Das Gesicht der Moderne: Zur Irregularität eines Zeitalters 9783495817667, 9783495489970


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Table of contents :
Inhalt
Analytisches Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1: Der gestrauchelte Gott
Kapitel 2: Was ist Modernität?
Kapitel 3: Diskurs über die Methode
Kapitel 4: Das Erbe der Renaissance: Kosmos und Natur
Kapitel 5: Das Erbe der Renaissance: Von dem Elend und der Würde des Menschen
Kapitel 6: Die Herrschaft über die Natur
Kapitel 7: Die Krise der Moderne I
Kapitel 8: Die Krise der Moderne II
Kapitel 9: Gestalt in der Moderne: Das konstitutionelle Regime
Namensverzeichnis
Sachverzeichnis
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Das Gesicht der Moderne: Zur Irregularität eines Zeitalters
 9783495817667, 9783495489970

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Tilo Schabert

Das Gesicht der Moderne

Zur Irregularität eines Zeitalters VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817667

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B

Tilo Schabert Das Gesicht der Moderne

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Tilo Schabert

Das Gesicht der Moderne Zur Irregularität eines Zeitalters

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Tilo Schabert The Figure of Modernity On the irregularity of an epoch In a dialogue about what distinguishes modernity from other human civilisations, a representative of the latter would probably say: We, the moderns, can do what we can think of doing. We create what we want to create. We perform what fascinates us to perform. Nothing is further from us than a limitation to the extension of our ability to obtain what we desire to obtain, to possess what we like to enjoy, to enjoy what pleases us to enjoy. And if we are told of a limitation or limitations at all, then we ignore or reject them. And just as likely, a critic of the modern age would answer, that it stands out from the world of forms of human civilisation on account of its great irregularity. Dissolution of boundaries everywhere, yes, but what are the effects. An all-powerful mastery of nature, but on the other hand a ravaging of the same. A submission of everything to the measure of man, but on the other hand the chronic question of what man is himself, when taken out of all measure. A supremacy of the imagination over rules of all kinds, and private worlds instead of a common human world, maintained not least by force. Tilo Schabert's book attests to such a dialogue. What is the modern age? What has it effected? What would the alternatives be?

The Author: Tilo Schabert is Professor Emeritus of Political Science at the University of Erlangen. 1990-2013 Head of Eranos Conferences of Classical Tradition. 2005 German-French Parliament Prize. 2007 appointed Knight in the French National Order of the Legion of Honour. Numerous publications, most recently with Alber: Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz (2009, revised and extended American edition 2015: The Second Birth: On the Political Beginning of Human Existence, University of Chicago Press).

https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Tilo Schabert Das Gesicht der Moderne Zur Irregularität eines Zeitalters In einem Dialog darüber, was, gegenüber anderen menschlichen Zivilisationen, gerade die moderne auszeichne, erklärte ein Vertreter der letzteren wahrscheinlich: Wir, die Modernen, können, was zu können wir uns ausdenken. Wir erschaffen, was zu erschaffen wir uns vornehmen. Wir vollführen, was uns zu vollführen fasziniert. Nichts ist uns ferner als eine Grenze für die Ausweitung unseres Vermögens, zu erlangen, was zu erlangen wir wollen, zu besitzen, was zu besitzen uns gefällt, zu genießen, was uns zu genießen vergnügt. Und wird uns von einer Grenze oder Grenzen überhaupt gesprochen, so überhören wir es oder weisen es zurück. Und ebenso wahrscheinlich würde ihm von kritischen Interpreten des modernen Zeitalters erwidert, dass dieses aus der Formenwelt menschlicher Zivilisationen herausrage durch seine große Irregularität. Entgrenzungen allenthalben, ja, aber welche Effekte. Eine allgewaltige Beherrschung der Natur, und dafür ein Verwüsten derselben. Ein Unterwerfen von allem unter das Maß des Menschen, und dafür die chronische Frage, was dann der Mensch selber sei, herausgenommen aus allen Maßen. Eine Vorherrschaft der Imagination gegenüber Regeln aller Art, und dafür Privatwelten anstelle einer gemeinsamen menschlichen Welt, aufrechterhalten nicht zuletzt mit Gewalt. Tilo Schaberts Buch bezeugt einen solchen Dialog. Was ist die Moderne? Was geschah durch sie? Was wären die Alternativen? Der Autor: Tilo Schabert ist Professor emeritus für Politische Wissenschaften an der Universität Erlangen. 1990–2013 Leiter der Eranos Tagungen klassischer Tradition. 2005 Deutsch-Französischer Parlamentspreis. 2007 Ernennung zum Ritter im französischen Nationalorden der Ehrenlegion. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt bei Alber: Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz (2009, überarbeitete und erweiterte amerikanische Ausgabe 2015: The Second Birth. On the Political Beginnings of Human Existence, University of Chicago Press).

https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Johannes Theodor Baargeld, Das menschliche Auge und ein Fisch, letzterer versteinert, 1920 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48997-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81766-7

https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 1 Der gestrauchelte Gott

13

. . . . . . . . . . . . . . .

15

Kapitel 2 Was ist Modernität? . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Kapitel 3 Diskurs über die Methode . . . . . . . . . . . . . .

48

Kapitel 4 Das Erbe der Renaissance: Kosmos und Natur . . . .

66

Kapitel 5 Das Erbe der Renaissance: Von dem Elend und der Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Kapitel 6 Die Herrschaft über die Natur . . . . . . . . . . . .

140

Kapitel 7 Die Krise der Moderne I . . . . . . . . . . . . . . .

161

Kapitel 8 Die Krise der Moderne II

. . . . . . . . . . . . . . 191

Kapitel 9 Gestalt in der Moderne: Das konstitutionelle Regime .

208

Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

7 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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Analytisches Inhaltsverzeichnis

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

15 Kapitel 1 Der gestrauchelte Gott . . . . . . . . . . . . . . . Ein einzigartiges Experiment (15) · Die moderne Konkurrenz mit dem Kosmos (16) · Das Motiv: eine grundsätzliche Veränderung in der Einstellung des europäischen Menschen zur Umwelt (17) · Francis Bacon erklärt das Ziel: die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen (17) · Kritische Vorbehalte gegenüber dem Experiment (18) · Entsakralisierung der Arbeit und der ökologisch unverantwortliche Umgang der Menschen mit ihrer Umwelt (23) · Das Schlüsselwort »Grenze« (25) · Was sind die Bewusstseinsformen der Moderne? (26) · Ein Abschreiten des Wegs, den der moderne Mensch zurückgelegt hat (26) Kapitel 2 Was ist Modernität? . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Cassiodors Unterscheidung zwischen »Alten« und »Modernen (28) · Die »Modernen«: Erneuerer der antiken Kultur (29) · Vom 12. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert: Die Debatte über das Problem der Modernität: die Schule von Chartres, François Rabelais, Giordano Bruno, Jean Bodin, Michel de Montaigne, Francis Bacon, Blaise Pascal (30) · Am Ende des 17. Jahrhunderts: Die Querelle des Anciens et des Modernes (35) · 18. Jahrhundert: Triumph der Modernen (42) · Die Bewusstseinsform »Moderne: Fünf Elemente (45) Kapitel 3 Diskurs über die Methode . . . . . . . . . . . . . . 48 Kanonisierung des Irregulären (48) · Platos Unterscheidung zwischen dialektischer und eristischer Methode (49) · Dialektik: Kunst des philosophischen Gesprächs, Eristik: Kunst des Widerspruchs (50) · Die eristische Methode der Moderne (52) · Ihre Anwendung in der Oratio de dignitate hominis von Pico della Mirandola (53) · Und im Libro del Cortegiano von Baldassare Castiglione (57) 9 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Analytisches Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4 Das Erbe der Renaissance: Kosmos und Natur . . . . 66 Die mentale Revolution hin zur Modernität (66) · Der Wandel in der menschlichen Welterfahrung (71) · Was bedeutet »Kosmos«? (72) · Die christliche Entgöttlichung des Kosmos (75) · Die Entfaltung der modernen Idee von der »Natur« (78) · Die operative Naturphilosophie der Moderne (82) · Vom Kosmos zur »Natur« (84) · Die Welt der »Natur« (85) · Das Paradox der modernen Welterfahrung: wirklich und doch auch unwirklich (88) · Die Ratlosigkeit Newtons (92) · Vereinseitigung des Erfahrens – Partielle Sprachlosigkeit (95) · Die Herrschaft des Menschen über die Natur: Zur Genealogie eines Motivs (98) Kapitel 5 Das Erbe der Renaissance: Von dem Elend und der Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Das Motiv zum Experiment der Moderne (105) · Die Vortrefflichkeit des Menschen (107) · Eine entscheidende Debatte über die Würde und das Elend des Menschen: Johannes von Tepl, Pico della Mirandola, Michel de Montaigne (109) · Das Streitgespräch im Ackermann aus Böhmen (110) · Die Kritik des Todes am gegenwärtigen Zeitalter (117) · Die Apotheose des Menschen: Pico della Mirandola (120) · Eine Verwirrung der Gedanken. Die Hypertrophie menschlicher Anmaßung in der unbeschränkten Freiheit der menschlichen Einbildungskraft: Michel de Montaigne (129) Kapitel 6 Die Herrschaft über die Natur . . . . . . . . . . . . 140 Das Reich des Menschen (140) · Die Konkurrenz zwischen Mensch und Natur (142) · Wissenschaft als Instrument der Naturbeherrschung (144) · Die Verwandlung der Natur durch die wirklichkeitsstiftende Macht des Menschen (150) · Die unbeschränkbare Macht des Menschen (157) · Zwei Arten einer Geschichte der Moderne (159) Kapitel 7 Die Krise der Moderne I . . . . . . . . . . . . . . . 161 Zur Phänomenologie des modernen Bewusstseins (161) · Zur Phänomenologie der modernen Lebenswelt (163) · Religion und Modernität (164) · Modernität im Bereich der Ökonomie (166) · Modernität in der Literatur (172) · Modernität im Bereich der Architektur (178) · Bewusstsein der Modernität und Modernität der Gesellschaft (186) · Eine tabellarische Gegenüberstellung von Bewusstseinsfeld und Sozialfeld (188) 10 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Analytisches Inhaltsverzeichnis

Kapitel 8 Die Krise der Moderne II . . . . . . . . . . . . . . 191 Existenz im Chaos (191) · Eine Krise der politischen Legitimation (193) · Die Differenz zwischen ›Geschichte I‹ und ›Geschichte II‹ (193) · Radikale Modernität: Vollendung der Moderne (194) · Die Divergenz zwischen Kultur und Zivilisation (194) · Eine Welt der Moderne ist ein Paradox (195) · Der Verlust gemeinsamer Überzeugungen oder: Der Zerfall der menschlichen Welt (196) · Die Krise des Ich (198) · Menschliche Gottwerdung: Katastrophe der menschlichen Existenz (200) · Was ist das Ich? (200) · Entgrenzung und Imagination (201) · Die intellektuelle Konstituierung eines Klimas der Gewalt (203) · »Ich mache kaputt, also bin ich« (206) Kapitel 9 Gestalt in der Moderne: Das konstitutionelle Regime . 208 Die Besonderheit des konstitutionellen Regimes: Grenzen in einer modernen Errungenschaft (209) · Der einzuhegende Mensch (210) · Ihre Körper umfangen und bestimmen die Menschen (212) · Souveräne Existenz: das heißt Freiheit – in der Figuration der Vielen (213) · Eins in der Vielheit – und Grenzen in der Sache (214) · Gesetze herrschen, und nicht Menschen (216) · Die Mechanik des Regierens (218) Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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Vorwort

Es gibt zahlreiche Deutungen der Moderne, die ihr gewissermaßen sagen, was sie sei. Sie wird, um Beispiele zu nennen, gleichgesetzt mit einer Epoche allgemeiner Säkularisation, oder es wird ihr ein religiöser Charakter zugeschrieben, denn es liege mit ihr ein Fall von Gnosis vor. Mit ihr hob ein Stadium von Rationalisierung und Disziplinierung an, so wird bestimmt, oder sie wird in ihrer Ausrichtung als neoplatonisch veranschlagt. Sie stelle eine Überwindung des auf sie gekommenen gnostischen Erbes dar, so wird auch erklärt, oder es wird die Kabbalah als Zugang für ihre Deutung hergenommen. Dazuhin haben sich Konventionen in der Befassung mit der Moderne ausgebildet, nach denen bei Studien zu ihr von vornherein von einer Reihe von Axiomen ausgegangen wird. Der modern gewordene Mensch schafft sich seine eigene Geschichte, ist eines dieser Axiome. Ein anderes macht aus dem Menschen ein »autonomes Ich«, in welcher Form alle Menschen in der Moderne ihr Zeitalter bevölkerten. Es gibt, so ein drittes Axiom, für menschliches Erkennen den modernen Weg, er führe zu nichts weniger als einer Gewissheit von Erkenntnis. Es liegt zu diesen Axiomen keine allgemeine Übereinkunft vor. Doch gängig ist, so zu verfahren, als wäre es so. Die Moderne wird im Modus der Moderne diskutiert. Hier glänzen dann ihre eifrigsten Verfechter. In der Form von Kritik schreiben sie diese fort, beredt und einfallsreich, und rühren nicht an die überkommenen Axiome. Das Gehäuse der Konventionen erweist sich als sehr fest. Weder auferlegte Deutungen noch axiomatische Konventionen ändern indes etwas daran, dass einmal eine Welt und eine Existenz für die Menschen nach einer Manier ausgedacht worden sind, für die der Begriff »modern« gewählt wurde. Und dieses Ausdenken ein mentaler und kultureller Prozess war, der über eine lange Zeit und von Phase zu Phase voranging. Und in welchem Sprecher verschiedener kultureller Ordnungen – Philosophie, Literatur, Theologie, Anthropologie, Naturwissenschaft, Theorie der Politik, Architekturtheorie – wirkten, die für die neue Manier oder gegen sie auftraten, 13 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Vorwort

sie in dieser oder jener Weise bestimmten, und unterschiedlich einflussreich für ihre Urteile und Gesinnungen warben. Mit der Zeit gewannen die Vertreter der modernen Manier, nun die »Modernen« genannt, die Oberhand, wenngleich keineswegs umfassend. Sie konnten zivilisatorisch dominieren, aber die von ihnen gewollte Zivilisation blieb unerreicht. Das lag an der Idee zu dieser selbst wie an den fatalen Folgen, zu denen sie führte. Die Moderne ist eine lange Geschichte. Diese Geschichte aufzuklären ist etwas anderes als die Moderne modern wiederzugeben. In der Aufklärung entsteht ein historisches Gesicht – das Gesicht der Moderne. Für den Text dieses Buches wurden acht Kapitel aus meiner früheren, längst vergriffenen Schrift »Gewalt und Humanität« (Alber, 1978) übernommen. Sie wurden umfassend überarbeitet sowie in sachlicher Hinsicht erweitert und aktualisiert. Das neunte Kapitel hier wurde für dieses Buch verfasst. Es gilt der Besonderheit, welche das konstitutionelle Regime – man spricht auch vom »Verfassungsstaat« – in der Moderne darstellt. Nach deren erstem Prinzip gibt es für die Menschen bei ihrem Ausholen auf die Welt und ihren Lebensvollzug darin keine Grenzen. Genau auf Grenzziehungen hin ist indes das konstitutionelle Regime angelegt. Und es ist dabei, wie bemerkenswert, eine moderne Errungenschaft. Alle fremdsprachlichen Zitate wurden, wenn nicht anders vermerkt, vom Autor ins Deutsche übertragen. Der Verfasser dankt dem Leiter des Alber Verlags, Lukas Trabert, für sein anhaltendes Interesse an diesem Buch, und ihm wie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die vollendete Aufmerksamkeit, mit der sie sich der Erstellung des Buches gewidmet haben. Ein besonderes Wort des Dankes gilt Ina Schabert. Baierbrunn, Ostern 2018

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Kapitel 1 Der gestrauchelte Gott

Nun denn, mein Sohn, dass ich vom Baum gekostet, War nicht an sich der Grund so schweren Bannes; Allein der Schranke Überschreitung war es. Dante, Göttliche Komödie, Paradies, 26. Gesang Reichtum hat keine Grenze, die nennbar den Menschen gesetzt ist. Solon, Fragment 13

Seit dem 17. Jahrhundert wird ausgehend von der europäischen Zivilisation ein Experiment durchgeführt, das in der Geschichte der Menschheit einzigartig ist: die den Menschen von allem Anfang an vorgegebene Welt soll ersetzt werden durch eine andere, in welcher der Mensch das von ihm selbst geschaffene Abbild seiner gottgleichen Allmacht erblickt. Ein solches Vorhaben war noch von keiner anderen Zivilisation gefasst und entworfen worden. In ihren Selbstinterpretationen bezogen sich vorherige Zivilisationen vielmehr regelmäßig auf eine alle Dinge und alle Ereignisse umfassende Primärordnung, innerhalb derer sich auch das Geschlecht der Menschen seit seinen Anfängen bewege und einen Sinn seiner Existenz erfahre. Sei es, daß im alten Ägypten von maat und im alten China vom Tao, im Indien der Upanischaden vom Brahman und im Islam von der Haqîqat Mohammadîya gesprochen wurde, so drückte sich in unterschiedlichen Symbolen doch die gleichartige Erfahrung aus, daß der Mensch innerhalb einer umgreifenden Realität existiere, deren Ordnung er selbst angehöre und insofern mitvollziehe, als sie Paradigma seines Handelns sei. 1 Bei den Griechen des Altertums machte sich daher auch ein 1 Vgl. Henri Frankfort, Kingship and the gods: a study of ancient Near Eastern religion as the integration of society and nature, Chicago: Chicago University Press 1948; Marcel Granet: La Pensée chinoise, Nouv. éd., Paris: Albin Michel, 1968; Eric Voegelin, Order and History, Bd. I: Israel and Revelation, Baton Rouge: Louisiana State University Press 1956; Henry Corbin, Histoire de la philosophie islamique, Paris: Gallimard 1964.

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Der gestrauchelte Gott

Mensch der hybris, des schlimmsten aller Vergehen, schuldig, wenn er sich aus Selbstüberschätzung dazu anschickte, in den kosmos hinein Weltgebilde seiner Imagination zu setzen. Menschliche Eingriffe in den inneren Prozess der Natur waren Indern, Chinesen, Griechen und Arabern freilich in der Form alchemistischer Praktiken geläufig. Die Alchemie sollte die Arbeit der Natur ergänzen, beschleunigen und vervollkommnen; sie wurde aber nie als ein Mittel der Konkurrenz aufgefasst, das es dem Menschen ermögliche, alles das, was die Natur mit der Zeit bewirke, viel schneller und überhaupt besser zu bewerkstelligen. 2 Auf eine solche Konkurrenz mit dem Kosmos hat sich erst der europäische Mensch eingelassen, der sich im 16. und 17. Jahrhundert nicht mehr mit dem naturwissenschaftlichen und technischen Wissen begnügte, das ihm ein Aristoteles, ein Ptolemäus und ein Eratosthenes, ein Euklid hinterlassen hatten. 3 Der Ausbruch dieser Konkurrenz lag nur teilweise in der naturwissenschaftlichen Neugierde begründet. Weder bei den Griechen noch bei den Arabern wurde das kosmologische Weltbild von Fortschritten in der Geometrie und Astronomie, in der Geographie und Medizin gesprengt. Und von den Römern bis zur Renaissance beschränkte sich in Europa die Entwicklung der Naturwissenschaften hauptsächlich auf die Erkenntnisse, die man von den Arabern übernahm. Wieso aber kam es dann dazu, dass gerade im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts jene Forschungen eingeleitet und jene Experimente veranstaltet wurden, aufgrund derer binnen kurzer Zeit der Eindruck entstehen konnte, dass sich der Mensch der bis dahin von ihm als allmächtig verehrten Natur wie eines beliebig verwendbaren Instrumentes bedienen könne? Der zivilisatorische Einschnitt, mit dem jenes Zeitalter, das wir die »Moderne« nennen, begann, und aus dem eine Welt des Technokratischen entstand, wurde durch eine grundsätzliche Veränderung in der Einstellung des europäischen Menschen zu seiner Umwelt hervorgerufen. Zuvor, als der ordo christianus des Mittelalters noch nicht aufgelöst war, schien es Petrarca zum Beispiel bedeutsamer zu sein, mehr seine Seele als die Sachen der Welt zu erfor2 Vgl. Mircea Eliade, The Forge and the Crucible. The Origins and Structures of Alchemy, New York: Harper Torchbooks, 1971, S. 8, 169 ff. 3 Vgl. Charles Joseph Singer, From Magic to Science. Essays on the Scientific Twilight, New York: Dover Publications, 1958, S. 4–10, 25–36, 50–53.

16 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Der gestrauchelte Gott

schen. Jener Brief ist berühmt, in dem er seine Besteigung des Mont Ventoux (Provence) im Jahre 1336 beschreibt. In ihm berichtet er, wie auf dem Gipfel seine Begeisterung über die sich ihm darbietende Aussicht einer Bestürzung wich: »Während ich dergestalt die einzelnen Dinge betrachtete, einmal den Blick zur Erde senkte, einmal Augen und Geist zum Himmel hinauf richtete, da griff ich unwillkürlich zu Augustins Bekenntnissen, ein Büchlein, das ich immer bei mir trage. Gleich beim Aufschlagen des Buches traf ich auf die Stelle: ›Und da gehen die Menschen hin und bestaunen die Höhen der Berge, das gewaltige Wogen des Meeres, die breiten Gefälle der Ströme, die Weiten des Ozeans und den Umlauf der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst‹ (Confessiones, X; 8, 15). Darüber erschrak ich, schloss das Buch, zürnte mir selbst, dass ich noch Irdisches anstaunte, da ich doch längst schon von heidnischen Philosophen hätte lernen können, dass nur der Geist das einzig Große, Bewundernswerte sei. Ich hatte jetzt den Berg und seine Aussicht genug betrachtet, lenkte den Blick auf mein Inneres und redete kein Wort, bevor ich wieder in der Ebene angelangt war.« 4 Drei Jahrhunderte später begannen Menschen in Europa, »sich selbst zu verlassen«. Sie gaben jene Einstellung zur Wirklichkeit auf, die Petrarca zur kontemplativen Einkehr und Rückbesinnung auf die Weisheit der Alten bewogen hatte. Jetzt schien einem Francis Bacon die Zeit gekommen, den staunenden Blick von der Vergangenheit, von dem sagenhaften Atlantis des Plato 5 lösen und in eine verheißungsvollere Zukunft, auf jenes Nova Atlantis richten zu können, wie er es sich in seinem gleichnamigen, 1638 erschienenen Buch vorstellte. Bei dem Bericht über die Verfassung des »Hauses Salomons«, dem organisatorischen Zentrum von Nova Atlantis, legte Bacon dem »Ehrwürdigen Vater« dieses Hauses, einem imaginären Nachfahr des biblischen Salomon, einen bestimmten Ausspruch in den Mund. Dieser berief den Menschen zu weitaus mehr als der bislang geübten Einfügung in den Kosmos aller Dinge: »Der Zweck unserer Gründung ist die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen.« 6 Nach der 4 Francesco Petrarca, Le Familiari (Buch IV, 1, 26–29), Hrsg. Vittorio Rossi, Bd. I, Florenz: Sansoni 1933, Nachdruck 1958, S. 158 f. 5 Vgl. Timaios 24 E–25 D. 6 Francis Bacon, New Atlantis, in: The Works of Francis Bacon, Hrsg. James Sped-

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Der gestrauchelte Gott

christlichen Eschatologie sollte am Ende aller Tage das »Reich Gottes« vollendet werden. In deutlichem Kontrast dazu forderte Bacon seine Zeitgenossen auf, hier und jetzt ein »Reich des Menschen« (regnum hominis) zu errichten. 7 Und er fand Gehör, denn aus dem öffentlichen Bewusstsein Europas war das Leitbild des christlichen Menschen entschwunden, der sich in der Welt auf der Pilgerschaft, als hinfälliges Geschöpf unter Gott empfand. Statt des homo viator war der homo faber, jener Mensch zum neuen Leitbild erhoben worden, der sich aus der Natur seine eigene, eine ihm untertane Welt erschafft. Aus der anthropozentrischen Dynamik dieser neuen, sich im Europa des 17. Jahrhunderts durchsetzenden Anthropologie ist das Experiment der »Moderne«, die bis dahin als verwerflich angesehene Konkurrenz des Menschen mit dem Kosmos entstanden. Im Umkreis der europäisch-westlichen Zivilisation wurde nunmehr im allgemeinen von den Menschen eine Einstellung zu der sie umgebenden Wirklichkeit eingenommen, die in ihrem Bewusstsein den kollektiven Glauben nährte, dass alles das, was einem selbstherrlich modernen Menschen an dieser Wirklichkeit nicht gefiele, beliebig zu verändern, abzuschaffen oder künstlich zu ersetzen sei. Entsprechend machten während der letzten drei Jahrhunderte eine Reihe moderner Denker, von Descartes über Hegel zu Sartre, denn auch den Endzweck des sich im Gang befindlichen Experimentes aus: eine Umbildung der Wirklichkeit nach der Maßgabe eines einem Gotte gleichen Menschen. Schon von Anfang an wurden die anthropologischen Vorstellungen, welche diesem Experiment zugrunde lagen, sowie die sozialen Veränderungen, die es verursachte, kritisiert und mitunter sogar abgelehnt. In seiner Jugend hatte Blaise Pascal den neuen Glauben an den Fortschritt, an die zunehmende Vervollkommnung der menschlichen Lebensumstände geteilt. Später hingegen, in seinen Pensées, verwarf er ihn, sah ihn bloß noch als einen Vorwand für den panhistorischen Egozentrismus jenes modernen Menschen an, der sich zum maître de tout aufspiele. Im 18. Jahrhundert war Jean-Jacques Rousseau wie kein anderer seiner Zeitgenossen bestrebt, die vom Mending, Robert Leslie Ellis, Douglas Denan Heath, Bd. III, London: Longman 1859, Nachdruck Stuttgart–Bad Cannstatt 1963, S. 156; dt. Übers.: Francis Bacon, Neu Atlantis, in: Der utopische Staat, Hrsg. Klaus J. Heinrich, Hamburg: Rowohlt, 1960, S. 205. 7 Francis Bacon, Novum Organum – Aphorismi de Interpretatione naturae et regno hominis (LXVIII) in: The Works of Francis Bacon, Bd. I, London: Longman 1858, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, S. 179.

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Der gestrauchelte Gott

schen losgelöste Natur in ein Spiegelbild des Menschen umzuwandeln. Dennoch entsetzte er sich über die Folgen, die seiner Ansicht nach bei dem Versuch des Menschen eingetreten waren, sich zum Eigentümer und Herrn der Natur zu erheben: »Unsere Seelen wurden in dem Maße verdorben, wie unsere Wissenschaften und unsere Künste zur Vollkommenheit fortschritten. Beseitigt unseren unheilvollen Fortschritt, beseitigt unsere Irrtümer und unsere Laster, beseitigt das Werk des Menschen und alles ist gut.« 8 Und im 19. Jahrhundert verkündeten zwar Engels und Marx im Kommunistischen Manifest, dass alles Vergangene bedeutungslos werde angesichts des bevorstehenden letzten Aktes im Prozess der menschlichen Emanzipation. Aber für einen nostalgischen Moment konnten sie es der Bourgeoisie dennoch nicht verzeihen, dass sie in Wahrnehmung ihrer »höchst revolutionären Rolle« auch die »buntscheckigen Feudalbande … unbarmherzig zerrissen«, »die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenslose Handelsfreiheit« gesetzt hätte. 9 Solche kritischen Vorbehalte gegenüber dem Experiment der »Moderne« gingen vom 17. bis in dieses Jahrhundert hinein in einer weit verbreiteten Euphorie über die »unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit des menschlichen Geschlechts« (Condorcet) 10 unter. Trotz des 20. Jahrhunderts, diesem Jahrhundert der Katastrophen. Jedoch erschienen im technisch-wissenschaftlichen Milieu, das früher Begründer des Fortschrittsglaubens hervorbrachte, auch Verkünder einer industriellen Apokalypse. Im 18. Jahrhundert erschrieb sich Bernard le Bovier de Fontenelle seine Berühmtheit im Geiste der Naturbeherrschung mit Elogen auf die kopernikanische Astronomie und die Newton’sche Mechanik. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erreichte indes eine Alarm schlagende ökologische Studie, The Limits to Growth, den Status eines Bestsellers. 11 Von Industriellen initiiert 8 Jean Jacques Rousseau, Discours sur Les Sciences et Les Arts, 1. Teil, in: Œuvres Complètes, Bd. III, Paris: Gallimard 1964, S. 9; Jean Jacques Rousseau, Emile ou de l’éducation, Buch IV, Paris: Éditions Garnier 1964, S. 342. 9 Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Die Frühschriften, Hrsg. Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner 1968, S. 527 f. 10 Condorcet, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, Paris: Éditions Sociales 1966, S. 221. 11 Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows, Jø ´rgen Randers, William W. Behrens III, The Limits to Growth, New York: Signet Book, 1972. – Vgl. auch Donella H.

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Der gestrauchelte Gott

und an einem wahren Hort technologischen Geistes, dem Massachusetts Institute of Technology, angefertigt, sprach dieser Ausbruch techno-apokalyptischer Futurologie offenbar ganz den »Zeitgeist« an. Der Rezensent der Wochenzeitung Die Zeit stellte sie unter dem Titel vor: »So geht die Welt zugrunde.« 12 Die Auseinandersetzung über das Experiment der »Moderne« hat sich aber nicht nur bis zur Androhung eines vom Menschen selbst verschuldeten Weltuntergangs verschärft. Vielmehr hat sich die Aufmerksamkeit der Kritiker auch auf die grundsätzlichen Probleme einer Korrektur dieses Experimentes gerichtet. So wies der britische Psychiater R. D. Laing auf den Widerspruch zwischen der angeblichen Rationalität und der faktischen Irrationalität unseres Zeitalters hin: »Wenn das menschliche Geschlecht überlebt, werden zukünftige Generationen, so vermute ich, auf unser aufgeklärtes (enlightened) Zeitalter wie auf ein wahres Zeitalter der Finsternis zurückschauen.« 13 Er deutete ferner an, welches Motiv den modernen Menschen von den Bahnen rationalen Verhaltens weggelockt haben könnte: »Mehr als durch irgendetwas anderes ist unsere Zeit durch das Vorhaben gekennzeichnet, die äußere Welt zu beherrschen.« 14 Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss griff dieses Motiv in seiner Zeitkritik ebenfalls auf und sprach sich insbesondere über die Auswirkungen aus, die er sah: »Man sollte sich doch endlich darüber Rechenschaft ablegen, dass die absolutistisch-humanistische Haltung, die bei uns seit der Renaissance vorherrscht, äußerst katastrophale Konsequenzen hatte. Einige Jahrhunderte Humanismus haben zu den großen Kriegen, zu Ausrottungen, Konzentrationslagern und zur Zerstörung aller Arten von Lebewesen geführt; wir haben die Natur verarmen lassen. Es ist gerade die übertriebene humanisti-

Meadows et al., Limits to Growth: the 30-year update, White River Junction, Vt.: Chelsea Green Publ. Co., 2004. – Zur Diskussion über das Buch und seine Aktualität vgl. Christian Parenti, »The Limits to Growth: A Book That Launched A Movement«, in: The Nation, 24.–31. Dez. 2012 (siehe: https://www.thenation.com/article/limitsgrowth-book-launched-movement/, aufgerufen am 5. Jan. 2018); Jø´rgen Stig Nø´rgård et al., »The History of the Limits to Growth«, in: Solutions, Vol. 1, Issue 2, März 2010, S. 59–63 (siehe: https://www.thesolutionsjournal.com/article/the-history-ofthe-limits-to-growth/, aufgerufen am 5. Jan. 2018). 12 Thomas v. Randow, in: Die Zeit, Nr. 11, 21. 3. 1972. 13 Ronald D. Laing, The Politics of Experience, New York: Pantheon 1967, S. 129. Vgl. S. 142, noch kürzer: »We are in an age of darkness.« 14 Ebd. S. 140.

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sche Haltung des Menschen, die ihn selbst bedroht: wenn er nämlich glaubt, nach Belieben über alles verfügen zu können.« 15

Und Lévi-Strauss knüpfte an die klassische, vor-moderne Einsicht an, wonach sich der Mensch von Natur aus innerhalb und nicht jenseits des Kosmos aufhält. »Ein recht verstandener Humanismus,« so sagte er, »müsste die gegenwärtige Menschheit paradoxerweise auffordern, ihren Humanismus zu mäßigen und von den großen Religionen des Fernen Ostens – zum Beispiel dem Buddhismus – zu lernen, dass der Mensch letzten Endes nur ein Lebewesen unter anderen ist, das nur unter der Voraussetzung weiterleben kann, dass es diese anderen respektiert.« 16 Der moderne Mensch hat sich in ein Paradox verstrickt. Am schärfsten hat es der italienische Schriftsteller Nicola Chiaromonte herausgestellt: »Der herrschende Mythos unserer Zeit ist die Vorstellung, die Ausbeutung aller natürlichen und technologischen Ressourcen und deren Nutzbarmachung zur Befriedigung materieller Bedürfnisse müsse zum allgemeinen Wohl führen, zur Schaffung der besten aller möglichen Welten. Und doch sollte es offensichtlich sein, dass die Automatik der heutigen Welt dem sterblichen Menschen größtmöglichen Schaden zufügt. Sie erhöht seine physische Macht und steigert zugleich seine Fähigkeit zu ziellosem Handeln, das heißt seine Dummheit.« 17

Und wie Lévi-Strauss erklärte Chiaromonte, dass sich der moderne Mensch in seiner Arroganz selbst im Wege steht, dieses Paradox aufzulösen: »Kein einziges menschliches Problem kann geklärt, gelöst oder auch nur richtig formuliert werden, solange der Mensch sich unbeirrbar für den Nabel des Universums hält.« 18

Im Frühjahr 1973 veröffentlichte das amerikanische Nachrichtenmagazin Time eine Serie von Artikeln unter dem bezeichnenden Titel »Second Thoughts about Man«. Die Debatte über das Experiment der Spiegel-Gespräch mit Claude Lévi-Strauss, in: Der Spiegel, Nr. 53, 1971, S. 94. A. a. O. Analog argumentiert Mircea Eliade in: The Forge and the Crucible, S. 12. 17 Nicola Chiaromonte, Das Paradox der Geschichte. Zur Krise des modernen Bewusstseins, Wien: Europaverlag 1973, S. 171 f. – Zu Leben und Werk von Chiaromonte vgl. Cesare Panizza, Nicola Chiaromonte: una biografia, Rom: Donzelli, 2017; in diesem Buch wird Chiaromonte als Gesprächspartner u. a. von Ignazio Silone, Hannah Arendt, Mary McCarthy, Albert Camus, André Malraux vorgestellt. 18 Ebd. S. 173. 15 16

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»Moderne«, so könnte man nach der Lektüre der Artikel folgern, hatte sich von Schriften und Interviews einzelner Gelehrter in die Sphäre des öffentlichen Diskurses ausgedehnt. Was hier geäußert wurde, hört sich aus der Perspektive des Jahres 2018 gewiss bemerkenswert an. Eine »Wende« wird hier angekündigt, auf die 2018 sicherlich einiges, was mittlerweile allgemein gedacht und empfunden wird, zurückbezogen werden könnte. Dem Essay zufolge, der in die Serie einführt, sind deutliche »Anzeichen eines Wandels in der Welt des Denkens zu verspüren«. Das Vertrauen des Menschen in seine Macht, seine Welt zu beherrschen, befände sich auf einem Tiefstand; die Technologie werde als ein gefährlicher Verbündeter angesehen; dem Fortschritt werde misstraut. Der einheitliche Kosmos des Mittelalters sei zwar unter dem »aggressiven Humanismus der Renaissance« und den »mechanistischen Visionen der naturwissenschaftlichen Revolution« zerbrochen; und stattdessen hätte die westliche Zivilisation für mehr als drei Jahrhunderte in einem cartesianisch gespaltenen Universum gelebt. Aber jetzt werde dieser Dualismus wieder von vielen Menschen angefochten, deren Zweifel von der ökologischen Krise und der lunaren Vision eines fragilen spaceship earth hervorgerufen würden. Und dem kosmologischen Bewußtsein (cosmological sense), welches gegenwärtig wiederauflebe, liege die demütige Erkenntnis zugrunde, dass der Mensch und sein Universum komplexer seien, als man noch bis vor kurzem von ihnen dachte. 19 War also das Experiment der »Moderne« nicht der Erfolg, der es sein sollte? Wer diese Frage stellt (und sie wurde ja in den zitierten Äußerungen aufgeworfen), setzt bei den beiden Postulaten an, auf denen sich die Moderne anthropologisch aufbaut. Nach dem einen existiert der Mensch »aus sich selbst«, und nach dem anderen gebührt dem Menschen die Herrschaft über die Natur. Auf das erste Postulat, also auf die moderne Doktrin einer menschlichen Aseität, wird nicht allein die Auflösung jener sozialen Sinngebilde wie Stammes-, Zunft-, Ordens- oder Stadtgemeinschaft zurückgeführt, in welchen der vor-moderne Mensch so verwoben war, dass er sich in seiner individuellen Existenz auch zugleich als Repräsentant der größeren sozialen Einheit verstehen konnte. Es wird auch als Ursprung des sozialpsychologischen Phänomens angesehen, dass der moderne Mensch gemeinhin seiner Existenz keinen 19

Time, 2. 4. 1973, S. 42.

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Sinn mehr abgewinnen kann. »Modern« konnte zwar jemand in dem Moment sein, da er (oder sie) sich als ein »Individuum« verstand, das sich selbst zum alleinigen Sinn seiner Existenz macht. Gewöhnlich versprach sich das »Individuum« dabei, dass es jene absolute ›Selbstbestimmung‹ erringe, die es als höchste Erfüllung seiner Existenz ansah. Soweit hatten es die von ihm beschrittenen Wege »modernen« Denkens geführt. Aber dann stand es orientierungslos da, als es sich voller Freiheit, sich selbst bestimmen zu können, fragen musste, wozu es sich denn nun selbst bestimmen sollte. Seine »Freiheit« wurde zur Last, ein »Individuum« sein zu müssen, ohne wirklich dazu fähig zu sein. Denn wie sollte auch jedes »Individuum« einen Sinn der Existenz finden, der allein ihm eigen war? Die von den Denkern der »Moderne« propagierte Selbstbestimmung des »Individuums« wirkte sich sozialpsychologisch in einer fragwürdigen Weise aus. Sie führte im Allgemeinen zu einem Verlust an existentieller Sinnerfahrung. Übrig blieb ihre pervertierte Form, jene Manier, um jeden Preis man selbst sein zu wollen. Der moderne Mensch, so diagnostizierte der amerikanische Schriftsteller Saul Bellow, sei von einem »Fiebern nach Originalität« befallen. Dieses verursache ihm eine Pein, die so stark sei, dass sie ihn danach verlangen lasse, endlich nicht mehr er selbst sein zu müssen. »Ich denke, wir könnten das, was ich meine, folgendermaßen zusammenfassen: nach einer langen Zeit, in der sie namenlos und unbeachtet blieben, sind in der modernen Geschichte viele Menschen mit großem Schwung aufgetreten, um einen Namen, eine persönliche Würde, solch ein Leben zu fordern und zu genießen (so wie man es heutzutage genießt), wie sie in der Vergangenheit nur dem hohen und niederen Adel, Mitgliedern der königlichen Familie oder den mythischen Göttern zu eigen waren. Und wie alle diese großen Bewegungen hat dieses Aufstreben Elend und Verzweiflung gebracht, seine Erfolge sind nicht abzusehen, und es ist nicht abzuschätzen, wieviel seelischen Schmerz viele Leute seinetwegen empfinden, die meisten Formen persönlicher Existenz scheinen verbraucht zu sein, und es herrscht ein seltsames Verlangen nach dem Nicht-Sein.« 20

Was die Auswirkungen des vom modernen Menschen unternommenen Versuchs anbetrifft, die Natur zu beherrschen und sich anzueignen, so wird in der Debatte über das Experiment der »Moderne« vor allem auf diese beiden verwiesen: auf die Entsakralisierung der Arbeit und auf den ökologisch unverantwortlichen Umgang der Menschen 20

Saul Bellow, Mr. Sammler’s Planet, New York: Viking Press, 1971, S. 209, 214.

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mit ihrer natürlichen Umwelt. Nach der kosmologischen Weltauffassung verrichtete ein arbeitender Mensch nicht nur eine zweckdienliche Tätigkeit, die an sich für ihn bloß mit Mühe und Schweiß verbunden war. Vielmehr wirkte er an der metakosmesis, der periodischen Erneuerung der Dinge im Kosmos mit. In. seiner Studie The Forge and the Crucible erläuterte dies der Religionswissenschaftler Mircea Eliade am Beispiel des Pflügens: »Das gepflügte Feld«, so schrieb er, »ist etwas mehr als ein Fleckchen Erde, es ist auch der Körper der Erdmutter: der Spaten ist ein Phallus, während er auch weiterhin ein landwirtschaftliches Werkzeug bleibt; Pflügen ist zur gleichen Zeit eine ›mechanische‹ Arbeit (verrichtet mit von Menschen gemachten Werkzeugen) und eine geschlechtliche Vereinigung, die vorgeschrieben ist für die heilig-hochzeitliche Fruchtbarmachung der Erdmutter.« 21 Der Sinn für diese Korrespondenz von Arbeit und sakraler Teilnahme am kosmischen Prozess ging dem modernen Menschen verloren, als er mit dem Kosmos zu konkurrieren begann. Er betrachtete die Natur nur mehr unter dem Aspekt seiner Selbstherrlichkeit, als totes Rohmaterial, von dem er bedenkenlos nahm, was er gebrauchen konnte, und auf das er unablässig einwirkte, um es seinen Wünschen noch gefügiger zu machen. Dadurch aber wurde aus seiner Arbeit ein Wettstreit mit der Natur und dieser reizte ihn wiederum zu immer neuer Arbeit, d. h. Erfolgen in der Naturbeherrschung, an. Für den modernen Menschen wurde daher der einzelne Arbeitsakt bedeutungslos; jedoch fand er auch keinen Sinn in seiner Arbeit allgemein, obwohl sie zum dominierenden Faktor seiner Existenz geworden war. Denn nichts in der Welt verriet ihm, wofür sein Wettstreit mit der Natur überhaupt gut sei. Jeder seiner Kritiker weiß, dass das Experiment der »Moderne« nicht einfach abgebrochen werden kann. Ein solches Vorhaben wäre phantastisch; weder ließe sich die technokratische Welt der Gegenwart etwa in die höfische Welt des Barock rückverwandeln, noch wollte kaum jemand auf die Erleichterungen verzichten, die mit einem Leben unter den Bedingungen der modernen Industrie- und Wissensgesellschaft verbunden sind. Zur Debatte steht nicht ein Abbruch, sondern eine Korrektur des Experiments »Moderne«. Der Nutzen moderner Technologien bleibt außerhalb jeglichen Zweifels, auch wenn man sich eingesteht, dass der moderne Mensch bei seinem Versuch gestrauchelt ist, sich in dieser Welt wie ein Gott zu gebärden. 21

Mircea Eliade, The Forge and the Crucible, S. 144; vgl. S. 172 ff.

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Die Balance zwischen dem Kosmos und dem darin sich aufhaltenden Menschen wurde von dessen Hybris gestört. Folglich wird sie auch nicht primär durch irgendwelche Veränderungen (so notwendig diese auch sind) im Bereich jener technischen Mittel wiederhergestellt, die der moderne Mensch zur Durchsetzung seiner Hybris ersann. Vielmehr fängt eine Korrektur des Experimentes »Moderne« mit einer Neubesinnung des Menschen auf seine Stellung im Kosmos an. »Wir tasten nach einem neuen Vokabular«, so schrieb der amerikanische Soziologe Daniel Bell 1978 in der Zeitschrift Partisan Review, »dessen Schlüsselwort die Grenze zu werden scheint: eine Grenze für das Wachstum, eine Grenze für die Ausbeutung der Umwelt, eine Grenze für die Aufrüstung, eine Grenze für die biologische Manipulation. Doch wenn wir eine Reihe von Grenzen auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet zu errichten suchen, sollen wir da nicht auch eine Grenze für die Durchführung all jener kulturellen Experimente ziehen, die über die moralischen Normen hinausgehen und sich auf das Dämonische einlassen aus der Illusion heraus, dass jede Erfahrung »kreativ« ist? Können wir der Hybris eine Grenze setzen?« 22

Wie aber mag der moderne Mensch ein »kosmologisches Bewusstsein« wiedergewinnen? Claude Lévi-Strauss empfahl die von ihm in die anthropologische Forschung eingeführte strukturalistische Methode: »Der Strukturalismus legt den Humanwissenschaften ein epistemologisches Modell vor, das unvergleichlich tragfähiger ist als diejenigen, über die sie zuvor verfügten. Denn er entdeckt hinter den Dingen eine Einheit und einen Zusammenhang, die die einfache Beschreibung der Tatsachen nicht offenbaren könnte. Indem er die Ebene der Betrachtung wechselt und indem er über den empirischen Fakten die Beziehungen betrachtet, welche diese vereinen, bestätigt der Strukturalismus, daß diese Beziehungen einfacher und besser einsichtig sind als die Dinge, zwischen denen sie bestehen. Der Strukturalismus integriert den Menschen wieder in die Natur.« 23

Und Nicola Chiaromonte appellierte an unsere bessere Einsicht après le déluge:

22 Daniel Bell, »Modernism and Capitalism«, in: Partisan Review, vol. 45, New York, 1978 (http://theoria.art-zoo.com/from-modernism-and-capitalism-daniel-bell/, aufgerufen am 10. Jan. 2018). 23 Claude Lévi-Strauss, Mythologiques, Bd. IV: L’Homme Nu, Paris: Plon 1971, S. 614.

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»Nach den Katastrophen, die durch das Streben nach Weltherrschaft und die Versuche, die Welt der Tyrannei einer einzigen Idee zu unterwerfen, verursacht wurden, können wir nicht umhin, festzustellen, welch ein Monstrum ein Mensch ist, der keine ihn selbst und alle anderen Dinge der Schöpfung transzendierende Ordnung anerkennt; der die elementare Tatsache nicht wahrhaben will, dass das Band, das ihn mit den anderen, das heißt mit der Gemeinschaft, verbindet, wichtiger und stärker ist als er selbst, und noch wichtiger als er und die Gemeinschaft das Band zwischen ihm, jedem einzelnen Ding und der Gesamtheit der Dinge, mag man sie nun Natur, Kosmos oder wie immer nennen.« 24

Aber was ist dieses »Band« zwischen allen Dingen und was ist der Mensch, wenn er nicht Herr der Natur ist? Warum soll gerade die strukturalistische und keine andere Methode dafür geeignet sein, natürliche Beziehungen zwischen den Dingen zu erschließen? Und wie soll das Verhalten der Menschen übereinstimmen mit einer »Primärordnung« der Welt, die von ihnen nicht einmal mehr wahrgenommen wird? Der moderne Mensch wird so lange unempfänglich für die »Einheit hinter den Dingen« sein, wie er an einer Bewusstseinsform festhält, die für ihn typisch ist: es fasziniert ihn alles, was neu, ausgefallen oder befremdend ist, und es langweilt ihn alles, was sich wiederholt, was alltäglich oder seit langem vertraut ist. 25 Das Experiment der »Moderne« kann korrigiert werden, wenn der Wiedergewinnung eines »kosmologischen Bewusstseins« nicht mehr jene Bewusstseinsformen entgegenstehen, die sich der moderne Mensch gerade im Prozess seiner Konkurrenz mit dem Kosmos angeeignet hat. Eine Auseinandersetzung mit der »Moderne« darf sich daher nicht darauf beschränken, Alternativen gegenüber dem zu entwickeln, was bisher für »modern« galt. Dann würde sie sich bloß der Abfolge jener intellektuellen »Moden« anschließen, die das Bewusstsein des modernen Menschen immer so schnell absorbiert, weil sie ihm immer einmal wieder etwas »Neues« bieten. Gegenüber dieser Gefahr, in einen Zirkel intellektueller Moden zu geraten, dürfte die Methode deutlich werden, die von einer Kritik des Experimentes »Moderne« auch zu dessen Korrektur weiterführt. Sie erfordert eine Untersuchung in doppelter Hinsicht: a) ein Studium jener Bewusstseinsformen, die für die »Moderne« typisch sind, Nicola Chiaromonte, Das Paradox der Geschichte, S. 172. Vgl. Adrian Marino, »Modernity and the Evolution of Literary Consciousness«, in: Diogenes, Spring 1972, Nr. 77, S. 110–137.

24 25

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und b) eine Erforschung jener Erfahrungen, aufgrund derer sich ein »kosmologisches Bewusstsein« konstituiert. Ohne eine Kenntnis der Bewusstseinsformen der »Moderne« bliebe unklar, was gegen die Wiedergewinnung eines »kosmologischen Bewusstseins« ansteht und was dieses überhaupt ersetzen soll. Umgekehrt ist ebenso wenig klar, wie sich ein »kosmologisches Bewusstsein« aufbaut und was es überhaupt beinhalten könnte. Es gibt nur eine Methode, um sich dieser doppelten Ungewissheit zu entledigen. Wir müssen noch einmal den Weg abschreiten, den der moderne Mensch zurückgelegt hat, seitdem er mit dem Kosmos zu konkurrieren begann und sich dabei mit jener künstlichen Welt umgab, die ihn heute von seiner natürlichen Umwelt trennt. Wir sollten uns noch einmal vergegenwärtigen, wovon sich die »Moderne« gelöst hat und was sie demgegenüber erreichen wollte. Erst dann wird es auch möglich sein, das Experiment der »Moderne« zu korrigieren: dann, wenn wir nicht nur wissen, was wir dabei gewonnen haben, sondern uns auch daran erinnern, was uns dabei verlorenging.

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Kapitel 2 Was ist Modernität?

Denn vor nichts habe ich mich mein Leben lang mehr gescheut, als allein weise zu sein, worin ich immer die gefährliche Alternative sah, entweder Gott zu werden oder ein Narr. Giambattista Vico, Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung

Die Vorstellung, dass man »modern« sei, ist in der europäischen Geschichte ungefähr sechzehn Jahrhunderte alt. Damals, im Jahre 476 n. Chr., erlosch das Weströmische Reich, und sein ehemaliger Herrschaftsbereich wurde von den neuen Reichen der Westgoten, der Burgunder oder der Ostgoten eingenommen. Es war dabei kaum zu erwarten, dass die antike Kultur Roms in den neuen Germanenreichen weitergepflegt würde – es sei denn, sie würde unter den neuen Voraussetzungen wiederbelebt. Anlässlich dieses Vorhabens wurde von Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus (c. 484 – c. 585), Staatsmann, Gelehrter und Geschichtsschreiber am Hofe Theodorichs des Großen, zum ersten Mal zwischen antiqui (»Alten«) und moderni (»Modernen«) unterschieden. 1 Cassiodor nannte seine Zeitgenossen die »Neueren«, weil er glaubte, dass sich diesen die Aufgabe stellte, die Wissenschaft und Kultur der »Alten«, also die römische antiquitas, sich aus eigener Anstrengung heraus unter den veränderten Voraussetzungen wieder 1 Cassiodori Senatoris Variae, Hrsg. Theodor Mommsen, in: Monumenta Germaniae Historica, Auctorum Antiquissimorum, Bd. XII, Berlin 1894, Buch III, Sekt. V (S. 81); Buch III, Sekt. LI (S. 138–139); Buch V, Sekt. V (S. 146–147). – Zu Cassiodor vgl. Heinz Löwe, Von Cassiodor zu Dante, Berlin: De Gruyter, 1973, das Kapitel »Cassiodor«, S. 11–32; Keno Backer, »Cassiodorus, Flavius Magnus Aurelius (Cassiodor)«, in; Der Neue Pauly Supplemente I Online – Bd. 2: Geschichte der antiken Texte: Autoren – und Werklexikon, Hrsg. Manfred Landfester, Brigitte Egger, online: http://dx.doi. org/10.1163/2452–3054_dnpo2_COM_0053 (aufgerufen am 8. Jan. 2018). – Vgl. zum Weiteren: Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung, München: Schöningh 1974 (mit ausf. Bibl.); Hans Steffen (Hrsg.), Aspekte der Modernität, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1965.

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anzueignen und für ihre Gegenwart erneut fruchtbar zu machen. Cassiodors Unterscheidung diente demnach keinesfalls dem Zweck, angesichts des Untergangs Roms und des Erstehens der neuen Germanenreiche nun auch eine Ablösung der antiken durch eine »neue« Kultur zu fordern. Ganz im Gegenteil: Cassiodor erblickte in seinen Zeitgenossen als Erben und Erneuerer der antiken Kultur sozusagen die »neuen Alten«, sein Begriff der »Modernität« bezog sich nicht etwa auf einen Bruch in der antiken kulturellen Tradition, sondern ausdrücklich auf deren ununterbrochene Kontinuität. In seinem persönlichen Wirken, nachdem er im Jahre 554 n. Chr. aus dem politischen Leben ausgeschieden war, verfolgte Cassiodor selber das von ihm aufgestellte zivilisatorische Programm. Er gründete in Kalabrien auf seinem ländlichen Besitz ein Kloster, Vivarium genannt. 2 Dort übersetzte er Schriften aus dem Griechischen ins Lateinische, und verfasste unter dem Titel Institutiones divinarum et saecularium litterarum – dieses Werk wurde im Mittelalter die Grundlage für das Studium der artes liberales – nicht nur einen Überblick über die antike Literatur, sondern hielt auch die Mönche in dem Kloster dazu an, Texte aus der Antike abzuschreiben. Alles wurde archiviert, die Originale und die Kopien, und so entstand unter Cassiodors Anleitung die erste nachrömische Bibliothek. In diesem Wirken Cassiodors liegt einer der Anfänge für die überaus bedeutsame Rolle der Klöster bei der Weitergabe des Wissens aus der Antike an das christliche Europa. Das ursprüngliche Verständnis von »Modernität«, wie es Cassiodor artikuliert hatte, ist in der Geschichte der westlichen Kultur nicht erhalten geblieben. Zwar ist die Begriffskonstellation »alt – modern« bis heute formal bewahrt worden, aber ihre inhaltliche Bedeutung hat sich genau in das Gegenteil dessen, was Cassiodor mit ihr ausdrücken wollte, verändert. Denn im heutigen Sprachgebrauch werden die Begriffe »alt« und »modern« vor allem dazu benützt, um eine grundsätzliche Differenz zwischen dem, was man »alt«, und dem, was man Vgl. Leo Teutsch, »Cassiodorus Senator, Gründer der Klosterbibliothek von Vivarium«, in: International Journal of Libraries and Information Studies, Bd. 9, Nr. 3, Jan. 1959, S. 215–239; Cassiodorus, Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, Hildesheim: Georg Olms, 2014, dort den Abschnitt »Leben und Werk« (S. 1–7), mit der Ausführung: »Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Cassiodor mit dieser Gründung einen sehr hohen Rang in der Geschichte der abendländischen Kultur errungen hat: Ohne Cassiodors Mönche in den Schreibstuben des Vivarium wäre die antike (auch pagane) Literatur grösstenteils verloren gegangen.« (S. 5 f.)

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»modern« nennt, anzuzeigen. So ist es im Allgemeinen üblich, zu sagen, dass etwas »Altes« von etwas »Modernem« abgelöst, überwunden, ersetzt, überholt, ja überflüssig gemacht worden sei. Wenn man sich daher fragt, »Was ist Modernität?«, so wird man nicht umhinkönnen, die ideengeschichtliche und kulturelle Entwicklung zu verfolgen, in der das ursprüngliche Verständnis von Modernität zu dem ihm diametral entgegengesetzten heutigen Verständnis »revolutioniert« worden ist. Denn unter der Voraussetzung der Cassiodor’schen Auffassung ist es nicht schwer, die gestellte Frage zu beantworten: das Moderne ist das wiedererworbene und erneuerte Alte. Eine Antwort wird jedoch schwieriger, wenn davon ausgegangen wird, dass das Moderne nicht in der Nachahmung, sondern in der Zurückweisung und darauf folgend der Ablösung des Alten geschaffen werden soll. Was ist dann eine Modernität, die sich nicht mehr durch ein Vorbild (als dessen Erneuerung sie erschiene), sondern allein noch durch sich selbst, als das schlechthinnig Neue, legitimiert? Die »Revolution« im Verständnis von Modernität, um die es hier also im Wesentlichen geht, spielte sich nicht plötzlich ab. Vielmehr verlief sie in mehreren Phasen, die sich über einige Jahrhunderte erstreckten. Sie begann im frühen Mittelalter und endete in der Aufklärung. Ihre Rekonstruktion wird dadurch beträchtlich erleichtert, dass sie sich in einer dramatischen Form ereignete. Denn vom 12. Jahrhundert an bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde in der europäischen république des lettres eine Debatte über das Problem der Modernität geführt, bei der sich unter den Teilnehmern die einen zu Fürsprechern der Alten, der antiquitas, die anderen zu Protagonisten des Neuen, der Modernität, machten. Dabei blieb es nicht aus, dass mit der Zeit die ersteren nun selber den Beinamen der »Alten« und die letzteren den Beinamen der »Neueren« erhielten. Auf diese Weise gab es dann in den einzelnen Phasen dieser Debatte – die im Folgenden nun rekonstruiert wird – jeweils die beiden Parteien der »Alten« und der »Neueren«, die miteinander darüber stritten, ob die eigentlichen antiqui – nämlich die Schriftsteller, Dichter und Philosophen der Antike – nachgeahmt oder zurückgewiesen, als Vorbild genommen oder besser vergessen werden sollten. Im 12. Jahrhundert wurde das Verhältnis zwischen der christlich-germanischen Kultur und der Antike noch nach dem Modell einer translatio studii aufgefasst. Wie die Kultur der Griechen von den Römern übernommen worden sei, so sei nunmehr das Erbe der römischen Kultur auf die Franken übergegangen. Zur gleichen Zeit 30 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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wurde aber auch in der Schule von Chartres (Bernhard von Chartres, Johannes von Salisbury, Thierry von Chartres, Wilhelm von Conches, Gilbert de la Porrée) 3 das Bild von den »Alten« als den »Riesen« erfunden, auf deren Schultern die »Neueren« wie »Zwerge« stünden. Während der nächsten Jahrhunderte wurde dieses Bild bevorzugt gebraucht, spiegelte es doch einerseits noch eine Hochachtung der »Neueren« gegenüber den »Alten« vor, obgleich es andererseits deutlich machte, dass die »Zwerge« auf den Schultern der »Riesen« von ihrer höheren Warte aus mehr als diese zu erkennen vermochten – ihnen also überlegen waren. In der Renaissance wurde dieses Überlegenheitsgefühl durch das Element der Geschichtsspekulation verstärkt. So ließ zum Beispiel François Rabelais, voll der Euphorie über die Entfaltung einer neuen humanistischen Kultur, in seinem Pantagruel (1532) von dem Riesen/Zwerg-Vergleich ab. Er stufte von vornherein seine Zeit in der Kulturgeschichte höher als jede frühere Epoche ein: »Die Zeiten waren noch dunkel und man spürte die Unglückseligkeit und das Missgeschick der Goten, die aller Literatur den Garaus gemacht hatten. Aber dank der göttlichen Güte ist der Literatur zu meiner Zeit wieder Licht und Würde zurückgegeben worden. Jetzt sind alle Disziplinen wiederhergestellt, die Sprachen neu eingeführt: Griechisch, ohne dessen Kenntnis sich niemand einen Gelehrten heißen dürfte, Hebräisch, Chaldäisch, Latein. Die ganze Welt ist voll von gelehrten Leuten, von kenntnisreichen Erziehern, von großen Bibliotheken, so dass es mir scheint, dass weder zur Zeit des Plato, noch zu der des Cicero, oder zu der des Papinian derartig gute Umstände zum Studieren vorhanden waren, wie man sie heutzutage wahrnimmt.« 4

Die »Modernen« hatten die Zeit als eine Verbündete in ihrem Wettstreit mit den »Alten« entdeckt. Einerseits gestanden sie zwar ein, dass die Antike noch von keiner der ihr bisher nachfolgenden Epo-

Zur »Schule von Chartres« vgl. Winthrop Wetherbee, The School of Chartres, in: Jorge J. E. Gracia, Timothy B. Noone (Hg.): A Companion to Philosophy in the Middle Ages, Blackwell, Malden (MA) 2007; Peter Ellard, The sacred cosmos: theological, philosophical and scientific conversations in the Twelfth-century school of Chartres, Scranton: University of Scranton Press 2007; Tilman Evers: Logos und Sophia. Das Königsportal und die Schule von Chartres, Kiel: Ludwig, 2011. 4 François Rabelais, Pantagruel (Kap. VIII), in: ders: Œuvres Complètes, Hrsg. Jacques Boulenger, Paris: Gallimard 1955, S. 226. Vgl. auch Louis Le Roy, De la vicissitude ou variété des choses en l’univers (1575), Selections with an Intr. by Blanchard W. Bates, Princeton: Princeton University Press, 1944, S. 45–47. 3

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chen übertreffen worden sei. Andererseits führten sie aber jetzt gegen die »Alten« das Argument an, dass aus der Summe aller, zu verschiedenen Zeiten gemachten Anstrengungen, es der Antike gleichzutun, schließlich so viel an Weisheit erlangt worden sei, wie es sie selbst nicht zuzeiten der »Alten« gegeben habe. Die Wahrheit, so hieß es nach der nunmehr gültigen Doktrin, sei die »Tochter der Zeit« (veritas filia temporis). Und so konnte denn auch Giordano Bruno in seinem Aschermittwochsmahl (La cena de le ceneri, 1584) erklären, dass nicht die »Alten«, sondern die »Modernen« die in Wirklichkeit »Älteren«, d. h. die »Weiseren« seien: »Prudenzio: Wie dem auch sei, ich für meinen Teil will mich an die Meinung der Alten halten; sagt doch der Weise: Bei den Alten ist die Weisheit. Teofilo: Und fügt hinzu: In vielen Jahren die Klugheit. Hättet Ihr das, was Ihr da sagt, richtig verstanden, so würdet Ihr einsehen, dass aus Eurem Grundsatz genau das Gegenteil von dem folgt, was Ihr meint, nämlich dass wir älter sind und mehr Jahre hinter uns haben als unsere Vorgänger, wenn es um gewisse Urteile geht, wie die in Frage stehenden. Das Urteil des Eudoxos, der kurz nach der Wiedergeburt der Astronomie lebte, wenn sie auch nicht erst durch ihn zum Leben erweckt wurde, konnte nicht so ausgereift sein wie das des Kalippos, der dreißig Jahre nach dem Tod Alexanders des Großen lebte und der mit der wachsenden Zahl der Jahre Beobachtung an Beobachtung reihen konnte. Aus eben diesem Grunde musste Hipparch mehr als Kalippos wissen; denn er sah die Veränderungen am Himmel, die bis zum 196. Jahr nach Alexanders Tod eintraten. Der römische Geometer Menelaos musste noch mehr davon verstehen als Hipparch, da er die Bewegungsunterschiede bis zum 462. Jahr nach Alexanders Tod wahrnahm. Mehr noch mußte Mahomet Aracensis 1202 Jahre später sehen. Noch mehr hat fast zu unserer Zeit Kopernikus 1849 Jahre danach gesehen.« 5

Giordano Bruno hatte sein Beispiel mit Bedacht gewählt. Im 16. Jahrhundert spielte sich in der Astronomie ebenso wie in der Physik, der Medizin, der Geographie oder der Architektur eine wissenschaftliche Revolution ab, bei der sich nach einem jahrhundertelangen Stillstand auf all diesen Gebieten nunmehr eine Entdeckung und eine Erfindung Giordano Bruno, La cena de le ceneri, Dialogo Primo, in: Opere di Giordano Bruno e di Tommaso Campanella, Hrsg. Augusto Guzzo, Romano Amerio, Mailand: Riccardo Ricciardi, 1956, S. 203 f. – Dt. Übers.: Giordano Bruno, Das Aschermittwochsmahl, Übers. Ferdinand Fellmann, Einl. Hans Blumenberg, Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1969, S. 79. – Vgl. auch zum Problembereich »Wahrheit und Zeit«: Samuel C. Chew, The Pilgrimage of Life, New Haven-London: Yale University Press, 1962, und Fritz Saxl, »Veritas Filia Temporis«, in: Philosophy and History, Hrsg. Raymond Klibansky, Herbert James Paton, New York: Oxford University Press, 1936, S. 197–222.

