnung? Es scheint unglaublich viel, wenn es möglich ist, einen Raum offenzuhalten, in dem Menschen wie Miguel de Unamuno und wie Reinhold Schneider uns als zugehörig verbleiben dürfen. Was denn soll eine Religion, die den Zweifel verbietet, die das ehrliche Ringen um Wahrheit unter der Kategorie der Sünde abbucht, die das Verlangen nach selbständiger Erfahrung als Aufsässigkeit gegen das Dogma brandmarkt und die ständig an den Demarkationslinien einer abergläubischen Selbstberuhigung Ketzereien und Häresien konstatiert, um hernach mit Kirchenstrafen gegen die Unbotmäßigen vorzugehen? Thomas aber, einer der Zwölf: In dieser Szene des Johannes-Evangeliums ist es offenbar durchaus möglich, daß die sogenannten Gläubigen sich durch den vermeintlich Ungläubigen nicht derart herausgefordert fühlen, daß sie ihre eigene Angst nur noch 342

durch Ausgrenzung und Selbsteinschluß beantworten können. Gerade dieses Vorbild müßte verbindlich sein; denn wie könnte «Glauben» darin bestehen, im Verhindern jeder noch so begründeten Frage sich auf falsche Weise stabilisieren zu wollen? Ein solcher «Glaube» bedürfte ständig neuer Opfer, doch eben diese Verschiebung ins Objektivistische, Dogmatistische, schließlich Nihilistische wirkt am Ende nur wie ein Abbild des angstbedingt logischen Gangs durch die Religionsgeschichte des Abendlandes. Was also hat uns Thomas zu sagen, und was eigentlich erzählt uns diese Geschichte von seiner Begegnung mit seinem Herrn und seinem Gott? Der Name Thomas wird hier, wie an verschiedenen anderen Stellen des Johannes-Evangeliums, noch einmal mit dem Beinamen «Didymos – Zwilling» kommentiert, und man mag sich fragen, was damit wohl gemeint ist: Im Griechischen der damaligen Zeit dürfte das Wort soviel bedeutet haben wie «der Männliche». Es könnte sich um ein Kosewort für einen strammen, gesund geborenen Jungen gehandelt haben, dem man sein Zeug zum Zeugen anzusehen glaubte, für einen, «der es drauf hat», müßte man sehr frei übersetzen. Es gibt daneben die «gnostische» Deutung des ThomasEvangeliums: Der «Zwilling» im Geiste Jesu überliefert Worte, die vor dem Tode denjenigen bewahren, der sie versteht (vgl. Joh 8,51; 11,25.26). (Thomas-Evangelium, Nr. 1) Aber das Wort «Zwilling» steht unüberhörbar auch für eine bestimmte Art des Menschseins, stets in Zwiespalt mit sich selbst, uneins in der Suche nach einer inneren Integrität, die so lange nicht möglich ist, als sie identifiziert bleibt mit einer vereinseitigten Männlichkeit. So verstanden ist die Hinzufügung «Thomas, der ‹Zwilling› genannte» im Johannes-Evangelium sehr prägnant. Sie besagt: Thomas ist jemand, der glauben möchte, aber nicht kann, der Sehnsucht und Verlangen genug spürt, um zum Glauben zu kommen, dessen Denken aber nach Gründen verlangt, die es im Sinne einer rationalen Beweisführung für den Glauben niemals zu geben vermag. Zwischen Herz und Hirn geht da ein Riß, der sich nicht schließen will. Das ist Thomas, der Zwilling. Was er gegenüber der Euphorie der anderen vorbringt, mutet an wie ein zorniger Protest. Machen sie sich nicht einfach etwas vor? Reden sie nicht leichthin über das Entsetzliche hinweg? In der Person Jesus wurde für Thomas getötet, was sein Leben war! – In gewisser Weise bildet dieser Mann in seiner aggressiven Trauer eine männliche Gegengestalt zu der eher passiv trauernden Maria aus Magdala. Die Frage jedenfalls stellt sich in gleicher Weise: Wie hilft man einem Menschen über den Abgrund seiner Verzweiflung, dem das Beste nicht nur gestorben, sondern mutwillig geraubt, ja, 343

vernichtet wurde? Wie tröstet man einen Menschen, der über den Tod eines anderen trauert, der ihm alles schenkte, worin seine eigene Existenz sich gründete? All seine Worte, all sein Klagen haben nur dieses Zentrum: es hätte der andere niemals sterben dürfen, nicht so, nicht zu diesem Zeitpunkt, nicht aus diesen Gründen, – überhaupt nicht! Immer wenn wir vor dieser Frage stehen, werden wir erleben, daß keine Aufmunterung helfen kann; umsonst die Aufforderungen: «Beiß die Zähne zusammen!» «Du mußt jetzt tapfer sein.» «Es gibt auch noch andere Menschen.» «Du mußt weiter deine Pflicht tun!»14 – All diese Bindungen stehen ja gerade in Frage. Nicht einmal durch die erste Erscheinung Jesu vor den Jüngern hat deren Gemütszustand sich geändert. Sie hocken wieder drinnen – ausdrücklich wird es versichert – bei verriegelten Türen. Immer noch vegetieren sie in einer Burg der Angst, in der sie sich verschanzt halten. Der Kontakt zu anderen, der Austausch im Rahmen gewohnter Verbindlichkeiten ist wie abgeschnitten. Jeder Trauernde ist in gewisser Weise auf sich selber zurückgeworfen, und es gibt für ihn scheinbar keine Gründe zum Weiterleben, außer er findet sie wieder in seinem eigenen Inneren. Die Psychoanalyse hat therapeutisch eine grobe Zeitrechnung aufgestellt, die sich sehr mechanisch anhört, die aber pragmatisch nicht ganz falsch ist: Trauer, erklärt sie, dauere normalerweise ein halbes bis maximal ein ganzes Jahr. Das ist denn auch der Zeitraum, den die Gesellschaft den Trauernden zuerkennt, ja, diese sind für eine solche Zeitspanne in gewisser Weise sogar verpflichtet, in Schwarz zu gehen, um ihren Schmerz über den Tod ihrer Mutter, ihres Gatten, eines guten Freundes auszudrücken; doch spätestens dann hat man in den Schoß der Gemeinschaft zurückzukehren und wieder, im großen und ganzen jedenfalls, zu funktionieren. Ganz verkehrt ist diese psychologische Rechnung in der Tat nicht. Wenn Menschen selbst nach einem halben bis einem ganzen Jahr in ihr Leben nicht zurückfinden, wenn sie nach zwei oder drei Jahren davon womöglich noch weiter entfernt scheinen als vormals, dann darf man sicher sein: es ist ihnen in dem anderen nicht ein «anderer» gestorben, sondern in gewissem Sinn ein anderer Teil ihrer selbst, und alles Fragen, therapeutisch, von Anfang an, wenn es darum geht, einen Menschen über die Verzweiflung eines Todesfalles hinwegzubegleiten, wird darauf gehen, was denn von ihm selbst in dem «anderen», in der Gestalt des Geliebten, gestorben ist. Das Bild, auf das Thomas solchen Anspruch macht, enthält deshalb ganz offensichtlich auch eine Aussage über seine eigene Person, wenn er sehen möchte: in seinen Händen das Mal der Nägel und seine Seite. Beides sind Chiffren, die die Art der Hinrichtung Jesu in einer bestimmten Weise 344

wörtlich nehmen: Vorausgesetzt wird dabei allerdings die quälende, zermarternde Exekution durch Annagelung an das Kreuz, eine Praxis, die bei den Römern indessen keineswegs selbstverständlich war. Hier aber wird sie, ob historisch glaubhaft oder nicht, als gegeben angenommen. Bedeutsam ist das Verlangen des Thomas schon von daher nicht als eine authentische Erinnerung an die Art der Hinrichtung Jesu, zu verstehen ist es religiös entscheidend als Ausdruck für das, was «Thomas» selber «sehen» und «fühlen» muß, um ins Leben zurückzufinden. Da sind die zernichteten, zernagelten Hände, – sie muß er berühren als wieder lebendig. Dieses Bild in sich zählt, weil wir es aus vielen Kommentaren zu Träumen, Mythen und Märchen, aber auch aus unserer eigenen Erfahrung genügend kennen. Denken sollte man, daß für Thomas in der Gestalt Jesu der Grund dafür gestorben ist, eigenhändig leben zu dürfen. Man müßte sich dann eine biographische Vorgeschichte ausmalen, in der dieser Apostel eine Berechtigung, einen Mut, selber sein Leben in die Hand zu nehmen, nie wirklich besessen hat; er muß die Fähigkeit zur «Eigenhändigkeit» seines Lebens, ähnlich wie Maria aus Magdala, überhaupt erst an der Seite Jesu bekommen haben. Konkret gesprochen: Wie viele Menschen, fragen wir noch einmal, gibt es, denen man seit Kindertagen verboten hat, ihre Hände als Instrumente zum Zugreifen, zum Festhalten, zum Umschließen zu gebrauchen! Die frühesten Wünsche eines Kindes richten sich gerade darauf, Teile der Mutter umklammern zu können. Jeder, der ein Baby beobachtet, weiß, daß man nur seine Handinnenflächen zu streicheln braucht, um einen eigenen Reflex, die Hände zu schließen, auszulösen. Die Verhaltensforscher meinen, diese unwillkürliche Muskelkontraktion stamme aus Zeiten, als das Neugeborene am Körper des Muttertieres getragen wurde, und es bildete offenbar beim Klettern in den Bäumen eine lebensnotwendige Reaktion, sich in ihrem Fell festklammern zu können. Hinzu kommt das Pressen mit den Händen an der Brust der Mutter beim Stillvorgang, wobei es sich um die frühesten gezielten Muskelbewegungen handeln dürfte, die ein Kind außerhalb des eigenen Mundraumes überhaupt vollführen kann. Doch gerade deshalb ist es möglich, insbesondere die Hände, eben weil sie die ersten Willensäußerungen verkörpern, sehr früh unter Verbot zu stellen. Wer würde sich nicht entsinnen an die Strafaktionen früherer Schulzeiten, in denen man Kindern, wenn sie vorlaut waren, mit einem Lineal oder Rohrstock auf die Hände schlug, gerade so, daß sie für eine ganze Weile schreibunfähig dabei wurden? Die Prügelstrafe auf die Hände sollte besagen: «Du hast kein Recht, irgend etwas in deinem Leben zu fordern, dir 345

herauszunehmen oder zu verlangen.» Alles Zugreifen hatte da zu warten auf die Erlaubnis des Zuteilens; nichts Eigenhändiges, nichts Eigenständiges war in dieser Welt vorgesehen. Eine solche Lektion der Gewalt geht sehr tief, am Ende bis dahin, daß jede Form von Bindung aneinander unter dem Fallbeil der Angst zerschnitten wird. Der schwedische Filmregisseur Ingmar Bergman konnte in seiner Filmreihe Szenen einer Ehe15 den Traum einer Ehefrau gegen Ende der zerbrochenen Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann so schildern: Sie sieht sich unfähig, ihre Hände zu bewegen; und dieses Traumbild, rückblickend, ist die Erklärung für die Tragödie ihrer Ehe mit ihrem Mann. Die Frau, während sie ihren Traum erzählt, merkt gar nicht, was sie wirklich sagt, und ihr Mann versteht sie genausowenig. Denn: Menschen, die aus lauter Angst keine Hände mehr besitzen, sondern denen die Hände buchstäblich «festgenagelt», «gekreuzigt» wurden im Sinne einer einzigen lebenslänglichen Folter, gelangen nur unter den größten Schwierigkeiten zu dem nötigen Vertrauen in sich selbst und zu dem Menschen an ihrer Seite. Sollten wir deshalb denken, es sei entscheidend für Thomas gewesen, an der Seite Jesu genau diese Stärke der Hoffnung und des Vertrauens zurückgewonnen zu haben? – Man darf selber leben! Man hat ein Recht, im Bilde gesprochen, die eigenen Hände, die eigene Wunschwelt wieder zu entfalten, und es ist möglich, glücklich zu sein! Die Erlaubnis, die Jesus schenkte, kam, so verstanden, nicht von außen, sie wuchs an seiner Seite von innen. Dann könnten wir in der Tat begreifen, daß mit dem Tode Jesu Thomas sich selber starb und daß die Chiffre der Auferstehung für ihn soviel ist wie das Auferwecken des schon begonnenen und doch vernichteten Lebens, eine Rückkehr zu dem, was einmal Anfang war. Genauso steht es mit dem Berühren der durchbohrten Seite Jesu. Sie steht für all das, was man an Herzenswünschen, an Herzensregungen, an Gefühlen buchstäblich «aufgespießt» hat, bis zum Entleeren von allem, bis zum Ausbluten des Innersten. Auch das kann so einfach geschehen. Es genügt, daß man Kindern beibringt, statt nach innen zu hören, ständig sich nach außen zu orientieren. Man kann jede Äußerung, die sie vorsichtig tun, «aufspießen» mit den Mitteln der Ironie, der Kritik, der hämischen Bemerkungen, der Besserwisserei, und irgendwann dringt das Eisen bis ins Innerste vor. – Thomas indessen muß an der Seite Jesu gespürt haben, daß ihm sein eigenes Gefühl, sein eigenes Herz wiedergegeben wurde. Und die ganze Erscheinung, die er jetzt verlangt, auf der er nunmehr besteht, um glaubend zu werden, liegt offenbar darin, daß er wieder fühlen darf, was ihm im Tode Jesu gestohlen wurde. Ein besseres Bild für das, was wir 346

heute Psychotherapie nennen und was doch nur ein Teil von dem ist, was eine wirkliche menschliche Begegnung umfaßt, wird es kaum geben; es besteht darin, den anderen noch einmal sich selbst gegenüberzustellen, ihn anschauen zu lassen, wer er wahrhaft ist, und ihm die Einwilligung zu geben, allem Schmerz noch einmal nachzuspüren. Im Deutschen ist es eine stehende Redensart geworden: Man legt den Finger in die Wunde. Man meint damit, daß jemand sich nicht vorschnell beruhigen läßt, sondern daß er konsequent und kritisch Schwachstellen aufzeigt, daß er die Wände nach Hohlräumen abklopft, daß er die Tünche eher abreißt, als sich etwas vormachen zu lassen. Was diese Erzählung von der Begegnung des Thomas mit dem «Auferstandenen» meint, ist freilich weitaus sensibler. Da wird über eine beliebig lange Zeit hin gestattet, daß jemand all dem hinterherträumt, was er verloren hat, und seinem eigenen Schmerz einen breiten Raum läßt. Das ist das ersichtliche Gegenteil von dem: «Du mußt jetzt aber darüber hinwegkommen!» «Mensch, laß den Kopf nicht hängen!» «Du mußt nach vorne schauen!» Es ist das Gegenteil von diesem Zweckoptimismus der «Macher». Es ist eine sehr sensible, sehr feinnervige innere Erfahrung, die es Thomas gestattet, das, was ihn in der Gestalt Jesu leben ließ und was in ihm unter der Gewalt von draußen abhanden gekommen ist, wiederzufinden, indem er den Spuren der Zerstörung Schritt für Schritt nachgeht. Nur so kann er sich selbst als lebend in der Gegenwart dessen entdecken, der ihn zum Leben geführt hat. Für das Johannes-Evangelium faßt sich die ganze Geschichte in einer einzigen Aussage zusammen. Thomas spricht zu dem Jesus, der vor ihm steht: Mein Herr und mein Gott. So lautete zweifellos das Glaubensbekenntnis der frühen Kirche; es ist das Resümee des ganzen Johannes-Evangeliums. Aber wenn wir bereits soweit sind, zu verstehen, Glauben bedeute in dieser Art ein langsames Reifen zu sich selbst, ein Überreifen zerstörerischen Schmerzes, dann müssen wir noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Der Glaube an Jesus als den Herrn, als den Gott, setzt gerade voraus, heil geworden zu sein in sich selbst. Er ist gewissermaßen die gültige Antwort des Thomas auf den Gruß und die Anrede, mit der Jesus in die Mitte seiner Jünger trat: Friede (Heil, Ganzheit) euch! Es ist nicht möglich, einfach zu bekennen im Sinn des Dogmas: Jesus aber ist der Herr, er ist der Messias, er ist der Sohn Gottes, er ist Gott, und daraus gewissermaßen eine metaphysische Bestandsaufnahme seiner an und für sich bestehenden wahren menschlichen und wahren göttlichen Natur zu konstruieren. Alles, was wir da vor uns haben, sind Titel – ob Gottessohn, ob Messias, ob Herr, ob Gott. Die Frage ist, wem wir solche Titel verleihen. 347

Der protestantische Theologe Paul Tillich hat einmal sehr richtig gesagt: «Gott bezeichnet das, was uns unbedingt angeht.»16 Jesus ist nicht im Sinne einer Tatsachenfeststellung als Gott zu bekennen, sondern: Du bist mein Gott – das ist das Ergebnis eines mühsamen Prozesses, der dahin führt, daß ein Mensch, ermöglicht durch den Mann aus Nazaret, mit sich zusammenwächst. Der, dem man alles verdankt und von dem man spürt, daß er die Bedingung zum Leben insgesamt bildet und bietet, den mag man, den muß man als Herrn und Gott bezeichnen, vergleichbar einem Spiegel, der sich aus vielen Bruchstücken zusammensetzt und das Licht der Sonne in sich aufnimmt. Wie wenn aus vielen Bleiglasfragmenten ein Kirchenfenster sich zusammenfügt und im Durchschimmern des Lichts durch die zu Heiligenfiguren gestalteten Scherben ein Stück vom Himmel sich erahnen läßt, so geschieht es, daß, in Korrespondenz dazu, ein Mensch zu seiner eigenen Person reift und darin denjenigen durchscheinen läßt, der es ihm ermöglicht, «ganz» zu werden. Der ist dann sein Gott, der ist sein Ein und Alles, der ist die Grundlage und der Sinnträger dafür, überhaupt leben zu wollen. Freilich, was wir von dem Mann aus Nazaret gelernt haben, muß sich nun bewähren gegen eine ganze Welt: Ein Ende hat das Verriegeln der Türen, ein Ende das Warten drinnen, ein Ende das Verkriechen aus Angst vor den Gottesbesitzern. Was bleibt, ist das Hinausgehen, geschlossen mit sich selber und entschlossen in sich selber, offen und ohne Ausgrenzung, gemeinsam und fähig, eigenem wie fremdem Leid nicht länger mehr auszuweichen, sondern es anzunehmen und aufzunehmen. Man wird, sagten wir schon einmal, anderen stets nur bis dahin helfen können, bis wohin man selber gekommen ist. Thomas ist sehr weit gekommen in diesem Augenblick. Mein Herr und mein Gott – das heißt auch soviel wie: jeder Widerspruch von draußen wird jetzt nicht mehr als wirklich störend empfunden; es mag schwere, oft scheinbar unlösbare Aufgaben geben sowie riesige Gebirge an Mühsal, die es zu überschreiten gilt, doch das alles wird nie mehr einen endgültigen Einwand bilden, nie mehr einen Sperrwall gegen die Hoffnung errichten, nie mehr die Zuversicht wie in einem Abgrund verschlingen. Wenn Jesus dem Thomas, seinem Jünger, hier sagt: Und sei nicht ungläubig, sondern gläubig (nach dem Wortlaut der Einheitsübersetzung), so sollte man die Stelle im Deutschen vielleicht in einem Wortspiel freier übersetzen: «Sei nicht mehr trauernd, sondern vertrauend; sei nicht mehr zweifelnd-verzweifelt, sondern einheitlich, ganz.» – Da ruht endlich Friede über der fieberheißen Stirn eines grübelnden Menschen; da ist ein Einzelner und 348

Vereinsamter wieder eingebunden in die Gruppe der anderen, und jetzt mag man sagen: Eine so gefundene Erfahrung ist keine Illusion; sie gilt allerdings nur, wenn sie sich bewahrheitet in ihrer Menschlichkeit. Sie ist kein neues Dogma, keine neue Formel, schon gar keine neue Verpflichtung, sie ist nichts als eine unendliche Möglichkeit, selbst zu erfahren, was «Leben in Fülle» ist. Das Johannes-Evangelium schließt mit der Feststellung, Jesus habe noch vieles andere getan, was in diesem Buch nicht aufgezeichnet sei; in diesem Buch aber stehe ausreichend viel, versichert uns Johannes, daß wir zum Glauben daran kämen, Jesus sei der Messias, der Sohn Gottes, und daß wir in diesem Vertrauen Lebende würden. Man könnte, sehr korrekt im Sinne des Johannes, wohl auch sagen: «Und wenn du nun wissen willst, welche anderen Dinge Jesus noch tat, dann schaue nicht in die Bibel, sondern suche sie in deinem eigenen Leben. Ich habe sie nicht aufgeschrieben, damit du sie selber findest in dir. Ich wollte nicht vorwegnehmen, was nur du selber erahnen kannst in deinem Leben. Dein eigenes Dasein sei fortan ein solches Buch, das niemals zu Ende geschrieben werden kann, und darin lies mindestens ebenso viel wie in diesem Evangelium. Werde du lebend in dieser Zuversicht eines niemals endgültig Darzustellenden, weil stets noch neu Gestalt Gewinnenden.» Der spanische Dichter Juan Ramón Jiménez beschloß seine Gedichtsammlung Stein und Himmel mit den Worten: Ich wollte, mein Buch wäre, wie der Himmel der Nacht, ganz gegenwärtige Wahrheit, ohne Geschichte. Und es würde, wie er, in jedem Augenblick ganz sich geben, mit allen Sternen, ohne daß Kindheit, Jugend, Alter mindern oder mehren den Zauber seiner unermeßlichen Schönheit. Ein Zittern, Schimmern, Klingen, gegenwärtig und allumfassend! Ein Zittern, Schimmern, Klingen auf der Stirn – an dem Herzenshimmel – des reinen Buches!17 Ähnliche Worte könnten auch das Evangelium des Johannes gültig und würdig beschließen. 349

Joh 21,1-14: Die Erscheinung am See oder: Zwischen Diesseits und Jenseits 1Danach hat sich sehen lassen abermals Jesus seinen Jüngern am See von Tiberias. Er hat sich aber auf die folgende Weise sehen lassen: 2Es waren beisammen Simon Petrus und Thomas, der «Zwilling» genannt wird, und Natanaël von Kana in Galiläa (1,45), die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngern. 3Sagt ihnen Simon Petrus: Ich gehe fischen. Sagen sie ihm: Kommen auch wir mit dir! Ausgezogen sind sie und sind hineingestiegen ins Boot; doch in jener Nacht haben sie nichts gefangen. 4Als es aber eben Morgen geworden, ist Jesus hingetreten ans Steilufer; nicht freilich wußten die Jünger, daß es Jesus ist (20,14; Lk 24,16). 5Sagt da ihnen Jesus: Kindlein, habt ihr nicht etwas zum Essen (Lk 24,41)? Geantwortet haben sie ihm: Nein. 6Er aber hat ihnen gesagt: Werft zur rechten Seite des Bootes das Netz aus, und ihr werdet finden. Da warfen sie aus, und nicht mehr zu ziehen vermochten sie es von der Menge der Fische (Lk 5,4-7). 7Sagt da jener Jünger, den Jesus liebte (13,23), dem Petrus: Der Herr ist es. Simon da, der Petrus, als er hörte: Der Herr ist es, – den Überwurf gürtete er sich um, er war nämlich nackt, und warf sich in den See. 8Die anderen Jünger aber kamen mit dem Boot, denn sie waren nicht weit vom Lande, sondern nur etwa 200 Ellen, im Schlepp das Netz mit den Fischen. 9Wie sie nun ausgestiegen sind ans Land, erblicken sie ein Kohlenfeuer angelegt und Speisefische darauf liegen und Brot. 10Sagt ihnen Jesus: Bringt von den Speisefischen, deren Fang ihr gemacht habt – jetzt! 11Hinaufgestiegen ist da Simon Petrus und hat gezogen das Netz ans Land voll großer Fische – einhundertdreiundfünfzig; und obwohl es so viele waren, ist nicht zerrissen worden das Netz. 12Sagt ihnen Jesus: Kommt, eßt! Und niemand da wagte von den Jüngern, ihn auszuforschen: Du – wer bist du? (16,23), im Wissen: Der Herr ist es. 13Es kommt Jesus und nimmt das Brot (6,11) und gibt es ihnen; und den Speisefisch gleichermaßen. 14Das eben war das dritte Mal, daß sichtbar ward Jesus den Jüngern als auferweckt von den Toten.

Noch haben wir die Worte des Johannes-Evangeliums im Ohr: Diese (Zeichen) aber sind aufgeschrieben, damit ihr Vertrauen erlangt: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes! Und damit ihr als Vertrauende Leben habt in der Wirklichkeit seines Wesens. Noch viele andere Zeichen hat nun Jesus wohl vor [seinen] Jüngern getan, die nicht aufgeschrieben sind in diesem Buche (Joh 20,30.31). Ein deutlicheres Schlußwort kann es kaum geben als 350

diese letzten Verse im 20. Kapitel. Dennoch muß im Kreis des sogenannten «Lieblingsjüngers», der mit dem Verfasser des Evangeliums nicht identisch ist, der Eindruck entstanden sein, daß die Sache Jesu nicht damit zu Ende sein kann, daß man ein Buch beendet. Von Anfang an war das auch nicht gemeint; all die Werke, die Jesus getan hat, sollen ja in unserem Leben Wirklichkeit werden (Joh 5,20; 14,12). Daraus ging wohl hervor, daß man so etwas brauchen würde wie ein Nachtragskapitel, einen Anhang, der beschreibt, wie Jesus nicht einfach damals den Jüngern erschienen ist, sondern wie er zum dritten Mal, jetzt, uns, zu erscheinen vermag. Dieses «dritte Mal» nach den beiden Erscheinungen im «Abendmahlssaal» ist nicht ohne weiteres die Zeit der Kirche, denn in dieser Art denkt nicht das Vierte Evangelium. Was es schildert, ist die zeitlose, allzeitige Begegnung zweier völlig konträrer Welten, etwas, das man unbedingt wissen muß, um diese «Welt» zu bestehen. Es kann nicht anders sein, als daß diese Darstellung äußerst widersprüchlich ausfällt1. Selbst wer als gutwilliger Leser diese Erzählung von der dritten Erscheinung Jesu am See zum erstenmal hört, wird sich wundern, wie ungefüg da berichtet wird. Kaum eine Zeile scheint zu der anderen zu passen. Die Jünger fahren aus, Fische zu fangen, wie üblich bei Nacht, um mit Blendleuchten die Fische an die Oberfläche zu locken. Daß sie bei Nacht buchstäblich nichts gefangen haben sollten, ist an sich schon ungewöhnlich genug; daß sie dann aber am Morgen Jesus am Ufer stehen sehen, ohne ihn zu erkennen, sie, die eigenen Jünger, muß mehr als befremden. Daß sie auf die Weisung Jesu hin zur rechten Seite des Bootes – warum nur ausdrücklich so präzise: zur rechten Seite? – eine Überfülle von Fischen ins Netz bekommen, ist geradewegs paradox. Trotzdem, bis dahin scheint die Wundergeschichte immer noch einigermaßen intakt vorgetragen zu sein. Was sich dann aber begibt, ist Schlag auf Schlag ein Widerspruch nach dem anderen; denn jetzt, in der Ferne, erklärt plötzlich einer der Jünger, offenbar jemand, der Jesus besonders nahesteht: Der Herr ist es, und kaum hört er’s, zieht sich Petrus an, um sich alsbald, vollständig bekleidet, ins Wasser zu werfen. Dabei hören wir, daß die Entfernung zum Ufer nur knapp bemessen ist, auf die Elle genau wird sie uns genannt, – die Eile scheint unpassend. Doch weiter: Die Jünger können das prall gefüllte Netz nicht ins Boot hieven und müssen es im Schlepp hinter sich herziehen, – fast droht es zu reißen; an Land aber, als wäre all die Mühe des Fischfangs umsonst gewesen, finden die Jünger alles an einem Kohlenfeuer fertig angelegt: Fische als Zuspeise sowie Brot. Gleichwohl fordert die vormals unbekannte Gestalt am Ufer die Jünger auf, hinzugehen und von den ge351

fangenen Fischen zu holen. Wieder ist es dann Petrus, der dem Auftrag nachkommt, und er allein jetzt, als hätte es das Gesetz des Archimedes vom Auftrieb im Wasser nie gegeben, meistert die ganze Zuglast des Netzes am Land, er zieht die Fische, einhundertdreiundfünfzig an der Zahl, als wenn man für ein einziges Essen für die paar Leute so viele brauchen würde, hinter sich her. Schließlich sitzt man offenbar zum Mahl gemeinsam zusammen, aber es herrscht fast eine Scheu, jenen anderen zu fragen, wer er denn sei, weil man doch weiß, worum es bei ihm sich handelt; und als wäre all die Zeit über Jesus gar noch nicht anwesend gewesen, kommt er erst jetzt, gibt ihnen das Brot und den Fisch gleichermaßen, und man ißt miteinander. Das eben war das dritte Mal, daß sichtbar ward Jesus den Jüngern als auferweckt von den Toten. Wenn Berichte so widersprüchlich gegen alle Logik tradiert werden, liegt es literarkritisch nahe, die Schere zu nehmen und den Text auseinanderzuschneiden. Oftmals nämlich liegen zwei verschiedene Stränge ineinander verknotet vor, und man kann sie noch einigermaßen, der historischen Forschung zuliebe, entwirren. So auch hier: Auf der einen Seite steht die Geschichte von einem wunderbaren Fischfang, wie sie im Lukas-Evangelium erzählt wird (Lk 5,1-11); auf der anderen Seite liegt offenbar eine Erscheinungslegende vor. Es könnte demnach wirklich sein, daß hier zwei ganz verschiedene Überlieferungen, eine Fischfang-Wundergeschichte und eine Erscheinungserzählung, ineinander verschachtelt worden wären. Ganz zufriedenstellend ist eine solche Hypothese freilich nicht, denn schon die Fischfanggeschichte bei Lukas ist im Grunde, wie alle Exegeten meinen, nachösterlich geprägt; sie will bereits mitten im Leben Jesus darstellen als diejenige Person, die gegen Tod und Verzweiflung Leben und Hoffnung setzt. Eigentlich läßt sich der Text bei Johannes also gar nicht auseinanderschneiden; die beiden Berichte sind einander zu verwandt, und vor allem: sie sind auf eine einzigartige Weise neu zusammengesetzt. Vielleicht ist es deshalb richtiger, besser hinzusehen, wovon im einzelnen die Rede ist. Ein Vergleich bietet sich förmlich an: die Situation ähnelt dem Bild, das wir erhalten, wenn wir, statt mit beiden Augen gleichzeitig räumlich zu sehen, nur mit jeweils einem unserer beiden Augen schauen. Wir können ein Auge schließen, – das ist möglich, doch nur um den Preis der Tiefenschärfe; wir nehmen alles flächig wahr. Das Geheimnis, daß die Natur uns zwei Augen geschenkt hat, liegt darin, daß beide Augen dasselbe sehen und konvergent betrachten, aber sie tun es mit einer kleinen Disparität: In Feld 1 und Feld 4 der Sehrinde sind die Rezeptoren ein Stück weit versetzt, räumlich ganz wenig nur, doch in der Wirkung entscheidend. 352

Denn dieser kleine Unterschied hilft uns, auf etwa sechs bis acht Meter Entfernung abzuschätzen, wo genau dort irgendein Zielobjekt – ein Basketballring oder ein Hase, was auch immer – sich aufhält. Ganz ähnlich lassen sich diese zwei verschiedenen ineinandergeschachtelten Berichte an sich getrennt auf zwei Ebenen anschauen, wir müssen sie aber zusammen betrachten, um die nötige Tiefenschärfe, um die richtige Perspektive zu gewinnen. Denn das genau ist das Thema der ganzen Geschichte: Wie gewinnt man einen Blick über diese Welt hinaus? Wie gewinnt man eine Tiefenschärfe, die es erlaubt, mehr zu erkennen als nur das Äußere? Eine solche Perspektive zu vermitteln ist unbedingt nötig, weil die ganze Erzählung davon berichten will, wie zwei getrennte Wirklichkeiten einander begegnen und sich wechselseitig durchdringen. Etwas Schwebendes taucht hier auf unter den Begriffen: er hat sich sehen lassen, er ward sichtbar als jemand, der auferweckt war von den Toten. Beschrieben wird eine Begegnung buchstäblich zwischen See und Festland, zwischen Nacht und Tag, zwischen Leere und Fülle, zwischen Hunger und Sättigung. All die Metaphern sind in ihrem Kontrast eindeutig. Es begegnen sich Diesseits und Jenseits, Menschenwelt und Gotteswelt, Verzweiflung und Hoffnung, Tod und Leben, Finsternis und Licht. Plötzlich begreift man, was dieses dritte Mal einer Erscheinung soll: Es versucht eine Erfahrung zu vermitteln, die sich nicht mehr aus irgendeiner für noch so heilig gehaltenen Historie an die Gegenwart herantragen läßt, sondern die wir selber in unserem eigenen Leben machen müssen. Deshalb, vermutlich, wird gleich einleitend en détail aufgezählt, wer da versammelt ist, – als wenn es darauf ankäme! Daß hier eine Reihe von Namen präzis genannt wird, ist für eine Legende eigentümlich, – es ist am besten zu verstehen als eine sehr sensible Aufforderung: «Wenn du all diese Namen hörst, die dir aus der Geschichte auch sonst vertraut sind, dann nimm sie einmal nicht als die Repräsentanten des ‹apostolischen Zeitalters›, sondern trage dich mit deinem eigenen Namen in diese Liste ein.» Tatsächlich bricht die Namensliste der Jünger ohnehin mit dem Hinweis auf noch «zwei andere von seinen Jüngern» ab, was wohl heißen soll: die Fortsetzung dieser Namen läßt auf sich warten; es geht nicht mehr darum, eine vergangene Geschichte an sich selbst zu erzählen; es kommt im Gegenteil darauf an, sie weiterzuerzählen für scheinbar unbekannte Personen – für dich und für mich. Von daher versteht sich wohl auch das Merkwürdige, daß wir auf lange Sicht zunächst nicht mehr erfahren, als wie hier scheinbar ganz gewöhnliche Leute, wenn auch als Jünger Jesu, auf Fischfang gehen. Sie tun nichts 353

sonst als das, was normal ist; nichts überragt ihren Alltag; doch gerade darin liegt ein weiterer wichtiger Hinweis. Denn üblicherweise sind wir geneigt, das Göttliche im Ungewöhnlichen, im Außerordentlichen zu suchen; nach Auffassung dieses Textes aber ist gerade das offenbar ein gravierender Fehler. Eben noch hörten wir, es handele sich in dieser Geschichte womöglich um eine wunderbare Fischfang-Legende; doch wer nun darauf aus ist, irgendein Spektakel zu erleben, der begreift die ganze Erzählung nicht. Wer unbedingt einen Gott braucht, der den Naturzusammenhang je nach Bedarf durch bizarre Wunder auf den Kopf stellt, so daß Fische plötzlich in Mengen am Tage ins Netz gehen, wo sie Grund hätten, der Sonne auszuweichen und sehr tief zu schwimmen, tiefer jedenfalls als die Schleppnetze der Jünger Jesu vor zweitausend Jahren am See von Tiberias hinabreichten, der wird vergeblich immer wieder auf absurde Weise mit seiner Eigenart von Vertrauen auf Gott genarrt werden. Er wird versuchen, mit einem enormen Aufwand an Frömmigkeit puren Aberglauben in den Himmel zu werfen. Das, worum es indessen wirklich geht, ist die Aufgabe, Gott zu erkennen im völlig Normalen, im ganz Alltäglichen. Freilich, der Weg dieser Entdeckung ist merkwürdig gebrochen, er ist voller Verwerfungen und Unebenheiten. Zumindest am Anfang verhält es sich überhaupt nicht so, wie wir es sehr gerne als Inhalt des Glaubens annehmen: Gott umgriffe mit seinen Händen die ganze Welt, und alles, was wir täten, stünde bei ihm. Klar ist freilich, daß Gott nicht in den Raum des Verfeierlichten, des Exzeptionellen, des für sakrosankt Erklärten eingeschränkt sein kann; er ist vielmehr die Wirklichkeit, in der wir atmen, das Licht, in dessen Schein wir sehen, die Energie, die uns durchflutet, – kurz: Gott ist das, woraus wir selber leben und zu leben wagen. Doch die Frage lautet eigentlich nicht, wer Gott ist, die Frage ist im Gegenteil, wie wir zu seiner Wahrheit finden. In der religiösen Erziehung jedenfalls bedeutete es einen erheblichen Fehler, das Ergebnis einer langen religiösen Reifung an den Anfang zu rücken und zur dogmatischen Voraussetzung eines theologischen oder ideologischen Lehrbetriebs zu erheben. Kaum eine Gefahr könnte religiös größer sein. Nehmen wir einmal an, es habe irgendwo einen charismatischen religiösen Geist gegeben, auf den spätere Geschlechter sich berufen wollten – Jesus zum Beispiel hat nach Zeugnis der Legende in vielen Wochen der Wüsteneinsamkeit um Gott gerungen, Mohammed hat eine lange Zeit gebraucht, um die Offenbarung des Engels Gabriel vernehmen zu können –, aber später dann habe sich das menschlich Außerordentliche als eine amtlich garantierte, in Formeln gefaßte Binsenweisheit «verkündigt», mit der 354