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an die andere reihte. Wer eine Überlegenheit der »Modernen« gegenüber den »Alten« beweisen wollte, konnte jetzt immer auf den revolutionären Aufschwung der modernen Naturwissenschaften und der daraus resultierenden Technologie verweisen. Zwar hatten die »Alten« zweifellos die Grundlagen für jene langwierigen Beobachtungen, Experimente und Berechnungen geschaffen, auf welche sich dieser Aufschwung stützte. Jetzt aber waren die »Modernen« bereit, ihre Überlegenheit nicht nur zu behaupten, sondern auch zu demonstrieren. 1566 kündigte Jean Bodin in seinem Methodus ad facilem historiarum cognitionem an, dass sie all jene Probleme lösen würden, welche die »Alten« unbewältigt hinterlassen hätten: »Aber die Alten, so sagt man, seien die Erfinder der Künste und Wissenschaften gewesen: dafür sei man ihnen zu Dank verpflichtet. Und sie haben ja auch wirklich sehr viel erforscht: und zwar besonders hinsichtlich der Wirksamkeit der himmlischen Dinge: einiges zur rechnerischen Bestimmung der planetarischen Kreisläufe, wenn auch nicht aller. Dann zeigten sie auch sorgfältig auf, was unverständlich an der Natur war und erklärten davon vieles auf genaue Weise. Doch sie haben auch sehr viel Unvollkommenes hinterlassen, das wir erst vollenden und solchermaßen unseren Nachfahren weiterreichen werden. Und wenn man die Sache genau betrachtet, kann niemand daran zweifeln, dass bei einem Vergleich zwischen unseren Erfindungen und Entdeckungen und denen der Alten eindeutig den unsrigen der Vorzug zu geben ist. So gibt es unter allen Dingen der Natur nichts Wunderbareres als den Magneten, und dennoch haben die Alten nichts von ihm und seinem Gebrauch verstanden: sie mussten sich auf das Mittelmeerbecken beschränken, während unsere Zeitgenossen jedes Jahr um die Welt herum segeln und eine Neue Welt besiedelt haben. Von der Methode, die Längengrade zu bestimmen, will ich gar nicht reden, auch nicht von den Katapulten und den Kriegswerkzeugen der Alten, die wie Kinderspielzeuge erscheinen, wenn man sie mit den unsrigen vergleicht. Ich will auch nicht von den unzähligen, für das menschliche Leben so wundervoll nützlichen Fertigkeiten reden, Metalle und Wolle zu verarbeiten. Die Buchdruckerkunst allein ist leicht so viel wert, wie alle Erfindungen der Alten zusammengenommen. 6

Solche Äußerungen »moderner« Selbstgefälligkeit blieben nicht unwidersprochen. In seinen Essais (1580) schrieb Montaigne: »Mich erfüllt das Neue mit Widerwillen, welches Antlitz es auch trage, und ich habe Grund dazu, denn ich habe aus ihm äußerst schädliche Wir-

Jean Bodin, Methodus ad facilem historiarum cognitionem, Amsterdam 1650, Nachdruck Aalen: Scientia Verlag, 1967, S. 322 f.

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kungen entstehen sehen.« 7 Unter den vielen seiner »modern« eingestellten Zeitgenossen gibt sich Montaigne als ein Anhänger althergebrachter Weisheit und bewährter Tradition zu erkennen. Allerdings bekümmerte ihn weniger der Aufschwung der Naturwissenschaften als vielmehr die davon angereizte und allgemein verbreitete Neuerungssucht, auch in geistigen und gesellschaftlichen Dingen alles verändern zu wollen. In den Naturwissenschaften war es üblich, eine neue Erfindung erst durch Versuche zu testen, bevor man sie endgültig anwandte. Bei der Gesellschaft von Menschen ließ sich diese Methode nicht verwenden. Daher glaubte Montaigne vor jenen warnen zu müssen, die voll der Begeisterung über »neue« Ideen sich selbst überschätzten und die möglichen Folgen ihrer Anmaßung vergaßen: »Es scheint mir, um es ganz frei zu sagen, dass man sehr viel Eitelkeit und Anmaßung besitzen muss, um seine Meinungen so hoch einzuschätzen, dass man ihrer Durchsetzung wegen bereit ist, im eigenen Land den öffentlichen Frieden zu vernichten und dermaßen viele unvermeidliche Übel und eine solche schreckliche Verwilderung der Sitten hervorzurufen, wie sie Bürgerkriege und Revolutionen herbeiführen.« 8

Aufgrund dermaßen voneinander abweichender Ansichten über das Erbe der Antike verschärfte sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts in der europäischen république des lettres der Konflikt zwischen den zwei Parteien der »Alten« und der »Modernen«. In der Mehrheit waren jene, die sich wie Bruno oder Bodin von den »Alten« lösen wollten; in der Minderheit waren diese, die wie Montaigne vor der überhandnehmenden Neuerungssucht warnten und sie gerade umgekehrt mit einer Neubelebung antiker Weisheit wieder besänftigen wollten. Auf beiden Seiten war man sich der Bedeutung der sich anbahnenden Auseinandersetzungen bewusst. Eine Loslösung von der »Weisheit« der »Alten«, an der man jahrhundertelang seine eigenen Erfahrungen, Überlegungen und Einsichten gemessen hatte, würde ein ungewöhnliches zivilisatorisches Experiment ermöglichen: sie würde den Menschen in Zukunft erlauben, ohne »Vergangenheit«, d. h. ohne gesellschaftliche Institutionen geschichtlich überlieferter Autorität zu leben. Jeder Generation stünde es jederzeit frei, den ursprünglichen Bruch mit der Überlieferung zu wiederholen und alles von der vorigen Generation Überkommene wieder abzuschaffen, um ja Michel de Montaigne, Essais, I, 23, in: Œuvres Complètes, Paris: Gallimard, 1962, S. 118. 8 Ebd. S. 119. 7

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sicher zu sein, dass sie all ihre Angelegenheiten auch allein aus sich heraus regelte. Und so wurde auf der einen Seite von Francis Bacon gefordert, dass endlich »jener Zauber alter Autoritäten« gebrochen werde, der »die Tatkraft der Nachbeter festbannend lähmte«. 9 Währenddessen zögerte man, wie Montaigne, auf der anderen Seite, eine »so schwere Bürde« auf sich zu nehmen: »Denn wer sich damit befasst, auszuwählen und zu ändern, maßt sich die Autorität an, über die Dinge zu urteilen und zu entscheiden, und muss sich anheischig machen, aufzuzeigen, dass das, was er verjagt, auch schlecht, und das, was er einführt, auch gut ist«. 10 Im 17. Jahrhundert brach die latente Auseinandersetzung zwischen den beiden Lagern offen aus. In England und vor allem in Frankreich entbrannte eine öffentliche Debatte, die in zahlreichen eigens dafür verfassten Abhandlungen, Pamphleten, Gedichten oder Predigten ausgefochten wurde, und in Frankreich schließlich am Ende des Jahrhunderts in einem letzten großen Streit, der später so benannten Querelle des Anciens et des Modernes kulminierte. 11 Am Anfang des Jahrhunderts trug Francis Bacon in seinem Novum Organum (1620) noch einmal die wichtigsten Argumente derer vor, die sich weigerten, in den »Alten« weiterhin ihre Vorbilder anzuerkennen. Dabei kümmerte er sich schon nicht mehr um Montaignes Warnung, von der unzweifelhaften Überlegenheit der »Modernen« gegenüber den »Alten« hinsichtlich der Erforschung der Natur doch nicht auf eine ebensolche Überlegenheit hinsichtlich der »menschlichen Angelegenheiten« überhaupt zu schließen: »Ferner hat das Ansehen der Alten und die Verehrung großer Namen in der Philosophie und daraus erfolgtes Nachbeten den Gang der Wissenschaft zurückgehalten und gleichsam festgebannt. Das günstige Vorurteil für die Alten ist aber ganz grundlos … Denn es gebührt dem späteren mündigen 9 Francis Bacon, Novum Organum (LXXXIV), S. 191. – Dt. Übers.: Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften (84), Übers. u. Hrsg. Anton Theobald Brück, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1962, S. 62. 10 Michel de Montaigne, Essais, I, 23, in: Œuvres Complètes, S. 120. 11 Vgl. zum Folgenden: Hippolyte Rigault, Histoire de la querelle des Anciens et des Modernes, in: Œuvres Complètes de H. Rigault, Bd. I, Paris: Hachette 1859; Hubert Gillot, La Querelle des anciens et des modernes en France, Nancy:Crépin, 1914; Hans Baron, The Querelle of the Ancients and the Moderns as a Problem for Renaissance Scholarship, in: Renaissance Essays, Hrsg. Paul Oskar Kristeller, Philip P. Wiener, New York: Harper & Row, 1968; Hans Robert Jauß, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1970, S. 11–66.

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Alter der Welt, also unsern und nicht jenen Jüngern Zeiten, worin die sogenannten Alten lebten, der Name des Altertums. In der Tat ist doch eine genauere Kenntnis menschlicher Angelegenheiten und ein reiferes Urteil von dem bejahrten Manne als von dem Jünglinge zu erwarten, weil jener mehr gesehen, gehört, gedacht und erfahren …« 12

In der Mitte des Jahrhunderts verfasste Blaise Pascal eine Schrift, die das Thema »Alte/Moderne« am subtilsten behandelt. Seine Vorrede zu einer Abhandlung über die Leere (Préface pour le Traité du Vide, 1647) ist ein Manifest der Modernität. 13 Pascal verficht zwar darin die These, dass an der Autorität der »Alten« nicht zu rütteln sei. Doch verwickelt er sich dabei in keinen Widerspruch. Denn er schlägt eine elegante Lösung für den Streit über die Autorität der »Alten« vor. Als »Moderner« lehnt er es ab, aus dem »Altertum« (antiquité) das »einzige Prinzip der Wissenschaften« 14 zu machen. Hingegen empfiehlt er auch, neben die Autorität der »Alten« noch als zweites Prinzip die Vernunft zu stellen. »In den Gebieten, wo man allein das wissen will, was die Autoren geschrieben haben, wie in der Geschichte, in der Geographie, in der Jurisprudenz, bei den Sprachen und besonders in der Theologie, und schließlich in all denen Gebieten, deren Prinzip entweder eine einfache Tatsache oder eine göttliche oder menschliche Institution ist, muss man notwendigerweise auf ihre Bücher zurückgehen, da alles das, was man davon wissen kann, in ihnen enthalten ist: von daher ist es evident, dass man dabei eine vollständige Kenntnis haben kann und dass es nicht möglich ist, noch irgendetwas hinzuzufügen.« 15

Bei jenen Gegenständen aber, die in den »Bereich der Sinne oder des diskursiven Denkens fielen«, verhielte es sich anders: »… da ist die Autorität unnütz, allein die Vernunft ist dabei Instrument der Erkenntnis … Daher müssen die Geometrie, die Rechenkunst, die Musik, die Physik, die Medizin, die Architektur und alle Wissenschaften, die der Erfahrung und dem logischen Denken unterworfen sind, fortentwickelt sein, um vollkommen zu werden. Die Alten haben sie erst in jenem Anfangsstadium vorgefunden, wie es von denen, die ihnen vorangegangen waren, eingeleitet worden war; und wir wiederum hinterlassen sie denen,

Francis Bacon, Novum Organum (LXXXIV), S. 190. – Dt. Übers. S. 62. Vgl. ihren Beginn in: Blaise Pascal: Œuvres Complètes, Paris: Gallimard, 1954, S. 529. 14 Ebd. S. 535. 15 Ebd. S. 530. 12 13

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die nach uns kommen, in einem weit mehr vollendeten Zustand, als wir sie empfangen haben.« 16

Nach dieser Aufteilung der Wissenschaften erübrigt sich jeder Streit über die Autorität der »Alten«. Auf der einen Seite versteht es sich von selbst, den »Alten« dort zu folgen, wo sie schon alles gesagt haben und folglich nichts mehr hinzuzufügen ist. Auf der anderen Seite wäre es widersinnig, eine Überlegenheit der »Modernen« dort zu leugnen, wo die »Alten« erst die Anfänger waren, die »Modernen« dagegen die Nutznießer von Kenntnissen und Fertigkeiten sind, die über eine lange Zeit hinweg angesammelt beziehungsweise verfeinert wurden. Pascal ruft denn seine Zeitgenossen dazu auf, ihre »Leichtgläubigkeit« gegenüber den »Alten« zu mäßigen. 17 Pascals Lösung beruht aber nicht allein auf diesem Kompromiss, der den »Alten« etwas Respekt seitens der »Modernen« und den »Modernen« ihre Selbständigkeit gegenüber den »Alten« belässt. Sie hängt überdies von einer grundsätzlichen Ungleichheit zwischen »Alten« und »Modernen« ab. Pascal ließ sich ja gar nicht auf die Frage ein, ob in der Zeitspanne zwischen dem Altertum und der Gegenwart, in der er lebt, auch ein kontinuierlicher Fortschritt in den Wissenschaften allgemein zu verzeichnen sei. Vielmehr teilte er die Wissenschaften von vornherein in recht parteiischer Weise auf: den »Alten« überließ er jene, in denen (wie er sagt) überhaupt kein Fortschritt mehr zu machen sei, für die »Modernen« beanspruchte er dagegen diese, deren Logik geradezu im Fortschritt liegt. Von Pascals Position aus war es daher irrelevant, »Alte« und »Moderne« miteinander vergleichen zu wollen, hatte er doch ihr Verhältnis so bestimmt, dass die »Modernen« auf »ihren« Gebieten den »Alten« a priori überlegen waren. Vergleiche boten sich folglich nur zwischen einer früheren und der jeweils gegenwärtigen, d. h. höchsten Stufe in der Entwicklung »moderner« Wissenschaften wie der Physik, der Chemie oder der Medizin an. Pascals Untersuchung über die Autorität der »Alten« endet in einem raffinierten Fortschrittsglauben. Am Anfang, so sagte er, wollte er die Autorität der »Alten« retten, und am Schluss machte er sie überflüssig, indem er als Kriterium für die Qualität »moderner« Wissenschaften allein das Quantum ihrer »Fortschritte« einführte. Und so zögerte er zuletzt auch nicht, diese willkürlich hergestellte

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Ebd. S. 530 f. Ebd. S. 531 f.

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Korrespondenz von »Fortschritt« und »Modernität« zum allgemeinen Prinzip der menschlichen Geschichte zu erheben: »Der Mensch ist allein für die Unendlichkeit geschaffen. In seinem ersten Lebensalter befindet er sich in der Unwissenheit; aber bei dem Fortschritt, den er im Leben macht, wird er fortwährend kenntnisreicher (il s’instruit sans cesse dans son progrès): denn es gereicht ihm nicht nur seine eigene Erfahrung zum Vorteil, sondern auch die seiner Vorgänger, weil er in seinem Gedächtnis all die Kenntnisse bewahrt, die er sich einmal erworben hat. Und da er diese Kenntnisse erhält, kann er sie auch leicht vermehren; auf diese Weise sind die Menschen heutzutage gewissermaßen in demjenigen Zustand, in dem sich diese alten Philosophen befänden, wenn sie bis jetzt hätten weiterleben können. Daraus folgt, dass nicht nur jeder der Menschen in den Wissenschaften tagtäglich Fortschritte macht, sondern dass alle Menschen zusammen in dem Maße einen kontinuierlichen Fortschritt (progrès) erzielen wie das Universum älter wird. Dies geschieht auf solch eine Weise, dass die Sukzession der Menschen (suite des hommes), im Verlauf von so vielen Jahrhunderten, betrachtet werden muss wie ein einziger Mensch, der immer weiter existiert und fortwährend hinzulernt: woraus zu ersehen ist, mit wieviel Ungerechtigkeit wir das Altertum in seinen Philosophen respektieren: denn das Alter ist doch dasjenige Lebensalter, das am weitesten von der Kindheit entfernt ist, wer sieht da nicht, dass bei diesem universellen Menschen (homme universel) das Alter nicht in den Zeiten gesucht werden darf, die nahe seiner Geburt sind, sondern in jenen Zeiten, die von dieser am weitesten entfernt sind?« 18

Am Ende des 17. Jahrhunderts sagten sich die »Modernen« endgültig von den »Alten« los. Im Laufe des Jahrhunderts war nicht allein ihre bloße Neigung zu »Neuerungen« angewachsen, vielmehr war zudem von ihrer Seite aus eine allgemeine Umwälzung in den Künsten und Wissenschaften eingeleitet und zum Teil auch vollbracht worden. 19 So hatten Thomas Hobbes oder René Descartes zum Beispiel nicht mehr alle ihre Werke in Latein, der traditionellen Philosophensprache, verfasst. Einige ihrer Bücher hatten sie in ihren NationalEbd. S. 533 f. – Das Neuartige bei Pascal ist die historische Dimension, in die er seinen Vergleich des ganzen menschlichen Geschlechts mit einem homme universel hineinstellt. Der Vergleich selber – ohne geschichtliche Ausdehnung – ist schon älter. Vgl. Pietro Pomponazzi: De immortalitate animae (1516), Hrsg. Giovanni Gentile, Messina-Rom: Principato, 1925, S. 87. 19 Vgl. z. B. die 625. Maxime von La Rochefoucauld in: Œuvres Complètes, Paris: Gallimard, 1957, S. 499 (»Il y a une révolution générale qui change le goût des esprits, aussi bien que les fortunes du monde.«) oder Voltaire: Le Siècle de Louis XIV (1751), Paris 1962, S. 6, wo Voltaire in der Charakterisierung seiner Zeit wie La Rochefoucauld von einer »révolution générale« spricht. 18

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sprachen geschrieben und so demonstriert, dass nunmehr selbst das abstrakte Räsonnieren gelehrter Geister in den »neueren« Sprachen ausgedrückt und dabei auf die Sprache der »Alten« folglich verzichtet werden konnte. Als Hobbes seine politische Theorie konzipierte, verwarf er zuerst die des Aristoteles. Er lehnte es ab, noch länger Paradigmen politischen Handelns aus der Perspektive der Klugheit, der phronesis, zu entwickeln. Stattdessen wollte er als erster eine exakte, nach geometrischer Art beweisbare Theorie der Politik entwerfen. 20 Als Descartes auf eine gänzlich neue Methode philosophischer Erkenntnis sann, wies er vorher alle ihm bekannten Erkenntnislehren von sich. Er wollte die Gesetze des Denkens allein in der Selbstanschauung des Ich auffinden. 21 Als Newton seine Regeln zur Erforschung der Natur aufstellte, entsagte er der hierarchisch gegliederten Mannigfaltigkeit früherer Kosmologien. Stattdessen sprach er von einem »System der Welt«, für dessen Erklärung er nur noch die Mathematik zuließ und dessen »Erfinder« er folglich auch dafür belobigte, dass er »in der Mechanik und Geometrie sehr gut bewandert« sei. 22 Die Voraussetzungen, unter denen die allgemeine Auseinandersetzung über das Erbe der Antike geführt wurde, hatten sich so gegen Ende des 17. Jahrhunderts erheblich verändert. Zum einen konnten die »Modernen« jetzt eine ausgearbeitete Doktrin über einen angeblich beständigen Fortschritt der Menschheit zu immer höheren Stufen einer sich vervollkommnenden wissenschaftlich-technischen Zivilisation vorweisen. Pascal hatte ferner diese Doktrin in das einprägsame Symbol von dem homme universel gefasst, das einem seinerseits zu der Vorstellung verhalf, dass das bloße Verstreichen der Zeit schon eine Abnahme an Infantilität und eine Zunahme an Altersweisheit mit sich bringe. Zum zweiten hatten die »Modernen« in der Tat schon durch die von ihnen betriebene wissenschaftliche Revolution die Vgl. Thomas Hobbes, Behemoth, in: The English Works of Thomas Hobbes, Hrsg. William Molesworth, Bd. VI, London: J. Bohn, 1840, S. 200; Thomas Hobbes De corpore. Ep. Ded., in: The English Works, Bd. I, London 1839, S. IX, 36–37, 45; Thomas Hobbes, Vom Menschen – Vom Bürger, Hrsg. Günter Gawlick, Hamburg: Meiner, 11959, 21966, S. 19 f., 61 f., 67 f., 105, 218, 287. 21 René Descartes: Discours de la Méthode. Texte et Commentaire, Hrsg. Etienne Gilson, Paris: Vrin 1947, S. 4 f., 15 f., 18, 21. 22 Four Letters from Sir Isaac Newton to Doctor Bentley containing some Arguments in Proof of a Deity, 1. Brief, in: Isaac Newton’s Papers and Letters on Natural Philosophy and Related Documents, Hrsg. Bernard I. Cohen, Robert E. Schofield, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, S. 286 f. 20

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Grundlagen für eine »moderne« Zivilisation geschaffen. Eine Auseinandersetzung mit der Weisheit der »Alten« wurde in dem Maße überflüssig, wie sich die nuova scienza der »Modernen« durchsetzte. So befand sich Europa schon an der Schwelle zur Modernität, als zum letzten Mal ein Disput über das Erbe der Antike, die Querelle des Anciens et des Modernes in Frankreich ausbrach. Dieser Streit entzündete sich an der Frage, inwieweit das »Zeitalter Ludwigs XIV.« den klassischen Zeitaltern des Altertums, dem augusteischen zum Beispiel, ebenbürtig sei. Nach der traditionellen Theorie der schönen Künste hatten ein Corneille und ein La Fontaine, ein Molière und ein Racine in der Literatur, ein Nicolas Poussin und ein Charles Le Brun in der Malerei, ein Claude Perrault und ein Jules Hardouin-Mansard in der Architektur deshalb Meisterwerke geschaffen, weil sie sich die Kunst der »Alten« zum Vorbild genommen und sie »nachgeahmt« hatten. Diese Erklärung wurde aber umso fadenscheiniger, je mehr sich die Kultur des französischen âge classique entfaltete und ihrerseits von ganz Europa allmählich nachgeahmt wurde. Viele der Zeitgenossen waren nicht mehr so recht überzeugt, dass sie bloß das Werk von Imitatoren sein solle. In der Öffentlichkeit hatten es aber bisher nur wenige gewagt, von der offiziellen Kunstdoktrin abzugehen und das eigene Verdienst und Können der zeitgenössischen Dichter, Maler und Baumeister hervorzuheben. Der große Eklat ereignete sich am 27. Januar 1687, als Charles Perrault (1628–1703), Schriftsteller und Märchensammler, bei einer Sitzung der Académie Française ein Gedicht über Le Siècle de Louis le Grand verlas, in dessen ersten Vers er das gegenwärtige Jahrhundert für ebenbürtig mit der klassischen Antike erklärte: »La belle Antiquité fut toujours venerable; Mais je ne crus jamais qu’elle fut adorable. Je voy les Anciens sans plier les genoux, Ils sont grands, il est vray, mais hommes comme nous; Et l’on peut comparer sans craindre d’estre injuste, Le Siècle de Louis au beau Siècle d’Auguste.« 23 »Das herrliche Altertum war immer verehrungswürdig; Aber ich glaubte nie, es sei anbetungswürdig. Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences, Paris 1688–97, Repr. München 1964, S. 165. Vgl. zur »Querelle«: Petra Latschenberger, Versailles als Gipfel der bildenden Künste? Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes, Dipl. Arbeit, Universität Wien 2013.

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Ich betrachte die Alten, ohne die Knie zu beugen, Sie sind groß, das ist wahr, aber Menschen wie wir; Und man kann, ohne befürchten zu müssen, ungerecht zu sein, Das Zeitalter von Ludwig mit dem großartigen Zeitalter von Augustus vergleichen.«

Mit diesem öffentlichen Verstoß gegen die tabuisierte Ehrwürdigkeit der Antike entfachte Perrault die Querelle. Die literarische Welt in Frankreich spaltete sich auf in zwei sich heftig befehdende Parteien. Auf der einen Seite befanden sich die Anhänger der Antike, die sogenannten Anciens, zu denen Nicolas Boileau, Jean de La Bruyère und Jean de La Fontaine zählten; auf der anderen Seite schlossen sich die Befürworter des Neuen, die sogenannten Modernes, wie Perrault, Charles de Saint Evremond und Bernard le Bovier de Fontenelle zusammen. Die Querelle, in Schmähschriften, Diskursen, Spottgedichten ausgefochten, dauerte bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts an. Ihr förmliches Ende fand sie mit der in vermittelnder Absicht geschriebenen Lettre à l’Académie (1714) von François Fénelon. Darin drückte dieser einerseits seinen Wunsch aus, dass die »Modernen« doch die »Alten« überrunden möchten. Andererseits gestand er damit auch ein, dass dies noch nicht geschehen war, folglich die »Alten« von den »Modernen« nicht gänzlich vernachlässigt werden sollten. 24 Bis heute ist in der europäischen Kulturgeschichte auf die Querelle keine ähnliche Auseinandersetzung mehr über das antike Erbe gefolgt. Von Cassiodor bis zur Querelle war immer wieder die jeweilige »Gegenwart« in Beziehung zum »Altertum« gesetzt worden, auch wenn sich die jeweiligen »Modernen« immer weniger damit begnügten, sich die antiquitas bloß anzueignen, und seit der Renaissance schließlich dazu übergingen, aufgrund neuer Ideen eine neuzeitliche Zivilisation zu schaffen. Diese wissenschaftliche (und folglich soziale) Revolution wurde gegen die »Alten« in der Absicht betrieben, die von ihnen herstammende Überlieferung durch die nuova scienca der »Modernen« zu ersetzen. Der entscheidende Akt dieser Revolution spielte sich im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, in jener Epoche ab, der Paul Hazard den Titel La crise de la conscience européenne gegeben hat. 25 In den wichtigsten Bereichen menschVgl. die Lettre à l’Académie (Kap. X: »Sur les Anciens et sur les Modernes«), Ed. crit. par Ernesta Caldarini, Genf: Librairie Droz, 1970, S. 122–134. 25 Siehe: Paul Hazard, La Crise de la conscience européenne: 1680–1715, Paris: Boivin & Cie, 1934 (Neudruck: Paris: Fayard, 1961). 24

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lichen Denkens setzten sich die Neuerungen der »Modernen« durch, Europa begann in der »Moderne« zu leben. Die Querelle blieb die letzte ihrer Art, weil jeder Streit über eine antiquitas müßig war, die von einer »Moderne« erfolgreich verdrängt worden war. Jetzt, im 18. Jahrhundert, verbreiteten aufklärerische philosophes eine neue Anthropologie, neue Lehren über die Erkenntnis, die Gesellschaft, die Geschichte. Vom Menschen wurde nicht mehr wie im Christentum gesagt, dieser sei Gottes Geschöpf; vielmehr verkündete Étienne Bonnot de Condillac die Doktrin, dass der Mensch sich selbst erzeuge und aus sich selbst existiere. 26 Die krankhafte Selbstsucht wurde zum natürlichen Selbstinteresse uminterpretiert, statt der christlichen Begriffe béatitude und charité wurden die säkularen Begriffe bonheur und bienveillance eingeführt. Die Mythen kosmologischer Welterfahrung wurden einer géométrisation de l’univers (Yves Belaval) geopfert und von aufgeklärten Geistern nur mehr als hübsch verbrämte Klatschgeschichten belächelt. 27 Statt der christlichen Interpretation der Welt als eines Werkes Gottes wurde die Vorstellung von der Welt als einer leblosen Maschine entworfen, die vom Menschen beliebig manipulierbar sei. Nach der klassischen wie christlichen Tradition sollte die Gesellschaft der Menschen ein Abbild der göttlichen Ordnung im Kosmos sein. Jetzt wurde sie als Artefakt konzipiert, dessen »Wahrheit« sich erst bei seiner Verwirklichung herausstellen sollte. Zwar stellten Jacques Benigne Bossuet und Giambattista Vico noch einmal den Prozess der Geschichte aus der Perspektive der göttlichen providentia dar. Aber sie wurden von einem Fontenelle, einem Voltaire übertönt, die jetzt die Geschichte vom Standpunkt ihres Fortschrittsglaubens aus interpretierten, um so eine der Welt immanente histoire de l’histoire aufzufinden. 28 Aus dieser epochalen Umwendung des europäischen Denkens hin zur Modernität ist jene Bewusstseinsform der Moderne hervorgegangen, die sich am nachhaltigsten ausgewirkt hat. Von jetzt ab war es für einen »Modernen« selbstverständlich, seine philosophie nouvelle (Condorcet) mit den Indices »wahr«, »rational«, »wissenschaftVgl. zum Folgenden Tilo Schabert, Natur und Revolution. Untersuchungen zum politischen Denken im Frankreich des 18. Jahrhunderts, München: List, 1969. 27 Vgl. Frank E. Manuel, The Eighteenth Century Confronts the Gods, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1959. 28 Bernard le Bovier de Fontenelle, Digression sur les Anciens et les Modernes, in: ders.: Œuvres Complètes, Hrsg. Georg Bernhard Depping, Bd. II, 2. Teil, Paris: Belin, 1818, Repr. Genf: Slatkine, 1968, S. 356 f. 26

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lich«, den vor-modernen Wissensbestand dagegen mit den Indices »irrig«, »widersinnig«, »illusorisch« zu versehen. Aus seiner Sicht kam die radikale Abkehr von aller geistigen Überlieferung ja nicht etwa einem Verlust an Wissen, sondern vielmehr einer Überwindung und Ausmerzung von Irrtümern und Vorurteilen gleich. So schrieb Fontenelle: »Wir sind den Alten dafür Dank schuldig. dass sie für uns den größten Teil der falschen Meinungen erschöpft haben, die man sich machen konnte; es war absolut notwendig, dem Irrtum und der Unwissenheit den Tribut zu zahlen, den sie entrichtet haben, und wir dürfen es nicht an Anerkennung gegenüber jenen fehlen lassen, die uns von dieser Schuld frei gemacht haben.« 29

Fontenelles Selbstverständnis nach konnte also der »Moderne« überhaupt nicht mehr grundsätzlich irren. Denn die historische Differenz zwischen »Vergangenheit« und »Modernität« legte jener zugleich als eine wissenslogische Differenz zwischen der Suche nach Wahrheit und dem Besitz von Wahrheit aus. Und so fuhr Fontenelle fort: »Schließlich herrscht nicht nur in unseren guten Büchern von der Physik, der Metaphysik, sondern auch in denen von der Religion, der Moral, der Kritik, eine solche Genauigkeit und Richtigkeit, wie sie bisher überhaupt nicht bekannt gewesen ist. Den Vergleich, den wir zwischen allen Menschen aller Zeiten und einem einzigen Menschen anstellen, kann auch auf unser Problem von den Alten und den Modernen ausgedehnt werden. Ein guter, kultivierter Kopf ist, so kann man sagen, aus allen Köpfen der vorigen Zeiten zusammengesetzt; es handelt sich dabei um den einen Geist, der sich über die ganze Zeit hinweg ausgebildet und verfeinert hat. So hat dieser Mensch, der seit dem Anfang der Welt bis jetzt gelebt hat, seine Kindheit gehabt, wo er sich nur den dringendsten Bedürfnissen seines Lebens gewidmet hat; er hat seine Jugend gehabt, wo er es zu Erfolgen in den Dingen brachte, bei denen es auf die Einbildungskraft ankommt, wie bei der Poesie und der Redekunst, und wo er sogar angefangen hat, vernünftig zu denken, wenn auch mit mehr Begeisterung als Gründlichkeit. Jetzt befindet er sich im Mannesalter, wo er mit mehr Kraft überlegt und über eine größere Verstandeshelle verfügt als jemals zuvor: aber er wäre noch viel weiter vorangeschritten, wenn ihn nicht die Leidenschaft des Krieges so lange gefangen gehalten hätte und ihn nicht mit so viel Verachtung für die Wissenschaften erfüllt hätte, zu denen er jetzt endlich gelangt ist.« 30

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Ebd. S. 358. Ebd. S. 361 f.

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Von seiner Genesis her sind so in das »moderne« Denken zwei Imperative eingeflossen. Der eine gebot, grundsätzlich von einem Wahrheitsgefälle zwischen »Moderne« und »Vergangenheit« auszugehen. Der neueste Stand wissenschaftlicher Entwicklung sollte auch immer der höchste und folglich die Legitimation dafür sein, ältere Ergebnisse wissenschaftlicher Bemühungen nur mehr als Präliminarien abzutun. Konsequenterweise hielt der zweite Imperativ dazu an, die wissenslogische Differenz zwischen einem jetzigen Höchstmaß an Einsicht und einem früheren Gewirr falscher Meinungen aufrechtzuerhalten. Ein Rückfall in die scheinbare Ignoranz früherer Zeiten konnte aber am besten vermieden werden, indem man jeden Rückgang auf vor-moderne Wissensbestände methodisch abriegelte. In seiner Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1793) bemerkt so Condorcet, dass die sensualistische Erkenntnismethode sehr bald nach ihrer Einführung durch John Locke von allen Philosophen übernommen, auf die Moral, die Politik und die öffentliche Ökonomie angewandt und schließlich zu einem »universellen Instrument« für die Vervollkommnung aller Wissenschaften entwickelt worden sei. »Und eben dieser letzte Schritt der Philosophie«, so erklärt Condorcet weiter, »hat in einer bestimmten Weise eine ewige Barriere zwischen dem Menschengeschlecht und den alten Irrtümern seiner Kindheit aufgerichtet; und sie wird es daran hindern, jemals wieder durch neue Vorurteile in seine alte Unwissenheit zurückzufallen.« 31 Der Imperativ, Du sollst als »Moderner« allem Vergangenen überlegen sein, führte so zu dem Verbot, die »Barriere« zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu überschreiten. Er schloss jeden Versuch eines Rückgriffs auf das vor-moderne Denken von vornherein aus. Die Ignoranz, die in früheren Zeiten geherrscht haben sollte und jetzt überwunden sei, sollte sich keinesfalls mehr ausbreiten dürfen. Folglich musste in der Ära der »Modernen«, wie Victor Cousin in seinem Cours de l’histoire de la philosophie (1841) verkündete, alles das ignoriert werden, was früher einmal gewusst wurde: »Von Bacon und Leibniz abgesehen, haben alle großen Philosophen der neuen Ära (ère nouvelle), Descartes, Spinoza und Malebranche, Hobbes und Locke, nicht die geringste Kenntnis von der Antike und hegen ihr ge-

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Condorcet, Esquisse d’un tableau historique de l’esprit humain, S. 212 f.

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genüber nicht die geringste Achtung; sie lesen kaum in etwas anderem als in der Natur und dem Geiste.« 32

Cousins Idee einer »Moderne« hat mit der ursprünglichen, von Cassiodor eingeführten, nichts mehr außer den Namen gemein. So zielstrebig sich damals Cassiodor, nach dem Untergang Roms, für eine Wiederaneignung der antiquitas durch die moderni im Sinne einer translatio studii einsetzte, so kategorisch verwirft jetzt Cousin alles Wissen, das nicht der exklusiven Denkungsart »moderner« philosophes entsprang, und erklärt es zum Opfer einer offen zur Schau getragenen a-historischen Ignoranz. 33 Die Geschichte dieses Bedeutungswandels habe ich in den vorangegangenen Passagen skizziert. Bei der Analyse einschlägiger Texte schälten sich dabei wesentliche Elemente jener »modernen«, nämlich grundsätzlich auf Widerspruch eingestellten Bewusstseinsform heraus, wie sie sich in der Renaissance ausgebildet hat, beim Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert im europäischen Denken allgemein durchsetzte und seither dieses Zeitalter beherrscht, das wir nach ihr die »Moderne« nennen. Diese Elemente lassen sich wie folgt systematisch ordnen: 1. Alle Überlieferung wird dem Urteil der Gegenwart unterworfen. »Ältere« Lehren, Vorstellungen oder Theorien werden bloß als »Vorläufer« aktueller Überlegungen eingestuft. Sie gelten nicht als Vorbilder, denen man nachstrebt. Vielmehr sind sie Gegenstand jener Kritik, durch die sich das gegenwärtige Bewusstsein schärft. Ausgenommen von der Kritik ist allein das Prinzip einer in der Zukunft sich erfüllenden Vervollkommnung menschlicher Dinge: der Wissenschaften, der politischen Institutionen, der individuellen Lebensumstände. Zwischen einer Vergangenheit, der man sich überlegen fühlt, und einer Zukunft, die man zu kennen vorgibt, wird nicht mehr die Frage gestellt, ob eine einzelne Handlung hier und jetzt richtig oder falsch, human oder inhuman, von ihren möglichen Auswirkungen her anzuraten oder abzulehnen sei. Dafür werden ausschließlich fortschrittsimmanente Kriterien angelegt: jede Tätigkeit gilt für gerechtfertigt, wenn sie etwas »Älteres« durch etwas »Neueres« ersetzt. Jeder Erwägung über den Nutzen und die Folgen einer Handlung geht ein Vor-Urteil über ihre »Progressivität« voraus. Victor Cousin, Cours de l’histoire de la philosophie, Bd. 1, Paris: Didier, 1841, S. 400. 33 Vgl. Francis Bacon, Novum Organum (XCVII), S. 201. 32

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2. Die Einteilung der Wissenschaften wird revolutioniert. Die Philosophie verliert ihre Stellung als Integrationswissenschaft, innerhalb derer nach dem Nutzen und den Aufgaben jeder Einzelwissenschaft sowie nach dem Sinn wissenschaftlicher Betätigung überhaupt gefragt wird. Die Wissenschaften werden dafür in »Natur«-Wissenschaften einerseits und »Human«- bzw. »Geistes«- oder »Sozial«-wissenschaften andererseits aufgespalten. Dabei nehmen die Naturwissenschaften im Bewusstsein der »Modernen« eine paradigmatische Stellung ein. Auf sie wird verwiesen, wenn das Prinzip der linearen Vervollkommnung menschlicher Dinge, d. h. die grundsätzliche Überlegenheit des jeweilig »Neueren« gegenüber dem jeweilig »Älteren« demonstriert werden soll. Jede Innovation im naturwissenschaftlichtechnischen Bereich wird unkritisch akzeptiert und ungeachtet der Möglichkeit schädlicher Auswirkungen als ein weiterer Schritt zur Beherrschung der Natur und zur Verbesserung der menschlichen Lebensumstände aufgefasst. Die Humanwissenschaften dagegen werden am Modell der Naturwissenschaften gemessen und, obwohl sie sich quantitativen Methoden weitgehend entziehen, dem Vorwurf ausgesetzt, nicht ebenso »exakt« und instrumental »anwendbar« zu sein. 3. Der Bruch mit »früheren« Vorbildern, Autoritäten, Regeln, kodifizierten Verhaltensformen und gebräuchlichen Stilarten wird stets von neuem wiederholt. Die geschichtliche Überlieferung wird nicht herangezogen, um die eigene, gegenwärtige Erfahrungsbasis zu erweitern. Dagegen ist man stets zu der Anmaßung geneigt, die Zerstörung, die Vernachlässigung »alter« Dinge (auch wenn sie nur eine Generation »alt« sind) unter dem Vorwand zuzulassen, sie seien sowieso nicht mehr »modern«. 4. Eine orientierungslose Neuerungssucht beherrscht die Geister. In einem waste land permanenter Zerwürfnisse und Sezessionen, Revolten und Brüche wird der Widerspruch zur obligatorischen Geste, und als Zeichen des Neuen gilt schon der bloße Protest. Dort ist jedermann »originell«, ein Genie und Kritiker, Makler, Propagandist, Verkäufer, Darsteller und Exeget seiner Werke zugleich. Allen gemeinsam ist allein die Autonomie, neben die eine Theorie eine andere, neben die eine Definition eine gegensätzliche, neben etwas Neues etwas noch Neueres zu stellen. Versuche, diese Fragmentarisierung der menschlichen Welt zu überwinden, verfallen dem Verdacht, wieder eine Ordnung aufzurichten, wo die Revolte regiert, und wieder eine Tradition gemeinsamer Überzeugungen, gemeinsamer Symbole zu begründen, wo jede Überlieferung verfemt ist. 46 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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5. Wahrheit wird historisiert. Die These, dass die Wahrheit eine Tochter der Zeit sei, ist für die Modernen ein Aufruf zur Arroganz. Die Vergangenheit sei bloß Vorbereitung der Gegenwart, wer jetzt lebt, sei an sich schon allen Gestrigen überlegen, da er in der Zeit und daher im Wissen von Wahrheit weiter fortgeschritten sei. Der »Moderne« ist der »Progressive«, alleiniges Kriterium von Wahrheit ist für ihn die Korrespondenz von »Fortschritt« und »Modernität«. So genügt eine zeitliche Distanz, um »moderner« und folglich »wissender« zu sein, oder »wissender« ist, wer sich für noch »moderner« als andere und diese zu »Gestrigen« erklärt. Das Experiment der »Moderne« ist so nicht allein aufgrund seiner Auswirkungen fragwürdig geworden. Es unterlag ihm von Anfang an das Prinzip einer ziellosen Dynamik, der zufolge es nie zu einem Abschluss gebracht werden kann. Die Krise der »Moderne« währt, seit es eine »Moderne« gibt. Noch nie zuvor war in einer menschlichen Zivilisation ein neues Zeitalter unter der Idee eingeleitet worden, dass das »Neuere« auch immer das »Bessere« und nichts »besser« als jeweils immer das »Neueste« sei. Erst im Europa der sich anbahnenden »Moderne« wurden der Widerspruch, die Auflösung, die Negation, die Überheblichkeit aus Ignoranz zu den Voraussetzungen einer Vervollkommnung aller menschlichen Dinge erklärt. Voll der Vorstellung, dass man »modern« sei, verlor man die Orientierung, entfaltete zwar eine ungeheure Macht, missbrauchte sie aber gegen den Menschen und seine Welt. Jedermann drängte sich vor an die Schwelle zur Modernität und niemandem gelang es, sie zu überschreiten. Wenn sich der eine für »progressiv« ausgab, fand sich sofort ein anderer, der noch »progressiver« war; wurde eine neue Einsicht mitgeteilt, wurde sie augenblicklich wieder verneint; wurde ein neuer Stil geschaffen, wurde er gleich wieder »überwunden«. Die »Moderne« ist in der Tat ein Experiment. Sie ist ein Versuch, der nicht gelingen darf und deswegen eine Kontinuität allein in dem von ihm unter den Menschen hervorgerufenen Gefühl besitzt, eine zivilisatorische Krise, eine Zeit der Katastrophen, das Ende einer Epoche zu erleben.

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Kapitel 3 Diskurs über die Methode

Man darf nicht jedem glauben, denn jeder kann sagen, was er will. Montaigne, Essais, Buch II, Kap. XII (Apologie de Raimond Sebond) Verständiges Denken ist höchste Vollkommenheit, und die Weisheit ist, Wahres zu sagen und zu tun, nach dem Wesen der Dinge, auf sie hinhorchend. Heraklit, 22B112

Jedes Experiment ist Mittel einer Demonstration. Eine Hypothese soll überprüft, eine Erfindung erprobt werden; man möchte die besten Methoden herausfinden, um bestimmte Vorhaben, Projekte ausführen zu können. Im Falle der Moderne dient das Experiment einem überaus komplizierten Zweck. Der moderne Mensch geht das Wagnis ein, sich eine Existenz im Chaos einzurichten. Er baut auf, um wieder einzureißen; er bejaht etwas, um etwas leugnen zu können; er bringt zusammen, was er wieder auflöst. Wie aber erzeugt man das Chaos und erhält es und existiert darin? Wer nach den Prinzipien forscht, die den künstlerischen oder literarischen Manifestationen der Moderne zugrunde liegen, stößt auf ein komplexes Netz von Theoremen über das Chaos. Aus seinen Studien zur Struktur der modernen Lyrik folgerte Hugo Friedrich beispielsweise: »Wie in der modernen Malerei das autonom gewordene Farben- und Formengefüge alles Gegenständliche verschiebt oder völlig beseitigt, um nur sich selbst zu erfüllen, so kann in der Lyrik das autonome Bewegungsgefüge der Sprache, das Bedürfnis nach sinnfreien Klangfolgen und Intensitätskurven bewirken, dass das Gedicht überhaupt nicht mehr von seinen Aussageinhalten her zu verstehen ist. Denn sein eigentlicher Gehalt liegt in der Dramatik der äußeren wie inneren Formkräfte.« 1 Nach Friedrich eignen sich zur 1 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg: Rowohlt 1956, S. 12.

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Beschreibung der europäischen Lyrik seit Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud und Stéphane Mallarmé am besten Begriffe wie: Desorientierung, Auflösung des Geläufigen, eingebüßte Ordnung, Inkohärenz, Fragmentarismus, entpoetisierte Poesie, Zerstörungsblitze, schneidende Bilder, brutale Plötzlichkeit, Dislokation, astigmatische Sehweise, Verfremdung. 2 Offensichtlich zeichnet sich die Moderne nicht durch einen für sie typischen Stil, sondern durch ausgefeilte Techniken und Methoden zur Erzeugung des Chaos aus. In dem vorangegangenen Kapitel wurde dargestellt, wie sich die moderne Geisteshaltung historisch ausgebildet hat und welches ihre wesentlichsten Elemente sind. Im Folgenden sollen die Methoden aufgezeigt werden, die zu einer Verwirklichung dieser Geisteshaltung, d. h. zu einer Existenz im Chaos führen: Die Modi dieser Existenz sind die Verblüffung, der Schock, die Karikatur, die Abnormität, die Befremdung, der Manierismus, die Fragmentarisierung, die Exzentrizität – vor allem aber der Widerspruch. Die Überraschung, die Dissonanz, lassen sich immer nur so lange wieder neu herstellen, wie der Anspruch auf ein absolutes Recht zum Widerspruch erhoben wird. Diese Kanonisierung des Irregulären verkehrt aber ein ursprüngliches Verhältnis von »Regel« und »Regellosigkeit«, über das man sich erst klarwerden muss, will man den Vorgang dieser Verkehrung begreifen. Auf klassische Weise wurde dieses Verhältnis von Plato an verschiedenen Stellen seines Werkes erhellt. Ich möchte daher zuerst kurz auf diese eingehen, bevor ich die Methodik der Moderne behandle. Plato unterscheidet zwei Arten, über einen bestimmten Gegenstand eine Untersuchung durchzuführen: die dialektische (dialektikos) und die eristische (eristikos) Methode. 3 Im 5. Buch der Politeia schildert er, wie Sokrates ein Gespräch mit Glaukon über die natürliche Verschiedenheit von Männern und Frauen führt, sich unterbricht und bemerkt: »Was für eine großartige Sache o Glaukon, ist doch die Wirksamkeit der Kunst des Widerspruchs. – Wieso?« fragt Glaukon. – »Weil mir«, antwortet Sokrates, »viele eben unwillkürlich in sie zu verfallen scheinen und daher meinen, sie würden nicht ein Wortgefecht (erizein), sondern ein philosophisches Gespräch (dialege-

Ebd. S. 15. Philebos 17a. Die dialektische Methode bezeichnet Plato auch abwechselnd als dialegesthai dynamis (Politeia 511b, 533a, 532e), dialegesthai episteme (Politeia 511c) oder dialektike [techne] (Politeia 532b). Die Eristik nennt er auch die antilogike techne (Politeia 454a) oder das erizein (ebd.). 2 3

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sthai) führen, weil sie nicht fähig sind, das Gesagte nach Begriffen (kat’eide) einzuordnen und so zu überprüfen. Aber haften bleibend am bloßen Wort jagen sie dem Gegenteil des Gesagten nach und ziehen sich so gegenseitig in einen Wortstreit, nicht aber in ein philosophisches Gespräch hinein.« 4 So könne man nicht schon denjenigen einen Philosophen nennen, der bedenkenlos, da er Lust dazu habe, jede Wissenschaft einmal ausprobiere und freudestrahlend losschieße, um zu lernen, und darin unersättlich sei. Dann würde unter diesem Namen doch ein großer und etwas seltsamer Haufen zusammenkommen. Auch der Schaulustige ist wissbegierig, und dennoch ist er kein Philosoph. 5 Es verfehlt einer trotz allem Begehren nach Wissen jede Einsicht in die Natur der Dinge, wenn er nicht erkennt, »dass es Begriffe für die Dinge gibt, und nicht daran denkt, für jedes einzelne Ding einen Begriff festzusetzen. So wird er auch nicht wissen wohin seinen Verstand zu lenken, wenn er abstreitet, dass der zu jedem Ding gehörende Begriff immer ein und derselbe ist, und auf diese Weise wird er das Vermögen, sich über etwas zu unterreden (tou dialegesthai dynamis) völlig zerstören.« 6 Die Dialektik ist die Methode, »gerade das herauszufinden, was jedes Ding ist«. 7 Mit ihrer Hilfe, so führt Plato weiter aus, würden Einsichten in die Wirklichkeit und den Bereich des Denkens gemacht, die gewisser seien als jene, welche von den sogenannten Künsten und Wissenschaften erbracht würden. Dort würden beliebige Annahmen (hypotheseis) wie primordiale Gründe (archai) behandelt. 8 Bei einer dialektischen Untersuchung aber würden die Annahmen nicht zu Gründen, sondern wirklich bloß zu Hypothesen erklärt, gleichsam als Anstieg und Anlauf, damit man bis zu dem, was absolut keiner Voraussetzung mehr bedarf, an den Ursprung aller Dinge gelange und diesen erfasse. Und danach wiederum halte man sich an all dem fest, was mit jenem zusammenhänge, um so wieder zum Ausgang der Untersuchung hinabzusteigen. 9 Die gedankliche Bewegung des dialegesthai entspricht der Umkehrung (metastrophe) von den unter-

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Politeia 454a. Politeia 475c–d. Parmenides 135c. Politeia 532a. 511c. 511b.

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irdischen Schattenbildern zu den Dingen im Sonnenlicht, wie sie Plato im Höhlengleichnis beschrieb: »Wenn es einer versucht, absehend von aller sinnlichen Wahrnehmung durch die dialektische Methode gerade das herauszufinden, was jedes Ding ist, und davon nicht ablässt, bis er durch Denken allein begreift, was das Gute selbst ist, dann ist er am Ziel allen Erkennens angelangt, so wie jener andere [im Höhlengleichnis, d. Verf.] zu einer Schau alles Sichtbaren kam.« 10 So zielstrebig sich der »Dialektiker« darum bemüht, den Dingen auf den Grund zu gehen, so beharrlich hält der »Eristiker« daran fest, über eine Sache unendlich viel und immer wieder etwas anderes zu sagen. Das eristische Wortgefecht ist nach Plato die Methode derer, die an einem Gespräch bloß um des Widerspruchs willen interessiert sind und sich dabei so betragen, als ob sie sich in einem Wettbewerb um den öffentlichen Ruhm befänden. 11 Daher seien sie keineswegs bereit, an sachbezogenen Erörterungen teilzunehmen. Vielmehr gehörten sie zu den philekooi, wie Plato jene nennt, die begierig auf alle Neuigkeiten hörten und davon nie genug bekämen. So als ob sie ihre Ohren verpachtet hätten, damit sie sich alle Chöre im Lande anhörten, würden sie auf allen Dionysischen Festen herumziehen, ohne auch nur eines auszulassen. 12 Tausenderlei Fragen würde einem ein Eristiker stellen, wenn man sich mit ihm unterrede. Aus dem Hinterhalt würde er sie vorbringen, mit der Haltung eines Kriegers, der an dem Gespräch bloß für Geld, wie ein gedungener Söldner, teilnehme. Und nicht nachlassend würde er so lange auf einen einreden, bis dass man voll der Bewunderung für die Weisheit sei, nach der er sich so eifrig sehne. 13 Die Kunst des philosophischen Gesprächs (dialektike techne) und die Kunst des Widerspruchs (antilogike techne) schließen sich gegenseitig aus. Nach Platos Unterscheidung führen die beiden Methoden zu einander völlig entgegengesetzten Zielen. Die Dialektik dient der Erkenntnis, der Einsicht in die Natur der Dinge. Ein »dialektisches« Gespräch oder eine dementsprechende Untersuchung werden daher nicht um ihrer selbst willen vollführt. Sie dauern nicht länger, als bis ihr natürliches Ende – die erwünschte Einsicht, die gesuchte Erkenntnis – erreicht ist. Diese Ergebnisse wiederum, die sie 10 11 12 13

532a–b. Theaitetos 164c–d. Politeia 475d. Theaitetos 165d–e.

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erbringen, werden in Begriffen festgehalten, die allgemein verbindlich, da sie Aussagen über die Wirklichkeit sind. Die Eristik dagegen dient dem rhetorischen Wettbewerb, der Selbstdarstellung des Sprechers. Ein »eristisches« Gespräch ist ein Fechten mit Worten, bei dem es nicht auf das ankommt, was gesagt wird, sondern allein darauf, wie geschickt einer seine Worte dazu benützt, rhetorische Effekte zu erzielen. Daher zieht sich so ein Wortgefecht in endloser Länge dahin, weil es nichts gibt, auf das ein Eristiker nicht eine Widerrede wüsste. Dieser zerstört mit seiner antilogike techne das begriffliche Gerüst eines jeden Gesprächs, fühlt er sich doch frei, einen Begriff auf die eine oder die andere und dann wieder auf eine andere Weise zu definieren, je nach der Aussage seines Gegenübers, der er zu widersprechen gedenkt. Seine Kunst des Widerspruchs ist regellos, sie ist eine nie endende Spielerei mit sinnentleerten Wörtern. Sie ist jene Methode, die eine Hypertrophie der Form erzeugt, während sie eine Atrophie des Inhalts hinterlässt. 14 Ich habe Platos Unterscheidung von »Eristik« und »Dialektik« angeführt, um die methodologischen Voraussetzungen der Moderne aufzuzeigen. Wenn man nämlich die spezifischen Kennzeichen der eristischen Methode und die Merkmale einer modernen Mentalität, wie sie im vorigen Kapitel aufgezeigt wurden, miteinander vergleicht, kann man nicht umhin, eine auffallende Übereinstimmung zwischen ihnen festzustellen. So erhebt sich die Frage, ob die Eristik die Methode sein könnte, die einer modernen Mentalität entspricht. Im Folgenden sollen daher die methodologischen Ursprünge der Moderne vergegenwärtigt werden anhand von zwei Schriften aus der Renaissance: der Oratio de dignitate hominis (1496) von Giovanni Pico della Mirandola und des Libro del Cortegiano (1528) von Baldassare Castiglione. Pico schrieb die Oratio im Jahre 1486. 15 Sie sollte die Vorrede zu einer öffentlichen Disputation sein, die Pico Anfang Januar 1487 in Rom abhalten wollte. Er beabsichtigte bei dieser Disputation neunhundert Thesen über die Philosophie vorzulegen und zu begründen. Die Formeln »Hypertrophie der Form« und »Atrophie des Inhalts« übernehme ich von Hugo Friedrich. 15 Einen Überblick zur Biographie, dem Werk von Pico della Mirandola, und neueren Studien über jenes bietet der Eintrag zu Pico in den Oxford Bibliographies; siehe: http://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780195399301/obo-978 0195399301-0221.xml#obo-9780195399301-0221-bibItem-0007 (aufgerufen am 10. Jan. 2018). 14

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Papst Innozenz VIII. verhinderte jedoch die Durchführung der Disputation und ließ dafür die Rechtgläubigkeit der Pico’schen Thesen überprüfen. Nach Ansicht der kirchlichen Untersuchungskommission verstießen sie teilweise gegen den rechtmäßigen Glauben, und ihr Verfasser wurde verurteilt: Pico aber floh nach Frankreich. Die Oratio wurde erst 1496, zwei Jahre nach Picos Tod, in der von seinem Neffen, Gian Francesco Pico, veranstaltenden Gesamtausgabe seiner Werke veröffentlicht. Die methodischen Aussagen der Oratio konzentrierten sich auf vier Punkte: (1) die Rechtfertigung der öffentlichen Disputation; (2) Picos eklektische Einstellung; (3) sein Streben nach Originalität; und (4) die Stilisierung der Oratio zum genialen Wurf. Für Pico ist Philosophieren ein Wettstreit. Es würden zwar manche überhaupt das öffentliche Verhandeln wissenschaftlicher Fragen missbilligen, so erklärt er. Ihrer Ansicht nach diene dies eher dazu, »mit Talent und Gelehrsamkeit zu prunken, als dazu, Wissen zu erwerben«. 16 Pico aber will sich diesen Einwänden nicht beugen. Er beteuert, dass er zu einer öffentlichen Disputation über seine Thesen nicht bloß deshalb eingeladen habe, um zu zanken und zu streiten. 17 Pico glaubt auch seine Disputierlust dadurch rechtfertigen zu können, dass er sich hinter »Plato und Aristoteles und die ehrwürdigsten Philosophen aller Zeiten« stellt. Sie alle seien sich absolut sicher gewesen, so behauptet er von ihnen, dass einen bei der Suche nach Wahrheit nichts mehr der Erkenntnis näher bringen würde als häufige Übungen im Disputieren. Und daher sei er selber der Meinung, »dass die Dichter, als sie die Waffen der Pallas besangen, und die Hebräer, als sie das Eisen, 18 das Symbol der Weisen nannten, uns zu verstehen geben wollten, wie höchst ehrenvoll diese Wettkämpfe (certamina) seien, die so überaus notwendig zur Erlangung der Wahrheit sind.« 19 Diese vorgeschobene Rechtfertigung der öffentlichen Disputation schwächt aber Pico wieder ab, indem er unter Hinweis auf sein jugendliches Alter (knapp 24 Jahre) unbekümmert zugibt, dass er den öffentlichen »Wettkampf« auch deshalb sucht, um vor aller Augen Giovanni Pico della Mirandola: De Dignitate Hominis, Lt.-dt., Einl. Eugenio Garin, Bad Homburg: Gehlen 1968, S. 54. 17 Ebd. S. 54–56. 18 Das lat. ferrum hat auch die Bedeutung von »Schwert«. Das hebr. barzel dagegen heißt nur »Eisen«. So ist nicht klar, ob Pico auch die auf seinen Vergleich zutreffendere Konnotation »Schwert« gemeint hat. 19 De Dignitate Hominis, S. 56. 16

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zeigen zu können, wie weit er es schon in der Philosophie gebracht hat. Er tritt in die Arena der öffentlichen Disputation, um entweder Lob oder Tadel zu ernten – und erwartet, nach den von ihm angeführten Worten des römischen Dichters Properz, dass in solch einem Fall bereits das Wagnis löblich sei: »… in magnis et voluisse sat est« – »… der Wille genügt, wenn man nur Großes gewollt.« 20 Aufgrund dieses Verlangens nach öffentlicher Selbstdarstellung kann sich Pico aber nicht damit zufriedengeben, bei der Disputation etwa bloß zehn und nicht, wie er es vorhat, neunhundert Thesen zu vertreten. Eine solche Selbstbeschränkung würde es ihm nicht gestatten, vor der Öffentlichkeit auch alles das auszubreiten, was er weiß. Und umgekehrt muss er zeigen, dass er sehr viel weiß, will er im öffentlichen »Wettkampf« der Gelehrten jenen Ruf immenser Belesenheit und hoher Bildung erwerben, den er ersehnt. Daher erfordert der Auftritt beim »Wettkampf« eine besondere Methode: den Eklektizismus. Diejenigen nämlich, die sich irgendeiner der philosophischen Schulen verschrieben hätten, etwa der des Thomas von Aquin oder der des Johannes Duns Scotus, so erklärt Pico, könnten freilich ihre Gelehrsamkeit auch bei der Diskussion nur weniger Fragen auf die Probe stellen. Er selber habe deshalb seine persönliche Methode des Philosophierens (mecum philo-sophandi rationem) angewandt. Ohne auf die Worte eines einzigen zu schwören, habe er sich auf alle großen Meister der Philosophie gestürzt, alle Blätter durchstöbert, alle Schulen kennengelernt. Folglich hätte er über alle diese sprechen müssen, damit nicht der Eindruck hätte entstehen können, dass er irgendwie gebunden sei, was geschehen wäre, wenn er das Übrige zugunsten der Verteidigung einer einzelnen Lehre hintangestellt hätte. 21 Picos Philosophie im Wettstreit folgt nicht mehr den Regeln einer sachbezogenen Reflexion, bei der zuallererst Einsichten in die Natur der Dinge erstrebt werden. Vielmehr ist sie den Gesetzen der Arena unterworfen, in der allein um den öffentlichen Ruhm gekämpft wird. Folglich muss ihr eine Methode vorgeschaltet werden, die am ehesten den Gewinn des begehrten Ruhmes verspricht. Man zeigt sich enzyklopädisch gebildet, legt sich aber auf nichts fest, um auch ja keine einzige Gelegenheit zu versäumen, in den Wettkampf noch eine weitere These oder Ansicht einzuwerfen, wenn es die Aus20 21

Ebd. S. 58–59. Ebd. S. 58–61.

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sicht auf den Beifall der Zuhörer erheischt. So ist diese Art zu »philosophieren« zwangsläufig eklektisch. Sie initiiert daher auch nicht einen Prozess des Erkennens, der von der zu erkennenden Sache ausgeht und an ihr wie an einem Zentrum haften bleibt, um das er kreist. Vielmehr führt sie zu einem Synkretismus schon vorgeformter, philosophischer »Schulen«, aus deren peripherem Zusammenhalt niemand mehr rückschließen kann, worüber denn und was überhaupt noch erkannt werden soll. Pico jedoch glaubt, es zu vermögen, und zitiert dazu Plato als Autorität: »Das sind die Erwägungen, die mich dazu gebracht und in meiner Entschlossenheit auch bestärkt haben, vor der Öffentlichkeit die Lehren aller philosophischen Schulen und nicht bloß (wie es manchen eher gefallen hätte) die einer einzigen vorzubringen, damit bei diesem Zusammenprall vieler Schulen (complurium sectarum collatione), bei dieser Diskussion über die vielen philosophischen Systeme (multifariae discussione philosophiae) unser Geist von jenem Aufglänzen der Wahrheit ganz hell erleuchtet werde, von dem auch Plato in seinen Briefen spricht.« 22

Die betreffende Stelle in Platos siebtem Brief lautet jedoch anders. Ihr zufolge erfährt unsere Seele eine Helle der Einsicht in die Natur der Dinge nicht aufgrund einer »Diskussion über die vielen philosophischen Systeme«, sondern aufgrund eines »lang anhaltenden Umgangs mit der Sache selbst«. Und Plato führt dazu weiter aus: »Freilich kann man darüber nicht in der Weise anderer Wissenschaften sprechen, sondern es ergibt sich so, dass aus lang anhaltendem Umgang mit der Sache selbst (ek polles synousis … peri to pragma auto), und wenn man sich wirklich hineinlebt, in der Seele plötzlich etwas erzeugt wird, gleich einem Licht, das von einem überspringenden Funken erzeugt wird und das sich dann aus sich selber nährt.« 23

Die öffentliche Selbstdarstellung, zu der die Philosophie im Wettstreit dient, legt demjenigen, der sie betreibt, einen besonderen Zwang auf: er muss originell sein. Denn im Wettkampf der Gelehrten wird die Belesenheit, die der eine zur Schau trägt, leicht von derjenigen neutralisiert, mit der ein anderer prunkt. Wer daher bestrebt ist, seine Gegner zu übertrumpfen, kann sich nicht allein darauf beschränken, die Lehren all der philosophischen Schulen anzuführen, über die jedermann in der Arena zu disputieren versteht. Was hätte

22 23

Ebd. S. 62–64. Plato, 7. Brief, 341c–d.

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es genützt, so fragt sich denn Pico, »die Meinungen von noch so viel anderen zu erörtern, wenn ich, ähnlich denen, die sich beim Gastmahl der Weisen aushalten lassen, nichts Eigenes, nichts hinzugefügt hätte, das ich mir aufgrund eigener Begabung (ingenio) ausgedacht und erarbeitet habe?« 24 Er hätte nichts besessen, das ihn vor allen anderen, mit denen er konkurriert, ausgezeichnet hätte. Seine eklektische Einstellung ebnete ihm aber den Weg zur Originalität. Im Wettstreit darüber, ob er mehr philosophische Ansichten als alle seine Gegner kennt, könnte er unterliegen. Bei der Auswahl dessen jedoch, was er als Manifestation seiner Genialität vorzulegen gedenkt, ist er sich selber das alleinige Maß. Wenn er in den Wettstreit eintritt, hat er den Vorteil, dass seine eklektisch zusammengestellte »Philosophie« »originell«, da mit nichts außer ihr selbst zu vergleichen ist. Er muss nurmehr befürchten, dass sich unter seinen Gegnern einer findet, der sich für noch origineller als er selbst erweist. Nach Picos Selbsteinschätzung dürfte dies jedoch kaum eintreten. Er präsentiert sein Werk als einen genialen Wurf, durch den zu Dutzenden neue Einsichten, Ideen und Entdeckungen unter die Menge gestreut würden. Gegenüber den Patres colendissimi, den höchlichst verehrten Vätern der von ihm angesprochenen Philosophenzunft, spielt Pico sein jugendliches Alter aus. Mit der Blüte seiner Jugend verbindet er die Blüte einer neuen Philosophie (nova philosophia), und er offeriert sie den »Vätern« mit der Gebärde des selbstbewussten Sohnes, der sich entweder alles oder nichts wünscht. Er lädt diese auch nicht zu einem Gespräch ein, bei dem sie die Sache der Philosophie gemeinsam erörtern könnten. Nein, er hat eine »neue Philosophie« aufgestellt, und er begehrt, dass man ihn dafür entweder lobe (laudare) oder verurteile (damnare). 72 neue Lehrsätze zur Physik und Metaphysik habe er aufgestellt, und wenn er sich nicht täusche, »kann jeder, der sich an sie hält, jedes beliebige ihm vorgelegte Problem aus dem Bereich der natürlichen und der göttlichen Dinge auf eine ganz andere Weise lösen, als es uns die Philosophie lehrt, die an den Schulen unterrichtet und von den Gelehrten gegenwärtig betrieben wird«. 25 Die Selbstüberschätzung Picos, des jugendlichen Genies, überhöht seine »Philosophie« zu einer Botschaft, die unvergleichlich ist. Jetzt auch kann das certamen, der Wettstreit, beginnen. Pico wird ihn mit der Einladung zu einer Diskussion seiner neunhundert Thesen 24 25

De Dignitate Hominis, S. 64–65. Ebd. S. 66–68.

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eröffnen. Am Ende seiner Antrittsrede aber wird er den Versammelten sagen, dass sie in Wirklichkeit den Triumph seines Genies über ihre Unwissenheit zu zelebrieren hätten: »Ich wollte Euch bei dieser Zusammenkunft klarmachen, dass ich nicht nur vieles weiß, sondern dass ich auch weiß, was viele nicht wissen.« 26 Die Provokation der Eingeladenen, das beleidigende Herabsetzen, das sie in Kampfesstimmung versetzt, ist Picos letzte und mutmaßlich erfolgversprechendste Vorkehrung, seine Philosophie im Wettstreit zu inszenieren. Denn sie wird gewiss kein philosophisches Gespräch über die Sache selbst, aber sicherlich ein Wettkampf der Gelehrten sein. Und so lautet der Oratio letzter Satz: »Doch nun, ihr hochverehrten Väter, mögen wir uns durch Taten ausweisen, und meine Rede soll euch, ihr hohen Gelehrten, nicht mehr länger von eurem Vorhaben abhalten – denn ich sehe mit dem größten Vergnügen, daß ihr Euch zur Schlacht gerüstet und bereit gemacht habt – so laßt uns jetzt, gleichsam unter dem Schall der Kriegsfanfaren, den Kampf beginnen, auf daß er beglückend und erfolgreich sei.« 27

Das von Pico eingeübte Methodenrepertoire wird in Castigliones Libro del Cortegiano vervollständigt und intensiviert. 28 Die methodologischen Ausführungen, die es enthält, beziehen sich (1) auf eine Legitimation des individuellen Stils, der subjektivistischen maniera, sowie (2) auf eine Entstellung der Sprache. Sie sind Teil jener Theorie höfischen Verhaltens, die Castiglione in seinem Werk, einem Verhaltensspiegel (speculum) für die Höflinge seiner Zeit entwarf. In der Art des Neuplatonismus, wie er in der Renaissance gepflegt wurde, glaubte Castiglione in der »Welt der Ideen« neben der Idee einer vollkommenen Republik, eines vollkommenen Königs und eines vollkommenen Redners auch die Idee eines vollkommenen Höflings (Idea del perfetto Cortegiano) 29 entdecken zu können. In seinem Libro erläutert er also, was für Eigenschaften ein Höfling besitzen und wie sich dieser »bei Hofe« verhalten müsse, um in seiner persönEbd. S. 84. Ebd. 28 Einen kurzen Überblick zum Leben und zum Werk von Castiglione bieten die Einträge in der Encyclopaedia Britannica: https://www.britannica.com/biography/Baldas sare-Castiglione (aufgerufen am 15. Jan. 2018) und in Oxford Bibliographies: http:// www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780195399301/obo-97801953 99301-0090.xml (aufgerufen am 15. Jan. 2018). 29 II Cortegiano del Conte Baldesar Castiglione, Hrsg. Vittorio Cian, Florenz: Sansoni 1894, 21910, Lettera Dedicatoria, S. 9. 26 27

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lichen Existenz diese Idea del perfetto Cortegiano aktualisieren zu können. Nach seinem ersten Erscheinen 1528 in Venedig, dem in den nächsten Jahrzehnten weitere vierzig Ausgaben auf Italienisch folgten, gewann das Buch vom vollendeten cortegiano im Laufe des 16. Jahrhunderts einen maßgebenden Einfluß auf die höfische Kultur in Europa. Von einem Autor geschrieben, der Diplomat im Dienste der Herzöge von Urbino und Mantua und später Nuntius von Papst Clemens VII. am spanischen Hofe Kaiser Karls V. war, wurde es rasch ins Französische (1537), Deutsche (1560) und Englische (1561) übersetzt, und in den Jahren nach seinem ersten Erscheinen in mehr als weiteren hundert Ausgaben herausgebracht. Unter der Annahme einer Auflage von jeweils tausend Exemplaren, wie bei der ersten Ausgabe, kann man annehmen, dass in dem Jahrhundert nach dieser an die 100 000 Exemplare des Libro del Cortegiano auf dem damaligen Buchmarkt waren. 30 Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein blieb das Buch des Weiteren auch prägendes Vorbild einer Flut ähnlicher Schriften, die zum Teil wiederum in mehrsprachigen Editionen verlegt und ihrerseits mehrfach nachgedruckt und nachgeahmt wurden. Neben Anweisungen zum vollendeten Verhalten bei Hofe hatte Castiglione in seine Theorie höfischen Verhaltens, die cortegiania, auch eine platonische Liebeslehre, eine Renaissancekosmologie, eine Verteidigung der Nationalsprachen, eine kosmologische Psychologie sowie eine Art platonischer Politik aufgenommen. Und dementsprechend weit erstreckte sich der Einfluss der cortegiania: vom höfischen Lebensstil und dem Weltbild der Zeitgenossen über die Literatur bis zu dem politisch-kosmologischen Gleichnis vom »Roi Soleil«, dessen Glanz in den geschliffenen Umgangsformen der ihn umgebenden Höflinge wiedererstrahlte. 31 Die einzigartige Genialität, von der sich Pico ausgezeichnet glaubte, findet bei Castiglione ihre Legitimation. In der Malerei, so schreibt dieser, hätten Leonardo da Vinci, Mantegna, Raffael, Michelangelo, Giorgione höchst Vortreffliches geleistet. Nichtsdestoweniger 30 Vgl. Peter Burke, The European Reception of Castiglione’s Cortegiano, University Park, Pa.: The Pennsylvania State University Press, 1995, S. 140. Zu weiteren Information zur Verbreitung und zum Einfluss des Cortegiano siehe das ganze Kap. 8 (»The Courtier in European Culture«) in Burke’s Buch (S. 139–157). 31 Vgl. Nicolas Faret: L’Honneste Homme ou L’Art de plaire à la court (1636), Hrsg. Maurice Magendie, Paris: Presses Universitaires de France, 1925, S. 7 f.

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seien sie alle untereinander in der Art ihrer Arbeit unähnlich, obwohl bei keinem von ihnen irgendetwas zu fehlen scheine, was zu dieser Manier (d. h. der Malerei) gehöre. 32 Castiglione bricht mit der traditionellen Vorstellung, dass es allgemeingültige Vorbilder künstlerischer Vollkommenheit gebe (sei es die Natur, seien es die großen Meister früherer Epochen), an denen die Werke der zeitgenössischen Künstler zu messen seien. So hält er zwar an einer Idee der Vortrefflichkeit fest. Aber er privatisiert sie, indem er den Maßstab zur Beurteilung eines künstlerischen Werkes in dieses selbst hinein versetzt. Und daher liest er die Vortrefflichkeit der von ihm angeführten Maler nicht an einem für einen jeden von ihnen gültigen Perfektionsideal, sondern an der Art und Weise ab, wie vollendet sie jeweils in der Verschiedenheit ihrer Stile sind. Denn jeder von ihnen, so erklärt er, sei dafür bekannt, »dass er in dem ihm eigenen Stil am vollkommensten sei« (nel suo stil essere perfettissimo). 33 Castiglione spielt den Begriff des Stils gegen den der Vollkommenheit aus. Nach der älteren Kunstauffassung musste der Stil dem allgemeinen Perfektionsideal genügen. Castiglione dagegen geht von einer Autonomie der stilistischen Eigenart aus, die nun ihrerseits Maßstäbe für die Vollkommenheit setzt. Die Verschiedenheit für autonom erklärter Stile bewirkt jedoch einen Zerfall der Vorstellung von Vollkommenheit. Jede stilistische Eigenart kann zu einer für sie spezifischen Meisterschaft entwickelt werden; »Vollkommenheiten« gibt es dann so viele, wie es Stile gibt. Castiglione überträgt seine Kunstauffassung nicht nur auf die Dichtung und die Rhetorik, sondern erhellt auch den Prozess der Atomisierung, der aus ihr folgt, wird sie als Methode des Urteilens angewandt. »Es verhält sich dergestalt:«, so führt er aus: »Wenn jemand alle die Redner betrachten könnte, die es auf der Welt gegeben hat, dann würde er ebenso viele Arten des Redens auffinden, wie er Redner findet.« 34 Wer als Künstler dieser Kunstauffassung folgt, wird dann sein Können nicht mehr so sehr an den vertrauten Vorstellungen von künstlerischer Vollkommenheit oder an jenen Werken früherer Meister messen, die man für »klassisch« hält. Er wird zuallererst seinen eigenen Stil kreieren. Bevor er sich um »Kunst« bemüht, wird er bestrebt sein, dass man seine individuelle Eigenart erkennt, in deren 32 33 34

Il Cortegiano (I, 37), S. 92 f. Ebd. S. 93. Ebd. S. 94.

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Namen und zu deren Schaustellung er sich erst des Mediums »Kunst« bemächtigt. Um aber in der Menge früherer und gegenwärtiger Künstler unverwechselbar zu sein, wird er sich von ihnen absetzen, einen Stil erfinden müssen, dessen Neuartigkeit frappiert. Sein Stil kann nicht originell genug sein, und dieser wiederum fällt umso exzentrischer aus, je mehr er dessen »Entwicklung« seiner Phantasie, der Sprunghaftigkeit momentaner Einfälle überlässt. Unter Berufung auf Cicero versichert Castiglione, dass es viele Redner gebe, die »niemanden nachahmen« würden und nichtsdestoweniger den »höchsten Grad an Vortrefflichkeit« 35 erreichten. Und manche, so fährt er fort, hätten eine »neue Art und Gestaltung des Redens« (nova forma e figura di dir) aufgebracht, die schön, aber unter den Rednern ihrer Zeit ungebräuchlich sei, indem sie »keinen anderen nachgeahmt haben denn sich selbst« (non imitavano se non se stessi). 36 Den methodologischen Überlegungen Castigliones entspricht eine menschliche Welt, die zersplittert ist in lauter lose Fragmente. Die Menschen im Umkreis der cortegiania bewegen sich nicht in einer ihnen allen »gemeinsamen Welt«, deren Einheit sich einem jeden von ihnen durch einen sensus communis erschließt. Wie Monaden voneinander isoliert, fehlt ihnen jede Gemeinsamkeit, über die sie sich verständigen und so einander begegnen könnten. Ihre jeweilige Originalität, aufgrund derer sich jeder nur immer mit sich selbst beschäftigt, stößt sie voneinander ab und verrückt einen jeden in den Mittelpunkt einer in sich geschlossenen, »privaten Welt«. Diese Atomisierung des Bereichs intrapersonaler Kommunikation wird von Castiglione in doppelter Hinsicht empfohlen. Auf der einen Seite propagiert er eine negative Erziehung, bei welcher der, der erzieht, von jenem, der erzogen wird, erst zu lernen hat, wozu dieser überhaupt zu erziehen ist. »Die Lehrer«, so rät Castiglione, »sollen die Eigenart der Schüler in Erwägung ziehen und, indem sie diese als Leitfaden nehmen, jene in solch einer Weise anleiten und ihnen so voran helfen, dass sie allein ihrem Talent und ihrer natürlichen Neigung folgen.« 37 Auf der anderen Seite weist er den, der ein vollendeter cortegiano sein will, an, beim gesellschaftlichen Umgang mit anderen seine Art, sich zu unterreden (conversare), stets auf diejenige Person abzustimmen, mit der er gerade spricht. Denn im Gespräch würden un35 36 37

Ebd. Ebd. Ebd.

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endlich viele und verschiedene Dinge vorkommen, und unter allen Menschen auf der Welt ließen sich nicht zwei finden, die miteinander völlig übereinstimmten. »Deshalb sollte er, der in der Unterhaltung mit so vielen zurechtkommen müsse, sich nach seinem eigenen Urteil richten. Und des Unterschieds zwischen dem einen Menschen und dem anderen gewahr, sollte er jeden Tag den Stil und die Art und Weise (seines Redens) verändern, je nach der Eigenart jener, mit denen sich zu unterreden er sich anschickt.« 38

Diese Anweisungen Castigliones bestärken die einzelnen Menschen im Umkreis der cortegiania, sich in die individuelle, autonome Originalität ihrer selbst zu verstricken, und hält sie davon ab, sich über irgendeine Sache, die sie alle betrifft, zu verständigen und zu einigen. Soweit sie einander begegnen und miteinander sprechen, wird ihre Unterredung dann mehr von auswuchernden Formspielen denn von einer inhaltlichen Dichte gekennzeichnet sein. Ihre Kommunikation beschränkt sich darauf, einen Stil, Manierismen ihrer persönlichen Eigenart, zur Schau zu stellen, über die der einzelne sich selbst am meisten ergötzt. Dieses Spiel mit stilistischen, vornehmlich sprachlichen Formen löst aber rasch eine Langeweile aus, wird es auf eine Ablösung der Wörter von ihrem Inhalt, der Sprache von der Wirklichkeit begrenzt. Solch eine Entleerung der Sprache wäre ein einmaliger Vorgang und ließe nicht jene Vielzahl von Variationen zu, dank der überhaupt das Spiel mit der Sprache interessant bliebe. Was aber muss dann mit der Sprache geschehen, damit sich das Spiel mit ihr beliebig fortsetzen lässt? Für diese Frage benötigte Castiglione selbst eine exemplarische Antwort. Denn er unterlegte dem Libro del Cortegiano die Struktur eines Gesprächs, das seinen Angaben zufolge im März 1507 von einer adligen Runde am Hofe von Urbino geführt worden ist. Er berichtet sodenn, wie in dieser Runde zu Anfang auch beredet wird, nach welcher Art und Weise überhaupt das geplante Gespräch verlaufen soll. Und dabei wird die Methode genannt, die aus der Sprache ein Spielobjekt macht: ihre Entstellung. Die Wortwechsel gehen hin und her, man geht davon aus, dass jeder bei dem Gespräch sagen kann, was ihm beliebt. 39 Man beschließt dann aber auch, aus der Runde einen zu wählen, der es seinerseits übernimmt, »in Worten einen vollkommenen Höfling zu bilden«, so

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Il Cortegiano (II, 17), S. 163. Il Cortegiano (I, 11–12), S. 34 f.

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dass die anderen ihrerseits dazu etwas erwidern können. Auf Geheiß der Herzogin von Urbino bittet deren Gesellschafterin, die Dame Emilia, den Grafen von Canossa, er solle sich doch dieser Mühe unterziehen, damit nicht noch mehr Zeit verlorengehe. Und sie begründet auch ihre Wahl. Der Graf, so meint sie, sei ihnen nicht so sehr als ein guter cortegiano bekannt, der wisse, was sich schickt. Vielmehr solle er die Gesprächsführung deshalb übernehmen, weil »das Spiel (gioco) dadurch schöner sein werde, dass er alles auf verkehrte Weise sagt« (dicendo ogni cosa al contrario). 40 Und die anderen Gesprächsteilnehmer hofften, er würde dies tun, denn jedermann würde dann seinerseits etwas haben, das er ihm entgegnen könne. Würde sich nämlich ein anderer dieser Aufgabe annehmen, so fährt Signora Emilia fort, der geschickter als der Graf sei, dann »gäbe es nichts, bei dem man ihm widersprechen (contradir) könnte«. Denn ihrer Ansicht nach dürfte das Gespräch keinesfalls ein »Spiel« sein, »das einen kalt lässt«. 41 Castigliones Runde zu Urbino erklärt eine Entstellung der Sprache zur Methode ihres Gesprächs. Sprechen sei ein Spiel, und das Prinzip dieses Spiels sei der Widerspruch, das Verdrehen der Wörter in ihren Widersinn. Es sei »schön«, weil es eine Berührung der Wahrheit vermeidet und stattdessen die Leidenschaften des Spielers entfacht, der über dem Spiel, das ihn fesselt, alles andere, das Wirkliche, um ihn herum vergisst. Und keiner, der so von dem Sprachspiel nicht mehr ablässt, braucht sich seiner Leidenschaft, dem prickelnden Reiz hoher Einsätze versagen. Jeder kann alles auf eine verkehrte Weise sagen; er muss nur erneut und etwas anders jene Wörter entstellen, die von seinen Vorrednern schon gegen ihren Sinn verdreht worden sind. Manchmal, so schreibt denn Castiglione, sollte der Höfling »gewisse Wörter in einer anderen Bedeutung gebrauchen als der, die ihnen eigen ist«. 42 Er sollte sie jeweils danach verdrehen (traportandole), wozu er sie benützen wolle, so als ob er sie verpflanzen würde, Baumsprösslingen gleich, die man auf einen fruchtbareren Stamm überträgt. Und indem er sie auf diese Weise wohlgefälliger und schöner gemacht habe, gleich Dingen, die einem unmittelbar ins Auge fallen, würde er es erreichen, dass derjenige, welcher seinen Worten lausche oder sie lese, von Entzücken ergriffen werde. 43 40 41 42 43

Il Cortegiano (I, 12–13), S. 36. Ebd. Il Cortegiano (I, 34), S. 84. Vgl. ebd.

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In diesen Sätzen schwingt ein zauberhaftes Empfinden mit über das Spielen mit der Sprache. Castiglione gibt zu erkennen, dass die Methode der Sprachentstellung das wirksamste Mittel ist, das Sprechen an sich zu einer Kunst zu machen, über der die Kunst des Gesprächs vergessen wird. Während die techne dialektike Einsichten in die Natur der Dinge erbringt, verliert sich die Eristik, das auf Widersinn angelegte Sprechen im Nichts. Von aller Wirklichkeit gelöst, existiert es bloß in jenem Schein von Wirklichkeit, den von ihrem Sinn entstellte Wörter vortäuschen, wenn sie ausgesprochen werden. Das Extrem eines Spiels mit der Sprache wird im Verlust der Sprache erreicht. Man spricht unablässig, redet ins Leere hinein, weil der hohle Schein dieses Sprechens noch der einzige Einsatz ist, den man auch weiterhin aufzubringen imstande ist: »Poiché non ci costa altro che parole« – »Denn das kostet uns nichts anderes als Wörter.« 44 Unseren Diskurs über die Methode löste die Frage nach den methodologischen Ursprüngen der Moderne aus. Wie erzeugte der moderne Mensch jenes Chaos, in dem er existiert? Welche Wege beschritt er, um sich in einer verzerrten Welt wiederzufinden, in der allein das Sonderbare, das Exzentrische, das Fragmentarische, das Befremdende gilt? Wie kommt es, dass er unzählig viele Formen und Modelle des Denkens, der Kunst, des weltlichen Glücks, der öffentlichen Geselligkeit kennt, und sich dennoch bloß an den Rändern einer ihm entfliehenden Wirklichkeit zurückzieht in privatistische Obsessionen, die Zeichen seiner Stummheit und Einsamkeit sind? Nach den soeben angestellten Fallstudien zu Plato, Giovanni Pico della Mirandola und Castiglione dürften sich diese Fragen nunmehr beantworten lassen. Die Moderne gründet sich auf eine methodologische Revolution, der folgende Struktur unterliegt: 1. Die dialektische wird gegen die eristische Methode vertauscht. Die Situation des Philosophierens verändert sich grundsätzlich. Das philosophische Gespräch, bei dem alle, die versammelt sind, auch gemeinsam vorhaben, »gerade das herauszufinden, was jedes Ding ist«, weicht einem Philosophieren im Wettstreit, bei dem jeder der Konkurrent eines jeden ist und es allein darauf absieht, über alle zu siegen. So energisch Plato das Fechten mit Worten (erizein) verwarf, so emphatisch rüstet sich Pico zum rhetorischen Wettkampf (certamen).

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Il Cortegiano (IV, 30), S. 442.

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2. Beim Philosophieren im Wettstreit rückt die Person dessen, der spricht, in den Mittelpunkt des »Philosophierens«. Dieser stellt nicht mehr eine Sache, sondern nur mehr sich selber dar. Dabei ist der Beifall der Menge für das maßgeblich, was er sagt. Er kämpft um den öffentlichen Ruhm, weil dieser noch das einzige Qualitätsmerkmal seines »Philosophierens« ist. Daher akzentuieren sowohl Pico wie auch Castiglione die Originalität, das ingenium des einzelnen, der ganz aus sich selbst eine »neue Philosophie« oder, in der Malerei, einen ihm allein eigenen Stil kreiert, in dem er »am vollkommensten« ist. Diese Autonomie der individuellen Eigenart, dieses scheinbare Recht, »keinen anderen als sich selbst nachzuahmen«, wird zum obersten Grundsatz menschlicher Existenz in der Moderne. 3. Die Kunst des Widerspruchs avanciert zur Herrin der menschlichen Welt. Das Widersprechen ist der simpelste Akt, sich als einzelner gegenüber allen anderen hervorzuheben. So kann sich die herausgeforderte Originalität eines jeden wenigstens im Protest aller gegen alles erschöpfen. Ferner werden vom Widersprechen die natürlichen Umstände menschlicher Existenz entgrenzt. Es eröffnet unendlich viele Möglichkeiten, in subjektivistischer Eigenart »autonom« zu sein, je nachdem, wie man gerade eine vorgegebene Sache entstellt, etwas auf irgendeine »verkehrte Weise« sagt oder schließlich auch das umstülpt, was zufällig noch mehr Personen als bloß eine für natürlich, für normal halten. 4. Eine allen Menschen gemeinsame Welt wird von den vielen privaten Welten aller einzelnen ersetzt. Es konstituiert sich kein Bereich intrapersonaler Kommunikation, stattdessen breiten sich die individuellen Überzeugungen, Stile und Lebensweisen auf sich selbst zurückgeworfener und so in sich selbst verstrickter Menschen aus. Ihre Handlungen sind allein darauf abgestellt, ihre Autonomie, ihre Selbständigkeit zu wahren und zu stärken. Sie verharren im Glauben, sich selbst allein durch und für sich selbst zu verwirklichen, und fliehen dabei doch ihre Menschlichkeit – das, was sie alle verbinden, miteinander in Übereinstimmung bringen würde. So aber ist ihre Gesellschaft die Isolation und ihre Welt ist das Chaos. In der Entgrenzung ihrer menschlichen Möglichkeiten entdeckten sie für einen Moment auch die Macht, die ihnen ihre Sprache zur Hand gibt: Dinge zu bezeichnen, zu sagen, was sie sind und was sie heißen sollen. Im selben Augenblick jedoch begann ebenfalls ihr Spiel, durch eine Entstellung der Sprache auch die Dinge selber so zu verstellen, wie es die Kunst des Widersprechens gerade gebot. Allein, die Wörter verloren dabei 64 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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ihren Sinn und sie selber die Fähigkeit, über sich selber, über die Wirklichkeit noch etwas zu sagen. In einer Sprache toter Vokabeln riss selbst die Verbindung zur Wirklichkeit des Chaos ab.

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Kapitel 4 Das Erbe der Renaissance: Kosmos und Natur

»Das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren, zusammen und auseinander fliehen, ohne Einheit und Bestand. Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner – er trauert mit einem verwaiseten Herzen, das den größten Vater verloren, neben dem unermesslichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wachset; und er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche. Die ganze Welt ruht vor ihm wie die große halb im Sande liegende ägyptische Sphinx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit.« Jean Paul, Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei Vorbericht

Der Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war die Frage nach den Ursprüngen, aus denen die Moderne entstand. Ihr Verlauf erbrachte bisher zwei Ergebnisse. Einmal konnte die epochale Differenz bestimmt werden, in der das Bewusstsein der Modernität zur prägenden Form eines »Zeitalters« in der Geschichte der westlichen Zivilisation erwuchs. Zum zweiten konnte jene methodologische Revolution nachgezeichnet werden, auf die sich die Moderne gründet. Als Drittes wäre jetzt das ausschlaggebende Element in der Genesis der Moderne zu behandeln: die grundsätzliche Veränderung in der Einstellung des europäischen Menschen zu der ihn umgebenden Realität.

Die mentale Revolution hin zur Modernität Ich denke nicht, dass es eine absolute Erklärung bezüglich der Frage gibt, warum sich die mentale Revolution hin zur Modernität gerade zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert, also gewissermaßen geschichtsnotwendig, und nicht früher oder später abspielte. Sicherlich, 66 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Das Erbe der Renaissance: Kosmos und Natur

die Schwächung der mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen, die Entwicklung nationalstaatlicher Politik, die Auseinandersetzungen der Reformation, die Begeisterung für die studia humanitatis waren Anlässe genug, die Welt der Dinge und des Menschen, die menschliche Natur und die Möglichkeiten menschlicher Existenz grundsätzlich neu zu verstehen. Aber ähnliche Situationen des geistigen und sozialen Umbruchs hatte es schon immer in der menschlichen Geschichte gegeben – und dennoch hatte sich bis zur europäischen Renaissance in keiner Zivilisation die Auffassung durchgesetzt, dass der Mensch wie ein Gott berufen sei, aus der Natur eine allein ihm gefällige Welt zu erschaffen. Der moderne Mensch weist gerne darauf hin, dass schließlich er über das Instrumentarium verfüge, die Kräfte der Natur beliebig für seine Zwecke auszunützen. Jedoch ist die Entwicklung dieses Instrumentariums, der Naturwissenschaften, bloß ein Symptom – wenn auch das augenfälligste – für die Entstehung und die Ausbreitung des Weltbildes der Moderne. Aus ihr erhellt nicht, wieso sich im Europa der Renaissance eben dieses Weltbild und kein anderes durchgesetzt hat. Das Weltbild der Moderne erklärt sich nicht aus den modernen Naturwissenschaften, sondern die modernen Naturwissenschaften erklären sich aus dem Weltbild der Moderne. Den Griechen der Antike war die »naturwissenschaftliche« Denkweise durchaus vertraut und die Qualität ihrer Einsichten wird nicht zuletzt dadurch bezeugt, dass moderne Vertreter der Naturphilosophie, wie Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, bei der Erläuterung der Quantentheorie auf die Problemstellungen eines Demokrit, eines Heraklit, eines Parmenides oder eines Plato zurückgehen. 1 Als im 15. Jahrhundert in der sogenannten »Schule von Padua« jene »neue Methode« einer scientia de natura erarbeitet wurde, die dann Johannes Kepler, Galileo Galilei, Robert Boyle und Isaac Newton benützten, wurde dieselbe Verbindung von mathematischhypothetischer und demonstrativ-experimenteller Methodik angestrebt, die schon Euklid und Archimedes empfohlen hatten. 2 1 Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, Frankfurt a. M.: Ullstein, 1965; ders., Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München: Piper, 1971; Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, München: Hanser, 1971; vgl. ferner: Léon Robin, La pensée grecque et les origines de l’esprit scientifique, Paris: Albin Michel, 21963. 2 Vgl. John Herman Randall Jr., The School of Padua and the Emergence of Modern Science, Padua: Editrice Antenore, 1961, Chapter 1: »The Development of Scientific

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Warum aber wurden dann nicht schon zu Zeiten der Griechen, der Römer oder im Mittelalter jene Experimente veranstaltet und jene Berechnungen angestellt, aufgrund derer ein Galilei die Pendelgesetze oder ein Newton das Gravitationsgesetz formulieren konnten? Die amerikanische Philosophin Susanne K. Langer erklärte dazu: »Religion, Aberglaube, die phantastische biblische Weltgeschichte, wurden nicht durch ›Entdeckungen‹ zerstört; der europäische Geist entwuchs ihnen. Viele der Tatsachen, die der Theologie widersprachen, sind von alters her schon bekannt gewesen; viele Entdeckungen erforderten kein Fernrohr, kein Reagenzglas, und keine Expedition, und wären physikalisch gerade so gut schon vor Hunderten von Jahren möglich gewesen. Aber solange die große christliche Vision die Augen der Menschen erfüllte und ethische Systeme oder große künstlerische Abenteuer den Geist mit Beschlag belegten, blieben Tatsachen wie die, dass Holz auf Wasser schwimmt, während Steine sinken, dass lebende Körper eine gleichmäßige Temperatur besitzen und andere sie mit dem Wetter verändern, ohne Bedeutung. Sicherlich hatten Seeleute immer gewusst, dass die Topsegel der Schiffe überm Horizont sichtbar werden, bevor das Schiff ganz in Sicht kommt. Sicherlich hätte die Zahl der bekannten Tierarten – falls ein Jäger oder Bauer sich je darangemacht hätte, sie zu zählen – sogleich gezeigt, dass die Ausmaße der Archie nicht genügen konnten, sie paarweise mit der nötigen Nahrung für acht oder neun Monate zu beherbergen. Aber niemand war darauf verfallen, ihre Anzahl nachzurechnen, als er die Beschreibung der Arche las. Aus mythologischen Gründen war die Arche eben ›sehr groß‹, die Tiere ›sehr viele‹ und ihr Lebensraum war Gottes Sorge.« 3

Der französische Wissenschaftshistoriker Robert Lenoble bemerkte: »Für die Begründer des modernen Denkens war die mathematische Darstellung der Natur nicht das Ergebnis einer Induktion, im Sinne Bacons, gewesen, vielmehr war sie eine neue Vision der Dinge, die sich ihrerseits auf eine neue Einstellung zu den Dingen bezog. Wenn wir die Daten miteinander vergleichen, werden wir bemerken, daß die Tatsachen sich von dem Tage an als mathematisch darstellten, wo man sie nicht mehr als trostreiche Method in the School of Padua« (S. 13–68); William A. Wallace, Causality and Scientific Explanation, Bd. 1: Medieval and Early Classical Science, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1974. – Auch die neuere Methodenreflexion innerhalb der Naturwissenschaften kreist um diese Kombination von Hypothese (Intuition), Deduktion und Experiment. Vgl. Gerald Holton, Thematic Origins of Scientific Thought, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973. 3 Susanne K. Langer, Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite and Art, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1960, S. 270 f., hier zitiert nach der dt. Ausgabe: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus, und in der Kunst, Übs. Ada Löwith, Berlin: S. Fischer, 1965, S. 265.

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Erzeugnisse einer mütterlichen Natur ansah, sondern ihnen gegenüber die Haltung des Ingenieurs einnahm. Gewiss, sie haben sich ins Spiel gebracht, aber ohne ihre entschiedene Reaktion wäre die mechanistische Vision wie viele andere vergangen. Es gibt in der Geschichte sehr wohl Entwicklungen, die absterben, unbeachtet bleiben, oder die nichts bringen, weil die Geister dafür nicht offen sind. Schließlich hätte die mechanistische Beobachtung auch aus den Grundlagen des griechischen Atomismus heraus wachsen können. Warum gab es diesen langen Einhalt? Weil man Angst hatte, sagte schon Lukrez. Aber 1620 erteilten die Sonnenflecken und die Satelliten des Jupiter ihre Lektion. Die Himmelsgewölbe konnten einbrechen.« 4

Und der Literaturtheoretiker Leo Spitzer stellte fest: »Die Geschichte des Verschwindens dieses einen Feldes [des semantischen Feldes für »Weltharmonie«, »Ausgeglichenheit«] ist schlicht und einfach die Geschichte der modernen Zivilisation, der Weber’schen »Entzauberung der Welt«, oder der Dechristianisierung; und wir erkennen, durch unsere Studien, die Notwendigkeit einer neuen Periodisierung der westlichen Geschichte. Ich werde zeigen, wie die Zerstörung des homogenen »Feldes« im 17. Jahrhundert begann und im 18. vollendet wurde. Der große Einschnitt in der westlichen Geschichte geschah genau in dieser Zeit, und nicht in der Renaissance; wir sollten in der Tat den zwei Geschichtsperioden klassische Antike und Christentum (die letztere erstreckt sich vom 1. bis zum 17. Jahrhundert …) die Epoche der Dechristianierung gegenüberstellen (die mit dem 17. Jahrhundert einsetzt), und in der unser Feld gänzlich zerstört wurde. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff Stimmung festgesteckt, und dabei seiner blühenden Lebendigkeit beraubt. Wir liegen nicht falsch, wenn wir dies dem Geist der Aufklärung zuschreiben, dessen lähmende Wirkung so meisterhaft von Novalis in seiner Abhandlung »Christenheit und Europa« (1798) beschrieben wurde.« 5

Es gibt nur eine relative Erklärung für jene Veränderungen, die sich im Realitäts- und Selbstverständnis des europäischen Menschen zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert vollzogen. Denn es wäre eine Robert Lenoble, »L’évolution de l’idée de NATURE du 16e au 18e siècle«, in: Revue de Métaphysique et de Morale, Jg. 58, Nr. 1–2, Jan.-Juni 1953, S. 121 f. (Hervorhebungen von R. L.). – Analog argumentieren Max Bense, in: »Über die spirituelle Reinheit der Technik«, in: Plakatwelt. Vier Essays, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1952, S. 64; Alexandre Koyré, in: Newtonian Studies, Chicago: Chicago University Press 1968, S. 5 f.; Frances A. Yates, in: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, New York: Vintage Books, 1969, S. 155 f.; Carl Friedrich von Weizsäcker, in: Die Einheit der Natur, S. 122. 5 Leo Spitzer, Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word »Stimmung«, Baltimore: Johns Hopkins Press, 1963, S. 75 f. 4

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willkürliche Annahme, würde man davon ausgehen, dass sie von äußeren Umständen – geographischen Entdeckungen, technischen Erfindungen, politischen Ereignissen – verursacht worden wären, deren historisches Auftreten einem Zeitpunkt gleichzusetzen sei, an dem in Europa das Zeitalter der Moderne sozusagen geschichtsnotwendig zu beginnen hatte. Vielmehr ist umgekehrt danach zu fragen, welcher Wandel in seiner psychischen Disposition den europäischen Menschen damals bewegte, seine bisherige Einstellung zu seiner Umwelt aufzugeben, so dass er die Dinge der Welt nicht mehr bloß mit dem abgeklärten Blick eines in sich selbst versunkenen, gottsuchenden Pilgers betrachtete, sondern sich daranmachte, sie mit den neugierigen Augen eines herrschaftssüchtigen Pantokrators auszukundschaften. 6 Bei einer Untersuchung zur Genesis der Moderne ist daher der Zeitfaktor – ihr Beginn in der historischen Zeit – von zweitrangiger Bedeutung. Man müsste zudem spekulativ eine absolute Struktur geschichtlicher Abläufe annehmen, wollte man die Moderne primär aus den historischen Daten ihrer Entstehung erklären. Stattdessen scheint es mir ergiebiger zu sein, die Genesis der Moderne im Kontext der wechselseitigen Beziehungen von Mensch und Realität zu untersuchen. Dabei könnte dann der Versuch einer relativen Erklärung für die mentale Revolution hin zur Modernität unternommen werden. Sie ließe sich als eine spezielle Veränderung in dem allgemeinen Untersuchungsfeld der wechselseitigen Beziehungen von Mensch und Realität darstellen. Die Griechen fassten diese Beziehungen unter dem Aspekt des Harmonischen, des Wohlgeordneten, des Guten auf: im »Kosmos« sollte eine partnerschaftliche Balance zwischen dem Menschen und seiner Umwelt herrschen. Analoge Vorstellungen waren in anderen Kulturen, wie der chinesischen, der indischen oder der ägyptischen, gültig. So erscheint denn die besitzergreifende Selbstherrlichkeit des modernen Menschen gegenüber der »Natur« als eine nicht selbstverständliche Beeinträchtigung der bis dahin respektierten Balance. Sie offenbart ein völlig neues Verständnis vom menschlichen Rang in der Welt. Eine Darstellung der mentalen Revolution hin zur Modernität muss sich folglich zum einen auf dieses Motiv einer Veränderung der Vgl. hierzu und zum weiteren: Stéphane Toussaint, »La destruction du cosmos: Esquisse d’une analyse« in: Tilo Schabert, Matthias Riedl, Hrsg., Die Menschen im Krieg, im Frieden mit der Natur – Humans at War, at Peace with Nature, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 25–48.

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innerkosmischen Verhältnisse zugunsten des Menschen und zum andern auf den damit verbundenen Wandel in den wechselseitigen Beziehungen von Mensch und Realität konzentrieren. Ich möchte zuerst mit dem letzten Punkt beginnen.

Der Wandel in der Welterfahrung: Franziskus von Assisi und Pascal Als Franziskus von Assisi seinen Sonnengesang (1224) verfasste, sprach er die Dinge der Welt wie Geschwister an. Die Sonne nannte er eine »Schwester«, die schön sei und uns bescheine mit ihrem Licht; das Feuer nannte er einen »Bruder«, der mächtig sei und stark; und die Erde hieß er die »Mutter«, die uns erhalte und versorge, allerlei Früchte hervorbringe und farbige Blumen und Kraut. 7 Als Pascal vier Jahrhunderte später seine Pensées (posthum 1670) notierte, begegnete er der Welt nicht mit der Vertrautheit eines Franziskus, er empfand ihr gegenüber vielmehr Angst. Wenn er den kleinen Raum betrachte, den er selber ausfülle und den er erblicke, der versinke in der unermesslichen Unendlichkeit der Räume, von denen er nichts wisse und die von ihm nichts wüssten, dann ängstige er sich und sei erstaunt, dass er sich eher hier als dort befinde. Denn es gebe keinen Grund, warum er eher hier als dort sei, warum jetzt und nicht früher. Während Franz von Assisi in der Welt eine Schwester Sonne, eine Mutter Erde fand, zu denen er sprach, weiß sich Pascal in einer stummen, toten Welt allein: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.« 8 Franziskus von Assisi und Pascal lebten in ein und derselben Welt, und doch nahmen sie in ihrer jeweiligen Erfahrung zwei grundsätzlich verschiedene »Welten« wahr, Franziskus einen göttlich beseelten Kosmos; Pascal eine mechanistisch konstruierte Natur. Was war dann in der Zeit zwischen dem Sonnengesang und den Pensées geschehen, dass die Welt Pascals aus geometrischen Räumen und nicht mehr wie die Welt des Franziskus aus einer Gemeinschaft lebendiger Wesen bestand? Und welche Vorstellungen hatte überhaupt

San Francesco d’Assisi, Il Cantico delle Creature, in: I Fioretti di S. Francesco, Turin: Enaudi, 1964, S. 328 f. 8 Pascal, Pensées (fr. 205, 206), Ed. Brunschvicq, Paris: Garnier Fères, 1960, S. 131. 7

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der vor-moderne Mensch mit jenem Symbol »Kosmos« verknüpft, das der moderne Mensch mit dem Symbol »Natur« ersetzte?

Was bedeutet »Kosmos«? Das Wort »Kosmos« ist griechischen Ursprungs und bedeutet im Allgemeinen »Ordnung« im Sinne von Wohlordnung, sinnvoller und guter Ordnung. 9 Wie aus Stellen bei Homer, Hesiod, Thales erhellt, wurde es anfänglich vor allem auf die Gemeinschaft der Menschen angewandt. Die Polis stellte insofern einen Kosmos dar, als sich in ihr die rechte Anordnung für das Zusammenleben der Menschen vollzog. Auch ein Haushalt oder ein Heer formten einen Kosmos, weil sich beim einen die Familienmitglieder, beim anderen die Krieger zu einer nützlichen Gruppierung zusammenfügten. Dabei wurde mit der Vorstellung von Ordnung auch der Eindruck von Schönheit und Wohlgliedrigkeit, von etwas Gutem und etwas Maßvollem assoziiert. So konnte ebenfalls bei dem Schmuck einer Frau, dem Epos eines Dichters oder bei der Seele eines Menschen jeweils aufgrund ihrer durchgliederten Wohlgestalt von einem »Kosmos« gesprochen werden. Die begriffliche Elastizität, die das Symbol »Kosmos« zur Vielfältigkeit der menschlichen Erfahrung hin offenhielt, blieb bis in die Zeit der griechischen Klassik erhalten. Die am nachhaltigsten sich auswirkende Bedeutungserweiterung des Symbols geschah, als es zur Beschreibung von Ordnungsstrukturen in der Realität überhaupt herangezogen wurde. Zum ersten Mal taucht das Wort »Kosmos« im Sinne von »Welt« in den Fragmenten von Anaximander und Anaximenes (6. Jh. v. Chr.) auf. Danach finden sich in der vorsokratischen Philosophie immer differenziertere Aussagen über den Kosmos, d. h. das Ordnungsgefüge der Welt, so vor allem in der pythagoreischen Überlieferung sowie bei Heraklit, Parmenides, Empedokles und Demokrit. Auch hier, im Medium der Realitätsinterpretation, ist »Kosmos« nicht bloß ein Name für die Welt. Die Welt ist ein Kosmos, weil sie die Wohlordnung aller Dinge ist. Denn die Ordnung (taxis), in der sich die Dinge des Universums befinden, umreißt für jedes Ding, Vgl. zum Folgenden Walther Kranz, Kosmos, Bonn: Bouvier, 1955 = Archiv für Begriffsgeschichte, Hrsg. Erich Rothacker, Bd. 2, Teil 1; Pierre Duhem, Le Système du Monde. Histoire des doctrines cosmologiques de Platon à Copernie, 10 Bde., Paris: Hermann, 1914–1954.

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jedes Wesen im All einen ihm gemäßen Ort, an dem es sich sinnvoll auf alle anderen Dinge im Gesamtgefüge des Universums bezieht. Die Ordnung des Universums kann deshalb mit Recht auch eine gute Ordnung (eutaxia) genannt werden. Sie ist von »kosmischer« Qualität, sind doch durch sie die Verhältnisse aller Dinge ausgestaltet zu einer in ihren Proportionen wohlausgewogenen Welt, zu einem Kosmos, dessen Schönheit das Staunen und die Bewunderung des Menschen erregt. Dieses Staunen über den Kosmos, die Wohlordnung der Welt, entfaltete sich im griechischen Denken zu zwei verschiedenen Aspekten der Interpretation einer gleichbleibenden, in ihrer Einheit bewahrten Welterfahrung. Einerseits blieb der Eindruck von der Seinsverbundenheit aller Dinge im Bewusstsein der Griechen haften. Denn insofern jedes einzelne Lebewesen, jedes einzelne Ding erst im Kosmos – in der Durchgliederung (diakosmesis) des Seins zu »Dingen« und zu »Lebewesen« – seinen Bestand hatte, war dieser Kosmos allen gemeinsam, den Göttern und Menschen, den Gestirnen und der Erde, den Tieren und Pflanzen. Nach den Worten Heraklits ging er allem, was ist, als dessen primordiale Gestalt voraus: »Diese Weltordnung (kosmos) hier hat nicht der Götter noch der Menschen einer geschaffen, sondern sie war immer und ist und wird sein: immerlebendes Feuer, aufflammend nach Maßen (metra) und verlöschend nach Maßen.« 10 Andererseits wurde in der Erfahrung vom Kosmos der Welt auch die intelligible Struktur dieser Weltordnung transparent. Denn als Ordnung, die das Sein durchgliederte, konnte der Kosmos im Bewusstsein des Menschen intellektuell erfasst werden. Insofern die Welt sich dem Menschen als ein Kosmos, eine Wohlordnung aller Dinge erschloss, entsprach das intelligible Erfassen eines Kosmos der Welt auch der Wirklichkeit dieses Kosmos selber. Diese Entdeckung einer Kongruenz von menschlicher Erkenntnis und kosmischer Weltstruktur drückte in dichtester Form Parmenides aus: »Denn dasselbe ist Denken und Sein.« 11 Solch ein Satz löste aber nur so lange keine falsche Einbildung seitens der Menschen aus, wie er vom anderen wesentlichen Aspekt griechischer Kosmologie, von der Einsicht her Heraklit: Fragmente (B 30), Gr.-Dt., Übers. u. Hrsg. Bruno Snell, Zürich-München: Artemis, 51965, S. 15. 11 Parmenides, Fragment B 3, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, Gr.-Dt. von H. Diels, Hrsg. W. Kranz, Bd. 1, Berlin: Weidmann, 81956, S. 231. 10

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verstanden wurde, dass der Kosmos eben all den Dingen vorausgeht, deren Ordnung er ist. Die festgestellte Kongruenz von Erkennen und Sein bezog sich allein auf die eine primordiale Welt, deren innere Struktur der Mensch zwar zu erkennen vermag, seiner Erkenntnis aber schon immer vorgegeben ist. Sie bedeutete nicht, dass stets auch wirklich sein müsse, was der Mensch von sich aus zu erkennen glaube. Diese Meinung konnte sich erst durchsetzen, als der Mensch in der Moderne nicht mehr den Kosmos, jene Primärordnung der Welt, wahrnahm, an der er den Wirklichkeitsgehalt seines Denkens hätte messen können. Es ist nicht erforderlich, hier im Einzelnen die Kosmologie der Griechen, ihre Auffassung von der Entstehung, inneren Gliederung und hierarchischen Abstufung des Kosmos der Welt zu erörtern. Im Hinblick auf den Begriff »Natur«, der im Weltbild der Griechen eine wesentlich geringere Bedeutung einnahm, als er später im Weltbild der Moderne erhielt, sollten jedoch die wichtigsten Elemente der griechischen Kosmologie kurz angeführt werden. Alle menschlichen Gesetze, so erklärte Heraklit, nährten sich von dem einen, dem Göttlichen: »… denn das herrscht soweit es will und reicht hin im All und setzt sich durch.« 12 In der Erfahrung, dass alle Dinge zu einem Kosmos angeordnet sind, lag die Erkenntnis begründet, dass sich in dieser Wohlordnung der Dinge ein »göttliches Gesetz« (nomos tou theiou) auswirkt. Auf diesem beruhte jene Regelmäßigkeit, Wohlgliedrigkeit und innere Ausgewogenheit, welche der Mensch an der von ihm bewohnten Welt beobachten konnte. Daher konnten sich auch die Gesetze der Menschen von dem Gesetz des Göttlichen nähren; sie ahmten eine »Gerechtigkeit« (dike) nach, die von Anfang an zwischen allen Dingen bestand und durch die jedem einzelnen von ihnen eine mit allen anderen abgestimmte Existenz gegeben war. Neben Nomos und Dike hoben die Griechen am Kosmos der Welt vor allem dessen Intelligibilität hervor. Die Wohlordnung der Welt, die der Mensch in seinem Denken erfassen konnte, zeugte von einem göttlichen Nous, der alles Sein durchwaltete. Und insofern der Mensch an diesem teilhatte, konnte er sich den Logos, die der Welt immanente Sinnstruktur, in seinem Bewusstsein vergegenwärtigen. Die sinnvolle Anordnung aller Dinge zum Kosmos der Welt offenbarte aber auch eine Voraussicht (pronoia), die sich fürsorgend der Existenz jedes Dinges, jedes Lebewesens annahm. Andererseits 12

Heraklit, Fragmente (B 114), S. 35.

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konnte der Logos der Welt als deren schon immer vorgegebene Primärordnung gedeutet werden unter dem Aspekt der Notwendigkeit (ananke), in der sich die Unvermeidlichkeit ausdrückte, welche den Gesetzen anhaftete, denen die Welt unterlag. Erst am Ende dieser Rangfolge von Nous und Logos, Nomos und Dike, Pronoia und Ananke erschien in der griechischen Kosmologie auch der Begriff der »Natur« (physis). Er sollte das Lebensvermögen, die »Kraft« bezeichnen, die allen Dingen innewohnt und ihre Existenz erhält. Die »Natur« konnte daher keineswegs – wie es dann in der Moderne geschah – mit allem Sein überhaupt gleichgesetzt werden. Als spezifischer Begriff für die natürliche Lebenskraft der Dinge war die Bedeutung von physis weit enger als die des modernen Begriffs »Natur«, der ausgedehnt ist auf so verschiedene Bedeutungen wie »Weltmaschine« und »Weltharmonie«, »Welt der Natur« und »Materie«, »Natur der Dinge« und »System der Naturgesetze«. Im Bewusstsein der Griechen wurden alle Aspekte der Erfahrung von Realität im Symbol »Kosmos« erfasst – und im Begriff physis drückten sie nur einen dieser Aspekte aus. Bei der Entfaltung der griechischen Kosmologie, von ihren Anfängen bei Thales bis zu ihrer vollendetsten Ausgestaltung bei Plato, spielte auch stetig das Staunen der Menschen über die Schönheit, die Vortrefflichkeit des Kosmos mit. Die Wohlordnung der Welt galt als ein göttliches Werk. Von Thales ist der Satz überliefert, dass »alles voll von Göttern sei«, 13 und Plato nannte den Kosmos einen »sichtbaren«, einen »wahrnehmbaren Gott« (theos aisthetos). 14

Die christliche Entgöttlichung des Kosmos Diese Vorstellung von einem göttlichen und daher seitens des Menschen verehrungswürdigen Kosmos blieb in der antiken Welt, bei Griechen wie bei Römern, vorherrschend – bis zu dem Auftreten der Christen. Das Christentum führte in die westliche Kultur völlig andersartige Vorstellungen von der Beschaffenheit der Welt und der menschlichen Existenz in dieser Welt ein. Bei dem Verhör, das der Verurteilung zur Kreuzigung vorausging, erwiderte Jesus auf die Frage des Pilatus, was er getan hätte, dass er von seinem eigenen Volk an 13 14

Die Fragmente der Vorsokratiker, S. 79. Timaios 92c.