bereits die Kinder ins Leben treten sollten. Dann wird man merken, daß es so einfach nicht ist, Gott im Alltäglichen wahrzunehmen; entsprechend dieser Geschichte gibt es keine Erfahrung, die man geradlinig vom Diesseits ins Jenseits extrapolieren könnte; vielmehr zeigt gerade die Gebrochenheit, die Widersprüchlichkeit, ja, die offenbare Widersinnigkeit dieser Erzählung, daß wir es mit einem äußerst verschlungenen und paradoxen Weg zu tun haben. – Vielleicht läßt sich das Gemeinte mit dem Gang eines Lichtstrahls vergleichen, der, als weißes Licht in einem Prisma zerteilt, vor unseren Augen flirrend und bunt wird. Schon deshalb brauchen wir anscheinend eine Geschichte wie diese, um uns bewußt zu werden, daß Gott für uns nie eine einfache Konstante sein wird, etwas selbstverständlich Vorauszusetzendes, ein ideologisches Axiom kirchengebundener Indoktrination. Gewarnt müßten wir eigentlich schon vorweg in der Einleitung dieser Erzählung sein, hören wir doch, es sei möglich, daß die Jünger selbst ihrem Herrn begegneten und ihn nicht erkannten. Was also muß passieren, um Jesus auf eine Weise kennenzulernen, die wirklich trägt? Betrachten wir noch einmal den Anfang dieses Epilogs zum JohannesEvangelium, so müssen wir feststellen, daß die beste historische Information in Fragen des Glaubens nur sehr begrenzt hilfreich ist. Sagen wir es in der Sprache unserer Zeit: Wir könnten sämtliche Archive authentischen Materials leerplündern, im Fernsehzeitalter ausgestattet sein mit allen notwendigen Dokumentationen über den Mann aus Nazaret, mit den einschlägigen Nachrichten und den aufgezeichneten biographischen Daten, mit allen nur erdenklichen Informationen, so kämen wir doch nie dahin, zu sagen: «Der Herr ist es.» Wir hätten nichts weiter zur Hand als die Beschreibung einer Person, die wir nicht wiedererkennen würden, sobald es um eine persönliche Infragestellung ginge, die eine Antwort verlangte, um wahrhaftig leben zu können. Gerade damit aber beginnt die Geschichte jetzt tatsächlich. Die Jünger kommen mit, wie Petrus und weil Petrus es gesagt hat. Auch das ist Alltag, wie wir ihn kennen: Irgend jemand tut etwas, und wir schließen uns an. Der Satiriker Karl Kraus konnte sehr bissig einmal sagen: Es gibt nun mal Menschen, deren Dasein das Dabeisein ist. Genau das ist es, ins Wörtliche, was die Jünger hier tun: Kommen auch wir mit dir! Mitsein im Verband, so verläuft, genau betrachtet, das meiste in unserem Leben. Da gibt es keine eigene Entscheidung, sondern irgendwie werden wir in die Wirklichkeit durch die Umstände hineingedrückt. So findet man sich vor, so beredet man die Welt, so hat man für alles irgendeine griffige, handwerkliche Auskunft, eine funktionale Routine parat. Jeder weiß da, wer das Steuer hält, 355

wer das Segel setzt, wer die Netze auslegt, wer die Blendlaternen aufsteckt – all das ist Dienst im Zusammenspiel. Irgendwann aber müssen wir uns eingestehen, daß ein so geführtes Dasein nicht das eingebracht hat, wovon wir richtig leben könnten. Johannes, das heißt die Autorengruppe dieses Zusatzkapitels im Nachtrag des Johannes-Evangeliums, steht nicht an, von einer solchen Lebensart zu sprechen in den Bildern von Nacht und See. Nur scheinbar handelt es sich dabei um zeitlich und räumlich eindeutige Begriffe. In Wahrheit haben wir es mit einer ganz und gar symbolischen Erzählung zu tun, deren Sinn indessen an dieser Stelle eindeutig ist: Gerade dort, wo wir uns für gewöhnlich zu Hause fühlen, zeigt sich unter Umständen irgendwann das Bodenlose, Haltlose, Ungewisse, auf das kein Fuß sich setzen läßt. Irgendwann enthüllt sich das so klar Planbare, Machbare, weisungsgebunden Vernünftige als das Undurchschaubare, Unsinnige, Perspektivlose – eben als Dunkelheit und Nacht. Und doch: gerade in diesem Eindruck kann es sich begeben wie das Aufdämmern eines neuen Morgens, in dessen Licht die äußere Realität sich umkehrt: Am anderen Ufer, sehr steil aufragend, entdeckt sich eine andere noch unbekannte Form der Welt. Noch kann man nicht wissen, was sich da befindet, was da steht; etwas wie eine Person zeichnet sich ab, doch sie trägt keinen Namen, sie bleibt unerkennbar. Gerade dieses Schwebende aber ist wie ein Gütesiegel all der Erscheinungserzählungen im Neuen Testament: Nur unter vielen Vorbehalten, in einer erst langsam reifenden Einsicht entwickeln sie sich zu dem Vertrauen in die Gegenwart des «Auferstandenen». Diese Gestalt am anderen Ufer ist nicht etwas, das man äußerlich sehen könnte, sie ist als erstes etwas, das es in uns selber gibt, das Bild nicht eines fremden Außenstehenden, sondern unserer eigenen inneren Person als einer Wirklichkeit, die wir nur so noch nie gesehen, noch nie erreicht haben. Sie tritt auf uns zu buchstäblich vom anderen Ufer her, und wir steuern auf sie zu, wir entdecken in ihrem Wesen unser Leben noch einmal neu und ganz anders, freilich niemals ohne Schmerz; denn von diesem Gegenüber, das wir auch sind, obwohl wir es nie wirklich waren, geht eine Frage aus, genauer gesagt eine Infragestellung: Habt ihr nicht etwas zum Essen? Und die Antwort der Jünger muß lauten: Nein. Da wird es als erstes notwendig, eine Bilanz zu ziehen, was unser Leben bislang wesentlich eingebracht hat, was es für uns selber an Nahrhaftem, an Substantiellem zur Verfügung gestellt hat. Es gibt keine erschreckendere Selbsterkenntnis in unserem Leben, als daß wir viele Jahre, nicht eine Nacht nur, sondern einen ganzen Lebensabschnitt lang wie in der Nacht gelebt haben können, und es war völlig umsonst. 356

Man muß zum konkreten Verständnis hinzufügen, daß die Bilder von Fischfang und Boot schon sehr früh als Chiffren für die Kirche verwendet wurden, für ihre Tätigkeit in der «Heidenmission». Dann müßte man die Erfahrung, um die es hier geht, bis in den religiösen Raum hinein verlängern: Man saß womöglich von Kindertagen an im «richtigen Boot», man befand sich immer schon in der Gemeinschaft der vermeintlich Gläubigen, man hat alles mitgemacht, was es da zu tun gab, und trotzdem zeigt sich nun, daß das alles keinen Sinn macht, daß es nichts bietet, wovon man persönlich leben könnte. Nehmen wir an: Ein Mensch ist vierzig oder sechzig Jahre alt, und er grübelt, nachts erwachend wie unter dem Eindruck eines morgendlichen Dämmerlichts, wer er denn eigentlich ist, und eine bestimmte Ahnung steigt auf, gegen die er sich anfangs wehren wird, die er zunächst fürchten wird wie ein Gespenst, doch dieses Vorgefühl zeigt ihm wie eine Leitfigur, wozu er in Wahrheit berufen ist. All das steht noch sehr hoch, sehr steil, fast abweisend vor ihm, aber die Frage, das spürt er, gilt ihm, und sie stellt sich bohrend immer wieder: Und was hast du nun mitgebracht, um davon zu leben? Wofür dann war dein Leben wirklich gut? Sollten wir, vierzig oder sechzig Jahre alt geworden, wenn wir unsere Biographie einmal ehrlich ordnen, nicht fast alle so sagen müssen: «Wir haben nichts mitgebracht»? Irgendwie wurde unser Leben gelebt, wir wurden hineingeworfen; – was konnten wir selber bestimmen? Schon beruflich mag das so gewesen sein. Die Schule, auf die man uns mit zehn oder vierzehn Jahren geschickt hat, – ausgesucht haben wir sie uns nicht; die Lehrer, die dort unterrichteten, kannten wir kaum; die Prüfungen, die wir abzulegen hatten, waren zwar kein reines Glücksspiel, sie hatten aber doch unbezweifelbar etwas auch von einer Lotterie an sich. Gerade in der «formativen Phase» verlief unser Leben wie auf einem Rangierbahnhof, dessen Stellwerkbetrieb wir nie wirklich verstehen oder mitbestimmen konnten. Aber irgendwann fuhr der Zug ab, aus dem Bahnhof heraus durch eine Vielzahl von Weichen, schließlich auf einem einzigen Gleis, und jetzt in immer rascherer Fahrt ging es weiter. Irgendwann mochte man aussteigen und sich fragen, wohin denn das führen solle, wie es denn enden werde, ob dies wirklich die richtige Strecke sei, ob es in einen Tunnel führe oder auf ein Abstellgleis zutreibe. Und so stellen sich doch nur erst die «beruflichen» und gesellschaftlichen Fragen. Religiös sind all diese Zweifel noch sehr viel bedrückender: Der Ort, an dem man geboren wurde, entscheidet fast über alles: ob man sich als ein Christ bekennt oder als ein Buddhist, ob man als Christ ein 357

Protestant ist oder ein Katholik, – durch den räumlichen Zufall lebt man vermeintlich nun in der Pflicht, alles, was da vorformuliert wurde, auch noch für einzig seligmachend zu halten, für heilig und für göttlich beglaubigt. Irgendwann freilich fängt man an, nachzudenken; man sagt sich: «So kann es nicht sein; ein Glaube, der ein reines Regional- oder Lokalphänomen ist und der sich zudem noch dogmatisch verbarrikadiert, was hat der zu tun mit ehrlichem Suchen?» Wieviel mußte man in einer solchen religiösen «Unterweisung» eigentlich wegdrängen, nur um das zu werden, wovon die anderen behaupten: «Das bist du, das ist deine Person»? Womöglich, ja, ganz sicher gibt es noch einen ganz anderen Menschen in uns, nur daß er jetzt erst sichtbar wird. Bis in den intimen Bereich unserer Existenz hinein reicht dieses Problem der Formung von außen. Man ist mit siebzehn, achtzehn oder fünfundzwanzig Jahren als Mädchen einem Jungen, als Junge einem Mädchen begegnet, und diesen einen erlebt man rückblickend als schicksalhaft. Kaum jemand hat beim ersten Kennenlernen irgendeine Möglichkeit, auch nur darüber nachzudenken, worin dieses Schicksal besteht, was diese Hypnose aneinander eigentlich ausmacht, worin der vermeintliche Vorteil besteht und was sich bald schon vielleicht als Nachteil enthüllen wird. Kann es nicht sein, daß die Bilanz unseres Lebens, ganz oft nach dem Einsatz von sehr viel gutem Willen, nach einem Maximum an Anstrengung, an gediegener, solider Arbeit, lauten muß: «Ich kann damit nicht länger leben. Es ist nichts vorhanden, worauf sich zurückgreifen ließe»? Niemand, das kann man sicher zugeben, wird eine solche Antwort sich freiwillig eingestehen. Er wird sich, solange es geht, dagegen sträuben; er wird versuchen, trotz allem so weiterzumachen wie bisher. Die schlimmste Umschreibung für das, was wir metaphysisch, symbolisch, als Hölle bezeichnen, trägt diese Formel: weitermachen. – Jean Anouilh hat in seinem Bühnenstück Antigone einmal einen Politiker in der Gestalt des Königs von Theben, in Kreon, geschildert, der genau weiß, daß das, was er bei der Verwaltung der Macht tut, einem Verbrechen gleichkommt. Er wird eine Unschuldige, eben Antigone, aus Gründen der Staatsräson hinrichten lassen; er fühlt sich dafür verantwortlich, er akzeptiert seine Schuld; Antigone aber, die ihm erklärt, sie wolle unschuldig sein, wird er anschreien, daß, wer das Ruder ergreife, auch den Mut haben müsse, das Schiff zu steuern; da könne es halt sein, daß man sich die Ärmel aufkrempeln und seine Arme in Blut tauchen müsse. «Wenn doch die Menschen gehorchen könnten wie die gehorsamen Tiere!» faßt er sein Bild vom idealen Untertan zusammen. Kaum aber spricht er diesen Gedanken aus, als Antigone höhnt: 358

«König der Tiere, König der Tiere!»2 Aber genau darüber erregt sich Kreon. Er sieht schließlich keinen anderen Weg mehr, als Antigone hinrichten zu lassen. Dieser König glaubt an nichts. Er sieht die Langeweile, mit der die Priester in Theben die Toten beerdigen. Er erkennt durchaus, daß weder Polyneikes noch dessen Bruder Eteokles besser oder schlechter gewesen sind als der jeweils andere. Aber ihm muß es darauf ankommen, für die Stadt ein Exempel zu statuieren, also wird der eine zum Helden und der andere zum Verräter zu stilisieren sein3. Kreon selbst kommt sich dabei schäbig vor; er ist inzwischen ein alter Mann mit Bauch und Falten, aber er wird tun, was er glaubt, tun zu müssen. Die letzten Worte dieses verzweifelten Dramas bestehen in Kreons Frage an seinen Pagen: «Was machen wir jetzt?» Und der Page erwidert: «Staatsrat.» – «Dann müssen wir hingehen.» – Allen Selbstzweifeln zum Trotz wird Kreon weitermachen4. So geht es fast überall. Man kann in der Öffentlichkeit einen Menschen in den Medien hetzen und ihm förmlich beweisen, daß er im Grunde politisch, wirtschaftlich, persönlich, aus was für Gründen immer, ein für allemal am Ende sei; er wird trotzdem versuchen, sich und den anderen weiter vorzumachen, daß es noch eine Chance gebe, daß sie alle nur gemeinsam noch etwas durchhalten müßten. – Wann entsteht ein Raum, in dem es erlaubt ist, ehrlich zu sein, außer in einer sehr schmalen gütigen Zone, fast verborgen dem Licht der Öffentlichkeit? Nur an einem solchen Ort kann ein ganzes Leben sich ändern. Darum ist in den Erscheinungserzählungen die Anrede so wichtig, mit der die jeweilige Anfrage eingeleitet wird. Bei Maria Magdalena hörten wir, wie sie am offenen Grab von Jesus angesprochen wird: Frau, was weinst du? oder einfach nur mit ihrem Namen: Marjam! Jetzt aber redet der Mann am anderen Ufer, diese zunächst unbekannte Person, die Jünger an mit: «Kindlein» (paídia). Dieser Ausdruck findet sich im ganzen Johannes-Evangelium nicht (außer in 4,49 beim Sohn des königlichen Beamten und in der Gleichnisrede von 16,21) als Anrede. Erst im ersten JohannesBrief (1 Joh 2,14.18) versteht man, was da eigentlich gemeint ist. Am Anfang der Abschiedsreden (Joh 13,33) heißt es ähnlich einmal: «liebe Kinder» (téknia – «Kindlein»), ein Wort, das dann im 1. Johannes-Brief bevorzugt gebraucht wird (1 Joh 2,1.12.28; 3,7.18; 4,4; 5,21). Der Sinn ist eindeutig. Es war Papst Johannes XXIII., der diese Bezeichnung aufgriff, indem er auf dem Petersplatz zu Rom die Menge anredete als «Filioli», als «Kindlein». In seinem Munde war das ein rührendes Wort, aber es berührt doch irgendwie unangenehm im 20./21. Jh., – man will nicht ein «Kindlein» sein, sondern für erwachsen und mündig genommen werden. Hier 359

aber, an dieser Stelle des Johannes-Evangeliums, hat das Wort, verbunden mit der Person Jesu, in der Situation seiner Jünger eine überraschende Bedeutung. Eigentlich müßte man die Anrede «Kindlein» als einen einladenden Wunsch übersetzen; man müßte sagen: «Ihr könnt in diesem Moment sein, was ihr niemals wirklich sein durftet: Menschen, für die es einen neuen Anfang gibt, Menschen, die unfertig sein dürfen, Menschen, die lernen dürfen zu reifen wie kleine Kinder, Menschen, die sich ihre eigene Geschichte noch einmal ansehen können.» Man sagt, die Psychotherapie, zumindest analytischer Prägung, bestehe darin, ein Verhältnis wie zwischen Vater und Tochter oder wie zwischen Mutter und Sohn aufzubauen, derart, daß der andere noch einmal die Chance erhalte, sich selber in seiner Kindheit zu finden und die liegengelassenen Anknüpfungspunkte möglicher Entwicklungen neu zu strukturieren. All die Ängste, die damals, weil viel zu stark, verdrängt werden mußten, erhalten jetzt eine eigene Sprache und Stimme, sie dürfen sich mitteilen, sie können neu bearbeitet werden. Kindlein, das heißt soviel wie: «Ihr müßt euch nicht schämen, schwach zu sein, arm zu sein, leer zu sein, verzweifelt zu sein, traurig zu sein, gescheitert zu sein. Hier ist der Ort, an dem ihr es sagen könnt, und zwar nicht mir – was bräuchte ich Zubrot und Fische? –, sondern euch selber. Was habt ihr mitgebracht? Ihr könnt es euch eingestehen: überhaupt nichts. Und erst wenn ihr dies begreift, beginnt die Möglichkeit, eine andere Wirklichkeit eueres Lebens einzuüben.» Werft, sagt dieser Andere vom Ufer her, zur rechten Seite des Bootes das Netz aus. Was uns eingangs so merkwürdig erschien, bekommt jetzt plötzlich einen symbolischen Sinn. Die Hirnforscher, die Neurologen sagen uns, daß die rechte Körperseite, gesteuert von der linken Hirnhälfte mit den beiden Sprachzentren, die Seite des Bewußtseins sei; zumindest bei der Mehrheit der Menschen verhalte es sich so. Was wir auf der rechten Seite täten, werde in aller Regel willentlich gesteuert, mit Absicht in die Wege geleitet, es gehe von unserem eigenen Ich aus. Von daher liest sich die Aufforderung Jesu, das «Netz» auf der rechten Seite des Bootes auszuwerfen, wie eine Gabe, wie eine Aufgabe, am Ende der Nacht, im Morgengrauen, ein ganzes Leben zu ändern. Plötzlich verstehen wir: das Tagwerden, der Anbruch der Helligkeit, die rechte Seite der Bewußtheit, das alles sind keine verworrenen Mischungen aus Zeit- und Ortsangaben, es sind vielmehr einander ergänzende Chiffren auf ein und derselben symbolischen Sprachebene: Nur im Morgengrauen wird es überhaupt eine rechte Seite des Bootes geben, und nur indem diese benützt wird, kommt zum ersten Mal ein wirklicher Inhalt ins Leben, und zwar viel mehr als geahnt. 360

Merkwürdig ist das: Gerade das, wovor wir uns am meisten fürchten – die eigene Leere einzugestehen –, das kann, wenn es bewußt durchlitten und durchlebt wird, am Ende unseren eigentlichen Reichtum begründen. Kein Mensch vermag einem anderen wahrhaftig weiterzuhelfen, ohne diesen Zonen einer fast peinigenden Ehrlichkeit begegnet zu sein und sie durchwandert zu haben. Keine Angst im Leben des anderen wird man erfolgreich ins Offene führen können, außer man hätte sie selbst sich eingestanden. Keine Verzweiflung in der Seele des anderen wird man je heilsam trösten können, außer man hätte sie selber erfahren. Da gibt es kein Herumspielen mehr, – nichts, was dem Grimmschen Märchen Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen ähneln würde5 –, so als könnte man diese Grenzzustände des Lebens, diese Berührungspunkte einer anderen Wirklichkeit mit Gewalt herbeizwingen, ärztlich verordnen oder in irgendeinem Wochenendseminar vom Zaun brechen. Aber dieses Mehr an Freiheit in dem Vertrauen, noch einmal oder zum erstenmal Kind sein zu dürfen, schafft eine Bewußtheit, die an sich selbst bereits Inhalt in Fülle bietet. Die Frage kann an dieser Stelle, recht verstanden, daher nicht lauten: Wo kommen die einhundertdreiundfünfzig großen Fische her? Dieses «Wunder» erklärt sich von selbst: Wer beginnt, bewußt zu leben, der spürt plötzlich auch einen Inhalt in seinem Dasein, der erfährt mit einem Mal eine reiche Belohnung in und durch sich selbst. Da ist nichts anders zu machen, es wird alles anders durch diese andere Bewußtseinseinstellung. Man macht womöglich dieselben Dinge nach außen hin unverändert weiter, aber in uns selber ändert sich alles; es verändert sich durch unsere Bewußtseinsänderung in jedem Detail. Zu überlegen bleibt natürlich, was es mit dieser merkwürdigen Mathematik mit den exakt hundertdreiundfünfzig Fischen auf sich hat. Die Exegeten haben sich bemüht, darin eine konkrete Symbolik zu errechnen, indem sie das hebräische oder das griechische oder vielleicht auch das lateinische Alphabet auf entsprechende Buchstaben hin zu deuten versuchten, doch kam dabei nichts Rechtes herum. Richtiger ist es offenbar, die konkrete Fülle selber zu betrachten. Es gibt ein Glück, das genau darin besteht, ein gewisses Maß zu erreichen. Womöglich kommt jeder Mensch auf die Welt mit einem bestimmten «Netzinhalt», mit einer nur ihm eigenen Fassungskraft, mit einer maximalen Kapazität für das, was ihm Glück heißen mag. Weit darunter zu bleiben bedeutet Enttäuschung, weit darüber hinaus zu greifen nahezu Qual. Es kommt darauf an, sein eigenes konkretes Maß zu finden und zu halten. Aber man erfindet ein solches Maß nicht, man entdeckt es, indem sich’s erfüllt. Genauso hier. 361

Bis dahin mag ein Einwand gegen diese Deutung immer noch lauten, es werde hier die Erkenntnis der eigenen Person mit der Erkenntnis des auferstandenen Christus gleichgesetzt. Doch gerade so meint es dieser Text: Man erkennt zugleich mit der eigenen Fülle die Gestalt, die am anderen Ufer steht, als den «Christus». Was es an dieser Stelle zu lernen gibt, ist merkwürdig genug, weil es sich direkt gegen den Widerstand der üblichen Auslegung richtet. Die übliche Exegese stellt fest: Jesus ist der Christus, weil Gott ihn geschickt hat, und er ist als Auferstandener den Jüngern erschienen. Aber erkennt man durch eine «Erscheinung», daß «Christus» «auferstanden» ist? Und ist diese «Erscheinung» ein «reales» physisches Phänomen oder «nur» psychischer Natur? Die Standardantwort lautet: Die Gestalt des «Auferstandenen» ist etwas «Reales», also «Objektives», also doch irgendwie «Physisches», denn: die kirchliche Dogmatik hat es so entschieden; und daraus folgt: Wer so nicht glauben kann, glaubt eben nicht! – Diese Geschichte hier erzählt sich indessen ganz anders. Ihr zufolge kann man die Person Jesu in ihrer Wirklichkeit nur erkennen, indem man selber bewußt lebt und darin das eigene Leben sich erfüllt, – erst dann wird aus dem Bild dessen, was man selber sein könnte, eine Bestätigung für die Überwindung des Todes in der Auferstehung Jesu und eine Beglaubigung für die Entdeckung: Der Herr ist es. Kein einziges der Worte Jesu bezeugt sich anders, außer daß wir im bewußten Leben wiederentdecken würden: «Genauso, wie er es gesagt hat, stimmt es! Es gibt überhaupt nichts, das wir besser oder intensiver befolgen sollten, als was er am See von Gennesaret sprach. All seine Worte, die ganze Bergpredigt – so lebt sie sich, so ist sie wahr!» Vielleicht haben wir uns ein ganzes Leben lang äußerlich herumgequält, das zu tun, was zu tun man uns gelehrt hat, aber es gab dafür nie eine persönliche Überzeugung, weil es mit uns im Inneren, mit unserer eigenen Entwicklung, mit unserer Selbsterfahrung nur sehr wenig übereinstimmte. Es war nichts als ein rituell herunterzusagendes «Glaubensbekenntnis». Jetzt aber, ohne einen erkennbaren Bezug auf die Botschaft Jesu, verstehen wir plötzlich die Wahrheit all seiner Worte und seiner ganzen Person. Weit weg scheinbar, auf dem Wasser, viele Ellen weit vom Ufer entfernt, wie es uns vorkommt, außerhalb des Sehbereichs, entsteht aus dem Reichtum in unserem Inneren, in unseren «Netzen», diese Gewißheit: Der Herr ist es! Der Mund des Jüngers, den der Herr liebt, spricht diese Evidenz aus. Dann plötzlich wechselt die Geschichte noch einmal zu einem neuen Thema. Petrus, der nackt war, bekleidet sich und wirft sich in den See, um als erster ans Land zu kommen, obwohl, wie versichert wird, das Boot sich 362

gar nicht so weit vom Ufer aufhält, – keinerlei Eile scheint nötig. Wieder ahnt man, daß diese Chiffren auf ihre Gegensätzlichkeit hin angelegt sind und dementsprechend ausgelegt werden müssen: der äußere Widerspruch kreist diesmal um die Chiffre «Nacktheit». Biblisch gelesen kann es ein unerhörter Vorzug sein, nackt sein zu dürfen. Die Paradieserzählung (Gen 2,25) endet noch mit den Worten, daß die Menschen voreinander nackt sind ohne jedes Gefühl von Befangenheit; ihr Vertrauen und ihre Liebe benötigen keinerlei Verhüllung6. Das ist die eine Art zu leben. Es kann aber auch sein, daß Menschen gelernt haben, sich schämen zu müssen für das, was sie sind, und dann haben wir die Welt, wie wir sie kennen. In dieser Welt der Schamgefühle kann es unerläßlich sein, unter die Augen seines «Herrn» nur richtig «gegürtet» und «ausgerüstet» zu treten, – so Petrus hier. Wenn denn dies der Herr ist, so fühlt er sich Manns genug, korrekt gegürtet, passend für neue Aufgaben, hinreichend stark, wie sich später zeigen wird, vor seinem Herrn zu erscheinen. Man hat der Religion oft vorgeworfen, daß sie den Gläubigen entmündige und herabwürdige, daß in ihr der Mensch sein eigenes Ich in Gott hineinprojiziere und daß sie überhaupt in die Demütigung des Einzelnen ihre Stärke setze; doch genau das Gegenteil davon erleben wir hier. Kaum hört Petrus: Der Herr ist es, da fühlt er sich in seiner Individualität nicht ausgeschaltet, sondern aufgerufen. Das ist das unendliche Leben im JohannesEvangelium: Alles, was von der Botschaft Jesu ausging, steht nicht wie etwas Fremdes uns gegenüber; unser Ich entwickelt sich aber auch nicht einfach daran vorbei, sondern es ist imstande, von innen her aufzugreifen und sich ergriffen zu fühlen durch das, was Jesus gesagt, getan und verkörpert hat. Und diese Erfahrung ermutigt unsere Person, noch einmal sich ganz zu wagen, wie wenn das Bodenlose tragfähig würde; sie stattet uns mit einem Mut aus, der dem Versinken standhält. Ein wenig erinnert das Bild an die Szene vom Seewandel Jesu in Joh 6,16-21: Hier wie dort ist das «Meer» ein Sinnbild für die Abgründigkeit unserer Existenz, für ein Leben der Angst, der Hoffnungslosigkeit und der Nichtidentität; doch es ist uns gegeben, diese Welt zu «überwinden» (Joh 15,19; 17,14.16); es ist möglich, sich mit Haut und Haaren in gerade diese Welt hineinzustürzen und sich ihr auszusetzen, ohne darin unterzugehen. Wenn wir erst einmal wissen, wer wir selber sind, vor dem Hintergrund, den der auferstandene Jesus bildet, so ergibt sich daraus ein mächtiger Antrieb. Unser Leben erhält plötzlich ein «Vorbild», und zwar nicht in äußerlichem, autoritärem, dogmatischem oder moralisierendem Sinne, es ergibt sich nicht auf Grund von Indoktrination und Außenlenkung, sondern kraft einer tief empfundenen 363

inneren Bestätigung. Man kann dabei an Worten oder Handlungsweisen, die im Neuen Testament von Jesus berichtet werden, aufgreifen, was immer man will, – stets wird es von jedem beliebigen Ausgangspunkt aus in das gleiche Zentrum tragen, das lautet: «Wo irgend du einem Menschen versucht hast zu helfen, da war es dein eigenes Glück, da wurde es dir selbst zum Anfang des Himmels auf Erden, da geriet es dir persönlich zur Begegnung mit Gott. Und wo irgend du gesehen hast, wieviel Freude aufblühen kann mitten unter Tränen, da änderte sich für dich eine ganze Welt. Wo irgend du vermocht hast, einem Menschen, der deine Begleitung gebraucht hat, zur Seite zu stehen, da bist du mit ihm gemeinsam hinübergegangen zu dem Ort, da Gott selber wohnt.» All das sind wiederum Einladungen für Erfahrungen, die man nur machen kann, indem man sich auf sie einläßt, – «zur rechten Seite des Bootes», um im Bilde zu bleiben. Dabei, noch einmal, könnte die Gefahr entstehen, daß man auch aus der Person Jesu eine Art Überichideal stilisiert. Da steht jemand vor uns, aber wir sind vermeintlich so unerhört weit von ihm getrennt! Genau das, versichert der Text, sei indessen nicht der Fall: Man kann den Abstand zwischen uns und der Gestalt am anderen Ufer sozusagen mit dem Meterband abmessen und auf die Elle exakt angeben, wie groß die Entfernung noch ist. Um so stärker wirkt der Ansporn, sich ganz und gar inmitten dieser «Welt» auf die Sache Jesu einzulassen, ist doch das Ziel durchaus nicht entmutigend weit entfernt. Ein anderer ernstzunehmender Einwand gegen die Religion lautet, daß, wenn Gott, wenn ein Himmel sei, alles Irdische und Menschliche restlos zu nichts entwertet werde. Friedrich Nietzsche im 19. Jh. formulierte in seinem «Zarathustra» das berühmt gewordene Wort: «Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein?»7 – Nicolai Hartmann im 20. Jh. konnte ähnlich sagen: Schon die Idee eines Gottes tue dem Menschen unrecht, denn einen Gott entwerfen könne nur das menschliche Bewußtsein; wenn es etwas Allervollkommenstes aber bereits gebe, so müsse jede menschliche Anstrengung um Vervollkommnung von vornherein sinnlos erscheinen: Beliebig viele Milliarden Menschen, die sich um die Vervollkommnung dieser Welt mühten, würden einem allervollkommensten Wesen nicht ein Gramm und Jota an Gewinn hinzufügen können. Eine schon perfekte Wirklichkeit unter dem Namen Gottes sei daher nicht vereinbar mit einer Welt, in der gelitten und gestritten, gerungen und gekämpft werde, um auch nur ein Geringes an Fortschritt in Vernunft und Humanität in diese Wirklichkeit zu tragen. Ein schon vorhandenes vollendetes Resultat mache jeden Anfang unsinnig8. 364

Gedanken dieser Art gehören zu den wichtigsten atheistischen Einwände gegen jede Art von Religion. Um so wichtiger erscheint dieses Nachtragskapitel im Johannes-Evangelium. Da fragte Jesus seine Jünger soeben noch: Kindlein, habt ihr nicht etwas zum Essen?, und sie haben antworten müssen: Nein. Nun schleppen sie auf sein Geheiß hin in Überfülle an – einhundertdreiundfünfzig Fische –, und siehe da, am anderen Ufer ist bereits ein Kohlenfeuer angelegt mit Fischen darauf und Brot; es ist zunächst, wie wenn in der Bildsprache dieser Erzählung jener Einwand gegen die Religion auf das eindringlichste bestätigt werden sollte: Ist da nicht die ganze Arbeit auf dem See überflüssig, weil ja sowieso am anderen Ufer alles bereits fertig angelegt ist? Gerade so aber denkt nicht dieser Text. Umgekehrt sogar: Es geht von Jesus noch einmal die Einladung aus, all das ans Ufer zu schaffen, was da «gefangen» wurde, und wir begreifen erneut: In der gleichen Weise, wie zwischen der Entwicklung des eigenen Ichs und der Person Jesu eine Synthese gebildet werden muß, muß jetzt zwischen dem, was am anderen Ufer vorbereitet ist, und dem, was wir als Menschen mitbringen, eine Wechselbeziehung entstehen; und es ist nicht sehr schwer, sich dieses Verhältnis zu verdeutlichen. Fragen wir uns, wann wir wirklich den Mut gewinnen, auf etwas zuzugehen, so sind es ausnahmslos die Momente einer Erwartung von Glück; doch das Glück, das wir suchen, ist nichts, das wir erst machen müßten, – wir hoffen es vielmehr bereits fertig angelegt zu finden. Es ist paradox, aber wir warten stets am allermeisten auf etwas, das es schon gibt, aber wir brauchen das, was es schon gibt, damit wir uns selber geben können. Und in gerade diesem Austausch zwischen den beiden Ebenen vollzieht sich diese Geschichte: Es ist alles längst da, aber gerade deshalb bringen wir unser Eigenes ein. Das Netz reißt hier nicht auseinander, sondern plötzlich ist es, daß ein Einzelner, jeder Einzelne, das Ganze in der Hand hält, und es fällt nicht zu schwer, es zerreißt nicht, es bleibt tragbar-erträglich. Was dann sich ermöglicht, ist eine Begegnung, die so ganz anders geprägt ist, als wir sie vermuten würden. Da lädt Jesus die Jünger ein, gemeinsam zu essen, und jeder beim Lesen dieses Textes denkt gewiß an die Mahlzeiten, die Jesus unter den Augen Gottes ausrichtete, indem er aus den Gassen Galiläas insbesondere die Verstoßenen, die Verlorenen, die Zerbrochenen einlud. Kommt, eßt – das war für den historischen Jesus ein Bild des Himmels: eine Gemeinschaft von Menschen, in der niemand ausgeschlossen ist. Dieses Bild tritt hier in seine Wirklichkeit. Das Vierte Evangelium kennt keine Eucharistie, wie sie (mit Berufung auf Mt 26,2628; Mk 14,22-24; Lk 22,19-20) in der Sakramentenlehre der Kirche grund365

gelegt ist; vielmehr vertritt es die Überzeugung, daß einzig die Worte Jesu uns zur Nahrung werden, wie in der Rede in Kafarnaum im 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums (Joh 6,35). Von Jesus selbst wird überliefert, ihm sei das Wort Gottes zu Brot geworden (Mt 4,4; Joh 4,34), und so gilt im ganzen Vierten Evangelium Jesu Wort als «wahre Speise». Diese Vorstellung klingt noch einmal an in der Aufforderung: Kommt, eßt. Dann aber kommt es zur Einsicht in ein Geheimnis, das es nicht länger erlaubt, in auswendig gelernten Formeln zu bekennen: Jesus ist der Messias, Jesus ist der Sohn Gottes, Jesus ist der König aus Israel; wir müßten viel einfacher sprechen, weil Worte wie «Herr», «König» und «Gottessohn» einen unzumutbaren Inhalt von Herrschaft assoziativ auf sich geladen haben; eher müßten wir sagen: «Jesus ist der Erfahrungsinhalt dessen, was glücklich macht und wofür zu leben sich lohnt; er ist das Richtmaß von allem, was an Fülle und Erfüllung offenbar wird. Er ist wirkliches Leben.» Da kann man nicht fragen: Du – wer bist du?, sondern das tiefste Geheimnis unter uns Menschen wird gerade darin bestehen, daß es nicht erlaubt ist, den anderen auszuforschen und festzuschreiben. Immer wenn man sich über etwas von einem anderen durch bohrendes Nachfragen in Kenntnis setzen will, verängstigt man, verbiegt man, verformt man die Antwort. Nur in einer Zone, die man als nicht zu bezweifelnde Wahrheit in sich ruhen und auf sich beruhen läßt, kommen Menschen so zueinander, wie es hier geschildert wird: Und niemand da wagte von den Jüngern, ihn auszuforschen: Du – wer bist du?, im Wissen: Der Herr ist es. Intensiver und ursprünglicher ist im ganzen Neuen Testament kein Erscheinungsbericht überliefert worden als dieser, der literarkritisch so deutlich «konstruiert» und «sekundär» wirkt! Im Christentum verfügen wir über eine lange Schule des Gebets, und wir werden darin eingeladen, um alles mögliche zu bitten und darauf zu vertrauen, daß Gott uns erhören wird. Würden die Jünger an dieser Stelle eine derartige Gebetstradition begründen, so hätten sie Jesus sehr viel zu unterbreiten, bis zum Rest aller Tage: eine Riesenbootslast an Vorwürfen, so daß jede Schaluppe am See von Gennesaret bis zum Grund sinken würde. Die Jünger aber lernen hier etwas ganz anderes, nämlich, sich in einer beglückenden Wirklichkeit fraglos zu versammeln und darin auszuruhen. Wenn das Gebet ist, wo hätte man es jemals einüben dürfen? Doch wenn wir wissen wollen, was es heißt, vom Tode aufzuerstehen und sehend zu werden, so liegt es offenbar einzig darin.

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Joh 21,15-25: Bist du mir Freund? 15Als

sie nun Mahl gehalten, sagt zu Simon Petrus Jesus: Simon, Sohn des Johannes (1,42), liebst du mich mehr als diese? Sagt er ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dir Freund bin. Sagt er ihm: Hüte meine Lämmer. 16Sagt er ihm wiederum zum zweiten Mal: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Sagt er ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dir Freund bin. Sagt er ihm: Weide meine Schafe (1 Petr 5,2). 17Sagt er ihm zum dritten Mal: Simon, Sohn des Johannes, bist du mir Freund? Betrübt ward Petrus, daß er so gesagt hat, zu ihm, zum dritten Mal: Bist du mir Freund? Und er sagt ihm: Herr, alles weißt du, du erkennst, daß ich dir Freund bin (16,30). Sagt zu ihm Jesus: Hüte meine Schafe (10,1-18). 18Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage dir: Als du noch jünger warst, hast du dich selber gegürtet und gingst umher, wohin immer du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, streckst du deine Hände aus und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst. 19Das aber hat er gesagt, zum Zeichen, durch welchen Tod er Gott verherrlichen werde. Und als er das gesprochen, sagt er ihm: Folge mir (13,36). 20Umwandte sich Petrus und erblickt den Jünger, den Jesus liebte, wie er nachfolgt, ihn, der sich gelehnt hatte beim Mahl an seine Brust (13,25) und gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich ausliefert? 21Den also sieht Petrus und sagt zu Jesus: Herr, dieser aber – was? 22Sagt ihm Jesus: Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich komme, was das auf dich hin? Du folge mir! 23Heraus kam dieses Wort nun zu den Brüdern, daß jener Jünger nicht sterbe. Nicht aber hatte ihm Jesus gesagt, er sterbe nicht, sondern: Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich komme, was das auf dich hin? 24Dies ist der Jünger, der dafür zeugt (15,27) und der dies geschrieben hat. Und wir wissen: unverstellt ist sein Zeugnis. 25Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat, was alles, wenn es geschrieben würde ins einzelne, – selbst die Welt, meine ich, böte nicht Raum für die Bücher, die dann zu schreiben wären (20,30; Ps 106,2)!

In diesem Nachtragskapitel des Evangeliums, das dem Johannes zugeschrieben wird, stellt sich die Frage nach dem, was Kirche sei, noch einmal völlig anders als in den ersten drei Evangelien; eigentlich geht es gar nicht so sehr darum, was Kirche an sich sei, sondern wie man das schon verfestigte Bild von der «richtigen» Gemeinde korrigieren könne, sehr leise, sehr schwebend, als eine ganz und gar persönliche Vision. 367

Wenn man die Worte aus diesem angehängten Kapitel des JohannesEvangeliums hört, reden sie unmittelbar und warm in das Herz eines jeden; aber merkwürdig: sobald man über sie nachdenkt, scheinen sie wie unter Schnee verweht, wie vergletschert, soviel an Tränen ist darüber geweint worden und erfroren, soviel an verwalteter Macht ist hartgepreßt worden an diesen Stellen. Kaum ist von Petrus die Rede, wie der Herr zu ihm sagt: Hüte meine Lämmer! Weide meine Schafe!, da gibt sich eine bestimmte Auslegungsrichtung, vor allem in der römischen Kirchengeschichte, ganz sicher: Dies hier, wenn nicht Matthäus 16,18, seien die Worte, mit denen das Petrusamt eingesetzt worden sei; hier werde Petrus als Führer der Kirche benannt und der römische Papst in gerader Linie als sein Nachfolger beglaubigt. Gegen diese ideologisch anmutende Exegese spricht geschichtlich alles, aber sie wird 900 Millionen Menschen, die katholisch sind, immer noch weltweit in die Seelen gepredigt: der römische Papst sei der heute lebende Petrus, denn Petrus habe die Gemeinde in Rom gegründet, und in Rom sei er gestorben. Niemals hat Petrus die ChristenGemeinde in Rom gegründet – jeder, der den Römerbrief des hl. Paulus liest, könnte das wissen: die Gemeinde in Rom existiert, ohne einen Petrus erwähnen zu müssen. Ob Petrus überhaupt in Rom war? Das mag sein; daß er dort verstarb, entschwindet bereits unter den Spuren der Legende. Doch selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, – «Bischof» von Rom im Sinne der sakralen und sakramentalen Vorstellung des Römischen Katholizismus war er nie. Genau das aber und noch viel mehr müßte er gewesen sein, um das heutige Papsttum zu legitimieren. Selbst wenn er der Gemeinde von Rom je als Leiter vorgestanden hätte, – wie weit entfernt wäre er dann immer noch von dem, was sehr viel später im Erbe der Cäsarenmacht, während des Vakuums der Völkerwanderungszeit im Westteil des Römischen Reiches, in Form des Papsttums als politischer Ordnungsfaktor über lange Zeit hin kondensierte! Bestimmte Besonderheiten der Geschichte mit Ewigkeitsanspruch vor Gott zu konservieren ist eines, es zu rechtfertigen mit Texten wie diesem ein anderes, und beides paßt nicht zueinander. Wohl aber scheint es wahr, wie vor allem F. W. J. Schelling gesehen hat1, daß im Hintergrund dieser vorsichtigen, schwebenden, fast traumähnlichen Erzählung an den Gestaden des Sees von Gennesaret ein bestimmtes Modell von Gemeinde sich zu stabilisieren beginnt, freilich gewiß nicht in Rom, eher wahrscheinlich in Syrien. Vom Matthäus-Evangelium her wissen wir, daß Petrus dort eine bedeutende Rolle gespielt hat, indem er, nicht zuletzt unter dem Einfluß des Paulus, von der Jerusalemer Ge368

meinde abrückte und sich für die Welt der «Völker», der «Heiden», öffnete. Man wollte nicht länger nach dem Vorbild des Bruders Jesu, des Jakobus, betend, gesetzesfromm und im Grunde resigniert das Reich Gottes und den Niedergang der Welt erwarten, das heißt förmlich von Gott her erzwingen, man wollte die Zwischenzeit nutzen, um alle Menschen einzuladen, und man glaubte das auch und gerade mit der Botschaft Jesu verbinden zu können, ja, zu müssen. Im syrischen Raum könnte auch das Vierte Evangelium entstanden sein, das, wie wir hörten, der Bewegung, die wir später die Gnosis nennen, nahesteht. Man interessiert sich in dieser Geistesrichtung nicht für das, was Jesus historisch gesagt hat, man ist mit Fragen der Historie überhaupt nicht beschäftigt, man denkt, im Gegenteil, daß Religion sich im Inneren der menschlichen Seele selber ereigne, und gerade das sei es, was Jesus wesentlich war, wozu er uns habe ermächtigen wollen: gottunmittelbar zu sein und die Liebe zu leben. Dies beides sei der ganze Jesus von Nazaret, darin bestehe seine ewige Bedeutung vor Gott, dafür habe er gelebt und dafür sei er gestorben, indem er gezeigt habe, daß über den Tod hinaus unverbrüchlich die Wahrhaftigkeit, die Liebe und die Menschlichkeit Geltung besitzen. Nie spricht das Johannes-Evangelium davon, daß es möglich sei, sich mit authentischen Worten der Jesus-Überlieferung zu rechtfertigen; dennoch beruft es sich immer wieder auf den Jünger, den Jesus geliebt habe. Man muß dieses Konstrukt wohl im Irrealis wiedergeben: Das, was die Gemeinde, die sich um das Vierte Evangelium formiert, zu leben versucht, das würde Jesus lieben. In diesem Punkte gibt sie sich ganz sicher: Mag sie auch kein Wort aus Jesu Munde zitieren, – sie redet so, wie es ihm gefallen würde. Es ist aus seinem Geist gesprochen, aus seinem Herzen erlauscht, in seinem Sinne weitergelebt. Dazu ist der Vergleich nicht unwichtig: sie würde Jesus nicht verraten haben in der Stunde, da es darauf ankam, nicht wie Judas – und auch nicht wie Petrus! muß man hinzufügen. Die abschließende Geschichte hier beginnt mit einem gemeinsamen Mahl Jesu und seiner Jünger; alles in diesem Nachtragskapitel erinnert noch einmal an die Szene, die im Johannes-Evangelium selber, im 13. Kapitel, berichtet wurde: Jesus feiert dort kein Mahl, weder der Erwartung noch des Abschieds, sondern seine Abschiedsworte deuten und ersetzen im Gegenteil das «Abendmahl» der kirchlichen Sakramentenlehre; sie bilden eine Rede zwischen Zeit und Ewigkeit, indem sie versichern und versprechen, alle Hoffnung lasse sich richten auf das, was im Grunde schon zum Greifen nahe sei und doch noch darauf warte, sich ins Leben zu getrauen, ähnlich den Blüten der Bäume im Spätsommer, wenn sie reifen zur Frucht: 369

Kein Frost wird sie mehr töten, kein Sturmwind sie von den Bäumen schütteln, alles wird wachsen, bis sich’s vollendet. Was wir in diesem Nachtragskapitel in dem Gespräch zwischen Jesus und Petrus aus der Sicht dieser Gemeinde um das Vierte Evangelium erleben, läuft auf eine verhaltene Kritik auch und gerade an der Vorstellung von Gemeinde im Sinne der Petrus-Kirche hinaus. Mag sein, daß man sich in Syrien bereits zu sicher zu werden begann, man hatte Bedeutung erlangt, die Routine hatte sich verfestigt und sich zu einem bestimmten hierarchischen Muster geformt. Noch sind wir zwar weit davon entfernt, eine Institution im römischen Sinn, eine heilige und unfehlbare Beamtenschaft hier Einzug halten zu sehen, aber es geht doch ein Stück weit schon in diese Richtung; und dieses Vierte Evangelium legt in seinem Nachtragskapitel einen deutlichen Protest dagegen ein. Überlegen wir uns, wie eine Gruppierung von Menschen im Sinne Jesu miteinander umgehen könnte: Gewiß, keine soziale Gemeinschaft kommt ohne eine bestimmte Führung aus, doch woran zeigt sich, wer da Führerschaft besitzen sollte? Die römische Lösung, noch einmal, ist auf brutale Weise vereinfachend, und sie tut dem Leben schon deswegen unrecht: Da gibt es eine Einrichtung, welche die objektive Wahrheit repräsentiert, und wer in diese Behörde eintritt, kann als Mensch sein, wer er will, er ist durch das Amt selber bei Gott, er ist von Gott gesetzt, er vermag die Menschen auf vermeintlich sicherem Wege zu Gott zu führen. Die Institution gilt da für das Wesentliche, für das göttlich Gewisse, die Person hingegen ist das Zufällige, das Verschwindende, das Unzuverlässige. Erst wenn wir ein solches Konzept der Wahrheitsgarantie von Amts wegen vor Augen haben, begreifen wir die enorme Gefahr der Travestie eines jeden Wortes, das im Sinne Jesu sich sprechen ließe. Der Nachtrag zum Vierten Evangelium beginnt denn auch mit einem Gespräch, das zentral zwischen der Person Jesu und der Person des Petrus geführt wird; die einzige Frage, um die es dreifach gestaffelt geht, lautet: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Es gibt keine Frage, die sich intimer und intensiver unter Menschen stellen ließe. Wann irgend ein Mann eine Frau, eine Frau einen Mann so fragt: «Liebst du mich?», liegt darin alle Hoffnung, alle Erwartung, alle Furcht und, je nach der Antwort, oft genug auch alle Seligkeit oder alles Unglück. Eigentlich stellt man eine solche Frage niemals, wenn man sie nicht bejahend beantwortet hofft. Es ist eine Frage, mit der man Liebe erflehen, erbitten, erwünschen möchte, und so kann eigentlich ohne die schwerste Enttäuschung niemals ein Nein die Entgegnung sein. Jesus aber spricht seinen Jünger hier nicht mit dem 370

Namen an den er ihm in Joh 1,42 und in Matthäus 16,18 verlieh: Du sollst Kephas (der Fels) genannt werden. Zwar wir, wenn wir den Text lesen, hören heraus, daß hier Petrus gemeint sei; doch nicht dem «Petrus» gilt hier die Frage, sondern dem Menschen Simon, genauer noch – immer wieder hinzugefügt, wie wenn es gerade darauf ankäme –: dem Sohn des Johannes, dem Manne, dem Jesus (Joh 13,38) seinen Verrat sogar voraussagen konnte. Kann man noch deutlicher hervorheben, daß es hier ganz und gar um den Charakter, um die Biographie, um die Person des Simon «Petrus» geht, so wie er großgeworden ist, wie er von seinem Vater ins Leben geführt wurde, und um all die Erfahrungen, die er gemacht hat? Der ganze Weg, auf dem er wurde, was er ist, steht hier zur Prüfung, und das, worum es geht, ist einzig dies: Wieviel an menschlich glaubwürdiger, persönlicher Liebe trägt er in sich? Die Frage ist paradox gestellt. Sie lautet nämlich vollständig gleich beim ersten Mal: Liebst du mich mehr als diese? Diese Formulierung hat es in sich. Immer wenn von Führungsansprüchen die Rede geht, entsteht der Zwang, sich durch irgend etwas legitimieren zu müssen, das bei einem selber mehr vorhanden ist als bei anderen, durch das ein positives Hervorgehobensein erkennbar wird, selbst wenn dieses noch so verschwindend klein ist. Je geringfügiger diese Dominanz ausfällt, desto intensiver wird sie narzißtisch besetzt sein. Auf dieser winzigen Differenz ruht dann der ganze Führungsanspruch. Insbesondere im Raum der Politik richtet man sich nach diesen Spielregeln, selbst für den Fall, daß die «Spieler» sich Minister nennen, was doch im Lateinischen «Diener» bedeutet; vor allem wenn sich einer erst einmal als «der Diener aller» bezeichnet, wird er sehr bald zum «Vater aller Väter», zum pater patrum – eben zum Papa, zum Papst. Immer pervertiert die scheinbare Unterwürfigkeit in einen Machtanspruch. Immer wieder kehrt sich die vorgeschützte Absicht am Ende gegen sich selber. Es ist, wie wenn Jesus mit seiner Frage absichtlich diesen Denkstil aufgreifen wollte, einzig um ihn ad absurdum zu führen. Liebst du mich mehr als diese? Eine solche Erkundigung ist unsinnig; die Liebe schaut nicht nach links und nach rechts zum Zwecke eines quantitativen Vergleichs, wie stark sich gewissermaßen im EKG der Ausschlag der Gefühle registrieren ließe. Die Liebe schaut einzig in die Augen dessen, mit dem sie redet. Genau diese Tatsache, daß man Liebe nicht in Konkurrenz zueinander leben kann, daß es da kein Mehr oder Weniger auf dem Wege zu Machtansprüchen gibt, ist das Entscheidende. Erneut begreifen wir dabei, daß, wo immer in der Bibel Gott oder «der Auferstandene» oder ein Engel Menschen befragt, dies niemals geschieht, um aus dem Angesprochenen 371

etwas herauszufiltern, das noch unbekannt wäre, sondern um dem so Gefragten die Chance zu geben, mit sich besser ins Reine zu kommen. So also auch hier. Es gilt als allererstes zu begreifen, daß in unserem Leben immer wieder an uns im Verlauf der Jahre, sagen wir: dreimal zu verschiedenen Stadien, eine Frage ergeht, und immer wieder wird sie lauten: Liebst du? und: Liebst du mich? Und in dieser Frage, das spürt man genau, entscheidet sich alles. Simon begreift, welch ein Anspruch in ihr liegt, und es ist wie ein Zurückweichen, wenn er antwortet: Ja, Herr, du weißt, daß ich dir Freund bin. Im Griechischen werden hier zwei Worte verwandt, die immer wieder ausgetauscht werden. Nach der Liebe ist die Frage, aber von Freundschaft geht die Antwort. Schon die griechische Sprache, ganz sicher aber das Deutsche, ist so merkwürdig ausdrucksarm, wenn es um die Mitteilung der wichtigsten Gefühle unter uns Menschen und zwischen Gott und Mensch geht. Man sagt von den Inuit-Völkern, daß sie mehr als ein Dutzend verschiedener Worte für Schnee haben: wie er gefroren ist, wie gekörnt, wie glatt, wie hart, wie trocken, wie naß, – all das kann im Kampf ums Überleben im ewigen Eis der Arktis entscheidend sein. Wenn es um die Bewältigung von Gefahren geht, lernen wir genau hinzusehen; in der Liebe indessen erlauben wir uns, fast fahrlässig undifferenziert zu reden. Wir verfügen, genau betrachtet, über lediglich drei Wörter, um den ganzen Erfahrungsraum der Liebe in all seinen Schattierungen zu beschreiben. Das eine Wort ist Kameradschaft; es hat mit Liebe wenig zu tun, nicht einmal mit einer persönlichen Beziehung. Kameradschaft – das ist soviel wie eine Mannschaft im Ruderboot: ein jeder sitzt mit dem Rücken vor dem anderen, jeder pullt im gleichen Takt an den Riemen, einer ist wie der andere in dem gleichen Auftrag. Es ist nicht nötig, daß zwischen ihnen ein Gespräch entsteht. Das gemeinsame Tun vereint sie hinreichend, – mehr braucht es nicht. – Wenn Petrus hingegen von Freundschaft spricht, so nähert er sich mit diesem Wort viel stärker der wechselseitigen Verbundenheit unter Personen an. Allein schon wie zwischen Mann und Frau oft die Rede hin und her geht zwischen Freundschaft und Liebe, kann über ein ganzes Leben entscheiden. Freundschaft, das beinhaltet erneut, daß man Hand in Hand zusammen auf ein Ziel zugeht, doch dieses Ziel ist nicht einfach nur ein gemeinsamer Zweck, sondern ein persönlicher, beiden verbindlicher Wert. Es ist, wie der römische Schriftsteller Sallust es ausdrückte: »Dasselbe wollen, dasselbe nicht wollen, – das ist wahre Freundschaft.»2 Da genügt es, von den gleichen Überzeugungen, von denselben Ideen getragen zu sein. In Freundschaft vereinigen sich Menschen, die das Private miteinander in einer gemein372

samen Aufgabe verschmelzen. – Liebe ist gleichwohl sehr verschieden davon. Liebe bedeutet, daß zwei Menschen nicht nur Hand in Hand auf ein Drittes zugehen, sondern daß sie unmittelbar wechselseitig füreinander sein wollen. Sie gehen aufeinander zu, und der eine bildet das Ziel des anderen. Gerade darin besteht die Liebe, daß es nichts Drittes darüber hinaus gibt, sondern daß der andere als etwas Letztes und Unbedingtes betrachtet wird. Nur so kann man sagen: «Ich liebe dich», wenn damit gemeint ist: «Du bist der Mittelpunkt all meiner Empfindungen, du bist der Gegenstand all meiner Gedanken, du bist der Inhalt all meiner Träume, du bist das für mich Wesentliche, du bist der Mensch, auf den es mir entscheidend ankommt, da ich ohne dich nicht wäre, was ich bin.» In gerade diesem Sinn fragt Jesus hier Simon. In gewisser Weise muß es Staunen nehmen, daß eine solche Sprache der Zärtlichkeit in diesem Zusammenhang überhaupt zustande kommt, denn tagaus und tagein werden wir anders belehrt: Jesus lieben, das heiße, die Gebote zu halten, sagt das Johannes-Evangelium selber (Joh 15,12-14). Jesus lieben, das heiße, seine Kirche zu lieben, in welcher der fortlebende Christus gegenwärtig sei, erklärt vor allem die Römische Kirche. Aber eine Gruppe von Menschen kann man nicht lieben oder man würde sich selbst als Person auslöschen und sich ins Allgemeine auflösen. Ganz anders redet hier Jesus zu seinem Jünger; es ist ein Dialog zwischen Ich und Du, ein Gespräch mit jener Person, die von dem anderen Ufer ins Leben des Fischers Simon trat und die ihn jetzt noch einmal fragt, wo er stehe. Eine vibrierende Sensibilität schwingt in der Reaktion des Simon, Sohns des Johannes; sie ist weitab von der Selbstsicherheit, die wir üblicherweise bei ihm vermuten dürfen; nicht versichert er: «Aber ja, Herr, ganz bestimmt!», sondern es ist, wie wenn er das Entscheidende in seiner Antwort selber gar nicht wissen könnte; vielmehr legt er es in den Mund des Fragenden zurück: Ja, Herr, du weißt. Das will soviel sagen wie: «Der Grund all meiner Fähigkeit, zu lieben, zu leben und Gott zu spüren im eigenen Atem, das bist doch du. Was irgend ich nur verstehe und gelernt habe, verdanke ich dir. Von wem also sollte mir Antwort auf diese wichtigste aller Fragen kommen?» Er spricht aber gar nicht einmal von seiner Liebe, er spricht allein von seinem Bemühen, dem, der da fragt, Freund zu sein oder zu werden. Die Erwiderung Jesu darauf ist erschütternd durch ihre Abstufung. Diesem Simon, der sich so vorsichtig in die Hände Jesu gibt, der so ehrlich in seiner Unsicherheit nur das sagt, was er selber erhofft: Jesus möge ihn betrachten als jemanden unterwegs zur Freundschaft mit ihm, diesem Simon erteilt Jesus als Auftrag: Hüte meine Lämmer! – Bewußt ist hier am An373

fang dieses Gesprächs das Wort von den Lämmern gewählt, von den Jungtieren in den Ostertagen, von diesen noch ganz unfertigen Wesen, die klein und hilflos in jedem Moment noch der Führung bedürfen; und «hüten» ist das entsprechende Verb dazu: eine Obhut voller Aufmerksamkeit. Dabei ist die Korrespondenz das Bemerkenswerte: Genauso unvollendet wie Petrus in seiner Antwort sind diejenigen, die hier unter seinen Schutz gestellt werden, und das Maß dessen, was ihm anvertraut wird, ist einzig sein eigenes reifendes Vertrauen. Und wohlgemerkt: Nie anders wird es sich verhalten beim ersten Mal, da die Frage an uns ergeht: Liebst du mich? Gleich, wann im Leben sie sich zum ersten Mal meldet, diese Frage wird immer wieder ergehen, irgendwann später, nach Jahren vielleicht, auf dem Hintergrund ganz anderer Erfahrungen womöglich, doch zeitlebens in der gleichen Intensität. Sie erledigt sich niemals endgültig, sie ergibt sich vielmehr stets noch einmal bei jedem neuen Aufbruch, in jeder aufkeimenden Unsicherheit, in jeder heraufziehenden Angst; den Worten nach lautet sie aber genauso wie beim ersten Mal: Liebst du mich?, und die Antwort wird dann wohl wieder ebenso zögernd, ebenso verhalten und ebenso vertrauensvoll ausfallen: «Ja, Herr, du weißt, daß ich dir Freund bin, – Freund werden möchte, sollte ich sagen, – drum bitte ich dich, es sein zu dürfen.» Wir hören ganz richtig: Es kann sein, daß jemand über lange, lange Jahre sich einsetzt für einen Menschen oder für zahlreiche Menschen, und es ist ihm nach wie vor nicht sicher: liebt er ihn, liebt er sie wirklich, und was stimmt in seinem Ringen um Freundschaft? Die Frage wie die Antwort kann er nur in die Hand zurückgeben, aus der er selber kommt. Jetzt aber, beim zweiten Mal, wohl weil noch vorsichtiger, noch andeutungsweiser die Erwiderung des Simon klingt, empfiehlt und befiehlt Jesus seinem Jünger, die Schafe zu weiden. Dieses Bild ist weiterentwickelt, es ist führungskräftiger in die ganze Welt hinein entfaltet. Nicht mehr das Behüten jedes einzelnen, sondern das Weiden, das Selber-suchen-Lassen, das Begleiten auf Wanderschaft ist hier gemeint. Fragen wir aber nach der Art, in der es sich vollzieht, so ist ganz deutlich, daß wir zum Kommentar im 10. Kapitel des Johannes nachlesen müssen (Joh 10,1-21). Selber nennt Jesus sich dort den guten Hirten. Das Wort spielt, wie wir damals bereits erörtert haben, auf die Bilder an, die in der Antike der römische Kaiserkult für sich reklamierte: Dort ist der Herrscher des Römischen Imperiums selber der Hirte; Spötter konnten schon im antiken Rom sagen: diese Hirten sind «gut», weil sie die Schafe nicht einfach schlachten, sondern es zunächst auf ihre Wolle und ihre Milch abgesehen haben; Schlächter sind sie gleichwohl, Ausbeuter sind sie, Gewalttätige sind sie, aber dargestellt werden sie, wie 374

sie ein Schaf auf dem Rücken tragen – zur Schlachtbank, versteht sich. Das Wort vom Guten Hirten ist indessen um Jahrtausende älter. Wir haben ebenfalls schon darauf hingewiesen, daß um 1800 vor Christus im Alten Ägypten das Bild vom Guten Hirten auf den Wind- und Geistgott Amun bezogen war; er galt als der Hirte der Witwen und Waisen, der Kinderlosen und der Alleingelassenen, – all derer, die sozial und persönlich in tiefster Not dahindämmerten und denen die Hilfe von Menschen so fern war. Ihr Beistand war einzig dieser unsichtbare Gott Amun mit der Sanftheit seines Wehens, ein Seelentröster, die ägyptische Vorform des «heiligen Geistes» als des «Zusprechers» im Johannes-Evangelium (Joh 16,7-13). Im Bilde des Guten Hirten wollte Jesus für die Menschen an seiner Seite die Gegendarstellung des römischen Cäsars sein. Ich bin der Hirt, der gute. Ich kenne die Meinen und es kennen mich die Meinen, sagte er (Joh 10,14). Es gibt so viele, die gewalttätig in die Hürden der Herden eindringen, und immer wieder kann man sie daran erkennen, daß sie nur mit Machtansprüchen über die Schafe herrschen wollen. Die einzige Form, die Herde in Wahrheit zu leiten, besteht darin, ein jedes einzelne zu kennen bei seinem «Namen»: – in seinem Wesen, will sagen: in seiner Not, in seinem Glück, in seinen Fragen, in seinen Hoffnungen, und die nun aussprechen zu lassen, die nun zu fördern, bis daß sich von innen her eine Antwort findet, das ist Hirtentum nach der Art, wie Jesus es lebte. So und nur so sollte es sich fortsetzen; das ist gemeint hier im Anhangskapitel zum JohannesEvangelium. Doch in der dritten Frage dann spitzt sich alles noch weiter zu. Jetzt fragt Jesus nicht einmal mehr: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?, sondern: «Stimmt es denn wirklich, daß du mir» – man muß hinzufügen – «auch nur Freund wärest?» Wir hören ganz richtig! Je älter man wird, mag man hoffen, daß die immer gleichen Fragen sich endlich auflösten. Aber wenn es wirklich wesentliche Infragestellungen sind, erledigen sie sich nie; sie vertiefen sich im Gegenteil, sie schaffen keine neuen Gewißheiten, sie bleiben bohrende Ungewißheiten. Jetzt steht sogar in Zweifel, was Petrus bis dahin Freundschaft nannte. Es ist jene wachsende Wahrhaftigkeit, die wir uns, wenn es gutgeht (!), im Fortgang der Jahre ermöglichen. Alle Illusionen entfallen, und man versteht, daß Petrus betrübt wird, als Jesus zum dritten Mal ihn so fragt, gerade ihn, Petrus. Er kann nicht anders sagen als: «Du mußt es wissen; und du erkennst es doch; sage du selbst, was ist und was gilt.» Es ist, wie wenn Petrus hier dasselbe lernen müßte und lernen würde, wie Jesus selber, als er sterbend seinen «Geist», sein Ich, die Bedeutung seiner ganzen Existenz, in die Hände Gottes übergab (Joh 375

19,30; Lk 23,46). Nur Gott allein weiß, wer wir sind, und seinem Urteil sei es gänzlich überantwortet und anheimgestellt. Vielleicht ist alles Reifen nur dies: daß wir lernen, mehr und mehr uns in die Hände dessen zu geben, dem wir alles verdanken. Alles Selbstbewußtsein ist so brüchig. Selbst unsere besten Ziele können dastehen wie Irrungen und Wirrungen. Haben wir die anderen wirklich auf rechte Wege geführt? Waren wir ihnen das, was wir ihnen sein wollten? Was ist da Zuspruch, was Widerspruch, was Heil, was Unheil? Wo haben wir ausgehalten, wo eher aufgehalten? Es ist am Ende nur Gott, der mindestens das wissen muß. Es ist diese Gestalt vom anderen Ufer, die uns zu sagen hat, was von uns bleibt. Sie erkennt es, und mehr ist nicht nötig. In unserem Leben kann so vieles passieren – Bitteres, Betrübliches; doch dieser Halt möge uns nie genommen werden, sprechen zu dürfen: «Herr, alles weißt du, du erkennst, daß ich dir Freund bin – daß ich dir Freund sein möchte – wie ich darum ringe, es zu werden, wenn ich’s verfehle.» An dieser Stelle faßt Jesus wieder in einem charakteristischen Changieren der Worte das Wesentliche zusammen: Hüte meine Schafe. Da sind die ausgewachsenen Tiere in diesem Bildwort nicht zu beaufsichtigen, sondern mit aller Sorgfalt, wie wenn es immer noch Lämmer wären, zu (be)hüten. Auch so kann man es sehen: Es ist nicht wahr, daß man erwachsene Menschen einfach laufen lassen könnte; vielmehr alles, was anfanghaft in ihnen schlummerte, gilt es weiter zu entfalten, denn je älter ein Mensch wird, desto eher vielleicht wird es gelingen, seinem Wesen näher zu kommen. Einen wunderbaren alten Priester durfte ich vor Jahren einmal kennenlernen, der als Prälat und als Botschafter jahrelang im Vatikan tätig gewesen war. Zurückgekehrt nach Deutschland, widmete er sich, selber weit über die Siebzig, der Jugend; er rieb sich die Augen und sagte: «Ich kenne die deutsche Jugend seit vielen Jahren nicht mehr, und sie hat so viele Fragen, für die ich keine Antwort habe; ich möchte nur zuhören.» Dieser Mann war fähig, bei einer Fronleichnamsprozession aus dem Corps der feierlichen Christusträger, der Monstranzwallfahrer, auszuscheren und mit irgendeinem italienischen Gastarbeiter an der Ecke zu reden; die Prozession mit dem Allerheiligsten mochte gehen, wohin sie wollte. Das war seine Art zu leben: neugierig im Alter, und zu hüten die Schafe: – nichts mehr zu wissen, aber sich berichten zu lassen von einem Neubeginn, der nie endet. An dieser Stelle greift der johanneische Jesus ein neues Thema auf, indem er seinen Jünger direkt auf die Art seines Todes anspricht. Die Rede, die nun anhebt, hat mit dem Vorherigen äußerlich kaum etwas zu tun, 376

doch spielt sie in dem Gefälle zwischen Jugend und Alter: Als du noch jünger warst, hast du dich selber gegürtet und gingst umher, wohin immer du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, streckst du deine Hände aus und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst. Vielleicht ist das die ganze Einsicht, zu der wir Menschen imstande sind. Je jünger wir sind, desto mehr glauben wir, Freiheitsspielräume vor uns zu sehen; wir ahnen nicht, wie schmal der Korridor ist, in dem wir uns durch freie Entscheidung aufhalten. Im Grunde ist das Alter mit der Entdeckung identisch, daß unser ganzes Leben einer geheimen Führung untersteht; weit weniger ist es eine Summe eigener Entscheidungen als ein Geführtwerden, und je mehr Glück wir in unserem Leben sammeln, je mehr Einverständnis darin einkehrt, desto stärker wird diese Empfindung wachsen: Es ist und war gut so. Wohl, vieles darin mag schrecklich gewesen sein, vieles war schuldhaft, vieles war schlimmes Versagen, vieles war ganz unnötig oder geradezu irrsinnig, – und doch gestaltete sich gerade auf diese Weise all das, was wir sind. Wie Blinde strecken wir die Hände aus, tastend nach einer Hilfe, und sie wird uns werden als eine geheime Führung. Dieses Bild, erklärt der Nachtragserzähler hier, soll den Tod des Petrus bezeichnen. Und es ist wahr: Die tiefste Führung brauchen wir gegenüber der sicheren Gewißheit, irgendwann sterben zu müssen, die innigste Führung benötigen wir in der Stunde, da wir dem Tode entgegengehen. Wenn wir erst einmal erkannt haben, daß unser ganzes Leben in den Händen liegt, aus denen es hervorging, so brauchen wir auch im letzten keine Angst mehr zu haben; der Auftrag Jesu geht nur einfach weiter: Folge mir. – Im 10. Kapitel des Matthäus-Evangeliums, als Jesus die Jünger aussendet, sagt er einmal: Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten (wollen), die Seele aber nicht zu töten vermögen, sondern fürchtet vielmehr den, der es vermag, daß sowohl die Seele als auch der Leib verloren gehen: in der Hölle (Mt 10,28). Diese Aufforderung jetzt: Folge mir nach! ist wie der Inbegriff des ganzen Lebensinhalts. Man fragt nicht mehr, warum, aber man wird ihm nachstreben mit allem, was das Herz uns eingibt. Man hat ihn getötet, – doch nur um so heller leuchtet die Art seines Lebens. Man hat ihn verhöhnt und verspottet, – doch nur um so wahrer klingen seine Worte. Man hat sein Antlitz und seine Gestalt besudelt und durch den Dreck gezogen, – doch nur um so richtiger und menschlicher erweist er sich als diejenige Person, die alle Liebe auf Erden verdient, weil sie uns hilft, alles auf Erden in Wahrheit zu lieben. Noch ein Wort ergeht an Petrus in bezug auf den «Lieblingsjünger», der Jesus am Herzen lag und der ihn fragte: «Herr, wer ist es, der dich auslie377

fert?» (Joh 13,25) Den sieht Petrus, und als er sich nach dessen Schicksal erkundigt, antwortet Jesus: Ich will, daß er bleibt, bis daß ich komme. Es ist im Johannes-Evangelium ein Eigenartiges um dieses Motiv der «Wiederkunft»3. Vielleicht hat die entsprechende Erfahrung niemand besser ausgedeutet als 1945 in sowjetischer Gefangenschaft Helmut Gollwitzer in einem Erinnerungsbuch, das er schon dem Titel nach diesem Kapitel des Johannes-Evangeliums widmete: Und führen, wohin du nicht willst.4 Gollwitzer nahm die Gefangenschaft selbst als ein Bild für unsere Situation als Menschen in diesem Leben. Was ist die Hoffnung eines Gefangenen? Aus unzähligen Gesprächen erfährt er es. Jeder Tag dort in der Fremde, in der Knechtschaft, ist wie eine verrinnende Zeit, wie Wasser, das in der Wüste verläuft. Je besser diese ausgemergelten Gestalten schuften, desto länger wird man sie paradoxerweise in der Gefangenschaft halten, denn desto nützlicher sind sie dem Regime ihrer Sklaventreiber. Alles, was sie tun, ist eine sinnlos entfremdete Arbeit; keine einzige Stunde ist, die ihnen Brot gäbe für ihre Seele. Aber es wird der eine Tag kommen, da es sich wendet aus dem Elend zurück nach Hause. Die Heimat mag zerbombt sein – man kann sich vorstellen, wie sie aussieht –, sie wird dennoch das Land eines nie gekannten Paradieses sein, wenn man zurückkehrt und findet vor, wem man dort wiederzubegegnen hofft, ganz gleich in welchem Zustand, unter welchen Umständen, wenn es nur sein wird. Gollwitzer stand nicht an, die Lage von Gefangenen als ein Gleichnis des Religiösen zu verstehen. Es wird der Tag einer Heimkehr sein, und er entscheidet über alles. Sonst sind wir gewöhnt zu hören, daß der Augenblick, das Heute jetzt, dem Leben Sinn verleihe; das Johannes-Evangelium aber kann in diesem wesentlichen Punkt noch einmal ganz anders denken: sterben – das ist, wenn er kommt, das heißt: wenn wir ankommen, wenn wir uns wiederfinden, wenn alles ganz wird. Alle irdischen Erfahrungen sind so gebrochen, – worauf sollen Menschen schon hoffen, wenn sie sehen, wie täglich an ihrer Seite andere sterben? Was den deutschen Gefangenen damals blieb, war nicht der Tag einer baldigen Rückkehr, sondern die Aussicht auf ein Birkenkreuz mit einer schnell rostenden Feldmarke auf irgendeinem Hügel in der Weite Sibiriens. Kann denn ein Mensch ein solches Leben überhaupt ertragen, ohne alles, was er durchleidet, als ein Sinnbild zu deuten? Hoffen aber kann niemand stellvertretend für seinen Nächsten; er kann auch nicht aus den Worten an einen anderen für sich selber analoge Ableitungen ziehen. In der Gemeinde um 100 nach Christus gab es offenbar ein Gerücht, der «Lieblingsjünger» werde in hohem Alter noch erleben, daß der Herr wie378

derkomme5. Aber dieses Nachtragskapitel berichtigt diese Erwartung: «So hat Jesus nie gesagt! Und was geht es eigentlich einen Mann wie ‹Petrus› an, was geht es überhaupt irgendeinen anderen an? Wie lange jemand an unserer Seite lebt, was das auf dich hin? Einzig das zu dir Gesprochene: Folge mir! enthält, was du wissen mußt; es zeigt, wie der Tod seine Macht verliert, indem Jesus uns bei der Hand nimmt und leitet. Und widerspruchslos werden wir es geradewegs wünschen, denn es ist die Führung eines liebenden Geliebten.» Dieses Nachtragskapitel endet wie das Vierte Evangelium schon vordem (Joh 20,30): Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat, was alles, wenn es geschrieben würde ins einzelne, – selbst die Welt, meine ich, böte nicht Raum für die Bücher, die dann zu schreiben wären. Das soll hier wie dort offenbar heißen: «Alles, was Jesus noch tat, wovon kein Bericht ergeht, das erzähle Du selber zu Ende, bis zum Ende der Tage, das werde Deine Geschichte, die Du fortschreibst im Buch Deines Lebens.» In seinen Betrachtungen zu Jesus Menschensohn läßt Khalil Gibran den «Lieblingsjünger» in hohem Alter einmal die zusammenfassenden Worte sprechen: «Ich sage euch all dies, damit ihr nicht nur mit dem Verstande, sondern mit eurem Geist versteht. Der Verstand wägt und mißt, aber der Geist ist es, der das Herz des Lebens erreicht und sein Geheimnis in sich aufnimmt. Und die Saat des Geistes ist unsterblich.»6 Der Wind mag sich erheben und wieder legen, die See mag ansteigen und abebben, doch das Herz des Lebens ist ein beständiger, beruhigter Bereich. Und der Stern, der darin aufstrahlt, wird für alle Zeiten leuchten und in Ewigkeit nicht untergehen.