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ihn ausgeliefert worden sei: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt (kosmou). Wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so hätten meine Diener gekämpft, damit ich den Juden nicht übergeben worden wäre. Nun aber ist mein Reich nicht von hier« (Jo. 18, 35–36). Jesus distanziert sich von »dieser« Welt; er sei vom Vater ausgegangen und in den Kosmos gekommen, allein um den Menschen den Namen Gottes zu offenbaren (Jo. 28; 17, 6). Vor der Gefangennahme am Ölberg, bei der Zwiesprache mit seinem göttlichen Vater, bittet er nicht für die Welt, sondern für die Menschen, die ihm sein Vater anvertraut habe. Denn diese hätten mit der Welt nichts gemein, vielmehr würden sie von ihr gehasst, »weil sie nicht von der Welt sind, so wie auch ich nicht von der Welt bin« (Jo. 17, 9–14). Jetzt, da er den Kosmos wieder verlasse, ja bereits nicht mehr in ihm sei, bittet er den Vater, die Menschen, die ihm dieser anvertraut habe, aber die noch immer in der Welt seien, nun in seines, des Vaters, Namen zu bewahren (Jo. 16, 28; 11). Seinen Jüngern selber verheißt Jesus, dass sie in ihm Frieden haben würden. In der Welt dagegen erlitten sie Drangsal. Aber sie sollten voller Vertrauen sein. Denn er, Jesus, habe die Welt besiegt (Jo. 16, 33). Nach der Lehre Jesu gebührt dem Kosmos keinesfalls mehr der Name eines wahrnehmbaren Gottes. Vielmehr wird er ausgegeben als eine Welt, in der nicht das Gute, das Maßvolle, sondern der Hass, die Bedrohung, das Böse überwiegen. In der Welt ist der Mensch unglücklich, in Bedrängnis; er bedarf des Erlösers, der für ihn die Welt besiegt und ihn aus dieser errettet. Wer aber Jesus nach folgt, weiß sich befreit von den Banden dieser Welt. Daher ermahnt Paulus seine Glaubensbrüder in Rom, sie sollten sich nicht »dieser Welt gleichförmig« machen (Röm. 12, 2). Die Gestalt dieser Welt vergehe, so erklärt er im ersten Korintherbrief (7, 31), und im Brief an die Epheser erläutert er diesen, dass die Christen ihren Kampf (pale) nicht in erster Linie gegen Blut und Fleisch, sondern gegen die Fürsten, Mächte und Weltbeherrscher (kosmokratoras) dieser Finsternis, gegen die bösen Geister in den Himmeln (epouraniois) zu führen hätten (6, 12). Paulus leugnet alles das, was den Kosmos der Welt in den Augen der Griechen ausgezeichnet hatte: seine überzeitliche Dauer, die wohlgliedrige Schönheit seiner Gestalt, wie sie sich in der vollendeten Kreisbewegung der Himmelskörper ausdrücke, die in ihm wirkende Gegenwart der Götter. Stattdessen fordert er die Christen auf, sich vom Kosmos, diesem Werk der Vergänglichkeit, abzukehren. Paulus sieht diesen nicht als eine Wohlordnung der Dinge, sondern als eine Herrschaft des Bösen an. Und um 76 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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den Widerstand seiner Glaubensbrüder gegen diese Macht der Welt zu stärken, erinnert er diese eindringlich daran, sie sollten von der Vorstellung eines Kosmos voller Götter ablassen und sich allein dem einen Gott zuwenden: »Denn wenn es auch sogenannte Götter geben mag, sei es im Himmel, sei es auf Erden – es gibt ja wirklich viele Götter und viele Herren –, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, aus dem alles ist und für den wir da sind …« (1 Kor. 8, 5–6).

Der wohlgegliederte Kosmos der Griechen, »voll von Göttern«, sank im Bewusstsein der Christen ab zu einer gottlosen Welt. Sie erkannten das Göttliche allein in dem einen transzendenten Gott, jenseits aller weltlichen Dinge. Das Göttliche, das Irdische, das Unsterbliche, das Sterbliche, nach der Weltauffassung der Griechen in einem Kosmos geeint, rückte für die Christen auseinander einerseits zu der absoluten Transzendenz eines weltjenseitigen Gottes und andererseits zur kontingenten Immanenz einer nichtgöttlich-irdischen Welt. Bei der späteren Entwicklung der christlichen Lehre wurden von den Vätern der Kirche gegenüber dieser radikalen »Entgöttlichung« des Kosmos dennoch wieder Elemente antiker, d. h. vor-christlicher Kosmologie rezipiert. 15 Sie griffen dabei vor allem den Begriff der »Natur« auf, wie er ihnen von der Stoa her bekannt war. Die Römer besaßen zwar im Wort mundus einen entsprechenden symbolischen Begriff für diese Realitätsexegese, die von den Griechen in das Symbol kosmos gefaßt worden war. Aber verglichen mit dem griechischen Begriff physis war die Bedeutung ihres entsprechenden Begriffs natura weitaus umfassender. 16 Bei ihnen stellte er nicht nur das natürliche Lebensvermögen der einzelnen Dinge, sondern die schöpferische Lebenskraft des Kosmos überhaupt dar. So sah Zeno zum Beispiel die »Natur« geradezu als eine »ganze Künstlerin« (natura non artificiosa solum, sed plane artifex) an, 17 Seneca setzte sie schlechterdings mit Jupiter gleich. 18 Indem sie diese stoischen Ansichten über eine schöpferische, lebensspendende natura übernahmen, konnten die Väter die pauliniVgl. Kranz, Kosmos, S. 100 ff. Vgl. Ebd., S. 64 ff. 17 Zeno, Fragment 172, in: Stoicorum Veterum Fragmenta, Hrsg. Hans von Arnim, Bd. I: Zeno et Zenonis Discipuli, 1905, Repr. Stuttgart: Teubner, 1964, S. 44. 18 Seneca, Naturales Quaestiones (II, 45, 2), Lat.-Engl., Übers. Thomas H. Corcoran, Bd. I, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1971, S. 173. 15 16

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sche Verurteilung alles Weltlichen wieder etwas mildern (schließlich mussten auch die Christen in der Welt ein Leben lang ausharren), ohne zugleich die antike Vorstellung von einem Kosmos »voll von Göttern« in die christliche Lehre von der Beschaffenheit der Welt aufnehmen zu müssen. So konnte das Realitätsverständnis eines Christen zwar durchaus von einem Glauben an wundersame, in der Welt wirkende Kräfte von Geistern und Dämonen durchwoben, aber dennoch von der Überzeugung geprägt sein, dass diese Welt nichts ohne den Lebenshauch Gottes wäre, mit dem sie dieser, seit er sie erschuf, in ihrer Existenz erhalte.

Die Entfaltung der modernen Idee von der »Natur« Diese Symbiose von stoisch-antiker Naturkonzeption und christlicher Schöpfungslehre bildete die Grundlage für die Entfaltung jener modernen Natur-Idee, wie sie in der Renaissance ausgebildet wurde und bis heute das Weltbild der Menschen im Umkreis der westlichen Kultur bestimmt. Die früheste Vorform dieser Natur-Idee wurde während des 12. Jahrhunderts in der Schule von Chartres entwickelt. Allerdings muss man hierbei betonen, dass es sich eben um eine Vorform handelt, die noch keineswegs ein spezifisch modernes Denken derer anzeigt, die sie entwarfen. Man könnte wohl eher sagen, dass die Natur-Spekulation der Philosophen von Chartres aus der Perspektive ihrer Zeit gewissermaßen eine »Extravaganz« gegenüber der damals gültigen mittelalterlichen Kosmologie darstellte. Wenn hier also eine Linie von den Philosophen von Chartres zu den Naturphilosophen der Renaissance gezogen wird, so soll damit nicht eine Aussage über die allgemeine philosophiegeschichtliche Entwicklung vom Mittelalter zur Renaissance gemacht werden. Vielmehr soll festgestellt werden, dass eine Abweichung vom orthodoxen mittelalterlichen Weltverständnis, die zu ihrer Zeit nicht selbstverständlich war, aus heutiger Sicht als prototypisches Element in der Genese des modernen Weltbildes erscheint. Wie Tullio Gregory in seiner Studie Platonismo medievale (1958) ausführlich dargelegt hat, 19 entwarfen Bernhard von Chartres, sein Bruder Thierry von Chartres und vor allem Wilhelm von ConTullio Gregory, Platonismo medievale. Studi e ricerche, Rom: Istituto Storico Italiano Per Il Medio Evo, 1958, S. 22 ff.

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ches in ihren besonders von naturwissenschaftlichen Arbeiten der Araber beeinflussten Werken die Vorstellung von einer »autonomen oder besser kooperativen Natur … selber ausgestattet mit einem schöpferischen Vermögen …« 20. Beim Entwurf dieser Vorstellung verbanden sie zuerst die antik-kosmologische Idee von einer »Weltseele« (anima mundi) 21 mit der christlichen Lehre vom »Heiligen Geist« (spiritus sanctus), identifizierten dann diese Verbindung mit der stoischen Idee von einem die Welt bewirkenden naturalis vigor und erklärten schließlich, dass sich in dieser Lebenskraft eine alle Dinge der Welt umfassende und beseelende Natura äußere. Eine graphische Darstellung dieser Ableitung der in der Schule von Chartres ausgebildeten Natur-Idee ergibt dann folgendes Bild: spintus sanctus naturalis vigor anima mundi Die Bedeutung dieses Entwurfs für die Genesis der modernen NaturIdee beruht jedoch nicht allein auf der neuartigen Vorstellung von einer autonomen Natur, die dem Schöpfungswerk Gottes beisteht, es fortführt und ergänzt. Sie ist insbesondere auch mit der gedanklichen Dynamik verknüpft, die sich in der Entwicklung solch einer Vorstellung äußert. Wie an der graphischen Darstellung ersichtlich wird, drückt sich ja in der begrifflichen Ableitung dieser Vorstellung eine erhebliche Veränderung in der Anschauung von dem Prozess der Weltschöpfung und Welterhaltung aus. Zu Beginn werden, in einer Art kosmologischer Doppelung, anima mundi und spiritus sanctus, das antike und das christliche Symbol für jene schöpferische Kraft eingeführt, aus der heraus die Welt existiert. Am Ende kündigt sich anstelle der älteren, antiken bzw. christlichen Schöpfungslehren eine neue, profanere Schöpfungslehre an: die Vorstellung von einer »Natur«, die nun ihrerseits Schöpferin und Erhalterin aller Dinge der Welt ist. Ebd. S. 54. – An anderer Stelle erklärt Gregory diese Natur als »intermediaria tra Nous e il mondo sensibile … che garantisce l’intima coerenza e continuità del cosmo« (S. 137). 21 Die Vorstellung, dass auch die Welt mit einer »Seele« versehen sei, geht auf Platos Timaios (30 b–c) zurück. Sie blieb ein wesentlicher Bestandteil philosophischer Kosmologien bis ins 17. Jahrhundert. Seitdem geriet sie mehr und mehr in Vergessenheit (Ausnahme: Schelling). 20

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Diese neuartige, frühmoderne Wahrnehmung vom Schöpfungsprozess der Welt wird noch deutlicher sichtbar, wenn man die in der Schule von Chartres ausgebildete Natur-Idee mit einer Darstellung der damals allgemein gültigen Kosmologie vergleicht. So hat Hildegard von Bingen (1098–1179) zum Beispiel in ihr Liber Divinorum Operum Simplicis Hominis (um 1200) allegorische Darstellungen ihrer kosmologischen Auffassungen aufgenommen. 22 Diese Allegorien bilden noch einen kreisförmig geschlossenen, nach innen abgestuften Kosmos ab. Die einzelnen Glieder der kosmischen Ordnung gruppieren sich zu einer statischen Hierarchie. Nichts deutet auf die alles an sich ziehende Dynamik der Natur hin, wie sie kennzeichnend ist für die Kosmologie der Philosophen von Chartres. Nach der Kosmologie Hildegard von Bingens existiert alle Schöpfung unter Gott, von dem der Geist, der Nous ausgeht, der den Stoff aller Dinge, die Materie, gestaltet und beherrscht. Der Nous oder, im Verhältnis zur Materie, die Natur, wird seinerseits von Gott überhöht und umgriffen. Die Kosmologie, wie sie in den Allegorien Hildegards von Bingen erscheint, lässt sich graphisch wie folgt darstellen: 0 B B BNous B @

Gott =

1 C C NaturC C A

Materie Nach diesem kosmologischen Modell ist die Natur eingebunden in eine statische, von Gott überragte Ordnung des Kosmos. Es zeichnen sie nicht jene Souveränität und Schöpferkraft aus, die sie im Modell der Schule von Chartres fast wie eine Konkurrentin Gottes hervortreten lassen. Während des 15. Jahrhunderts bahnt sich jedoch eine solche Konkurrenz im Weltverständnis des europäischen Menschen an. Das intellektuelle Bemühen, den Prozess der Weltschöpfung und Welterhaltung zu erklären, weitete sich mehr und mehr zur Dynamik eines ungebändigten Forschungstriebes aus. Es blieb nicht mehr allein von der althergebrachten, im christlichen Glauben vorgegebenen Auffassung befriedigt, dass alles in der Welt von der Wirkkraft des Geistes Gottes abhänge. Da sich aber die Art und Weise dieses gött22 Hildegard von Bingen, Wisse die Wege – Scivias, Übers. u. Hrsg. M. Böckeler, Salzburg: Otto Müller, 51963, insbes. Abb. S. 17–85.

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lichen Wirkens der Wissbegier des Menschen entzog, konnte dieser sie nur noch auf das sichtbare, wahrnehmbare Werk Gottes, auf die Welt irdischer Dinge, lenken. In der Ausrichtung menschlicher Nachforschungen über die Entstehung, den Zusammenhalt und den Aufbau der Welt ereignete sich eine grundlegende Veränderung. Während das Wirken Gottes als Schöpfer der Welt noch für einige Zeit im menschlichen Weltverständnis angenommen, aber nicht mehr besonders akzentuiert wurde, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit des europäischen Menschen zusehends auf diese Welt der Natur, deren Erscheinungen, inneren Prozesse und Gesetze er physisch erfahren und methodisch erforschen konnte. Diese Akzentverschiebung im menschlichen Interesse an der Welt erscheint sehr einprägsam im kosmologischen Modell des Nikolaus von Kues (1401–1464), das ich hier wieder graphisch darstelle: spiritus divinus spiritus creatus = anima mundi = motus = spiritus conexionis = conexio formae et materiae = natura (= spiritus per totum universum et singulas eius partes diffusus et contractus) Die Natur, der »geschaffene Geist«, durch den alle Dinge der Welt existieren, wird von Nikolaus von Kues zwar noch als Ausfluss des »göttlichen Geistes« verstanden. Aber alle Vorgänge der Schöpfung, wie die Bewegung des Werdens, die Verknüpfung von Form und Materie, die Einfaltung alles Stofflichen in die Gestalt einzelner Dinge, ereignen sich für ihn aufseiten der Natur. Der »göttliche Geist« spielt dagegen nur noch am Rande mit; es scheint all jene Schöpferkraft von ihm gewichen zu sein, über die nunmehr eine allseits wirkende Natur verfügt. 23

Nikolaus von Kues, De docta ignorantia – Die belehrte Unwissenheit (1440), Bd. II, Lt.-Dt. Ausg., Hrsg. Paul Wilpert, Hamburg: Meiner, 1967, S. 78 ff.

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Die operative Naturphilosophie der Moderne Die endgültige Loslösung von der Vorstellung einer unmittelbaren Einwirkung des göttlichen Geistes auf die Geschehnisse in der Welt vollzogen Pietro Pomponazzi (1462–1525) 24 und Bernardino Telesio (1508–1588) 25. Sie sind die Väter der modernen Natur-Idee. In ihren Werken schufen sie die Grundlagen für die operative Naturphilosophie der Moderne. Bei ihren Nachforschungen und Überlegungen zu der Beschaffenheit dieser Welt gingen sie von vornherein von der Idee einer autonomen Natur aus, die der schöpferische Ursprung und die fürsorgende Bewahrerin aller Dinge der Welt sei. In seiner Schrift De immortalitate animae (1516) nennt sie Pomponazzi dann auch eine »tätige Natur« (natura agens), und er zögert nicht, auf sie ferner jenen Titel eines motor universalis zu übertragen, der zuvor allein Gott vorbehalten gewesen war. 26 In seiner Studie Pietro Pomponazzi. Radical Philosopher of the Renaissance beschreibt Martin L. Pine diese gedachte Einengung von Gottes Wirken wie folgt: »Pomponazzi kommt so zu dem Schluss, dass wir einräumen müssen, dass Gott zwar tatsächlich allwissend und allmächtig sei, aber dass Er selbst seine Macht einschränkt, indem er es sich verwehrt, von etwas vor dessen Zeit zu wissen oder entsprechend zu handeln. Dadurch wird sein eigenes Wissen und Handeln solange ungewiss, bis eine Tatsache oder eine Handlung in der Zeit definitiv wird. Nur zu dem Zeitpunkt, da der Mensch eine bestimmte Handlung ausführt, »gestattet« sich Gott, von ihr zu wissen und ihrer Herbeiführung »beizupflichten«. Diese ganz bestimmte, wenn auch begrenzte Einengung der göttlichen Macht im Namen der Logik und der [menschlichen] Freiheit erkennt dem Göttlichen einiges der überwältigenden Macht ab, die es im christlichen Denken für Jahrhunderte besessen hatte.« 27

In seinem Werk De rerum natura (1586) fordert Telesio zuallerst, die Natur nach ihren eigenen Prinzipien (juxta propria principia) zu er24 Zu Pomponazzis Leben und Werk s. den ausführlichen Artikel in der Stanford Encyclopedia of Philosophy: https://plato.stanford.edu/entries/pomponazzi/ (aufgerufen am 1. Februar 2018). 25 Zu Telesios Leben und Werk s. den ausführlichen Artikel in der Stanford Encyclopedia of Philosophy: https://plato.stanford.edu/entries/telesio/ (aufgerufen am 1. Februar 2018). 26 Pietro Pomponazzi: De immortalitate animae (1504), Hrsg. Giovanni Gentile, Messina-Rom: Giuseppe Principato, 1925, S. 71. 27 Martin L. Pine, Pietro Pomponazzi. Radical Philosopher of the Renaissance, Padua: Editrice Antenore, 1986, S. 367 f.

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forschen. Er folgt nicht mehr länger dem Vorbild älterer Kosmologien, bei welchen immer angenommen wurde, dass die Erscheinungen der Natur die Ergebnisse außernatürlicher Wirkkräfte seien. Für Telesio existiert die Natur aus sich selbst, er führt ihre Aktivität weder auf den Einfluss eines Heiligen Geistes noch auf das Wirken einer Weltseele zurück. Telesio erblickt in der Natur auch nicht die Schönheit eines Kosmos, dessen symmetrische Proportionen das Gefallen des Betrachters erregen. Ebenso wenig trägt er an sie die Kategorien eines philosophisch-logischen Denkens heran, um sie, wie es noch Nikolaus von Kues tat, als eine Verknüpfung von »Form« und »Materie« oder als eine »Wirklichkeit« gewordene »Möglichkeit« zu beschreiben. Nein, Telesio will die Natur allein als ein Wirkungsgefüge physikalischer Gesetze erklären. Er beabsichtige, so schreibt er zu Beginn seines Buches, sowohl die Welt an sich wie jedes einzelne ihrer Teilstücke, wie auch die Beschaffenheit und die Tätigkeit der in ihr zusammengespannten Dinge zu untersuchen. 28 Dabei dürfe dieser »Bau der Welt« (mundi constructio) nicht mit Hilfe der Vernunft, sondern allein mittels der sinnlichen Wahrnehmung erforscht werden. 29 Denn die Natur stimme immer mit sich selbst überein und sei beständig nach derselben Art und Weise tätig. Angesichts dieser unteilbaren, anhaltenden und unausgesetzten Identität der Natur könne die menschliche Vernunft nicht die kritische, maßgebende Instanz für die Erforschung der Natur sein. Vielmehr müsse sie den menschlichen Sinnen untergeordnet werden, und beim Prozess der Erkenntnis sei alles das auszuscheiden, was mit der Wahrnehmung der Sinne nicht übereinstimme. 30 Entsprechend diesen sensualistischen Thesen zur Erforschung der Natur fallen denn auch Telesios Vorstellungen von den »Prinzipien« der Natur aus. Er behauptet, dass Kälte und Wärme jene Kräfte seien, die die Existenz aller Dinge bewirkten. 31 Und in langatmigen, durch wenig empirisches Material abgedeckten Ausführungen macht er sich dann daran, im Wechselspiel dieser beiden Kräfte alle anderen Gesetze der Natur zu begründen. Allerdings kommt er dabei an eini-

Bernardini Telesii, De Rerum Natura, Hrsg. Vincenzo Spampanato, 2 Bde., Modena: A. F. Formiggini, 1910, Bd. 1, S. 6. 29 De Rerum Natura, S. 5. 30 Ebd. S. 6. 31 Ebd. S. 16. 28

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gen Stellen schon den Formulierungen späterer Naturinterpreten zuvor. Wie hernach Newton schränkt auch er zum Beispiel die allein gültige Zeiterfahrung des Menschen ein auf die physikalische Zeit und definiert diese durch Bewegung (motu) und Veränderung (mutatione). 32 Der überwiegende Teil seines zweibändigen Werkes ist aber der Begründung jener einen These gewidmet, die am Anfang der modernen Natur-Idee steht: dass es nur diese eine Natur gebe, die da tätig sei und keine andere Beschaffenheit aller Dinge sinnlich wahrzunehmen sei. 33

Vom Kosmos zur »Natur« Ich habe das antike Verständnis vom Kosmos der Welt und die Ausbildung der modernen Natur-Idee aus zweierlei Gründen dargestellt. Zum einen wollte ich aufzeigen, welche Einstellung seitens des Menschen zu der ihn umgebenden Realität sich in dem Symbol »Kosmos« und welche sich in dem Symbol »Natur« ausdrückte. Zum anderen versuchte ich, das ausschlaggebende Element in der Genesis der Moderne, eben diese in der Renaissance sich vollziehende Umorientierung vom »Kosmos« zur »Natur« innerhalb der Realitätsauffassung des europäischen Menschen sichtbar zu machen. Zur Verdeutlichung schließe ich noch einmal eine graphische Darstellung an: Gott anima mundi spiritus sanctus Kosmos Welt

Natur

Antike



Christentum

mundi constructio (De rerum natura juxta propria principia) –

Moderne

Ebd. S. 102. So die prägnante Formel: »Una enim quae agit natura, alia entium condicio nulla forte sensu percipitur« (ebd. S. 178).

32 33

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Die Voraussetzungen für diese Umorientierung wurden im Einzelnen schon genannt. Ich möchte sie hier noch einmal insgesamt aufführen: (1) Einflüsse der christlichen Lehre von der Verworfenheit der »Welt« wirkten auf eine »Entgöttlichung« des griechischen »Kosmos« »voll von Göttern« hin. (2) Die Wiederaufnahme von Elementen antiker Kosmologie in die christliche Theologie diente dem Versuch, eine göttliche Beseeltheit der Welt (anima mundi + spiritus sanctus) anzunehmen, ohne die Vorstellung von einem weit jenseitigen Gott aufzugeben. (3) Die Konzeption einer schöpferisch-autonomen Natur, die sich daraus ergab, verband zwar wieder Göttliches und Irdisches, spaltete aber das Weltinteresse des Menschen auf. Gottes einmalige Erschaffung der Welt war eine Sache passiven Glaubens; eine Sache aktiven Forschens dagegen war die Immanenz der Natur, deren inneren Prozesse, Strukturen und Gesetze. (4) Die Freisetzung der menschlichen Wissbegierde gegenüber der Natur, die ebenfalls für sich absolut betrachtet wurde, führte eine veränderte Einstellung des Menschen gegenüber der ihn umgebenden Realität herbei. Der Mensch verfiel dem Ehrgeiz, das schöpferische Werk der Natur entschlüsseln und in seine Macht stellen zu wollen. Aber worin genau bestand diese Veränderung in der Einstellung des Menschen zu der ihn umgebenden Realität? Inwieweit erstreckte sie sich auf das menschliche Selbstverständnis und wie wirkte sie sich auf das Handeln des Menschen in dieser Welt aus? Was bedeutete es, als Mensch nicht mehr in einem Kosmos der Welt, sondern in der Welt der Natur zu leben? Und welches Motiv konnte überhaupt den Menschen zu diesem Wechsel der Welten bewegen?

Die Welt der »Natur« Am Anfang des von Plato nach ihm benannten Dialogs fragt Timaios, was denn der Grund für die Erschaffung des Kosmos, für die Wohlordnung der Welt gewesen sei. Der Begründer des Werdens und dieses Alls, so fährt er sich selber antwortend fort, sei gut gewesen und er habe gewollt, dass »alles ihm selbst ähnlich« (panta paraplesia eauto), nämlich ebenfalls gut werde. Doch habe der Gott alles Sichtbare nicht in einem Zustand der Ruhe (esychia), sondern in einem Zustand zerfahrener und ordnungsloser Bewegung (kinoumenon) 85 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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vorgefunden. Und so habe er es aus der Unordnung (ataxias) zur Ordnung (taxin) gebracht, schien ihm doch diese in jeder Hinsicht besser als jene zu sein. 34 An einer späteren Stelle im Dialog erklärt Timaios, was der Sinn des Sehvermögens, dieses besonderen Geschenks Gottes an die Menschen sei. Seiner Ansicht nach würden wir aus ihm den größten Nutzen ziehen. Keine der jetzt bekannten Abhandlungen über das Universum wäre jemals vorgelegt worden, wenn wir Menschen weder die Sonne noch die Sterne noch den Himmel erblickt hätten. Wie es nun sei, habe aber der Anblick von Tag und Nacht, der Monate und der Jahre zur Erfindung der Zahl geführt und uns den Begriff der Zeit sowie Ideen zur Erforschung der Natur des Universums gegeben. Daraus hätten wir die Philosophie erlangt, und kein größeres Gut als dieses habe jemals die Sterblichen, als Geschenk der Götter, erreicht, noch würde ein solches sie jemals wieder erreichen. Denn Gott hätte uns das Sehvermögen geschenkt, damit wir die Kreisläufe der Vernunft im Himmel betrachten und an ihnen die Umläufe unseres eigenen Denkens ausrichten könnten. Diese seien jenen, die unruhigen den ruhigen verwandt. Und indem wir es so erlernten, an Abläufen von Berechnungen teilzunehmen, die ihrer Natur nach richtig seien, und indem wir die stets gleichbleibenden Bahnen des Gottes nachahmten, könnten wir auch unsere eigenen Irrfahrten in geordnete Bahnen lenken. 35 Solche Sinnbezüge im Kosmos der Welt gingen in der Welt der Natur verloren. In der Naturphilosophie der Modernen vereinfachten sich Erfahrungen von der Welt zu bloßen Wahrnehmungen physikalischer Fakten. Von der mundi constructio gab es Daten, aber keinen Sinn. In seiner Kosmologie konnte Platon über jede Sache in doppelter, genauer: hermeneutischer Hinsicht sprechen, zum einen über die Natur und zum anderen über die Bedeutung der betreffenden Sache. 36 Sein Verständnis des Sehvermögens beschränkte sich so nicht allein auf dessen physische Funktion, die visuelle Wahrnehmung von Farben, Konturen, Körpern und deren Bewegungen. Er

Plato, Timaios 29e–30a. Timaios 47a–c. 36 Zu Platons Hermeneutik vgl. die Seiten 12–19 meines Textes »Things Turned into Sounds: The Eranosean Hermeneutics«, in: Tilo Schabert, Hrsg., The Eranos Movement, A Story of Hermeneutics, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016. 34 35

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fasste es zudem als ein »Geschenk Gottes an die Menschen« auf, das es diesen möglich gemacht habe, von der unmittelbaren visuellen Erfahrung des Kosmos bis zur noetischen Einsicht in die Struktur dieses Kosmos aufzusteigen. Ein Telesio dagegen zeigte sich an solchen Fragen nach der Bedeutung der Dinge nicht nur uninteressiert, sondern schirmte seinen Erfahrungsbegriff auch sorgfältig gegen derlei Fragen ab. Erfahrungen, die sich nicht als physikalische Vorgänge oder Erscheinungen wie messbare Bewegung, körperlicher Widerstand, mengenmäßige Zerlegbarkeit, ansteigende oder fallende Temperatur beschreiben ließen, sollten aus der Erforschung dieser Welt ausgeschlossen bleiben. Wer sich diesem Erfahrungsbegriff beugte, wurde blind für den Kosmos der Welt, für das wohlgliedrige Sinngefüge aller Dinge. Stattdessen nahm er eine Welt der Natur, einen endlosen Raum und einzelne, in ihm verstreute Körper wahr. Fragte er nach der Art und Beschaffenheit dieser Körper, so wurde ihm eröffnet, dass sie undurchdringlich seien und jedwedem Widerstand böten, wer oder was immer sie berühre. Fragte er nach dem Warum dieser Welt, fragte er, worauf die eine oder die andere ihrer Erscheinungen hinweise, was das eine oder das andere Ding bedeute, wer denn hier überhaupt am Werke sei, so wurde ihm erklärt, dass die mundi constructio hierauf, wenn überhaupt, sehr zweifelhafte Antworten gebe. Nein, keine Antworten – an der neuen Welt der Natur war das alte Sinngefüge vom Kosmos der Welt zerbrochen. Das Erlebnis dieses folgenreichen Bruchs in der Welterfahrung des europäischen Menschen hat von den Zeitgenossen John Donne am ausdrucksvollsten dargestellt. Daher ist es schon ein klassischer Brauch, die entsprechenden Zeilen aus seinem Gedicht An Anatomie of the World (1611) zu zitieren: »And new Philosophy calls all in doubt, The Element of fire is quite put out; The Sun is lost, and th’earth, and no mans wit Can well direct him where to looke for it. And freely men confesse that this world’s spent, When in the Planets, and the Firmament They seeke so many new; they see that this Is crumbled out againe to his Atomies. ’Tis all in peeces, all cohaerence gone; All just supply, and all Relation: Prince, Subject, Father, Sonne, are things forgot, For every man alone thinkes he hath got

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To be a Phoenix, and that then can bee None of that kinde, of which he is, but hee. This is the worlds condition now, …« 37

Donnes klagevolle Worte, ’Tis all in peeces, all cohaerence gone, weisen auf ein grundsätzliches Paradox in der neuen Weltauffassung der Modernen hin. Einerseits beanspruchten neuere Naturphilosophen wie Telesio und Galilei, Bacon und Newton, Mersenne und Descartes, dass sie gegenüber früheren Interpreten der Welt zum ersten Mal das gesamte System dieser Welt überblicken und dessen wirkliche, d. h. physikalische Beschaffenheit mit unzweifelhafter, mathematischer Präzision erklären könnten. Andererseits aber schien dieser système du monde in mancher Hinsicht rätselhafter und damit für den Menschen beängstigender zu sein als zum Beispiel der griechische Kosmos.

Das Paradox der modernen Welterfahrung: wirklich und doch auch unwirklich Platos Timaios erblickte im Kosmos ein Ebenbild des Gottes, des Schöpfers des Werdens und des Alls. Er erwartete daher nicht, dass ein Verständnis der Realität allein aus einer Erforschung der materiellen Wirklichkeit dieser Welt zu gewinnen sei. Vielmehr ging er davon aus, dass die intelligible Wohlgliedrigkeit des Kosmos der Welt im Bewusstsein des Menschen, der sie denkend erfasse, transparent werde für den ihr zugrunde liegenden Logos der göttlichen Vernunft. Insofern der Kosmos einem Ebenbild des Gottes glich, falteten sich in ihm zwei Dimensionen von Ordnung, eine weltlich-kosmische und eine göttlich-noetische, zusammen. Die Suche des Menschen nach Einsichten in die Realität konnte sich aber sonach in jeweils entsprechender Weise in dieser Zweidimensionalität des Kosmos bewegen.

John Donne, An Anatomie of the World. The first Anniversary, in: The Poems of John Donne, Hrsg. Herbert Grierson, London: Oxford University Press, 1933, Repr. 1964, S. 213 f. – »Donne was one of the first to understand that the world would never be the same again.«, so erklärt David Wootton in seinem Buch The Invention of Science. A New History of the Scientific Revolution (London: Allen Lane, 2015), S. 10, und führt zur Unterstützung seiner These eine ganze Reihe wahrscheinlicher Indizien an (S. 8–10), wie z. B. das einer für möglich zu haltenden Bekanntschaft John Donnes mit Galileo Galilei. 37

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Wann immer sie sich auf die materielle Wirklichkeit dieser Welt konzentrierte, so wurde sie nie zwecklos, wenn sich in dieser physischen Dimension kein Verständnis einer bestimmten Erfahrung von Realität ergab. Denn eben diese Wirklichkeit der Welt war zugleich auch das große Symbol für die Wirklichkeit des Gottes. Die symbolische Dimension der Realität, nämlich die Transparenz der weltlich-kosmischen für die göttlich-noetische Ordnung, eröffnete die Möglichkeit, das Fragen des Menschen bis zu jenem göttlichen Ursprung heranzutragen, von dem all das ausging, was dieses Fragen überhaupt ausgelöst hatte. In der Weltauffassung der Modernen wurde dagegen die Zweidimensionalität des Kosmos zu der Eindimensionalität der Natur verflacht. Die natura agens, so erklärte man, umfasse und bewirke alle Dinge, und Maßstab für die Welterkenntnis des Menschen könnten nichts anderes als die der natura agens immanenten Prinzipien sein. Die Gültigkeit menschlicher Welterfahrung wurde somit auf die physische Dimension der Realität eingeschränkt, deren symbolische Dimension man nicht mehr beachtete und schließlich auch nicht mehr verstand. Wie sollte sich ein Moderner noch vorstellen können, dass es »im Himmel« eine Vernunft gab, deren sich stets gleichbleibende »Kreisläufe« das Paradigma für die Logik seines Denkens sein sollten? Musste ihm ein solches Ansinnen im Kontext der ihm geläufigen, auf die Eindimensionalität der Natur eingeebneten Weltauffassung nicht irrational erscheinen? Im Himmel war doch durch das Fernrohr keine »Vernunft«, wohl aber ein Mond zu beobachten, wie er um die Erde kreiste, oder es ließen sich jene Planeten sichten, die wie die Erde um die Sonne kreisten. Und die geometrischen Bahnen, die der Mond, die Erde und die anderen Planeten im Raume beschrieben, konnten nicht nur mathematisch berechnet werden, nein, es wurden auch vom Menschen jene physikalischen Gesetze erkannt, denen die Körper im All unveränderlich gehorchten. War denn damit die Welt nicht zureichend erklärt? Sie war es, solange sich das Interesse des Menschen auf ihre physische Beschaffenheit konzentrierte. Aber sie wurde rätselhaft, wenn gefragt wurde, warum die Welt der Natur so sei, wie sie sei, was mit ihr bezweckt und ob sie nur eine unter vielen oder die einzig mögliche aller Welten sei. Der moderne Mensch, der die Welt nur mehr in der physischen Dimension der Realität wahrnahm, musste sich eingestehen, dass für ihn die Existenz dieser Welt nicht gewiss, sondern nur wahrscheinlich war. Wie David Hume beispielhaft dar89 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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stellte, konnte die Zuversicht, dass die Welt der Natur auch morgen noch so existierte, wie sie heute erfahren würde, allein mit der Wahrscheinlichkeit begründet werden, mit der nach aller menschlichen Erfahrung bisher noch immer auf die eine Nacht, auf den einen Tag eine weitere Nacht, ein weiterer Tag gefolgt war. 38 Bei der Auslegung seiner Welterfahrung kam so der moderne Mensch nicht über ein grundsätzliches Paradox hinaus: die Welt der Natur konnte erklärt und doch nicht erklärt werden. Sie war »wirklich« und doch auch »unwirklich«; sie existierte im Modus der Notwendigkeit und doch auch im Modus der Wahrscheinlichkeit. Nach Platos Timaios war der Kosmos der Welt aus dem schöpferischen Handeln des Gottes erstanden, der alles Regellose und Ungeordnete in die eine Wohlordnung der Dinge brachte, um es »ihm selbst ähnlich« zu machen. Daher konnte im Kosmos der Welt eine Manifestation göttlicher Realität, ein theos aisthetos erblickt werden. Und den Menschen konnte aus ihrer Welterfahrung eine Vertrautheit mit diesem Kosmos erwachsen, der nicht irgendeine Welt, sondern die eine, einzigartige Repräsentation der Wirklichkeit alles Wirklichen, nämlich Gottes, war. 39 Es war sinnvoll, den Kosmos der Welt zu studieren. Solch ein Studium offenbarte nicht bloß eine Welt der Natur, die so oder auch anders sein konnte, sondern führte auch zu einer Erkenntnis dessen, was überhaupt ist. Der Mensch, der den Kosmos der Welt erfuhr, musste sich nicht, wie der moderne Mensch, über seine Welterfahrung hinaus erst auf eine Suche nach der Realität überhaupt begeben. Das Eine Wirkliche, das nicht wird und vergeht, sondern unveränderlich ist, war schon immer im Kosmos präsent, in der sichtbaren Manifestation des unsichtbaren Gottes, in der sichtbaren Ordnung der Dinge nach dem unsichtbar göttlichen Maß. Als Ebenbild des Gottes war die Welt schon »erklärt«: der Mensch konnte seiner Welterfahrung trauen. Er war nicht auf ein beziehungsloses Fragen verwiesen, das ihn zweifeln ließ, ob das auch die Wirklichkeit sei, was er nun als Welt erfahre. Vielmehr konnte er noch unwissend und doch schon wissend sich fragen, was diese eine, seiner Existenz vorgegebene Wirklichkeit sei, die er unreflektiert im Kosmos der Dinge alltäglich erfuhr.

Vgl. z. B. David Hume, Enquiry concerning human understanding (1748), V, 1, und Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Einheit der Natur, S. 120 ff. 39 Zur Kosmologie unter dem Aspekt der Partnerschaft vgl. Plato: Gorgias 508a. 38

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Der moderne Mensch brachte nicht mehr solch eine Vertrautheit mit dem Kosmos auf. Da er ohne Verständnis war für die symbolische Dimension der Realität, hatten für ihn die Erscheinungen der Welt alle Bedeutungen verloren, die über ihre unmittelbar wahrnehmbaren Wirkungen hinaus auf ein kosmisches Sinngefüge verwiesen hätten. In seinem Realitätsverständnis brach eine Kluft auf zwischen der Welt seiner alltäglichen Erfahrung und der Welt seiner mathematischen Vorstellungskraft. 40 Hier wurde noch immer die Zeit nach dem kosmischen Rhythmus zu Ende gehender und stets neu anbrechender Tage, Monate und Jahre erfahren; dort wurde sie nach der mathematischen Zahl gleicher Abstände auf einer unendlichen Linie einer gleichförmigen Bewegung gemessen. In der physikalischen Dimension der Realität jedoch, auf die sich das Weltverständnis des modernen Menschen eingeengt hatte, blieb eine Erfahrung der Zeit nach kosmischen Rhythmen bedeutungslos. In der Welt der Natur verstand sich der moderne Mensch nicht mehr als ein Partner im kosmischen Verband aller Dinge, bei dem sich die eine Wohlordnung der Welt in verschiedenen Weisen offenbarte. Vielmehr hatte sich in seinem Weltverständnis ja der Wechsel vom Kosmos der Welt zur Welt der Natur vollzogen, weil er alle ihm als Menschen möglichen Weisen der Wahrnehmung einer einzigen, der »naturwissenschaftlichen« unterwarf. Dabei konnte ein Galilei zum Beispiel mit Recht darauf verweisen, dass die »Naturwissenschaften« (scienze naturali) allen anderen Wissensformen des Menschen die zwingende Kraft und die unzweifelhafte Richtigkeit ihrer Schlussfolgerungen voraushätten. 41 Diese unbestreitbare Überlegenheit der Naturwissenschaften hinsichtlich der bestimmten Möglichkeit, die physische Beschaffenheit dieser Welt zu erkennen, besagte aber nicht, wie Galilei es gerne wahrhaben wollte, dass die Wirkungsweise der Natur nun auch das Modell für alle Wissensformen des Menschen überhaupt sein müsse. 42 Ein derartiger methodischer Kurzschluss erklärt sich wohl aus der Faszination, von der Galilei, gleich anderen seiner Zeitgenossen, angesichts der Möglichkeiten erfasst worden sein mochte, die sich aus den Na-

Vgl. Alexandre Koyré, The Significance of the Newtonian Synthesis, in: ders., Newtonian Studies, S. 3–24. 41 Galileo Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (1632), in: Opere, Hrsg. Pietro Pagnini, Bd. II, Florenz: Salani, 1964, S. 161. 42 Ebd. S. 481. 40

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turwissenschaften sowohl in Hinsicht auf eine absolute Gewissheit menschlicher Erkenntnis wie auch auf eine Beherrschung der Welt durch den Menschen zu ergeben schienen. Solchermaßen fasziniert, wurde von den Modernen vergessen, dass ihre naturwissenschaftlich gewisse Erkenntnis über die Welt der Natur nicht aufkommen konnte für den Verlust ihrer Sensitivität und ihres Wissens hinsichtlich des Kosmos der Welt. So konnten sie zwar die physikalischen Kräfte, durch die der Raum des Universums aufgespannt war, mathematisch berechnen. Aber sie vermochten über diesen Raum selber nichts anderes mehr zu sagen, als dass er eine große Leere sei, in der die Menge der zu Körpern verdichteten Materie fast wie ein Nichts verschwinde. An der ungehemmten Wissbegier, vor allem anderen zuerst die Welt der Natur zu erforschen, war der Kosmos der Welt im Bewusstsein der Modernen zerbrochen. An die Stelle der symbolischen Transparenz des Kosmos hin zum göttlichen Logos der Realität waren jetzt die Rätsel einer Natur getreten, die der Mensch zwar berechnen, aber nicht mehr verstehen konnte.

Die Ratlosigkeit Newtons In seiner Philosophiae naturalis principia mathematica (1687) hatte Isaac Newton ein mechanistisches Erklärungsmodell für die von ihm systema mundi 43 oder auch machina corporum 44 genannte Welt der Natur aufgestellt. Ihm zufolge wurde die Anordnung und Bewegung aller Körper im Raum, wie die der Gestirne in den Planetensystemen, von einer universal wirksamen Kraft der Anziehung bestimmt, aufgrund derer jeder Körper in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung verharre, solange er nicht durch die auf ihn einwirkende Anziehung eines anderen Körpers gezwungen werde, seinen Zustand zu ändern. Indem er die universale Gültigkeit der Gravitation und der sich aus ihr ergebenden Bewegungsgesetze mathematisch demonstrierte, gelang es Newton, eine mechanistische Physik zu formulieren, die die natürlich-objektive Beschaffenheit Isaac Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Editio tertia aucta et emendata, London 1726, S. 286; Repr. with Variant Readings, Hrsg. Alexandre Koyré, Opere, Hrsg., Isaac Bernard Cohen, Bd. II, Cambridge, Mass. 1972, S. 549. 44 Unpublished Scientific Papers of Isaac Newton, Hrsg. A. Rupert Hall, Marie Boas Hall, Cambridge: Cambridge University Press, 1962, Scholium Generale, MS C, S. 358. 43

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dieser Welt bis zu einem bestimmten Grade zureichend, d. h. experimentell verifizierbar, erklärte. 45 An einem entscheidenden Punkt menschlichen Fragens hinsichtlich der Welt der Natur versagte aber Newtons mechanistisches Erklärungsmodell. In seinem Scholium Generale, das der zweiten Ausgabe der Principia beigefügt wurde, versichert Newton zwar, dass es in der Naturphilosophie (Philosophia naturalis) finale Ursachen (causae finales) geben müsse und dass es einem freistünde, danach zu forschen, auf welches Ende hin die Welt begründet worden sei. 46 Newton selber aber bekannte, dass er an der Gravitationskraft außer den von ihr erzeugten Phänomenen nichts weiteres mehr, weder deren Ursprung noch deren Wirkungsweise erklären könne. Von dem Cambridger Altphilologen Richard Bentley daraufhin befragt, lehnte er in einem seiner vier Antwortbriefe sowohl die Vorstellung von einer der Materie inhärenten Gravitation wie auch den anderen Erklärungsversuch ab, dass die Gravitation durch die Leere des Raumes hindurch ihre Wirkung haben könne: »Es ist undenkbar, dass eine unbeseelte, rohe Materie, ohne die Mitwirkung von etwas anderem, das immateriell ist, eine andere Materie beeinflusse und auf diese einwirke ohne gegenseitigen Kontakt, wie es der Fall sein muss, wenn ihr die Gravitation im Sinne von Epikur als eine wesentliche Eigenschaft zugehört und innewohnt. Und dies ist ein Grund, warum ich wünschte, Sie würden mir nicht die Vorstellung von einer der Materie wesentlich anhaftenden Gravität (innate Gravity) zuschreiben. Dass die Gravitation der Materie anhafte, innewohne und wesentlich zugehöre, so dass ein Körper auf einen anderen über eine Distanz hinweg durch eine Vakuum hindurch einwirken könne, ohne die Mitwirkung von etwas anderem, durch das ihre Einwirkung und Kraft von dem einen zu dem anderen übermittelt werden könnte, ist für mich eine so große Absurdität, dass ich glaube, dass kein Mensch, der in philosophischen Dingen einigermaßen kompetent ist, auf sie hereinfallen kann.« 47

Zur Notwendigkeit einer Korrektur des Newton’schen mechanistischen Weltbildes infolge der Entwicklung der neueren Quantenphysik vgl. die oben angeführten Schriften von Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker. 46 Unpublished Scientific Papers …, Scholium Generale, MS C, S. 355. 47 Four Letters from Sir Isaac Newton to Doctor Bentley containing Some Arguments in Proof of Deity, London 1756. Nachgedruckt in: Isaac Newton’s Papers and Letters on Natural Philosophy, Hrsg. Isaac Bernard Cohen, Robert E. Schofield, Cambridge: Cambridge University Press, 1958, S. 302 f. (Brief III, vom 25. 2. 1693). Zur Vorgeschichte des Briefwechsels Newton–Bentley vgl. Perry Miller »Bentley and Newton«, ebd. S. 271–278. 45

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Was waren dann die causae finales dieser Welt der Natur, zu welchem Ende war sie begründet worden? Newton wusste darauf keine rechte Antwort. In einem anderen Brief an Bentley fragte er sich selbst, wie es dazu kam, daß sich die Materie gerade in zwei Arten aufteilte und der eine Teil, dazu geeignet einen Leuchtkörper zu bilden, auch in eine einzige Masse zusammenfiel und zu einer Sonne wurde, währenddessen sich der Rest, dazu geeignet, einen dunklen Körper zu bilden, nicht wie die leuchtende Materie in einem großen, sondern in vielen kleinen Körpern vereinigte. Dies könne man nicht, so fügte Newton hinzu, durch bloß natürliche Ursachen erklären. Vielmehr sei er gezwungen, es der Erwägung und dem Plan eines aus eigenem Antrieb Handelnden (voluntary Agent) zuzuschreiben. 48 Zögernd näherte sich Newton der Vorstellung von einem nichtphysischen Grund der von ihm physisch erklärten Welt an. Die Bewegungen, so fuhr er in seiner Antwort an Bentley fort, in denen sich die Planeten jetzt befinden, hätten nicht aus einer natürlichen Ursache allein entspringen können, sondern seien durch einen mit Verstand begabten Handelnden (intelligent Agent) übertragen worden. 49 Daher könne auch die »Harmonie« in dem System der Welt eher als eine Auswirkung willentlicher Wahl (Choice) und weniger des Zufalls angesehen werden. 50 Newton zeigte sich jedoch nicht bereit, diesen die Welt begründenden »Agenten« anders als in den Kategorien seiner mechanistischen Physik zu verstehen: »Um dieses System, mit all seinen Bewegungen, zu schaffen, bedurfte es deshalb einer Ursache (Cause), welche die Quantität der jeweiligen Masse bei den einzelnen Himmelskörpern wie der Sonne und den Planeten und die daraus resultierenden Gravitationskräfte erfassen und miteinander vergleichen konnte.« 51 Nach Newtons Vorstellung gehen die Gesetze seiner Mechanik allem voraus – auch dem »Agenten«, der die »Ursache« dieser Welt sein soll. Sein Verständnis von einem nicht-physischen Grund dieser Welt schien nicht das Niveau verbaler Reminiszenzen an die Person eines welttranszendenten Gottes – wie »voluntary« und »intelligent« – zu überschreiten. Diese bestärken so eher den Verdacht, dass sie von Newton allein wegen seines Un-

48 49 50 51

Ebd. S. 282 (Brief I, vom 10. 12. 1692). Ebd. S. 284. Ebd. S. 289. Ebd. S. 286.

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vermögens eingeführt wurden, die causae finales einer Welt der Natur in der Sprache der Physik zu erklären. Insofern Newton beharrlich an einem mechanistischen Erklärungsmodell für die Welt festhielt, blieb er außerstande, seiner mathematischen Auffassung der Gravitation noch irgendeine wesentliche Erkenntnis über deren Ursprung und deren Wirkungsweise hinzuzufügen. 52 Im Medium seiner mechanistischen Physik ließen sich keine Antworten auf die Fragen finden, woraus, warum und zu welchem Ende diese Welt überhaupt entstanden sei. Wenn er eingestand, dass die Planeten von der Gravitation zwar in Bewegung gesetzt werden könnten, aber ohne eine »göttliche Macht« von ihr niemals in solch eine kreisförmige Bewegung hätten versetzt werden können, wie sie sie um die Sonne beschreiben, 53 so bezeugte Newton seine intellektuelle Redlichkeit. Er bot nicht Antworten an, wo er über keine verfügte. Umso weniger können seine vagen, philosophisch diffusen Ausführungen über einen die Welt begründenden »Agenten« darüber hinwegtäuschen, wie sehr die Welt wieder nach seinen Principia rätselhaft wurde. So belehrte Newton zwar seine Leser über die mathematischen Prinzipien dieser Welt; er teilte ihnen aber auch seine eigene Ratlosigkeit hinsichtlich des ersten, sinnspendenden Grundes dieser Prinzipien mit: »Die Gravitation muss von einer Wirkursache (Agent) bewirkt worden sein, die beständig nach bestimmten Gesetzen handelt; aber ob diese Wirkursache materiell oder immateriell ist, dies habe ich der Erwägung meines Lesers überlassen.« 54

Vereinseitigung des Erfahrens – Partielle Sprachlosigkeit An Newtons Ratlosigkeit wird die qualitative Differenz sichtbar, die das Verständnis des vor-modernen Menschen vom Kosmos von der Naturkonzeption des modernen Menschen trennt. Im Realitätsverständnis des europäischen Menschen stellte der Wechsel vom Kosmos der Welt zur Welt der Natur nicht einen Fortschritt, wie ihn die Mo-

Im Scholium Generale erklärt denn auch Newton lapidar: »Moreover I have not yet disclosed the causes of gravity nor have I undertaken to explain it since I could not understand it from the phenomena.« (Unpublished Scientific Papers, MS A, S. 352). 53 Four Letters, S. 298 (Brief II, vom 17. 1. 1693). 54 Ebd. S. 303 (Brief III, vom 25. 2. 1693). 52

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dernen gerne ansehen, sondern einen Rückschritt dar. Newton wollte die Welt allein in der Sprache seiner mechanistischen Physik erklären. Diese Einschränkung entsprach der Verengung des modernen Weltverständnisses auf eine »Natur«, in der allein die physische Dimension und keineswegs mehr die symbolische Dimension der Realität aufschien. Bei seinen Forschungen über die Natur, d. h. die physische Beschaffenheit dieser Welt, entwickelte so der moderne Mensch zwar eine »naturwissenschaftliche« Sprache, in der er den Verlauf und die Ergebnisse dieser Forschungen adäquat darzulegen vermochte. Aber all die Bereiche der Realität, von denen er Erfahrungen hatte, waren nicht identisch mit dem einen Bereich der »Natur«. Nicht alle seine Erfahrungen von den Dingen dieser Welt betrafen allein deren physikalische Eigenschaften. Und nicht zuletzt veränderte sich ja mit dem fortschreitenden Prozess naturwissenschaftlicher Erkenntnis auch die naturwissenschaftliche Sprache 55. Dennoch blieb im Bewusstsein der Modernen die Vorstellung vorherrschend, dass alle Bereiche und alle Weisen der menschlichen Erfahrung von Realität in einer einzigen, ›wissenschaftlich objektiv‹ genannten Sprache darzustellen seien. 56 Dieses sprachtheoretische Postulat blieb bisher nicht nur unerfüllt. Es hinderte den modernen Menschen auch daran, bei der sprachlichen Auslegung seiner Erfahrungen gegenüber deren Vielartigkeit und deren Mannigfaltigkeit noch ebenso offen wie der vormoderne Mensch zu sein. Dank seiner Sensitivität für die symbolische Dimension der Realität hatte der vor-moderne Mensch vermocht, je nach der Art, wie er einen bestimmten Gegenstand oder ein bestimmtes Ereignis erfuhr, auch ein dementsprechendes Sprachbild oder Symbol für diese bestimmte Erfahrung auszuformen. So legte er seine Erfahrung von dem einen Kosmos der Welt in durchaus verschiedenen Symbolen aus. Nomos und dike, nous und logos, proSo ließe sich z. B. auf die Entwicklung des physikalischen Raumbegriffs (von Newton über Faraday bis zu Einstein) oder auf die Uminterpretation des Begriffs der naturwissenschaftlichen »Objektivität« in der Quantentheorie verweisen. Vgl. auch das Kapitel »Die Sprache der Physik« in Carl Friedrich von Weizsäckers Studie: Die Einheit der Natur, S. 61–83. 56 Vgl. z. B. Condorcet, Esquisse d’un tableau historique du progrès de l’esprit humain, S. 80 f.; oder Antoine Louis Claude Destutt de Tracy, Elémens d’idéologie, Paris: V. Courcier, 1824–26, Bd. 2, S. VIII ff. Tracy, der den Begriff idéologie überhaupt prägte, nannte die idéologie ausdrücklich eine science des idées, eine méthode des méthodes, oder auch eine science des sciences. 55

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noia und ananke bezogen sich als Symbole gleichermaßen auf die Ordnung der Welt; jedoch deutete jedes einzelne Symbol für sich einen anderen Aspekt dieser Weltordnung an: sei es das Rechte von Natur oder die Gegenwart des Göttlichen, sei es der Lauf der Dinge. 57 Die Fähigkeit des vor-modernen Menschen, seine Sprache und damit sein Denken zur Mannigfaltigkeit seiner Erfahrungen hin offenzuhalten, ging indes dem Menschen in der Moderne abhanden. Er setzte die Welt seiner Erfahrung mit der Welt der Natur gleich und war jetzt bestrebt, die Vielfalt seiner Wahrnehmungen auf die Einfachheit immer gleicher Ursachen zurückzuführen. 58 Durch die Vereinseitigung seines Erfahrens verarmte er jedoch in seinem Verständnis für die Dinge dieser Welt. Natürlich erschloss er sich auf diese Weise mehr und mehr die »Geheimnisse« der Natur und vermochte es, deren Kräfte seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Aber er hatte sich auch in dieser einen Erfahrungsweise gegenüber allen anderen ihm als Menschen offenstehenden Weisen, die Welt zu erfahren, verschlossen. In der Welt der Natur gab es für jedes Objekt nur ein Symbol: das mathematische Zeichen für seine physische Beschaffenheit. Gegenüber der Pluralität der Symbolisierungen, über die der vor-moderne Mensch verfügt hatte, engte der moderne Mensch seine Weltexegese auf eine einzige Symbolisierung ein. Von einer sprachlichen Differenziertheit, die der Differenziertheit menschlicher Erfahrung entsprach, fiel er in eine partielle Sprachlosigkeit zurück, in der er für nicht-physische Erfahrungen entweder keine oder nur noch aus älteren Symbolsprachen zusammengelesene Worte fand. 59 Vgl. Henri u. Henriette Antonia Frankfort, »Myth and Reality«, in: Henri Frankfort u. a.: Before Philosophy: an essay on speculative thought in the ancient Near East, Chicago: Chicago University Press 1949, S. 11–36; Mircea Eliade, The Forge and the Crucible, S. 142 ff.; Eric Voegelin, Order and History, Bd. 1: Israel and Revelation, Baton Rouge: Louisiana State University Press 1956, 31969, S. 1–15; Bd. 2: The World of the Polis, Baton Rouge: Louisiana State University Press 1957, 21964, S. 126 ff., 171 ff., 291 ff.; Bd. 3: Plato and Aristotle, Baton Rouge: Louisiana State University Press 1957, 21964, S. 194 ff. 58 Vgl. z. B. Newton’s Regulae Philosophandi in: Philosophiae Naturalis …, S. 387 ff., Bd. II, S. 550 ff. 59 Man muss jedoch hinzufügen, dass von zeitgenössischen Vertretern der Naturwissenschaften wieder deren symbolische Qualität hervorgehoben wird. Danach stellen sie nicht die (ausschließliche) Interpretation menschlicher Welterfahrung, sondern eine bestimmte, von einem begrenzten Aspekt aus gewonnene Weltinterpretation dar: Vgl. z. B. W. Heisenberg, Physik und Philosophie, S. 40: »… wir müssen uns 57

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Von den Modernen wurde jedoch diese partielle Sprachlosigkeit – die ja auf den Verlust ihrer partnerschaftlichen Vertrautheit mit dem Kosmos zurückging – nicht unbedingt als ein Nachteil empfunden. Sie fühlten sich vielmehr von ihr bestärkt, noch mehr jenem Motiv zu folgen, das in ihrer Abkehr vom Kosmos der Welt und ihrer Neugier für die Welt der Natur zutage trat: Sie wollten die Welt nicht mehr verstehen, sondern beherrschen. Jedes Verständnis für den Kosmos der Welt schloss die Vorstellung aus, dass dieser Kosmos von dem Menschen beherrscht werden könnte oder sollte. Eine herrschaftssüchtige Einstellung des Menschen gegenüber der Welt konnte sich erst bei einer teilweisen Verdunkelung der Realität innerhalb der Wahrnehmung des Menschen einstellen. Insofern die Modernen nicht mehr die Primärordnung der Welt verstanden, die jedem Menschen vorgegeben ist und seine Existenz umfasst, konnten sie von der Vorstellung bezaubert werden, dass die eigentliche, bisher nicht wahrgenommene Stellung des Menschen in der Welt die eines Herrschers sei.

Die Herrschaft des Menschen über die Natur: Zur Genealogie eines Motivs Bei der Genealogie des Motivs der Herrschaft des Menschen über die Welt lassen sich vier Stadien unterscheiden. Ich möchte sie anhand einiger repräsentativer Texte illustrieren. (1) Nach der christlichen Lehre ging die Existenz der Dinge aus einem Zusammenwirken des Geistes Gottes und der Natur hervor. Dieses kooperative Verhältnis der Natur zu Gott wurde im modernen Denken nicht mehr länger akzeptiert. Stattdessen wurde die Natur als eine Konkurrentin Gottes oder, eher umgekehrt, Gott als ein Konkurrent der Natur angesehen. Was bedurfte die Welt noch eines göttlichen Wirkens, wenn ihr eine natura agens innewohnte, die selber Schöpferin und Erhalterin aller Dinge war? Schließlich, so argumentierte Newton, sei es nicht damit getan, die Existenz eines Ens per-

daran erinnern, dass das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist.« – Vgl. des Weiteren: Ilya Prigogine, »Ereignis und Gesetz. Das Zusammenspiel von Ordnung und Unordnung im Universum«, in: Tilo Schabert, Erik Hornung, Hrsg., Strukturen des Chaos, München: Fink, 1994, S. 129–149.

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fectum aufzuweisen. Wer dies aufweise und nicht gleichseitig darlege, dass es sich dabei um den »Herrn der Welt oder Pantokrator« handle, der habe noch nicht bewiesen, dass es einen Gott gebe. Denn die Natur sei ebenfalls »ewig«, »unendlich«, »allwissend« und »allmächtig« und sei die »notwendig existierende Erzeugerin (author) aller Dinge«. Also könne man nicht die Existenz Gottes beweisen, indem man ein Ens aeternum, infinitum, sapientissimum, summa perfectum aufweise. Denn dabei weise man nichts anderes als die Natur auf. 60 Newton erhellt das Dilemma, dem sich die Modernen bei der Ausformung ihrer Natur-Idee gegenübersahen. Sie ordneten der Natur alle Attribute Gottes zu – und mussten sich dann aber fragen, ob es neben dieser quasi-göttlichen Natur noch einen anderen Gott geben könne. Doch Newton löste auch das von ihm aufgeworfene Problem, indem er die Frage nach Gott aus dem Bereich philosophischen Denkens in den Bereich einer Untertanenmentalität verwies. »Gott«, so erklärte er, sei ein relativer Name und beziehe sich auf dessen »Diener«. Daher würden wir auch nicht »mein«, »unser«, »euer Ens perfectum«, sondern »mein Gott«, »unser«, »euer Gott« sagen, und das hieße »mein höchster Herr«, »unser höchster Herr«, »euer höchster Herr«. 61 Für Newton mochte diese Unterscheidung noch einleuchtend sein – aber es sollte nicht mehr lange dauern, bis ein Diderot, ein Rousseau neben der göttlichen Natur überhaupt nicht mehr diesen Gott dulden wollten, für den schon Newton nur noch den Titel eines »Herrn von Dienern« (Dominum servorum) hatte erübrigen können. 62 Alexandre Koyré kommentierte diese Entwicklung so: »Einmal mehr schien das Buch der Natur Gott zu offenbaren, einen Ingenieur-Gott dieses Mal, der nicht nur die Weltuhr fabriziert hatte, sondern diese auch beständig zu überwachen und zu pflegen hatte, um ihren Mechanismus, wenn nötig, wieder herzurichten (ein ziemlich schlechter Uhrmacher, dieser Newtonsche Gott, wandte Leibniz ein). So zeigte dieser Ingenieur-Gott seine Präsenz und sein Interesse an seiner Schöpfung. Doch die Entwicklung der Newtonschen Wissenschaft selbst, die zusehends das vollendete Können des göttlichen Artifex und die unbegrenzte Perfektion seines Werkes enthüllte, ließ leider immer weniger Raum für das göttliche Eingreifen. Die Weltuhr, so erschien es mehr und mehr, bedurfte weder 60 61 62

Unpublished Scientific Papers …, Scholium Generale, MS C, S. 359. Ebd. S. 358 f. Ebd. S. 359.