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Anhang

Anmerkungen

Joh 11,1-54: Die Auferweckung des Lazarus – 1. Teil 1 Paul Tillich: Auf der Grenze, Berlin 1930, in: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, Ges. Werke, Bd. XII, hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart–Frankfurt 1971, 13–57, S. 27: «Dem ausgeprägtesten System religiöser Heteronomie, dem römischen Katholizismus, stand ich von früh an mit einem Protest gegenüber, der zugleich protestantisch und autonom war.» «Wer einmal mit ganzer Leidenschaft das Tabu heiligster Autoritäten durchbrochen hat, kann sich nicht einer neuen Heteronomie unterwerfen, weder einer religiösen noch einer politischen.» Vgl. Bernd Jaspert – Carl Heinz Ratschow: Paul Tillich, Kassel (Didaskalia 32) 1987, 62–75: Das protestantische Prinzip, S. 63: «Tillich sieht das protestantische Prinzip … ‹in Luthers Kampf für die Rechtfertigung allein durch die Gnade und den Glauben› Gestalt annehmen … Das Unbedingte erscheint, und daß ‹bedeutet den Zusammenbruch unseres Selbstbewußtseins›.» Vgl. Sturmius – M. Wittschier: Die Jahre in New York II (1950–1955), in: R. Albrecht – W. Schüßler: Paul Tillich. Sein Werk, Düsseldorf 1986, 99–126, S. 105–112: Tiefen-Psychologie. 2 Stefan Zweig: Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski, Frankfurt (Fischer Tb. 192) 1958, 69–166: Dostojewski, S. 127: «Nie sind sie (sc. die Dostojewskischen Menschen, d.V.) vegetativ, pflanzlich, tierisch, stumpf, immer nur bewegt, erregt, gespannt, und immer, immer wach … alle sind sie Hellseher, Telepathen, Halluzinanten, alle pythische Menschen, und alle durchtränkt bis in die letzten Tiefen ihres Wesens von psychologischer Wissenschaft.» 3 Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Der Idiot (Idiot, 1868), München (Goldmann Tb. 361–362) 1958, 2. Teil, 10, 281–294, S. 289: «Ja, die Natur ist boshaft! Warum schafft sie die vollkommensten Wesen, um sie dann nur auszulachen?» 4 F. M. Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers, übers. v. K. Rahsin, München 1963, Jahrgang 1876, Oktober, 1. Kapitel, IV: Ein Todesurteil, S. 255–259. 5 A.a.O., Dezember, 1. Kapitel, S. 261–278. 6 F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow (Bratja Karamazovy, 1880), übers. v. Karl Noetzel (GGTb. 478–479; 480–481), 1958, 1. Teil, 2. Buch, 4: Die kleingläubige Dame, 68–76, S. 72: «Seien Sie bestrebt, Ihre Nächsten zu lieben, tätig und unentwegt. In dem Maße, als Sie Fortschritte machen werden in der Liebe, werden Sie sich auch überzeugen sowohl vom Dasein Gottes wie von der Unsterblichkeit der Seele.» 7 A.a.O., 4. Teil, 11. Buch, 4: Eine Hymne und das Geheimnis, 733–748, S. 741–742: «Du aber … wirst, ohne Gott nämlich, noch selber den Fleischpreis in die Höhe treiben, wenn das gerade in deinem Interesse liegt.» 8 Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942), übers. v. H. G. Brenner – W. Rasch (1950), komm. v. L. Richter, Hamburg (rde 90) 1959, 18–19: Die blutige Mathematik, die über uns herrscht. 9 Vgl. Pierre Salinger – Eric Laurent: Krieg am Golf. Das Geheimdossier (Guerre

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du Golfe. Le Dossier Secret, Paris 1991), übers. v. Sebastian Kerschenstein u. Reinhard Hesse, München–Wien 1991. F. M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Zapiski iz podpolja, 1864), in: Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke. Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers, übers. v. S. Geier u. A. Eliasberg, Hamburg (rk 111–112) 1962, 69–166. F. M. Dostojewski: Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie, 1866), übers. v. W. Bergengruen, München (Droemer V.) o. J., 4. Teil, IV, 343–360, 351–360, S. 351–358. A.a.O., 5. Teil, IV, 444–462. A.a.O., Epilog, II, 589–598, S. 594–595. Aimée Dostojewskaja: Dostojewski. Geschildert von seiner Tochter, übers. v. G. Ouckama Knoop, München 1920; vgl. E. Drewermann: «Die Sanftmut besitzt eine ungeheuere Kraft» (1996), in: Daß auch der Allerniedrigste mein Bruder sei. Dostojewski – Dichter der Menschlichkeit. Fünf Betrachtungen, Zürich–Düsseldorf 1998, 11–42, S. 40–42.

Joh 11,17-54: Die Auferweckung des Lazarus – 2. Teil: Zwei kommentierende Geschichten 1 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, hg. v. H. Rölleke, Bd. 1: Märchen, Nr. 1–86, Stuttgart (reclam 3191) 1980, Nr. 53, S. 268–278: Sneewittchen. – Zur Interpretation vgl. E. Drewermann: Schneewittchen. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, Neuausgabe Düsseldorf–Zürich 2003. 2 Leonid N. Andrejew: Lazarus, in: Die sieben gehenkten. Lazarus. Judas Ischariot, übers. v. Ingrid Tinzmann u. Svetlana Geier, Hamburg (rk 15) 1957, 71–88. 3 A.a.O., 81–82. 4 A.a.O., 84. 5 A.a.O., 87. 6 A.a.O., 88. Joh 11,55-57; 12,1-11: Tod dem, der vom Tod erweckt! – Die Salbung zum Begräbnis 1 F. M. Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers, übers. v. E. K. Rahsin, München 1963, Jahrgang 1876, Oktober, 1. Kapitel IV: Ein Todesurteil, S. 255–259. 2 A.a.O., Dezember, 1. Kapitel, II: Verspätete Moral, 261–264. 3 A.a.O., Dezember, 1. Kapitel, III: Unbegründete Behauptungen, 264–270. 4 F. M. Dostojewski: Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie, 1866), übers. v. W. Bergengruen, München (Droemer V.) o. J., 3. Teil, V, 268–291, S. 284: «Und … glauben Sie auch an die Auferstehung des Lazarus? … Glauben Sie daran im buchstäblichen Sinne?» 5 F. M. Dostojewski: Die Dämonen (Besy, 1872), übers. v. G. Jarcho, München (GGTb. 575–577) 1959, 1. Teil, 3. Kapitel: Fremde Sünden, 8, 118–124. 6 Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942), übers. v. H. G. Brenner – W. Rasch (1950), komm. v. L. Richter, Hamburg (rde 90) 1959, 87–91: Kirillow.

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7 F. M. Dostojewski: Die Dämonen, a.a.O., 3. Teil, 6. Kapitel: Die Nacht voller Mühen, 2, 636–654, S. 647–653. 8 A.a.O., 2. Teil, 1. Kapitel: Die Nacht, 5, 242–249, S. 247: «Wenn alle Menschen das Glück erreicht haben werden, wird es keine Zeit mehr geben, weil sie nicht mehr nötig sein wird … Die Zeit ist kein Gegenstand, sondern eine Idee. Sie wird im Geist erlöschen.» S. 249: «Ich bete alles an. Sehen Sie, da kriecht eine Spinne an der Wand; ich sehe sie an und bin ihr dankbar dafür, daß sie kriecht.» 9 Heinz Zahrnt: Martin Luther in seiner Zeit für unsere Zeit. Bildredaktion Hans Dollinger, München 1983, 216: Der «letzte Zettel» Luthers lautete: «Den Vergil mit seinen Bucolica und Georgica kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Hirte oder Bauer gewesen. Den Cicero in seinen Briefen – so stelle ich mir’s vor – kann niemand verstehen, er habe denn zwanzig Jahre in einem hervorragenden Staatswesen zugebracht. Die Heilige Schrift meine niemand hinreichend verstanden zu haben, er habe denn hundert Jahre mit den Propheten die Gemeinde geleitet. Darum ist es ein Wunder um Johannes den Täufer, Christus und die Apostel. Du lege nicht die Hand an diese göttliche Aeneis, sondern beuge dich nieder und verehre ihre Fußspuren. Wir sind Bettler, das ist wahr.»

Joh 12,12-19: Der Einzug in Jerusalem 1 Martin Erbstösser: Die Kreuzzüge. Eine Kulturgeschichte (Leipzig 1977), Gütersloh 2überarb. 1980, 74–76: Der Kreuzzugsaufruf, S. 75: «Von Clermont (sc. dem Kreuzzugsaufruf Papst Urbans II. am 27. Nov. 1095) ausgehend wurde die Losung in Frankreich zum Schlachtruf währen der Vorbereitungszeit des Kreuzzuges. – Als äußerlich sichtbares Zeichen hefteten sich die künftigen Kreuzritter rote Stoffkreuze auf ihre Kleidung, Symbol dafür, daß sie im Dienst Christi standen und den Schutz der Kirche genossen.» Wie sagte doch der Papst: «mögen diejenigen, die bis jetzt Räuber waren, Soldaten werden.» (S. 74) – Peter Milger: Die Kreuzzüge. Krieg im Namen Gottes, München 1988, S. 2–3 verweist im Prolog auf das Bild vom Einzug Jesu in Jerusalem und meint, im Kontrast dazu: «Ungefähr tausend Jahre später: In den Visionen bewaffneter Pilger führt Jesus Christus christliche Heerscharen an, die sich den Weg nach Jerusalem mit dem Schwert freikämpfen. Die Christenheit führt Krieg, im Namen des Friedensfürsten.» 2 Janosch: Polski Blues (München 1991), München (btb 72807) 2001, 95: «Das erste, was er mich lehrte, war: möglichst nie zu töten. Und möglichst nie zu lügen. Einmal mußte ich töten, im Krieg, einen Deutschen. Er hatte die Maschinenpistole angelegt und wollte gerade ein paar Pilzsucher im Wald umlegen. Und da zu wissen, ob du töten sollst oder nicht, das sag mal einer! Ich weiß es immer noch nicht und bin wiedergekommen, um es vielleicht herauszufinden. Käme ich von neuem in die gleiche Situation, ich würde ihn wieder töten und wüßte nicht, ob es richtig ist. Ein Leben gegen die acht Leben der unschuldigen Pilzsammler aufrechnen. Ich weiß es nicht.» 3 Khalil Gibran: Das Reich der Ideen. Aphorismen und Betrachtungen, hg. v. Joseph Sheban (New York 1966), aus dem Amerik. übers. v. Eva Hirsch, Olten 1982, 49–50. 4 A.a.O., 51.

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5 Khalil Gibran: Jesus Menschensohn. Seine Worte und Taten, berichtet von Menschen, die Ihn kannten (Jesus – The Son of Man. His Words and His Deeds As told and recorded By those who knew Him), aus dem Engl. v. Ursula Assaf-Nowak, Olten 1988, 47–52, S. 51–52.

Joh 12,20-50: Wer so stirbt, in dem verherrlicht sich Gott und: Als Licht bin ich in die Welt gekommen 1 Adolf Erman: Die Religion der Ägypter. Ihr Werden und Vergehen in vier Jahrtausenden, Berlin–Leipzig 1934, 378: «Da Osiris ja der Spender der Fruchtbarkeit ist, so gehört die Erde und das Wasser, das sie befruchtet, in seinen Bereich. Da formt man nun bei diesen Feiern aus Sand und Gerste eine Gestalt des toten Gottes und bewässert sie. Wenn dann die Gerste keimt und der Leib des Gottes sich mit frischem Grün bedeckt, so zeigt das dem Gläubigen, daß die Wiederbelebung des Gottes sich vollzieht, mag er auch tot und unfruchtbar erscheinen, er lebt doch wieder auf zum Segen für die Menschen.» 2 Karl Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, hg. v. Magda Kerényi, München–Wien 1976, 205: «Das Kochen eines Böckleins in seiner Muttermilch wird nicht auf griechischem Boden bezeugt, sondern im nahen semitischen Gebiet, auf eine indirekte, doch um so mehr betonte Weise. Im Alten Testament wird wiederholt verboten: ‹Koche nicht ein Böcklein in der Milch seiner Mutter.› Den Israeliten wurde etwas verwehrt, wovon offenbar die heidnischen Kanaaniten im Nachbarland viel hielten.» Das Gebot, das Lamm unzerteilt zu lassen, richtet sich gegen das Zerlegen des Opfertiers in sieben Stücke. 3 Karl Kerényi: A.a.O., 205 meint: «Wurden sie (sc. die Fleischstücke, d.V.) in der Milch der Mutterziege gekocht, so war die Handlung nicht ohne mythischen Inhalt. Sie evozierte das Bild der kindlichen Glückseligkeit bei der Mutter. Das zum Gott gewordene Zicklein vereinigte sich mit ihr wieder, wie es Dionysos mit seiner göttlichen Mutter tat. Er stieg im Mythos zu ihr in die Unterwelt hinunter.» 4 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872), mit einem Nachwort von Hermann Glockner, Stuttgart (reclam 7131/32) 1952. 5 Catéchisme de l’église Catholique, Paris 1992, Nr. 391–395, S. 88–89. 6 Sören Kierkegaard: Tagebücher, 2. Bd., ausgew., neugeordnet und übers. v. Hayo Gerdes, Düsseldorf–Köln 1963, 192–194: Der Einzelne, S. 192: «‹Der Einzelne› ist die Kategorie, durch welche, in religiöser Hinsicht, die Zeit, die Geschichte, das menschliche Geschlecht hindurchmuß.» Joh 13,1-38: Das Zeichen der Fußwaschung und: Zwischen Judas und Petrus 1 Sören Kierkegaard: Unwissenschaftliche Nachschrift, in: Philosophische Brosamen (1848), Unwissenschaftliche Nachschrift (1846), übers. v. B. u. S. Diderichsen, unter Mitwirkung von Niels Thulstrup, hg. v. Hermann Diem u. Walter Rest (Köln 1959), München (dtv) 1976, 2. Teil, 2. Abschnitt, Kapitel 3: Die wirkliche Subjektivität, § 3: Die Gleichzeitigkeit der einzelnen Momente der Subjektivität

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in der existierenden Subjektivität; Gleichzeitigkeit als Gegensatz zum spekulativen Prozeß, S. 510–517. Leo N. Tolstoj: Auferstehung (Voskresnie, 1899), übers. v. August Scholz, München (GGTb. 1415–1417) o. J. Steven Spielberg: Schindlers Liste, USA 1993. Jean-Paul Sartre: Der Teufel und der liebe Gott (Le diable et le bon Dieu, Paris 1951), übers. v. E. Rechel-Mertens, Hamburg 1951, in: Gesammelte Dramen, Reinbek 1969, 261–366. Zur Interpretation der Gestalt des Judas vgl. E. Drewermann: Das Markus- Evangelium. Bilder von Erlösung, 2 Bde., Olten 1988, II 422–449: Mk 14,10-21: Judas oder: Fürbitte für einen Verzweifelten. Vgl. F. M. Dostojewski: Die Dämonen (Besy, 1872) übers. v. G. Jarcho, München (GGTb 575–577) 1959, 2. Teil, 1. Kapitel: Die Nacht, 7, 258–269, S. 266 – die Kennzeichnung Stawrogins durch Schatow.

Joh 14,1-14: Ich bin der Weg … oder: Zwischen Angst und Vertrauen 1 Ludwig von Bertalanffy: Das biologische Weltbild, Bern 1949, 106, sinngemäße Wiedergabe. 2 Johann Wolfgang von Goethe: Faust (1831), hg. u. komm. v. Erich Trunz (München 1976), München 1980, 1. Teil, Vers 3427–3449. 3 An anderer Stelle wird Arjuna, nachdem er gegen den Gott Shiva selbst gekämpft hat, eine Waffe verliehen, mit welcher er Bhisma, den unbesiegbaren Alten, zu überwinden vermag: die Waffe Pashupata. Das Mahabharata, nach dem Sanskrit. Text übers. u. zusammengefaßt von Biren Roy, aus dem Engl. übers. v. E. Roemer, Düsseldorf–Köln 1961, 3. Buch, 121–154, S. 129–131.

Joh 14,15-31: Von Liebe und Treue oder: Vom «Trost», der Jesus bleiben wird 1 Spektakulär ist der Fall des Computertechnikers Armin Meiwes, der am 10. März 2001 den Abteilungsleiter bei Siemens, Bernd Jürgen Brandes, auf dessen eigenen Wunsch hin kastrierte, gemeinsam mit ihm den abgeschnittenen Penis aß, sein Opfer dann vor laufender Videokamera schlachtete und zerlegte, um in den folgenden Wochen die tiefgekühlten Leichenteile zu verzehren. Selbst für Psychiater ist es ein Rätsel, was Täter und Opfer, die sich im Internet gefunden hatten, miteinander verband. Meiwes gilt als Kind einer äußerst dirigistischen Mutter, er selbst war 12 Jahre bei der Bundeswehr; Brandes’ Mutter beging nach einem tödlichen Kunstfehler in ihrem Beruf als Anästhesistin Selbstmord und hinterließ offenbar bei ihrem Jungen ein schweres Schuldgefühl, das er mit seiner männlichen Rolle verband. Aus Haß auf sich selbst wollte er gerade so sterben, wie er starb. Meiwes aber, sein Schlächter, fühlt sich nach dem Verzehr von männlichem Fleisch psychisch stabiler und nicht mehr so allein … Die Anklage für dieses Verbrechen, das in der deutschen

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Rechtsgeschichte einzigartig sein dürfte, schwankt zwischen «Mord» oder «Tötung auf Verlangen», je nachdem wie «frei» man den Tötungswunsch des Opfers und die Erkennbarkeit seines pathologischen Charakters bewertet; eine Anklage gegen «Kannibalismus» gibt es formell gar nicht, allenfalls eine Anklage wegen «Störung der Totenruhe». Vgl. Martin Knobbel – Detlef Schmalenberg – Thomas Rabsch (Fotos): Der Kannibale, in: Stern, Nr. 31, 24. 7. 2003, 40–56. Hector Malot: Sans Famille, dessins par É. Bayard, Paris 1878, Première Partie, Chapitre 1: Au village, p. 1: «Jeuis un enfant trouvé.» Hector Malot: Heimatlos (Sans Famille, Paris 1878), Wien–Heidelberg 1975, 7–20: Kindertage im Dorf, S. 7: «Meine Eltern kenne ich nicht.» Peter P. Rohde: Sören Kierkegaard in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek (rm 28) 1959, 8–18: Der Vater – oder der Glaube; Sören Kierkegaard: Furcht und Zittern (1843), mit Erinnerungen von Hans Bröchner, übers. und hg. v. Liselotte Richter, Reinbek (rk 89) 1961, 11–14: Stimmung. Daraus ergibt sich, daß von der «Welt» her: innerhalb der Logik bestehender Politik und Ökonomie als des Kampfs um Macht und Gewinn, Frieden unmöglich ist. Es gilt, individualpsychologisch, sozialpsychologisch wirtschaftlich, geschichtlich und kulturell von der Botschaft Jesu her die Faktoren durchzuarbeiten, die einzeln oder gebündelt immer wieder Krieg hervorbringen werden. Vgl. E. Drewermann: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden. Bd. 2: Glauben in Freiheit, Düsseldorf– Zürich 62001. Flavius Vegetius Renatus (um 400 n. Chr.): Epitoma rei militaris, Vorrede, hg. v. C. Lang (21885) 1967; dt. v. F. J. Lipowsky, 1827. – Vegetius war Christ und schrieb sein Buch für Kaiser Theodosius den Großen.

Joh 15,1-17: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Rebzweige oder: Bleibt in mir wie ich in euch 1 Karl Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, hg. v. Magda Kerényi, München–Wien 1976, 206–207: «Der Zeuge einer massiven, nicht griechischen Dionysosreligion zwischen dem See von Genezareth und der Phönizischen Küste ist der Gründer des Christentums, der dieses Gebiet bis nach Tyrus durchwanderte. Seine Gleichnisse nahm er gern aus dem Leben der Weinbauern … Er sagte von sich selbst: ‹Ich bin der wahre Weinstock.› Das Wort Jeremia vom zuerst edlen, nachher bastardischen Weinstock Israel, dem das Jesuswort am nächsten steht und nach dem es vielleicht geformt wurde, blieb im Gleichnis, das Jesuswort durchbrach es in der Richtung einer mystischen Identität. Die Parabel, in der es steht und in der der Weinbauer den Vater, die Reben die Jünger darstellen, ersetzt im Johannes-Evangelium den Spruch des Abendmahls vom Wein: ‹Das ist mein Blut!› – und begründet es zugleich. Als dieser Evangelist schrieb, war das Abendmahl schon die große Mysterienhandlung der Christen. Die Geschichte ihrer Gründung und ersten Ausführung schien dem Evangelisten zu heilig, als daß er sie in einer öffentlichen Schrift erzählen wollte. Er berichtete an ihrer Stelle davon, daß Jesus sich mit dem Weinstock gleichsetzte. Die Folge dieser Gleichsetzung war es, daß er vom Wein als von seinem Blut, ihre Erweiterung, daß er vom Brot als von seinem Leib sprach. Der Nachdruck, den er darauf legte, daß er der wahre Weinstock ist, bedeutet zugleich eine Distanzie-

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rung – in diesem Zusammenhang vom Weinberg und von dessen Gewächsen und Ereignissen (sc. von Tod und Wiedergeburt, d.V.), denen er durch Identifikation doch zu nahe kam. Notwendig war die Distanzierung vom ‹falschen› Weinstock; von jenem, der die Leute irreführte, indem er einen falschen Gott und eine falsche Religion in sich barg.» Dem ist zuzustimmen. Die «Ersetzung» der Abendmahlsworte bei den Synoptikern durch den Weinstock-Vergleich dürfte freilich nicht in einer (späten) Arkan-Disziplin liegen, sondern eher in einer Vergeistigung des «sakramentalen» Denkens mit seiner Neigung zur magischen Vergegenständlichung. Vgl. E. Drewermann: Strukturen des Bösen. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer, psychoanalytischer und philosophischer Sicht, 3 Bde., Paderborn 3erw. 1984, 101995, I 87–97: Das bestrafte Leben (Gen 3,14-19). Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), Ges. Werke XIII, London 1940, 71–161, S. 76–87: Le Bons Schilderung der Massenseele. Jochen Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932–1942, hg. v. Hildegard Klepper, gekürzt von Günter Wirth und Ingo Zimmermann, Stuttgart 1972, 638–641; 646–649. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg (Philos. Bibl. 114) 61952, A. Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft, 141–150, S. 146–150.

Joh 15,18-26; 16,1-4: Der Welten Haß und Jesu Beistand 1 Henrik Ibsen: Peer Gynt (Peer Gynt, Kopenhagen 1867), übers. v. Chr. Morgenstern, in: Dramen (Sämtliche Werke in deutscher Sprache, 1898–1904, Bd. 4, Berlin 1901), 2 Bde., München 1973, 1. Bd., 419–564. 2 A.a.O., 564: «Schlaf denn, teuerster Junge mein! Ich wiege dich und ich wache. – Auf meinem Schoß hat mein Junge gescherzt, Hat ihn seine Mutter sein Lebtag geherzt, An Mutters Brust hat mein Junge geruht, Sein Lebtag. Gott segne dich, mein einziges Gut! An meinem Herzen zunächst war sein Platz, Sein Lebtag. Jetzt ist er so müd, mein Schatz. Schlaf denn, teuerster Junge mein! Ich wiege dich und ich wache! ––– Ich wiege dich und ich wache; Schlaf und träum, lieber Junge mein!» 3 Johann Calvin: Institutio Christianae Religionis. Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe übers. u. bearb. v. O. Weber, 5. Aufl. der einbändigen Ausgabe, Neukirchen-Vluyn 1955/1988, II 4,1, S. 178: «daß der Mensch derart unter dem Joch der Sünde steht, daß er von sich, aus seiner Natur heraus weder nach dem Guten trachten noch darum ringen kann.» 4 Vgl. Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg (Berlin 1932), Frankfurt (Fischer Tb. 5707) 1982; Die Söhne (Amsterdam 1935), Frankfurt (Fischer Tb. 5710) 1982; Der Tag wird kommen (Stockholm 1945), Frankfurt (Fischer Tb. 5711) 1982.

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5 Vgl. Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo (Berlin–Weimar 1954), Frankfurt (Fischer Tb. 5732) 1983. 6 Lion Feuchtwanger: Die Geschwister Oppenheim (Amsterdam 1933), unter dem Titel: Die Geschwister Oppermann (Berlin 1956), Frankfurt (Fischer Tb. 2291). 7 Michael Moore: Stupid White Men. Eine Abrechnung mit dem Amerika unter George W. Bush (Stupid White Men … and Other Sorry Excuses for the State of the Nation!, New York 2001), übers. v. Michael Bayer u. a., München–Zürich 2002, 256 charakterisiert den Hang der «Demokraten» zu «gewinnen» so: «Mach es richtig! Halt dich an die Gewinner! Auch wenn der Gewinner (Clinton) an der Todesstrafe festhält, Landminen nicht verbieten will, Knebelbestimmungen unterschreibt, die Finanzierung von Abtreibung verhindert, arme Menschen auf die Straße setzt, die Zahl der Gefängnisinsassen verdoppelt, vier verschiedene Länder bombardiert und dabei unschuldige Zivilisten tötet (Sudan, Afghanistan, Irak und Jugoslawien), es zuläßt, daß wenigen Mischkonzernen der größte Teil der Medien gehört (die früher unter fast tausend Einzelunternehmen aufgeteilt waren) und ständig eine Erhöhung des Budgets für das Pentagon fordert, so ist das immer noch besser als … etwas wirklich Schlimmes.» Doch Moores Buch wurde vor dem 11. Sept. 2001 geschrieben, und er ahnte vor zwei Jahren noch nicht, wie die republikanische Bush II-Administration nach ihrem flagranten Wahlbetrug Tritt fassen würde. 8 Teja Fiedler: Mohammeds zornige Erben, V: Der Kampf ums Öl. 1973–1991, in: Der Stern 48/2001, 115–132. Vgl. Eric Laurent: Die Kriege der Familie Bush. Die wahren Hintergründe des Irak-Konflikts (La Guerre des Bush. Les secrets inavouables d’ un conflit, Paris 2003), übers. v. Karin Balzer u. a., Frankfurt 2003, 37–43. Im Irak lagern 115 Mrd. Barrel Erdöl, wie man sicher weiß, vermutet werden weitere 200 Mrd. Barrel. 9 Tacitus: Annalen XV 44. Das Urteil über die Christen bringt der römische Geschichtsschreiber allerdings damit in Zusammenhang, daß diese Gruppe von religiös und gesellschaftlich Abseitigen unter Nero die Stadt Rom angezündet habe; danach sind die Christen beim «Haß des ganzen Menschengeschlechtes» diejenigen, welche alle anderen hassen (Genitivus subjectivus), doch konnte ein solcher Eindruck nur entstehen, weil die Christen von großen Teilen der römischen Bevölkerung mit Haß und Mißtrauen belegt wurden (Genitivus objectivus). 10 Cyprian: An Donatus, 6, in: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Traktate. Des Diakons Pontius Leben des hl. Cyprianus, aus dem Lat. übers. v. Julius Baer, 2 Bde., Kempten–München (BKV 34; 60) 1918; 1928; I 33–55, S. 45: «… will ich die Finsternis aufhellen, von der die Welt umhüllt ist. Stelle dir vor, du seiest für kurze Zeit auf den hochragenden Gipfel eines steilen Berges entrückt! Betrachte dir von hier aus das Bild der Dinge unter dir … Da wirst auch du … von Mitleid mit der Welt ergriffen werden. … Sieh nur, wie die Straßen von Wegelagerern versperrt, wie die Meere von Seeräubern besetzt und wie Kriege mit dem blutigen Greuel des Lagerlebens über alle Länder verbreitet sind! Es trieft die ganze Erde von gegenseitigem Blutvergießen; und begeht der einzelne einen Mord, so ist es ein Verbrechen; Tapferkeit aber nennt man es, wenn das Morden im Namen des Staates geschieht. Nicht Unschuld ist der Grund, der dem Frevel Straflosigkeit sichert, sondern die Größe der Grausamkeit.»

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Joh 16,5-15: Zwischen Welt und Gott, Schmerz und Glück, Angst und Frieden oder: Die einzig ernstzunehmende Alternative 1 Dieser Satz, auf dem Obersalzberg 1938 gesprochen, bildete die Quintessenz aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs schon in Adolf Hitler: Mein Kampf, 2 Bde., in einem Bd., 1. Bd.: Eine Abrechnung; 2. Bd.: Die national-sozialistische Bewegung, München 1934, 147: «Die Natur kennt keine politischen Grenzen. Sie setzt die Lebewesen zunächst auf diesen Erdball und sieht dem freien Spiel der Kräfte zu. Der Stärkste an Mut und Fleiß (sc. an Skrupellosigkeit und Brutalität, d.V.) erhält dann als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des Daseins zugesprochen.» S. 195: «Wenn aber Völker um ihre Existenz auf diesem Planeten kämpfen, mithin die Schicksalsfrage von Sein oder Nichtsein an sie herantritt, fallen alle Erwägungen von Humanität oder Ästhetik in Nichts zusammen.» «Damit haben … alle diese Begriffe beim Kampfe eines Volkes um sein Dasein auf dieser Welt nur untergeordnete Bedeutung, ja, scheiden als bestimmend für die Formen des Kampfes vollständig aus. Was die Frage der Humanität betrifft, so hat sich schon Moltke dahin geäußert, daß diese beim Kriege immer in der Kürze des Verfahrens liege, also daß ihr die schärfste Kampfesweise am meisten entspräche.»

Joh 16,13: Vom Geist der Unverborgenheit Gottes –––

Joh 16,16-33: In der Welt habt ihr Angst, doch: besiegt habe ich die Welt 1 Joseph von Eichendorff: Ausgewählte Werke in 2 Bden., hg. v. Paul Stapf, Wiesbaden (Vollmer V.) o. J., 1. Bd.: Gedichte und Romanzen. Ahnung und Gegenwart, in: Gedichte, 5–385; Totenopfer, 249–265, S. 265: Spruch. 2 L. Annaeus Seneca: De brevitate vitae – Über die Kürze des Lebens, in: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch, lat. Text v. A. Bourgery u. R. Waltz, übers., eingel. u. angem. v. Manfred Rosenbach, 5 Bde., Darmstadt 1983, Bd. II 175–239. 3 Johannes Brinktrine: Die Lehre von der Schöpfung, Paderborn 1956, 240– 245. Henricus Denzinger – Adolfus Schönmetzer: Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg–Rom 321962, Nr. 902 (481), S. 284.

Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 1. Teil: daß sie dich erkennen und den du gesandt hast (Joh 17,3) 1 Vgl. F. M. Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers, übers. v. E. K. Rahsin, München 1963, Jahrgang 1876, Oktober, 1. Kapitel, IV: Ein Todesurteil, S. 255–259.

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Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 2. Teil: Bewahre sie in deiner Wesensart (Joh 17,11) –––

Joh 17,1-11: Das Abschiedsgebet des Herrn – 3. Teil: daß er ihnen gebe unendliches Leben (Joh 17,2) 1 Sehr schön ist die Schilderung bei Nikolaj Leskov: Der versiegelte Engel (Zapecˇatlennyj Angel, Moskau 1973), übers. v. A. Eliasberg, in: Der versiegelte Engel und andere Erzählungen, München 1959.

Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 1. Teil: In der Welt, doch nicht von der Welt 1 Vgl. E. Drewermann: Im Anfang. Die moderne Kosmologie und die Frage nach Gott. Glauben in Freiheit, Bd. 3: Religion und Naturwissenschaften, 3. Teil: Kosmologie und Theologie, Düsseldorf–Zürich 2002, 724–731: Einsteins Verhältnis zur Religion. 2 Carl Orff: Die Kluge, Uraufführung 20.2.1943 Frankfurt. Harenberg: Opernführer, Dortmund 4(überarb.) 1997, 586–587.

Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 2. Teil: … daß du sie bewahrst vor dem Bösen (Joh 17,15) 1 Tacitus: Annalen XV 44.

Joh 17,12-19: auf daß die Liebe in ihnen sei – 3. Teil: Heilige sie in deiner Unverborgenheit (Joh 17,17) ––– Joh 17,20-26: … auf daß sie alle eins sind (Joh 17,21) 1 Sören Kierkegaard: Philosophische Brosamen, in: Philosophische Brosamen (1844) und Unwissenschaftliche Nachschrift (1848), übers. v. B. u. S. Diderichsen, unter Mitwirkung von Niels Thulstrup, hg. v. Hermann Diem und Walter Rest (Köln 1959), München (dtv) 1976, 11–130, Kapitel V: Der Schüler zweiter Hand, § 2: Die Frage nach dem Schüler zweiter Hand, S. 117–129. 2 Athanasius: Vier Reden gegen die Arianer, in: Des hl. Athanasius ausgew. Schriften, aus dem Griech. übers. v. Anton Stegmann, 2 Bde. (BKV 13; 31), Kempten–München 1913; 1917, I 1–387, 1. Rede, 13, S. 37: der «Sohn» ist «des Vaters ewiges Bild und Wort, … des ewigen Lichtes ewiger Abglanz». 3 Vgl. E. Drewermann: Ein Mensch braucht mehr als nur Moral. Über Tugenden und Laster, Düsseldorf–Zürich 2001, 551–607: Gerechtigkeit.

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Joh 18,1-27: Verhaftung und Verhör Jesu oder: Zwischen «Ich bin» und «Ich bin nicht» 1 Eugen Drewermann: Strukturen des Bösen. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer, psychoanalytischer und philosophischer Sicht, 3 Bde., Paderborn 3erw. 1984, 101995, I 356–410: Nachwort zur 3. Aufl.: Von dem Geschenk des Lebens oder: das Welt- und Menschenbild der Paradieserzählung des Jahwisten (Gn 2,4b-25); Wolfgang Teichert: Gärten. Paradiesische Kulturen, Stuttgart 1986, 67–76: Die Gärten der Evangelien: «Man kann … sagen, daß er (sc. Jesus, d.V.) … den einstmals verschlossenen Garten symbolisch wieder öffnet.» (S. 70) 2 Martin Buber: Moses (1954), in: Werke, 3 Bde., Bd. 2: Schriften zur Bibel, München–Heidelberg 1964, 9–230, S. 47–66: Der brennende Dornbusch. 3 E. Drewermann: Das Matthäus-Evangelium, 3 Bde., 2. Teil: Mt 8,1-20,19, Solothurn–Düsseldorf 1994, 355–376: Mt 16,1-20: Die Forderung nach einem «objektiven» Gott oder: Wie «bekennt» man Jesus als den «Christus»? 4 Jean Anouilh: Jeanne oder Die Lerche (L’Alouette, Paris 1953), übers. v. Franz Geiger, Stuttgart (reclam 8970) 1987, 1. Teil, 54–55: «In der Sekunde, da du deine ganze Angst abschüttelst …, in dieser Sekunde kommt Gott zu dir.» «Es darf kein Quentchen Angst mehr in dir sein, wenn sie kommen. Hast du so viel Angst, wie du nur haben kannst? … Dann ist’s gut. Du hast einen Riesenvorsprung vor ihnen. Wenn sie Angst bekommen, dann hast du es längst hinter dir. Das Wichtigste ist, daß man als erster Angst hat, vor der Schlacht.» 5 Jean Lasserre: Der Krieg und das Evangelium (La Guerre et l’Evangile, Paris 1953), übers. v. Gerhard Markhoff u. Walter Dignath, München 1956, S. 27: «Es ist eine bestürzende Feststellung, daß die Auffassung der Verteidigung im Sinne der erlaubten Notwehr – die Grundlage der herkömmlichen militaristischen Auffassung – keine biblische Stütze hat und daß sich auch der so gemeinte Ausdruck selbst im NT überhaupt nicht findet.» 6 Tertullian: Über den Götzendienst, in: Ausgewählte Schriften, 2 Bde., Kempten–München (BKV 7; 24) 1912; 1915; I 137–174, Kap 19, S. 168: «Allein es fragt sich gegenwärtig eben, ob Christen sich dem Soldatenstande zuwenden dürfen, ob Militärpersonen zum Christentum zugelassen werden können … Es harmonisiert nicht zusammen, unter dem Fahneneid Gottes und der Menschen, unter dem Feldzeichen Christi und des Teufels, im Lager des Lichts und in dem der Finsternis zu stehen, eine und dieselbe Seele kann nicht zweien verpflichtet sein, Christo und dem Teufel … Wie … wird der, dem der Herr das Schwert weggenommen hat, Krieg führen, ja auch nur in Friedenszeiten ohne Schwert Soldat sein? … so hat doch der Herr in der Entwaffnung des Petrus jedem Soldaten den Degen abgeschnallt.» 7 Karlheinz Deschner: Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert. Erweiterte, aktualisierte Neuausgabe von «Ein Jahrhundert Heilsgeschichte» I und II, Reinbek 1991, 165–174; 175–188: Die «Friedensbemühungen» Papst Pius’ XII.: Kreuzzug West gegen Ost, S. 175: «Ihr freiwilligen Kreuzfahrer einer neuen und edlen Gesellschaft, erhebt die neue Standarte der moralischen und christlichen Erneuerung, erklärt der Finsternis einer sich von Gott lösenden Welt den Krieg.» (Weihnachtsbotschaft 1942) 8 Peter Milger: Die Kreuzzüge. Krieg im Namen Gottes, München 1988, 262–281: Die Ausrottung der Katharer, S. 269–270: Das Massaker von Béziers (22. Juli

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1209); S. 277: Massaker in Marmande (12. Juni 1219); S. 279: Das Languedoc wird französisch; S. 280–281: Der Schlußakt (Fall der Katharerfestung Montségur). Der Historiker Michel Roquebert schreibt: «Hundert Bewaffnete haben die Armee des heiligen Ludwig IX. gehalten. Anfang März 1244 haben sie sich ergeben. Die Inquisition, die sich bei den Soldaten des Königs befand, fragte wie üblich, ob unter den Parfaits jemand dabei sei, der abschwören wolle. Und wer nicht abschwören wolle, würde sofort dem Scheiterhaufen überantwortet. Nicht ein einziger hat abgeschworen. Sie verbrannten alle auf dem Scheiterhaufen. Es kommt noch besser. Zwanzig Personen, Ritter, Soldaten, Sergeanten, haben drei Tage vor der Verbrennung mit ihren Frauen das kathartische Sakrament empfangen. Sie wußten, daß sie damit den Scheiterhaufen erleiden würden. So wurden zweihundertzehn katharische Gläubige verbrannt und die zwanzig, die freiwillig den anderen auf den Scheiterhaufen folgten.» (A.a.O., S. 281) Ethelbert Stauffer: Jesus. Gestalt und Geschichte, Bern (Dalp Tb. 332) 1957, 78–81: Der amtliche Todesbeschluß des Synhedriums; 92–97: Der religionsgesetzliche Prozeß, S. 93: «Der Präsident des Großen Synhedriums und Schwiegersohn des Hannas hieß Joseph. Kaiphas ist nur sein Beiname und heißt wohl so viel wie ‹Inquisitor›. Wahrscheinlich hat Joseph sich schon vor der Betrauung mit dem Hochpontifikat als Untersuchungsrichter einen Namen gemacht.» Ders.: Jerusalem und Rom im Zeitalter Christi, Bern (Dalp Tb. 331) 1957, 67–68; S. 67: Kajaphas wurde im Jahre 18 zum Hohen Priester und behielt dieses Amt achtzehn Jahre lang bis zur Absetzung des Pilatus, «ein sicheres Indizium dafür, daß er ein willfähriger Kollaborateur der Besatzungsmacht war und speziell mit Pilatus unter einer Decke steckte.» Georg Denzler – Volker Fabricius: Christen und Nationalsozialisten. Darstellung und Dokumente. Mit einem Exkurs: Kirche im Sozialismus (1984), Frankfurt/M. (Fischer Tb. 11871) 1993, Teil V: Schuldbekenntnis oder Schuldverdrängung, S. 347–363. In der Stuttgarter Erklärung vom 19. Okt. 1945 des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland hieß es (a.a.O., S. 34): «wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.» S. 350–351: Wort des Bruderrats der Evangelischen Kirche in Deutschland, 8. August 1947: «Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen … Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.» Ethelbert Stauffer: Jerusalem und Rom im Zeitalter Christi, Bern (Dalp Tb. 331) 1957, 67–68. A.a.O., Kap. 6: Die Männer des großen Synhedriums. Joachim Jeremias: Jerusalem zur Zeit Jesu. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, Göttingen 3(neubearb.) 1962, 111: «Zu den begüterten Kreisen gehört der Priesteradel … Das Haus, in dem Hannas als Ex-Hoherpriester und Schwiegervater des amtierenden Hohenpriesters wohnte, … hatte einen geräumigen Hof; eine Türhüterin und andere Dienerschaft gehörten zum Haushalt.» 114: «Es ist … zu erinnern an den Opferviehhandel, den vielleicht die hohepriesterliche Familie Hannas unterhielt.»