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eines Aufziehens noch einer Reparatur. Einmal in Gang gesetzt, lief sie für immer. Nachdem er einmal das Werk der Schöpfung ausgeführt hatte, konnte sich Newtons Gott zur Ruhe setzen. Er hatte nichts mehr in dieser Welt zu tun.« 63

(2) Nach der Auffassung der Modernen erwies sich die absolute Autonomie der Natur an der Unveränderlichkeit ihrer Gesetze. In ihrem Denken avancierte das Wort »Naturgesetz« zum Inbegriff des Unbezweifelbaren, des absolut Gültigen. Danach wurden Ereignisse in der Welt fraglos akzeptiert, wenn sie mit »Naturnotwendigkeit« geschehen waren. Aussagen über geschichtliche oder gesellschaftliche Prozesse wirkten überzeugender, wenn es einem aufzuzeigen gelang, dass es sich dabei eigentlich um ›Naturprozesse‹ handle. Diese Absolutheit der Naturgesetze war nach Ansicht der Modernen selbst für Gott verbindlich. Ja, sie entwickelten eine ausgesprochene Vorliebe dafür, gerade an Gott die unbedingte Gültigkeit aller Gesetze der Natur zu demonstrieren. Montesquieu zum Beispiel erklärte in seinen Lettres persanes (1721): »Obgleich Gott allmächtig ist, kann er nicht seine Versprechen brechen, noch kann er die Menschen hintergehen. Oft nämlich rührt die Ohnmacht nicht von ihm, sondern von den Umständen her; und das ist der Grund, warum er die Beschaffenheit der Dinge nicht ändern kann.« 64 Einerseits bejahte so Montesquieu die Allmacht Gottes. Andererseits aber behauptete er, dass sie eingegrenzt sei durch die unveränderliche Beschaffenheit der Dinge. Jedoch lag seiner Argumentation wohl nicht die Absicht zugrunde, bloß ein Paradox zu formulieren. Sie zielte eher darauf ab, gerade an der Allmacht Gottes, die man gemeinhin für uneingeschränkt hielt, die noch größere Übermacht aller naturhaften Verhältnisse dieser Welt aufzuweisen. Vor der Unveränderlichkeit der Naturgesetze musste nach Montesquieu selbst die Allmacht Gottes kapitulieren. Denn alle Wirklichkeit, so stellte er am Anfang seines Werkes über den Geist der Gesetze (Esprit des Lois, 1748) fest, unterliege ausnahmslos bestimmten Gesetzen: »In ihrer weitesten Bedeutung stellen die Gesetze die notwendigen Beziehungen dar, die sich aus der Natur der Dinge (nature des choses) ergeben, und in diesem Sinne haben alle Wesen ihre Gesetze; die Göttlichkeit hat ihre Gesetze; die materielle Welt hat ihre Gesetze; die geistigen Wesen, die Alexandre Koyré, Newtonian Studies, London: Chapman Hall, 1965, S. 21. Montesquieu, Lettres Persanes, Hrsg. Jacques Roger, Paris: Garnier-Flammarion, 1964, S. 124.

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höherstehend als der Mensch sind, haben ihre Gesetze; die Tiere haben ihre Gesetze; der Mensch hat seine Gesetze.« 65

An einer anderen Stelle in den Lettres persanes betont daher Montesquieu, dass, wenn es einen Gott gebe, dieser notwendigerweise gerecht sein müsse. 66 Denn würde er dies nicht sein, wäre er nach der Ansicht Montesquieus das schlechteste und das unvollkommenste aller Wesen. Der Geist der Gesetze verlangt, dass sich auch Gott, wie man es von ihm erwartet, streng an die Gesetze seiner Göttlichkeit hält, (3) In einer derartigen Erhebung des Naturgesetzes selbst über Gott hinaus hatte die Entwicklung des menschlichen Herrschaftsmotivs gegenüber der Welt ihr entscheidendes Stadium erreicht. Denn den Menschen stand es jetzt frei, sich mit Gott selber zu vergleichen. Zuvor, im Kontext eines christlich geprägten Realitätsverständnisses, wäre es unsinnig gewesen, von einer Gleichheit menschlicher Welterkenntnis und göttlicher Weisheit zu reden. Jetzt aber, im Kontext eines modernen Realitätsverständnisses, bot sich in Form der Naturgesetze ein neutrales Terrain für eine derartige Gleichsetzung an. Nach der Ansicht der Modernen mochte Gott zwar die Welt der Natur erschaffen haben. Aber nachdem er sie einmal begründet hätte, würde auch er nicht mehr imstande sein, an der nature des choses noch etwas zu ändern. Vor der Absolutheit der Naturgesetze seien daher Gott und Mensch gleich: wie der Mensch, so könne auch Gott nichts anderes als die »objektiven«, nämlich mathematischen Gesetzmäßigkeiten erkennen, denen alle Dinge dieser Welt unumstößlich gehorchten. In seinem Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (1632) stellt so Galilei zum Beispiel ausdrücklich fest, dass es keinen qualitativen Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Erkenntnis gebe. Die Wahrheit der Erkenntnis, die uns die mathematischen Demonstrationen (physikalischer Naturprozesse) erbringen würden, so führt er aus, sei dieselbe Wahrheit, die auch die göttliche Weisheit erkenne. 67 Wenn man die Welterkenntnis des Menschen weniger an der Menge als vielmehr an der Qualität der Einsichten messe, dann könne man sagen, dass der menschliche Verstand (intelletto umano) 65 Montesquieu, De l’Esprit des Lois, Hrsg. Gonzague True, Bd. 1, Paris: Garnier, 1961, S. 5. 66 Lettres Persanes, S. 140. 67 Galileo Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, in: Opere, S. 237 f.

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etwas so vollkommen verstehe und dabei eine solche absolute Sicherheit (assoluta certezza) erreiche, wie sie die Natur selber nicht hätte. 68 Und der göttliche Verstand (intelletto divino) würde zwar von den reinen mathematischen Wissenschaften (scienze matematiche pure) unendlich mehr Grundsätze (proposizioni) als der menschliche Verstand wissen, weil er sie alle wisse. Bei denjenigen Grundsätzen aber, die der menschliche Verstand verstehe, würde seine Erkenntnis sehr wohl der göttlichen in der objektiven Gewißheit gleichkommen (agguagli … nella certezza obiettiva). Denn er würde dahin gelangen, die Notwendigkeit (necessità) zu begreifen, über die hinaus es keine größere Sicherheit (sicurezza) mehr geben könne. 69 Mit diesem Vergleich zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Verstand hat Galilei die psychischen Quellen erhellt, aus denen das Herrschaftsmotiv des modernen Menschen gegenüber der Welt entsprang. Der Mensch, der von sich glaubt, dass er in der Erkenntnis der Natur gleich Gott sei, nimmt gegenüber der Welt eine ganz andere Position als beispielsweise ein platonischer philosophos oder ein paulinischer pneumatikos ein. Er sieht sich als Pantokrator, als königlicher Herr einer ihm untertanen Welt an. Denn solch ein Selbstverständnis ist nichts anderes als diejenige Art menschlicher Einstellung zu der Welt, die dem Postulat einer Gleichheit menschlicher und göttlicher Welterkenntnis logisch entspricht. Wenn die necessità, nach der die Dinge in dieser Welt geschehen, gleichermaßen das absolute Maß sowohl für die göttliche wie die menschliche Welterkenntnis ist, dann befindet sich der Mensch auch wie Gott in der Position des Schöpfers dieser Welt. Er begreift und übersieht den Schöpfungsplan, den die Natur alltäglich verwirklicht, indem sie nichts anderes als ihn befolgen kann. Den Menschen zeichneten denn auch Würden aus, die die eines Gottes wären. Und so schmeichelt Galileis Vergleich einer besonderen Vorliebe des Menschen: seiner Eitelkeit. In der allgemein menschlichen Vorliebe zur Selbsterhöhung liegt jene pantokratische Einstellung zur Welt letztlich begründet, die typisch für den Menschen in der Moderne ist. Indem die Modernen wie Galilei aus dem Staunen über die Großartigkeit des menschlichen Geistes nicht mehr herauskamen, erhoben sie sich mehr und mehr in jene eitlen Höhen menschlicher Selbstgefälligkeit, wo der Mensch über sich selbst so stolz ist, dass er sich schon selbst beneidet: 68 69

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»Und während ich über so und so viele wunderbare Erfindungen rede, welche von den Menschen sowohl in den Künsten wie in der Literatur gemacht wurden, und dann nachdenke über mein eigenes Wissen, der ich weit davon entfernt bin, dass ich versprechen könnte, selber irgendetwas Neues zu entdecken, noch das schon Entdeckte zu erlernen, wie ich so von Staunen verwirrt und von Verzweiflung betrübt bin, da erachte ich mich gleichsam für unglücklich. Wenn ich irgendeine von den makellosen Statuen betrachte, sage ich mir selber: Und wann könntest Du das gewaltige Gewicht eines Stück Marmor hochheben und eine derart schöne Gestalt herausmeißeln, wie sie dort verborgen liegt? Und wann könntest Du auf einer Leinwand oder einer Wand verschiedene Farben mischen und auftragen und mit ihnen alle sichtbaren Gegenstände darstellen, wie es ein Michelangelo, ein Raffael, ein Tizian getan haben?! Wenn ich mir überlege, was die Menschen bei der Einteilung der musikalischen Intervalle, bei der Aufstellung jener Anweisungen und Regeln ersonnen haben, die sie mit einem wunderbaren Entzücken für das Gehör handzuhaben verstehen, wann kann ich dann aufhören zu staunen? Was werde ich von den vielen und so verschiedenen Instrumenten sagen? Wer wird nicht bei der Lektüre der vortrefflichsten Dichter von höchster Verwunderung erfasst, wenn er ihre poetischen Einfälle und ihre Begriffe einmal aufmerksam erwägt? Was werden wir von der Architektur, was von der Navigationskunst sagen?« 70

(4) In den Zeitaltern vor der Moderne brachten die Menschen im allgemeinen Bewunderung für den Kosmos, die Wohlordnung dieser Welt auf. Sie erblickten in der Primärordnung dieser Welt das göttliche Maß für die Verwirklichung ihrer menschlichen Existenz. Im Zeitalter der Moderne dagegen überwand die Selbstgefälligkeit der Menschen all ihre Sensibilität für den Kosmos der Welt. Jetzt erfasste sie ein fieberndes Entzücken über ihre eigene Existenz. Nicht mehr den Kosmos bestaunten sie, sondern sich selbst. Es erschien ihnen der Mensch als das Wunder aller Wunder – wie er die Welt der Natur zu durchforschen und zu beherrschen begann; wie er die Schönheiten der Natur in der Vollkommenheit seiner Kunstwerke übertraf; wie er in seinem Geist Wissen über Wissen häufte und so dessen unendlicher Vervollkommnung entgegenstrebte. Der moderne Mensch wandte sich ab vom Kosmos der Welt und der Welt der Natur zu, weil er seiner Selbstgefälligkeit wegen in der Welt nicht mehr ein göttliches Maß, sondern sich selber als das Maß aller Dinge wahrnehmen wollte. So behauptet zum Beispiel Francis Bacon in seiner Schrift The Advancement of Learning (1605), dass die Werke Gottes zwar die Allmacht und die Weisheit ihres Schöpfers 70

Ebd. S. 239.

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zeigten, aber nicht dessen Ebenbild seien. Wenn man früher der Ansicht gewesen sei, dass die Welt das Ebenbild Gottes und die Menschen ihrerseits Ebenbilder der Welt sein würden, so wäre man abgewichen von der »geheiligten (d. h. christlichen) Wahrheit«. Denn in den Heiligen Schriften werde der Welt nirgendwo die Ehre erwiesen, als Ebenbild Gottes dargestellt zu sein. Vielmehr werde sie dort lediglich als das »Werk seiner Hände« vorgestellt. Noch würde in den Schriften von irgendeinem anderen Ebenbild Gottes gesprochen – außer dem Menschen. 71 Bacon erklärt, warum der europäische Mensch während des 16. und 17. Jahrhunderts seine Partnerschaft mit dem Kosmos der Welt aufkündigte: von einer Art anthropozentrischer Eifersucht gepackt, duldete er nichts mehr, das der Göttlichkeit näher stünde als er. Aufgrund seiner Erfolge bei der Erforschung der Natur zweifelte er nicht mehr daran, dass er dem Gotte gleich sei, der wie er die necessità zwar durchschauen, aber nicht ändern könne. Diese Gewissheit, die er als filosofo naturale (Galilei) besaß, widersprach aber der Vorstellung von einem Kosmos der Welt, in dem sich die Präsenz der Götter wie ein symbolisch durchsichtiger Schleier zwischen den Menschen und die letzten Gründe des Seins schob. So zerriss er in seiner Eitelkeit diesen Schleier, um jene all-herrscherliche, gottgleiche Position über allen Dingen der Welt einzunehmen, die er glaubte, sich anmaßen zu dürfen. Und er begann, anstatt in einem Kosmos »voll von Göttern« in einer Welt der Natur zu leben, in der er zwar unumschränkt zu herrschen vermochte, in deren unendlichen Räumen er aber auch nichts und niemanden mehr fand, von denen er etwas über sich selber, über dieses schweigende All hätte erfahren können.

Francis Bacon, The Advancement of Learning, in: The Works of Francis Bacon, Bd. III, S. 349 f.

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Kapitel 5 Das Erbe der Renaissance: Von dem Elend und der Würde des Menschen

Und Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. 1 Mos. 3, 5

Das Motiv zum Experiment der Moderne Die Veränderung in der Einstellung des europäischen Menschen zu der ihn umgebenden Realität, wie sie sich in der Renaissance vollzog, umfasste neben dem soeben beschriebenen Wechsel vom Kosmos der Welt zur Welt der Natur einen ebenso grundsätzlichen Wandel im Selbstverständnis des europäischen Menschen. Ja, ohne diese neue Anschauung von der menschlichen Stellung in der Welt, der zufolge dem Menschen eine königliche Herrschaft über das ganze Universum gebühre, hätte überhaupt das Motiv für eine Neuorientierung des Menschen gegenüber der Realität gefehlt. Denn der Wechsel vom Kosmos der Welt zur Welt der Natur ging ja nicht in der Welt selber, sondern in dem Bewusstsein derjenigen Menschen vonstatten, die das kosmologische Verständnis der Realität, das ihnen überliefert worden war, verwarfen und sich stattdessen vorstellten, dass eine natura agens die Schöpferin und Erhalterin alles Wirklichen sei. Warum aber zogen es ein Pomponazzi, ein Telesio, ein Galilei und ein Newton vor, in der Welt allein noch das Wirken physikalischer Gesetze und nicht mehr die Präsenz der Götter zu erfahren? Warum gefielen sie sich darin, der Welt gegenüber die Haltung eines experimentierfreudigen Ingenieurs einzunehmen, und warum zögerten sie, bei ihrer Erforschung der Natur neben sich selbst, ihrem menschlichen Verstand noch ein anderes Maß, den göttlichen Logos, anzuerkennen? Warum ebneten sie in ihren methodischen Überlegungen die Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Welterkenntnis ein und erhoben die nature des choses zu der Macht, der sich Gott ebenso beugen müsse wie der Mensch? Diese »moderne« Art menschlicher Einstellung zu den Dingen der Welt hatte sich in dem Maße angebahnt, wie die Konzeption einer 105 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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schöpferisch-autonomen Natur entwickelt wurde. Denn mit ihr waren in den Bereich menschlicher Möglichkeiten drei Endziele menschlicher Welterkenntnis gerückt, die bislang für unerreichbar gegolten hatten: (1) Die Welt der Natur war begrenzt. Somit konnte der Zeitpunkt anvisiert werden, an dem der Mensch an ihren Grenzen angelangt sein und die Welt der Natur als Ganzes überschauen würde. (2) Die Natur bestand aus einem geschlossenen System immer gleichbleibender Gesetze. Daher musste es dem Menschen gelingen, mit der Zeit die innere Beschaffenheit und Wirksamkeit der Natur, d. h. alle Gesetze der mundi constructio restlos zu erforschen und zu begreifen. (3) All sein Wissen von der Natur errang der Mensch aus eigener Kraft. In autonomer Ungebundenheit erschloss er sich die Welt der Natur und überschaute das gesamte Gefüge ihrer Gesetze. Konnte er sich also nicht zu Recht mit jenem vergleichen, der die mundi constructio erdacht und dem Menschen zwar ein früheres, aber kein überlegeneres Wissen von der Welt mehr voraus hatte? Im Realitätsverständnis des europäischen Menschen hätte sich wohl nie der Wechsel vom Kosmos der Welt zur Welt der Natur vollzogen, wenn es dabei bloß um eine bessere Kenntnis der Natur gegangen wäre. Schließlich wurde bei diesem Wechsel ja eine vertraute gegen eine unbekannte Welt eingetauscht, und die existentielle Geborgenheit des Menschen im Kosmos der Welt wich einer existentiellen Unsicherheit, wie dieser der leeren Räume ansichtig wurde, die sich auftaten als Welt der Natur. Das Motiv, aufgrund dessen der europäische Mensch das Experiment der Moderne wagte, musste stärker als alle Erwägungen und Befürchtungen darüber sein, welchen Aufwand an menschlicher Arbeit und Selbstdisziplinierung dieses Experiment erforderte und welche schädlichen Folgen es für die menschliche Gemeinschaft, für die Güte des menschlichen Lebens in dieser Welt mit sich bringen mochte. So drückten Galilei, Newton oder Bacon in ihren Schriften immer wieder von neuem eine ganz bestimmte Überzeugung aus. Der von ihnen eingeleitete Aufschwung der filosofia naturale oder natural philosophy würde den Menschen in eine so überlegene Stellung gegenüber der Natur bringen, dass dieser allen Anlass dazu hätte, über sich selber, über die Macht seiner Gedanken und die Wirksamkeit seiner Werke stolz zu sein. Der experimentelle Aufriss einer Welt der Natur konnte sich deshalb zu der maßgeblichen Vorstellung im Realitätsverständnis des modernen Menschen herausbilden, weil er gewärtigen ließ, dass endlich eine der stärksten, wenn nicht die stärkste Begierde in der Seele des Menschen befriedigt 106 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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werden könnte: der Stolz, die Herrschsucht. Indem er vergaß, dass die Griechen in der hybris eines Menschen das schlimmste aller Vergehen erblickten und nach der christlichen Lehre der Mensch aus dem Paradies seiner superbia wegen vertrieben wurde, ließ sich der europäische Mensch in der Renaissance von eben diesem Motiv der eitlen Selbsterhöhung aus dem Kosmos der Welt in die Welt der Natur verleiten. Denn dort, so meinte er, würde er der Herr und Meister einer ihm eigenen Welt sein und so die Erfüllung des Begehrens erreichen, welchem der Mensch im Stolze verfällt: zu sein wie Gott.

Die Vortrefflichkeit des Menschen Es mag nicht unmittelbar einleuchtend sein, warum das Experiment der Moderne hervorgegangen sein soll aus der Sucht der Menschen nach einer selbsterrungenen Göttlichkeit. Denn was bedeutete in diesem Zusammenhang eine »Göttlichkeit« des Menschen und worin bestünde das Begehren des Menschen, so zu sein wie Gott? Jedoch kann man auch nicht umhin, die häufigen, ja geradezu ständig ins Auge springenden Passagen in den Schriften früh-moderner Autoren wahrzunehmen, bei denen sich diese unzweifelhaft klar über jene existentielle Vollendung aussprechen, die der Mensch ihrer Ansicht nach erringen müsse: »Gott ist alles und alles ist in Gott: der Mensch begehrt, überall zu sein: Gott ist Schöpfer von allem, und gefällt sich darin, alles zu machen: für den Menschen gibt es kein größeres Vergnügen in der Welt, als viele Dinge zu erzeugen. Gott beschaut sich selbst, und bewundert sich: der Mensch betrachtet sich selbst, gerät in höchste Verwunderung ob seiner eigenen Vortrefflichkeit, hält sich besser als alle anderen Geschöpfe, und setzt all sein Streben und Trachten darein, sich zu schmücken und zu ehren, und das zur Erscheinung zu bringen, was an ihm Vortreffliches ist. Dies alles brachte den weisen Zoroaster dazu, mit Erstaunen auszurufen, O Mensch, was bist Du doch für ein überaus großartiges Werk! So als ob er nicht begreifen könne, dass hier unten in dieser sterblichen Welt, zwischen Schmutz und Kot, sich ein so machtvolles Wesen finden ließe, das sich erhebt bis über die Himmel hinaus, und das sich durch die Kenntnis so vieler Dinge und durch die Nachahmung göttlicher Taten in diesem Leben gewissermaßen selbst vergöttlicht (quasi se deifiast soymesmes es ceste vie).« 1 Guillaume Du Vair, De la Constance et consolation és calamitez publiques, in: ders., Œuvres, Paris 1641. Reprint Genf: Slatkine, 1970, S. 381 f.

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Verherrlichungen dieser Art, die den Menschen preisen als ein unvergleichliches »Wunder«, zeigen die anthropologischen Ansätze auf, von denen her sich das Selbstverständnis des Menschen in der Moderne entwickelte. In dem angeführten Zitat aus der Abhandlung De la Constance et Concolation és calamitez publiques (1594) von Guillaume Du Vair werden einige der wesentlichsten dieser Ansätze erhellt. 2 Das größte Vergnügen des Menschen sei es, sich in dieser Welt zu betätigen; der Mensch bewundere sich selbst ob seiner Vortrefflichkeit; er sei ein so machtvolles Wesen, dass er sich erheben könne bis über die Himmel hinaus; schließlich sei er dazu fähig, sich selber zu einem Gott zu machen – in diesem Leben. Der Wandel im Selbstverständnis des europäischen Menschen in der Renaissance drückte sich so in hymnischen Programmen zu der Selbstvergottung des Menschen aus. Allerdings wurden im Bereich der westlichen Kultur schon seit der Antike Schriften verfasst, die den Menschen ob seiner »Würde«, seiner »Vortrefflichkeit« priesen. Sowohl in der Stoa wie in der Patristik, wie auch in der mittelalterlichen Literatur und Philosophie war das Thema der dignitas hominis ausführlich behandelt und in seinen verschiedenen Aspekten entfaltet worden. 3 Jedoch schloss diese antike und mittelalterliche Literatur 2 Einen Überblick zu Leben und Werk von Guillaume Du Vair findet sich in der New World Encyclopedia: http://www.newworldencyclopedia.org/entry/Guillaume_du_ Vair (aufgerufen am 3. Februar 2018). – Siehe ferner den Abschnitt über Guillaume Du Vair in: Jerome B. Schneewind (Hrsg.), Moral Philosophy from Montaigne to Kant, Cambridge: Cambridge University Press, 2003, S. 201–215. 3 Vgl. Charles Trinkaus, In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, 2 Bde., Chicago: The University of Chicago Press, 1970; Herschel C. Baker, The Image of Man. A Study of the Idea of Human Dignity in Classical Antiquity, the Middle Ages, and the Renaissance, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1947; Paul Oskar Kristeller, Renaissance Concepts of Man, New York: Harper & Row, 1972. – Man kann natürlich auf noch frühere Zeiten in der Menschheitsgeschichte zurückgehen, die für diese von heute aus gesehen »begründend« waren. Die Herleitung der Würde des Menschen aus einem die physische und gesellschaftliche Wirklichkeit der Menschen übersteigenden Bereich von Sinn und Wirklichkeitskraft wurde mit Begriffen festgemacht, für die wir heute die Worte »Seele«, »Geist«, »Selbst« haben. Zu jenen früheren Zeiten waren die Worte dafür »atman« im Sanskrit, »fumus« im Lateinischen, »thymos« oder »psyche« im Griechischen, »ruach« im Hebräischen, »ba« oder »ka« im Ägyptischen, »nafasun« im Arabischen. Nach der jüdischen Bibel entsprang die absolute Würde eines jeden Menschen (Mann wie Frau) aus Jahwes »Atem« (ruach) in ihrer Existenz; er/sie war ein lebendes Wesen – Hebräisch: nephesh – durch Gottes Atmen in ihm/ihr. Von Homer an wurde in der antiken griechischen Kultur zunehmend jenes Element des Absoluten in der menschlichen Existenz erhellt, das dort mehr und mehr »entdeckt« wurde (vgl.

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zur Würde des Menschen auch die Behandlung derjenigen Bedingungen menschlicher Existenz mit ein, die das Elend, die miseria des Menschen ausmachen. So formte sie sich in der Art einer Debatte aus, bei der eine emphatische Beschreibung der menschlichen Würde korrigiert wurde durch eine überzogene Darstellung des menschlichen Elends und die dignitas ihrerseits wieder betont wurde, wenn die miseria hominis zu einseitig hervorgehoben worden war. Diese Debatte über die Würde und das Elend des Menschen wurde von den Schriftstellern der Renaissance mit einer besonderen, von ihrer allgemeinen Aufbruchsstimmung genährten Intensität weiter geführt. Dabei erstarrten die Standpunkte und verschärften sich die Urteile; während zuvor noch ein einzelner Autor bereit gewesen war, beide Leitgedanken der Debatte mit gleicher Anteilnahme und gleicher Überzeugungskraft zu vertreten und zu erörtern, zeigte sich jetzt kaum noch einer gewillt, in seinem eigenen Beitrag zur Debatte solch eine Balance der Argumente zu wahren. Vielmehr spalteten sich diejenigen, die an der Debatte noch teilnahmen, in zwei gegnerische Lager auf. Die einen verherrlichten, die anderen erniedrigten den Menschen und verwickelten sich so in einen Streit, bei dem es zwar dem Namen nach noch um den Menschen ging, aber für die einen es sich eher um einen Gott und für die anderen es sich eher um ein Tier handelte.

Eine entscheidende Debatte über die Würde und das Elend des Menschen Um diese anthropologische Wende zu erhellen, in der die Entstehung der modernen Welt letztlich begründet ist, möchte ich im Folgenden die Debatte über die Würde und das Elend des Menschen nachzeichnen, wie sie zum letzten Mal in der Renaissance stattfand. Zu diesem Zweck wurden drei Schriften ausgewählt, die repräsentativ sowohl für die zeitliche wie auch für die gedankliche Spannweite dieser Debatte sind: (1) Der Ackermann aus Böhmen (1401) von Johannes von Tepl, (2) Die Oratio de dignitate hominis (1486) von Giovanni Pico

Bruno Snells klassische Studie Die Entdeckung des Geistes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechtr, 1946, und Jan Bremmers The Early Greek Concept of the Soul, Princeton: Princeton University Press, 1983). Mit der Erkenntnis dieses Elements des Absoluten im Menschen wurde verstanden, dass ihm/ihr eine »göttliche« (also unantastbare) Würde gegeben ist.

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della Mirandola und (3) die Apologie de Raimond Sebond in den Essais (1580) von Michel de Montaigne.

Der Mensch: »Gottes allerfeinstes Geschöpf« (Der Ackermann). – »Alles ist eitel, eine Krankheit der Seele« (Der Tod). Die Schrift des Johannes von Tepl (1350–1414) stellt das Streitgespräch zwischen einem »Ackermann« und dem »Tod« dar. Die Frau des Ackermanns ist vor kurzem gestorben, und in seinem Schmerz beschimpft und verflucht nun der Ackermann den Tod, weil ihm dieser seine Frau, seines »Glückes Halt« 4, seines »Heiles Sonne« 5 entrissen hat. Der Tod zeigt sich überrascht ob der Beschuldigungen, die der Ackermann gegen ihn erhebt, 6 und entgegnet diesem, dass er alle Menschen gleichermaßen in seine Gewalt nehmen würde, unbesehen ihrer weltlichen Macht, ihres Alters, ihrer Schönheit, ihrer ärztlichen oder magischen Künste. Der Ackermann habe keinen Grund zur Klage, wenn er, der Tod, sein »Gnadenwerk« eben auch an der Frau des Ackermanns vollbracht habe. 7 Der Ackermann versucht darauf, den Tod gegenüber der Welt zu isolieren. Er ruft die Schöpfung an, auch sie möge gegen den Tod wie gegen einen Fremdling rebellieren, der widerrechtlich in diese Welt eingedrungen sei. 8 In seiner Entgegnung geht zwar der Tod auf des Ackermanns Gedankengang ein, führt ihn jedoch so zu Ende, dass es im Ergebnis nicht der Tod, sondern der Ackermann ist, der sich in den Prozess der Schöpfung nicht einfügt. 9 In seinem Unverständnis für die »Mischung weltlicher Dinge« habe dieser noch nicht bemerkt, dass alles Geschaffene auch wieder zunichtewerden müsse: die Pflanzen und das Gestein, die Tiere und der Mensch. Jeder unter den Menschen müsse wieder vom Sein zum Nichtsein kommen. Wie könne daher der Ackermann verlangen, dass seiner Frau nicht dasselbe hätte geschehen dürfen wie allen anderen Menschen? In dieser Frage ist der 4 Johannes von Tepl, Der Ackermann aus Böhmen, Orig.-Text u. Übertr., Nachw. u. Anm. v. Felix Genzmer, Stuttgart: Reclam, 1970, S. 44 f. 5 Ebd. S. 46. 6 Ebd. S. 45. 7 Ebd. 8 Vgl. ebd. S. 48. 9 Vgl. ebd. S. 50.

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Vorwurf eingeschlossen, der Ackermann stelle sein persönlichmenschliches Los über das allgemein-weltliche Geschick aller Dinge. Er begehrt eine Ausnahme, wo es keine geben kann; seine Klage gegen den Tod richtet sich im Grunde gegen die natürliche Ordnung der Schöpfung. 10 Doch der Ackermann lässt sich vom Tode nicht über seine Revolte gegen die Ordnung der Dinge belehren. Vielmehr erhöht er sich selber zum Range eines Richters und fordert den Tod auf, sich vor ihm auszuweisen und seine Handlungen zu rechtfertigen. Weil der Tod der »Übeltäter« sei, so erklärt der Ackermann, wüsste er gerne, wer der Tod und wo der Tod sei, seit wann es ihn gebe und wozu er nützlich sei. Denn er fühle sich von dem Tode herausgefordert, von der vielen Gewalt, welche dieser innehabe und so unvermittelt ausübe. 11 Bei seiner Antwort entzieht sich der Tod den anthropomorphen Vorstellungen, mit denen ihn der Ackermann begreifen will. Diskreter als zuvor gibt er dem Ackermann erneut zu erkennen, wie wenig dieser von ihm, dem Tode, wisse. So fehlt dem Ackermann der Gegner, wenn er sich vom Tode »herausgefordert« fühlt. Denn er würde das »Geschehen«, das der Tod ist, nirgendwo finden, würde er es irgendwo suchen, irgendwie fassen wollen. »Du fragst, wo Wir seien. Nicht feststellbar sind Wir«, 12 erklärt der Tod dem Ackermann. Es würde den Menschen nichts nützen, wenn sie gegen jene Gestalten stritten, in denen er verbildlicht sei. Denn sie würden von ihm selber, dem Tod, allemal angefochten und begraben werden. Wieder ist es dem Ackermann nicht gelungen, seine Rebellion gegen den Tod dadurch zu legitimieren, dass er dem Tod in der Welt die Rolle eines heimtückischen Unheilstifters zuschreibt. Denn der Tod entzieht sich dieser Rolle, macht ferner den Ackermann aufmerksam auf die Primärschuld der Menschen, die vom Sündenfall herrührte und die sie in ihrem Tode einzulösen hätten, und gibt sich schließlich selbst als jene wohltätige Macht zu erkennen, die die biologische Balance auf dieser Erde erhält. 13 Seiner Revolte nicht müde, führt jedoch der Ackermann das Streitgespräch mit einer neuen Anklage fort. Er bezichtigt den Tod,

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Vgl. ebd. S. 50 f. Ebd. S. 56. Ebd. Ebd. S. 58 und 49.

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dass dieser bei der Auswahl derer, die zu sterben hätten, voller Ungerechtigkeit vorgehe. Auf diese Anklage reagiert der Tod anders als bei den früheren Vorwürfen des Ackermanns. Während er sich bislang bemühte, den Ackermann von der Notwendigkeit und dem Nutzen seiner Erscheinung zu überzeugen, überschüttet er jetzt diesen allein noch mit seinem Spott. Vor der Unbelehrbarkeit des Ackermanns, der trotz aller Darlegungen des Todes sich noch immer zum Richter über dessen Handlungen aufwirft, versagen alle Mittel außer der Ironie. So erhebt nun der Tod den Ackermann – um dessen richterliche Ansprüche durchaus beflissen – zum Repräsentanten der Menschheit und zählt all die Auszeichnungen auf, die »Ackermann«, d. h. der Mensch, in seiner Geschichte erfahren oder sich selber erworben habe: »Wir waren dabei, als Frau Sibylla dir die Weisheit mitteilte. Wir sahen dich die Sterne zählen und des Meeres Sand und seine Fische berechnen und die Regentropfen messen. Als du in Akademia und Athen, mit hohen, kenntnisreichen Meistern, die auch über die Gottheit meisterlich sprachen und Ungewöhnliches wußten, diskutiertest und so weislich obsiegtest, da sahen Wir uns besonders erfreut. In deiner Werkstatt sahen Wir dich ein edles Gewand aus Regenbogen wirken; darin wurden Engel, Vögel, Tiere und allerlei Fische gestaltet. Besonders lachten Wir und rühmten dich darum, als du in Paris auf der Ochsenhaut tanztest, in der schwarzen Kunst wirktest, und die Teufel in ein seltsames Glas banntest. Als dich Gott in seinem Rat berief, zu sprechen über Frau Evas Sündenfall, da wurden wir zuerst deiner großen Weisheit inne«. 14

Scheinbar voller Staunen angesichts solch einer Vortrefflichkeit des Menschen entschuldigt sich der Tod bei dem Ackermann für seine mangelnde Ehrfurcht vor der menschlichen Existenz. Doch dies ist blanke Ironie: Die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Gewalt des Todes tritt umso krasser hervor, je eindrucksvoller jene Würde, jene Erlesenheit dargestellt wird, in der sich der Mensch vom Tode verletzt fühlen könnte – ohne sich auch nur im geringsten davor schützen zu können. Der Ackermann zeigt sich von der Ironie des Todes verletzt. Er meint, den Tod vor dessen »Übermut« warnen zu müssen. Selbstgerecht fordert er diesen auf, sich an seiner Mäßigung ein Beispiel zu nehmen. Auch wenn der Tod mit ihm böse oder ungerecht ver-

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Ebd. S. 59 f.

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fahren sei, so habe er es dennoch geduldet und sich nicht gerächt. Wenn er etwas Unbilliges oder Unziemliches gegen den Tod begangen habe, wolle er es gerne und willig entgelten. Wäre dies aber nicht der Fall, so solle ihm der Tod seinen Schaden vergüten. Gestützt von diesem Eigenlob, meint der Ackermann dem Tode schließlich drohen zu können. Entweder müsse der Tod wiedergutmachen, was dieser an seiner Frau, an ihm und an seinen Kindern Arges begangen habe, so erklärt er, oder es müsse dieser mit ihm zu Gott kommen, der des Todes und aller Welt gerechter Richter sei. 15 Nach dieser Drohung scheint es dem Tod schwerzufallen, dem Ackermann noch mehr zu sagen, als er diesem schon gesagt hat. So greift er in verschiedenen Variationen noch einmal das von ihm schon früher behandelte Thema von dem notwendigen Prozess in der Schöpfung auf, in dem auch der Mensch vom Sein wieder zum Nichtsein kommen müsse. Eine letzte Steigerung dieses Themas dient dem Tode dazu, nunmehr seinerseits den Ackermann herauszufordern. Im Hinblick auf die Gründe für dessen Rebellion unterbreitet er diesem eine Alternative: Der Ackermann, so stellt er fest, sei entweder zu sehr voll des Leides oder es hause in ihm die Unvernunft. Wenn er unvernünftig sei, dann solle er Gott darum bitten, ihm wieder Vernunft zu verleihen. Wenn er aber voll des Leides sei – und das nimmt der Tod vom Ackermann offensichtlich an –, dann solle er ablassen von seinen Klagen und sich damit trösten, dass eben »der Menschen Leben auf Erden ein Windhauch ist«. 16 Der Ackermann nimmt diese Herausforderung an und versucht auch, sich ihrer zu erwehren. Denn in metaphorischer Verkleidung gab ihm der Tod zu verstehen, dass sich seiner Ansicht nach das Leben der Menschen auf Erden im Grunde nicht lohne. Gegen diese Geringschätzung der Existenz des Menschen in der Welt lehnt sich der Ackermann auf. Dabei bestreitet er die These des Todes nicht unmittelbar, sondern versucht, sie mit Hilfe einer Apologie der menschlichen Lebensfreude auszustechen. Wenn Freude, Liebe, Wonne und Kurzweil aus der Welt vertrieben würden, so argumentiert er, dann stünde die Welt recht übel da. »Denn«, so trägt der Ackermann sein Hauptargument vor, »menschlichen Gemütes Sinn kann nicht müßig sein, entweder Gutes oder Böses muss der Sinn allzeit wirken … Würden dem Sinn die guten Gedanken 15 16

Ebd. S. 61. Ebd.

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genommen, so würden böse in ihn eingehen: gut aus, böse ein; böse aus, gut ein.« 17 In seiner Antwort auf die Herausforderung des Todes hat der Ackermann sehr geschickt das Vergnügen des Menschen in der Welt als wichtigste Voraussetzung für dessen richtiges Handeln in dieser Welt eingeführt. Nach der Logik der von ihm vorgetragenen Apologie menschlicher Lebensfreude hätte der Tod nie seine Frau von ihm wegnehmen dürfen. Dieser warf ihn ins Leid, lieferte ihn dem Bösen aus, da er ihm seine Lebensfreude, seine Frau, entriss und ihm damit auch allen Anreiz für das Gute nahm. Daher darf der Ackermann den Tod seiner Frau nicht akzeptieren, er muss gegen den Tod rebellieren, um ein guter Mensch zu sein. Der Tod lässt sich von der sophistischen Argumentation des Ackermanns nicht beeindrucken. Er ist ungeduldig, über den Starrsinn des Ackermanns erzürnt. Der Ackermann hat seinen »Rat« – abzulassen von einem zwecklosen Klagen – nicht befolgt, was soll er ihn da noch länger zu belehren versuchen? Dennoch bricht das Streitgespräch an dieser Stelle nicht ab. In einem letzten Disput legen beide, der Ackermann und der Tod, noch einmal grundsätzlich ihre Ansichten über den Menschen, dessen Rang und dessen Stellung in dieser Welt dar. Dabei sind die Erklärungen eines jeden von beiden jedoch nicht im Geringsten mehr darauf angelegt, den anderen zu überzeugen. Sie gleichen Manifesten, deren programmatische Schärfe nicht einem Gespräch, wohl aber der Verhärtung des eigenen Standpunktes dient. So besteht der Tod allein noch darauf, im Menschen das elendste aller Wesen zu sehen, während der Ackermann sich seinerseits darauf versteift, beim Menschen allein noch dessen Würde herauszustreichen. Die Rede des Todes über das Elend des Menschen wird von der letzten Weigerung des Ackermanns ausgelöst, sein Leid nicht zu beenden, sich die Erinnerung an seine »Allerliebste« nicht aus dem Kopfe schlagen zu wollen. Denn diese Weigerung impliziert die These, dass noch ein jeder Mensch unersetzlich, in sich das höchste aller Güter ist. Und daher wirft der Tod nunmehr dem Ackermann vor, dass dieser nicht nur gegen die Rangordnung unter den Dingen verstoße, sondern diese sogar zugunsten des Menschen abändern wolle:

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Ebd. S. 66.

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»Deine kurze Vernunft, dein gestutzter Sinn, dein hohles Herz will aus Menschen mehr machen, als sie sein können. Mach aus einem Menschen, was du willst, er kann doch nicht mehr sein, als Ich dir sagen will mit Verlaub aller reinen Frauen. Ein Mensch wird in Sünden empfangen, mit unreinem, unnennbarem Unflat im mütterlichen Leib ernährt, nackend geboren und beschmiert wie ein Bienenkorb: ein ganzer Unrat, ein Kotfaß, ein Wurmfraß, ein Stankhaus, ein widerwärtiger Spülzuber, ein faules Aas, ein Schimmelkasten, ein Sack ohne Boden, eine durchlöcherte Tasche, ein Blasebalg, ein gieriger Schlund, ein übelriechender Harnkrug, ein übelduftender Eimer, ein betrüglicher Puppenschein, ein lehmiges Raubhaus, ein unersättlicher Löschtrog und ein gemaltes Trugbild. Es erkenne, wer da wolle: ein jeglicher vollständig geschaffener Mensch hat neun Löcher in seinem Leibe; aus allen fließt so widerwärtiger und unreiner Unflat, dass es nichts Unreineres geben kann. Einen so schönen Menschen siehest du nie: hättest du eines Luchses Auge und könntest du ins Innere hindurchsehen, dir würde darob grauen. Nimm und zieh ab der schönsten Frau des Schneiders Farbe, so siehest du eine schmähliche Puppe, eine rasch welkende Blume und kurz dauernden Glanz und einen bald zerfallenden Erdenkloß! Weise mir eine Handvoll Schönheit aller schönen Frauen, die vor hundert Jahren gelebt haben, ausgenommen die gemalten an der Wand, so sollst du des Kaisers Krone zu eigen haben! Lass hinfließen Liebe, lass hinfließen Leid! Lass rinnen den Rhein, wie andere Gewässer, du weiser Bursche aus Eselsdorf!« 18

Sowie der Tod geendet hat, verkündet der Ackermann das gegensätzliche Manifest – er hält eine Rede über die Würde des Menschen. Um die besondere Stellung des Menschen in der Welt zu erweisen, greift er auf das klassische Argument seiner Vorgänger in der Verteidigung der menschlichen Würde zurück. Nach dem biblischen Bericht, so argumentierten diese, habe Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen, 19 und daher besitze der Mensch, insofern er eine imago Dei sei, auch eine einzigartige Würde. Doch der Ackermann beschränkt sich nicht darauf, allein dieses ältere Argument zu übernehmen. Vielmehr fügt er noch jene beiden Argumente hinzu, die im weiteren Verlauf der in der Renaissance stattfindenden Debatte über die Würde und das Elend des Menschen immer mehr den Ausschlag geben sollten. Danach ist für ihn die Würde des Menschen auch darin begründet, dass diesem von Gott eine Herrschaft über alle Dinge verliehen worden sei. Und sie geht für ihn ferner daraus hervor, dass der Mensch in seinem Denken selbst die Gottheit überschreiten könne: 18 19

Ebd. S. 67 f. 1 Mos. 1, 27.

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»Pfui, Ihr böser Schabernack!«, so redet der Ackermann denn den Tod an, »Wie vernichtet, behandelt übel und verunehrt Ihr den edeln Menschen, Gottes allerliebstes Geschöpf. Jetzt erst erkenne ich, dass Ihr lügenhaft seid und nicht im Paradies geschaffen, wie Ihr sagt. Wäret Ihr im Paradies geworden, so wüsstet Ihr, dass Gott den Menschen und alle Dinge durchaus gut geschaffen und den Menschen über sie alle gesetzet hat, ihm die Herrschaft über sie alle verliehen und sie seinen Füßen untertänig gemacht. Herr Tod, lasset Euer nutzloses Kläffen! Ihr schändet Gottes allerfeinstes Geschöpf. Der Mensch ist das allervornehmste, das allergeschickteste und das allerfreieste Werkstück Gottes. Ihm selber gleichend, hat es Gott gebildet, wie er es selber auch bei der Schöpfung der Welt ausgesprochen hat. Wo hat je ein Werkmann so ein geschicktes und reiches Werkstück gewirkt, eine so kunstvolle kleine Kugel wie das Menschenhaupt? Da ist in dem Augapfel das Gesicht, der allergewisseste Zeuge, meisterlich nach Spiegels Art gebildet. Da ist in den Ohren das fernhin reichende Gehör, gar vollkommen mit einer dünnen Haut versperrt, zur Wahrnehmung und Unterscheidung mancherlei holder Töne. Dazu tut der Zunge dünnes Blatt den Menschen ganz zu wissen der Menschen Meinung. Dazu sind in dem Kopf aus Herzens Grunde kommende Gedanken, mit denen der Mensch gar eilend reicht, soweit er will; bis zur Gottheit, sogar darüber, klimmt der Mensch mit den Gedanken. Allein der Mensch hat zu eigen die Vernunft, den edeln Hort. Lasst fahren, Herr Tod! Ihr seid des Menschen Feind; darum saget Ihr nichts Gutes von ihm.« 20

Obwohl sich der Disput zwischen dem Ackermann und dem Tod bis zu der antithetischen Divergenz ihrer beiden Manifeste gesteigert hat, wird dessen Lösung noch einmal hinausgeschoben. Ja, in einer Antiklimax fällt ihr Gegensatz zunächst völlig zusammen. Nachdem ihm der Tod wieder versichert hat, dass der Mensch bei all seiner »Kenntnis, Schönheit und Würde« vollkommen in seines, des Todes Gewalt sei, 21 gibt der Ackermann plötzlich nach und bittet den Tod in aller Demut um dessen Rat. Aber er wünscht sich freilich, dass ihm der Tod in einem bestimmten Sinne rät. Er möchte doch wieder in der Ehe leben. Dieses Mal ist aber der Tod nicht allzu bereitwillig, dem Ackermann zu raten. Er ist eher dazu geneigt, diesen zu tadeln. Denn er wirft dem Ackermann vor, es offensichtlich noch immer nicht begriffen zu haben, dass eine Ehefrau zumeist eine Last und alles, was in der 20 21

Johannes von Tepl, Der Ackermann aus Böhmen, S. 68 f. Ebd. S. 70.

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Welt ist, sowieso entweder eine »Begierde des Fleisches« oder eine »Begierde der Augen« oder eine »Hoffart des Lebens« sei. 22 Aufgrund dieses Vorwurfs flackert das Streitgespräch noch ein letztes Mal auf. Der Ackermann nimmt die Rüge des Todes nicht ohne Widerrede hin; er erhebt seinerseits nun den Vorwurf, dass sich der Tod in seinen Reden widerspreche. Ferner formuliert er einen grundsätzlichen Verdacht, der alles untergräbt, was ihm der Tod jemals sagte. Die Wankelrede des Todes, auf die ja niemand bauen könne, habe nämlich nur dazu gedient, ihn von seiner Klage abzuschrecken. Und darum wolle er sich jetzt zusammen mit dem Tod vor Gott rechtfertigen – in der Hoffnung, dass dieser nicht ihm, sondern dem Tod das »böse Amen« gebe. 23

Die Kritik des Todes am gegenwärtigen Zeitalter Auch der Tod will jetzt den Streit beenden. Aber er unterlässt es nicht, zum Schluss dem Ackermann noch eine Rede über die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge zu halten. Dabei vermeidet es jedoch der Tod, nun nochmals sein Thema so zu erläutern, wie er es schon mehrmals zuvor getan hatte. Dieses Mal behandelt er es unter einem völlig neuen Aspekt. Während er sich bislang darauf konzentriert hatte, ganz allgemein die Gebrechlichkeit und die Hinfälligkeit alles Geschaffenen herauszustellen, bezieht er jetzt in seine Rede auch Gedanken über das aktuelle Verhalten der Menschen »zu dieser Zeit« mit ein. Er formuliert eine Kritik des gegenwärtigen Zeitalters. Denn die Menschen sind seiner Ansicht nach dabei, die Ordnung der Welt zu verkehren. Anstatt ihr Leben an dessen längster Spanne, ihrem Tode, zu messen, seien die Menschen aus Eitelkeit, aus Machtgier und Ruhmsucht maßlos geworden; anstatt die Vergänglichkeit all ihrer Werke zu bedenken, seien sie in eine hemmungslose Geschäftigkeit verfallen. So ist die Rede des Todes über die Vergänglichkeit nicht zuletzt von dem Eingeständnis geprägt, dass sich die Menschen »dieser Zeit« nicht mehr für seine, des Todes Ideen über das »Elend« des Menschen, sondern allein noch für die Ideen eines Ackermanns über die »Würde« des Menschen interessieren:

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Ebd. S. 73 f. und 75. Ebd. S. 77.

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»Wir haben gesagt und sagen – und damit wollen Wir ein Ende machen –: die Erde und alles, was sie enthält, ist auf Vergänglichkeit gegründet. Zu dieser Zeit ist sie wandelbar geworden; denn alle Dinge haben sich verkehrt: das Hintere nach vorn, das Vordere nach hinten, das Untere zum Berge, das Obere zum Tale; das Böse hat in Recht die größte Menge des Volkes verkehrt. Alle Menschen sind mehr zum Bösen denn zum Guten geneigt. Alle Menschen mit ihrem Tun sind voll Eitelkeit worden. Ihr Leib, ihr Weib, ihre Kinder, ihre Ehre, ihr Gut und all ihr Vermögen flieht alles davon: in einem Augenblicke verschwindet es; im Winde verwehet es, weder der Schein noch der Schatten kann bleiben. Merke, erkenne, sieh und schaue, was jetzt die Menschenkinder auf Erden vorhaben: wie sie Berg und Tal, Stock und Stein, Gefilde, Alpen und Wildnisse, des Meeres Grund, der Erde Tiefe um irdischen Gutes willen durchwühlen; wie sie Schächte, Stollen und tiefe Gruben in die Erde hineintreiben, der Erde Adern durchbohren, Glanzerden suchen, die sie um der Seltenheit willen über alle Dinge lieben; wie sie Holz fällen, Wände, Scheunen, Häuser den Schwalben gleich zusammenkleistern, Baumgärten pflanzen und pfropfen, das Feld ackern, Weinberge anlegen, Mühlwerke bauen, den Zins erhöhen, Fischerei, Waidwerk und Wildwerk ausüben, große Viehherden zusammentreiben, viele Knechte und Mägde haben, hoch zu Pferde reiten, Goldes und Silbers, edler Gesteine, reicher Gewände und anderes Gutes Häuser und Kisten voll haben, Wollust und Wonnen pflegen, denen sie Tag und Nacht nachstellen und nachtrachten – was ist das alles? Alles ist eitel, eine Krankheit der Seele, vergänglich wie der Tag, der gestern vergangen ist. Durch Krieg und Raub gewinnen sie es; denn je mehr gehabt, desto mehr geraubt. Zu Streit und Zwietracht hinterlassen sie es. Oh, die sterbliche Menschheit ist stets in Ängsten, in Trübsal, in Leid, in Sorge, in Furcht, in Schrecken, in Schmerzenstagen, in Krankheitstagen, in Trauer, in Betrübnis, in Jammer, in Kummer und in mancherlei Widerwärtigkeiten; und je mehr irdisches Gut ein Mensch hat, desto mehr Widerwärtigkeit begegnet ihm. Dazu ist dies das allergrößte, dass ein Mensch nicht wissen kann, wann, wo und wie Wir ihn urplötzlich überfallen und ihn treiben, den Weg der Sterblichen zu gehen. O leidige Aussicht, wie wenig wissen das die Dummen! Wenn es zu spät ist, so wollen sie alle tüchtig werden. Das ist alles Eitelkeit über Eitelkeit und Beschwerung der Seele.« 24

Das Streitgespräch ist zu Ende. Tod und Ackermann schweigen, um das Urteil Gottes zu hören. Nach einem Streit, der nicht ganz unbegründet und von beiden gut ausgefochten worden sei, spricht Gott beiden etwas zu: dem Ackermann die Ehre und dem Tod den Sieg. 25

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Ebd. S. 77–79. Ebd. S. 80.

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Als Johannes von Tepl seine Schrift Der Ackermann aus Böhmen verfasste, beabsichtigte er wohl nicht, sich in erster Linie an der Debatte über das Elend und die Würde des Menschen zu beteiligen. Vielmehr dürfte ihn zuallererst der Tod seiner Frau am 1. August 1400 dazu bewegt haben, in einem fiktiven Streitgespräch als »Ackermann« seine Stimme gegen den Tod zu erheben. Ferner nannte er selber noch einen weiteren Grund, weswegen seine Schrift entstand. Nach deren Erscheinen sandte er diese zusammen mit einem Brief an »seinen lieben Gefährten Peter von Tepl, Bürger von Prag«. Und in diesem Brief erklärte Johannes von Tepl, dass er sich bei der Abfassung seiner Schrift vor allem darum bemüht habe, sich in der Kunst wohlgesetzter, bildhafter und figurenreicher Rede auszuzeichnen. Alles was zu der Rhetorik gehöre, werde ein aufmerksamer Leser daher in seinem Werke finden. 26 Sein vorrangiges Interesse an der Redekunst hinderte aber Johannes von Tepl keineswegs daran, unter anderem auch die aktuelle geistige Situation seiner Zeit zum Gegenstand seiner exemplarischen Übungen zur Rhetorik zu machen. Aus den rhetorisch höchst eleganten Wortgefechten zwischen dem »Ackermann« und dem »Tod« entstand so zugleich eine der subtilsten, Einführungen in die frühhumanistische Debatte über das Elend und die Würde des Menschen. Denn in diesem Fall trugen gerade die Mittel der Rhetorik dazu bei, den thematischen Aufbau dieser Debatte in ihren äußersten Umrissen – von der dialogischen Form eines Streitgesprächs bis zur monologischen Form des Manifests – sichtbar zu machen: Im Ackermann aus Böhmen sind die beiden Auffassungen von der miseria hominis einerseits und der dignitas hominis andererseits gerade noch gegeneinander ausbalanciert. Das Gespräch zwischen dem Ackermann und dem Tod verläuft in mehreren Phasen, und dementsprechend verändert sich auch die Balance zwischen den konträren Auffassungen, die sie jeweils äußern. Während einer ersten Phase sind zwar Ackermann und Tod in ein Streitgespräch verwickelt, aber es ist noch jeder bemüht, seinen Standpunkt dem anderen verständlich zu machen. In einer anschließenden Phase der Konfrontati-

Vgl. Heinz Otto Burger, Renaissance, Humanismus, Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext, Bad Homburg: Gehlen, 1969, S. 48–52; Gerhard Hahn, Die Einheit des Ackermann aus Böhmen. Studien zur Komposition, München: Beck, 1963; Konrad Burdach, Der Dichter des Ackermann aus Böhmen und seine Zeit, Berlin: Weidmann, 1926–32.

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on zieht sich jeder mehr und mehr auf seinen Standpunkt zurück, den er entsprechend unnachgiebiger dem anderen gegenüber vertritt. Diese Phase endet mit dem Verzicht des Todes, sich noch länger beim Ackermann um ein Verständnis für seine Sache zu bemühen. In der darauffolgenden letzten Phase bricht schließlich die formale Struktur des Gesprächs überhaupt ein und wird durch die monologische Form von Manifesten ersetzt. Die Balance zwischen den beiden Disputanten ist noch bewahrt – der Tod verkündet sein Manifest, der Ackermann verkündet sein Manifest – aber sie beruht nur noch auf der Negation: Auch der Ackermann weigert sich jetzt, den Disput noch weiter fortzusetzen.

Die Apotheose des Menschen Fast einhundert Jahre nach der Veröffentlichung des Ackermann aus Böhmen verfaßte Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) seine Oratio de dignitate hominis. In dieser Schrift ist jede Balance zwischen den Vorstellungen einer miseria hominis und einer dignitas hominis gänzlich eingefallen. Pico weiß vom Menschen allein noch zu sagen, dass dieser das »glücklichste Wesen«, das magnum miraculum sei; 27 über die Leiden und Gebrechen, über das Elend des Menschen schweigt er sich dagegen vollkommen aus. Pico übernahm zwar für seine Rede den klassischen Titel »Über die Würde des Menschen«, aber ihr Inhalt wäre weitaus präziser umschrieben, wäre er angekündigt unter einem Titel wie »Die Apotheose des Menschen«. In seinem Beitrag zur Debatte über die Würde und das Elend des Menschen dehnte nämlich Pico die Vorstellung von einer dignitas hominis bis zu deren Extrem, der Idee von einem theos anthropos, aus. Johannes von Tepl hatte seinen Ackermann schon die These aussprechen lassen, dass der Mensch in seinem Denken selbst die Gottheit überschreiten könne. Pico holt in seiner Rede viel weiter aus. Er entwirft in ihr ein Programm für die Selbstvergottung des Menschen. Dieses Programm beruht auf den folgenden drei Grundsätzen: (1) Eine spezifische Natur des Menschen gibt es nicht, (2) Der Mensch vermag aus sich selbst das zu machen, was immer er sein will, (3) Das »große Wunder« in dieser Welt ist der Mensch, weil

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Pico della Mirandola, De Dignitate Hominis, S. 26–27.

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dieser in seiner Selbstbestimmung sogar zu dem Gott werden kann, aus dem er hervorgegangen ist. 28 Seine Rede eröffnend, zitiert denn Pico sogleich jene Autoritäten, welche lehrten, dass der Mensch ein magnum miraculum sei: »Höchst verehrte Väter! In den Schriften der Araber habe ich gelesen, der Sarrazene Abdala habe auf die Frage, welche Erscheinung auf der ›Bühne dieser Welt‹ am meisten zu bewundern sei, geantwortet, dass nichts bewundernswerter erscheine als der Mensch. Zu dieser Äußerung stimmt das bekannte Wort des Merkur: Ein großes Wunder, Asclepius, ist der Mensch.« 29

Doch ohne Umschweife fügt Pico auch sofort hinzu, dass er, sich nach dem Sinn dieser Worte fragend, von den häufig und zahlreich vorgelegten Argumenten für die Vortrefflichkeit (praestantia) der menschlichen Natur noch nicht überzeugt sei. Einige dieser Argumente zählt er auf, und danach hat er bisher vom Menschen gehört, dass dieser ein Vermittler zwischen den Geschöpfen (creaturarum internuntius), ein Interpret der Natur (naturae interpres), ein Mittleres zwischen der steten Ewigkeit und der fließenden Zeit (stabilis aevi et fluxi temporis interstitius), das einigende Band der Welt (mundi copula) sei. All das, so kommentiert Pico, sei zwar von großer, aber nicht von grundsätzlicher Bedeutung, und man könne daraus wahrhaftig noch kein Privileg des Menschen auf höchste Bewunderung ableiten. 30 Diese Unzufriedenheit über die bislang mangelhafte Begründung solch eines menschlichen Privilegs auf »höchste Bewunderung« veranlasste Pico keinesfalls zu dem Schluss, dass dieses »große Wunder«, der Mensch, überhaupt nicht gänzlich zu ergründen und zu erklären sei. Viel eher tat er sie bloß deshalb kund, um die Erwartungen gegenüber denjenigen Argumenten für die Bewunderungswürdigkeit des Menschen zu steigern, die er selber vorzulegen gedenkt. Und in der Tat möchte Pico sehr hoch gespannte Erwartungen erfüllen. Nachdem es offenbar bisher nicht gelungen sei, die besondere Würde des Menschen umfassend zu erweisen, tritt nun Pico hervor und erklärt, daß er erkannt habe, »warum der Mensch das glückVgl. Pietro Pomponazzi, De immortalitate animae, S. 6 f. Pico della Mirandola, De Dignitate Hominis, S. 26–27. – Vgl. dazu Corpus Hermeticum, Bd. II, Traktate XIII–XVIII: Asclepius, Lat.-Frz. Ausg., Hrsg. Arthur Darby Nock, Übers. André-Jean Festugière, Paris: Les Belles Lettres, 21960, S. 301–303 und Frances A. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, S. 1–19. 30 Pico della Mirandola, De Dignitate Hominis, S. 26–27. 28 29

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lichste Wesen und mithin allgemeiner Bewunderung wert ist, und wie man seine Stellung in der Ordnung des Universums zu verstehen hat, um die ihn nicht nur die Tiere, sondern auch die Gestirne und die überirdischen Geister beneiden«. 31 Pico teilt seine Erkenntnis in der Form einer kosmologischen Fabel mit. Er setzt mit der Erzählung ein bei dem Tag, als Gott die Welt schon erschaffen gehabt hätte. Dieser hatte, so erläutert Pico, schon die überhimmlische Region mit Geistern geschmückt, die Bahnen des Äthers schon mit ewigen Wesen belebt und die Bereiche des schmutzigen Abfalls der unteren Welt schon mit allerlei Getier bevölkert. Gottes Werk, die Schöpfung der Welt, sei vollendet (consummato) gewesen. Da aber, so fährt Pico in seiner Erzählung fort, »sehnte« (desiderabat) sich Gott nach jemandem, der den Sinn (ratio) seines »großen Werkes erwägen, seine Schönheit lieben und seine Größe bewundern könnte«. 32 Dieser »Jemand« kann niemand anders als der Mensch sein. Mit Geschick hat Pico seine Fabel so konstruiert, dass jeder, der sie liest, unwillkürlich darauf gespannt ist, wo denn nun der Mensch in der Schöpfung Gottes erscheinen wird – nachdem Gott sein Werk eigentlich schon »vollendet« hat. So entsteht dann der Eindruck, dass die Schöpfung der Welt durch Gott nichts weiter ist als bloß die Vorgeschichte für das bedeutendste kosmogonische Ereignis, die Erschaffung des Menschen. Einerseits »fehlt« noch der Mensch (Pico schweigt sich über die Möglichkeit aus, dass es auch eine Welt ohne Menschen geben könnte), und andererseits »sehnt« sich Gott nach einem Bewunderer seiner Werke. Der Fabel Picos zufolge geht die Existenz des Menschen aus einer Notwendigkeit in der göttlichen Existenz hervor – erst im Menschen wird sich die Sehnsucht Gottes nach Bewunderung erfüllen. 33 Als Pico seine Fabel erfand, vermied er es nicht, ihr einen Wortlaut zu geben, der den Anschein erweckte, als ob sie eine ungefähre Nacherzählung des biblischen Schöpfungsberichtes sei. Und in der Tat führt er auch Moses als Zeugen für die Glaubwürdigkeit seiner Fabel an. 34 Ein Vergleich derselben mit dem 1. Buch Moses zeigt

Ebd. Ebd. 33 Vgl. Nicolai Cusae Cardinalis Opera, Paris 1514, Bd. I, Repr. Frankfurt a. M.: Minerva, 1962, De Ludo Globi, Buch II, Fo. CLXVII v. 34 Pico della Mirandola, De Dignitate Hominis, S. 28–29. 31 32

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jedoch, daß Pico zwar denselben Stoff wie Moses behandelt, den Aufbau des mosaischen Schöpfungsberichtes aber an einer bestimmten Stelle verdrehte. Nach Moses schied Gott das Licht und die Finsternis, schuf die Erde und den Himmel, das Meer, die Sonne und den Mond, die Gestirne und die Pflanzen der Erde. Danach fuhr Gott in seinem Werke, wie es Moses berichtet, weiter fort: »Und Gott machte die Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art, und das Vieh nach seiner Art, und allerlei Gewürm auf Erden nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war. Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib« (1 Mos 1, 25–27). »Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise, und allem Getier auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das da lebt auf Erden, dass sie allerlei grünes Kraut essen. Und es geschah also. Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag. Also war vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und also vollendete Gott am siebenten Tag seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er machte« (1 Mos. 1, 29–2, 2).

Bei einem Vergleich dieses Schöpfungsberichts mit der Pico’schen Fabel fällt sofort eine grundsätzliche Divergenz zwischen beiden auf: Nach Moses hat Gott den Menschen vor der Vollendung seines Werkes erschaffen. Pico dagegen erzählt, daß Gott erst an die Erschaffung des Menschen gedacht (cogitavit) hätte, als »schon alles … vollbracht« gewesen sei – wie es ja auch Moses (!) und Timaeus bezeugten. 35 In der Pico’schen Darstellung ist die von Moses geschilderte Sequenz »Erschaffung des Menschen Vollendung der Schöpfung« zu der Abfolge »Vollendung der Schöpfung Erschaffung des Menschen« umgekehrt. Pico war sich seiner Absichten bewusst, als er diese Umkehrung vornahm. Denn er hat sich mit ihr die Grundlage verschafft, auf die er all seine weiteren Argumente für eine besondere Würde des Menschen stützen konnte. Wenn nämlich die Erschaffung des Menschen, wie es Moses berichtet, ein Teil des ganzen Schöpfungsprozesses ist, 35

Ebd. S. 27–29. – Unter »Timaios« ist Timaios von Lokroe meint.

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dann hat auch der Mensch der Welt gegenüber keine besondere Stellung inne. Er mag zwar unter den Geschöpfen herausragen und sogar über sie herrschen, aber auch er ist einmal wie sie aus der einen Schöpfung Gottes hervorgegangen, die ihn wie alles andere in der Welt umfasst. Mit einer derartig eingegrenzten Stellung des Menschen innerhalb der ganzen Schöpfung konnte Pico aber kein Privileg des Menschen auf eine höchste Bewunderung begründen. Umso eher mochte ihm dies aber aufgrund seiner Umkehrung der mosaischen Sequenz gelingen. Wenn nämlich Gott den Menschen erst erschuf, nachdem er seine Schöpfung eigentlich schon vollendet hatte, dann konnte der Mensch gewiss als das vortrefflichste aller Wesen gepriesen werden. Denn zum einen würde ihn dann Gott gegenüber der übrigen Schöpfung dadurch ausgezeichnet haben, dass er ihn in einer Art zweiten, ihm allein gewidmeten Schöpfung erschuf, und zum zweiten würde Gott von einem ganz besonderen Motiv angetrieben gewesen sein, gerade ihn, den Menschen, zu erschaffen. Der Mensch hätte dann in der Tat eine einzigartige Stellung inne sowohl gegenüber dem Gott, der sich nach ihm »sehnte«, wie auch gegenüber dieser Welt, die ihm Gott zu seinem Wohlgefallen vorgelegt hatte. Wie er dann fortfährt in der Erzählung seiner kosmologischen Fabel, geht Pico dazu über, solch eine einzigartige Stellung des Menschen im Einzelnen aus den Umständen abzuleiten, unter denen dieser von Gott erschaffen worden sei. Als nämlich die Schöpfung vollendet gewesen sei und Gott daraufhin an die Erschaffung des Menschen gedacht hätte, wäre unter den Archetypen (archetypis) keiner mehr gewesen, woraus er einen neuen Nachkommen (novam sobolem) hätte bilden können. In seinen Schatzkammern sei nichts mehr gewesen, was er dem neuen Sohn (novo filio) als Erbgut hätte schenken können. Und in aller Welt hätte es keinen Ort mehr gegeben, den jener Betrachter des Universums (universi contemplator) hätte einnehmen können. Es sei schon alles voll (plena), alles unter die oberen, mittleren und unteren Ordnungen verteilt gewesen. Doch die Macht des Vaters hätte nicht bei seinem letzten Geschöpf versagen können, noch hätte sich seine Weisheit bei einer so notwendigen Tat in Ratlosigkeit verlieren können. Da hätte der gütige Schöpfer beschlossen, dass der, »dem er nichts Eigenes (nihil proprium) mehr geben konnte, an allem zugleich teilhätte, was den einzelnen sonst je für sich zugeteilt war«. 36 Also habe er es gutgeheißen, dass 36

Ebd. S. 28–29.

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der Mensch ein Gebilde ohne unterscheidende Züge (indiscretae opus imaginis) sei. Und er habe diesen in den Mittelpunkt der Welt (in mundi meditullio) gestellt und folgendermaßen zu ihm gesprochen: »Keinen festen Ort habe ich dir zugewiesen und kein eigenes Aussehen, ich habe dir keine dich allein auszeichnende Gabe verliehen, da Du, Adam, den Ort, das Aussehen, die Gaben, die du dir wünschst, nach eigenem Wunsch und Ermessen erhalten und besitzen sollst. Die beschränkte Natur der übrigen Wesen wird von Vorschriften eingegrenzt, die ich gegeben habe. Du aber, vor keinerlei Beschränkung gehindert, sollst dir deine Natur nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen. Ich habe dich in die Weltmitte gestellt, damit du umso leichter alles erkennen kannst, was ringsum in der Welt ist. Ich habe dich nicht himmlisch noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu der von dir gewollten Form ausbilden kannst. Du kannst ins Untere, zum Tierischen, entarten; du kannst, wenn du es willst, in die Höhe, ins Göttliche wiedergeboren werden.« 37

In dieser Rede Gottes an den Menschen hat Pico den zentralen Gedanken seiner Fabel ausformuliert: Von allen Wesen ist es der Mensch, der die höchste Bewunderung verdient, weil allein er die absolute Freiheit besitzt, das zu sein, was er zu sein wünscht. Während jedes andere Wesen einem »Archetypus« nachgebildet ist, kann sich der Mensch selber jene Gestalt auswählen, die er darstellen will. Während alle anderen Wesen in ihrer Existenz beschränkt sind durch ihre jeweilige »Natur«, kann sich der Mensch je nach der von ihm gewählten Form der Existenz auch eine dementsprechende »Natur« aneignen. Während sonst alles in der Welt sich von vornherein an einem fest umrissenen »Orte« befindet, kann der Mensch die ganze Welt von ihrer Mitte aus überschauen und sich von da aus erst den »Ort« aussuchen, an dem er sich überhaupt aufhalten will. Indem er diese Grundsätze über eine unbeschränkte Autonomie des Menschen aufstellte, hat sich Pico im Stile eines radikalen Bruchs von der klassisch-griechischen wie von der christlichen Tradition anthropologischer Vorstellungen gelöst. Seine Grundsätze waren gerade einigen der wesentlichsten dieser Vorstellungen völlig entgegengesetzt. So wurde im griechischen Denken die Würde des Menschen damit begründet, dass für diesen in der Rangordnung der Dinge eine Stellung ausgespart sei, die niemand anders als er einnehmen könne. 37

Ebd.

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Deshalb wurde aber auch ein jeglicher Versuch des Menschen, sich über die ihm allein gemäße Stellung im Kosmos hinaus zu erheben, für verwerflich, als ein Akt der Hybris angesehen. Pico dagegen lehnt es jetzt ab, irgendwelche natürlichen »Beschränkungen« anzuerkennen, die der Verwirklichung einer autonomen Existenz des Menschen entgegenstehen könnten. Er entledigt sich auch der Vorstellung von einer menschlichen Natur. Sowohl nach dem griechischen wie dem christlichen Denken gehörte ja dem Menschen »von Natur aus« etwas an, das unter allen Lebewesen allein ihm eigen war. So hatte Aristoteles gelehrt, dass sich der Mensch von allen Lebewesen dadurch unterscheide, dass er ein vernunftbegabtes Wesen (zoon logon echon) sei. 38 Und Paulus wiederum sprach von dem göttlichen Geist (pneuma), der in jedem Menschen wohne und durch den alle Menschen, unbesehen dessen, was sie voneinander unterschied, Gleiche seien unter Gott. 39 Pico dagegen erklärt, dass der Mensch gerade ein Gebilde ohne unterscheidende Züge (indiscretae opus imaginis) sei, da ihm von Gott eben keine ihn allein auszeichnende Gabe (nec munus ullum peculiare) verliehen worden sei. Schließlich übergeht Pico auch den Kerngedanken einer christlichen Auffassung vom Menschen. Nach dem mosaischen Schöpfungsbericht hatte Gott den Menschen nach seinem Bilde, als Bild Gottes geschaffen (1 Mos. 1, 27). Picos Fabel zufolge kann dagegen der Mensch keinesfalls eine imago Dei noch überhaupt das Abbild eines »Archetypus« sein. Er muss sich zuerst selber entscheiden, in was für einer Gestalt er überhaupt erscheinen will, bevor man wissen kann, was er eigentlich ist. Der Mensch, wie er in der Oratio vorgestellt wird, ist letzthin ein Wesen, das Gott überlegen ist. Denn dem Menschen stünde es frei, so formuliert Pico prägnant, »zu haben, was er wünscht, zu sein, was er wollte« (id habere quod optat, id esse quod velit). 40 Wenig später wird Pietro Pomponazzi in seiner Schrift über die Unsterblichkeit der Seele (De Immortalitate Animae, 1504) in gleicher Weise vom Menschen sagen, dass dieser ein »großes Wunder« (grande miraculum) sei, da er sich »in jederlei Natur [seiner selbst] verwandeln kann, weil ihm die Macht gegeben ist, unter den Eigenschaften der Dinge jene zu verfolgen, welche er auch immer für sich bevorzugt (cum in unamquamAristoteles, Nikomachische Ethik 1098 a 1–5 und Politik 1253 a 10. Vgl. Röm. 8, 14 und 16; 1 Kor. 3, 16; 13, 13; 2 Kor. 3, 17; Gal. 3, 26–28. 40 Pico della Mirandola, De Dignitate Hominis, S. 28–29. – Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, S. 29. 38 39

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que naturam vertibilis, cum sibi data est potestas sequi quamcumque proprietatem rerum maluerit)«. 41 Natürlich glaubte auch Pico nicht, dass der Mensch in dieser absoluten Freiheit, sich selbst zu bestimmen, mehr erreichen könne als eine göttliche Existenz. Gerade dann aber, wenn sich der Mensch noch nicht entschieden hatte, ob er eher ein Tier oder eher ein Gott sein wollte, konnte er sich Gott gegenüber überlegen fühlen. Denn dieser war schon immer Gott und würde immer Gott bleiben. Er aber, der Mensch, hatte eine Wahl, die Gott niemals hatte. Denn bevor er unter den unzähligen Möglichkeiten zu seiner Selbstbildung zum Beispiel diese eine ergriff, nämlich Gott zu werden, konnte er es erst noch einmal erwägen, ob er denn überhaupt ein Gott sein wollte. Doch Pico ermahnt seine Mitmenschen, die virtuelle Größe ihrer menschlichen Existenz auch voll zu verwirklichen. Er fordert sie auf, ihre Seele von einem »heiligen Ehrgeiz« ergreifen zu lassen, damit sie sich nicht mit dem Mittelmäßigen begnügten, sondern sich sehnten, das Höchste zu erreichen, und dieses mit allen ihren Kräften erstrebten. 42 Pico unterstreicht noch einmal die Rolle des Willens in der Selbstbildung des Menschen: »nati sumus conditione, ut id simus quod esse volumus« – »Wir sind unter der Bedingung geboren, das zu sein, was wir sein wollen.« 43 Und er leitet aus dieser Bedingung die besondere Berufung der Menschen ab. Da sie es vermöchten, das Höchste zu erreichen, wenn sie es nur wollten, müssten die Menschen gerade darum besorgt sein, sich zu einer Form ihrer Existenz aufzuschwingen, bei der das Wort des Propheten Asaph 44 auf sie zutreffe: »Dii estis et filii excelsi omnes« – »Ihr seid Götter und alle Kinder des Höchsten.« 45 Seine Gedanken über die Würde des Menschen kündigte Pico unter dem Anspruch an, dass er erkannt habe, warum der Mensch das glücklichste Wesen und mithin allgemeiner Bewunderung wert sei. Diesem Anspruch wurde Pico gewiss gerecht – als Protagonist einer anthropologischen Revolution. Denn die traditionelle Anthro-

Pietro Pomponazzi, De immortalitate animae, S. 117. Pico della Mirandola, De Dignitate Hominis, S. 32–33. 43 Ebd. 44 In der Bibel kommen mehrere Asaphs vor. Hier handelt es sich wohl um Asaph, den Gesangsmeister Davids, der auch Autor von Psalmen und Prophet war (s. 1 Chr 6; 16, 24; 1 Chr 25; 1, 6; 2 Chr 29; 30). 45 Ebd. – Pico zitiert hier den Psalm 81, 6. 41 42

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pologie klassisch-griechischen und christlichen Ursprungs widersprach seinem Versuch, im Menschen nichts anderes mehr als ein »großes Wunder« zu erblicken. Um ein »Privileg« des Menschen auf »höchste Bewunderung« zu begründen, musste Pico überhaupt erst Grundsätze einer neuen Anthropologie aufstellen. Sein Beitrag zur Debatte über die Würde und das Elend des Menschen ist daher in doppelter Hinsicht bedeutsam: zum einen kennzeichnet er jene Phase in dieser Debatte, bei der diese überglitt zur Grundlegung einer neuen, »modernen« Anthropologie; zum anderen informiert er über die wesentlichsten Prinzipien dieser Anthropologie, da er auf diesen schon selber beruht. Ein Vergleich zwischen der Oratio und dem Ackermann aus Böhmen zeigt, wie weit sich Pico von den formalen und thematischen Ursprüngen der Debatte entfernt hat. Die Schrift des Johannes von Tepl spiegelt in ihrer formalen Struktur die Spannbreite der Debatte wider. Sie ist angelegt als Streitgespräch von zwei Protagonisten, bei dem der eine, der Tod, für das Leitbild der miseria hominis, und der andere, der Ackermann, für das Leitbild der dignitas hominis auftritt. Dabei wird bis zu dem Ende des Streitgespräches eine bestimmte Abstufung zwischen den beiden Leitbildern aufrechterhalten. Der Tod erscheint als ein Vertreter der natürlichen Ordnung der Dinge, während der Ackermann in der Rolle des Rebellen auftritt, der sich gegen eben diese Ordnung auflehnt und sie einseitig zugunsten des Menschen abändern will. So mag dann der Ackermann noch so geschickt seine Vorstellungen von einer alles andere überbietenden Würde des Menschen äußern – dank der Abstufung zwischen »Ordnung« und »Rebellion« kann er nie ganz die Anzeichen von der Maßlosigkeit verwischen, die sich hinter diesen Vorstellungen verbirgt. In der Oratio wird dagegen eine unvergleichliche Würde des Menschen als selbstverständlich vorausgesetzt. Pico ist keinesfalls mehr darum bemüht, eine »Vortrefflichkeit« der menschlichen Natur überhaupt erst aufzuweisen. Von vornherein davon überzeugt, dass der Mensch das erhabenste und bewunderungswürdigste aller Wesen sei, ist er allein bestrebt, eine bisher mangelhafte Begründung all der menschlichen Vorzüge durch eine richtigere und vollständigere zu ersetzen. Konsequenterweise hat sich dann Pico beim Aufbau der Oratio auch nicht mehr an die Form einer Debatte gehalten. Seine Argumente für die Würde des Menschen trägt er mit sehr viel Pathos vor; jene Argumente jedoch, die ein Elend des Menschen aufzeigten, übergeht er mit Schweigen. So ist es auch sicherlich kein Zufall, dass 128 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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er in seiner Fabel von der Erschaffung der Welt und der Erschaffung des Menschen gerade den Sündenfall des Menschen, von dem die Bibel berichtet, nicht erwähnt. Ein »Sündenfall« des Menschen hätte sich nämlich nicht mit jener neuen Anthropologie vereinbaren lassen, die Pico in seiner Fabel einführt. Denn deren Prinzipien beziehen sich allein auf einen Menschen, der, frei von allen Gebrechen und Unzulänglichkeiten, der autonome Herr seiner Existenz ist. Pico hat diese Prinzipien sehr klar formuliert. Nach dem obersten von ihnen besitzt der Mensch eine Freiheit der Wahl (libera optio), dank der er die Bedingungen seiner Existenz gänzlich selbst bestimmen kann. Ohne dass ihm irgendeine Beschränkung bei der Verwirklichung der von ihm gewählten Existenzform auferlegt wäre, kann er sich absinken lassen bis zu einer tierischen oder sich aufschwingen bis zu einer göttlichen Existenz. Dieses oberste Prinzip wird durch zwei andere korrelative Prinzipien ergänzt. Dem einen zufolge ist der Mensch ein »Gebilde ohne unterscheidende Züge«, so dass es vergeblich wäre, herauszufinden, was das spezifisch Menschliche am Menschen ist. Dem anderen Prinzip zufolge ist der Mensch sein eigenes Werk – er kann sein, was immer er sein will. Als Pico diese Prinzipien einer neuen Anthropologie aufstellte, hat er wohl kaum jene pantokratische Einstellung des Menschen gegenüber der Realität antizipiert, die seinen Prinzipien folgerichtig entspricht. Denn in seinen ursprünglichen Intentionen strebte er nicht über das eine Vorhaben hinaus, die Würde des Menschen nun auf eine endlich befriedigende Weise zu begründen. In der Durchführung seines Vorhabens aber entwickelte er noch weit größere Pläne. Er forderte seine Zeitgenossen auf, abzulassen von ihrer bloß menschlichen Existenz und stattdessen noch etwas mehr sein zu wollen – nämlich Götter in dieser Welt.

Eine Verwirrung der Gedanken: Die Hypertrophie menschlicher Anmaßung in der unbeschränkten Freiheit der menschlichen Einbildungskraft Als Michel de Montaigne (1533–1592) seine Apologie de Raimond Sebond verfasste und sich dabei jener neuen Anthropologie widersetzte, die angelegt war auf eine Selbstvergottung des Menschen, befand sich unter den bedeutenderen Autoren seiner Zeit kaum noch einer, der angesichts der allgemeinen Begeisterung über das »große 129 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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Wunder«, das doch der Mensch sei, noch an die Unzulänglichkeiten und das Elend der menschlichen Existenz erinnern mochte. Montaigne war in der Tat der einzige Autor im 16. Jahrhundert, der sich noch einmal zu einer grundsätzlichen und umfassenden Kritik all der Vorstellungen von einer dignitas hominis aufschwang. Durch diese Ausnahmestellung lässt sich vielleicht auch die Schärfe von Montaignes Kritik erklären. Montaigne schien zu wissen, dass in mentaler Hinsicht das Ergebnis der Debatte über die Würde und das Elend des Menschen inzwischen feststand. Denn in der Apologie ging er regelmäßig von der Beobachtung aus, dass im allgemeinen das Selbstverständnis seiner Zeitgenossen geprägt war von einem blinden Glauben an eine gottgleiche Erhabenheit und Herrschaftswürde des Menschen gegenüber allen Dingen dieser Welt. Montaigne schien aber ebenfalls davon überzeugt zu sein, dass dieser Anklang, den die Vorstellungen von einer dignitas hominis unter den Menschen seiner Zeit fanden, noch lange kein Grund dafür war, die theoretische Auseinandersetzung darüber zu beenden, ob denn diese Vorstellungen auch den wirklichen Bedingungen menschlicher Existenz in dieser Welt entsprechen würden. Denn in seinen Augen wurde die dringende Notwendigkeit zu einer Kritik der neuen Anthropologie eben gerade von deren gesellschaftlicher Wirksamkeit aufgewiesen. Im Rahmen der Debatte über die Würde und das Elend des Menschen ist die Apologie daher unter zwei Aspekten bedeutsam. Zum einen stellt sie deren Abschluss dar, und zum anderen enthält sie schon eine psychologische Analyse jenes Wandels im Selbstverständnis des europäischen Menschen, wie er damals vonstattenging und in der Debatte selber artikuliert wurde. In seinem Beitrag zur Debatte beschränkte sich Montaigne nämlich nicht allein darauf, das Schlusswort des Unterlegenen zu sprechen. Zwar brachte er die miseria hominis noch einmal mit viel Verve ins Gespräch, aber er wusste wohl, dass er seine Zeitgenossen kaum mehr von der Nichtigkeit ihrer Existenz überzeugen konnte, da sie schon ganz von dem Vorhaben erfüllt waren, über die Welt der Natur eine unumschränkte Herrschaft des Menschen aufzurichten. Unter diesen Umständen schien es denn ergiebiger zu sein, überhaupt einmal herauszufinden, von welchen Motiven dieses Vorhaben ausgelöst und welche Verheißungen mit ihm verknüpft sein könnten. Indem Montaigne sich diese Aufgabe stellte und sie auch bewältigte, überhöhte er seine Kritik der neuen Anthropologie durch eine Theorie der psychisch-existentiellen Prozesse, aus welchen diese hervorgegangen war. So konnte er zwar an dem gesell130 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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schaftlichen Erfolg dieser Anthropologie nichts ändern, aber er konnte schließlich deren Prinzipien identifizieren als Symptome einer intellektuellen Verblendung. Bei der Durchführung seiner Aufgabe bediente sich Montaigne mehrerer Methoden. Seine erste bestand darin, die wesentlichsten Prinzipien der neuen Anthropologie mit entsprechenden Erfahrungen und Beobachtungen zu kontrastieren. An einer Stelle der Apologie führt er so zum Beispiel den berühmten Satz des Hermes Trismegistos über den Menschen, das magnum miraculum, an: »Hören wir uns Trismegistos an, wie er unsere Selbstgefälligkeit rühmt: von allen bewunderungswürdigen Dingen hat dies noch die Bewunderung überstiegen, dass der Mensch imstande war, die göttliche Natur hervorzubringen und zu erwerben.« 46 An solch einem Satz wird nach Montaigne die große Diskrepanz ersichtlich, die aufklafft zwischen dem Anspruch des Menschen auf eine göttliche Würde und jenen Bedingungen, denen seine Existenz wirklich unterliegt. Denn irgendwie müsse der Mensch »von Sinnen« sein, so meint Montaigne, wenn er einerseits Götter zu Dutzenden »schmiede« und andererseits nicht einmal wüsste, wie eine Käsemade zu »schmieden« wäre. 47 Es wäre ebenfalls eine törichte Anmaßung von uns Menschen, wenn wir uns für das vollkommenste Wesen (chose) im Universum halten würden. Schließlich wären wir ja zum Beispiel unfähig, die Welt zu erschaffen. Es gebe doch wohl ein vortrefflicheres Wesen (nature), das da Hand angelegt hätte. 48 Und wenn sich der Mensch sehr viel auf sein Wissen einbilde, so erklärt Montaigne in einer Wiederholung von Paulus (1 Kor. 8, 2; Gal. 6, 3), dann wisse dieser noch nicht, was es überhaupt sei, zu wissen. Würde nicht der Mensch sich selbst täuschen, so fragt Montaigne schließlich, wenn er annehmen würde, dass er etwas wäre, da er doch ein Nichts sei? 49 Montaigne versichert, dass diese »Sätze des Heiligen Geistes«, wie er sie nennt, sehr klar und eindringlich das ausdrückten, was er selber sagen wolle. Doch er gesteht gleichzeitig ein, dass er wohl nur solchen Leuten gegenüber keine weiteren Beweise mehr vorlegen müsste, die sich der »Autorität« des Heiligen Geistes beugen und ihr 46 Michel de Montaigne, Apologie de Raimond Sebond, in: ders., Essais, II, 12, in: Œuvres Complètes (im Folgenden: OC), S. 511. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 OC, S. 427 – Vgl. die noch schärfere Feststellung: »La peste de l’homme, c’est l’opinion de sçavoir« (OC, S. 467).

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gehorchen würden. 50 Seine Kritik der neuen Anthropologie richtet sich ja aber vornehmlich an jene seiner Zeitgenossen, die sich von einem christlichen Bild des Menschen gelöst und statt dessen jenes neue Selbstverständnis entfaltet haben, das sie zu profanen Göttern und eifersüchtig gegenüber jedem transzendenten Gott macht. Diese Zeitgenossen wollten, so sieht Montaigne denn ein, dass man sie auf ihre eigenen Kosten widerlege, denn sie duldeten nichts anderes, als dass »man ihre Vernunft mit ihr selber bekämpft«. 51 Daher führt Montaigne eine zweite Methode ein, mit der er die Vorstellungen von einer dignitas hominis untersucht. Er knüpft dabei wieder an jene Postulate selber an, die mit der neuen Anthropologie erhoben werden, um sich dann zu fragen, wie die wirkliche Situation des Menschen in dieser Welt beschaffen sein müsste, wenn diese Postulate wahr sein würden. »Betrachten wir jetzt also«, so eröffnet Montaigne seinen neuen Gedankengang, »den Menschen allein, ohne fremde Hilfe, allein mit seinen Waffen gerüstet und von der göttlichen Gnade und Erkenntnis entblößt«. 52 Dann könne man vielleicht sehen, wie standfest der Mensch in so einem »hübschen Aufzug« sei. Denn Montaigne richtet nun einige Fragen an »den Menschen« – jenen Menschen also, der auf seine unvergleichliche, alles andere übertreffende dignitas pocht und sich vorkommt als Herr und Meister der Natur. Dieser möge ihm doch einmal, so fragt Montaigne an, mit Hilfe seiner ganzen Redegewandtheit klarmachen, auf welche Grundlagen er diese großen Vorzüge gebaut habe, die er den anderen Lebewesen vorauszuhaben glaube. Ferner solle ihm dieser sagen, wer ihm, dem Menschen, denn eingeredet habe, dass dieser wundervolle Umlauf des himmlischen Gewölbes, das unauslöschliche Licht dieser kreisenden Leuchtkörper, die furchterregenden Bewegungen dieses unendlichen Meeres erschaffen worden seien für seine Bequemlichkeit und ihm zu Diensten und sich deswegen erhalten hätten über so viele Jahrhunderte. 53 Montaigne hat den Zweck seiner Demonstration schon nach diesen wenigen Fragen erreicht. Sieht man den Menschen für einen Augenblick so an, als ob er in der Tat der Herr und Meister aller Dinge wäre, dann erscheint er in dem »hübschen Aufzug« seines Anspruchs auf eine gottgleiche Würde und Macht wie eine groteske 50 51 52 53

OC, S. 427. Ebd. Ebd. Ebd.

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Figur. Man kann ihn nur ernst nehmen, indem man über ihn spottet. So wundert sich Montaigne zum Schluss seiner Demonstration bloß noch darüber, ob es denn möglich sei, sich noch etwas Lächerlicheres vorzustellen als »dieses elende und erbärmliche Geschöpf, das nicht einmal Herr seiner selbst ist, Beeinträchtigungen seitens aller Dinge ausgesetzt ist und sich Herr und Imperator des Universums nennt …« 54. Diese Vorstellung von der Lächerlichkeit eines Menschen, der sich Herr und Imperator des Universums nennt, reizt Montaigne dazu an, nun auch die Groteske als Methode für die Entlarvung menschlicher Selbstanmaßung einzusetzen. Dabei überträgt er die egozentrischen Ansprüche des Menschen zum Beispiel auf ein anderes Wesen in der Welt, das er dann dieselben anmaßungsvollen Worte sagen lässt, die der Mensch in seiner Selbstbezogenheit äußern könnte. Denn warum könnte nicht auch ein Gänschen, so fragt er, folgendermaßen reden: »Alle Teile des Universums beziehen sich auf mich; die Erde dient mir zum Gehen, die Sonne ist dazu da, um mich zu beleuchten, und die Sterne sind dazu da, um auf mich einzuwirken; der Wind und das Wasser dienen mir ganz zu meiner Bequemlichkeit; es gibt nichts, das vom Himmelsgewölbe besser versorgt ist als ich; ich bin der Liebling der Natur; ist es nicht der Mensch, der sich um mich kümmert, der mich unterbringt und mich bedient? Für mich ist es doch, dass er säen und mahlen lässt; zwar verspeist er mich manchmal, aber das macht er ja ebenso mit seinen Mitmenschen, und ich selber wiederum fresse die Würmer, die ihn vernichten und schließlich verzehren.« 55

Der Effekt dieser Verfremdung menschlicher Anmaßungen in die Selbstgefälligkeit eines Gänschens ist offensichtlich. Insofern man es von »außen« her kennt und seine Selbstgefälligkeit nicht teilt, wirkt das Gänschen lächerlich und mit ihm sein »egozentrisches« Gehabe. Ebenso lächerlich müsste dann entsprechend auch der Mensch wirken, wenn er nicht mehr über sich selbst hinaussehen und alles vielmehr auf sich selbst beziehen würde. Denn wir würden ja auch nicht anders als das Gänschen reden, so belehrt uns Montaigne, wenn wir sagten, dass das Schicksal und die Welt allein für uns existierten. Dass es unseretwegen blitze und donnere, dass der Schöpfer und die Ge-

54 55

Ebd. OC, S. 514.

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schöpfe, dass alles für uns sei, dass wir das Ziel und der Punkt wären, auf den hin das Universum der Dinge ausgerichtet sei. Man erwäge doch einmal, so fügt Montaigne polemisch hinzu, was die Philosophie seit mehr als zweitausend Jahren über das himmlische Geschehen aufgezeichnet habe: »Die Götter waren allein um des Menschen willen tätig und allein des Menschen wegen haben sie gesprochen. 56 Für Montaigne ist die Groteske menschlicher Selbstanmaßung nicht zuletzt auch eine Groteske der Philosophie. Denn unter denen, die man gemeinhin für »Philosophen« hält, glaubt er, nicht nur echte, sondern vor allem auch diese falschen »Philosophen« zu entdecken, die er wie Plato die philodoxes, die Meinungsliebenden nennt. Von diesen »närrischen Leuten« hätten wir es gelernt, uns zu Richtern über die Welt aufzuwerfen; und ihnen hätten wir diesen lächerlichen Einfall zu verdanken, dass die menschliche Vernunft imstande sei, alles zu überwachen, was sowohl außerhalb wie innerhalb des Himmelsgewölbes sei, dass sie alles umfasse, alles vermöchte, und dass sie es sei, kraft derer alles erkannt und gewusst werden könne. 57 In derlei Gedanken erkennt Montaigne nicht ein Ergebnis philosophischer Reflexion, sondern einen Ausfluss menschlicher Arroganz. Und diese Arroganz stachelt seine Kritik in besonders starkem Maße an. Er legt es geradezu darauf an, den Menschen in seiner Arroganz so weit wie nur möglich zu demütigen. Sein bevorzugtes Mittel dafür ist der Vergleich von Menschen und Tieren. In seiner Anmaßung, so argumentiert er, würde nämlich der Mensch den Tieren, seinen »Brüdern und Gefährten«, bestimmte Rollen zuschneiden und unter ihnen solche Anteile an Fähigkeiten und Kräften verteilen, wie es ihm gut dünke, ohne dass er überhaupt die verborgenen Vorgänge im Innern der Tiere kennen würde. Müsste man da nicht zuvor erst fragen, von welchem Vergleich zwischen ihnen und uns er diese Dummheit ableiten würde, die er den Tieren zuschreibe? Wenn er, Montaigne, mit seiner Katze spiele, wer wisse dann, ob sie sich nicht eher die Zeit mit ihm vertreibe, als er mit ihr? Wenn es an einer Kommunikation zwischen den Tieren und uns ermangele, warum könne das dann nicht ebenso gut an uns wie an ihnen liegen? So könne man auch nicht sagen, wessen Fehler es sei, dass wir einander nicht verstehen. Denn wir würden sie, die Tiere, auch nicht besser

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Ebd. OC, S. 523. – Vgl. auch OC, S. 540.

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verstehen als sie uns, und aus eben diesem Grunde könnten sie uns für ebenso einfältig halten wie wir sie. 58 Wie auf einer Stufenleiter stieg Montaigne anhand seiner Fragen von dem Hochmut des Menschen herab bis zu dessen Einfalt. Die Selbstherrlichkeit, mit welcher der Mensch urteilt über die Tiere, rührt, wie er es sieht, von jener Ignoranz her, in der sich die Menschen gegenüber ihren »Brüdern und Gefährten«, den Tieren, befinden. So legt der Mensch offensichtlich keine große Klugheit an den Tag, wenn er die Tiere schlichtweg für dumm erklärt, ohne darüber im Grunde genau Bescheid zu wissen. Viel eher gerät er selber in die Gefahr, sich recht einfältig zu verhalten, da er schon urteilt, bevor er überhaupt geprüft und eingesehen hat. Und Montaigne zeigt sich davon überzeugt, dass der Mensch diesem Hang zum arroganten Vorurteil nicht nur immer wieder nachgibt, sondern gerade deswegen auch, was die Qualität seines Lebens anbelangt, den Tieren unterlegen ist: »Wir schreiben uns imaginäre und phantastische Vorteile zu, zukünftige und nicht vorhandene Vorteile, oder Vorteile, die wir uns fälschlicherweise infolge der Freizügigkeit unserer Meinungen zuschreiben, wie zum Beispiel die Vernunft, die Wissenschaft und die Ehre; ihnen aber, den Tieren, überlassen wir dafür wirkliche, brauchbare und handgreifliche Güter: den Frieden, die Ruhe, die Sicherheit, die Unschuld.« 59

Nach Montaigne sind sich alle Wesen in der Welt in einer bestimmten Hinsicht »gleich«. Jedes einzelne zeichnet sich aus durch eine ihm spezifische Art der »Intelligenz« und besitzt »Vorzüge«, die ihm allein eigen sind und durch die es den anderen Wesen »überlegen« ist, insofern diesen eben solche »Vorzüge« ermangeln. Wer zwei unterschiedliche Lebewesen, wie den Menschen und das Tier zum Beispiel, miteinander vergleicht, wird daher immer nur die jeweilige Vortrefflichkeit aufzeigen können, die jedes von beiden auf eine ganz unterschiedliche Weise wie das andere besitzt. Jedes kann die in seiner Natur angelegten Vorzüge aktualisieren; solange aber nicht der Mensch zum Tier und das Tier zum Menschen würde, könnten sich weder der Mensch noch das Tier in den Dingen auszeichnen, bei denen der Mensch der Vorzüge des Tieres und das Tier der Vorzüge des Menschen bedürfte. So erscheint der Mensch als dem Tier »überlegen«, wenn man das Tier an den Vorzügen des Menschen misst, und das 58 59

OC, S. 430. OC, S. 464. – Vgl. auch OC, S. 465 f.

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Tier erscheint als dem Menschen »überlegen«, wenn man den Menschen an den Vorzügen des Tieres misst. Der Versuch, den Menschen zum Maß für die Einschätzung all der anderen Wesen zu machen, wäre deswegen nicht nur ein ungerechtfertigtes und willkürliches Unterfangen; vielmehr würde er auch bei einiger Konsequenz zu einem gegenteiligen Ergebnis führen. Der Mensch wäre danach nicht nur das Maß, sondern auch der Gemessene, da er nicht zuletzt imstande sein müsste, sich mit alledem zu messen, für das er selber das eine Maß sein wollte. Wir befänden uns gegenüber allem Übrigen, so erklärt denn Montaigne, weder »oben« noch »unten«. Alles, was unter dem Himmel existiere, unterliege dem gleichen Schicksal und Gesetz. Einige Unterschiede, Rangordnungen und Abstufungen gebe es zwar, aber doch unter dem Antlitz ein und derselben Natur. Man müsse den Menschen zurückdrängen auf die ihm gesetzten Grenzen; ihn, der dasselbe schuldig sei wie die anderen Geschöpfe seiner Art, ohne ein Vorrecht zu haben, noch irgendeine echte und wirkliche Vortrefflichkeit. Dieses Überlegenheitsgefühl, dem er sich hingebe, in seinen Meinungen und in seiner Phantasie, sei ganz und gar gegenstandslos. Und wenn er unter allen Lebewesen das einzige sei, das diese »Freiheit der Einbildungskraft« (liberté de l’imagination) und diese »Verwirrung der Gedanken« (deresglement de pensées) vorweise, dank derer er sich vorstellen könne, was sei und was nicht sei, sowie das, was er sich wünsche, das Falsche und das Wahre, dann sei dies ein Vorzug, der ihn sehr teuer zu stehen komme. Denn daraus eben entspringe vornehmlich die Quelle all der Übel, die ihn bedrückten: die Sünde, die Krankheit, die Unentschlossenheit, die Unruhe, die Verzweiflung. 60 Montaigne verfolgte ein besonderes Interesse, als er die verschiedenen Aspekte der Diskrepanz zwischen den pantokratischen Ansprüchen, zu denen sich der Mensch versteigen mag, und jenen Bedingungen untersuchte, denen die menschliche Existenz wirklich unterliegt. Er wollte herausfinden, was für psychisch-existentielle Prozesse es waren, aus denen das Vorhaben von Menschen entspringen konnte, die Welt zu beherrschen und zu besitzen. Und es gelang ihm, diesem Ziel seiner Untersuchungen wesentlich näherzukommen, wie er den Zusammenhang zwischen der Anmaßung des Menschen und dessen Imagination aufdeckte. 60

OC, S. 436 f. – Vgl. auch OC, S. 432 f., 444.

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Nach der Ansicht von Montaigne gibt es nämlich unter allen den Menschen möglichen Wünschen einen, der die Gedanken ganz sicherlich und sehr nachhaltig »verwirrt«. Dies ist der anmaßungsvolle Wunsch, als Mensch allen anderen Dingen dieser Welt überlegen, das auserlesenste und vortrefflichste aller Wesen im Universum zu sein. Denn ein Mensch, der diesen Wunsch an seine Wahrnehmungen stellt, muss sich einbilden, dass er ja sich selber in all seinen Wahrnehmungen als das Maß aller Dinge erfährt und erkennt. »Die Anmaßung«, so erklärt Montaigne, »ist unsere natürliche und ursprüngliche Krankheit. Das unheilvollste und gebrechlichste aller Geschöpfe ist der Mensch und zugleich das hochmütigste. Er spürt und sieht, dass er hier untergebracht ist, mitten im Morast und Kot der Welt, an das Schlimmste geheftet und daran gefesselt, leblosester und verdorbenster Teil des Universums, in der letzten Reihe der Behausung und vom Himmelsgewölbe am weitesten entfernt. Und doch will er sich durch seine Imagination über den Kreis des Mondes hinstellen und den Himmel unter seine Füße bringen. Im eitlen Wahn dieser Einbildung stellt er sich Gott an die Seite, schreibt sich göttliche Eigenschaften zu, hält sich selbst für erlesen und sondert sich von dem Gewühl der anderen Kreaturen ab.« 61

Nach Montaigne lässt sich somit angeben, aus welchen psychischexistentiellen Prozessen das Vorhaben von Menschen entspringt, die Welt zu beherrschen und zu besitzen. Es ist das Ergebnis einer »Verwirrung der Gedanken«, die ihrerseits herrührt von einer Hypertrophie menschlicher Anmaßung in der unbeschränkten Freiheit der menschlichen Einbildungskraft. Denn je mehr das Eingebildete schmeichelhaft ist für den menschlichen Stolz, umso mehr wiederum wird der Stolz zu dem Bedürfnis, das die Einbildung zu befriedigen hat. In dieser wechselseitigen Eskalation von Anmaßung und Imagination wird der Hochmut immer nachhaltiger eingeübt als eine praktisch alltägliche Verhaltensweise. Er bildet diejenige Form der Existenz, durch die eine Vorherrschaft der Imagination im menschlichen Denken aufrechterhalten und vor Wahrnehmungen geschützt wird, die sie gefährden könnten. Doch dieser Hochmut, so führt Montaigne weiter aus, schade einem Menschen auf zweierlei Weise. Er schleudere ihn zum einen hinaus aus den allen Menschen gemeinsamen Bahnen (voyes com-

61

OC, S. 429 f.

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munes), und zum zweiten veranlasse er ihn dazu, sich immer sofort auf die letzten Neuheiten (nouvelletez) zu stürzen. 62 Die These von dem Verlust einer intellektuellen Gemeinsamkeit mit anderen Menschen ist unmittelbar einleuchtend vor dem Hintergrund von Montaignes Ausführungen zu der »Verwirrung der Gedanken«. Dagegen wäre noch etwas genauer zu klären, welchen Zusammenhang Montaigne zwischen dem Stolz von Menschen und deren Neigung sieht, bloß ihrer Neuigkeit wegen sich für Neuigkeiten zu interessieren. Dabei wäre zunächst hervorzuheben, dass sich Montaigne nicht nur des älteren Begriffs der »Neugierde« (curiosité) bedient, sondern dessen ursprüngliche Bedeutung wieder auffrischt in dem Begriff der von ihm so genannten »Liebe zur Neuigkeit« (amour de la nouvelleté). 63 Diese »Liebe zur Neuigkeit« reiht er ein unter Empfindungen und Leidenschaften wie Furcht, Geiz, Neid, Ehrsucht, Hochmut, und daher versteht er sie wohl eher als eine pervertierte »Liebe«, als eine Sucht. Und in der Tat betrachtet er sie auch als Symptom eines emotionalen Aufruhrs (agitation) von der Art, wie er entstehen könne unter dem Eindruck all des Wissens, das der Mensch von den Dingen zu besitzen glaube. Denn unser Geist, so erklärt Montaigne, sei ein gehöriger Vagabund, gefährlich und tollkühn, und es falle diesem überhaupt schwer, sich an eine Ordnung, an ein Maß zu halten. 64 Wenn man den Menschen frage, ob es in seiner Macht stünde, das zu finden, was er suche, ob ihm dieses Forschen, dem er sich seit so vielen Jahrhunderten widme, irgendeine neue Kraft und irgendeine verlässliche Wahrheit erbracht habe, dann müsse er, wäre er ehrlich, gestehen, dass er aus einer so langen Suche keinen anderen Gewinn gezogen habe als die Erkenntnis seiner Schwäche. Ähnlich sei es auch den Menschen gegangen, so fährt Montaigne fort, die alles versucht, alles ergründet hätten, aber in dieser Anhäufung von Wissen und unter diesem Vorrat von so viel verschiedenen Dingen nichts Festes und nichts Sicheres, nichts als Eitelkeit gefunden hätten. Da hätten sie schließlich auf ihre Anmaßung verzichtet und die natürlichen Bedingungen ihrer Existenz wiedererkannt. 65 So steht Montaigne zufolge der Mensch, der nach Wissen be62 63 64 65

OC, S. 478. OC, S. 483. OC, S. 441. – Vgl. auch OC, S. 516. OC, S. 480.

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gehrt, vor einer prinzipiellen Alternative. Er kann sich einerseits verfangen in einem amour de la nouvelleté, er kann sich andererseits der Grenzen seines Wissens, seiner wissenden Unwissenheit bewusst werden. Der erste Fall wird eintreten, wenn die Erfahrung der menschlichen Erkenntnisschwäche überspielt wird von dem menschlichen Hochmut, sich das Wissen einzubilden, das man nicht besitzt. 66 Dann nämlich wird es auch möglich sein, in der Intensität und Extravaganz eines amour de la nouvelleté, der ständig Neuheiten sucht, um vor einem Nachdenken zu schützen, jene Grenzen des Wissens zu vergessen, welche die Grenzen menschlicher Möglichkeiten sind. Wer diese jedoch nicht überschreitet, weil er gewillt ist, eine wissende Unwissenheit anzuerkennen als die dem Menschen gegebene Möglichkeit zu wissen, der hat den Rat Montaignes befolgt: »Ich empfehle Euch, bei Euren Meinungen und bei Euren Reden, ebenso wie bei Euren Sitten und bei jeder anderen Angelegenheit Euch um Mäßigung und um Beständigkeit zu bemühen, vor dem Neuen und dem Absonderlichen aber zu fliehen.« 67

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OC, S. 468. OC, S. 541.

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Kapitel 6 Die Herrschaft über die Natur

So mich wissend als der Herr der Erde, vor dessen Feuerhauch nichts Endliches besteht, schaue ich mich um, und die Erde ist der Schemel meiner Füße und der Himmel ist der Thronhimmel meiner Herrlichkeit. Ferdinand Lasalle, Kriegsmanifest

Das Reich des Menschen In seinem Novurn Organum, das im Jahre 1620 erschien, hat Francis Bacon das Symbol eingeführt, welches den Zweck einer modernen Zivilisation am deutlichsten charakterisiert. In Anlehnung an ein theologisches Vorbild spricht er dort von dem »Reich des Menschen, das in den Wissenschaften begründet ist« (regnum hominis, quod fundatur in scientiis). 1 Dabei ist offenkundig, was Bacon mit der Analogie zwischen einem regnum Dei und einem regnum hominis ausdrücken wollte. Eine neue Wissenschaft von der Natur befähige den Menschen, unabhängig von einer göttlichen Offenbarung, der Verheißung eines Reiches Gottes auf Erden, schon selbst aus eigener Kraft eine Herrschaft über alle Dinge dieser Welt zu errichten, die, wie es nahegelegt wird durch die symbolische Analogie, einer Weltherrschaft Gottes in nichts Wesentlichem nachstehen würde. Es wäre allerdings unzutreffend, würde man Bacon die Ansicht unterstellen, dass jenes regnum hominis, das er anvisierte, identisch mit dem regnum Dei sei. Mit seiner symbolischen Analogie wollte er wohl weniger eine Identität als vielmehr eine Differenz aufzeigen. Bacon verband ja mit seinem Novum Organum die Vorstellung von einer zivilisatorischen Zäsur. Er stellte sich der aristotelischen Tradition entgegen, in der alle Philosophen bislang verharrt und deshalb die Welt der Natur nie richtig erklärt, sondern sich nur phantasievoll 1

Francis Bacon, Novum Organum (LXVIII), S. 179.

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ausgemalt hätten. Und für sich beanspruchte er, als erster jene Grundlagen zu einer wahren Wissenschaft von der Natur geschaffen zu haben, aufgrund derer es der Menschheit nun endlich möglich sei, die »Ursachen und Bewegungen« sowie die »verborgenen Kräfte in der Natur« zu erkennen und somit ihre »Herrschaft über die Natur« (imperium in naturam) bis an die »Grenzen des überhaupt Möglichen« zu erweitern. 2 Sein Enthusiasmus über solch einen epochalen Sprung in der menschlichen Zivilisation und sein Selbstgefühl angesichts der Rolle, die er sich dabei selber spielen sah, dürften Bacon dazu veranlasst haben, die erhoffte Herrschaft des Menschen über die Natur analog zu dem »Reich Gottes« – der für Bacon als Christen höchsten und vollkommensten Form aller Herrschaft – anzukündigen als ein »Reich des Menschen«. Freilich war diese Analogie nicht gegen die fundamentalistische Umdeutung geschützt, wonach dieses regnum hominis das regnum Dei vorwegnehmen oder überhaupt ersetzen würde. Und in der Tat wurde ja eine derartige säkularistisch fundamentalisierende Wende von den philosophes im 18. Jahrhundert vollzogen, indem sie den Menschen bestimmten als den roi de la terre, ohne dessen quasi-göttliche Existenz im Mittelpunkt der Welt alles andere, was in dieser Welt existiere, seinen Sinn verliere. In den Werken Bacons deutet jedoch nichts darauf hin, dass er selber den Begriff regnum hominis anders denn als Symbol für die Herrschaft des Menschen über die Natur verstand. Diese war das vornehmliche Ziel seiner wissenschaftlichen und schriftstellerischen Bemühungen. Aber indem er die Herrschaft des Menschen über die Natur als eine gleichrangige von einer Weltherrschaft Gottes unterschied, wies er auch hin auf jene pankosmische Konkurrenz, auf die sich der Mensch einlässt, wenn er die Herrschaft über die Natur, die Position des Herren der Erde erstrebt. Dieser muss in seiner Wissenschaft die Schöpfung der Welt wiederholen, die zu beherrschende Welt einholen in den Umkreis seiner eigenen Existenz. Denn ohne ein vollkommenes Wissen von den Ursachen, Bewegungen und verborgenen Kräften in der Natur wäre auch seine Herrschaft über diese nicht umfassend begründet; und ohne eine Koinzidenz seiner Macht mit allen Wirkungen der Natur könnte er seine Herrschaft über diese nicht un2 Vgl. die entsprechenden Formulierungen in: New Atlantis, in: The Works of Francis Bacon, London: Longmans, 1857–1870, Bd. III, S. 156; sowie in: Novum Organum (CXXII), S. 216.

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umschränkt ausüben. Um ihr Herr zu sein, muss der Mensch mit der Natur konkurrieren. Denn solange sich nur etwas ihrer Wirklichkeit seinem Wissen und seiner Macht entzieht, birgt die Natur noch »Geheimnisse«, die sie überlegen machen gegenüber seinem Anspruch, all das zu beherrschen, was sie bewirkt.

Die Konkurrenz zwischen Mensch und Natur Wie wir wissen, ist die Konkurrenz zwischen Mensch und Natur auch heute, im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts, noch nicht entschieden, und nach den vier Jahrhunderten, die sie schon andauert, ruft sie unter denen, die sich seiner mittlerweile eingetretenen Folgen bewusst werden, keineswegs mehr die Begeisterung eines Bacon, wohl aber den Eindruck kommender Katastrophen hervor. Als es Denkern wie Bacon und Descartes gelang, das moderne Bewusstsein an die Vorstellung zu binden, dass es die vornehmste Aufgabe des Menschen sei, sich der Natur zu bemächtigen, waren all die möglichen Folgen solch eines zivilisatorischen Experiments kaum abzusehen (wenngleich Johannes von Tepl diesbezüglich im Jahr 1401 den Tod im Streitgespräch mit dem Ackermann schon deutliche Worte aussprechen ließ). Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass von Anfang an sehr viel über die Mittel und Wege zu einer menschlichen Beherrschung der Natur, sehr wenig aber darüber nachgedacht wurde, wie sich die entsprechenden Unternehmungen auf den Menschen selbst und seine Existenz in dieser Welt auswirken würden. Für diese denkerische Nachlässigkeit, die uns heute sicherlich seltsam erscheint, ist die Feststellung Bacons typisch: »Erobere nur das menschliche Geschlecht seine Gewalt über die Natur (ius suum in naturam), die ihm aufgrund einer göttlichen Schenkung zusteht; und möge ihm davon nur mehr als nötig zuteilwerden: für die richtige Anwendung werden die rechte Vernunft und die gesunde Religion schon sorgen.« 3

Von ihrer Genese her bezog sich die moderne Vorstellung von einer menschlichen Herrschaft über die Natur vornehmlich auf den spekulativen Vorgang, wie die Neuschöpfung der Welt durch den Menschen unter Anwendung der Naturwissenschaften und der Philoso3

Bacon, Novum Organum (CXXIX), S. 223.

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phie zu denken wäre. Bei dem Prozess dieser Spekulation wurden daher nicht die praktische Durchführbarkeit und die Auswirkungen solch eines Vorhabens bedacht; umso deutlicher aber wurde die logische Sequenz von jenen Etappen aufgezeigt, über die sich eine Neuschöpfung der Natur durch den Menschen zu erstrecken hätte. Diese Sequenz möchte ich im Folgenden nachzeichnen. Dabei stütze ich mich auf Aussagen so verschiedener Denker wie Francis Bacon und René Descartes, Georges-Louis Leclerc de Buffon, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Denn es handelt sich hier um ein ihnen allen gemeinsames Problem; der partielle Beitrag eines jeden kann eingebracht werden in den Versuch, die wesentlichsten Aspekte dieses Problems darzustellen. Die erste Etappe in der Sequenz wurde ganz gemäß einem »modernen« Bewusstsein bestimmt: man setzte einen neuen Anfang. Von Bacon wurde das Novum Organum als Gegenstück zu dem Organon des Aristoteles verfasst. Neben einer persönlichen Abneigung gegen die aristotelische Philosophie, die er schon als sechzehnjähriger Student in Cambridge empfand und sein ganzes Leben lang behielt, 4 sah sich Bacon zu der anti-aristotelischen Ausrichtung seines Werks wohl vor allem durch die darin von ihm vertretene Sache selbst veranlasst. Aristoteles war der vornehmste Repräsentant und die einflussreichste Autorität der Philosophie, wie sie in den »Schulen«, d. h. den Kollegien und Universitäten gelehrt wurde, und in eben dieser Schulphilosophie erblickte Bacon jene Barriere, die einer Entfaltung der für ihn einzig wahren Wissenschaft, nämlich der »Wissenschaft von der Natur« entgegenstand. Von der Philosophie, so behauptet Bacon, seien bislang immer nur mit Hilfe der menschlichen Phantasie sehr unbrauchbare und gleichsam nachgeäffte Weltmodelle hervorgebracht worden, die nichts anderes verdienten, als dass man sie gänzlich vernichte. 5 Bis jetzt jedoch habe noch niemand genug geistige Strenge und Ausdauer aufgebracht, alle Theorien und hergebrachten Vorstellungen ganz und gar zu beseitigen (abolere) und im so entleerten Geist wie auf einem freien Feld alles einzelne wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. 6 Dabei müsste doch endlich im menschlichen Geist jenes wahre Abbild der Welt begründet werden, 4 Vgl. dazu William Rawley, The Life of the Right Honourable Francis Bacon, in: The Works of Francis Bacon, Bd. I, S. 3–18. 5 Bacon, Novum Organum (CXXIV), S. 218. 6 Novum Organum (XCVII), S. 201.

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wie es durch Forschungen zu entdecken sei, nicht aber wie es der Verstand aus sich heraus ersinne. 7

Wissenschaft als Instrument der Naturbeherrschung So ist die Aufgabe, vor die sich Bacon gestellt sieht, klar formuliert. Sein wissenschaftliches Interesse gilt einer Erforschung der inneren Bewegung und der Kräfte der Natur, und das praktische Ziel, das er dabei anstrebt, ist die Beherrschung dieser Natur durch den Menschen. Er verwirft die naheliegende Annahme, dass bei dem auch zu seiner Zeit schon sehr alten Bemühen um Einsichten in das Wesen der Dinge, genannt Philosophie, irgendwelche, wenn auch noch so geringe Beiträge zu einer Wissenschaft von der Natur erbracht worden wären. Vielmehr geht er davon aus, dass die bisherige Philosophie in dieser Hinsicht nicht nur nichts geleistet, sondern sich selbst sogar als Hindernis aufgestellt habe gegen eine nutzbringende Erforschung der Natur. Die Möglichkeit zu einer Wissenschaft von der Natur war für Bacon daher einerseits durch eine destruktive Überwindung der bisherigen Philosophie und andererseits durch eine konstruktive Neubegründung von Wissenschaft überhaupt bestimmt. Und nachdem es bislang »niemand« gewagt hätte, alles »von sich zu werfen«, was an Philosophie überliefert war, und auf einer so hergestellten tabula rasa »alles von vorn an … wieder aufzutragen«, konnte sich Bacon wohl schwerlich seiner eigenen Logik entziehen und nicht selbst derjenige sein, der alles »von sich warf«. Er erklärte, dass es sein Vorhaben sei, »dem Verstande einen ganz neuen Weg zu öffnen«, 8 denn es gelte ja, nichts Geringeres zu erreichen als eine »Wiederherstellung der Wissenschaften und der Gelehrsamkeit«. 9 Bei den wissenschaftstheoretischen Überlegungen eines Bacon ebenso wie bei denen, die dazu Descartes parallel anstellte, ging einer jeglichen Neubegründung von Wissenschaft schon die Vorentscheidung voraus, dass die Wissenschaft das Instrument sein solle, welches den Menschen dazu verhelfe, die Natur unter ihre Herrschaft zu zwingen. Unter einer »Wiederherstellung der Wissenschaften und der Gelehrsamkeit« war somit vor allem eine Neubestimmung der 7 8 9

Novum Organum (CXXIV), S. 218. Novum Organum, Praefatio, S. 153. Ebd. S. 154.

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Funktion wissenschaftlicher Bemühungen gemeint. Damit eine solche Neubestimmung vorgenommen werden könnte, musste dann konsequent zwischen zwei Arten von »Wissenschaft« unterschieden werden: zwischen jener ›älteren‹, wie sie bislang gepflegt worden war, und dieser ›neueren‹, die man jetzt einführen wollte. Dabei wurde diese Unterscheidung anhand jener Kriterien getroffen, die die Merkmale für die »neue« Wissenschaft waren. Zu der »älteren« Art von Wissenschaft bemerkte so Bacon zum Beispiel folgendes: »Die Wissenschaften, welche wir jetzt besitzen, sind gewissermaßen nichts anderes als Zusammenfügungen vorher schon erfundener Dinge; nicht aber Erfindungsmethoden oder Pläne für neue Werke.« 10 Ganz offensichtlich stützte Bacon dieses abschätzige Urteil über die »ältere« auf die Zweckbestimmung jener »neueren« Art von Wissenschaft, die er bevorzugte: »Das wahre und angebrachte Ziel der Wissenschaften ist die Ausstattung des menschlichen Geschlechts mit neuen Erfindungen und Reichtümern.« 11

Um dem Vorhaben der Menschen zu dienen, eine Herrschaft über die Natur zu erringen, mussten also die »Wissenschaften« ganz bestimmten Anforderungen genügen: sie mussten nützlich und praktisch sein, mussten zu unmittelbar verwertbaren Ergebnissen wie »Erfindungen« und »Entwürfen zu neuen Werken« führen, durch die das menschliche Geschlecht »bereichert«, d. h. wohl der Natur gegenüber machtvoller werden würde. Aufgrund dieser neuen, modernen Zweckbestimmung von »Wissenschaft« wurde dann auch durch Descartes der Unterschied zwischen einer »älteren« und einer »neueren« Art von Wissenschaft terminologisch festgelegt. Es sei nämlich möglich, so schrieb er im Discours de la Méthode, »zu Kenntnissen zu gelangen, die äußerst nützlich für das Leben sind, und anstelle dieser spekulativen Philosophie, wie man sie in den Schulen lehrt, kann man eine praktische finden, durch die wir die Kraft und die Wirkung des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, des Himmels und aller anderen Körper, die uns umgeben, so deutlich kennenlernen, wie wir die verschiedenen Fertigkeiten unserer Handwerker kennen, so dass wir diese Kenntnisse auf dieselbe Weise zu allen Zwecken verwenden könnten, für die sie geeignet sind, und uns also zu Herren und Eigentümern der Natur (maîtres et possesseurs de la nature) machten«. 12 10 11 12

Novum Organum (VIII), S. 158. Novum Organum (LXXXI), S. 188. René Descartes, Discours de la Méthode, S. 61 f.