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13 Vgl. Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität (Obedience to Authority. An Experiment View, New York 1974), übers. v. Roland Fleissner (Reinbek 1974), Reinbek (rororo 17479) 1982, 15. Kap.: Epilog, 207–218, S. 208–218: Gehorsam und der Vietnamkrieg, S. 209: «Zuerst muß dieser Mensch (sc. der Rekrut, d.V.) von seinem Standort außerhalb des militärischen Autoritätssystems an einen Standort innerhalb dieses Systems gebracht werden. Der wohlbekannte Gestellungsbefehl liefert dazu den formalen Mechanismus. Ein Treueid dient dann dazu, die Verpflichtung des Rekruten auf seine neue Rolle zu stärken. – Der Raum, in dem militärische Ausbildung stattfindet, ist von der übrigen Gesellschaft abgegrenzt, um sicherzustellen, daß keine konkurrierenden Autoritäten auftreten. Belohnungen und Strafen werden verteilt, je nachdem, wie brav einer gehorcht. Eine Zeitspanne von einigen Wochen wird für die Grundausbildung verwendet. Und obwohl der sichtbare Zweck dieser Ausbildung die Vermittlung militärischer Fertigkeiten ist, ist es doch ihr fundamentales Ziel, jeden Rest von Individualität und Autonomie zu beseitigen. – Die Stunden, die auf dem Exerzierplatz verbracht werden, zielen nicht in erster Linie darauf ab, einen wirkungsvollen Paradeschritt zu pauken. Ihr Ziel ist Disziplin und der sichtbare Ausdruck der Unterordnung des Individuums unter eine Organisation. Kolonnen und Trupps bewegen sich bald ‹wie ein Mann› und reagieren auf die Autorität des Ausbilders. Derartige Formationen bestehen nicht aus Individuen, sondern aus Automaten. Die militärische Ausbildung zielt grundsätzlich darauf ab, den Soldaten auf eben diesen Zustand zu reduzieren, alle Spuren von Ichgefühl zu beseitigen und durch langanhaltende Beeinflussung sicherzustellen, daß die militärische Autorität akzeptiert wird. – Bevor der Soldat in das Kriegsgebiet kommt, bemüht sich die Autorität, seine künftigen Handlungen in einer Weise zu definieren, die eine Verbindung zu allgemein hochgeschätzten Idealen und zu den umfassenderen Zielen der Gesellschaft herstellt. Den Soldaten wird erklärt, daß die Leute, die sie in der Schlacht treffen werden, Feinde der Nation seien und daß das Land in Gefahr sei, wenn sie nicht vernichtet würden. Die Situation wird so definiert, daß eine grausame und inhumane Aktion gerechtfertigt erscheint.» 14 Zur Judas-Legende vgl. E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, 2 Bde., Solothurn–Düsseldorf 1988, II 422–449: Judas oder: Fürbitte für einen Verzweifelten. 15 Heliand, nach dem Altsächsischen von Paul Herrmann, Leipzig (reclam 3324. 3325), 2(erw.) 1940, Nr. 58, Vers 4860–4884, S. 169: «Da brauste auf / Der schnelle Schwertdegen Simon Petrus, / Ihm wallte der Mut, kein Wort konnt’ er sprechen, / So voll Harm war sein Herz.» 16 E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, 2 Bde., Solothurn–Düsseldorf, II 545–559: Der Verrat des Petrus. 17 So bereits Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung. Aus dem handschriftl. Nachlaß hg. 1858, 2 Bde., Darmstadt 1983, II 328: «gerade darum war Johannes auch der Liebling des Herrn, den dieser sich immer am nächsten hielt; denn die der Herr liebt, denen gibt er das Geschäft des Vollenders.»

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Joh 18,28-40 (19,4-16): Pilatus oder: Zwischen Macht und Wahrheit 1 Flavius Josephus: Jüdische Altertümer, übers., eingel. u. angem. v. H. Clementz, Wiesbaden (Fourier-Verlag) o. J., XIII 3,3; XX 9,1; Tacitus: Annalen (Annales), übers. v. C. Hoffmann, München 1954, XV 44; König Herodes Agrippa I: Brief an Caligula, zit. bei Joseph Blinzler: Der Prozeß Jesu. Das jüdische und das römische Gerichtsverfahren gegen Jesus Christus auf Grund der ältesten Zeugnisse dargestellt und beurteilt, Regensburg 3(erw.) 1960, 187. 2 E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, 2 Bde., Solothurn–Düsseldorf 1988, II 560–588: Pilatus oder: Das Königtum Gottes, 567–568; Flavius Josephus: Der jüdische Krieg (Bellum Judaicum, 75–79 n. Chr.), übers. u. eingel. v. H. Endrös, 2 Bde., München (GGTb. 1642–1645) 1965–1966, II 9,2–3, 1. Bd., S. 180–181. 3 Ethelbert Stauffer: Christus und die Caesaren. Historische Skizzen (Hamburg 1952), München–Hamburg (Siebenstern Tb. 83–84) 1966, 108–109; 129. 4 A.a.O., 109. 5 Zur Gestalt des Barabbas vgl. E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, s.o. Anm. 2, II 578–579. 6 S.o. Anm. 1. 7 Nelly Sachs: Brief vom 22. 12. 1948, in: Walter A. Berendsohn: Nelly Sachs, Darmstadt 1974, S. 148; vgl. Walter Jens: Laudatio auf Nelly Sachs, in: Das Buch der Nelly Sachs, hg. v. Bengt Holmqvist, Frankfurt 1968, 381–389, S. 388. 8 E. Drewermann: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden. Glauben in Freiheit, Bd. 2, Zürich–Düsseldorf 1996, 413–428: Die absolute Differenz zwischen dem Religiösen und dem Politischen. 9 Ethelbert Stauffer: Christus und die Caesaren, s. o. Anm. 3, 126–137: Die Pilatusinschrift von Caesarea. 10 A.a.O., 131–132. 11 A.a.O., 132. 12 Osho (Bhagwan Shree Rajneesh): Liebe, Freiheit, Alleinsein, aus dem Engl. von Rajmani Müller, Zürich 2002, Kap. 10: Die große Sklaverei, 159–174, S. 164–165.

Joh 19,1-42: Da – der Mensch 1 E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, 2 Bde., Solothurn–Düsseldorf 1988, II 648–659: Das Kreuz des Heils oder: Wider den Masochismus des Religiösen; II 660–670: Von der Überwindung des Kreuzes. 2 Michael Moore: Stupid White Men. Eine Abrechnung mit dem Amerika unter George W. Bush (Stupid White Men … and Other Sorry Excuses for the State of the Nation, New York 2001), übers. v. Michael Bayer u. a., München 2002, Kap. 9: Ein großes glückliches Gefängnis, 235–250, S. 248: «Keine andere Industrienation richtet ihre Kinder hin. Selbst China verbietet die Todesstrafe für Delinquenten unter 18 Jahren – und das ist immerhin ein Land, das einen erschreckenden Mangel an Achtung vor den Menschenrechten gezeigt hat. Zur Zeit sitzen in den Vereinigten Staaten über 3700 Verurteilte in Todeszellen, davon sind 84 minderjährig (oder sie waren es, als sie ihr Verbrechen begingen). Aber unser Oberstes Bundesgericht hält

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es nicht für eine grausame und unangemessene Strafe (im Sinne des 8. Zusatzes zur US-Verfassung), 16jährige hinzurichten, wenn sie ein Kapitalverbrechen begangen haben. Und ausgerechnet dieses Gericht hat festgestellt, daß 16jährige noch nicht ‹die Reife und Einsicht› hätten, Verträge zu unterschreiben. Schon seltsam, oder?» Gustav Ermecke: Zur ethischen Begründung der Todesstrafe heute. Vortrag beim Antritt des Rektorats am 17. Okt. 1958, Paderborn 1959. So auch schon Mk 15,1-15; E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, s.o. Anm. 1, II 560–588. E. Drewermann: A.a.O., I 532–541: Wer ist Jesus von Nazareth; ders.: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden. Glauben in Freiheit, Bd. 2, Zürich–Düsseldorf 1996, 532–560: «Mußte nicht der Messias dies leiden, um gerade so in seine Herrlichkeit einzugehen?» (Lk 24,26) oder: Von Tod und Auferstehung. F. M. Dostojewski: Die Dämonen (Besy, 1872), übers. v. G. Jarcho, München (GGTb. 575–577) 1959, 1. Teil, 3. Kap.: Fremde Sünden, 8, S. 118–124, S. 122: «Gott ist der Schmerz der Todesfurcht.» «Wer den Sieg über den Schmerz und die Furcht davonträgt, wird selbst ein Gott sein.» 6. Kap.: Die Nacht voller Mühe, 2, S. 636–654, S. 646–647: «Die Erkenntnis, daß es keinen Gott gibt, wenn man nicht zugleich erkannt hat, daß man selbst ein Gott geworden ist, ist nichts als ein Unsinn, denn sonst würde man sich unbedingt sofort selbst töten … Ich werde den Anfang machen und das Ende (sc. der Angst und des Gottesglaubens, d.V.) herbeiführen und die Tür öffnen … das Attribut meiner Gottheit ist die Eigenmächtigkeit! … Ich töte mich, um meinen Ungehorsam und meine neue, furchtlose Freiheit zu zeigen.» Martin Erbstösser: Die Kreuzzüge. Eine Kulturgeschichte (Leipzig 1977), Gütersloh 2überarb. 1980, 74–76: Der Kreuzzugsaufruf. F. M. Dostojewski: Der Idiot (Idiot, 1868), übers. v. Klara Brauner, München (Goldmann Tb. 361–362) 1958, 3. Teil, 6, 384–399, S. 395–397: «daß, wenn der Tod so furchtbar ist und die Naturgesetze eine solche Macht haben, es wohl unmöglich ist, das alles zu überwinden.» «Die Natur erscheint bei der Betrachtung dieses Bildes als ein ungeheueres, unerbittliches, stummes Tier, oder besser gesagt, … als eine ungeheuere Maschine allerneuester Konstruktion, die alles sinnlos erfaßt, vernichtet und stumpf und fühllos verschlingt.» E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, s.o. Anm. 1, II 560–588: Pilatus oder: Das Königtum Gottes. A.a.O., II 599–623: «Soldaten» oder: Die Legionäre und der Hauptmann. Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität (Obedience to Authority. An Experiment View, New York 1974), übers. v. Roland Fleissner (Reinbek 1974), Reinbek (rororo 17479) 1982, 15. Kap.: Epilog, 207–218, S. 211–214, zum Massaker von My Lai. Milgram folgert daraus: «Man findet eine Gruppe von Menschen, die ihre Aufgabe erfüllen und von einem funktionalen anstatt von einem moralischen Prinzip beherrscht sind.» (S. 214) «Verantwortungsbewußtsein verschiebt sich in der Vorstellung des Untergebenen unweigerlich an die höhere Stelle.» «Die Aktionen werden nahezu stets mit einer Reihe von konstruktiven Zielvorhaben gerechtfertigt und im Licht irgendeines hohen ideologischen Zwecks als edel betrachtet.» (215) «Was haben wir nun gefunden? Nicht Aggression … Etwas weitaus Gefährlicheres kommt ans Licht: die Fähigkeit des Menschen, seine Menschlichkeit abzustreifen, ja geradezu die Unvermeidlichkeit, daß er dies tut, wenn er seine individuelle Persönlichkeit mit übergeordneten insti-

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tutionalen Strukturen verbindet. Dies ist ein fataler Defekt … Es ist bittere Ironie, daß die Tugenden der Loyalität, der Disziplin und der Selbstaufopferung, die wir am einzelnen so hoch schätzen, genau die Eigenschaften sind, die eine organisierte Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie schaffen und Menschen an bösartige Autoritätssysteme binden.» (216) Es ist der alte Satz eines abessinischen Gesangs, der für Jungen wie Mädchen Töten und Gebären als Anfang des Erwachsenseins bestimmt: «Wer noch nicht getötet hat, der soll töten. Wer noch nicht geboren hat, der soll gebären.» Adolf E. Jensen: Die getötete Gottheit. Weltbild einer frühen Kultur, Stuttgart–Berlin–Köln–Mainz (Urban Tb. 90) 1966, 128. E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, s.o. Anm. 1, II 525–544: Kaiphas oder: «Es ist besser, wenn einer stirbt, als das Volk.» A.a.O., II 648–659: Das Kreuz des Heils oder: Wider den Masochismus des Religiösen. A.a.O., II 494; 642–645. Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, 3. Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode (1903), in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 1. Bd., Frankfurt/M. 1955, 341–366, S. 347. Rudolf Bultmann: Das Evangelium des Johannes, Göttingen 101941, 520–531: «Ohne Zweifel hat diese Szene, die angesichts der synoptischen Überlieferung auf Historizität keinen Anspruch machen kann, einen symbolischen Sinn. Die Mutter Jesu, die am Kreuze ausharrt, stellt das Juden-Christentum dar, das den Anstoß des Kreuzes überwindet. Das durch den Lieblingsjünger repräsentierte Heidenchristentum wird angewiesen, jenes als seine Mutter, aus der es hervorgegangen ist, zu ehren, und jenem wird geboten, sich innerhalb des Heidenchristentums ‹zu Hause›, d. h. in die große kirchliche Gemeinschaft eingegliedert zu wissen. Und diese Weisungen erklingen vom Kreuze aus, d. h. sie sind die Weisungen des ‹erhöhten› Jesus.» Insofern basiert es auf einem (allerdings leicht möglichen und historisch weit verbreiteten, äußerst folgenschweren) Mißverständnis, wenn Karlheinz Deschner: Abermals krähte der Hahn. Eine Demaskierung des Christentums von den Evangelisten bis zu den Faschisten (Stuttgart 1962), Reinbek (rororo 6786) 1972, 46 schreibt: «Das Vierte Evangelium ist die judenfeindlichste Schrift des Neuen Testaments.» Die historische Sicht des «Judentums» ist zu unterscheiden von der typologischen Sicht einer Frömmigkeit, die in jeder Religion, nicht zuletzt im Christentum selbst, realisiert sein kann. E. Drewermann: Giordano Bruno. Der Spiegel des Unendlichen, München 21992. Bertolt Brecht: Der Mantel des Ketzers, in: Kalendergeschichten, Reinbek (rororo 77) 1953, 522002, S. 38–46. E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, s.o. Anm. 1, II 671–683: Josef von Arimathäa oder: Die Moral des Absurden. Ingo Broer: Die Urgemeinde und das Grab Jesu. Eine Analyse der Grablegungsgeschichte im Neuen Testament, München 1972, 189–200: Sachkritische Betrachtung der rekonstruierten vormarkinischen Tradition. S. 294: «Bleibt man … bei den Texten, so lassen diese eine positive Beantwortung der Frage, ob die Urgemeinde Jesu Grab kannte, mit Sicherheit nicht zu.» Georges Bernanos: Tagebuch eines Landpfarrers (Journal d’ un Curé de Campagne, Paris 1936), übers. v. Jakob Hegner, Zürich 1975, 178: «Trotzdem kann ich

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Ihnen versichern, daß es nicht ein Reich der Lebenden und daneben ein Reich der Toten gibt. Es gibt nur das Reich Gottes, und lebend wie tot sind wir allein in ihm.» (Vgl. Röm 14,7–9.)

Joh 20,1.11-18: Die Botschaft von der Auferstehung oder: Maria aus Magdala sieht den Herrn 1 Zu dem ganzen Abschnitt vgl. E. Drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne. Alt-Ägyptische Meditationen in bezug auf Joh 20/21, Düsseldorf–Zürich (1989) 72001, 158–177; zur Auferstehung im Islam vgl. Koran, II 63: «All denen – seien es Gläubige, Juden, Christen oder Sabäer –, wenn sie nur an Gott glauben, an den Jüngsten Tag und das Rechte tun, wird einst Lohn von ihrem Herrn, und weder Furcht noch Traurigkeit wird über sie kommen.» XIII 6: «Du wunderst dich, daß sie bei all diesem (sc. den Machterweisen Gottes in der Natur, d.V.) nicht glauben? Wundre dich vielmehr, daß sie dich noch fragen können: ‹Wie, wenn wir zu Staub geworden, können wir dann wohl wieder neue Wesen werden?› So sprechen die, welche nicht glauben an ihren Herrn.» XVII 50–52: «Auch sagen sie: ‹Wie sollten wir, wenn wir Gebein und Staub geworden sind, wieder zu neuen Geschöpfen auferweckt werden können?› Antworte: ‹Ja, und wäret ihr auch Stein oder Eisen oder sonst ein Geschaffenes, das nach eurer Meinung noch schwerer zu beleben ist.› Wenn sie sagen: ‹Wer wird uns denn wieder auferwecken?›, dann antworte: ‹Der, welcher euch auch das erste Mal geschaffen.›» 2 Johannes von Tepl: Der Ackermann aus Böhmen (1401). Originaler Text, nach A. Hübner, Leipzig 1937; übers. v. F. Genzmer, Stuttgart (reclam 7666) 1963, S. 43; 44–45. 3 E. Drewermann: Das Matthäusevangelium, 3 Bde., Solothurn–Düsseldorf 1992–1995, 3. Teil: Mt 20,20-28,20, 269–279: Der Ostermorgen oder: Vom Sieg des Lebens über den Tod. 4 E. Drewermann: Das Markus-Evangelium, 2 Bde., Solothurn–Düsseldorf 1988, II 684–696: Mk 16,1-8: Der Weg zum Grab und der Weg nach Galiläa. 5 E. Drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne. Alt-Ägyptische Meditationen in bezug auf Joh 20/21, Düsseldorf–Zürich (1989) 72001, 85–87; 92–95. 6 A.a.O., 158–177: Maria von Magdala am Grab oder: Die dreifache Umkehr (Joh 20,1.11-18). 7 Dies entgegen der «klassischen» Vorstellung bei Johannes de Voragine: Die Legenda aurea (1263–1273), aus dem Lat. übers. v. R. Benz, Heidelberg 81975: Maria Magdalena. 8 E. Drewermann: Das Matthäusevangelium, 3 Bde., s.o. Anm. 3, I 367–427: Mt 5,1-12: Die Bergpredigt und die Seligpreisungen. 9 E. Drewermann: Das Markus-Evanglium, s.o. Anm. 4, I 268–279: Mk 2,23-28: Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat. 10 A.a.O., I 311–321: Mk 3,20-35: Vom Mut zur Freiheit. 11 Flavius Josephus: Der jüdische Krieg (Bellum Judaicum, 75–79 n. Chr.), übers. u. eingel. v. H. Endrös, 2 Bde., München (GGTb. 1642–1645) 1965–1966, VI 9,3, 2. Bd., 217–218 errechnet aus der Volkszählung des Cestius zwischen 63–66 n. Chr. 256500 Opfertiere beim Pessah-Fest; da auf jedes Tier etwa zehn Leute kommen,

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«so ergibt dies an die 2700000, und zwar durchweg reine und für die heilige Handlung bereite Menschen; denn die Teilnahme war den Aussätzigen verwehrt, ebenso Geschlechtskranken, menstruierenden Frauen und solchen, die anderweitig nicht rein waren, natürlich auch den Angehörigen anderer Völker, die etwa zum Gottesdienst herbeigekommen waren». Joachim Jeremias: Jerusalem zur Zeit Jesu. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, Göttingen 3(neubearb.) 1962, 90 hält diese Angaben jedoch für «so ungeheuerliche Zahlen, daß wir sie nicht als historisch betrachten können». Die Schlachtungen wurden in drei Abteilungen am 14. Nisan am Tempel im inneren Vorhof vorgenommen, und so läßt sich pro Abteilung eine Fläche von ca. 3200 m2 errechnen, die für die Schlachtungen zur Verfügung stand; setzt man, daß im Durchschnitt zwei Männer mit je einem Opfertier pro m2 beschäftigt waren, so kommt man auf etwa 6400 Männer, also 6400 Opfertiere in jeder Abteilung. «Mithin kommen wir auf ca. 18000 Passahopfer.» (96) E. Drewermann: Das Matthäusevangelium, s.o. Anm. 3, II 443–458: Mt 18,15-35; 19,1-2: «Wie ich mich deiner erbarmt habe» oder: Wovon die Menschen leben. Marie Noël: Erfahrungen mit Gott (Notes intimes, 1920–1958), übers. v. Agnes Heitzer, Mainz 1961, Vorw. v. K. Pfleger, 111–112, freie Wiedergabe. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Otto Schönberger, Stuttgart (reclam) 1994, 1. Teil, Mittwoch den 25. Februar 1824, S. 96–100, S. 98: «Goethe kam darauf wieder auf die französischen Zeitungen. ‹Die Liberalen›, sagte er, ‹mögen reden; denn wenn sie vernünftig sind, hört man ihnen gerne zu; allein den Royalisten, in deren Händen die ausübende Gewalt ist, steht das Reden schlecht, sie müssen handeln. Mögen sie Truppen marschieren lassen und köpfen und hängen, das ist recht; allein in öffentlichen Blättern Meinungen bekämpfen und ihre Maßregeln rechtfertigen, das will ihnen nicht kleiden.›» Max Weber: Der Beruf zur Politik (Politik als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. 2. Vortrag, 1919), in: Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, hg. u. erl. v. J. Winckelmann, Stuttgart (Kröner Tb. 229) 4(durchges.) 1968, 167-185. Khalil Gibran: Jesus Menschensohn. Seine Worte und Taten berichtet von Menschen, die Ihn kannten (Jesus – The Son of Man. His Words and His Deeds as told and recorded by those who knew Him), übers. v. Ursula Assaf-Nowak, Olten 1988, 161–163.

Joh 20,2-10: Der Wettlauf zum Grab 1 Zu dem gesamten Abschnitt vgl. E. Drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne. Alt-Ägyptische Meditationen in bezug auf Joh 20/21, Düsseldorf–Zürich (1989) 72001, 177–184. – Bereits Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung. Aus dem handschriftl. Nachlaß hg. 1858, 2 Bde., Darmstadt 1983, II 324 sah im Johannes-Evangelium, dessen Verfasser er mit dem «Lieblingsjünger» identifiziert, das Evangelium der Zukunft: «Die auf Petri Autorität gebaute Kirche brachte es nur zur äußeren Einheit. In Paulus war ein Princip vorbereitet, durch welches die Kirche nicht von der Einheit, sondern nur von ihrer blinden Ein-

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heit wieder befreit werden konnte. Dieses Princip trat in der Reformation hervor, die indeß nur Vermittlung und Uebergang ist zu einer dritten Periode, in welcher die Einheit, aber als mit Freiheit bestehende, mit Überzeugung gewollte, und darum erst als ewige, bleibende hergestellt ist. Diese letzte ohne allen äußern Zwang bestehende Einheit fällt in eine dritte Periode, die zum voraus angedeutet ist durch den dritten der großen Apostel, den heil. Johannes.» Nach Walter Krickeberg: Altmexikanische Kulturen, Berlin 1975, 253 stellte das mexikanische Ballspiel den Himmelslauf der Sonne, verkörpert durch den Ball, dar. Klaus Helfrich: Menschenopfer und Tötungsrituale im Kult der Maya, Berlin 1973, 141–145 referiert demgegenüber die Deutung, daß das Ballspiel bei den Maya den Kampf der Götter des Lichtes gegen die Herren der Dunkelheit verkörpere, und betont die Gleichsetzung von Kautschukball, Blut und Same im Sinne eines Fruchtbarkeitsritus. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1819), Zürich 1975, Nr. 187: Der Hase und der Igel, S. 761–767. Carl Gustav Jung: Versuch einer psychologischen Deutung des Trinitätsdogmas (1942), Werke XI, Olten–Freiburg 1971, 119–218, S. 196–204: Die Psychologie der Quaternität. Carl Gustav Jung: Psychologische Typen (1921), Werke VI, Olten–Freiburg 1960, 357–443: Allgemeine Beschreibung der Typen. Ron Howard (Reg.): Beautiful Mind, USA 2001. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Otto Schönberger, Stuttgart (reclam) 1994, 3. Teil, Sonntag den 11. März 1832, 784–790, S. 786–787: «Fragt man mich …: ob ich geneigt sei, mich vor einem Daumenknochen des Apostels Petri oder Pauli zu bücken? so sage ich: verschont mich und bleibt mir mit euren Absurditäten vom Leibe! ‹Den Geist dämpfet nicht!› sagt der Apostel. Es ist gar viel Dummes in den Satzungen der Kirche. Aber sie will herrschen, und da muß sie eine bornierte Masse haben, die sich duckt und die geneigt ist sich beherrschen zu lassen. Die hohe reich dotierte Geistlichkeit fürchtet nichts mehr, als die Aufklärung der untern Massen. Sie hat ihnen auch die Bibel lange genug vorenthalten, so lange als irgend möglich. Was sollte auch ein armes christliches Gemeindemitglied von der fürstlichen Pracht eines reich dotieren Bischofs denken, wenn es dagegen in den Evangelien die Armut und Dürftigkeit Christi sieht, der mit seinen Jüngern in Demut zu Fuße ging, während der fürstliche Bischof in einer von sechs Pferden gezogenen Karosse einherbrauset!» Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung, s.o. Anm. 1, II 326–327: «Wie in Gott selbst drei Unterscheidungen sind, so stellen sich im Christenthum drei Hauptapostel dar. So wenig Gott bloß in Einer Person ist, so wenig ist die Kirche in Einem der Apostel allein, Petrus ist mehr der Apostel des Vaters. Er blickt am tiefsten in die Vergangenheit. Paulus ist der eigentliche Apostel des Sohnes, Johannes der Apostel des Geistes – er allein hat in seinem Evangelium … die herrlichen Worte vom Geist, den der Sohn vom Vater senden wird.»

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Joh 20,19-23: Die Gabe der Vergebung 1 E. Drewermann: Ein Mensch braucht mehr als nur Moral. Über Tugenden und Laster, Düsseldorf–Zürich 2001, 551–607: Gerechtigkeit. 2 Katholischer Erwachsenen-Katechismus. 1. Bd.: Das Glaubensbekenntnis der Kirche, hg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1985, 363–372: Das Sakrament der Buße, S. 369: «Das Sakrament der Buße besteht einerseits in von der Kirche ermöglichten (sic!) menschlichen Akten der Umkehr: der Reue, dem Bekenntnis und der Genugtuung, andererseits im Tun der Kirche, nämlich darin, daß die kirchliche Gemeinschaft unter der Leitung des Bischofs und der Priester im Namen Jesu Christi die Vergebung der Sünden anbietet, die notwendigen Formen der Genugtuung festlegt (sic!), für den Sünder betet und stellvertretend mit ihm büßt, um ihm schließlich die volle kirchliche Gemeinschaft und die Vergebung seiner Sünden zuzusprechen … Deshalb lehrt das Trienter Konzil (sc. 1563, d.V.), das Tun des Büßenden in Reue, Bekenntnis und Genugtuung sei ‹gleichsam die Materie dieses Sakraments›, während priesterliche Lossprechung die Form (sc. das Wesentliche, d.V.) des Sakraments der Buße darstellt.» 3 E. Drewermann: Kleriker. Psychogramm eines Ideals, Olten 1989, 180–187: Das festgelegte Gewissen oder: Der öffentliche Bußakt. 4 Zu dem ganzen Abschnitt Joh 20,19-23 vgl. E. Drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne. Alt-Ägyptische Meditationen in bezug zu Joh 20/21, Düsseldorf–Zürich (1989) 72001, 184–204. 5 Catéchisme de L’Église Catholique, Paris 1992, Nr. 1422–1498, S. 305–320: Das Sakrament der Buße; Nr. 1461, S. 314: Es sind die Bischöfe, die Nachfolger der Apostel, wie zu glauben ist, und die Priester, die Mitarbeiter der Bischöfe, die den «Dienst» der Vergebung ausüben. Nr. 1464 ermahnt die Priester, die Gläubigen zu ermahnen, zum Bußsakrament zu gehen. 6 Martin Buber: Des Rabbi Israel ben Elieser genannt Baal-Schem-Tow das ist Meister vom guten Namen Unterweisung im Umgang mit Gott aus den Bruchstücken gefügt (1927), in: Werke, 3 Bde., München 1963, III 47–67, S. 65 schreibt zum Umgang mit dem Sünder: «Geschieht es dir, daß du eine Sünde siehst oder von einer vernimmst, suche deinen Anteil an dieser Sünde auf und strebe dich zurechtzuschaffen. Dann wird auch jener Böse umkehren. Du muß ihn nur mit umfassen nach dem Sinn der Einheit, denn alle sind ein Mensch.» Joh 20,24-31: Thomas oder: Der lange Weg vom Trauern zum Vertrauen 1 Altägyptische Lebensweisheit, eingel. u. übertr. v. Fr. W. Freiherr von Bissing, Zürich 1955, S. 141–142: Lied des Harfners, 1. Fassung: «Die einst Häuser bauten – ihre Stätten sind nicht mehr. Was hat man mit ihnen getan? Ihre Mauern sind zerstört, als wären sie nie gewesen, seit der Zeit der Götter, so sind die Herren der Gräber. Keiner kommt von dort, daß er sage, wie es um sie steht, daß er sage, was sie brauchen, daß sich unser Herz beruhige, bis daß auch wir dahin kommen, wohin sie gegangen sind … Feiere einen frohen Tag … Sei wohlgemut, auf daß dein Herz vergesse, daß man dich einst im Tode verklären wird. Folge deinem Herzen, solange du

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lebst, leg Myrrhen auf dein Haupt und kleide dich in feines Linnen, salbe dich mit den echten Wundern der Gottesdinge. Pflanze die Sykomorenbäume an den Rand deines Teiches, daß deine Seele unter ihnen sitze und ihr Wasser trinke. Folge durchaus deinem Herzen, verrichte deine Angelegenheiten auf Erden nach dem Gebot deines Herzens, aber gib die Frucht des Feldes dem, der kein Feld hat. So wird dir bei der Nachwelt ein guter Name in Ewigkeit. Vermehre dein Gutes noch, laß dein Herz nicht ermatten. Verrichte deine Arbeit auf Erden und quäle dein Herz nicht, bis jener Tag des Wehgeschreis kommt. Der Gott mit ruhendem Herzen erhört ihr Schreien nicht, und die Klagen erretten niemanden aus der Unterwelt. Begehe den Tag fröhlich, tue Salbe und feines Öl an deine Nase, Kränze und Lotosblumen an den Leib deiner Geliebten, die du liebst und die neben dir sitzt. Laß Gesang und Musik vor dir sein, wirf alles Üble hinter dich und gedenke der Freude, bis jener Tag kommt, wo man im Lande, das die Stille liebt, landet. Feiere den frohen Tag, gedenke nicht der Zeit des Tages, der die Herzen betrübt, der das Land in Trauer versetzt; und gedenke nicht des Tages, da man dich zum Lande führt, das alle ohne Unterschied vereint. Genieße dein Leben gar sehr, werde seiner nicht müde: Siehe, niemandem ist vergönnt, seine Habe mit sich zu nehmen. Keiner ist, der je wiederkam, wenn er fortging.» Ludwig Feuerbach: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830), in: Werke in sechs Bänden, hg. v. Erich Thies, Frankfurt/M. 1975, 1. Bd.: Frühe Schriften (1828–1830), 77–269, S. 218: «Deine Moralität ist daher die unmoralischste, die erbärmlichste, eitelste, nichtigste Moralität von der Welt, wenn sie aus dem Glauben an die Unsterblichkeit herkommt, wenn sie die Natur nicht überwindet, in dem Tode nicht die Handlung einer höchsten Freiheit anerkennt, wenn sie ihn zuerst wie einen reißenden Wolf über die Herde der moralischen Individuen verzehrend herfallen läßt und dann hinterdrein den Schaden durch die milde Barmherzigkeitsgabe einer langweiligen Unsterblichkeit wiedergutzumachen sucht und den Tod erst nach dem Tode, nach seinem Eintritt überwinden will.» Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: Karl Marx – Friedrich Engels Werke, Bd. 3, hg. v. Institut für Marxismus – Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1973, 533–535, Nr. 7, S. 535: «Feuerbach sieht … nicht, daß das ‹religiöse Gemüt› selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.» Käte Hamburger: Tolstoi. Gestalt und Problem, Göttingen 2(neubearb.) 1963, 73–94: Der Kampf um den Glauben, S. 83: «Zugespitzt ausgedrückt vernichtete Tolstoi die Liebe, so sehr er überzeugt war, sie zu begründen. Die Vergewaltigung des existentiellen Phänomens der Liebe, um ein anderes, den Tod, ungültig zu machen, bleibt die dauernd ungelöste Problematik seines Lebens.» Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927), in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, London 11948, 323–380. Miguel de Unamuno: San Manuel Bueno, Märtyrer (San Manuel Bueno, mártir, 1932), spanisch–deutsch, übers. u. hg. v. Erna Brandenberger, Stuttgart (reclam 8437) 1987, 37: «‹Glaube an den Himmel, an den Himmel, den wir sehen. Schau ihn an!› – Er zeigte ihn mir hoch oben über dem Berg und sein Spiegelbild unten im See.» S. 53: «‹Die Wahrheit? Die Wahrheit … ist möglicherweise etwas Schreckliches, etwas Unerträgliches, etwas Mörderisches; die einfachen Leute könnten nicht leben damit … Ich bin dazu da, die Seelen meiner Pfarrkinder zum Leben zu führen,

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sie glücklich zu machen, sie von ihrer Unsterblichkeit träumen zu lassen … Meine (sc. Religion, d.V.) besteht darin, Trost zu finden, indem ich anderen Trost spende, obwohl der Trost, den ich ihnen gebe, meiner nicht ist.›» S. 79: «Damals glaubte ich noch an das ewige Leben! Das heißt, heute stelle ich mir vor, daß ich damals glaubte. Für ein Kind ist glauben nichts anderes als träumen. Und für ein Volk auch.» Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), übertr. u. hg. v. Ewald Wasmuth, Heidelberg 5(neubearb. u. erw.) 1954, Nr. 555, S. 247: «Vergleiche dich nie mit anderen, sondern mit mir … Oft spreche ich zu dir und tröste dich …, denn ich will nicht, daß es dir an Führung mangle … Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht besäßest. Beunruhige dich also nicht.» Reinhold Schneider: Verhüllter Tag. Bekenntnisse eines Lebens (Köln 1954), Freiburg–Basel–Wien (Herder Tb. 42) 1959, 57–66: Ferne Küste, S. 58–59: «Was mich (sc. im Werke Unamunos, d.V.) aufwühlte, tröstete, bestätigte, gerade in meinem innersten Schmerz, war die Existenz als Todeskampf und und der leidenschaftliche Streit mit der Zeit, die unentwegte Herausforderung … Das einzige Leben, das Unamuno meinte, war das Unmögliche, das Tragische selbst … Das ursprünglich sehr ernste Wort Existenz, Existentialismus, ist inzwischen zerredet worden; Unamuno hatte die Forderung unmittelbar von Kierkegaard empfangen, den er als seinen Bruder anredete. Ich fand hier den Mut zum unversöhnlichen Konflikt, zur Tragödie, aber umschlossen von einer mystischen Sphäre, die Nietzsche nicht zugänglich war … Als Letztes bleibt das Opfer des Nichtglaubenden, der aus Liebe den Glauben vorgibt und in Versündigung an der Wahrheit das rettende Martyrium erleidet: immer für alle, niemals für sich allein. Unsterblichkeit? Das ist das unbegreifliche, allem Denken widersprechende, das leidenschaftliche Anliegen des Lebens.» Reinhold Schneider: A.a.O., 161: «Die Konstruktion der Atombombe ist nicht Theorie – und wenn sie es wäre, so unterläge sie derselben Verantwortung, sogar noch einer größeren als der Abwurf … Wir müssen uns doch klar darüber sein, daß die von der Menschheit gefürchtete Katastrophe sich längst ereignet hat: im geistigen Sinn als Erdenken der neuen Waffe, im sittlichen als damit verbundener oder vorausgehender Entschluß, im materiellen als rastlos betriebene Herstellung und Aufhäufung – nur die Weite der geschichtlichen Wirklichkeit ist noch offen. Die Katastrophe ist da; sie ist ein Element unserer Wirklichkeit.» Ders.: Winter in Wien, Aus meinen Notizbüchern 1957/58, Freiburg–Basel–Wien 1958, 158: «alles, was bisher in Geschichte und Kultur geleistet wurde, ist undenkbar ohne Rechtfertigung der Gewalt und deren Ausübung; personale Verteidigung der Seinen und seiner selbst steht einem jeden frei: Was aber den Verteidigungskrieg angeht, so wird er sich unabwendbar fortzünden in das nicht Verantwortbare; das Christentum ist in die Passion eingetreten, in ihr, nicht im Waffenkampf, ist fortan Heldentum.» Reinhold Schneider: Winter in Wien, 129–130: «… man gehe nur einmal durch das Naturhistorische Museum (sc. in Wien, d.V.) – und Gott ist ebenso nahe wie fern. Es ist unmöglich, ihn vor dieser unübersehbaren Gestaltenwelt, dieser entsetzlichen Fülle der Erfindungen zu leugnen; ihn zu leugnen vor der absurden Architektur des Dinosauriers – eine Kathedrale der Sinnlosigkeit, des Lebenswillens, der nicht leben kann.» A.a.O., 119–120. A.a.O., 119: «für mich kann ich nicht beten; und des Vaters Antlitz hat sich ganz

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verdunkelt; es ist die schreckliche Maske des Zerschmeißenden, des Keltertreters; ich kann eigentlich nicht ‹Vater› sagen.» A.a.O., 129: «Warum sollte es nicht erlaubt sein, in der Kirche zu beten um die ewige Ruhe? Sie verheißt sie doch. Aber Ruhe ist nicht Leben; denn Leben wendet sich immer gegen sich selbst. Es ist doch gar nicht möglich, in einem Atemzuge um die ewige Ruhe und das ewige Leben zu bitten. Gilt aber die zweite Bitte nicht, so gelangt die Brücke nicht ans andere Ufer – und alle Wagen stürzen ab.» E. Drewermann: Ein Mensch braucht mehr als nur Moral. Über Tugenden und Laster, Düsseldorf–Zürich 2001, 193–222: Schwermut und Melancholie. Ingmar Bergman: Szenen einer Ehe (Scener ur ett äktenskap, 1972), übers. v. HansJoachim Maass, München (Heyne Tb. 5275) 1975, 200: «Ich will, daß ihr meine Hände haltet, damit wir uns aneinander festhalten können. … Aber es geht nicht. Ich habe keine Hände mehr. Ich habe nur ein paar Armstümpfe, die an den Ellbogen enden. Gleichzeitig rutsche ich auf weichem Sand aus. Ich kann euch nicht erreichen. Ihr steht da oben auf dem Weg, und ich kann euch nicht erreichen.» Paul Tillich: Die neue Wirklichkeit. Auswahl aus: The Shaking of the Foundations – In der Tiefe ist Wahrheit, übers. v. Renate Albrecht und Gertraut Stöber, hg. v. August Rathmann, und: The New Being – Das Neue Sein, übers. v. Marie Rhine und Gertraut Stöber, München (dtv 70) 1962, 55–66: Der Theologe, S. 55–66: «Hier in unserem Kreise sind wir Theologen, Menschen, die nach dem fragen, was Menschen unbedingt angeht, die Frage nach Gott und seiner Offenbarung.» Juan Ramón Jiménez: Stein und Himmel (Piedra y cielo, Madrid 1919), übers. v. Fritz Vogelsang, spanisch u. deutsch, Stuttgart 21988, S. 248–249.