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So bietet sich dem Menschen nach Descartes bei dem Übergang von der philosophie spéculative zu einer philosophie pratique nicht nur ein neues Verständnis seines Wissens und Könnens, sondern auch die ganze Welt der Natur als sein Herrschaftsgebiet und Eigentum an. Allerdings hat Descartes bei dieser Verheißung eines »Reiches des Menschen« an alle wissenschaftlichen Bemühungen des Menschen noch eine spezifische Bedingung geknüpft. Eine »Wissenschaft«, die der Mensch einsetzen will als Instrument zur Errichtung seiner Herrschaft über die Natur, muss eine in sich »vollendete« und zuverlässig »sichere« Wissenschaft (science parfaite, science certaine) sein. 13 Sie darf nicht zurückbleiben hinter jener mathematischen Gesetzmäßigkeit, nach der alle der Natur immanenten Prozesse ablaufen. Und so muss denn der Mensch, der sich aufschwingen will zum Herren und Eigentümer der Natur, erst die Herausforderung bewältigen, die die Natur an seine Wissenschaft stellt. Er muss seine philosophie pratique ausfeilen zu einer science certaine, deren Grad an Gewissheit gleich dem der Gesetze in der Natur ist. Denn erst auf dem Niveau solch einer Kongruenz von »Wissenschaft« und »Natur« wird er die Natur besiegen und beherrschen können: dann nämlich, wenn alles das, was die Natur bewirkt, auch von ihm selbst hervorgebracht werden kann. »Unser ganzes Streben gilt einem Sieg der Kunst über die Natur« (victoria artis super naturam), 14 so erklärt Bacon sehr zutreffend. Wenn der Mensch imstande wäre, all sein Wissen und Können zu einer ars, einer techne zu entwickeln, durch die er das Wirken der Natur nachahmen oder gar übertreffen könnte, dann würde er in der Tat die Herrschaft über die Natur errungen haben. Er würde dann nicht nur selber unabhängig sein von der Natur, sondern würde auch diese selbst in eine Abhängigkeit von seinen Wünschen und Vorhaben bringen können. Wo die Natur nicht jene Ergebnisse erbringen würde, die er sich von ihr erhofft, würde er selber ans Werk gehen, und wo es ihm nützlich erscheinen würde, sich der Kräfte der Natur zu bedienen, würde er diese umlenken und einfügen in die von ihm erzeugte künstliche Welt.

13 René Descartes, Les Principes de la Philosophie, in: Œuvres Philosophiques, Hrsg. Ferdinand Alquié, Bd. IlI (1643–1650), Paris: Garnier, 1973, S. 146; Règles pour la Direction de l’Esprit, in: Œuvres Philosophiques, Bd. I (1618–1637), Paris: Garnier, 1963, S. 81. 14 Bacon, Novum Organum (CXVII), S. 213.

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Doch solch einem Sieg menschlicher Kunst über die Natur müsste erst ein vollständiges Wissen der Menschen von allen inneren Prozessen der Natur, ihren »Geheimnissen«, vorausgehen. Um sie nachahmen zu können, müssen die Menschen erst die Natur bis in ihr Innerstes hinein erforscht, all ihre Wirkkräfte und Wirkungsweisen aufgespürt haben. Denn nur so werden sie erfahren, was die »Kunst« der Natur ist, die sie sich aneignen müssen, um auch selber all das hervorbringen zu können, was die Natur alles fertigbringt. Sie müssen, wie es Bacon plastisch ausdrückt, aus den »Vorhallen der Natur« eintreten in deren »innerstes Heiligtum«: »Sollte es aber Einigen am Herzen liegen, nicht bloß bei dem bereits Vorhandenen stehen zu bleiben und sich dessen zu bedienen, sondern durch Werke die Natur zu besiegen, so mögen sie sich, wenn es ihnen gefällt, mit mir vereinen, um endlich einmal aus den Vorhallen der Natur, welche schon von einer Unzahl von Besuchern erfüllt sind, in ihr innerstes Heiligtum einzudringen.« 15

Durch dieses Bild von dem Menschen, der »eindringt« in das »Heiligtum« der Natur, wird die Vorstellung nahegelegt, dass der Mensch bei der Erforschung der Natur sowohl moralische Schranken wie auch räumliche Distanzen überwinden müsse. Doch wie er über die Methode spricht, durch welche der Mensch die »Geheimnisse« der Natur aufdecken könne, unterlegt Bacon seinen Ausführungen die Vorstellung von einer aus Einzelteilen zusammengesetzten Natur, einer mundi constructio. Im menschlichen Geist, so sagt er, könne so lange nicht ein wahres Abbild der Welt begründet werden, solange nicht zuvor eine »Zergliederung der Welt« (mundi dissectio) auf höchst sorgfältige Weise vorgenommen worden sei. 16 Mit dieser methodischen Anweisung, dass man die Natur »zerlegen« müsse (naturam secare), wenn man sie erforschen wolle, 17 hat Bacon dargelegt, was er unter seiner Aufforderung an die Menschen verstand, nun endlich in das »Heiligtum« der Natur »einzudringen«. Gleichfalls hat er aber auch den Weg aufgewiesen, über den der Mensch zu der »Kunst« gelangen könnte, das Wirken der Natur in seinen eigenen Werken nachzuahmen. Wenn die Welt der Natur gleich einer constructio ist, Ebd. S. 154. – Dt. Übers.: Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, Vorrede des Verfassers, S. 24 f. 16 Novum Organum (CXXIV), S. 218. 17 Novum Organum (LI), S. 168. Vgl. auch ebd., Buch 2: »De interpretatione naturae sive de regno hominis«, Aph. I und XVI. 15

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zusammengesetzt aus einzeln bestehenden Körpern und Teilen, dann ist ihre Zergliederung doch wohl die beste Weise, eben jene Kunst zu entdecken, auf der ihre Zusammensetzung beruht. Denn im Prozess solch eines Zergliederns würde bei jedem einzelnen dementsprechenden Akt offenbar, wie und woraus sich das eine oder das andere zusammensetzt, das man gerade zerlegt. Und so würde man in dem Maße, wie man die Natur »zerlegt«, auch deren Konstruktion auf eine umgekehrte Weise »wiederholen«. Denn am Ende, wenn die ganze Welt der Natur schließlich »zergliedert« wäre, würden nicht nur all die ihr zugehörigen Körper und Kräfte einzeln bloßliegen, sondern es würde auch der, der sie »zerlegt« hat, jetzt das Wissen besitzen, wie jenes universale Wirkungsgefüge zusammenzusetzen ist, das man ›Natur‹ nennt. So würde der Mensch aus dem »Zerlegen« der Natur einen doppelten Gewinn schöpfen können. Zum einen wäre er nunmehr befähigt, die inneren Prozesse der Natur, die Zusammensetzung der mundi constructio vollkommen zu durchschauen. Er wäre in der Tat aus den »Vorhallen der Natur« in deren »Heiligtum« gelangt, von ihren »Geheimnissen« wäre ihm nichts mehr verborgen. Zum anderen wäre er eben aufgrund dieser Einsicht in alle »Geheimnisse« der Natur auch jenem Ziel sehr nahe gerückt, auf das ihn das »Zerlegen« der Natur überhaupt hinführen sollte: auf den Sieg seiner Kunst über die Natur. Wodurch dieser Sieg vollends herbeigeführt werden könnte, dies hat Johann Gottlieb Fichte in seiner Schrift Die Bestimmung des Menschen (1800) erklärt: »Im Andränge der Not zuerst geweckt, soll späterhin besonnener und ruhig die Wissenschaft eindringen in die unverrückbaren Gesetze der Natur, die ganze Gewalt dieser Natur übersehen, und ihre möglichen Entwicklungen berechnen lernen; soll eine neue Natur im Begriffe sich bilden, und an die lebendige und tätige eng sich anschmiegen, und auf dem Fuße ihr folgen. Und jede Erkenntnis, welche die Vernunft der Natur abgerungen, soll aufbehalten werden im Laufe der Zeiten, und Grundlage neuer Erkenntnis werden für den gemeinsamen Verstand unseres Geschlechts. So soll uns die Natur immer durchschaubarer, und durchsichtiger werden bis in ihr geheimstes Innere, und die erleuchtete und durch ihre Erfindungen bewaffnete menschliche Kraft soll ohne Mühe dieselbe beherrschen …« 18

18 Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Hamburg: Meiner, 1962, S. 104.

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Ein Sieg menschlicher Kunst über die Natur, so wird auch von Fichte hier wieder betont, kann allein in der Form einer Konkurrenz zwischen dem Menschen und der Natur entschieden werden. Doch in seiner Darstellung dieser Konkurrenz schließt Fichte schon gleich an jene methodische Kehre an, in der über den Umweg einer Zergliederung der Welt ein vollständiges Wissen von deren Zusammensetzung gewonnen werden sollte. So kann er sich denn auf das förmliche Ergebnis dieser Kehre konzentrieren und die Konkurrenz zwischen Mensch und Natur nunmehr darstellen als eine Konkurrenz, in welcher der Mensch nicht mehr von vornherein unterlegen ist gegenüber einer Natur, die er nicht kennt und doch nachahmen und sogar bezwingen will. In dem Menschen, der eingedrungen ist in die Natur, deren ganze Gewalt zu »übersehen« und deren mögliche Entwicklungen zu »berechnen« vermag, erblickt Fichte jetzt vielmehr einen Konkurrenten der Natur, der dieser gegenüber ebenbürtig, wenn nicht potentiell sogar überlegen ist. Und so stellt er folgerichtig der »lebendigen« und »tätigen« Natur eine »neue Natur« gegenüber, die der Mensch »im Begriffe« sich ausbilde. Denn beim Eindringen in das »geheimste Innere« der Natur hat sich ja dieser Mensch eben jene »Kunst« angeeignet, auf der das Wirkungsgefüge der Natur beruht. Folglich kann er diese dann auch dazu verwenden, der Natur Konkurrenz zu machen: durch die Ausgestaltung einer »neuen Natur«, in der er die »tätige« Natur zwar zunächst bloß reproduziert, aber so doch auch immer mehr überwindet. Denn die »neue Natur«, die der Mensch »im Begriffe« sich bildet, mag sich zuerst zwar eng an die »lebendige« und »tätige« Natur »anschmiegen und auf dem Fuße ihr folgen«. Aber sie kann ihr – um im Bilde zu bleiben – auch vorauseilen und sich ablösen von dieser ursprünglichen Natur. Unter der Voraussetzung, dass es dem Menschen einmal gelingt, sich vollständig jene »Kunst« anzueignen, auf der das Wirkungsgefüge der Natur beruht, wird es dann dieser ja auch vermögen, mit Hilfe der »Natur« schaffenden »Kunst« die ursprüngliche Natur in eine ganz andere, nämlich künstlich umgeschaffene Natur zu verwandeln. Der Prozess einer derartigen Umwandlung der Natur wäre aber gleichbedeutend mit einem Prozess menschlicher Erfindungen. Denn »Erfindungen«, so definiert Francis Bacon, »sind gleichsam neue Schöpfungen und Nachahmungen der göttlichen Schöpferkraft« 19 Als Erfinder, als homo faber, der die Kräf19

Bacon, Novum Organum (CXXIX), S. 221.

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te der Natur sich zu eigen gemacht hat, würde sich der Mensch nicht mehr allein darauf beschränken müssen, sich eine »neue Natur« bloß »im Begriffe« zu bilden. Durch seine Erfindungen wäre er, wie Fichte erläutert, nunmehr der Natur gegenüber »bewaffnet«. Und so würde er diese nun tatsächlich beherrschen, da er ihre Kräfte dazu zu benützen weiß, sie in seine Entwürfe von »Natur« zu verwandeln.

Die Verwandlung der Natur durch die wirklichkeitsstiftende Macht des Menschen In seinem kurzen Essay La Nature (1764), den er in den 12. Band seiner Histoire Naturelle einfügte, hat Buffon mit dem Enthusiasmus des aufklärerischen philosophe das Bild von dem Menschen ausgemalt, der die Nature brute verwandelt in eine Nature nouvelle. Dieser Mensch, so schreibt er, würde unter all den Wesen, die da leben, erst eine Ordnung und Harmonie herstellen; durch ihn erst würde die Natur verschönert und verfeinert. »Schaut Euch doch diese wüsten Gegenden, diese öden Landstriche an«, so ruft er aus, »wo sich der Mensch noch niemals niedergelassen hat.« 20 Die »rohe Natur« (Nature brute) sei hässlich, sei sie doch eine sterbende Natur. Erst wenn der Mensch sage: Ich, Ich allein bin es, der die Natur gefällig und lebendig macht, dann erst würde sich alles verwandeln: eine »neue Natur« (Nature nouvelle) würde aus den Händen der Menschen hervorgehen. Wie schön sie doch sei, so verwundert sich Buffon, diese vom Menschen bearbeitete Natur, so prachtvoll wie sie es doch nur sein könne durch die Sorgfalt und Fürsorge des Menschen. 21 So in einen verbal ausschweifenden Enthusiasmus verfangen, hat es Buffon nicht versäumt, in sein Bild von der Neuschaffung der Natur durch den Menschen auch die Schatten einzuzeichnen, die der Mensch auf die Natur bei dem Aufstrahlen seiner Macht über diese wirft: »Der Mensch, der Herr über das Gebiet der Erde, hat alles auf dieser Welt verändert, erneuert. Und doch ist seine Herrschaft auf nichts anders als das Recht des Eroberers gegründet.« 22 20 Buffon, La Nature, in: ders., Œuvres Philosophiques, Hrsg. Jean Piveteau, Paris: Presses Universitaires de France, 1954, S. 33. 21 Ebd. S. 34. 22 Ebd.

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Die Ausführungen Buffons zeigen so nicht bloß jene Begeisterung an, mit der die Idee einer Neuschaffung und Beherrschung der Natur durch den Menschen von den philosophes im 18. Jahrhundert aufgenommen wurde. Vielmehr kündigen sie auch an, welche Haltung der Mensch der Natur gegenüber bei dem Versuch einnehmen wird, diese in sein ihm unumschränkt verfügbares Eigentum zu verwandeln. In dem Prozess einer von ihm vorgenommenen Verwandlung der Natur nimmt der Mensch nach Buffon die Haltung eines »Eroberers« ein, der sein »Ich« für das Zentrum aller Dinge hält. Demgegenüber wird der Natur von Buffon bloß der Status einer »rohen Natur« zugewiesen, die sich ohne die »Fürsorge« des Menschen eher im Modus des Sterbens als im Modus des Lebens befinde. Ihre Existenz soll sozusagen allein von dem Menschen abhängen, der als »Ich« alle Wirklichkeit in sich zusammengezogen hat und so alle Dinge der Natur erst eigentlich zur »Wirklichkeit« bringt, indem er die schöpferischen Worte ausspricht: Ich, Ich allein bin es, der die Natur gefällig und lebendig macht. Der Prozess einer vom Menschen vorgenommenen Verwandlung der Natur würde sich demnach auf zwei Ebenen abspielen. Auf der einen Ebene würde sich die Verwandlung selbst vollziehen, wie sie im Einzelnen soeben dargestellt wurde: Der Mensch würde zuerst in die Natur »eindringen«, dann diese »zerlegen« und schließlich umschaffen zu einer »neuen Natur«. Auf der anderen Ebene hingegen würde sich im Verhältnis von Mensch und Natur eine grundsätzliche »Machtverschiebung« ereignen: der Mensch würde einerseits die Natur immer mehr entmachten, um andererseits alle Macht über die Dinge der Welt in sich selbst zu vereinen. Diesen Prozess einer Zusammenziehung aller wirklichkeitsstiftenden Macht in dem Menschen – der sich notwendigerweise aus dem Prozess einer Verwandlung der Natur durch den Menschen ergeben würde – möchte ich nun im Folgenden in seinem gedachten Ablauf aufzeichnen, (1) Eine »Machtverschiebung« im Verhältnis von Mensch und Natur würde beginnen mit einer »räumlichen« Dissoziierung des Menschen von der Natur. Der Mensch stellte sich vor, dass er sich »außerhalb« der Natur befinde, also selber nicht zu jenem Bereich von Objekten gehöre, den er »Natur« nennt. Ohne die Vorstellung einer derartigen »räumlichen« Dissoziierung könnte auch die Vorstellung von einer menschlichen Herrschaft über die Natur überhaupt nicht aufrechterhalten werden. Man kann nicht etwas beherrschen, dessen Teil man selber ist: im Bewusstsein jenes Menschen, 151 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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der die Natur beherrschen will, müssen »Mensch« und »Natur« auseinanderrücken in eine »räumliche« Distanz. Diese methodisch notwendige Verräumlichung jenes Denkens, das der Errichtung einer menschlichen Herrschaft über die Natur gilt, wird dann auch manifest in der ihm entsprechenden geometrischen Bildersprache, wie sie ein Bacon oder ein Descartes benützen. (2) Aus der räumlichen Distanz zur Natur könnte dann der Mensch diese von »außen« »übersehen«, sie würde ihm von ferne als ein »Ganzes« erscheinen, das man »umgreifen« und in das man »eindringen« kann. Er würde annehmen, dass er in der Rolle eines wissenschaftlich interessierten, persönlich aber unbeteiligten »Forschers« wieder die Distanz zur Natur durchschreiten und von »äußeren« Bereichen der Natur bis in deren »Innerstes« vordringen könnte. Nachdem er so den ganzen »Raum« der Natur durchmessen und erforscht haben würde, müsste er dann, wieder zurückgekehrt in die räumliche Distanz zur Natur, all deren innere Prozesse, die er nunmehr völlig versteht, von »außen« kontrollieren und sich zu nutzen machen können. »Wenn es einem gelänge«, so schrieb Bacon, »nicht nur eine einzelne, wenn auch noch so nützliche Entdeckung zu machen, sondern in der Natur ein Licht anzufachen, das Bereiche erleuchten würde, die jenseits unserer gegenwärtigen Naturkenntnis liegen, und das, indem er immer höher steigt, die verborgensten Geheimnisse enthüllen und aufdecken würde, dann wäre dieser, so glaube ich, der Begründer einer menschlichen Herrschaft über die Natur (humani in Universum imperii), der Verfechter der Freiheit und der Sieger über die Notwendigkeit.« 23

(3) Durch eine »räumliche« Dissoziierung von der Natur würde so der Mensch wohl die denkbar günstigste Ausgangsposition einnehmen für einen Sieg über die Natur. Aber »wo« wäre denn diese Position, an welchem »Ort« hielte sich der Mensch auf, wenn er sich »außerhalb« der Natur befinden würde? Was wäre dieses »Außerhalb«, wenn nicht die Unendlichkeit all der Punkte, von denen der Mensch einen auszuwählen hätte als seinen festen »Ort« in seiner Beziehung zur Natur? Zwar könnte der Mensch seine Wahl ganz willkürlich treffen, aber dennoch, wie sollte er überhaupt wissen, ob er sich »hierhin« oder »dorthin«, »wohin« er sich eigentlich wenden sollte? So würde er denn »außerhalb« der Natur, von wo er die Natur 23 Bacon, De Interpretatione Naturae Prooemium, in: The Works of Francis Bacon, Bd. III, S. 518.

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»übersehen« wollte, nun nicht mehr sehen, wo er selber ist. Orientierungslos schwebend in einem gestaltlosen Raum, würde er sich in der von Pascal beschriebenen Situation jenes Menschen befinden, der den »Ort« seiner Existenz in der Welt nicht mehr weiß: »Er ist sichtlich verwirrt, da er herabgefallen ist von seinem eigentlichen Ort, ohne ihn wiederfinden zu können. Voller Unruhe sucht er ihn überall, aber kann ihn nicht finden in einem undurchdringlichen Dunkel.« 24

(4) Diese Erfahrung, des menschlichen »Ortes« in der Welt nicht mehr gewiss zu sein, könnte natürlich in sehr unterschiedlicher Intensität empfunden werden. Dementsprechend würden auch verschiedene Weisen ihrer Bewältigung zu verzeichnen sein. Allerdings wäre wohl allen die ihnen zugrunde liegende Intention gemeinsam, doch einen »Ort«, einen »fixen Punkt« wiederzufinden, an dem der Mensch seine von der Natur losgelöste Existenz wieder festmachen könnte. Pascal erlebte die Erfahrung sehr intensiv; er sah den Menschen hilflos und auswegslos verirrt in einem unendlich leeren Raum. Obwohl er überzeugt war, dass es nie erfüllt werden könnte, sprach er doch von dem Begehren der Menschen nach einem festen Grund: »Wir brennen vor Verlangen, eine feste Unterlage (assiette ferme) und ein letztes unveränderliches Fundament zu finden.« 25 Bacon hingegen zweifelte weit weniger an der Standfestigkeit jenes Menschen, der den Versuch unternahm, sich der Natur zu bemächtigen. Denn er neutralisierte das Problem durch einen logischen Zirkel. Der Mensch sollte nicht nur »Herr«, sondern auch zugleich »Diener« (minister) der Natur sein: »Der Natur bemächtigt man sich nur, indem man ihr nachgibt.« 26 Bei der Errichtung seiner Herrschaft über die Natur ist der »Ort«, die »Stellung« des Menschen, so nach Bacon von vornherein umrissen durch die zweideutige Rolle, die der Mensch dabei spielt. Er wirft sich einerseits auf zum »Herren« über die Natur und doch handelt er andererseits als »Diener« und »Interpret« (interpres) der Natur 27, wenn er in diese eindringt, diese zerlegt und sich ihrer bemächtigt. (5) Durch seine doppelsinnige Logik wurde Bacon sicherlich nicht dem Problem gerecht, »wo« der Mensch denn ansetzen sollte,

24 25 26 27

Blaise Pascal, Œuvres Complètes, S. 1159. Ebd. S. 1109. Bacon, Novum Organum (I, III), S. 157. Ebd.

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wenn er sich der Natur von »außerhalb« bemächtigen wollte. Pascal hatte die Lösung viel eher ausgemacht, als er das Begehren der Menschen nach einer assiette ferme anführte. Doch er hielt ein derartiges Verlangen von vornherein für vergeblich und unternahm deshalb auch keinen Versuch, solch eine assiette ferme zu finden. Der Versuch wurde von Descartes unternommen. »Um die Erdkugel aus ihrem Platz zu heben und an einen anderen Ort zu bringen, verlangte Archimedes nichts als einen Punkt, der fest und gesichert sei«, so schrieb Descartes am Anfang seiner ersten Méditation. »So wäre auch ich zu großen Hoffnungen berechtigt, wenn ich glücklich genug wäre, eine einzige Sache zu finden, die gewiss und unbezweifelbar wäre.« 28 Und in dem meditativen Prozess, der zu dem cogito, ergo sum führte, glaubte denn auch Descartes, jenen »archimedischen Punkt« gefunden zu haben, auf dem sowohl alles menschliche Denken wie auch alles menschliche Handeln ebenso sicher wie gewiss beruhen könnte: es war das menschliche Ich. Descartes hatte begehrt, nicht nur eine intellektuelle, sondern vor allem auch eine existentielle Sicherheit zu finden; 29 und mithilfe der Methode, die ihn hingeführt hatte zu der Selbstgewissheit seines Moi, sollte ja gleichfalls jene philosophie pratique zu entfalten sein, mithilfe derer sich der Mensch aufschwingen könnte zum Herren und Eigentümer der Natur. 30 Während aber Descartes so das menschliche Ich identifizierte als den »archimedischen Punkt«, von dem aus die Welt durch den Menschen begriffen und auch beherrscht werden könnte, hielt er sich doch davor zurück, nun auch vollends den Sinn alles Wirklichen überhaupt gleichzusetzen mit der Selbstgewissheit des menschlichen Ichs. Eine solche Identität wurde dann erst von einem aufklärerischen philosophe wie Rousseau postuliert: »Was ist so lächerlich daran, sich vorzustellen, dass alles für mich allein gemacht ist, wenn ich der einzige bin, der es versteht, alles auf sich selbst zu beziehen? Es ist also wahr, dass der Mensch der König der Erde ist, die er bewohnt.« 31

René Descartes, Méditations (I), in: Œuvres Philosophiques, Bd. II (1638–1642), Paris: Garnier, 1967, S. 414. 29 Vgl. Discours de la Méthode, S. 27–30. 30 Vgl. ebd. S. 60–65, sowie die entsprechenden Kommentare von Etienne Gilson, ebd. S. 443–446. 31 Jean Jacques Rousseau, Emile, S. 336. Die Formel vom Menschen als dem »roi de la terre« findet sich auch bei Buffon, in: La Nature, S. 33. 28

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(6) Die Entdeckung des Ich wäre der Wendepunkt bei dem Prozess einer »Machtverschiebung« im Verhältnis von Mensch und Natur. Der Mensch wüsste jetzt, worauf er seine Herrschaft über die Natur begründen könnte: auf die assiette ferme seines sich selbst gewissen Ich. Und in der Selbstreflexion seines Ichs würde er auch der Koordinaten ansichtig, durch die er seinen »Ort« in der Welt und das »räumliche« Verhältnis der Natur zu ihm selber bestimmen könnte. So würde er annehmen, dass sein Ich in sich selber ruhe wie ein Kreis, der alle Dinge der Natur nicht nur umfassen und umgreifen, sondern solchermaßen auch erst »wirklich« machen würde. 32 Und er würde sein Verhältnis zur Natur bestimmen als ein Verhältnis zwischen Urbild und Abbild, Wirklichkeit und Nachahmung, Umgreifendes und Umschlossenes, Herrschendes und Beherrschtes. Er würde jetzt bei dem Versuch, sich der Natur zu bemächtigen, davon ausgehen, dass alle wirklichkeitsstiftende Macht allein ihm angehöre, seinem in sich zentrierten Ich, dass die Natur aber machtlos, oder wie Fichte es formuliert, der »Diener« des menschlichen Ich sei: »Welches soll nun diesem meinem Wunsche zufolge der eigentliche Sitz und Mittelpunkt jener eigentümlichen Kraft des Ich sein? Sonach mein Denken und Wollen. Ich will nach einem frei entworfenen Zweckbegriffe mit Freiheit wollen, und dieser Wille, als schlechthin letzter, durch keinen möglichen höheren bestimmter, Grund soll zunächst meinen Körper und vermittelst desselben, die mich umgebende Welt bewegen und bilden. Aus diesem Willen soll meine Handlung erfolgen, und ohne ihn soll überhaupt durch mich keine Handlung erfolgen, indem es gar keine mögliche andere Kraft meiner Handlungen geben soll, als meinen Willen. Erst jetzt soll meine durch den Willen bestimmte, und in seiner Botmäßigkeit stehende Kraft in die Natur eingreifen. Ich will der Herr der Natur sein, und sie soll mein Diener sein; ich will einen meiner Kraft gemäßen Einfluss auf sie haben, sie aber soll keinen haben auf mich.« 33

Im kosmologischen und religiösen Denken wurde der Kreis ja immer wieder als Symbol für die Darstellung der Realität Gottes ausgewählt: er ist die vollkommenste aller geometrischen Figuren und insofern ein Sinnbild für die Unendlichkeit als er keinen »Anfang« und kein »Ende« hat. (vgl. den Eintrag »Cercle« in: J. Chevalier, A. Gheerbrant, Hrsg., Dictionnaire des symboles, Paris 1969, S. 158–161). In der Ich-Spekulation moderner Denker wie in der von Rousseau, Novalis oder Nietzsche wird diese Kreis-Symbolik bevorzugt aufgegriffen, aber auch wesentlich umgedeutet: jetzt dient der Kreis als Symbol für die gottgleiche Vollkommenheit und Allmacht des menschlichen Ichs. Vgl. Georges Poulet: Les metamorphoses du cercle, Paris: Plon, 1961. 33 Fichte, Die Bestimmung des Menschen, S. 28. 32

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(7) Nach der vorausgegangenen Phase wäre eine grundsätzliche »Machtverschiebung« im Verhältnis von Mensch und Natur vollzogen. Solange es noch ungewiss war, welchen »Ort« der Mensch in seinem Verhältnis zur Natur einnehmen könne, konnte dieser noch vorgestellt werden als ein »Diener« der Natur. Jetzt, da das Ich des Menschen entdeckt ist als der archimedische Punkt, von dem aus die Welt der Natur zu begreifen und zu beherrschen sei, wird die »Dienerschaft« des Menschen der Natur gegenüber aufgekündigt. Jetzt soll der Mensch nicht mehr »Diener«, sondern »Herr« der Natur sein und die Natur soll nun ihrerseits der »Diener« des Menschen sein. Jedoch werden durch diese Metaphern »Diener« und »Herr« nur sehr undeutlich jene »Machtverhältnisse« erhellt, wie sie sich ergeben würden aus der soeben skizzierten Machtverschiebung in der Beziehung von Mensch und Natur. Denn am Ende dieser Machtverschiebung würde ja einer völlig entmachteten Natur ein allmächtiger Mensch gegenüberstehen, der sein Verhältnis zur Natur wie auch seine eigene Existenz nur mehr begreifen und darstellen würde in der Kategorie der Macht. Einerseits würde nämlich dieser Mensch die Allmacht seines Ich in einer grenzenlosen Freiheit zu einer durch nichts gehemmten Selbstbestimmung erkennen. Denn die Selbstgewissheit des Ich gegenüber allen Dingen der Welt würde erst dann voll gesichert sein, wenn sein Status in der Realität allein durch es selbst und durch nichts »außerhalb« seiner selbst bestimmt werden würde. Und so würde neben einer Entmachtung der Natur durch den Menschen eben solch eine Selbstbehauptung des Menschen als »unbeschränkbare Macht« einhergehen müssen, wie sie Schelling in seiner Schrift Neue Deduktion des Naturrechts (1795) beschreibt: »Bist du ein Wesen an sich, so kann keine entgegenstrebende Macht deinen Zustand verändern, keine deine Freiheit beschränken. Strebe daher, um ein Wesen an sich zu werden, absolut-frei zu seyn, strebe, jede heteronomische Macht deiner Autonomie zu unterwerfen, strebe, durch Freiheit deine Freiheit zur absoluten, unbeschränkbaren Macht zu erweitern.« 34

Andererseits würde diese Selbstbehauptung des Menschen als eines »Wesen(s) an sich« doch wieder eingeschränkt werden durch den »Widerstand«, den der Mensch in der Welt bei dem Versuch erfahren könnte, sich selbst zu verwirklichen als eine »unbeschränkbare

Friedrich Wilhelm Schelling, Neue Deduktion des Naturrechts (§ 4), in: ders.: Schriften von 1794–1798, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1967, S. 128.

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Macht«. Aber insofern dieser »Widerstand« hervorgerufen würde durch die Expansion menschlicher Macht, würde sich selbst in ihm eben diese Macht des Menschen manifestieren. »Soll mein Streben schlechterdings durch kein fremdes Gesetz bestimmbar seyn, so muß umgekehrt alles, was meinem Streben entgegengesetzt ist, durch mein Streben schlechthin bestimmt werden. Indem ich mich als freies Wesen ankündige, kündige ich mich an als ein Wesen, das alles Widerstrebende bestimmt, selbst aber durch nichts bestimmbar ist.« 35

Die unbeschränkbare Macht des Menschen So hat denn Schelling sehr deutlich erklärt, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Natur unter der Voraussetzung einer Selbstgewissheit des menschlichen Ich strukturiert sein würde. Zum einen würde dieses Verhältnis im Wesentlichen bestimmt werden von einer erheblichen Differenz zwischen dem Realitätsstatus des Menschen einerseits und dem der Natur andererseits. Während nämlich der Mensch ein »Wesen an sich« und als solches eine »unbeschränkbare Macht« darstellen würde, würde die Natur nichts anderes als jenes »Widerstrebende« sein, dessen der Mensch in der Ausübung seiner Macht gewahr werden würde. So würde der Mensch einem ens realissimum gleichen, die Natur hingegen wäre eine bloße Erscheinung im Aktualisierungsprozess der Wirklichkeit »Mensch«. Diese Differenz an »Realität« zwischen Mensch und Natur würde wiederum herrühren von der Einschränkung ihres Verhältnisses auf das Medium der Macht. Denn eine Selbstbehauptung des Menschen als eines »Wesen(s) an sich« aktualisierte sich notwendigerweise in einer Expansion menschlicher Macht. Im Prozess seiner Selbstbestimmung würde ja der Mensch dann erst »frei«, wie Schelling erläutert, wenn er durch nichts anderes bestimmt werden würde außer sich selbst. Folglich dürfte neben der »unbeschränkbaren Macht« des Menschen keine andere Macht mehr auftreten – es sei denn jene »entgegenstrebende Macht«, die der Mensch als »Widerstand« bei der Ausübung seiner Macht erfährt. Diese »entgegenstrebende Macht« würde aber die Macht des Menschen nur scheinbar beschränken. Denn ihr Auftreten würde ja allein abhängen von dem Machtwillen des Menschen: ein »Widerstand« wird noch immer von der Macht erzeugt, gegen die 35

Neue Deduktion des Naturrechts (§ 6), S. 128.

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sich der Widerstand richtet. Und ebenso wird auch das Ausmaß und die Intensität dieses Widerstandes von dem Ausmaß und der Intensität der ihn verursachenden Macht bestimmt. Gegenüber einer dermaßen »entwirklichten« Natur, die noch als bloßer »Widerstand« seinem Machtwillen gehorchte, könnte sich dann auch endlich der Mensch als jenen »Herrn der Natur« begreifen, der die Welt ganz unumschränkt beherrscht, da sie keiner anderen denn allein seiner Macht entsprungen wäre: »Ich herrsche über die Welt der Objekte; auch in ihr offenbart sich keine andre, als meine Causalität. Ich kündige mich an als Herrn der Natur, und fordere, dass sie durch das Gesetz meines Willens schlechthin bestimmt sey. Meine Freiheit weist jedes Objekt in die Schranken der Erscheinung zurück, und schreibt ihm eben damit Gesetze vor, über die es nicht treten darf. Nur dem unveränderlichen Selbst kömmt Autonomie zu, alles, was nicht dieses Selbst ist – alles was Objekt werden kann – ist heteronomisch, ist Erscheinung für mich. Die ganze Welt ist mein moralisches Eigentum.« 36

Mit dieser Entmachtung der Natur zu einer Erscheinung des menschlichen Machtwillens wäre der Zweck einer Machtverschiebung im Verhältnis von Mensch und Natur erfüllt. Die Notwendigkeit solch einer Machtverschiebung würde sich ja, wie oben erklärt, aus dem Vorhaben der Menschen ergeben, die Natur in eine »neue« und von ihnen gänzlich beherrschte Natur zu verwandeln. Eine derartige Verwandlung der Natur könnte der Mensch jedoch nicht vornehmen, bevor er nicht die Natur völlig entmachtet und dafür alle wirklichkeitsstiftende Macht in sich selbst zusammengezogen hätte. Nachdem soeben dargestellt wurde, wie der Prozess dieser Machtverschiebung im Einzelnen ablaufen würde, müsste jetzt dessen Ergebnis wieder rückbezogen werden auf den umfassenderen Prozess einer Verwandlung der Natur durch den Menschen. Unter der Voraussetzung einer Kontraktion wirklichkeitsstiftender Macht im Menschen würde eine Verwandlung der Natur durch den Menschen darzustellen sein als eine Funktion im Prozess menschlicher Selbstbestimmung. Denn unter dieser Voraussetzung würde die Natur in der Realität keinen ihr eigenen Status mehr besitzen, sondern eine reine Manifestation des menschlichen Machtwillens sein. Ihre »Verwandlung« würde manifest werden in jener Phase des »Widerstands«, die der Mensch im Prozess seiner Selbstbestimmung, d. h.

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Neue Deduktion des Naturrechts (§ 7).

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in der Expansion seiner Macht notwendig durchläuft: die »neue Natur« wäre jene »Welt der Objekte«, in welcher der Mensch nichts anderes denn seine eigene »Causalität« erfährt. Und so wäre in dem »unverrückbaren« Verhältnis zwischen der Wirklichkeit »Mensch« und deren Erscheinung »Natur« gewiss jenes Ziel einer Herrschaft des Menschen über die Natur erreicht, wie es Fichte beschreibt: »Die Natur muss allmählich in die Lage eintreten, dass sich auf ihren gleichmäßigen Schritt sicher rechnen und zählen lasse, und dass ihre Kraft unverrückt ein bestimmtes Verhältnis mit der Macht halte, die bestimmt ist, sie zu beherrschen, – mit der menschlichen.« 37

In dem vorausgegangenen Kapitel zur Debatte über die Würde und das Elend des Menschen habe ich ausgeführt, wie das Vorhaben des modernen Menschen, die Natur unter seine Herrschaft zu zwingen, sich logisch aus der theomorphen Selbsteinschätzung des modernen Menschen ergab. In diesem Kapitel nun habe ich, gestützt auf Darlegungen verschiedener Repräsentanten des modernen Denkens, darzustellen versucht, wie die Durchführung dieses Vorhabens zu denken wäre. Dabei musste allerdings der Konjunktiv als Aussageform gewählt werden, denn diese Herrschaft des Menschen über die Natur, wie sie von Bacon und Descartes, von Buffon, Fichte und Schelling theoretisch vorgezeichnet wurde, ist noch immer nicht, selbst im 5. Jahrhundert, seitdem der moderne Mensch sie mit all seinen Kräften zu erstreben begann, verwirklicht. Die Entwicklung der »modernen« Zivilisation ist bis jetzt zweifellos sehr weit hinter dem Prozess jenes spekulativen Denkens zurückgeblieben, von dem sie erfolgreich eingeleitet und angetrieben, bei dem sie aber auch bis zu ihrem Endstadium hin vorweggedacht worden war.

Zwei Arten einer Geschichte der Moderne So bieten sich gewissermaßen zwei Arten einer »Geschichte der Moderne« an. Die erste Art – Geschichte I – ist diejenige »Geschichte der Moderne«, wie sie von den Denkern der Moderne konzipiert wurde. Ihren Anfang sollte sie in einem Bruch mit aller antiquitas und in einer Neubegründung der Wissenschaften nehmen; ihr Ende, d. h. der Endzweck der in ihrem Anfang angelegten zivilisatorischen Ent37

Fichte, Die Bestimmung des Menschen, S. 104.

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wicklung sollte erreicht sein in einer unumschränkten Herrschaft des Menschen über die Natur, in einem regnum hominis. Die zweite Art – Geschichte II – ist diejenige Geschichte der Moderne, wie sie sich wirklich ereignet hat. Sie entsprang zwar jenem Anfang, der ihr in Geschichte I gesetzt worden war: denn wir leben ja in jenem »Zeitalter der Moderne«, das vor fünfhundert Jahren in der ausdrücklichen Loslösung Europas von dem Vorbild der »Alten« begann. Aber in ihrem weiteren Verlauf hat die Geschichte II bis heute nur wenige der ihr in Geschichte I vorgezeichneten Phasen durchlaufen. Durch die Entwicklung der Naturwissenschaften und vor allem durch die Anwendung der aus diesen hergeleiteten Technologien hat der moderne Mensch zwar eine partielle Herrschaft über die Natur erlangt. Aber er hat dabei auch die Welt der Natur verwüstet und in Teilen zerstört, und das »Reich«, das er errichten wollte in dieser Welt, ist ferner denn je. Vorerst hat er die Welt der Natur nicht »neu«, sondern für sich selber nur unbewohnbarer gemacht. Geschichte II und Geschichte I sind daher nur zu einem geringen Teil miteinander identisch. Der größere Teil von dem, was einmal gedanklich als Geschichte der Moderne konzipiert worden war, hat sich in der wirklichen Geschichte der Moderne nicht ereignet. Stattdessen haben sich Entwicklungen vollzogen, die gegenläufig zu den ursprünglich vorgesehenen Fortschritten in einer Zivilisation der Moderne sind. Angesichts dieser Situation sind folgende Folgerungen zu ziehen: (1) Auch nach fünfhundert Jahren »Moderne« sind deren wesentlichste Ereignisse – eine Apotheose des menschlichen Ich und eine Verwandlung der Natur in eine reine Erscheinung einer allein noch vorhandenen Wirklichkeit »Mensch« – noch immer nicht eingetreten. Die Moderne ist noch wie zu ihrem Anfang vornehmlich eine Möglichkeit, der die Wirklichkeit der modernen Zivilisation, wie wir sie kennen, nur sehr beschränkt entspricht. (2) Die Wirklichkeit der modernen Zivilisation ist jedoch gekennzeichnet von einer allumfassenden Konkurrenz zwischen Mensch und Natur. Zwar war in der Geschichte I durchaus diese Phase vorgesehen – aber sie sollte zweifelsohne keine fünfhundert Jahre lang dauern und ganz gewiss zu etwas anderem führen als bloß zu einer Verwüstung, und partiellen Zerstörung der Natur. 38

38

Vgl. hierzu: Tilo Schabert, »A Wisdom to be rediscovered: The relation of the parts

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Kapitel 7 Die Krise der Moderne I

Die Mitte verlassen heißt, die Menschlichkeit zu verlassen. Blaise Pascal, Pensées

Zur Phänomenologie des modernen Bewusstseins In der Debatte über die Moderne werden nicht nur Eindrücke eines Unbehagens an der modernen Kultur artikuliert 1, sondern grundsätzliche Zweifel gegenüber den zivilisatorischen Prinzipien erhoben, auf denen die Welt der Moderne beruht. 2 Daher schien es hier folgerichtig, bei einer Untersuchung zu der Moderne zuerst jene Bewusstseinsprozesse nachzuvollziehen, in denen einerseits sowohl Genesis wie auch Endzweck einer »modernen« Zivilisation theoretisch manifest und andererseits jene Vorstellungsweisen und Verhaltensmuster

to the whole«, in: Die Menschen im Krieg, im Frieden mit der Natur – Humans at War, at Peace with Nature, S. 9–13. 1 Für diese noch zurückhaltende Kritik, bei der zwar negative Erscheinungen der Moderne präzise registriert, die zivilisatorischen Prinzipien der Moderne selber aber noch nicht angefochten werden, ist repräsentativ: Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Sigmund Freud, Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a. M.: Fischer, 1974, z. B. S. 218 f., 222. 2 Vgl. Harry Bravermann, Labor and Monopoly Capital: the degradation of work in the twentieth Century, New York: Monthly Review Press, 1975; Peter L. Berger u. a., Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt a. M.: Campus, 1975; William Leiss, The Domination of Nature, New York: George Braziller, 1972; Robert James Forbes, The Conquest of Nature: Technology and its Conséquences, New York: Praeger Publishers, 1968; Anton Böhm, Leben im Zwiespalt. Der moderne Mensch zwischen Angst und Hybris, Freiburg i. Br. – München: Herder, 1974; Theodore Roszak, Where the Wasteland Ends. Politics and transcendence in post-industrial society, Garden City (N.Y.): Doubleday & Company, 1972, Philipp Pattberg, »Conquest, Domination, and Control: Europe’s Mastery of Nature in Historic Perspective«, in: Journal of Political Ecology, Vol. 14, 2007, S. 1–9, online: http://jpe.library.arizona.edu/volume_14/ pattberg.pdf (aufgerufen am 20. Jan. 2018).

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begründet wurden, durch die der alltägliche Denk- und Handlungshorizont »moderner« Menschen abgesteckt ist. Auf diese Weise konnte die Auseinandersetzung mit der Moderne begründet werden in einer Phänomenologie des modernen Bewusstseins. Deren wichtigstes Ergebnis ist dies: Die Geschichte der Moderne ist ein in sich gegenläufiger Prozess. Sie ist die Geschichte der zunehmenden Intensität einer zivilisatorischen Krise. Oder umgekehrt: durch eine Kontinuität jener Krise, als welche sich Modernität prinzipiell manifestiert, ist eine Kontinuität der Moderne gegeben. Jeder Fortschritt in der Entwicklung der Moderne zögert deren Vollendung hinaus, da er nur noch mehr jene Krise intensiviert, als welche sich Modernität grundsätzlich manifestiert. Darin ist nicht zuletzt ein Grund für die allgemein diskutierte »Krise« in der politischen Legitimität »moderner« Gesellschaften zu erkennen. 3 Während der letzten vierhundert Jahre wurde Politik in dem Bereich westlichmoderner Gesellschaften in geschichtlicher Hinsicht unter der Voraussetzung eines endlosen Fortschritts legitimiert. Diese ideologische Unterlegung hat sich als trügerisch erwiesen. Eine »Krise« in der politischen Legitimation moderner Gesellschaften dürfte daher insofern vorliegen, als einerseits von der neueren geschichtlichen Erfahrung dieser Gesellschaften eben jene geschichtsspekulativen und zivilisationstheoretischen Vorstellungen diskreditiert worden sind, auf die sich andererseits politisches Handeln in diesen Gesellschaften noch immer, gewissermaßen des bloßen Überlebens wegen, bezieht. Deshalb sei das gegenwärtige Zeitalter, so urteilte Nicola Chiaromonte, ein »Zeitalter falschen Glaubens«, ein »Zeitalter zweckvoller Lügen« zu nennen. 4

Vgl. z. B. Nicola Chiaromonte, Das Paradox der Geschichte; Ulrich Matz, Politik und Gewalt. Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaates und der Revolution, Freiburg/München: Alber, 1975; Ernest Gellner, Contemporary Thought and Politics, London: Routledge and Kegan Paul, 1974; Martin Pawley, The Private Future. Causes and Consequences of Community Collapse in the West, New York: Random House, 1974; Wilhelm Hennis, »Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft«, in: Merkur, Heft 1, 30. Jg., Jan. 1976, S. 17–36. 4 Nicola Chiaromonte, Das Paradox der Geschichte, S. 160 f. 3

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Zur Phänomenologie der modernen Lebenswelt Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, soll sogleich hinzugefügt werden, dass es sich hier allein darum handelt, die prinzipielle Entsprechung von »Krise« und »Modernität« auch in ihrer historischen Dimension zu erfassen, in die sie sich infolge einer zunehmenden Intensität der krisenhaften Erscheinungen erstreckt. Durch die Wendung »zunehmende Intensität der krisenhaften Erscheinungen« soll demnach keinesfalls die Vorstellung von einer einheitlichen Entwicklung hervorgerufen werden, so als ob sukzessive Kleinkrisen sich nach und nach gewissermaßen zu einer Globalkrise addierten. Denn die Geschichte der zivilisatorischen Entwicklung, aus der die moderne Lebenswelt hervorgegangen ist, muss aus zwei Gründen von den einzelnen Bereichen dieser Lebenswelt her erfasst werden. (1) Zum einen haben sich »moderne« Vorstellungen und Verfahrensweisen beispielsweise im Bereich der europäischen Architektur viel später als im Bereich der europäischen Literatur und im religiösen Bereich wiederum viel früher als im wirtschaftlichen Bereich durchgesetzt. (2) Zum anderen hat sich eine Modernität mentaler Einstellungen in all diesen verschiedenen Bereichen aufgrund der jeweils vorgegebenen Sache mit sehr unterschiedlicher Intensität ausgewirkt. Während zum Beispiel »alte« Gebäude einfach niedergerissen und durch »moderne« ersetzt werden konnten, mussten alle Versuche, eine regellose, imaginativ-formlose Sprache zu schaffen, letztlich an den Strukturen scheitern, die den Möglichkeiten menschlichen Sprechens prinzipiell vorgegeben sind. Aus diesen beiden Gründen wird die Entsprechung zwischen »Krise« und »Modernität« in ihrer historischen Dimension nicht auf eine adäquate Weise erfasst, wenn man als Untersuchungsfeld eine globale »Geschichte der Moderne« wählen würde. Es würde dann nämlich nicht zu vermeiden sein, die Entstehung der modernen Lebenswelt als einen gleichmäßigen Prozess darzustellen, währenddessen doch der Einfluss und die Wirksamkeit »moderner« Vorstellungen in den einzelnen Bereichen dieser Lebenswelt auf sehr unterschiedliche und zu verschiedenen Zeiten einsetzende Entwicklungen zurückzuführen sind. Umgekehrt wird man der Verschiedenartigkeit dieser Entwicklungen gerecht, wenn man das Untersuchungsfeld ihnen entsprechend differenziert und anstelle einer »Geschichte der Moderne« sich mit einzelnen Entwicklungsgeschich163 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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ten wie der Geschichte der »modernen« Architektur, der Geschichte »moderner« Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse oder der Geschichte »moderner« Kunstformen beschäftigt. 5 Und erst aufgrund derartiger Einzelstudien ist es dann möglich, all jene krisenhaften Erscheinungen zu identifizieren, die mit der Entstehung der modernen Lebenswelt in deren einzelnen Bereichen aufgetreten und insofern die vorherrschenden Merkmale eben dieser Lebenswelt sind.

Religion und Modernität Diesen Überlegungen folgend ginge es religionssoziologisch zum Beispiel um die Frage, inwieweit die Reformation den Beginn eines spezifisch »modernen« Christentums markiert. 6 Noch sehr nah an dieser hat Michel de Montaigne in seinen Essais die Ansicht vertreten, dass die Neuerungen (nouvelletez) der Reformatoren, insofern durch sie jeder einzelne Mensch zu seinem eigenen Richter in den Dingen des Glaubens eingesetzt werde, zusammenfallen würden mit einer neuen Selbsteinschätzung der Menschen, in der sich nicht christliche Demut, wohl aber der Hochmut offenbare. Und so sei angesichts dieser Kongruenz wohl anzunehmen, dass die reformatorischen nouvelletez gewiss dem Glauben an eine unübertreffliche, gewissermaßen gottgleiche Würde des Menschen, nicht aber dem Glauben an eine göttliche Offenbarung zuträglich seien. 7 Diese Thesen wurden von Montaigne nicht ohne polemische Absicht formuliert, und sie werden daher der reformatorischen Religiosität eines Martin Luthers oder eines Jean Calvin gewiss nicht gerecht. Dennoch tragen sie zu einem Verständnis der Reformation insofern bei, als sie diese von einer religionssoziologischen Perspektive her beleuchten. Denn die Reformation ereignete sich ja zur selben Zeit wie jene gesamteuropäische DeEin Vorbild für derartige Untersuchungen ist: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 6 Zu den heutigen Ausformungen eines sehr modernen Christentums siehe: Friedrich Wilhelm Graf, »Der Christengott im Plural. Zum Gestaltwandel des Christentums in der Gegenwart«, in: Tilo Schabert, Matthias Riedl, Hrsg, Gott oder Götter? – God or Gods?, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2009, S. 33–49. 7 Montaigne, Essais (Apologie de Raimond Sebond), Buch 2, Kap. 12, in: ders.: Œuvres Complètes, Paris: Gallimard, 1962, S. 416 f., 426. – Vgl. auch Jean Calvin, Institution de la religion chrestienne, Hrsg. Jean-Daniel Benoît, Bd. 1, Paris: J. Vrin, 1957, S. 96–100. 5

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batte über die Würde und das Elend des Menschen, in der eine grundsätzliche Veränderung im Selbstverständnis der zeitgenössischen Menschen reflektiert und in jener neuen, »modernen« Anthropologie artikuliert wurde, welche die Selbstvergötterung des Menschen zum Prinzip einer wahrhaft menschlichen Existenz erhob. Die reformatorische Lehre, dass der einzelne Mensch in den Dingen des Glaubens nicht eines priesterlichen Mittlers bedürfe, sondern für sich allein in eigener Verantwortung stehe, konnte daher von vornherein nicht nur im Sinne des reformatorischen Glaubens, sondern auch im Sinne der neuen Anthropologie verstanden beziehungsweise »missverstanden« werden. Im Fall des Missverständnisses – den Montaigne mit seinen Thesen offensichtlich annimmt – würde sich dann die positive Rezeption reformatorischer nouvelletez weitgehend aus der neuen Selbsteinschätzung der Menschen erklären. Weil sie sowieso schon von sich selbst überaus eingenommen waren, so könnte man Montaigne folgend pointiert formulieren, waren viele Zeitgenossen nur allzu gerne bereit, sich eben jenen reformatorischen Lehren zuzuwenden, durch die sie sich in ihrer neuen Selbsteinschätzung bestätigt fühlen. Die Modernität ihres Selbstverständnisses wurde durch die Neuerungen der Reformatoren unterstützt. Natürlich kann hier nicht darüber geurteilt werden, inwieweit eine solche Deutung der Reformation, wie sie die Thesen Montaignes implizit enthalten, auch wirklich zutreffend ist. Aber das wäre auch nicht die primär zu entscheidende Frage. Vielmehr müsste zuerst danach gefragt werden, ob überhaupt jene Voraussetzung gegeben ist, auf die sich Montaignes Thesen beziehen: nämlich ein rezeptionsgeschichtlicher und religionssoziologischer Zusammenhang zwischen den Lehren der Reformation und dem modernen Selbstverständnis der zeitgenössischen Menschen. 8 Aus der Sicht Montaignes war in der Beziehung zwischen Moderne und Reformation die erstere das bestimmende Element; durch eine bei vielen Zeitgenossen schon vorhandene Modernität mentaler Einstellungen wurde nach seiner Auffassung von vornherein eine positive Rezeption reformatorischer Lehren bedingt. Man kann diese Derartige Forschungen könnten sich stützen auf die Studien von: Jack H. Hexter, The Vision of Politics on the Eve of the Reformation: More, Machiavelli, and Seyssel, New York: Basic Books, 1973; Christopher Hill, Change and Continuity in Seventeenth Century England, London: Weidenfeld and Nicolson, 1974; Steven E. Ozment, The Reformation in the Cities. The Appeal of Protestantism to Sixteenth Century Germany and Switzerland, New Haven: Yale University Press, 1975.