Joh 21,1-14: Die Erscheinung am See oder: Zwischen Diesseits und Jenseits 1 Zu dem ganzen Abschnitt vgl. E. Drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne. Alt-Ägyptische Meditationen in bezug auf Joh 20/21, Düsseldorf–Zürich (1989) 72001, 214–220. 2 Jean Anouilh: Antigone (Paris 1942), übers. v. Franz Geiger, München–Wien 111971, 44: «Wer ja sagt, muß das Leben fest mit beiden Fäusten anpacken und sich in die Arbeit knien, daß der Schweiß rinnt. Nein sagen ist leicht, selbst wenn man dabei sterben muß. Man braucht nur ruhig dazusitzen und zu warten – auf das Leben oder bis man umgebracht wird. Wie feig ist das! Nur Menschen können so sein. Was wäre, wenn die Bäume nein sagten zum Saft, der aus ihren Wurzeln emporsteigt? Wenn die Tiere nein sagten und aufhörten sich zu fressen und sich zu paaren? Die Tiere sind wenigstens gut, einfach und beständig. Sie trotten unverzagt schiebend und drängend ihren Weg. Wenn eines fällt, gehen die anderen darüber hinweg, und es können noch so viele umkommen, immer bleiben einige jeder Gattung übrig, die wieder Junge werfen und furchtlos den Weg fortsetzen, den die anderen vor ihnen gegangen waren.» – «Ein herrlicher Traum für einen König! König der Tiere! Da wäre alles so einfach!» 3 A.a.O., 41: «Nach einer schiefgegangenen Revolution gibt es allerhand Dreck zum Auskehren … Dein Polyneikos, sein Körper, der unter Bewachung verwest, sein irrender Schatten, oder wie du es sonst nennst, das ganze pathetische Zeug, das dir

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in den Kopf steigt, ist ja schließlich nur eine politische Angelegenheit.» S. 47–48: «ich konnte den Leuten leider nicht sagen, daß auf beiden Seiten ein Schweinehund war … Es waren zwei Gauner, die sich gegenseitig betrogen, während sie uns betrogen. Sie haben sich umgebracht wie zwei Halunken, die eine alte Rechnung zu begleichen hatten. Aber für mich ergab sich die Notwendigkeit, daß ich aus einem von ihnen einen Helden machen mußte … Ich ließ den noch am besten erhaltenen Körper für mein Staatsbegräbnis mitnehmen. Den anderen ließ ich draußen liegen, wo man sie fand. Ich weiß nicht einmal, welcher von beiden das war. Und – das kannst du mir glauben – das ist mir auch vollkommen gleichgültig.» A.a.O., 63: «Fünf Uhr. Was haben wir heute um fünf?» – «Ministerrat, Herr.» – «Gut, wenn wir Ministerrat haben, … dann werden wir jetzt hingehen.» Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1819), Zürich 1975, Nr. 4: Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. E. Drewermann: Strukturen des Bösen. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer, psychoanalytischer und philosophischer Sicht, 3 Bde., Paderborn. 1976–1977, 1. Bd., 3(erw.) 1984, 356–410: Nachwort zur 3. Aufl.: Von dem Geschenk des Lebens oder: das Welt und Menschenbild der Paradieserzählung des Jahwisten (Gn 2,4b-25), S. 405–408: Das Fehlen der Scham in den Augen des Liebenden. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen (1885), in: Sämtliche Werke, Stuttgart (Kröner Tb. 75) 1988, mit einem Nachwort von Walter Gebhard, 2. Teil, 90–93: Auf den glückseligen Inseln, S. 91: «Aber daß ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also gibt es keine Götter. Wohl zog ich den Schluß; nun aber zieht er mich.» «Gott ist ein Gedanke, der macht alles Gerade krumm, und alles, was steht, drehend. Wie? Die Zeit wäre hinweg und alles Vergängliche nur Lüge? Dies zu denken ist Wirbel und Schwindel menschlichen Gebeinen, und noch dem Magen ein Erbrechen: wahrlich, die drehende Krankheit heiße ich’s, solches zu mutmaßen. Böse heiße ich’s und menschenfeindlich: all dies Lehren vom Einen und Vollen und Unbewegten und Satten und Unvergänglichen! Alles Unvergängliche – das ist nur ein Gleichnis! Und die Dichter lügen zu viel.» Nicolai Hartmann: Ethik, Berlin 1926, S. 3–5: Der Demiurg im Menschen, S. 4: «Ethik … ist sein (sc. des Menschen, d.V.). Wissen um Gut und Böse, das ihn der Gottheit gleichstellt, seine Kraft und Befugnis, mitzureden im Weltgeschehen, mitzuwirken in der Werkstatt der Wirklichkeit. Sie ist seine Erziehung zu seinem Weltberuf, die Anforderung an ihn, Mitbildner des Demiurgen, Mitschöpfer der Welt zu sein.» Aus dieser Sicht der ethischen Bestimmung des Menschen ergab sich für Hartmann der «postulatorische Atheismus». Gott als das Allvollkommenste Wesen entwertet alle Versuche des Menschen, Vollkommenheit zu erringen.

Joh 21,15-25: Bist du mir Freund? 1 Zu der ganzen Erzählung vgl. E. Drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne. Alt-Ägyptische Meditationen in bezug auf Joh 20/21, Düsseldorf–Zürich (1989) 72001, 220–227. – Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung. Aus dem handschr. Nachlaß hg. 1858, 2 Bde., Darmstadt 1983, II 327: «Wenn … bei der Zusammenkunft in Jerusalem (sc. Apg 15,1-29, d.V.) Juden

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und Heiden zwischen Petrus und Paulus getheilt wurden, so scheint Johannes … der Apostel jener aus Heiden und Juden völlig eins gewordenen Kirche zu seyn. Diese Kirche ist aber eigentlich noch immer zukünftig, denn noch bis zur Stunde sind beide Elemente unterscheidbar … Die Heidenchristen konnten sich natürlich nicht auf ihre Werke berufen, sie wurden selig ohne Werke … aus bloßer Gnade, wie es eben darum auch der Apostel der Heiden (sc. Paulus, d.V.) eifrig und wiederholt einschärft. Die Juden konnten sich wenigstens auf die strenge Beobachtung eines von Gott gegebenen Gesetzes berufen und waren daher weniger geneigt, eine freie, von den Werken unabhängige Gnade anzunehmen. … Johannes war … ausersehen, der Apostel der zukünftigen, erst wahrhaft allgemeinen Kirche zu seyn …, um zu denen, die schon früher … auf jüdische Weise in ihr waren, nun auch die aufzunehmen, welche bis dahin außer ihr und in diesem Sinn Heiden waren.» Historisch hat Petrus sich wohl (begrenzt) der Öffnung der Gemeinde für Nicht-Juden angeschlossen; die eigentliche Spannung aber ist nicht historisch die zwischen Juden und Heiden, sondern zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, zwischen Institution und Person, zwischen Außenlenkung und Freiheit. Gaius Sallustius Crispus: Die Verschwörung des Catilina (De coniuratione Catilinae, ca. 50 v.Chr.), XX 4: nam idem velle atque idem nolle, ea demum firma amicitia est. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung, s.o. Anm. 1, 328–331 argumentierte: «Daß Christus den Johannes der Zukunft bestimmte, geht am entschiedensten hervor aus der Erzählung im letzten Kapitel des Evangeliums Johannes.» «Nimmt man … dieses Kommen (sc. Christi in Joh 21,22, d.V.) als das Kommen Christi zum Weltende und das Bleiben des Johannes vom Nichtsterben, vom Lebenbleiben, so war die Auslegung, Johannes werde überhaupt nicht sterben … Und doch ist Johannes gestorben … Der Sinn ist … : Wenn ich will, daß dieser mir nicht folge, was geht es dich an? Du folge mir … Petrus ist also unmittelbar der Nachfolger Christi; Johannes erst ein Nachfolger um die Zeit, da er kommt; denn so dürfen die Worte wohl erklärt werden; nicht daß Johannes erst auftritt im Augenblick des wirklichen Kommens Christi (denn da bedürfte es keines Stellvertretens mehr), sondern daß die Funktion des heil. Johannes anfängt mit der Zeit, in welcher der Herr kommt, also mit der letzten Zeit der Kirche.» «Die Funktion des Johannes kann natürlich nicht eher anfangen, als die Ausschließlichkeit Petri völlig überwunden ist, und die Kirche ihre letzte Einheit erreicht hat, wo wirklich Ein Hirt und Eine Heerde seyn wird. Dieses Wort findet sich allein bei Johannes (sc. Joh 10,16, d.V.).» Helmut Gollwitzer: … und führen, wohin du nicht willst. Bericht einer Gefangenschaft, München 1954. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung, s.o. Anm. 3, S. 330 begründet das Mißverständnis, «bleiben» heiße hier Lebenbleiben, so: «man hat übersehen, daß die Frage Petri: was soll aber dieser? nicht unmittelbar auf die Worte folgte, in denen Petri künftige Todesart angedeutet ist … Petrus sagt: Was soll aber dieser? Der Sinn ist: soll dieser nicht auch dir folgen? Es wäre nun eine ganz widersinnige Antwort, wenn menein (sc. bleiben, d.V.) hier lebenbleiben bedeuten sollte. Diese Antwort ließe sich nur denken, wenn Petrus gefragt hätte: soll dieser auch wie ich sterben? Ginge apothanein (sc. sterben, d.V.) vorher, so könnte menein nichts anderes bedeuten, als ma apothanein (sc. nicht sterben, d.V.). Da aber ako-

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loythein (sc. folgen, d.V.) vorhergeht, so kann menein nichts anderes bedeuten, als ma akoloythein, nicht folgen.» 6 Khalil Gibran: Jesus Menschensohn. Seine Worte und Taten, berichtet von Menschen, die Ihn kannten (Jesus – The Son of Man. His Words and His Deeds As told and recorded By those, who knew Him), aus dem Engl. v. Ursula Assaf-Nowak, Olten 1988, 106–107: Johannes, der Geliebte Jünger in seinem Alter, S. 106.

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Zur Übersetzung des Johannes-Evangeliums Von allen Texten des Neuen Testamentes, weiß jeder Theologiestudent, ist das Johannes-Evangelium am einfachsten zu übersetzen. Gemessen an der eigenwilligen Rhetorik der paulinischen Briefe oder an dem ausgefeilten Satzbau des Lukas, mutet seine Sprache geradezu simpel an: keine Schachtelsätze, keine gewagten Konstruktionen, keine fein abgestimmte Unterscheidung zwischen Realis, Optativ und Potentialis (letzterer kommt gar nicht erst vor), nicht einmal die Kunst der indirekten Rede: – alles scheint klar und einfach ausgesprochen. Wer gar vom klassischen Griechisch, von Thukydides und Platon kommend, das Johannes-Evangelium aufschlägt, bemerkt mit Freuden, daß er hier nun endlich einen Text in Händen hält, den er mühelos, ein paar sonderbar klingende Worte ausgenommen, ohne zu stocken, herunterübersetzen kann. Doch diese vermeintliche «Einfachheit» ist gerade die Schwierigkeit. Denn wie soll man ein Griechisch in Deutsch übersetzen, das im Grunde Hebräisch ist, das aber hinwiederum auch kein «richtiges» Hebräisch (oder Aramäisch) ist, sondern das eine Übersetzungssprache darstellt, die in der Weltsprache der damaligen Zeit, eben in Griechisch, zu sagen versucht, was das Ereignis des Mannes aus Nazaret für die Menschen aller Zeiten und Zonen bedeutet? Man muß dieses Griechisch so übersetzen, daß aus der kanaanäischen Sprache «lesbares», das heißt laut vorlesbares, in sich verständliches Deutsch wird; vor allem F. Stiers Übersetzung ist da das Vorbild. Doch dann stellt sich immer von neuem die Frage, ob denn die griechischen Schlüsselwörter des Johannes-Evangeliums wirklich das sagen, was sie dem Lexikon nach bedeuten, ob der Sinn mancher Sätze wirklich so gemeint sein kann, wie der Satzbau ihn formuliert, ob die Zeitstufen logischerweise so wiedergegeben werden sollten, wie sie unter semitischem Einfluß jetzt dastehen. Und noch eigentümlicher: wie übersetzt man jene griechischen Worte, die lexikalisch eindeutig sind, die aber in Wahrheit auf bestimmte Mißverständnisse aramäischer Begriffe zurückgehen? Gerade diese Worte haben mitunter die Sprachspiele der kirchlichen Dogmatik bis in unsere Tage geprägt! Nehmen wir, als einfachstes Beispiel, ein paar Schlüsselbegriffe der johanneischen «Theologie». Beginnen wir mit einem so wichtigen Wort wie «Gerechtigkeit». Das Wort erscheint bei Paulus 57mal, bei Matthäus 7mal, bei Johannes nur an einer einzigen, aber wichtigen Stelle: 16,8–10. Sprechen wir, im Erbe der römischen Antike, von «Gerechtigkeit», so meinen wir die moralische Begrenzung und Durchsetzung von Ansprüchen, die ein Mensch gegenüber einem anderen vernünftigerweise geltend 409

machen könnte und sollte. Doch das hebräische Wort im Hintergrund meint mit «Gerechtigkeit» etwas ganz anderes. Nicht um die menschliche Rechtsordnung geht es da, sondern um die Stellung des Menschen vor Gott: Wie kann ein Mensch das Gefühl (wieder)bekommen, «berechtigt» zu sein in seiner Existenz? Das war bereits eine zentrale Frage des Paulus. Wie kann ein Mensch so leben, wie es von Gott her möglich und «recht» ist? So lautet schon die Frage des Matthäus in der Bergpredigt (vgl. E. Drewermann: Das Matthäusevangelium, 1. Bd., Olten 1992, 185–217: Fragen der Übersetzung, S. 199; S. 642–667: Der feste Grund). Die «Gnade» Gottes allein, das heißt: die bedingungslose Bejahung des Menschen durch Gott, unabhängig von allen «Opfern», «Bußleistungen», liturgischen Riten und moralischen Anstrengungen, macht es möglich, daß ein Mensch im Gefühl seiner «Berechtigung» «richtig» zu leben beginnt. Das ist «Gerechtigkeit» im Sinne der Propheten Israels und nicht anders im Sinne Jesu. Wer das griechische Wort für «Gerechtigkeit» im Neuen Testament deshalb mit dem deutschen «Gerechtigkeit» übersetzt, der gibt den Ausdruck begrifflich falsch wieder. «Rechtes Leben vor Gott, von Gott her ermöglichtes Leben» – so etwa ist die Bedeutung des Wortes. Und so jetzt Johannes 16,8–10. Der Satz kann nicht heißen: «Er (Gott) wird die Welt überführen …, daß es Gerechtigkeit gibt …, denn ich gehe zum Vater», er besagt in Wirklichkeit, daß «ein rechtes Leben» aus lauterer Güte möglich ist, sobald ein Mensch sich der «Väterlichkeit» Gottes anvertraut und ganz allein darin sich festzumachen sucht! Einem griechisch so sehr von Menschen her gedachtes Wort wie dem Begriff «Gerechtigkeit» wird hier religiös ein ganz und gar anderer theozentrischer Sinn aufgeprägt. Dasselbe gilt von einem anderen Begriff, der in allen alten wie modernen Sprachen Europas völlig klar zu sein scheint, von dem Wort Wahrheit. «Wahrheit» – das ist, so steht es uns fest, die Übereinstimmung von Aussage und Sachverhalt; eine Meinung ist wahr, wenn sie sich in der Wirklichkeit bestätigt … Ein Problem für eine «wahre» Übersetzung des Wortes «Wahrheit» scheint es mithin nicht zu geben. Und doch meint das Wort «Wahrheit» bei Johannes durchaus nicht das, was wir als «Wahrheit» bezeichnen. Schon daß das Wort im 4. Evangelium 25mal vorkommt, gegenüber nur einem Mal bei Matthäus, zeigt die besondere Bedeutung, die diesem Begriff im Johannes-Evangelium zukommt. «Dazu bin ich … in die Welt gekommen, daß ich Zeugnis ablege für die Wahrheit», sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums zum Beispiel vor dem Vertreter der Staatsmacht 410

Roms, und stets hat man die Gegenfrage des Pilatus: «Was ist Wahrheit?» als Ausdruck der Skepsis eines gebildeten politischen Pragmatikers gegenüber jedem ideologisch oder religiös verbrämten Wahrheitsanspruch verstehen wollen (18,37–38). Doch was ist das für eine «Wahrheit», für die Jesus zum «Zeugnis» in die «Welt» gekommen ist? Was besagt seine «Wahrheit» inhaltlich? Wer so fragt, wird bald erstaunt feststellen, daß «die Wahrheit» im Johannes-Evangelium überhaupt keinen eigentlichen «Inhalt» besitzt. Jesus sagt «die Wahrheit», und deshalb «glauben» «die Juden» ihm nicht (8,45); Jesus ist «die Wahrheit» (14,6). Eine, seine Person verschmilzt hier mit der «Wahrheit», aber es gibt, es braucht für diese «Wahrheit» offenbar keinen Inhalt, der sich näher definieren ließe, und ebenso bei dem Gegenbegriff: Lüge. Ihr «Anfang», ihr Prinzip ist ebenfalls eine «Person»: der «Teufel» (8,44). Einen Moment lang könnte man überlegen, ob unter diesen Umständen «Wahrheit» und «Lüge», eben weil sie für Johannes totale, personale, das gesamte Dasein des Menschen betreffende Begriffe darstellen, nicht vielleicht als in sich geschlossene Haltungen des Menschen, mithin als «Wahrhaftigkeit» und «Verlogenheit» übersetzt werden sollten. Doch spricht dagegen schon der Zusammenhang, in dem die Worte vorkommen: Man kann nicht «Zeugnis ablegen» für eine menschliche Haltung, man kann allenfals in einer menschlichen Haltung etwas Bestimmtes bezeugen; es ist auch nicht gut möglich zu sagen: «Ich bin (die) Wahrhaftigkeit.» Und doch sind wir der «Wahrheit» des johanneischen Wahrheitsbegriffs schon recht nahe, wenn wir hören, es sei der «Teufel» der «Ursprung» der «Lüge»; denn auch umgekehrt besteht kein Zweifel: für Johannes ist Gott der «Ursprung» der «Wahrheit». Setzen wir daher: «Lüge» – das ist die Wesensform, in welcher der «Teufel» sich äußert, «Wahrheit» – das ist die Wesensform, in welcher Gott sich uns mitteilt. Aber: wie übersetzt man das? Am besten wird es sein, wenn wir das griechische Wort für «Wahrheit» ganz «wörtlich» nehmen. Etymologisch ist «Wahrheit» im Griechischen so viel wie «Unverborgenheit»; sprechen wir also johanneisch, um das Wort «Wahrheit» zu übersetzen, von der «Unverborgenheit Gottes», nennen wir «Lüge» die «Verborgenheit Gottes». Zugegeben, ein Wort wie «die Unverborgenheit Gottes» wirkt gekünstelt; doch dafür enthält es einen unschätzbaren Vorteil: es gibt das Assoziationsfeld, die geistige Struktur wieder, innerhalb deren ein so wichtiges Wort wie «Wahrheit» bei Johannes seinen Ort hat; eine ganze Reihe weiterer Begriffe erklären sich im folgenden dann wie von selber. 411

Zum Beispiel verstehen wir jetzt, inwiefern es in ein und derselben Zeile, gleich zu Beginn des Johannes-Evangeliums, heißen kann: «das Gesetz ward durch Moses gegeben; die Gnade, die ‹Wahrheit› ward durch Jesus Christus». (1,17) «Gnade», so lernen wir, das ist die «Unverborgenheit Gottes», das ist die Art, in welcher Gott als der «Vater» sich wesenhaft mitteilt, und es ist der «Auftrag», es ist das «Werk» seines «Sohnes», für diese «Unverborgenheit» des «väterlichen» Wesens Gottes in der «Versöhnung» der Menschen einzutreten … Eben deshalb auch sendet Jesus nach seinem Tode den Jüngern seinen «Geist», einen Geist jetzt nicht mehr der «Wahrheit», sondern eben: der Unverborgenheit Gottes, einen Geist, der die «Glaubenden» in aller «Unverstelltheit» «leiten» wird (16,13; vgl. 4,23). Die «Unverstelltheit» des Menschen, ihre «Wahrhaftigkeit», wird möglich in der «Unverborgenheit» Gottes, in der «Wahrheit» des «Vaters», die nichts ist als reine Gnade … Man beachte: erneut wird hier ein Begriff nicht nur des profanen Griechisch, sondern der gesamten «abendländischen» Denkwelt religiös umgedeutet. Es gibt keine Übersetzung, die «wahr» sein könnte, solange sie diese Umprägung zentraler Begriffe im johanneischen Griechisch nicht deutlich macht; alle Scheinberuhigung innerhalb des an sich schon «Verständlichen» und immer schon Verstandenen führt nur in die Irre. Die Folgen solcher zunächst winzig erscheinender Veränderungen einzelner Worte sind in Wahrheit jetzt schon enorm. «Ich bin der Weg, die Wahrheit, das Leben» (Joh 14,6) – mit diesem Satz wird wie mit einer Keule auch heute noch die dogmatische «Wahrheit» des Christentums gegenüber allen nicht-christlichen Religionsformen verteidigt; mit eben dem Wort nennt nach 3 Joh 3,8 der Vorsitzende der römischen Glaubenskongregation, der Nachfolgeinstitution des immer noch so genannten «Heiligen Offiziums», Joseph Kardinal Ratzinger, sich «Mitarbeiter der Wahrheit». Eben weil man die «Wahrheit» des Johannes-Evangeliums griechisch versteht statt hebräisch, setzt man sie mit der Behauptung bestimmter Lehrsätze gleich, die in der «Nachfolge» «Christi» das kirchliche «Lehramt» gegen die «Feinde» drinnen wie draußen, und sei’s mit den Mitteln der Inquisition, der Folter damals, der Ausgrenzung heute, garantieren könnte und garantieren müßte. Doch nichts könnte «unwahrer», falscher sein. Wohl stehen schon in 1 Joh 4,2.3 Sätze, die dogmatisch nicht härter, verengter sein könnten; – das Johannes-Evangelium steht selbst an der Grenze zwischen dem «hebräischen» und dem griechischen Begriff göttlicher Wahrheit; doch eben deshalb ist es nötig, den eigentlichen Sinn der johanneischen Rede von Wahrheit herauszustellen: Auf dem Wege, 412

in der Art, wie Jesus gelebt hat, die «Unverborgenheit Gottes», seine «Gnade», seine «Väterlichkeit» «versöhnend» zu leben, das ist die «Wahrheit», für die zu «zeugen» nach Meinung des Johannes Jesus in die «Welt» kam. Ein schärferer Kontrast zu allen Ideen eines unfehlbaren, exklusiven «Wahrheitsbesitzes» in dogmatischem Sinne, gebunden womöglich an eine kirchliche Hierarchie, ist schwer denkbar. Und nun weiter: Ist die «Wahrheit» im Johannes-Evangelium nichts anderes als Gottes Unverborgenheit, seine Unmittelbarkeit, seine Zugewandtheit, seine Liebe, so wird auch ein anderes griechisches Wort verständlich, dessen Sinn sich erneut nur auf Hebräisch erschließt: im Namen des Vaters, sagt der johanneische Jesus, sei er «gekommen» (5,43), alles, was er tue, tue er «im Namen» seines «Vaters» (10,25; vgl. 12,13), und umgekehrt: in seinem, Jesu, Namen gelte es, den Vater zu bitten (16,26), in seinem (Jesu) Namen werde der «Vater» den «Geist» «senden» (14,26) … Was heißt das? Wenn jemand «im Namen» eines anderen etwas tut, so bedeutet das für gewöhnlich: er tut es mit Berufung auf jenen anderen oder im Auftrag jenes anderen. Doch diese geläufige Vorstellung langt nicht aus, um zu verstehen, was, hebräisch gedacht, das Johannes-Evangelium mit dem Wort «Namen» meint. Schon bei der Übersetzung des Vaterunser im Matthäus-Evangelium (Mt 6,9) muß man sich fragen, wie sich die Bitte: «geheiligt werde dein Name» übersetzen läßt (E. Drewermann: Das Matthäusevangelium, I 200–203). «Name» – das heißt hebräisch so viel wie «Wesen», «Wesensart» –: «was du bist, das gelte», läßt sich in deutscher Gebetssprache die VaterunserBitte wohl am besten wiedergeben. Setzen wir im Johannes-Evangelium an den Stellen, da vom «Namen» Gottes oder vom Namen Jesu die Rede ist, den Begriff «Wesensart» oder einfach «Art» ein, so wird das Verständnis der betreffenden Aussagen sehr erleichtert: «Ich bin gekommen ‹in der Wesensart› meines Vaters», sagt Jesus dann (5,43), und man begreift, was es heißt, wenn er fortfährt: «doch ihr nehmt mich nicht an; wenn ein anderer gekommen wäre in seiner eigenen Art – den hättet ihr angenommen». Die «Wesensart» des «Vaters» – die «Väterlichkeit» Gottes selbst –, das ist nach allem Gesagten die Art, welcher der «Sohn» verpflichtet ist, und sie ist auch der «Geist», die «Geistesart», in welche die Jünger nach dem Tode Jesu eingeführt und weitergeführt werden (14,26); auf diese «Art» hin ist es überhaupt erst möglich, zum «Glauben» zu kommen (2,23–3,18). Auch dieses Wort läßt sich nicht verstehen, solange wir es rein griechisch lesen; doch um es zu erläutern, sollten wir vorerst noch von einem 413

anderen Wort sprechen, das im gewöhnlichen Griechisch kaum vorkommt, das aber im Johannes-Evangelium die größte Rolle spielt, von dem Wort: «Herrlichkeit» bzw. «Verherrlichung» (18mal) und «verherrlichen» (23mal). Im «normalen» Griechisch müßte man das Wort «Herrlichkeit» eigentlich mit «Meinung», «Anschein» oder «Ruhm» übersetzen, doch ist kein Zweifel, daß im Neuen Testament die hebräische Vorstellung von der «Herrlichkeit» Gottes (Jahwes) mit dieser Bezeichnung ausgedrückt werden soll. Auch im Deutschen kann man den Begriff deshalb im Grunde nur so sperrig und seltsam stehenlassen, wie er auf Griechisch schon im Johannes-Evangelium klingt. Allerdings muß man sich klarmachen, was im Hebräischen mit «Verherrlichung» gemeint ist. Wie es am klarsten wohl in der Berufungsvision des Jesaja (6,1.3) zum Ausdruck kommt, geht es bei «Herrlichkeit» um die Manifestation der «Gewichtigkeit» Gottes – so die wörtliche Bedeutung des hebräischen Wortes für «Herrlichkeit»; in engem Zusammenhang zu dem Begriff steht die Vorstellung von der «Heiligkeit» Gottes; gemeint ist damit indessen nicht eine bestimmte moralische Qualität Gottes, sondern die Unberührbarkeit, die Überlegenheit, die absolute Seinsfülle und unbefragbare Seinsdichte des Göttlichen. Die «Heiligkeit» Gottes, hat man gesagt, sei «seine verborgene, zugedeckte Herrlichkeit … Seine Herrlichkeit aber ist seine aufgedeckte Heiligkeit» (O. Kaiser: Der Prophet Jesaja, ATD 17, Göttingen 21963, S. 62). Damit ist deutlich: Wenn es im Johannes-Evangelium immer wieder heißt, daß der «Sohn» den «Vater» «verherrlicht», besagt diese Ausdrucksweise in der Sprache des Johannes exakt dasselbe, was in der Sprache des Vaterunser Jesus selbst in die Bitte kleidete: «Geheiligt werde dein Name» – «mache du geltend das, was du bist», nur daß Johannes das Gebet des «historischen» Jesus in seinem «Wirken», in dem «Erfüllen» seines «Auftrags» als des «Christus», «verwirklicht» und «vollendet» sieht. Nehmen wir noch hinzu, daß das «Wesen», die «Heiligkeit» Gottes für Johannes in nichts anderem besteht als in der «Väterlichkeit» Gottes, die Jesus als der «Sohn» «offenbar-macht» bzw. «bezeugt», so verstehen wir auch, wieso es gerade die Krankheiten und Abgründe der menschlichen Existenz sind, an denen Jesus selber in seinen «Zeichen» und «Wundern» als der «Sohn» «verherrlicht» wird (8,54; 11,4). Alles, was Jesus tut, insbesondere sein Tod, hat für Johannes den Zweck, «daß der Vater im Sohn verherrlicht werde» (14,13). Die Frage ist nur, ob die Menschen es «glauben». Doch was heißt das nun? 414

Schon rein statistisch ist das Wort «glauben» für das Johannes-Evangelium erkennbar das wichtigste: 98mal spricht es von «glauben» (gegenüber 11mal bei Matthäus); doch auch dieser Begriff ist nur übersetzbar auf dem Hintergrund der hebräischen Denkweise. Wer im Griechischen von «glauben» spricht, meint damit, wie noch heute im Deutschen, so viel wie «nicht wissen»; auch das Johannes-Evangelium kennt einen solchen Unterschied, doch nur, um ihn aufzuheben – so etwa, wenn (4,42) die Leute von Sychar zu der Samariterin sagen: «Nicht mehr deiner Rede wegen glauben wir; selber nämlich haben wir gehört und wissen …»; oder wenn es (2,25) heißt, daß Jesus nicht darauf angewiesen war, Menschen «Glauben» zu schenken, weil er selbst «wußte», was im Menschen war. Da gilt «wissen» durch eigene Einsicht offenbar für mehr als zu glauben auf fremde Autorität hin. Auf der anderen Seite bedeutet für das Johannes-Evangelium «glauben» im letzten, auf jedes «Wissen» verzichten zu können, und zwar nicht, weil zu «glauben» weniger wäre als zu «wissen», sondern weil es mehr ist. Immer wieder kritisiert der Jesus des Johannes-Evangeliums die Haltung derer, die zum «Glauben» nur gelangen, wenn sie «Zeichen und Wunder sehen» (2,18; 4,48). «Glücklich», sagt er demgegenüber in seinem letzten abschließenden Wort an den «ungläubigen» Thomas, «sind diejenigen, die nicht gesehen haben und doch zum Glauben gelangen.» Selbst das Nachtragskapitel des Johannes-Evangeliums unterstreicht noch einmal, daß «Glauben» eigentlich darin besteht, in einer «Gewißheit» zu leben, die durch Nachfragen und Infragestellungen nur gestört und zerstört werden könnte (21,12; vgl. 16,23). – Was also heißt für Johannes «glauben», und wie ist dieses Wort wiederzugeben? Die Schwierigkeit liegt darin, daß der Begriff «glauben», ähnlich wie der Begriff «Wahrheit», in allen europäischen Sprachen wesentlich inhaltlich besetzt ist: man «glaubt, daß»; man glaubt etwas Bestimmtes, das Wort drückt das Verhältnis des denkenden Subjekts zu einem objektiv bestehenden Sachverhalt aus, zu dem man nur durch die Vermittlung eines anderen Zugang gewinnt; «glauben» muß man in diesem Sinne, was man nicht «wissen» kann – der Begriff verläßt niemals den Bereich des intellektuellen Meinens und Wähnens. Ganz anders im Hebräischen. Es ist unmöglich, in der griechischen Wortbedeutung von «Glauben» im Sinne von «für wahr halten» mit dem Propheten Jesaja etwa an entscheidender Stelle zu sagen: «So ihr nicht glaubet, so ihr nicht bleibet» (Jes 7,9). Gewiß, die christliche «Glaubens»-«lehre» verteidigt erneut gerade die griechische Form des Glaubensbegriffs und hängt an die Annahme ihrer Lehrsätze alle Heilsver415

sprechungen der Bibel: nur wer «glaubt», daß «Jesus der Messias, der Gottessohn, der Herr» ist, kann demnach «gerettet» werden, und wie zum Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung beruft sie sich mit Vorliebe gerade auf das Johannes-Evangelium. Stehen dort nicht Sätze wie (6,69): «Wir sind zu dem Glauben, ja, zu der Erkenntnis gelangt, daß du bist: der Heilige Gottes»? Oder (8,24): «Wenn ihr nicht glaubt, daß ich bin, werdet ihr sterben in euren Sünden»? Doch gerade ein Satz wie dieser macht das Mißverständnis deutlich, das sich fast unausweichlich ergibt, wenn man die hebräische Bibel griechisch liest. Denn der zuletzt zitierte Satz greift eigentlich ein Wort des Propheten (Deutero)Jesaja auf (43,10): «Ihr seid meine Zeugen», heißt es dort als Spruch Gottes, «ihr seid mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr wißt und mir glaubt und erkennt, daß ich bin.» Gerade dieses «erkennen» oder «glauben, daß ich bin» bildet den Kern der johanneischen Offenbarungsreden. In der «Theologie» des Johannes-Evangeliums geschieht unter dieser alttestamentlichen Formel nichts Geringeres, als daß die Selbstoffenbarung des Gottes Israels in der Bibel vollinhaltlich auf die Person Jesu bezogen wird. So wie der Jahwe des Alten Testamentes gegenüber seinem schwankenden Volke sein absolutes «Ich bin» erklärt, so setzt der Jesus des Johannes-Evangeliums einer ganzen Menschheit in Irrung und Wirrung sein absolutes «Ich bin» gegenüber. Es geht nicht darum, daß Jesus mit diesem Wort etwas Bestimmtes von sich aussagen wollte – etwa daß er der Gottgesandte oder der Messias sei, oder, wie an anderen Stellen, «das Brot des Lebens» (6,35), oder das «Licht der Welt» (8,12), oder die «Tür der Schafe» (10,7), oder «die Auferstehung und das Leben» (11,25), oder «der wahre Weinstock» (15,1); es geht bei dem absoluten «Ich bin» um all das, indem es den Grund für all das bezeichnet: «Ich bin» – das ist die göttliche Aussage einer absoluten Gegenwart, eines nicht weiter befragbaren Daseins. Wollte man diesem «Ich bin» der göttlichen Selbstmitteilung eine nähere inhaltliche Umschreibung hinzufügen, so müßte sie wohl lauten wie in Jes 44,8: «Fürchtet euch nicht und erschrecket nicht! Habe ich es dich nicht schon lange hören lassen und es dir verkündigt? Ihr seid doch meine Zeugen! Ist auch ein Gott außer mir? Es ist kein Fels, ich weiß ja keinen»! Das absolute «Ich bin» markiert einen Ort absoluter Festigkeit inmitten aller menschlichen Haltlosigkeit. Erst von daher versteht man, was eigentlich geschieht, wenn Jesus sich der Samariterin als der «Ich bin» offenbart (4,26), oder wenn er den verängstigten Jüngern im Sturm auf dem See mit diesem Wort sich zu erkennen gibt (6,20), oder wenn er den «Juden» (8,28) ebenso wie seinen Jün416

gern (13,19) vorhersagt, sie würden ihn nach seiner «Erhöhung», das heißt nach seinem «Aufgehängtwerden» am Kreuz, als den «Ich bin» erkennen. Dieses «Ich bin» zeigt den Mann aus Nazaret als das Gegenüber einer absoluten Zuversicht und Geborgenheit. Bei dieser Formel geht es nicht darum, «etwas für wahr zu halten», das man nur leider nicht «wissen» könnte, dieses Wort lädt vielmehr dazu ein, ja, es verlangt danach, über alle Angst hinweg sich auf den Punkt zu richten, von dem her das ganze Dasein wieder Ordnung und Halt zu gewinnen vermag. Nicht einen «Glauben» als «vom Willen befohlenen» «Gehorsam» des Verstandes gegenüber der «ergangenen Offenbarung» Gottes, wie man im Kirchendeutsch der scholastischen Theologie den «Glauben» definiert hat, bezeichnet eine solche Haltung. Es gibt im Deutschen nur ein einziges Wort, das diesen Vorgang einer ganz und gar persönlichen Beziehung eines Menschen zu einem absoluten, einzig haltgebenden Gegenüber beschreibt – das ist: Vertrauen. «Vertrauen auf Jesus» oder «Vertrauen auf Jesus hin», «Vertrauen zum ‹Vater›», «sich anvertrauen dem Vater» – es ist wichtig, die Nuancen solcher Wendungen im Johannes-Evangelium möglichst genau wiederzugeben, denn nur so wird deutlich, warum durch ein solches Vertrauen das ganze Dasein «von vorn geboren» wird (3,3), oder der «Tod» nicht mehr sein soll (8,51; 11,25), oder die «Welt» überwunden wird (16,33), oder die «Wahrheit» «frei macht» (8,32), oder das «Dunkel» sich auftut zum Licht (8,11) … Ein Vertrauen dieser Art ist das Ende der «Überfahrt» bei «Nacht» auf dem «See» – es ist ein «Ankommen» am «Land» (6,21; 21,3.4) … All diese Worte scheinbarer Orts- und Zeitangaben bilden für Johannes die symbolischen Szenenbeschreibungen des «Zustandes» und der «Befindlichkeit» eines Daseins, das entweder im ganzen von Vertrauen geprägt ist oder von dessen Gegenteil: von einem Nichtvertrauen, das identisch ist mit Angst (16,33), Nacht (13,30), Finsternis (18,12; 12,46), Lüge (8,44), Tod (5,24; 8,51) und «Gericht» (9,39) – mit der Verformung des Daseins in allem, mit Verzweiflung also in dem Sinne, den der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard (Die Krankheit zum Tode, 1849) diesem Wort gegeben hat: Unleben, Selbstentfremdung, Nichtidentität, Sterbenwollen und doch zum Dasein verflucht zu sein; sein wollen, was man nicht ist, und nicht sein wollen, was man ist; Krankheit, Neurose, Wahnsinn, Zerstörung, das Unheimlichwerden des eigenen Ichs, Ausgeliefertheit, Ohnmacht, Richtungslosigkeit, ein Selbstichwerden der Existenz auf Grund eines Mangels an Selbst – in diesen Begriffen und Assoziationsfeldern aus Psychologie, Medizin und Gesellschaft muß in heutiger Sprache begriffen 417

werden, was im Johannes-Evangelium mit «Welt» und mit «Sünde», mit «Unglauben», «Dunkelheit», «Hunger» und «Tod» gemeint ist. Vor diesem Hintergrund wird zugleich eine Reihe anderer hebräischer bzw. aramäischer Worte verstehbar, die im Griechischen (und Deutschen) des Johannes-Evangeliums keinen rechten Sinn ergeben. «Wahrlich, wahrlich» (Amen, amen), sagt Jesus z. B. in 6,26 und fährt fort: «ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt …» Das Wort «Amen» geht wohl wirklich auf die Rede des historischen Jesus zurück, doch eben dieses Kennzeichen der Sprechweise des Mannes aus Nazaret stereotypisiert sich mehr und mehr, je weiter die Evangelien sich zeitlich von seinem Auftreten entfernen: Markus benutzt das «Amen» 13mal, Matthäus 31mal, das Johannes-Evangelium gleich 50mal. Das Wort ersetzt den «Botenspruch», mit dem die Propheten Israels sich vor ihren Hörern beglaubigten: «Spruch des Herrn», und es führt diese Beglaubigungsformel durch eine eigene bestätigende Stellungnahme weiter. «Ich sage euch, weil Gott mir gesagt hat» – so etwa müßte man das «Amen» Jesu umschreiben; mit «wahrlich» ist das Wort nicht zu übersetzen, eher mit: «Bei Gott, ja, bei Gott!» (E. Drewermann: Das Matthäusevangelium, I 192) Gewiß, von Gott durfte in der Sprache Jesu niemand sprechen; das Wort «Amen» aber kommt hebräisch von dem Wort für «Vertrauen»; es bezeichnet den Grund einer unbedingten existentiellen Vertrauenswürdigkeit, es meint Gott, so wie Jesus ihn «glaubt»; es steht für die Gegeninstanz dessen, was für Johannes «Welt» und «Fleisch» bedeutet. Auch bei diesen negativ getönten Worten sind Mißverständnisse fast unvermeidbar, wenn man die Worte in der Übersetzung einfach verbal stehenläßt und sie nicht näher erläutert. Wer auf griechisch oder auf deutsch von «Welt» spricht, meint damit einen Begriff der «Kosmologie», mit dem Unterschied nur, daß das griechische «Kosmos» den Beisinn von «Ordnung» und «Schönheit» vermittelt, während das deutsche Wort «Welt» die Ganzheit von allem bezeichnet. Was indessen Johannes mit «Welt» meint, ist gerade kein Gebilde von «Ordnung», sondern ein in sich geschlossenes System der Gottesferne, eine «Ordnung» des Menschseins, wie sie sich notwendig in der radikalen Abwesenheit Gottes als eine buchstäblich «gnadenlose», «lichtlose», durch und durch korrupte («verlogene») Form des Unlebens auf allen Ebenen des Menschseins begründet. Auch in dieser «Welt» ist von Gott die Rede, doch nur, um die Ersatzstücke des Göttlichen für Gott selbst auszugeben. In diese «Welt» mußte Jesus «kommen», um im Zeugnis der «Väterlichkeit» 418

Gottes (3,16) zu zeigen, wie tödlich das ist, was Menschen im Getto der Verfälschungen und Verneinungen glauben tun zu müssen; denn nur so kann die Chance eines «Neuanfangs», einer «Wiedergeburt» (3,3) sich eröffnen. «Welt» – das ist in der Sprache des Johannes-Evangeliums mithin die «objektive» Struktur eines Lebenmüssens fernab von Gott. Die Bezeichnung, die subjektiv dem Begriff Welt entspricht, ist im johanneischen Sprachgebrauch das Wort «Fleisch». Das Hebräisch schon des Alten Testamentes bezeichnet mit diesem Wort die natürliche, die nur kreatürliche Existenz des Menschen in ihrer Hinfälligkeit und Vergänglichkeit. Auch hier kann ein Satz des (Deutero)Jesaja (40,6.8) zum Verständnis hilfreich sein: «Alles Fleisch», sagt der Prophet, «ist (wie) Gras, all seine Holdheit der Feldblume gleich; das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewig.» Ganz ähnlich stellt Psalm 90,5.6 die irdische Vergänglichkeit des Menschen der Festigkeit und Unvergänglichkeit Gottes gegenüber. Das Johannes-Evangelium nun knüpft an diese Sprache und Vorstellung an, radikalisiert sie aber in außerordentlicher Schärfe: «Fleisch» ist für Johannes die Existenzform von Menschen nicht, weil die Menschen «schwach» wären auf Grund ihrer Kreatürlichkeit, sondern weil und wenn sie nichts anderes sein wollen als nur irdische, ungöttliche, un«geistige», un«wahre» Wesen. Die kreatürliche Haltlosigkeit des «Fleisches» hebt bereits der vielzitierte Satz Jesu an seine schlafenden Jünger in Gethsemane bei Mt 26,41 hervor: «Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.» Für Johannes hingegen ist es «Sünde», stellt es eine Verfehlung der gesamten Existenz dar, sich selber als «Fleisch» und als «Welt», statt als «wiedergeboren im Geist» zu bestimmen (1,13; 3,6). Doch nun auch umgekehrt: Wer, statt von der «Welt», von Gott her lebt, für den stellt der «Tod» keine Bedrohung mehr dar, verheißt Jesus der Schwester des Lazarus (11,25.26). Um diese Hoffnung auf ein Leben jenseits der Endlichkeit des Daseins zu artikulieren, verschmilzt Johannes zwei Begriffe miteinander, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben: er spricht von «ewigem Leben». Der Begriff «ewig» existiert im Hebräischen eigentlich gar nicht; «unübersehbar lange Zeit», ein Zeitabschnitt, der sich dem Blick des Menschen entzieht – das ist das biblische Wort für «unendliche Dauer». Im apokalyptischen Denken Israels wurde daraus, unter iranischem Einfluß, die Lehre von den vier Weltaltern: wenn diese «Welt»(zeit) ihrem (baldigen) Ende entgegengeht, so glaubte man, dann werde das «Reich Gottes» kommen; und ebenso auch im Leben des Einzelnen: wenn er stirbt, geht er aus «dieser» in «jene Welt(zeit)» über. Johan419

nes teilt diese apokalyptische «Welt»anschauung nicht, ja, er will sie bewußt überwinden: Es gibt für ihn nicht ein Leben «hier» und ein Leben «dort», sondern hier und jetzt beginnt für ihn entweder das «eigentliche», das «göttliche», das «unendliche» Leben, oder es setzt sich der «Tod» fort, das Bleiben in der «Sünde», die Zerstörung, die am klarsten in der Hinrichtung Jesu zum Ausdruck kommt. – Insofern ist es richtig, bei der Übersetzung des Johannes-Evangeliums nicht von «ewigem» Leben (im Sinne Platons) zu sprechen, sondern von «unendlichem», von «unermeßlich reichem» Leben. Doch auch der Begriff «Leben» ist im johanneischen Sprachgebrauch nicht eindeutig, und zwar ist es diesmal die griechische Sprache, die für eine gewisse Komplikation sorgt. Das Griechische nämlich unterscheidet zwischen «Bios», einem «Leben», das sich in bestimmten Grenzen im Tod und über den Tod hinaus erhält, und «Zoé», einem «Leben», das die Erfahrung von Tod und Zerstörung nicht kennt. (K. Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, Wien 1976, S. 13–18: Endliches und unendliches Leben in der griechischen Sprache.) Es versteht sich, daß nur dieser zweite Begriff von Leben tauglich ist, um in johanneischem Sinne von «unendlichem Leben» zu sprechen. Doch wieder muß man gegenüber der griechischen Anschauung bedenken, daß dieses «unendliche Leben» bei Johannes nicht etwa zur «Natur» des Menschen gehört, zum Beispiel aufgrund der «Unsterblichkeit» seiner «Seele», sondern zum «unendlichen Leben» gelangt der Mensch erst, wenn er an der Seite Jesu zu «leben», das heißt den «Tod» zu überwinden lernt (11,25.26). Nicht die «Zeitdauer», sondern die «Qualität» einer Lebensform, die den Tod nicht mehr scheut, weil sie das «Leben» in Gott geborgen weiß, wird mit dem Wort «unendliches Leben» bezeichnet. Wer aber ist da der, der von sich sagen kann: «Ich bin die Auferstehung und das (unvergängliche) Leben. Wer auf mich vertraut, selbst wenn er stirbt, wird er leben (11,25)»? Die Antwort auf diese Frage gibt Johannes gleich zu Beginn seines Evangeliums durch das «Zeugnis» des Täufers, wenn er sagt: «Da, das Lamm Gottes» (1,29.36). Vermutlich war an dieser Stelle einmal vom «Knecht Gottes» nach den Gottesknechtsliedern des (Deutero)Jesaja (53,6) die Rede; das zugrunde liegende aramäische Wort (talja) aber kann sowohl «Lamm» wie auch «Knabe» bedeuten, und «Knabe» («Bursche») wiederum ist auch soviel wie «Knecht». Offenbar ist aus dem «Gottesknecht» des Jesaja durch eine Fehlübersetzung bei Johannes das «Lamm Gottes» geworden, ein Begriff, der seinerseits die Assoziation von «Sündenbock» 420

und «Opferlamm» auf sich zieht. Obwohl das Wort sich nur im «johanneischen» Schrifttum findet, hat es doch vor allem die christliche Ikonographie bis heute bereichert (vgl. E. Drewermann: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden. Glauben in Freiheit, Bd. 2, Zürich 1996, S. 536; 770). In der deutschen Übersetzung bleibt schon deswegen nichts anderes übrig, als dem «Lamm Gottes» in einer eigenen Klammer den «Knecht Gottes» zur Seite zu stellen. Etwas Ähnliches wäre eigentlich auch bei der Übersetzung des Begriffs vom «Sohn Gottes» nötig. Nach altorientalischem Verständnis war der König (der «Gesalbte», der «Messias», der «Christus») vom Antritt seines Amtes an der Repräsentant, der Stellvertreter, der Beauftragte (des) Gottes auf Erden – er war sein Vertrauter, sein Diener, sein Sohn. Auch die israelitische Hofliturgie hat bei aller Vorsicht die Königstheologie oder -mythologie der «Völker» übernommen (vgl. Ps 2,7; 89,27; 2 Sam 7,14): der König gilt, eben auf Grund seiner Machtfülle und auf Grund seiner Verantwortung gegenüber Gott, als der «Sohn Gottes», er selber wird (am Tage der Thronbesteigung) «gezeugt» von Gott oder adopiert durch Gott. Ein anderer Weg, der im Neuen Testament außerhalb der Messiastheologie zu der Vorstellung von Jesu «Gottessohnschaft» beigetragen hat, ist die Übertragung eben der Gottesknechtslieder des (Deutero)Jesaja auf den Mann aus Nazaret. Der «Gottesknecht» kann schon bei Jesaja ein König sein, wie etwa der Perserkönig Kyros (Jes 44,28); entscheidend jedoch für die «Sohnschaft» ist der Gehorsam, mit dem der «Gottesknecht» den «Willen» «seines Vaters» «tut» (vgl. E. Drewermann: Jesus von Nazareth, 607–632). Das Johannes-Evangelium greift diese Vorstellungen von der «Königswürde» Jesu und seiner «Gottessohnschaft» auf, doch umgeht es die Entwicklung, die diese Vorstellungen bei Matthäus und Lukas bereits genommen haben, indem dort jeweils in den ersten beiden Kapiteln in Anlehnung an die altägyptischen Königsmythen von der «jungfräulichen Geburt» Jesu berichtet wird (vgl. E. Drewermann: Das Matthäusevangelium, I S. 84–92; ders.: Dein Name ist wie der Geschmack des Lebens. Tiefenpsychologische Deutung der Kindheitsgeschichte nach dem Lukasevangelium, Freiburg 1986, S. 20–25; 44–51). Johannes setzt die «Sohnschaft» Jesu wesentlich in die «Einheit» des Willens, in der Jesus «tut», was «der Vater» ihm «sagt» oder «aufträgt; er «existentialisiert» in gewissem Sinne den Begriff der «Gottessohnschaft» und interpretiert damit ein Stück weit die Vorstellung des altorientalischen Mythos. Andererseits ist die metaphysische, hellenistische Weiterentwicklung in der Lehre von der «Gottessohnschaft Jesu» im Johannes-Evangelium bereits voll im Gange. «Mein Herr 421

und mein Gott» – dieses Bekenntnis des «gläubig» gewordenen Thomas bildet den absichtsvollen Schlußpunkt des ganzen Evangeliums (20,28). Jesus als der «Herr», die Anrede des Gottes Israels übertragen auf den «Christus», Jesus selber als Gott, das mythische Bild der altorientalischen Königsideologie in griechischem Sinne als ein metaphysisches Dogma: – die Weichen sind endgültig gestellt, die den «Glauben» an den «Christus» mit einem Inhalt verknüpfen, der die Jesus-Bewegung endgültig von dem Glauben Israels trennen mußte. An dieser Stelle nun «hilft» keine «Übersetzung» mehr. Will man den Begriff «Gottesssohn» und «Gott» nicht einfach paraphrasieren mit Worten wie: «der Vertraute Gottes», «der ganz mit Gott Einverstandene», «der nur von Gott her zu Verstehende», «der wesentlich von Gott Bestimmte» und dergleichen, so bleibt nichts anderes übrig, als die Worte in ihrem historischen Sinn stehenzulassen und sich dabei allerdings die Problematik bewußt zu halten, die damit verbunden ist. Denn das ist unerläßlich. Der Preis nämlich, den das Johannes-Evangelium für seine «Christologie» zu zahlen hat, ist hoch, zu hoch bis heute, besteht er doch in einem ausufernden Antijudaismus. Ein Mann wie der Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens, der vor Jahren das Matthäusevangelium übersetzt hat (Am Anfang der Stall, am Ende der Galgen: Jesus von Nazareth, Stuttgart 1972), weigerte sich demonstrativ, das Johannes-Evangelium zu übersetzen, eben seiner Judenfeindschaft wegen. In der Tat: Die Tendenz, die sich bereits in den ersten drei Evangelien ausspricht, «die» Juden, insbesondere «die» Pharisäer als ein Volk und eine Gruppe von «Ungläubigen» darzustellen, die den «Sohn Gottes» abgelehnt und hingerichtet hätten, diese Tendenz gelangt bei Johannes zu ihrer äußersten theologischen Konsequenz. Wohl weiß das Johannes-Evangelium noch, daß «das Heil von den Juden kommt» (4,22 b), noch erklärt es, die Juden «wüßten», zu wem sie beten, wenn sie sich zu Gott wenden (4,22 a); doch dann gelten die Juden nicht länger mehr für «Kinder Abrahams», sondern ganz wörtlich für «Söhne des Teufels» (8,44), die weder Gott noch Moses verstehen (8,19), dann sind sie «Gerichtete», das heißt «Verdammte» (9,39–41), dann sind sie «Knechte der Sünde» (8,34) und Prototypen des «Unglaubens» (8,45; 10,26), dann sind sie die «Mörder» des «Gottessohnes» (5,18; 7,19; 10,33). Wenn irgend es eine «christliche» Urkunde des Judenhasses im Abendland gibt, so liegt sie in Gestalt des Evangeliums vor, das wie kein anderes sonst die «Liebe» zu einem «neuen Gebot» erhebt (13,34; 15,12). Keine Übersetzung kann an dieser Tatsache etwas mildern. 422

«So war das», erzählte vor Jahren ein katholischer Pfarrer, der 1942 an der theologischen Akademie in Paderborn Theologie studiert hatte, «wann immer bei der Vorlesung zum Johannes-Evangelium das Wort ‹Juden› fiel, zischten und scharrten wir.» Es läßt sich nicht leugnen – die Gefühle, die das Johannes-Evangelium gegenüber dem Volk aufbaut, dem Jesus selber entstammt, sind in ihrer Verachtung und Ablehnung mit solchen Reaktionen nicht gänzlich falsch verstanden. Um so wichtiger, ja, entscheidend wird es jetzt, daß wir bisher schon die Worte «Wahrheit» und «Glauben», fernab aller doktrinären Verengung, so übersetzt haben, daß sie an die Haltung eines absoluten Vertrauens in die reine «Väterlichkeit» Gottes gebunden bleiben, so wie Jesus sie in der Art seiner «Sohnschaft» den Menschen nahebringen wollte. Es gibt nur diese Alternative: Solange die christliche Theologie die «Gottessohnschaft» Jesu metaphysisch dogmatisiert und als ein exklusives Offenbarungs«wissen» gegen alle anderen Religionen stellt, solange muß der christliche «Glaube» orthodoxen Juden ein Ärgernis bleiben; – Jesus selber als Jude hätte historisch nie und nimmer eine solche «christliche» «Vergöttlichung» akzeptiert. Wenn andererseits «glauben» so viel bedeutet, wie die «Väterlichkeit» Gottes in der eigenen Existenz vertrauensvoll und versöhnend zu leben, dann, allerdings nur dann, ist es durchaus nicht nötig, das «Zeugnis» für den «Vater» Jesu gegen das Volk der Herkunft Jesu selber zu kehren; dann ist der Maßstab für «Glauben» und «Unglauben» nicht länger in bestimmten christologischen Formeln gelegen, sondern entscheidend in der «Überwindung» der «Angst» einer «Welt», die sich wesentlich auf die Macht der «Lüge» und des «Todes» stützt. Auf Jesus hin auf Gott zu vertrauen ist dann nicht länger mehr eine Frage der Religions- oder Volkszugehörigkeit, sondern der Lebensform. Die Rede von den «Juden» im Johannes-Evangelium bezieht sich dann nicht länger mehr auf bestimmte historisch gegebene (bzw. historisch verzeichnete!) Züge der jüdischen Religion Ende des 1. Jahrhunderts heutiger Zeitrechnung, sondern sie läßt sich verstehen als eine Typologie religiösen Fehlverhaltens, wie sie zu jeder Zeit in jeder Religion als Gefahr lautert. Man sollte bei der Übersetzung der «Juden» im Johannes-Evangelium also nicht primär fragen, was für ein Volk und was für eine Religion historisch mit diesem Wort gemeint sind, sondern welch eine Frömmigkeitshaltung, welch eine Lebensform hier gezeichnet wird, für deren wesentliche Darstellung, ob zu Recht oder Unrecht, dem Johannes-Evangelium zur Zeit seiner Entstehung «die Juden» als Verkörperung und Beispiel erschienen sind. Nicht wer «die Juden» waren oder sind, sondern ob wir selber, im 423

«christlichen» «Volk», in der «christlichen» Kirche, dem gleichen, was hier als «Juden» beschrieben wird, ist die Frage. Schauen wir des näheren zu, in welchen Strichen das Johannes-Evangelium den Typus der «Juden» zeichnet, so können drei kurze Hinweise genügen. Als erstes: Die «Juden» haben Moses und das Gesetz, aber sie verstehen nicht die «Väterlichkeit», die «Unverborgenheit», die «Gnade» Gottes; gleichgültig einmal, ob dieser Vorwurf an die Juden damals oder heute zu Recht ergeht, bleibt typologisch festzuhalten, daß das Wort «Juden» im Johannes-Evangelium eine Haltung des Legalismus und des Formalismus bezeichnet, und es ist diese Haltung, die sich tödlich gegen alles richtet, was Jesus tun und sagen wollte. Sodann: «die Juden» wissen sich als Kinder Abrahams; schon rein biologisch sehen sie sich als teilhafig göttlicher Erwählungen und Verheißungen. Doch wer die Fragen der Religion naturalisiert, statt sie zu existentialisieren, der, meint das Johannes-Evangelium, bringt Jesus zu allen Zeiten um. Und schließlich: «die Juden» – das sind im Johannes-Evangelium Menschen, die aus der Tradition heraus immer schon wissen, was Gott gesagt hat und sagen würde; ihre fertig verwaltete Religion ist ein Teil der «Welt», sie ist niemals offen für das unerhört Neue der Wirklichkeit religiöser (prophetischer) Erfahrung. Noch einmal: Es ist an dieser Stelle nicht die Frage, inwiefern diese drei Vorwürfe an das historische oder gegenwärtige Judentum berechtigt waren oder unberechtigt sind, es ist typologisch betrachtet einzig die Frage, wie wir selber, die wir uns Christen nennen, die Gefahren des Legalismus, des Kollektivismus und des Traditionalismus vermeiden, um nicht im Sinne des Johannes-Evangeliums zu «Juden» zu werden. Wie also ist das Wort «Jude» im Johannes-Evangelium zu übersetzen? Wir können das Wort nicht einfach streichen; wir können die historische Verzeichnung, die darin liegt, nicht mehr rückgängig machen; aber wir können den darin auch enthaltenen typologischen Sinn verdeutlichen. Geben wir also das Wort «Juden» in nachfolgenden Klammern stets als «die Gottesbesitzer» wieder, auf daß zumindest dem Ansatz nach verständlich wird, wovon bei Johannes der Sache nach die Rede geht. Nur an den Stellen, da im Johannes-Evangelium ohne jegliche Wertung in rein historischem Sinne von den Juden gesprochen wird, von ihren Festen, vom Pessah zum Beispiel, können auch wir ohne Einschränkung und Vorbehalt von den Juden sprechen. Das Paradox, ja, das Unglaubliche bleibt, daß eben das Volk, dem in Sprache, Denkform und Ursprung das JohannesEvangelium alles verdankt, von gerade diesem Evangelium am unheilvollsten verurteilt, ja, dämonisiert wird. 424

Die ganz und gar jüdische «Denkform» des Johannes-Evangeliums allerdings geht trotz dieser heftigen theologischen Attacken (und Diffamierungen) nicht verloren, sie äußert sich vielmehr in der gesamten Sprachlogik: in Grammatik und Satzbau. Auch diese sind im Johannes-Evangelium nicht «griechisch», und sie lassen sich deshalb bei der Übersetzung des griechisch geschriebenen Evangeliums auch nicht einfach in «gutes» Deutsch glattschleifen. Andererseits muß man bedenken, daß bei dem vorwiegend mündlichen Vortrag des Textes seinerzeit die zumeist aus dem hellenistischen Judentum stammenden «Christen» die griechisch klingenden Sätze des Johannes-Evangeliums schon «richtig» verstanden haben werden und es sich mitunter im Deutschen gar nicht umgehen läßt, einzelne Passagen des Textes in der Übersetzung gegen ihren Wortlaut so wiederzugeben, wie sie inhaltlich gemeint sind, und nicht wie sie der Satzkonstruktion nach dastehen. Das alles klingt recht kompliziert und ist es sprachphilosophisch wohl auch, doch läßt es sich rein praktisch in ein paar einfachen Beispielen ganz gut verdeutlichen. Nehmen wir einen Satz aus dem 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums, aus der Selbstoffenbarung Jesu als des «guten Hirten». Da soll Jesus in wörtlicher Übersetzung von Joh 10,11.12 zu den Jüngern gesagt haben: «Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt läßt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht.» Offensichtlich ist der Gedankengang an dieser Stelle in der vorgetragenen Form ziemlich verworren: Es beginnt schon mit der Art, in der hier der «gute» Hirt mit einem «Mietling» verglichen wird – den entscheidenden Gedanken bei dieser Gegenüberstellung muß man ergänzen, daß der Hirte vor allem deshalb «gut» ist, weil er seine eigene Herde beaufsichtigt; es ist der wirtschaftliche Eigennutz, der, laut Vergleich mit einem Mietling, den Hirten so «gut» sein läßt, daß er seine Herde notfalls auch unter Lebensgefahr gegen Wölfe verteidigt; für Johannes aber ist der Besitz der Herde offenbar denn doch ein zu profanes «egoistisches» Motiv, als daß er es ausgerechnet mit der Person Jesu in Verbindung bringen möchte; erst die Abwertung des «Mietlings» führt das Besitzmotiv ein, doch soll es im Grunde nur den Kontrast von Selbstaufopferung und Selbstrettung unterstreichen, es soll ihn nicht eigentlich begründen. Die ganze Form eines solchen Vergleichs selbst läßt sich nur mit dem «dynamischen» Denken der hebräischen Sprache erklären; auf Griechisch oder Deutsch wirkt der Aufbau der Rede «unlogisch» und «inkonsequent»; in der Übersetzung freilich bleibt nichts anderes übrig, als den Text bis dahin so stehenzulassen, wie er dasteht. 425

Doch kommt es noch «ärger». Der «gute» Hirt, heißt es, gibt sich selbst für die Schafe; und was tut der «Mietling»? Der sieht den Wolf kommen, verrät uns der Fortgang des Satzes! Der Unterschied zwischen einem «guten» «Hirten» und einem «Mietling», soll man den Worten glauben, wäre demnach darin gelegen, daß der eine den Wolf sieht und der andere so blind ist, ihn nicht zu sehen! So kann es nicht gemeint sein, das ist klar. Die hebräische Reihung der Sätze in der johanneischen Mischsprache müßte an dieser Stelle schon im Griechischen unbedingt durch einen Nebensatz abgelöst werden; etwa so: «Der Mietling aber, wenn er den Wolf kommen sieht, flieht er.» Aber auch so geht es noch nicht. Es ist an dieser Stelle auf exemplarische Weise bedenkenswert, ob die hebräische Sprechweise, die im johanneischen Griechisch Satz für Satz durchschimmert, nicht noch weit stärker in der Übersetzung zur Geltung kommen sollte. Der «gute» Hirt gibt seine «Seele» – dafür ist besser zu setzen: er gibt sein Leben, sein Ich, sein Selbst. Was aber ist es mit der Nachstellung des Eigenschaftswortes: «Ich bin der Hirt, der gute»? Warum heißt es auf griechisch nicht: «Ich bin der gute Hirt»? Auf hebräisch gibt «der Gute» die Steigerungsform: der Beste wieder. Und so müßte man eigentlich die ganze Stelle jetzt übersetzen: «Ich bin der Hirt, der allerbeste. Der beste Hirt ist derjenige, der sich gegebenenfalls aufopfert für seine Schafe. Anders ein Mietknecht. Er ist kein Hirte, ihm gehören die Schafe nicht. Sieht er einen Wolf kommen, flieht er …» Aber das ist fast schon Paraphrase, keine Übersetzung mehr. Dabei noch ein Detail: Im Deutschen ist es nicht verstehbar, warum der Mietling «den» Wolf kommen sieht, so als gäbe es nur einen einzigen. Wieder hat diese Merkwürdigkeit ihren Ursprung in der Erzähllogik der hebräischen Sprache: sie ist stets konkret. Im Markusevangelium zum Beispiel will Jesus in dem Gleichnis vom Sämann erzählen, wie es zugeht, wenn ein Sämann sät; doch in Mk 4,3 sagt er: «Siehe! der Sämann ging aus, zu säen.» «Der» Sämann ist im Deutschen ein Sämann (vgl. E. Drewermann: Das Markusevangelium, 1. Bd., Solothurn 81993, S. 123). Analog dazu kann auch «der» Wolf in Joh 10,12 nur ein Wolf sein. Doch nun kommen mit dem «einen» Wolf die Verhaltensforscher zu dem Übersetzer und sagen ihm, daß Wölfe Rudeltiere sind; es ist ganz unmöglich, daß ein einzelner Wolf eine ganze Schafherde angreift, und es ist noch viel unmöglicher, daß «der» Wolf «die» Schafe «raubt» (= reißt) – ein einzelnes Tier kann das nicht! Wir müssen freilich annehmen, daß derlei Erwägungen nicht die des Johannes-Evangeliums sind; ihm stand einfach das Bild «des» Wolfes an sich vor Augen, und so muß denn an dieser Stelle doch 426

wieder «der Wolf» übersetzt werden, so wie man im Wehrmachtsdeutsch von 1944 sagen konnte: «Der Russe kommt», oder wie man im Kriegsamerikanisch nicht sprach von einem Vietnamesen oder von den Vietnamesen, sondern einfach davon, daß «Charly» einen Stützpunkt «überrannt» habe. In dieser Art könnte man Satz für Satz bei der Übersetzung des Johannes-Evangeliums fortfahren. Es bleibt dem Leser überlassen, sich nach und nach in die für ihn nicht selten eigenartig klingenden Sätze hineinzuhören, ihre Sprachmelodie zu verstehen und vor allem bei lautem Lesen die jeweiligen Betonungsstellen herauszuspüren. Merkwürdig wird ihm dabei durchgehend die Wortstellung innerhalb der einzelnen Sätze erscheinen. Denn auch sie ist im Johannes-Evangelium nicht «griechisch», sie kann daher auch in der Übersetzung nicht einfach in «gutes» Deutsch umgeschrieben werden. Typisch für die eigenwillig anmutende Wortstellung im Johannes-Evangelium ist ein Satz wie Joh 3,24: «Noch nicht war nämlich ins Gefängnis geworfen worden Johannes.» Im Deutschen müßte es natürlich «richtig» heißen: «Denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen worden», und ganz in dieser Reihenfolge müßten schon im Griechischen die Worte gestellt sein; das Semitische aber liebt die Voranstellung des Verbs; die eigentümliche Dramaturgie des Satzes, die sich daraus ergibt und schon in griechischen Ohren nicht minder fremdartig tönt als in unseren eigenen, muß «selbstredend» auch in der Übersetzung beibehalten werden. Erst dann wird deutlich, warum in dem vorliegenden Satz das wichtige am Ende steht: Johannes! Der ganze Satz will auf ihn hinführen. Es ist nicht zu sehen, wie man einen Satz wie diesen wiedergeben könnte, ohne seine Wortfolge auf das genaueste nachzuahmen. Wie «sprechend» das Johannes-Evangelium die Wortstellung insbesondere der mündlichen Rede angleicht, wird immer wieder überraschend deutlich, wenn man Wort für Wort die vorgegebene Reihenfolge in der Übersetzung beizubehalten sucht. Nehmen wir als Beispiel nur das Gespräch zwischen der Samariterin am Jakobsbrunnen und Jesus. Die Frau dort ist (4,9) nicht, wie zumeist übersetzt wird, eine «samaritische Frau», sondern sie ist «eine Frau, eine Samariterin» – beides zu betonen ist wichtig, denn beides wird sogleich wichtig, sagt die Frau doch fragend zu Jesus: «Wie? Du? Ein Jude? Von mir zu trinken bittest du? Von einer Frau? Einer Samariterin?» Jedes Wort reflektiert hier ein eigenes Tabu: ein «ordentlicher» Jude redet nicht mit Samaritern, ein «anständiger» Mann redet nicht mit einer Frau, ein «richtiger» Prophet würde aus Gründen der 427

Frömmigkeit und Tugend seinen Durst bezwingen. Der Satz selbst ist formuliert wie eine Reihe von Stolpersteinen, und über sie alle muß man hinweggehen, damit auch nur eine erste menschliche Begegnung zwischen zwei Personen möglich wird! Selbst die im Griechischen übliche Verneinung in rhetorischen Fragesätzen, als deren Antwort man ein sicheres «nein» erwartet, sollte im Deutschen ganz «wörtlich» wiedergegeben werden: Drei Verse später fragt die Frau Jesus also nicht einfach: «Bist du etwa größer als unser Vater Jakob?» (4,12), sie sagt vielmehr: «Nein! Du? Größer bist du …?!» Oder noch ein anderes Beispiel: die Heilung des Sohns eines königlichen Beamten in Kafarnaum (4,39–54). Der «Sohn» dieses «Beamten» ist vermutlich erneut aus einer Fehlübersetzung des Knechtes des römischen (kaiserlichen) Hauptmanns in Mt 8,5–13 (Lk 7,1–10) entstanden; aber nun Johannes 4,47; «Der, als er hörte, Jesus sei gekommen, aus Judäa nach Galiläa, ist er losgegangen, zu ihm, und bat, daß er hinabsteige und heile: von ihm den Sohn …» Wieviel Aufregung, Sorge, Angst, Unsicherheit, Zuversicht und Vertrauen liegt in einem einzelnen solchen Satz! Selbst der ungelenk wirkende Umgang mit dem besitzanzeigenden Fürwort im JohannesEvangelium verdient Aufmerksamkeit: der Beamte sagt eben nicht, Jesus möge «seinen Sohn» heilen, sondern das «sein» ist in Genitivform vorangestellt: seinetwegen soll die Heilung erfolgen – an dem Sohn. An anderen Stellen wird Jesus vor allem das Wort «mein» verstärkt hervorheben. In 5,30 etwa sagt er nicht: «Mein Gericht ist gerecht, denn ich suche nicht meinen Willen», sondern: «Das Gericht, meins, ist gerecht; denn nicht suche ich meinen eigenen Willen.» Immer wieder sind die besitzanzeigenden Fürwörter im Munde des johanneischen Jesus Abgrenzungsworte der Unterscheidung und des Widerspruchs, und so müssen sie auch im Deutschen in ihrer manchmal bizarren Zuspitzung vernehmbar bleiben, zum Beispiel in 7,6, wenn Jesus zu seinen eigenen Brüdern sagt: «Die Zeit, die meinige, ist noch nicht da. Die Zeit, die eurige, ist allzeit bereit.» Die ganze Spannung zwischen «mein» und «euer» im Verständnis von «Zeit», das heißt von dem «rechten Zeitpunkt», um etwas zu tun oder nicht zu tun, geht verloren, wenn man den Satz mit «meine Zeit» und «eure Zeit» wiedergibt; denn eben: an der Zeit selbst liegt es nicht; sie ist hier wie dort die gleiche; was sie gegensätzlich macht, ist die Sphäre ihres Verwendungszusammenhangs, ist die Ebene des nachgestellten besitzanzeigenden Fürworts: mein und euer – das macht den Unterschied. So etwa, wenn Jesus den Pharisäern in 8,15 entgegenhält: «Ihr – rein 428

irdisch urteilt (das heißt: verurteilt) ihr; ich – nein, ich beurteile (verurteile) niemanden.» Es ist die Person Jesu, die sich mit dem, was sie ist, mit ihrem Ich, und mit dem, was ihr eigen ist, mit ihrem Mein, in Gegensatz und Widerspruch zu allen andern setzt. Emphatischer als bei Johannes kann dieses Ich und dieses Mein nicht hervorgehoben werden; eine Übersetzung, in der diese Emphase nicht auch sprachlich störend und anstößig sich bemerkbar macht, gibt nicht wieder, was der Text tatsächlich sagt und sagen will. Und schließlich die Zeitstufen. Auch sie sind «hebräisch», nicht griechisch. Da wechselt ständig, entsprechend der Zeitenfolge der semitischen Syntax, die Vergangenheit mit der Gegenwart, und es bleibt kein anderer Weg, als auch im Deutschen dieses «schlechte» Griechisch nachzubilden. Man lese daraufhin in Joh 1,21 die Befragung des Täufers durch die Priester und Leviten aus Jerusalem: «Bist du Elia? … Und er sagt: Ich bin es nicht. – Bist du der Prophet? Und er antwortete: Nein.» – «Und er antwortete» ist im Hebräischen präsentisch zu verstehen! Doch der Satz steht nun einmal auf griechisch in der Vergangenheitsform da, und so muß er denn auch wiedergegeben werden. Es gibt eine Passage, die wichtigste im ganzen Evangelium, da muß man, was dort Vergangenheit zu sein scheint, im Deutschen als Gegenwart übersetzen, um zu verstehen, was gemeint ist: das ist der sogenannte Prolog. Schon Goethes Faust tat sich mit seiner Übersetzung schwer: Was heißt: «Im Anfang»? Was heißt: «war»? Was heißt: «das Wort»? Im Anfang heißt hebräisch nicht «im Anfang», es bedeutet: «prinzipiell», «grundsätzlich»; nicht etwas in der Zeit, sondern im Ursprung der Wirklichkeit ist da gemeint. «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde» (Gen 1,1) ist ein Satz, der die abendländische Theologie genarrt hat bis heute, sah sie darin doch die Lehre vom zeitlichen «Anfang» der Welt ausgesprochen; gemeint aber ist etwas ganz anderes: «Wesentlich schafft Gott die Welt.» Oder: «Alles, was ist, ist einzig durch ihn.» Oder: «In jedem Zeitpunkt ist alles, was ist, der Ausdruck Gottes selbst.» Der Satz in Joh 1,1, der den biblischen Schöpfungsbericht aufgreift und neu interpretiert, ist ähnlich zu übersetzen: Das «Wort» «war» nicht, es ist, und es ist nicht «im» Anfang, allenfalls «am» Anfang, und es ist auch nicht «Wort», sondern «Vernunft» oder «Geist», der sich «worthaft» mitteilt. «Die ganze Schöpfung ist nur als Selbstmitteilung Gottes denkbar», will Johannes (bzw. der ihm vorliegende Hymnus) sagen; die Selbstmitteilung Gottes aber geschieht (nicht: geschah) in Jesus von Nazaret. Er ist es daher, der die Schöpfung erklärt – er ist die Deutung des Rätsels «Welt». 429

Ein einziger Satz, und eine ganze Welt ändert sich durch diesen Tempuswechsel! Die eingeschobenen Mitteilungen über den Auftritt des Täufers – das ist Historie, das ist Vergangenheit; aber das Leben, das Licht – das ist er, Jesus, das ist Gegenwart, das «war» nie, das hört nie auf, sowenig wie die Ablehnung durch die «Welt». «Von Anfang an» – das ist immer. Und so muß man die Anfangsworte des Johannes-Evangeliums im Deutschen daher auch übersetzen. Ein letztes: Beim ersten Lesen mögen die vielen Zitatangaben aus Stellen des Alten Testamentes irritieren. Sie sind jedoch mit Absicht in den Text hineingesetzt worden, schon damit sie unüberhörbar auf die Stellen der Bibel hinweisen, die man als Anspielung oder «Erfüllung» mithören muß, um in dem Gesagten das Mitgesagte zu verstehen. Johannes, als er sein Evangelium schrieb, konnte auf Leser zählen, die, wie in einer heutigen Koranschule, ganze Teile der Bibel schon als Kinder auswendig gelernt hatten. Wir Heutige müssen in aller Regel erst mühsam nachschlagen, worauf bestimmte Worte oder Ereignisse im Johannes-Evangelium Bezug nehmen wollen oder sollen, und so mögen die Zitatangaben im Text wie eine Aufforderung und als eine Erleichterung wirken, tatsächlich Stelle um Stelle das «Neue» Testament zu lesen wie eine «Deutung», wie einen «Midrasch» hellenistischer Judenchristen, zum «Alten» Testament, in der Absicht, zu zeigen, wie das «Neue» sich nicht aus dem «Alten» ergibt, sondern gerade umgekehrt: wie alles, was war, überhaupt nur ist um der Wirklichkeit willen, die in der «Art» des Mannes aus Nazaret von Gott her offenbar (geworden) ist. Auffallen werden dem Leser zudem die vielen Querverweise des Johannes-Evangeliums auf sich selbst. Kein Text des Neuen Testamentes ist so «selbstbezüglich» wie das Vierte Evangelium. Stets muß man und soll man den ganzen Text sehen und hören, um von daher den einzelnen Satz, das einzelne Wort an der jeweiligen Stelle zu würdigen, und wiederum erscheint das Ganze doch nur durch das Gefüge all dieser einzelnen mosaikartigen Stellen. Dieser «Auftrag» und «Ursprung», dieses «Ziel», dieser Ausblick, dieser Mittelpunkt, um den alles herum hinweisend kreist, dieser Ort, an dem Licht in das Gefängnis der Welt fällt – das ist für Johannes Jesus: der Sohn, der Diener, das Lamm, der Herr, das Wasser, das Brot, das Licht, der Weg – mein Alles, mein Gott (20,28).

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Bildbeschreibungen und Bildnachweise Abb. 1a, zu S. 28; 54; 103: Die Auferweckung des Lazarus, Russland (Novgorod), 16. Jh., Eitempera auf Leinwand, 24,5 x 21,5 cm, Ikonen-Museum Recklinghausen, Inv. Nr. 865. Mit den drei Jüngern (Petrus, Jakobus und Johannes) tritt Jesus an das Grab des Lazarus, vor dem die beiden Schwestern, Maria und Marta, in Erschütterung und Dankbarkeit knien, während ihr Bruder, das Haupt umgeben von einem Heiligenschein, zu Händen und Füßen umwickelt von den Leinenbinden, aus der Grabeshöhle heraustritt. Abb. 1b, zu S. 34; 54; 103: Christi Auferstehung (Höllenfahrt), Russland, Anfang 16. Jh., Eitempera auf Holz, 131 x 104,2 cm, Ikonen-Museum Recklinghausen, Inv. Nr. 442. «Das Osterbild der Ostkirche ist das Herabsteigen Christi in den Hades, die sichtbare Erlösung vom Tode. Christus steht auf den geborstenen Türen der Unterwelt und packt Adam am Handgelenk, während Eva noch im Gebet verharrt. Hinter Adam David, Salomo, Johannes der Täufer und ein Prophet, der durch seine Kopfbedeckung angedeutet ist. Über der Mandorla Christi halten zwei Engel das Kreuz und einen Kelch. Hinter Eva alttestamentliche Heilige.» (A.a.O., S. 162, Nr. 254) Abb. 2, zu S. 61: Grab des Sennefer, Theben-West, Sargkammer; Merit überreicht Sennefer Stoffstreifen. Merit – «die Geliebte», beziehungsweise wie sie in der Hieroglyphenbeischrift genannt wird: senetef – «seine Schwester», überreicht ihrem «Bruder», das heißt ihrem Gatten und Geliebten Sennefer, dem Bürgermeister, die Leinentücher der Brautnacht. Sennefer atmet den Duft einer Lotosblüte, die den Gott Nefer-tem – «den vollkommen Schönen», den Gott der ewigen Jugend verkörpert. Die Unzerstörbarkeit todüberwindender Liebe steht unter dem Schutz der beiden Udjat-Augen, die an die Rückkehr des nächtlichen Mondes erinnern; zwischen den beiden Augen findet sich das Schen-Zeichen, dessen Kreisform die ewige Wiederkehr, die Endlosigkeit der Zeit andeutet; Schen-wer ist «der große Urozean», der die Erde umgibt, dargestellt in den drei Wasserlinien; dazwischen steht das Hieroglyphenbild einer Tasse, ein Drei-Konsonanten-Zeichen, dessen Lautwert we´sech soviel wie «Weite» bedeutet und die Unendlichkeit des Himmels selbst darstellt. (Vgl. E. Drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne. Alt-Ägyptische Meditationen zu Tod und Auferstehung in bezug auf Joh 20/21, Düsseldorf–Zürich 72001, Tafel 3, S. 32.) «In der Gruft selbst … tritt nur die vielgeliebte Merit auf, die Hausherrin, große Sängerin des Amun und Gelobte der Göttin Mut von Aschera. Gleich der zauberkundigen Isis umgibt Merit in der geheimen Kammer ihren zum Osiris gewordenen Gatten, um ihn aus der Totenstarre zu erlösen.» (Monique Nelson – Fathy Hassanein: Sennefers mystische Jenseitsreise, in: Sennefer. Die Grabkammer des Bürgermeisters von Theben, Mainz (Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim) 1988, 65–74, Abb. 44, S. 72) Abb. 3, zu S. 64: Grabstele des Marcus Valerius Celerinus und seiner Frau Marcia Procula, Kalkstein, Höhe 1,96 m, um 100–110 n. Chr., in: Römisch-Germanisches Museum, Köln, Redaktion: Beate Schneider, Braunschweig 1983, S. 34.

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Im Jahr 70 n. Chr. gelang es den Truppen des neuen siegreichen Kaisers Vespasian, aufständische Germanen aus der Colonia Agrippinensis zu vertreiben. «Zu den Truppen, die an der Niederringung des Aufstandes beteiligt waren, gehörte die X. Legion Gemina, die Vespasian von Spanien an den Niederrhein beordert hatte. Einer ihrer Soldaten, noch in Spanien eingezogen und an den Kämpfen gegen die Germanen beteiligt, hat sich nach der Entlassung als Veteran in Köln niedergelassen und das Ortsbürgerrecht (als civis Agrippinensis) erworben, wie seine Grabinschrift stolz verkündet. Der aus dem südspanischen Ecija (Astigi) stammende Marcus Valerius Celerinus versprach sich für Zivilberuf und Privatleben wohl mehr von der aufblühenden Provinzhauptstadt Köln als von dem Bataverort Nijmegen in der Nachbarschaft seiner Garnison. Die Ehe mit Marcia Procula wie der schon zu Lebzeiten errichtete Grabstein zeugen von gewissem Wohlstand. Das Relief der Stele mit der Darstellung des Ehepaares beim Mahle darf … nicht als getreue Illustration aus ihrem Leben aufgefaßt werden. Es steht in einer langen Bildtradition, die der Repräsentation vornehmer Tischsitte ebenso diente wie der Erwartung eines entsprechenden Jenseits.» Peter Noelke: Kaiser, Krieger, Konsulare, in: Römisch-Germanisches Museum Köln, Braunschweig 1983, 29–36, S. 35–36. Ganz allgemein entsprach in der Zeit nach 70 dem zivileren Zeitgeist «ein Motiv, das … von Kavalleristen aus dem thrakisch-nordgriechischen Bereich vermittelt worden war: das sogenannte Totenmahl. … Der Verstorbene ist auf einem sofaähnlichen Bett (Kline) gelagert, vor sich ein Tisch, auf dem ein Sklave Getränke und Speisen serviert hat … Die Mahlreliefs illustrieren nicht nur vornehme antike Tischsitte und soziale Rangordnung, sie bringen auch die Hoffnung auf ein entsprechendes Leben im Jenseits zum Ausdruck. Es liegen ihnen also verwandte Vorstellungen wie der Beigabensitte zugrunde.» Peter Noelke: Das Reich der Toten, in: Römisch-Germanisches Museum Köln, Braunschweig 1983, 110–117, S. 115–116. Abb. 4, zu S. 268: George Grosz: Christus mit der Gasmaske. Maul halten und weiter dienen, 1927, Kreide, 44 x 55 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2003. «Das Motiv entstand in Zusammenhang mit den Bühnenbildern für ‹Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk› von Jaroslav Hasˇek, die 1927 von Erwin Piscator in Zusammenarbeit mit Brecht mit großem Erfolg in Berlin inszeniert wurde. – Die Zeichnung diente als Vorlage für das Blatt Nr. 10 der Mappe ‹Hintergrund› …, das mit den Blättern Nr. 2 und 9 Gegenstand des Gotteslästerungs-Prozesses wurde, der dem Zeichner Grosz und dem Verleger Herzfelde 1927 anhängig war. Die Bezeichnung ‹Maul halten und weiter dienen› und der mit Gasmaske und Soldatenstiefel bekleidete Christus wurden von der Anklage als Beleidigung der Institution Kirche interpretiert.» Peter-Klaus Schuster (Hg.): George Grosz, Berlin–New York, Nationalgalerie Berlin, 21. Dez. 1994 – 17. Apr. 1995, Berlin 1994, 431, X. 110 Abb. 5, zu S. 287: Die Himmelsgöttin Nut auf der Innenseite des Sargs der Hetep Amun. 25. Dynastie, um 700 v. Chr. Heidelberg, Universitätssammlung, Inv. Nr. 1015, Länge 173 cm, Breite 46,5 cm. Auf dem weißen Untergrund der Innenseite des Sargdeckels ist die Göttin Nut mit himmelblauen lang herabfallenden Haaren abgebildet, bekleidet mit einem enganliegenden Trägerkleid, das die Brüste frei läßt und um die schmale Taille von einer langen blauen Schärpe geziert wird. Die nackten schlanken Arme der Göttin, die an den Handgelenken von blauen Reifen geschmückt sind, heben sich der Sonne entgegen, unter deren Scheibe

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in zwei Hieroglyphen der Name Nut geschrieben ist. Die an den Knöcheln von blauroten Reifen geschmückten Füße der Göttin stehen auf einem Hügel, der den Urhügel der Schöpfungsmythen symbolisiert, aber zugleich auch den Jat-Hügel, die Stätte der Wiedergeburt. Auf diesen Gedanken verweisen gleichermaßen die beiden Lotosblütenszepter mit einem Federpaar, die sich neben den Beinen der Göttin erheben; sie sind ein Bild des Gottes Nefertem, der in ewiger Jugend die beständige Erneuerung des Lebens verkörpert. Darüber beten je vier Paviane mit freudig erhobenen Armen die aufgehende Sonne an, wie die beigestellten Hieroglyphen betonen. Das Thema des Sargdeckels ist damit eindeutig: Wie sich die Himmelsgöttin über die Erde wölbt und die Sonne in ihrem Leib immer von neuem aufnimmt und verjüngt wiedergebiert, so stellt sich gleichermaßen das Schicksal des Menschen in Tod und Auferstehung dar. – Das Thema der Sargwanne malt demgegenüber das Schicksal des Verstorbenen nach dem Vorbild des Gottes Osiris, mit dem nach ägyptischer Vorstellung ein jeder im Tode verschmilzt, so wie nach christlicher Anschauung der Gläubige im Tod hineingenommen wird in den Tod und die Auferstehung des Christus. Im Zentrum steht das Bild des Djedpfeilers, des Symbols für die Ewigkeit der Lebensdauer im Jenseits und seit dem Neuen Reich identisch mit Osiris selbst. «Ähnlich wie die menschliche Gestalt des Gottes ist der Pfeiler mit einer Krone aus Federn, Sonnenscheibe und Widdergehörn geschmückt. Die beiden Göttinnen Isis und Nephthys, die im Mythos ihren verstorbenen Bruder und Gemahl wiederbeleben, und die vier Horussöhne, die für den Schutz der Eingeweide sorgen (sc. als die Wächter der Kanopen, d.V.) begleiten die Darstellung.» (Ägypten. Geheimnis der Grabkammern. Suche nach Unsterblichkeit. Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim, Gustav Lübcke-Museum, Hamm, Verlag Philipp von Zabern, Mainz o. J., S. 102–103, T 39: Sarg der Hetep-Amun). Das Hieroglyphenzeichen für Gold (nbw) unter dem Djedpfeiler verweist auf den Leib der Göttinnen, der als golden unvergänglich ist. Das Schleifenamulett darunter, das «Blut der Isis», steht für die Göttin selbst und drückt seinerseits den Wunsch der Verstorbenen Hetep Amun, einer Tochter des Priesters des Month, nach Verschmelzung mit dem Gott des Todes und der Auferstehung, Osiris, aus. Oben im Kopf- und Schulterbereich der Sargwanne greift die Ikonographie noch einmal das Sonnenmotiv auf, indem es die Fahrt des Sonnengottes durch die Unterwelt darstellt. Der falkenköpfige Gott sitzt in seiner Barke, geschützt von der «Umringlerschlange» und begleitet von dem segnenden Udjat-Auge (dem Falkenauge des Himmelsgottes Horus), das körperliche Unverletzlichkeit und ewige Fruchtbarkeit verheißt, sowie von einer Göttin, deren Krone sie als die Göttin Mut auszeichnet, die ebenfalls eine Herrin des Himmels ist und deren Name «Mutter» («der Sonne, in der diese aufgeht») bedeutet (Adolf Erman: Die Religion der Ägypter. Ihr Werden und Vergehen in vier Jahrtausenden, Berlin–Leipzig 1934, 31–32). Darüber wie darunter verdeutlicht eine eigene Hieroglyphe, wo der Vorgang spielt: im Himmel. Daß die Sonne auch in der Unterwelt belebend wirkt, zeigt sich im obersten Bildfeld: die Sonne, die ihre Strahlen zur Erde sendet, wird von zwei Anch-Kreuzen umgeben, die in Hieroglyphenschrift «Leben» bedeuten; gehalten werden sie von den Schlangenleibern, welche die Sonne umschlingen. Das Hieroglyphenzeichen für den Begriff «Vereinigung» an der Kopfwand der Sargwanne drückt das Verlangen der Verstorbenen nach ihrer Verbindung mit dem Sonnengott aus und mit dem Leben, das er schenkt. Abb. 6, zu S. 287: Arnold Böcklin: Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi, 1867/68, Leinwand, 84 x 149 cm. Kunstmuseum Basel, Inv. Nr. 104.

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Das Bild gilt kunsthistorisch als der erste «Versuch Böcklins, sich mit überlieferten Bildthemen selbständig auseinanderzusetzen. Böcklin kannte den ‹Leichnam Christi› von Holbein in der Basler Sammlung. Für Böcklin war christliches Ideengut zeitbedingt nicht mehr lebendig. Das Heilsgeschehen reduzierte sich für ihn auf eine historische menschliche Tragödie, die mit seinen künstlerischen Mitteln darzustellen Böcklin im Laufe seines Schaffens mehrfach versuchte.» (Rolf Andree: Arnold Böcklin, die Gemälde, Zürich, Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, 1977, 306–307, Nr. 201) Im Unterschied zu dem Bilde Holbeins ist das Gesicht des toten Christus dem Betrachter zugewandt; der schwarze Schleier Magdalenens fällt über den nackten Körper des Verstorbenen herab, den die in Schmerz zurückgebeugte, mit der linken Hand ihre Augen verhüllende, in zärtlicher Distanz kaum zu berühren wagt; ihre rechte Hand, bis in die feingliedrigen Finger hinein entsprechend der ganzen Körperhaltung nach hinten gestreckt, bleibt selbst in den durchsichtigen Schleier der Trauer gehüllt. Es ist diese «menschliche Tragödie», die es auch und gerade bei der Auslegung der Ostererzählung des Johannes-Evangeliums zu beachten gilt. Abb. 7a, zu S. 296: Isis und Nephthys als Schützerinnen und Hüterinnen der Mumie Tutanchamuns. Die beiden verschwisterten Göttinnen breiten auf der Türflügel-Innenseite des dritten Schreins des Pharaos ihre Schwingen aus und sprechen Zauberformeln, deren Wortlaut auf dem Türfeld-Grund rings um die geflügelten Gestalten zu lesen ist. Der Pharao wird mit seinem Namen als «Sohn der Sonne» angeredet, und verheißen wird ihm ewiges Leben: er wird den Sonnengott Re auf seiner Barke begleiten, bei Tage am Himmel, nachts in der Unterwelt. «Abstieg zur Unterwelt» und »Aufstieg zum Himmel», diese beiden «dogmatischen» Aussagen des Christentums über das Schicksal des gestorbenen und lebenden «Gottessohnes», finden sich mithin bereits in den altägyptischen Anschauungen vorgebildet. Auf dem Sturz über der Schreintür ist eine geflügelte Sonnenscheibe dargestellt, von der Kobras herabhängen – «das Symbol des göttlichen Horus von Edfu». (J. E. S. Edwards: Tutanchamun. Das Grab und seine Schätze, Nachw. u. Übers. v. Joachim Rehork, Bergisch-Gladbach 1978) Vgl. auch Abb. 5 das Bild in der Innenseite des Sargdeckelbodens der Hetep Amun. Abb. 7b, zu S. 296: Isis und Nephthys am Sarg des Gottes Osiris, von einem Baum umgeben; links Isis, rechts Nephthys. Aus: Siegfried Morenz: Gott und Mensch im alten Ägypten, Leipzig 2(erw.) 1984; Zürich–München 1984, 161. Abb. 7c, zu S. 296: Die Göttin Selket als Schützerin am Schrein Tutanchamuns Neben Isis und Nephthys, den Schwestern des verstorbenen Osiris, beschützen auch die Skorpiongöttin Selket und die Kriegsgöttin Neith den Leichnam des Gottes. «Wir fühlten», schrieb Howard Carter, der Entdecker des Grabes, «… die Erhabenheit in der Gruft. Die Zeit schien erwartungsvoll stillzustehen … so frisch, so unberührt von der Zeit schien das alles, daß wir, je mehr wir um uns schauten, um so stärker mit hineingezogen wurden in das Leid dieses Todes und den Wunsch, daß der Abgeschiedene ungehindert durch die grauenvollen Gänge der Unterwelt zu voller Glückseligkeit eingehen möge, zu dem unseren machten, jenen vier Göttinnen an den Sargecken gleich, die für ihn zu sprechen schienen, indem sie ihn schützend umfingen. Sind sie nicht ein zu Stein gewordenes ägyptisches Klagelied?» (Howard Carter: Das Grab des Tut-ench-Amun,

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Wiesbaden 1973, Kap. 14: Ausräumen der Sargkammer und Öffnen des Sarkophags, 114–122, S. 118) Diese empfindsame Schilderung legt zu Recht den Schmerz um den Toten in die Szenerie des Grabes; doch muß man den Aspekt hinzufügen, den die ägyptische Jenseitswelt wesentlich darstellt: die Versicherung und Vergegenwärtigung der Auferstehung, der Wiedergeburt, des ewigen Lebens. Deshalb das Gold auf den Sarkophagen, deshalb die goldenen Göttinnen, deshalb das Vorbild des Gottes Osiris, der sterbend das Leben hervorbringt. Abb. 8, zu S. 305: Das mexikanische Ballspiel. – Das Bild des Codex Borgia 21 zeigt den roten (Tlatlauhqui) und den schwarzen (Yayauhqui) Tezcatlipoca; der Interpret des Codex Magliabecchiano XIII 3 spricht jedoch von Quetzalcóatl und von Xolotl als Göttern des Ballspieles und schreibt: «Dieser Gott (Quetzalcouatl) war der Gott des Winters, und man sagte, daß er der Freund und Verwandte eines anderen, der sich Tlaloc (der Regengott) nannte, und Bruder eines anderen, den man Xolotl nannte, gewesen sei, dessen gemaltes oder (in Stein oder Holz) gehauenes Bild man in den Ballspielplätzen aufzustellen pflegte, ebenso wie das Quetzalcouatl’s.» Eduard Seler (Mythus und Religion der alten Mexikaner, in: Gesammelte Abhandlungen zur Amerikanischen Sprachund Altertumskunde, Bd. IV, Berlin 1923, Nachdruck: Graz 1961, 1–167, S. 116–117) bemerkte dazu: «In der eben angeführten Stelle … werden sowohl Xolotl, wie Quetzalcouatl, als Götter des Ballspieles genannt. Und mit Recht, denn das Ballspiel ist recht eigentlich der Ausdruck des Paarweisen sowohl, wie der Gegensätzlichkeit. So sahen wir … den rothen und den schwarzen Tezcatlipoca als Ballspieler dargestellt.» An den beiden Seiten des Ballspielplatzes findet sich ein senkrecht in die Wand eingefügter Steinring (tlachtemalacatl); die beiden Ballspieler halten das Hüftleder (quezeuatl) in der Hand; an den beiden Stirnseiten liegt der Kautschukball (olli). (Vgl. Eduard Seler: Codex Borgia. Eine altmexikanische Bilderschrift der Bibliothek der Congregatio de Propaganda Fide, Bd. I, Tafel 1–28, Berlin 1904, Nr. 21) Das Schicksal des Verlierers ist dargestellt in dem Opfer des Gefangenen. Seler (A.a.O., II 23–24) sah in dem schwarzen und roten Gott ein «Bild der Mondscheibe, der zur Hälfte dunklen, zur Hälfte leuchtenden», aber auch «die Farbe des Feuergottes» dargestellt. Walter Krickeberg (Das mittelamerikanische Ballspiel und seine religiöse Bedeutung, Paideuma, III Nr. 3–5) interpretierte Sieg und Niederlage der Ballspieler als kultischen Nachvollzug des kosmischen Kampfes zwischen Licht und Dunkel, bei dem bald die Nachtgestirne, bald das Tagesgestirn den Sieg davontragen. Für das Ballspiel der Maya nimmt Klaus Helfrich (Menschenopfer und Tötungsrituale im Kult der Maya, Berlin 1973, 141–145, S. 144) jedoch eher die Nachbildung eines verlorengegangenen Mythos von dem ersten Ballspiel an, «der wahrscheinlich die Entstehung der Nutzpflanzen mit diesem Urzeit-Ereignis in Verbindung brachte»; der Kautschukball verbinde sich mit der Fruchtbarkeit und Lebenskraft und auch mit dem Haupt des Getöteten; die zentrale Vorstellung sei es gewesen, daß die Vegetation ihre Entstehung einer mythischen Enthauptung verdanke, die in dem Ballspiel begangen werde. – Diese verschiedenen Deutungen müssen sich nicht wechselseitig ausschließen. Entscheidend ist für uns die Auffassung des Daseins selbst als eines «Kampfes» zweier gegensätzlicher Kräfte.

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Register der Bibelstellen

Altes Testament Genesis 1,1 429 2,3 290 2,4b-25 238, 393, 406 2,8 156 2,18 156 2,19 156 2,22 156 2,25 363 3,8.9 157 3,8-24 156 3,14-19 157 3,19 157 9,6 267 17,1 229 19,24 156 22,1-19 145 Exodus 3,14 7,13 12,9 12,13 12,31 12,46 13,17-22 20,3 20,18 23,19

240 105 97 291 58 281 156 183 156 97

Deuteronomium 21,23

292

Samuelbücher 2 Sam 7,14

421

Hiob 38,12

436

82

Psalmen 2,7 6,4 22,16 22,19 23 31,6 41,10 50,9-13 51,18.19 69,22 89 90

421 100 278 278 197 100, 279 115 291 291 278 103, 421 125, 419

Sprichwörter 8,22-31

232

Kohelet 2,24 3,19.20 3,22

335 335 335

Hoheslied 8,6 Jesaja 2,1-5 6,1 6,1-13 6,10 6,3 6,5 7,9 7,14 40,6 40,8 43,10 44,8 44,28 53,6

51, 193

11 414 106 105 414 229 415 244 419 419 416 416 421 420

Jeremia 22,24 25,9 38,1-13

76 76 76

Ezechiel 37,26

103

Amos 5,18

295

Sacharja 4,6 6,13 9,9 12,10

77 77 75, 77, 103 281

Neues Testament Matthäus-Evangelium 4,4 366 4,8-10 78 4,24 182, 289 5,1-10 289 5,1-12 399 5,10-12 106 5,20 233 5,39.40 244 5,48 229 6,6-15 192 6,10 199 6,12 322 6,13 100, 222 7,1.2 233 8,1-20,19 393 8,5-13 115, 428 9,9-13 70 10,16 222 10,28 181, 290, 377

11,25 130 16,1-20 393 16,18 324, 368, 371 16,19 324 18,15-35 400 18,18 331 18,21-35 112, 116, 292 19,1-2 400 20,20-28 399 21,12.13 292 21,14 292 21,15 292 23,8.9 225 23,11 117 23,13-15 117 23,13 294 23,15 294 23,27 294 26,26-28 365 26,41 419 26,52 244 27,3-5 118, 294 27,3-10 249 27,51 295 27,52 103, 295 27,53 103 27,57-66 286 28,1 305 28,4 286 28,11-15 286 Markus-Evangelium 1,9-11 317 1,11 318 1,15 272 1,19.20 296 1,21-28 290 2,22 293 2,23-28 290, 399 2,28 290 3,20-35 399 3,21 280, 290 3,22 290 3,22-30 105, 168 3,31 280, 290 3,35 280

4,3 4,12 5,1-20 8,33 11,15-17 11,18 11,27-33 12,30 14,3-9 14,8 14,10-21 14,22-24 14,26-31 14,35.36 14,47 14,50 14,50-52 14,61-62 14,66-72 15,1-15 15,33 15,34 15,43 16,1.2 16,1-8

426 105 168 77, 217 292 292 292 184, 229 69, 288 282 387 365 293 189 243 279, 302 295 79 293 397 295 278 282 305 287, 399

Lukas-Evangelium 4,7.8 78 5,1-11 352 6,22-23 106 6,36 229 7,1-10 428 7,36-50 20, 68, 288 7,47 21, 69 8,1.2 288 10,3 222 10,38-42 21, 66 11,5-13 192 11,13 133, 192 12,49 184 13,1 256 16,1-8 320 22,19-20 365 22,43 188 22,51 245 23,46 101, 376

23,55 24,1 24,10 24,13-35 24,25 24,41-43

305 305 305 315 339 337

Johannes-Evangelium 1,5 236 1,13 231, 419 1,16.17 232 1,17 8, 10, 233, 412 1,21 429 1,29 241, 420 1,29-34 317 1,33.34 318 1,36 420 1,42 118, 371 2,1-12 11, 105, 152 2,4 194, 280 2,13-25 248, 292 2,18 415 2,23-3,18 413 2,25 415 3,1 282 3,1-13 197 3,16 419 3,19-21 243 3,24 427 3,3 201, 218, 417, 419 3,6 419 4,1-42 315 4,9 427 4,12 428 4,22a 422 4,22b 422 4,23 90, 412 4,25 25 4,26 416 4,34 366 4,39-54 428 4,42 415 4,47 428 4,48 415 4,49 359 5,1-18 105

437

5,17 5,18 5,20 5,24 5,36 5,42 5,43 5,44 6,16-21

8 269, 422 350 417 8 10 413 10 105, 197, 232, 299, 363 6,20 416 6,21 417 6,26 418 6,35 204, 366, 416 6,69 416 7,6 428 7,7 7 7,19 422 7,32-36 194 7,39 10 7,53b 116 8,1-11 116 8,11 417 8,12 231, 416 8,15 428 8,19 7, 422 8,21 119 8,24 416 8,28 416 8,32 417 8,34 9, 422 8,36 9 8,44 7, 411, 417, 422 8,45 7, 411, 422 8,46 8 8,51 343, 417 8,54 414 8,59 100 8,7 116 9,1 11 9,1-17 24, 34, 105 9,4 8 9,11-17 204 9,39 417 9,39-41 422 10,1 263

438

10,1-21 374 10,7 416 10,11.12 425 10,12 426 10,14 375 10,16 407 10,18 269, 279 10,25 8, 413 10,26 422 10,33 269, 422 10,36-38 8 10,38 8 11,1-54 105 11,4 414 11,9 179 11,23 231 11,25 416, 417, 420 11,25.26 343, 419, 420 11,28-54 204, 231 11,43 179 11,47-53 7 11,49 30 11,50 243, 246, 295 12,1-8 288 12,3 282 12,6 70 12,7 282 12,10-11 7 12,13 413 12,31 7 12,36 100 12,41 106 12,46 417 13,2 114, 249 13,18 115 13,19 417 13,23 304 13,23-25 252 13,25 378 13,26 114 13,30 417 13,33 359 13,34 422 13,36-38 197, 293 13,37 251 13,38 371

14,6 104, 192, 411, 412 14,7 7 14,9-17 153 14,11 9 14,12 9, 351 14,13 192, 414 14,16 10 14,17 10 14,26 413 14,27 8, 11, 127, 128 15,1 416 15,1-8 191 15,3 112 15,12 422 15,12-14 373 15,15 9 15,16 168 15,18 7 15,19 363 15,26 189 16,7 10 16,7-13 375 16,8-10 409, 410 16,11 7 16,13 412 16,21 359 16,23 415 16,25 194 16,26 192, 413 16,32 8 16,33 196, 417 17,1-26 192 17,11 223, 225, 233 17,14 222, 263 17,15 223 17,16 363 17,21 205 17,24 231 17,25 233 18,10 188 18,12 417 18,14 246, 295 18,15 252 18,17 293 18,17-27 241 18,25-27 279, 293

18,33 18,36 18,37-38 18,38 19,6 19,11 19,12 19,13 19,15 19,26 19,30 19,31 20,1 20,2 20,2-10 20,11-18 20,17 20,19 20,19-23 20,28 20,30 20,31 21,3.4 21,12 21,20

269,

280, 269, 337, 24, 337,

12, 337, 422, 378, 12, 131,

272 273 411 256 269 270 256 273 269 304 375 269 399 304 252 399 12 270 402 430 350 350 417 415 304

Apostelgeschichte 1,18 20,19-23

249 406

Römerbrief 5,12-19 7,19 8,13 8,38 14,7-9

213 9 9 195 399

Korintherbriefe 1 Kor 1,20 1 Kor 2,14.15 1 Kor 15,3-5 1 Kor 15,6 2 Kor 4,8-10

216 213 302 302 179

Galaterbrief 2,11-21 3,13 4,7

293 292 136

Epheserbrief 5,14

179

Kolosserbrief 3,1-17

213

Timotheusbriefe 1 Tim 6,16

330

Johannesbriefe 1 Joh 2,1 1 Joh 2,12 1 Joh 2,14 1 Joh 2,18 1 Joh 3,7 1 Joh 3,18 1 Joh 4,2.3 1 Joh 4,4 1 Joh 4,18 1 Joh 5,21 3 Joh 3,8

359 359 359 359 359 359 412 359 110 359 412

439

Abb. 1a: Die Auferweckung des Lazarus, Rußland (Novgorod), 16. Jahrhundert, Eitempera auf Leinwand, 24,5 x 21,5 cm, Ikonen-Museum Recklinghausen

Abb. 1b: Christi Auferstehung (Höllenfahrt), Rußland, Anfang 16. Jahrhundert, Eitempera auf Holz, 131 x 104,2 cm, Ikonen-Museum Recklinghausen

Abb. 5: Die Himmelsgöttin Nut auf der Innenseite des Sargs der Hetep Amun. 25. Dynastie, um 700 v. Chr., Heidelberg, Universitätsmuseum

Abb. 7c: Die Göttin Selket als Schützerin am Schrein Tutanchamuns. Ägyptisches Museum Kairo

Über den Autor Dr. Eugen Drewermann arbeitet seit dem Entzug seiner Lehrerlaubnis und Suspension vom Priesteramt als Therapeut und Schriftsteller. Er gehört zu den erfolgreichsten theologischen Autoren und ist ein gefragter Referent und hat alle vier Evangelien des Neuen Testaments übersetzt und kommentiert.

Über das Buch Das Johannes-Evangelium konfrontiert den Leser mit der Frage nach seiner Identität. Zu sich selbst finden, zu seiner Wahrheit stehen kann nach der Auffassung des Johannes nur, wer auf ein Gegenüber trifft, das ihn leben lässt und ihn bedingungslos aus reiner Güte akzeptiert. »Niemals dürfen wir Menschen, wollen wir diesen Namen verdienen, mit den Lebewesen an unserer Seite in der Art verfahren, wie die Natur es jederzeit tut. Wir bedürfen eines menschlichen Gegenübers, um unsere Menschlichkeit zu finden, und eben ein solches absolutes Gegenüber unserer Menschlichkeit will der Jesus des Johannes-Evangeliums uns vermitteln durch die Nähe seiner Person, die geformt ist von dem Vertrauen zu seinem ›Vater‹.« Wer begreift, dass sein Leben noch einmal ganz neu beginnt unter der Perspektive, die Jesus vermittelt, lernt solch eine befreiende Menschlichkeit kennen. Dieser Leitgedanke ist es, den Eugen Drewermann in seiner Interpretation des Johannes-Evangeliums immer wieder ausfindig macht und für unser gegenwärtiges Leben zu deuten versucht. Dabei macht er die schwierige Begrifflichkeit der johanneischen Christologie verständlich und übersetzt die im kirchlichen Dogma verfestigten Worte in ebenso befreiende wie verbindliche Erfahrungen zurück. Der zweite Teil dieses Kommentars beginnt mit der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus, die ein Schlüssel für das Verständnis der gesamten zweiten Hälfte des Johannes-Evangeliums ist. In der Begegnung mit dem Mann aus Nazareth erfährt unser Leben eine „Auferstehung“, es geschieht eine Art von „Sterben“, die den „Tod“ überwindet. Auch als Printausgabe erhältlich.

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