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Beziehung indes auch unter genau umgekehrten Vorzeichen interpretieren. Eine solche Interpretation wurde bekanntlich von Max Weber vorgeschlagen und anhand umfassender religionssoziologischer Untersuchungen auch ausführlich entwickelt. 9 Nach der Auffassung Max Webers war es die Reformation, welche die Evolution der Moderne beschleunigt, wenn nicht sogar überhaupt herbeigeführt hat. Denn durch die Reformation, so argumentiert er, sei die »Welt«, d. h. der Kosmos, nach einem langen »religionsgeschichtlichen Prozess« endgültig »entzaubert« und dem Menschen seien »alle magischen Mittel der Heilssuche« entrissen worden. Und so seien durch die Reformation eben jene Voraussetzungen geschaffen worden, aufgrund welcher diese Welt der Moderne entstand, in der die Menschen ihr »Heil« allein noch mit dem materiellen Gewinn verknüpften, den sie bei der Ausbeutung einer verstummten, aber von ihnen beherrschten Natur erzielten. 10

Modernität im Bereich der Ökonomie Eine Studie, welche die Entwicklungsgeschichte einer »modernen« Ökonomie im allgemeinen Kontext der sich herausbildenden Moderne untersuchen würde, würde zweifellos bei der merkantilistischen Wirtschaftspolitik ansetzen, wie sie von den europäischen Nationalstaaten im 17. und 18. Jahrhundert praktiziert wurde. 11 Denn bei die9 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 41947. 10 Ebd. S. 94 f., 114, 564, 570 sowie: Max Weber, »Religiöse Heilsmethodik«, in: ders., Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung, Hrsg. Johannes Winckelmann, Bd. I, Hamburg: Siebenstern, 1973, S. 340. – Vgl. auch die parallele Argumentation von Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München: Oldenbourg, 1911, Repr. Aalen: Zeller, 1963, S. 18 f., 21, 66 f. 11 Vgl. Eli F. Heckscher, Der Merkantilismus, 2 Bde., Jena: Fischer, 1932; Charles Woolsey Cole, Colbert and a Century of French Mercantilism, 2 Bde., New York: Columbia University Press, 1939; Barry E. Supple, Commercial Crisis and Change in England 1600–1642, A study in the instability of a mercantile economy, Cambridge: Cambridge University Press, 1959; Edwin E. Rich,« Expansion as a Concern of all Europe«, in: The New Cambridge Modern History, Bd. I: The Renaissance, Hrsg. George Richard Potter, Cambridge: Cambridge University Press, 1957, S. 445–469; Charles Henry Wilson, »Trade, Society and the State«, in: The Cambridge Economic History of Europe, Bd. IV: The Economy of Expanding Europe in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Hrsg. Edwin E. Rich, Charles Henry Wilson, Cambridge: Cambridge University Press, 1967, S. 487–575. – Zum Zusammenhang von Merkan-

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ser Wirtschaftspolitik wurden die Grundzüge moderner Denk- und Verhaltensweisen geradezu exemplarisch, gewissermaßen noch ganz unschuldig vorgeführt. Im ökonomischen Bereich hat die Moderne, so könnte man sagen, mit dem Merkantilismus begonnen. Nach der merkantilistischen Wirtschaftstheorie, wie sie Antonio Serra 12 und Thomas Mun 13 im frühen 17. Jahrhundert ausgearbeitet hatten, sollte die Wirtschaftspolitik einer Nation ganz auf ein Ziel ausgerichtet sein: auf eine Vergrößerung des Reichtums dieser Nation. 14 Dabei wurde das Ausmaß eines derartigen nationalen Reichtums gleichgesetzt mit der Menge an Geld bzw. an Gold oder anderen Edelmetallen, die sich im Besitz der betreffenden Nation, sozusagen in der nationalen Schatzkammer, befand. Aus dieser Definition des nationalen Reichtums ergab sich dann folgerichtig die zentrale These der merkantilistischen Wirtschaftstheorie. Wie der Kaufmann in seinen privatwirtschaftlichen Beziehungen dadurch einen Gewinn erziele, dass er an andere mehr verkaufe, als er für sich selber kaufe, so müsste auch eine Nation ihren Reichtum dadurch vermehren können, dass sie im Handel mit anderen Nationen möglichst wenig von ihrem Geld für Importe ausgebe, aber umso mehr an Geld durch Exporte einnehme. 15 Aufgrund dieser Zielbestimmungen konnte aber eine merkantilistische Wirtschaftspolitik nur in der umfassenderen Form einer nationalstaatlichen Politik erfolgreich sein, bei der nach innen die wirttilismus und nationalstaatlicher Politik vgl. auch besonders: Max Weber, Staatssoziologie. Soziologie der rationalen Staatsanstalt und der modernen politischen Parteien und Parlamente, Hrsg. Johannes Winckelmann, Berlin: Duncker & Humblot, 21966, S. 24–26. 12 Vgl. zu Antonio Serra sein 1613 erschienenes Werk Breve Trattato delle Cause che possono fa abandonare li Regni d’Oro e d’Argento dove non sono Miniere, online: http://www.hetwebsite.net/het/texts/serra/serracont.htm (aufgerufen am 18. Jan. 2018). Eine neue englische Übersetzung wurde herausgegeben von Sophus A. Reinert: A Short Treatise on the Wealth and Poverty of Nations, London: Anthem Press, 2011. 13 Das wichtigste Werk von Thomas Mun ist: England’s Treasure by Foreign Trade, erschienen 1664, online: http://la.utexas.edu/users/hcleaver/368/368MunTreasure table.pdf (aufgerufen am 18. Jan. 2018). 14 Eine umfassende Kritik und theoretische Widerlegung des Merkantilismus wurde bekanntlich erst im 18. Jahrhundert von Adam Smith geleistet. 15 Vgl. Thomas Mun, England’s Treasure by Foreign Trade, zitiert von Charles Henry Wilson: »Trade, Society …«, S. 503: »The ordinary means to increase our wealth and treasure is by Forraign Trade, wherein we must ever observe this rule, to sell more to strangers yearly than wee consume of theirs in value.«

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schaftlichen Voraussetzungen für einen gewinnbringenden Außenhandel geschaffen und nach außen die notwendigen Hürden für die unerwünschte Einfuhr fremder Waren errichtet wurden. Im merkantilistischen Wirtschaftssystem fiel daher der nationalen Regierung die zentrale Rolle zu. Denn zum einen konnte allein diese die notwendigen protektionistischen Gesetze erlassen, durch die ein Verkauf ausländischer Waren im eigenen Land verwehrt und so ein Abfluss des in der nationalen Schatzkammer befindlichen Geldes verhindert wurde. Zum anderen oblag es ebenfalls der Regierung, all jene Maßnahmen zu treffen, durch welche einerseits die wirtschaftliche Autarkie des Landes gewährleistet und andererseits die Ausfuhr im eigenen Lande hergestellter Waren, also der nationale Erwerb von noch mehr Geld, gefördert und gesichert wurde. Im merkantilistischen Wirtschaftssystem war folglich der Staat nicht nur der machtpolitische Garant für die wirtschaftliche Autarkie der Nation, sondern zugleich auch deren wichtigster ökonomischer Agent. Von ihm ging die Initiative zur Errichtung von neuen Manufakturen in solchen Wirtschaftszweigen aus, in denen man noch abhängig von ausländischen Lieferungen war. 16 Von ihm wurde der Aufbau einer nationalen Handelsflotte betrieben, so dass am Transport der von auswärts eingeführten oder ins Ausland verkauften Waren wiederum allein die eigene Nation verdiente. 17 Von ihm, dem merkantilistischen Staat, wurde eine Zunahme der Bevölkerung oder der Erwerb rohstoffreicher Gebiete (Kolonien) angestrebt, damit durch derartige Vergrößerungen seiner natürlichen Ressourcen eben jenes gesamtwirtschaftliche Potential erhöht werde, das er dazu einsetzen konnte, den Reichtum der Nation zu mehren. Das merkantilistische Wirtschaftssystem konnte also nicht ausgebaut werden ohne einen machtvollen und geschlossenen Nationalstaat, oder umgekehrt: die äußere wie innere Macht des Nationalstaates wurde durch den Ausbau des merkantilistischen Wirtschaftssystems beträchtlich verstärkt. Aus dieser Korrelation von Nationalstaat und merkantilistischem Wirtschaftssystem erklärt sich wohl auch der große Anklang, den die merkantilistischen Theorien in den

So sorgte Colbert beispielsweise dafür, dass Frankreich eine Seidenindustrie erhielt, damit es nicht mehr Seide aus Italien einzuführen hatte. 17 Und zusätzlich konnten noch solche Gesetze erlassen werden wie die berühmten englischen Navigationsakte von 1651, durch welche der Warenverkehr von und nach England fast ausschließlich für die englische Schifffahrt reserviert wurde. 16

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Staaten Europas im 17. Jahrhundert fanden. Denn diese Staaten betrieben ja zu dieser Zeit gerade eine Politik der gegenseitigen Abgrenzung und der nationalen Machtkonzentration. Daher schien es ganz folgerichtig zu sein, dass der einzelne Staat seine allgemeine nationalstaatliche Politik auch im ökonomischen Bereich durch eine merkantilistische Wirtschaftspolitik, in der Art eines »ökonomischen Nationalismus« (Charles Henry Wilson), weiterführte. Welche Konsequenzen mussten sich aber für die Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten ergeben, wenn jeder von ihnen eine Politik des ökonomischen Nationalismus betrieb? Eine Anhäufung von möglichst viel Geld in der Schatzkammer des einen Staates brachte nach dem merkantilistischen Schema notwendigerweise eine Verringerung des nationalen Geldvorrates anderer Staaten 18 mit sich – die ihrerseits wiederum darauf aus waren, ihren nationalen Reichtum nicht nur zu bewahren, sondern ebenfalls soweit wie möglich zu vermehren. Im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen musste der Merkantilismus daher zwangsläufig einen Zustand des allgemeinen Machtkampfes herbeiführen, in dem ein jeder Staat mit jedem anderen Staat darum konkurrierte, der reichste unter allen zu sein. Von den Vertretern der merkantilistischen Wirtschaftstheorie wurde diese Konsequenz einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik offenbar nicht genügend in Betracht gezogen. Denn die ökonomische und zugleich machtpolitische Rivalität, die unter den europäischen Nationalstaaten infolge ihrer merkantilistischen Wirtschaftspolitik entstand, konnte sich, da es für jeden einzelnen Staat nicht zuletzt um seine ökonomische Existenzgrundlage ging, von bloßen protektionistischen Maßnahmen wie der Errichtung von Schutzzöllen über einen verdeckten Handelskrieg bis zu offenen militärischen Auseinandersetzungen steigern. 19 Aufgrund derselben Wirtschaftspolitik, durch die eine einzelne Nation eine Vermehrung ihres nationalen In der merkantilistischen Wirtschaftstheorie figurierten sowohl Geldmenge wie Handelsvolumen als fixe Größen. 19 Daher bediente sich Colbert beispielsweise auch einer durchaus kriegerischen Sprache. Charles Henry Wilson (a. a. O. S. 526) führt so u. a. aus: »World trade was essentially a static affair: the amount of bullion, shipping and trade was fixed. France’s task was to conduct a ›war of money‹ with the rest of Europe. Commerce [Colbert wrote] ›is a perpetual and peaceable war of wit and energy among all nations‹, and by 1670 he could congratulate himself that France had ›conquered‹ in this economic warfare every nation except the Dutch, whose resources in the trades to the Baltic, the Far East, and the Atlantic had kept them going.« 18

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Reichtums erreichte, wurde eben dieser Gewinn auch wieder gefährdet – denn in der einen oder anderen Form hatte er die ökonomische Rivalität zwischen den Staaten und somit die allgemeine Bedrohung aller durch alle verschärft. Abgesehen von der Möglichkeit eines allgemeinen Krieges, in dem sich alle beteiligten Staaten wirtschaftlich erschöpften, konnte sich diese ökonomische Rivalität zwischen den Staaten im Prinzip bis zu dem Punkt fortsetzen, an dem ein einziger Staat den absoluten Reichtum besaß, es diesem also gelungen war, alle übrigen Staaten in eine dementsprechend absolute Armut zu treiben. Aber gerade dann, an ihrer scheinbaren Erfüllung, wäre die merkantilistische Wirtschaftspolitik des betreffenden Staates gescheitert. Sie wäre zwar kurzfristig höchst erfolgreich, langfristig aber nutzlos, ja verfehlt gewesen – denn an wen noch sollte dieser Staat all seine um des bloßen Gelderwerbes hergestellten Waren verkaufen, wenn es in allen anderen Staaten kein Geld mehr gab? 20 Während der Periode, in der von den europäischen Nationalstaaten vorwiegend eine merkantilistische Wirtschaftspolitik betrieben wurde, ist eine derartig extreme Situation – wie sie hier hypothetisch aufgezeigt wurde – freilich nicht eingetreten. Am konsequentesten wurden die Theorien des Merkantilismus sowieso nur von England und Frankreich angewandt, und selbst Colbert, dem entschiedensten Verfechter des Merkantilismus auf dem Kontinent, gelang es nicht, in dem von ihm proklamierten »Krieg um das Geld« ganz Europa für Frankreich, d. h. alles ausländische Geld für die französische Staatskasse zu erobern. Dennoch wäre zu fragen, warum die merkantilistische Wirtschaftstheorie überhaupt ausgearbeitet und praktiziert worden ist, obwohl die ihr entsprechende Wirtschafts- und Machtpolitik zwangsläufig einen latenten Kriegszustand unter den Nationen hervorrief, bei dem alle beteiligten Staaten in der einen oder anderen Weise zu den Verlierern zählen mussten. Entweder erlagen alle gemeinsam einer wirtschaftlichen Erschöpfung (wenn sie ihre merkantilistische Wirtschaftspolitik nicht aus Vorsicht schon etwas früher aufgegeben hatten) oder es errang ein einziger von ihnen den Pyr-

Vgl. Henry Robinson, England’s safety in trades Increase (1641), zit. von Charles Henry Wilson (a. a. O. S. 511): »It is our benefit that monies be plentifull also in countries where we carrie our commodités to sell … lest we fare as Alexander the Great who haveing neare conquered the whole world, wept because there was no more left for him to conquer.«

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rhussieg, das gesamte Geld all der anderen erobert und sich selbst den Verlust seiner Kundschaft eingehandelt zu haben. Auf der einen Seite könnte man natürlich sagen, dass die möglichen Folgen einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik von deren Anhängern zuallererst von einem nationalen Standpunkt aus beurteilt wurden. Wenn die Politik des ökonomischen Nationalismus für irgendjemanden Nachteile erbrachte, so würde es nach der Logik der Merkantilisten ja nicht gerade die eigene Nation sein, die diese Nachteile erlitt. Im Gegenteil: von einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik wurde erwartet, dass sie niemand anderem nütze als allein der eigenen Nation, indem sie diese so reich wie nur möglich im Besitz von Geld und Edelmetallen mache. Auf der anderen Seite aber sollte man sehen, dass diese Logik der Merkantilisten die Logik eines ungehemmten Nationalismus ist. In der Theorie des Merkantilismus drückt sich dieselbe Mentalität wie in der Theorie des Besitzindividualismus aus. Man ist selbstsüchtig und deshalb mit nichts anderem als damit beschäftigt, alles zu begehren, was man noch nicht für sich selbst besitzt. Um den Zweck einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik zu erläutern, wurde ja bevorzugt ein Übertragungsmodell aufgestellt, durch das dargelegt werden sollte, dass doch ein Staat ebenso wie ein privater Kaufmann durch den Verkauf von Waren Geld verdienen und somit immer reicher werden könne. Dabei wurde aber ein wesentlicher Unterschied zwischen den Bedingungen privatwirtschaftlichen Handelns einerseits und staatswirtschaftlichem Handeln andererseits außeracht gelassen. Während die Geschäftsbeziehungen des Kaufmanns mehr oder weniger geregelt werden durch die Gesetze des Staates (selbst im System des wirtschaftlichen laissez faire ist beispielsweise der Mord als Mittel der Bereicherung ausgeschlossen), wird die wirtschaftspolitische und d. h. im merkantilistischen Zeitalter zugleich machtpolitische Handlungsfreiheit des Staates potentiell durch nichts beschränkt. Die Mentalität der Habsucht im privatwirtschaftlichen Bereich kann sich kaum bis zu ihren letzten zerstörerischen, ja selbstzerstörerischen Konsequenzen hin auswirken (es sei denn, es würde jegliche staatliche Autorität zusammenbrechen). Im zwischenstaatlichen Bereich kann sie sich indes umso ungehemmter entfalten, da sie dort bis zu jenen Akten der Zerstörung hin erprobt werden kann, in denen auch noch gerade jene Güter vernichtet werden, auf die sie sich richtet. So drängt sich schließlich die Wahrnehmung auf, dass der Merkantilismus noch andere als allein wirtschaftstheoretische Vorausset171 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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zungen haben musste, damit sich durch ihn auf nationalstaatlicher Ebene eine Mentalität der Habsucht nicht nur vollständig durchsetzen, sondern sogar zur primären Legitimationsquelle staatlicher Handlungen überhaupt werden konnte. Diese Voraussetzungen müssten dann wohl im Umkreis »moderner« Denk-und Handlungseinstellungen aufgesucht werden. Denn die merkantilistische Mentalität entsprach offenbar in wesentlichen Punkten der Mentalität »moderner« Menschen: der Selbstbezogenheit und der Selbstverschlossenheit; dem Begehren, immer mehr haben und immer mehr sein zu wollen. Und dementsprechend wurden – so kann tentativ erklärt werden – die Modernität des Menschen und die Modernität des Staates auf eine ähnliche Weise bestimmt. Während es sich für den modernen Menschen darum handeln sollte, als »autonomes Individuum« eine »absolute Existenz« zu erreichen, sollte es dem modernen Staat darum gehen, als »geschlossener Nationalstaat« einen »absoluten Reichtum« zu erringen. Aus dem umgreifenden Horizont einer modernen Mentalität heraus wurden die Prinzipien einer modernen Anthropologie in die Prinzipien einer modernen Ökonomie übersetzt. Wie es unter den Merkantilisten hieß, sollte der »Staat« eben vor allem ein »Kaufmann« sein.

Modernität in der Literatur Von den verschiedenen Bereichen der modernen Lebenswelt ist der künstlerische und literarische Bereich derjenige, in dem eine Modernität mentaler Einstellungen ihren sichtbarsten Ausdruck gefunden hat. Im Bereich der Künste und der Literatur ist der Mensch weitgehend ein autonomer Schöpfer, der zwar einerseits an das jeweilige Material, seien es Farben oder Töne, sei es die Sprache, gebunden ist, aber andererseits aus diesem Material künstlerische Werke erzeugen kann, deren Entstehung und deren Gestalt allein abhängen von der ihm eigenen Vorstellungskraft. Erfahrungen und Vorstellungen »moderner« Art konnten daher im künstlerischen Bereich viel unmittelbarer und weit konsequenter dargetan werden als in den anderen Lebensbereichen, in denen die Schaffens- und Handlungsfreiheit des Menschen eingeschränkt ist durch die Grundbedingungen der ihm vorgegebenen physischen und sozialen Realität. Aufgrund dieser besonderen Intensität, mit der sich die moderne Mentalität in den Künsten und der Literatur manifestieren konnte, sind die Phänomene 172 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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»Moderne Kunst« und »Moderne Literatur« in zweifacher Hinsicht bedeutsam für ein allgemeines Verständnis der Moderne. Sie zählen nicht nur zu den unzweifelhaftesten, weil konkret wahrnehmbaren Manifestationen der Modernität, sondern stellen auch zugleich das Moderne überhaupt auf eine höchst unverstellte Weise dar. Anhand einiger kurzer Ausführungen zur modernen Literatur soll dies etwas verdeutlicht werden. 21 Man kann wohl davon ausgehen, dass die »Modernität« von Literatur spätestens seit der Romantik ein allgemeines Phänomen innerhalb der europäisch-westlichen Kultur ist. 22 Allerdings kann ein solcher Ansatz nur unter der Einschränkung aufrechterhalten werden, dass es sich nicht darum handeln kann, von der Vorstellung einer literaturgeschichtlichen Epochenwende auszugehen, in der die Literatur in Europa insgesamt sozusagen zu einer »modernen« geworden sei. Die Entstehung einer modernen Literatur begann schon im 18. Jahrhundert und der Prozess ihrer vollen Entfaltung reicht wiederum ins späte 19. und ins 20. Jahrhundert hinein. Ferner vollzogen sich diese Prozesse sowohl zeitlich wie örtlich auf durchaus ungleichmäßige Weise; die Impulse zur fortschreitenden Ausbildung typisch »moderner« Formen von Literatur gingen verschiedentlich einmal von der französischen, dann wieder von der deutschen, englischen oder einer anderen nationalen Literaturszene aus. Und schließlich führten die Aktualisierung einer modernen Mentalität und die Anwendung moderner literarischer Vgl. zum Folgenden: Karl Siegfried Guthke, Die Mythologie der entgötterten Welt. Ein literarisches Thema von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1971; Volkmar Sander, Die Faszination des Bösen. Zur Wandlung des Menschenbildes in der modernen Literatur, Göttingen: Sachse & Pohl, 1968; James Olney, Metaphors of Self. The Meaning of Autobiography, Princeton: Princeton University Press, 1973; Eugene Goodheart, The Cult of the Ego. The Self in Modern Literature, Chicago: Chicago University Press, 1968; Marianne Kesting, Auf der Suche nach der Realität. Kritische Studien zur Literatur der Moderne, München: Piper, 1972; Michael Hamburger, The Truth of Poetry. Tensions in Modern Poetry from Baudelaire to the Nineteen-Sixties, London: Weidenfeld and Nicholson, 1969; Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik; Adrian Marino, »Modernity« and the Evolution of Literary Consciousness; Macha Louis Rosenthal, The New Poets, New York: Oxford University Press, 1967, Irving Howe, »The Culture of Modernism« in: Commentary, 1. November 1967 (online: https://www.commentary magazine.com/articles/the-culture-of-modernism/, aufgerufen am 16. Januar 2018). 22 Vgl. Meyer Howard Abrams, Natural Supernaturalism. Tradition and Revolution in Romantic Literature, New York: Norton, 1973; Edward E. Bostetter, The Romantic Ventiloquists: Wordsworth, Coleridge, Keats, Shelley, Byron, Seattle: University of Washington Press, 1963. 21

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Formen in den Bereichen der einzelnen literarischen Gattungen zu ganz unterschiedlichen Zeiten zu dem, was »moderne« Lyrik, »moderner« Roman oder »modernes« Theater genannt wird. Dennoch, trotz dieser notwendigen Einschränkungen, kann die grundsätzliche Wende der europäischen Literatur zur Moderne hin identifiziert werden mit der Romantik – zumindest in dem Sinne, dass eine »Modernität« von Literatur sich in der literarischen Entwicklung vor der Romantik zwar ankündigte, aber erst in der literarischen Entwicklung seit der Romantik manifest wurde in einer sich entfaltenden »modernen« Literatur. Wie aber manifestiert sich das »Moderne« in der »modernen« Literatur? Als erstes wäre wohl jenes Kennzeichen moderner Literatur zu nennen, das unmittelbar hinweist auf die Korrespondenz von »Krise« und »Modernität«. In der modernen Literatur wird die dichterische Existenz vornehmlich wahrgenommen als eine bindungslose, eine gefährdete Existenz, und dementsprechend ist die moderne Literatur weitgehend geprägt von dem Versuch moderner Dichter, in dem Medium der Literatur eine Selbstvergewisserung ihrer Existenz zu erwirken. Die Vorgeschichte zu dieser modernen Situation dichterischer Existenz fängt wohl an in der Renaissance. Denn während der Renaissance wurde die christliche Idee der Unsterblichkeit säkularisiert zu der Idee von dem »Ruhm«, durch den der Einzelne herausgehoben werde aus der Menge und sein Namen verewigt werde im Gedächtnis der Menschen. Und das eben zu dieser Zeit »neu aufkommende Geschlecht von Poeten-Philologen« bemächtigte sich, so schrieb Jacob Burckhardt, »rasch … des Ruhmes in doppeltem Sinn: indem sie selber die anerkanntesten Berühmtheiten Italiens werden und zugleich als Dichter und Geschichtsschreiber mit Bewusstsein über den Ruhm anderer verfügen«. 23 Dieses außerordentliche Selbstbewusstsein unterlegten die Renaissancedichter mit der Doktrin von der übernatürlich-genialen Begabung des Dichters, und in dieser Form wurde es von späteren Generationen von Dichtern nicht nur weiter kultiviert, sondern schließlich auch übergeleitet in jenes Ver-

Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart: Kröner, 1960, S. 174. – Zu dem in der Renaissance aufkommenden »modernen« Mythos vom Ruhm vgl. auch: Ruggiero Romano, Alberto Tenenti, Die Grundlegung der modernen Welt. Spätmittelalter, Renaissance, Reformation, Frankfurt a. M.: Fischer, 1967, S. 124 ff.

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ständnis vom Dichter als eines »göttlichen Genies«, das die Literaten und philosophes in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts für sich beanspruchten. 24 Durch diese aufklärerische Interpretation dichterischer Existenz wurde der Dichter zwar von allen Bindungen an literarische und gesellschaftliche Normen und Konventionen befreit. Er, der Dichtergott unter den Menschen, war sich selber das alleinige Maß seiner Werke. Aber für diese »göttliche« Freiheit hatte er zugleich die prometheische Aufgabe eingelöst, seine voraussetzungslose dichterische Existenz zur Voraussetzung eines dichterischen Kosmos zu machen. Er, der autonome Schöpfer literarischer Werke, konnte erst durch und in diesen Werken seiner autonomen Schöpferexistenz, seiner selber als Dichter gewiss werden. 25 Von daher erklärt sich, warum das literarische Werk vieler moderner Dichter vor allem um die eigene Person kreist. Der Prozess einer existentiellen Selbstvergewisserung im Medium der Literatur erfordert eine egozentrische Einstellung zum dichterischen Schaffen; es muss erreicht werden, dass sich dichterisches Werk und das dichterische Ich zueinander verhalten wie Abbild und Urbild, Gespiegeltes und Spiegel, Erfüllungsstreben und Erfüllung. 26 Aber eine derartige Kongruenz zwischen der privaten und künstlerischen Welt eines einzelnen Dichters schließt für diesen notwendigerweise, je vollkommener sie ist, eine Teilnahme an den Welten anderer Dichter, ja anderer Menschen überhaupt aus. Der konzentrisch um sein Ich herum angelegte Kosmos seiner Dichtung zwingt ihn in eine gesellschaftliche Isolation; parallel zu seiner Selbstvergewisserung in einem dichterischen Egozentrismus verläuft unausweichlich eine Selbstentfernung von allen übrigen Menschen. So birgt die Autonomie einer modernen dichterischen Existenz die Gefahr in sich, eben die Verständigung zu verfehlen, die mit einem dichterischen Werk eigentlich angestrebt wird. Dichtung wird damit zu einem existentiellen Wagnis, das der eine Dichter besteht, bei dem ein anderer jedoch scheitern kann und daher seine dichterische Existenz authentisch allein noch in

Vgl. Edgar Zilsel, Die Entstehung, des Geniebegriffs, Tübingen: Mohr, 1926; Pierre Grappin, La théorie du génie dans le préclassicisme allemand, Paris: Presses Universitaires de France, 1952. 25 Zur spezifischen Rolle des Prometheus-Mythos im Dichtungsverständnis seit der Aufklärung vgl. Raymond Trousson, Le Thème de Prométhée dans la Littérature Européenne, Genf: Ed. Groz, 1964. 26 Klassische Beispiele hierfür: Jean Jacques Rousseau und Lord Byron. 24

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der Negation zu erfahren vermag: in einem andauernden Verstummen oder, in letzter Konsequenz, in dem Selbstmord. 27 Die »Modernität« der modernen Literatur wird auch an einem anderen, für diese Literatur typischen Merkmal ersichtlich: an einer Sezession zwischen literarischer Sprache und alltäglicher Wirklichkeit. Im Unterschied zur vor-modernen Literatur, die der typologischen Darstellung der als konstant angesehenen Wirklichkeit galt, ist die moderne Literatur weitgehend von einem Ereignis geprägt, das nicht unzutreffend umschrieben wurde mit der Formel »Das Verschwinden Gottes (The Disappearance of God)«. 28 In der modernen Welt, der das Prinzip eines permanenten Veränderns aller Dinge unterliegt, kann die Literatur – will sie sich dem Modernen erschließen – nicht mehr ansetzen bei der früheren Erfahrung einer einheitlichen, in sich geordneten und gleichbleibenden Welt. 29 In der Moderne ist die Welt der Menschen zerfallen; statt an dem einen Maß, das der Name Gottes symbolisierte, wird alles an allem gemessen, ist jedes jedem gleich, alles beliebig verfügbar. Aus dieser Erfahrung von einer zerfallenen Welt leitet sich die Sezession zwischen moderner literarischer Sprache und alltäglicher Wirklichkeit her. Die Wörter verlieren ihren Sinn, wenn eben diese Wirklichkeit sich auflöst, auf die sie sich beziehen sollen; oder umgekehrt: angesichts einer Wirklichkeit, die nicht mehr wahrlich zu erfassen ist, können in den Wörtern der Sprache vielleicht noch am ehesten Sedimente der Realität (wieder) aufgefunden werden. Diese Suche nach Realität in der Sprache vollzieht sich aber wiederum allein in der Form von Sprachereignissen; die Sprache wird so zum allerersten Gegenstand eines Kombinierens mit Wörtern, eines experimentellen Umgangs mit literarischen Stilen, ja einer intensiv betriebenen Sprachmagie. 30 Daher wird dann kaum noch von einer 27 Vgl. dazu: Al Alvarez, The Savage God. A Study of Suicide, London 1972; Macha Louis Rosenthal, The New Poets, S. 7 ff. 28 J. Hillis Miller, The Disappearance of God: de Quincey, Browning, E. Bronte, Cambridge, Mass: Harvard University Press, 1963. 29 Vgl. z. B. Elias Canetti, »Der erste Versuch: Die Blendung«, in: Das Gewissen der Worte. Essays, München: Hanser, 1975, S. 229: »Eines Tages kam mir der Gedanke, daß die Welt nicht mehr so darzustellen war wie in früheren Romanen, sozusagen vom Standpunkt eines Schriftstellers aus, die Welt war zerfallen, und nur wenn man den Mut hatte, sie in ihrer Zerfallenheit zu zeigen, war es noch möglich, eine wahrhafte Vorstellung von ihr zu geben.« 30 Zur Sprachmagie in der modernen Dichtung vgl. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 18–21, 36–39, 79 ff., 133–136.

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»Sprache« (nämlich einer Ordnung des Sprechens entsprechend einer Ordnung der Wirklichkeit) als vielmehr von einem »Sprachmaterial« zu reden sein, das, selber ohne Gestalt und Struktur, sich dazu verwenden lässt, aus der Position des autonomen Sprachschöpfers heraus ganz neue Sprachgebilde zu verfertigen oder, wie es seit Baudelaire heißt, zu »machen«. 31 In der Erzeugung derartiger Sprachgebilde wirkt sich demnach in absoluter Weise die Vorstellungskraft dessen aus, der sie »macht«: sie können einer Phantasie entspringen, die allein wirklichkeitsentleerte Formen produziert; sie können aber auch das Ordnungsvermögen eines Bewusstseins reflektieren, das die Wirklichkeit einer zerfallenen Welt zumindest durch eine Identifikation der Verfallserscheinungen erfasst. 32 Im ersten Fall wird die Sezession zwischen literarischer Sprache und alltäglicher Wirklichkeit nur noch weiter vertieft; im zweiten Fall hingegen wird sie zwar nicht aufgehoben, wohl aber zum Ausgang einer Literatur gemacht, die dem diffusen Chaos einer zerfallenen Welt doch eine konkrete Vorstellung von dem Chaotischen abzwingt. Schließlich wäre noch ein weiteres wesentliches Kennzeichen moderner Literatur zu nennen: es gibt keine moderne Poetik, ein für die moderne Literatur allgemein gültiges und akzeptiertes System literarischer Normen. Wer die Literatur der Renaissance verstehen will, kann die Poetik der Renaissance nicht außeracht lassen; das Bestreben der Dichter in der Renaissance, in ihren Werken das allgemeine Dichtungsideal ihrer Zeit zu verwirklichen, würde unverständlich bleiben. Aber umgekehrt wäre es unsinnig, nach einer für die Literatur der Romantik maßgebenden romantischen Poetik zu forschen; denn ein romantischer Dichter war doch der, der sich aller literarischer (wie auch gesellschaftlicher) Konventionen und Normen entledigte, gegen diese bewusst verstieß, nichts duldete, was den unerschöpflichen Reichtum seiner künstlerischen Phantasie beschnitten hätte. Diese moderne Weigerung, eine Poetik im normativen Sinne anzuerkennen, wurde in der sich als »modern« verstehenden Literatur von der Romantik bis zur GegenVgl. dazu Harald Weinrich, »Linguistische Bemerkungen zur modernen Lyrik«, in: Akzente, 15 (1968) S. 29–47, z. B. S. 31. 32 Bei dem oben angeführten Gedankengang (Anm. 28) fährt Canetti z. B. wie folgt fort: »… die Welt war zerfallen … Das bedeutete aber nicht, dass man sich an ein chaotisches Buch zu machen hätte, in dem nichts mehr zu verstehen war, im Gegenteil, man musste mit strengster Konsequenz extreme Individuen erfinden, so wie die, aus denen die Welt ja auch bestand, und diese auf die Spitze getriebenen Individuen in ihrer Geschiedenheit nebeneinanderstellen.« 31

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wart aufrechterhalten. 33 So ist auch hier wieder die Krise, als die sich Modernität manifestiert, in einer historischen Kontinuität zu beobachten. Unter poetologischem Aspekt manifestiert sich das Moderne in der Literatur seit der Romantik in einer zusehends immer größer werdenden Vielheit sehr unterschiedlicher, jeweils individuell zurechtgelegter Dichtungstheorien, die das bewältigen sollen, wozu sie, wegen ihrer privativen Natur, konsequent beitragen: die Krise des allgemeinen literarischen Bewusstseins.

Modernität im Bereich der Architektur Am Beginn dieses Abschnitts zur Phänomenologie der modernen Lebenswelt wurde hervorgehoben, dass der Einfluss und die Wirksamkeit moderner Vorstellungen in deren verschiedenen Bereichen auf Entwicklungen zurückzuführen sind, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten eingesetzt haben. Bei der Architektur ist das sehr deutlich erkennbar; denn im Vergleich beispielsweise mit dem religiösen oder dem ökonomischen Bereich hat die Moderne im Bereich der Architektur nicht schon wie bei diesen im 16. bzw. im 17. Jahrhundert, sondern erst im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert begonnen. 34 Dafür hat sich die moderne Mentalität in den Schöpfungen der modernen Architektur zweifellos auf eine äußerst exemplarische, nämlich dingliche Weise manifestiert: in all den modernen Bauten, den modernen Stadtanlagen, wie sie im späten 19. Jahrhundert und vor allem im 20. Jahrhundert allerorts geschaffen wurden nach den Prinzipien einer »modernen« Architektur. Jedoch würde man das Phänomen der modernen Architektur nicht in allen seinen Dimensionen begreifen, würde man es allein unter dem Aspekt des Zusammenhangs von modernen architektonischen Prinzipien und modernen architektonischen Schöpfungen betrachten. Alle Architektur erstreckt sich auch über eine politische und eine soziale Dimension und in diesen. Es beginnt damit, dass architektonische Prinzipien im Kontext bestimmter kosmologischer, politischer, philosophischer oder ideologischer Anschauungen formuliert werden. Die von Menschen geschaffenen Bauten und Städte dienen, insofern sie nach bestimmVgl. Adrian Marino, a. a. O. S. 120. Vgl. Tilo Schabert, Die Architektur der Welt. Eine kosmologische Lektüre architektonischer Formen, München: Fink, 1997, S. 82–97.

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ten architektonischen Prinzipien errichtet worden sind, nicht nur den nützlichen Zwecken des Wohnens, des Arbeitens und des öffentlichen Lebens. Sie sind vielmehr gleichfalls architektonische Symbolschöpfungen, in denen sich die religiöse und profane Weltsicht, die politische Kultur, die gesellschaftlichen Lebensweisen derjenigen Menschen manifestieren, die sie schufen. 35 Umgekehrt ist die Architektur ein wesentliches Element in der Gestaltung des sozialen und politischen Lebens innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Je nachdem wie beispielsweise eine Stadt räumlich angelegt und strukturiert ist, wird die soziale Kohäsion ihrer Bürgerschaft durch die betreffende Stadtarchitektur eher gestärkt oder eher geschwächt. Auch wird, um ein anderes Beispiel zu nennen, die historische Vergangenheit einer Nation im Bewusstsein ihrer Bürger nicht zuletzt durch ein Wahrnehmen jener historischen Bauten und Monumente präsent bleiben können, in denen die Geschichte der Nation gewissermaßen in architektonischer Gestalt erhalten geblieben ist. Aufgrund dieser zweifachen Qualität einmal als symbolische Manifestation menschlicher Existenz in Gesellschaft sowie als wesentliches Element im konkreten Vollzug dieser Existenz ist die Architektur sehr eng mit der Politik verknüpft. Und so bietet sich zu einem vollständigen Verständnis einer bestimmten Architektur – wie der modernen zum Beispiel – nicht bloß ein zwei-dimensionales, sondern ein drei-dimensionales Untersuchungsfeld an: eine trilaterale Konfiguration von architektonischen Prinzipien, architektonischen Schöpfungen und den politischen Implikationen der betreffenden Architektur. Der Zusammenhang dieser Konfiguration wurde auf paradigmatische Weise in der Architekturtheorie der Renaissance erfasst. 36 In Vgl. die ausführlichen Darstellungen dazu in Die Architektur der Welt. Vgl. zum Folgenden: Léon Palustre, L’Architecture de la Renaissance, Paris: Librairies-Imprimeries réunies, ancienne maison Quantin, 1892; Gustavo Giovannoni, Saggi sulla architettura del Rinascimento, Mailand: Treves, 1931; Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism, London: The Warburg Institute, 1949; Klaus von Beyme, »Architekturtheorie der italienischen Renaissance als Theorie der Politik«, in: Sprache und Politik. Festgabe f. D. Sternberger, Hrsg. Carl-Joachim Friedrich, Benno Reifenberg, Heidelberg: L. Schneider, 1968, S. 209–232; Gerda Sörgel, Untersuchungen über den theoretischen Architekturentwurf von 1450 bis 1550 in Italien, Diss. Köln 1958; Paul-Henri Michel, Un idéal humain au XVe siècle. La pensée de L. B. Alberti, Paris: Les Belles Lettres, 1930; Giovanni Santinello, Leon Battista Alberti: una visione estetica del mondo e della vita, Florenz: Sansoni, 1962; Erik

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ihren theoretischen Schriften haben Renaissancearchitekten wie Leon Battista Alberti, Francesco di Giorgio und Andrea Palladio sich vornehmlich mit der Frage beschäftigt, was denn die Prinzipien einer Architektur sein könnten, die es ermöglichen würden, die architektonische Umwelt des Menschen auf die beste, d. h. auf die dem Menschen angemessenste Weise zu gestalten. 37 Ihre Antwort und die entsprechende Architekturtheorie bildete bis ins 18. Jahrhundert hinein die Grundlage für die architektonischen Schöpfungen der Renaissance, des Barock und des Rokoko. Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde jedoch diese Architekturtheorie durch das Eindringen moderner Vorstellungen in den Bereich der Architektur erschüttert und schließlich ersetzt durch die spezifisch moderne Auffassung vom Bauen. Um diesen tiefen Einschnitt in der Geschichte architektonischer Theorie und Praxis zu erhellen, soll noch einmal auf das Paradigma der Renaissancearchitektur zurückgeschaut werden. Die Theorie der Architektur, wie sie von den Renaissancearchitekten erarbeitet und bei den eigenen Bauwerken angewandt wurde, ist wesentlich eine Theorie mathematischer Proportionen. Im 3. Buch seines zehnbändigen Werkes De architectura (nach 27 v. Chr.) hatte Vitruvius, der im 1. Jahrhundert v. Chr. lebende Theoretiker der antiken Architektur, aufgezeigt, dass der menschliche Körper bei ausgestreckten Armen und Beinen als geometrisch verstandene Figur sich sowohl in die geometrische Figur des Quadrats wie in die des Kreises einfügt. Am Beispiel des homo ad quadratum und des homo ad circulum wollte Vitruvius die proportionale Harmonie zwischen den geometrischen Maßen des menschlichen Körpers und den geometrischen Maßen dieser Welt erweisen. Und angesichts dieser Harmonie folgerte Vitruvius, dass auch die Proportionen architektonischer Schöpfungen mit den Proportionen des menschlichen Körpers (und somit den Proportionen der Welt) übereinstimmen müssten. Diese Proportionenlehre des Vitruv wurde von den Renaissancearchitekten aufgenommen und zur Grundlage ihrer eigenen ArchiForssman, Palladios Lehrgebäude. Studien über den Zusammenhang von Architektur und Architekturtheorie, Stockholm: Almqvist & Wiksell, 1965. 37 Vgl. Leon Battista Alberti, De re aedificatoria, Florenz 1485, Dt. Ausgabe: Zehn Bücher über die Baukunst, Übs. Max Theuer, Wien-Leipzig: Heller, 1912, Nachdruck: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975; Francesco di Giorgio Martini, Trattato d’architettura civile e militare, 1482 (Turin: Tip. Chirio e Mina, 1969); Andrea Palladio, Quattro libri dell’architettura, 1570, online: https://archive.org/details/ iquattrolibridel01pall (aufgerufen am 20. Jan. 2018).

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tekturtheorie gemacht. 38 Ausgehend von einem genauen Studium der Proportionen des menschlichen Körpers erstrebten Alberti und Giorgio, Palladio und Leonardo eine »anthropometrische« Architektur, 39 eine Baukunst nach menschlichen Maßen. Nach ihrer Auffassung beruht die »Rationalität von Architektur« (Giorgio), d. h. deren humane oder anthropomorphe Qualität auf vier Prinzipien. (1) Die Proportionen des menschlichen Körpers sind objektiv in mathematischen Zahlenverhältnissen zu erfassen. (2) In den Abmessungen von Bauwerken müssen sich diese Zahlenverhältnisse wiederholen; dem Architekten steht es keinesfalls frei, den von ihm erstellten Bauten irgendwelche willkürlich gewählten Maße zu unterlegen. (3) Architektonische Schöpfungen sind dann von vollkommener, von schöner Gestalt, wenn die geometrische Anordnung ihrer Teile den Proportionen des menschlichen Körpers entspricht: ihre geometrisch zu messende Vollkommenheit gleicht der geometrisch zu messenden Vollkommenheit des menschlichen Körpers, der als geometrische Figur sich wiederum in die vollkommensten aller geometrischen Figuren, den Kreis und das Quadrat, einfügt. 40 (4) Insofern diese eine Vollkommenheit in verschiedener Gestalt in einem festen System mathematischer Zahlenverhältnisse zu erfassen ist, gibt es eine objektive, nämlich geometrisch-mathematische Definition von vollkommener Schönheit. Nach den Worten Albertis rührt die Schönheit eines Bauwerks von seinen Proportionen her, aufgrund derer all die Teile, aus denen es besteht, auf eine so vollkommene Weise zueinanderstehen, dass nichts hinzugefügt oder weggenommen werden kann, ohne die Harmonie des Ganzen zu zerstören. 41 Zur Vitruvius-Rezeption im 16. Jh. vgl.: Vassili (V. P.) Zoubov, »Vitruve et ses commenteurs du XVIe siècle« in, La science au XVIe siècle, Colloque international de Royaumont, Paris, Hermann, 1960. 39 Zum Begriff »anthropometrische Architektur« vgl. Rudolf Wittkower: »The Arts in Western Europe: Italy«, in: The New Cambridge Modern History, Vol. I: The Renaissance, Cambridge: Cambridge University Press, 1957, S. 129 f. 40 Und der Kreis, daran wäre hier zu erinnern, figurierte auch in der Renaissancekosmologie als geometrisches Symbol für die Unendlichkeit und Vollkommenheit Gottes. 41 Leon Battista Alberti, L’Architettura, Buch VI, Kap. 2: »… ut sit pulchritudo qui38

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Wie schon erwähnt, zeichnet sich die Architekturtheorie der Renaissance besonders dadurch aus, dass durch sie Architektur umfassend, in allen ihren Dimensionen, so auch der politischen, erfasst wird. Nach der Ansicht der Renaissancearchitekten sollten auch Städte entsprechend der Prinzipien ihrer architektonischen Theorie angelegt werden. 42 Ja, gerade am Beispiel der Stadt als architektonischem Gebilde illustrierten sie mit besonderer Vorliebe ihre Vorstellung von einer anthropomorphen Architektur. Sie begriffen die Stadt als den architektonisch zu gestaltenden Raum einer Gemeinschaft von Bürgern, deren alltägliches Leben sich innerhalb dieses Raumes abspielte: Prozesse der Arbeit, des Handels, des gesellschaftlichen Umgangs, und nicht zuletzt der politischen Willensbildung. Unter diesem Aspekt konnten sie daher die Kunst des Baumeisters mit der Kunst des Politikers identifizieren. Wie der Politiker es vermag, die Bürger zu gemeinsamem Handeln zu vereinigen, so vermag es der Architekt, die Gemeinschaft der Bürger durch die architektonische Anlage ihrer Stadt auf eine höchst konkrete Weise wie durch das Beziehungsgeflecht von Straßen und Plätzen, Höfen und Gärten zu gestalten. In der Architekturtheorie der Renaissance gibt es deshalb eine »ideale Stadt«: es ist die nach menschlichen Maßen gestaltete Polis. Auch in dieser Stadt müssen die Bürger ihrer Arbeit, ihren Geschäften nachgehen, sich bemühen um das gemeinsame Wohl. Aber sie können sich dabei im idealen Raum einer Stadt bewegen, die architektonisch ihnen angemessen, nämlich so ausgestaltet ist, dass die Geometrie ihrer Anlage den natürlichen Handlungsräumen und Lebensrhythmen des Menschen entspricht. 43

dem certa cum ratione concinuitas universarum partium in eo cuius sint: ita ut addi, aut diminui, aut immutari possit nihil, quam improbabilius reddat.« 42 Vgl. hierzu Alessandro Scafi, »Filarete’s Ideal City of Sforzinda: Architecture between Nature and Society«, in: Matthias Riedl, Tilo Schabert, Hrsg., Die Stadt: Achse und Zentrum der Welt – The City: Axis and Centre of the World, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S. 15–33. 43 Leon Battista Alberti, L’Architettura (De Re Aedificatoria), Lt.-Ital., Übers. Giovanni Orlandi, Hrsg. Paolo Portoghesi, Mailand: Edizioni Il polifilo, 1966, Bd. 1, S. 13–14, 265, 269, 273. Zur ›idealen Stadt‹ vgl. auch Eugenio Garin, Scienza e vita civile nel Rinascimento italiano, Bari: Laterza, 1965, Kap. 2 (Città ideale); sowie: Corrado Maltese: »II pensiero architettonico e urbanistico di Leonardo«, in: Leonardo, saggi e ricerche per le onoranze di Leonardo da Vinci nel quinto anniversario della morte (1452–1952), Hrsg. Achille Marazza, Rom: Istituto Poligrafico dello Stato Libreria dello Stato, 1954.

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Auf ihre Frage, wie die architektonische Umwelt des Menschen am besten zu gestalten sei, hatten die Renaissancearchitekten demnach eine prinzipielle Antwort gefunden: die Maße des Menschen sollten auch die Maße der Architektur sein oder umgekehrt gesagt: die Proportionen architektonischer Schöpfungen sollten übereinstimmen mit den Proportionen der menschlichen Figur. Und mit dieser Antwort verband sich für sie auch die Gewissheit, der Baukunst eine objektive, nämlich mathematische Grundlage unterlegt zu haben. Denn die Proportionen des menschlichen Körpers konnten in der Form von mathematischen Zahlenverhältnissen ausgedrückt werden, die nach der Ansicht der Renaissancearchitekten dieselben waren wie die, die in der kosmischen Ordnung der Welt oder in den Harmonien der Musik zu entdecken waren. 44 Durch eine anthropometrische Architektur konnte also für den Menschen eine architektonische Umwelt geschaffen werden, die ihm so angemessen wie keine andere war: sie reproduzierte den Kosmos der Welt in einem Kosmos der Architektur. Die Architekturtheorie der Renaissance wurde hier so ausführlich dargestellt, damit vor dem entsprechenden Horizont der tiefe Einschnitt ausgeleuchtet werden könnte, der im Bereich der Architektur gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch das Wirksamwerden moderner Vorstellungen hervorgerufen worden ist. 45 Natürlich kann im Folgenden nicht die ganze Entstehungsgeschichte der modernen Architektur aufgerollt werden. Es muss genügen, die beiden wohl wichtigsten Faktoren in dieser Entwicklung anzuzeigen: (1) Zum einen ereignete sich im 18. Jahrhundert eine Revolution in der Theorie des Ästhetischen. Die klassische Lehre, dass es objektive Maßstäbe für ästhetische Urteile gebe, wurde von Theoretikern der »Geschmacksbildung«, von Hume zum Beispiel und vor allem von Kant, restlos verworfen und durch die neue Lehre ersetzt, dass, wie Kant erklärt, »das Geschmacksurteil kein ErVgl. Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism, S. 16, 22 ff., 32, 101. 45 Vgl. zum Folgenden: Emil Kaufmann, Von Ledoux bis Le Corbusier. Ursprung und Entwicklung der autonomen Architektur, Wien: Verlag Dr. Rolf Passer, 1933; ders.: Architecture in the Age of Reason. Baroque and Post-Baroque in England, Italy, and France, Cambridge, Mass., Harvard University Press, 1955; Robert Rosenblum, Transformations in Late Eighteenth Century Art, Princeton, Princeton University Press, 1967. 44

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kenntnisurteil [ist], mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.« 46 (2) Zum anderen begann sich zur gleichen Zeit – man muss hinzufügen: im Zeitalter der emanzipatorischen Aufklärung – der Gedanke durchzusetzen, dass allein der individuelle Formwille der einzelnen Architekten maßgebend für die Gestalt architektonischer Schöpfungen sein solle. 47 Eine an außerarchitektonischen Kriterien gemessene Architektur, wie sie bisher praktiziert worden war, sollte abgelöst werden von einer »autonomen«, allein durch ihre eigenen Formmöglichkeiten bestimmten Architektur. 48 Der erste dieser beiden Faktoren wirkte sich im Bereich der Architektur vor allem gegen die bislang noch gültige Proportionenlehre der Renaissancearchitekten aus. Der neuen Ästhetik zufolge konnte es prinzipiell keine objektive, d. h. allgemeingültige Definition von Schönheit, also auch keine Theorie architektonischer Proportionen geben, die maßgeblich wäre für jedwede architektonische Schöpfung. Die Proportionenlehre der Renaissancearchitekten wurde infolgedessen auch nicht im modernen Verständnis von Architektur bewahrt, sondern abgesondert als Überbleibsel einer architekturhistorischen Tradition, deren Sinn man zusehends vergaß. Stattdessen wurden die Schöpfungen der sich herausbildenden modernen Architektur entsprechend ihrer bloßen Nutzfunktion (»Die Form folgt der Funktion«) oder dem Formgefühl des einzelnen Architekten oder sonst irgendwelchen mehr oder weniger willkürlich festgesetzten Prinzipien gestaltet. Erst im 20. Jahrhundert setzte Le Corbusier wieder zu einer architektonischen Proportionenlehre an, ohne allerdings dabei die Einsicht und den Differenzierungsgrad der Renaissancearchitekten zu erreichen. 49 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1. Teil: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, § 1, in: Werke, Hrsg. Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1957, S. 279 (Hervorhebung von mir, T. S.). Vgl. auch ebd. S. 290– 294, 379 f. und 313. 47 Bei seinen Ausführungen zur »modernen« Architektur von Ledoux bezieht sich auch Emil Kaufmann in: Von Ledoux bis Le Corbusier, S. 11 f., explizit auf Kant. 48 Zum Begriff der »autonomen Architektur« vgl. Emil Kaufmann, Von Ledoux bis Le Corbusier, S. 14 ff., 42 ff. 49 Vgl. Sigrid Braunfels, »Vom Mikrokosmos zum Meter«, in: Hrsg. Georg Glowatzki 46

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Der zweite der beiden oben angezeigten Faktoren in der Entstehungsgeschichte der modernen Architektur bewirkte eine Verzerrung in der Konfiguration von architektonischen Prinzipien, architektonischen Schöpfungen und deren sozialen wie politischen Implikationen. Einerseits konnten nämlich einer »autonomen« Architektur je nach Belieben irgendwelche architektonischen Prinzipien zugeordnet werden, so dass die architektonischen Schöpfungen, die daraufhin entstanden, nicht unbedingt den Menschen, für die sie eigentlich geschaffen waren, entsprachen. Andererseits wurde die architektonische Umwelt des Menschen durch diese autonome, d. h. moderne Architektur verändert und umgestaltet, obwohl die Schöpfungen dieser Architektur eher halb bewusst denn vorbedacht mit der Absicht erstellt wurden, die architektonische Umwelt des Menschen auch dem Menschen entsprechend zu formen. Für die architektonische Gestalt der modernen Lebenswelt haben sich aufgrund dieser Entwicklungstendenzen in der modernen Architektur selbstverständlich sehr einschneidende und sehr vielfältige Konsequenzen ergeben. Eine dieser Konsequenzen soll hier ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegen noch etwas beleuchtet werden: soweit die architektonische Umwelt des Menschen umgestaltet wurde durch die moderne Architektur, wurde sie »enthumanisiert« und infolgedessen auch ihrer »politischen« Qualität beraubt, ein wesentliches Element in der Bildung menschlicher Gesellschaft zu sein. Dieser Prozess einer Enthumanisierung der Architektur lässt sich zum Beispiel an den Bauentwürfen der französischen Architekten Claude-Nicolas Ledoux, Étienne-Louis Boullée und Jean-Jacques Lequeu aufzeigen, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzten für eine Architektur der reinen stereometrischen Formen. 50 Die Bauten, die von diesen Architekten entworfen und vereinzelt auch erstellt worden sind, haben entweder die Gestalt einer Kugel, eines Zylinders, eines Würfels oder die einer Verschachtelung oder Auftürmung mehrerer derartiger Formen. Die Eindrücke, welche diese Bauu. a., Der Mensch. Anthropometrie in Kunst und Wissenschaft, München: Heinz Moos, 1973, S. 71–73. 50 Vgl. Emil Kaufmann, »Three Revolutionary Architects, Boullée, Ledoux, and Lequeu«, in: Transactions of the American Philosophical Society, Philadelphia XLII, Teil 3, Okt. 1952; sowie die schon erwähnten Arbeiten desselben Autors. Ferner: Adolf Max Vogt, Russische und französische Revolutionsarchitektur 1917/1789. Zur Einwirkung des Marxismus und des Newtonismus auf die Bauweise, Köln: Du Mont, 1974.

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ten hervorrufen – sie wirken abweisend, verschlossen, leblos und kalt – stehen gewiss nicht im Widerspruch zu ihrem Zweck. Es handelt sich bei ihnen fast ausschließlich um Grabmäler, Gefängnisse, Monumente, Museen oder Befestigungsanlagen; diese Architektur der stereometrischen Formen konnte sich offensichtlich allein als eine Architektur ohne Menschen entfalten. Ein anderes Beispiel für eine enthumanisierte Architektur wäre die »funktionale« Architektur, wie sie im 20. Jahrhundert von Bruno Taut, Walter Gropius, Auguste Perret, Tony Garnier, F. L. Wright, Le Corbusier vertreten worden ist. 51 Auch bei dieser Architektur wurde die Sache, das Gestalten einer architektonischen Umwelt für den Menschen, einer unsachgemäßen Ideologie des Bauens unterstellt. Weil man im Zeitalter der Maschine lebte, sollten auch die Schöpfungen der Architektur dem Typus der Maschine (also nicht etwa dem Menschen) entsprechen. Und die Form derartiger maschinengleicher Bauten sollte allein bestimmt sein durch ihre jeweilige Funktion. Das Gebot der Inhumanität diente gewissermaßen als erstes Prinzip der neuen architektonischen Ideologie. Wenn die Menschen schon in einer modernen, von der Maschine beherrschten Welt lebten, dann sollte die Architektur nicht zurückstehen, daran mitzuwirken, die Zwänge dieser Existenz sub specie machinae 52 noch fester zu schließen.

Bewusstsein der Modernität und Modernität der Gesellschaft Einer »Modernität« mentaler Einstellungen und praktischer Handlungen entspricht prinzipiell ein Zustand der geistigen und gesellschaftlichen Krise. Dieser Befund hatte sich aus den Untersuchungen in den vorangegangenen Kapiteln ergeben und durch ihn wurde folgVgl. Bruno Taut, Bauen. Der neue Wohnbau, Leipzig: Klinkhardt & Biermann, 1927; ders., Die moderne Baukunst in Europa und Amerika, Stuttgart: Hoffmann, 1929; Walter Gropius, Idee und Aufbau des staatlichen Bauhauses Weimar, München: Bauhausverlag, 1923; ders., Scope of total architecture, London: Allen & Unwin, 1956; Frank Lloyd Wright/Baker Brownell, Architecture and Modern Life, New York: Harper, 2015; ders., An organic architecture. The architecture of democracy, London: Lund Humphries, 2017; ders., The Future of Architecture, New York: Horizon Press, 1953. 52 Diesen Begriff übernehme ich von Arno Baruzzi, Mensch und Maschine. Das Denken sub specie machinae, München: Fink, 1973. – Vgl. auch Frank Lloyd Wright, The Future of Architecture, New York Repr.: Horizon Press, 1970, S. 85, 195. 51

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lich der Gegenstand der in diesem Kapitel fortgeführten Überlegungen bestimmt. Die prinzipielle Entsprechung von »Krise« und »Modernität« sollte, soweit es hier überhaupt möglich war, auch in ihrer historischen Dimension erfasst werden. Insofern der intellektuellhistorische Prozess der Entstehung und Entfaltung typisch moderner Bewusstseinsformen schon in den früheren Kapiteln dargestellt und seine Analyse als Versuch zu einer Phänomenologie des modernen Bewusstseins vorgestellt war, konnte nun in diesem Kapitel versucht werden, Ansatzpunkte zu einer historisch-genetischen Phänomenologie der modernen Lebenswelt deutlich zu machen. Dabei wurden in ganz verschiedenen Bereichen dieser Lebenswelt – im religiösen, ökonomischen, literarischen, architektonischen Bereich – typische Merkmale von »Modernität« festgestellt. Merkmale wie – – – –

– – –

das Streben nach Autonomie; nach möglichst viel Besitz; die Erfahrung, dass die Welt zerfallen und die Existenz des Menschen gefährdet sei; die Ablösung der Einheit korrespondierender Wahrnehmungen und miteinander verbundener Dinge durch eine Vielheit isolierter Sehweisen und unverbundener Teile; der Verlust der Fähigkeit, sich zu verständigen; der Ausfall allgemein akzeptierter Normen und die Entleerung der Traditionen; schließlich Tendenzen zu einer Enthumanisierung der menschlichen Welt.

Der aufrisshafte Versuch, solche typischen Merkmale von »Modernität« auch in der gegenwärtigen Lebenswelt aufzuweisen, in welcher menschliche Gesellschaften als moderne Gesellschaften bestehen, sollte es gestatten, die Modernität dieser Gesellschaften zurück zu beziehen auf das Bewusstsein der Modernität, das sich in ihnen manifestiert. Diese Parallelität von »Modernität« einmal im mentalen und einmal im gesellschaftlichen Bereich wurde bislang nur gelegentlich herausgestellt; es kam ja zunächst darauf an, Manifestationen von »Modernität« im intellektuellen und im sozialen Bereich erst jeweils für sich zu erweisen. An dieser Stelle können nunmehr jedoch die Entsprechungen zwischen diesen beiden Bereichen – insoweit sich in ihnen »Modernität« manifestiert – dargelegt werden. Um eine größtmögliche Deut187 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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lichkeit zu erreichen, wird zu dieser Darlegung die Form einer Tabelle gewählt, bei der unter der Spalte »Bewusstseinsfeld« die Merkmale eines Bewusstseins der Modernität und unter der Spalte »Sozialfeld« die entsprechenden Merkmale für eine Modernität der Gesellschaft aufgeführt werden. Bewusstseinsfeld:

Sozialfeld:

Allgemeines Denkschema: moderni – antiqui Dogmen: – Prinzipielle Überlegenheit der »Modernen« gegenüber den »Alten« – veritas filia temporis – Wahrheitsgefälle zwischen »Gegenwart« und »Vergangenheit«

Allgemeine Emanzipation von Geschichte und Tradition Wechseln der Existenzweise je nach dem Wandel der »Neuheiten« und »Moden« Politik legitimiert durch den »Fortschritt« Interesse für Geschichte soweit sie Vorgeschichte der Gegenwart ist Vernachlässigung, Verlust traditioneller Wissensbestände Identifikation der Wahrheit mit dem Zeitgeist

Eristische Denk- und Sprechweise

Habituelle Revolte, habitueller Protest Akte des Widerspruchs = Akte der Selbstbestätigung Sinnentleerung und Dekomposition der Sprache (Folgeerscheinung: Wortkulissen, verbiage)

Vorherrschaft der Imagination

Elementare Wahrnehmungsdifferenz: Einbildungen versus Wirklichkeit Chaotisches Handeln: einerseits Eskalation der Erwartungen, andererseits Blindheit gegenüber den Grenzen menschlichen Wissens und menschlicher Macht Anfälligkeit für die Verheißungen imaginärer Politik

Aseität

Kontraktion der Person auf das Ich (Ego, Moi, Selbst) Ego-zentrische Existenz: amor sui und libido dominandi: die Gesellschaft als Medium für die Selbstsucht Existenz in der Verzweiflung, »verzweifelt man selbst sein zu wollen«

188 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Die Krise der Moderne I Bewusstseinsfeld:

Sozialfeld:

Autonomie

Anspruch auf universale Bedürfnisbefriedigung Streben nach Individualität als Streben nach Vollkommenheit Antinomie: Individuum und Gesellschaft Tendenzen zur Auflösung der Gesellschaft in private Sphären individueller Interessen Eine »in Individuen zertrümmerte« Welt

Selbstbestimmung

Auf der Suche nach einem Sinn der individuellen Existenz In Ermangelung einer Sinnhaftigkeit der Existenz: eine Vielzahl von »Interessen« Dialektik von Ichbezogenheit und Kommunikationsverlust

Selbstrepräsentation Originalität

Hypertrophie der Formen Gestus des permanenten Scheiterns Kult des Exzentrischen, des Sonderbaren, des Abnormen Exhibitionismus, Voyeurismus Verwechslung von Formen und Fragmenten, von Kreativität und Zerstörung, von Pathos und Brutalität, von Leiden und Grausamkeit

Interesse Neugierde amour de la nouvelleté

Symptome eines irrationalen Aktivismus Vielbeschäftigtheit (polypragmosyne) divertissement

Allgemeines Realitätsverständnis: Kosmos → Natur

Herrschaftsattitüde gegenüber der Natur »Arbeit« und »Industrie« als Formen der Konkurrenz mit der Natur Entpersönlichung der Arbeit: ökonomische Entfremdung Trennung von Arbeits- und Lebenswelt Entzauberung der Welt: existentielle Langeweile (ennui) Konfrontation mit einer Welt nichtssagender, leerer Räume: existentielle Angst (angoisse)

189 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Die Krise der Moderne I Bewusstseinsfeld:

Sozialfeld:

Eindimensionalität der Realitätsapperzeption (allein physische, nicht symbolische Dimension der Realität)

Die Naturwissenschaften in der Rolle als Paradigmen menschlicher Erfahrungsund Wissensmodi Partieller Realitätsverlust (Verdrängung der Erfahrungen nichtgegenständlicher Realitätsbereiche) Neutralisierung überlieferter Symbolismen wie Riten, Liturgie, Sakralbauten zu »Kunst« oder wie Mythos zu »Märchen« und »Heldensagen« Die paradoxe Konsequenz einer szientistischen Zivilisation: der steigende Einfluss spiritualistisch-sektiererischer Subkulturen

190 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Kapitel 8 Die Krise der Moderne II

Je casse, donc je suis. Graffito vom Juni 2016 an einer Pariser Hauswand

Merkmale eines Bewusstseins der Modernität sind Merkmale einer geistigen Krise wie die Merkmale für die Modernität einer Gesellschaft Merkmale einer gesellschaftlichen Krise sind. Die letzteren sind indes mit den Ausdrucksformen jener Krise, mit der sich Modernität im gesellschaftlichen Bereich manifestiert, nicht identisch. Was sind sie dann? Erscheinungen von Gewalt, so die Antwort, nämlich Äußerungen, Vorkehrungen und Handlungen, die dazu bestimmt sind, ein individuelles wie kollektives Bedürfnis nach Gewalt zu befriedigen. Im Folgenden wird sodenn nach Begründungszusammenhängen zwischen einer Modernität von Gesellschaft und einem Bedürfnis nach Gewalt gefragt. Dabei kann es sich jedoch nicht darum handeln, dem einen oder anderen Motiv nachzuforschen, das Anlass zu Gewalthandlungen sein könnte. Vielmehr geht es um das Motivationsgeflecht insgesamt, das der zureichende Erklärungshorizont sein könnte für die ihr eigentümlichen Erscheinungen von Gewalt in der Welt moderner Gesellschaften.

Existenz im Chaos Am Ende eines Essays, der unter dem Titel A Reflection on Violence. On Murder, Politics, and the Contemporary Sense of Doom erschien, folgerte der amerikanische Historiker Walter Laqueur: »Die tieferen Gründe für die Schwäche der westlichen Zivilisation, die Ermüdung, [der] Skeptizismus, [sind] verknüpft mit der geistigen Krise unserer Zeit.« Sie erklärten sich aus jenem »Verlust des Glaubens (sei es ein religiöser oder ein ideologischer)«, jener »Entwertung traditioneller Werte«, die sich »niederschlugen in einem Pessimismus, in einem 191 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Die Krise der Moderne II

Gefühl der Leere und der Langeweile, in verschiedenen seltsamen, an Selbstmord grenzenden Erscheinungen. Der Schlüssel liegt nicht im Bruttosozialprodukt, sondern in der geistigen Verfassung der Menschen.« 1 Wenn man den Ausdruck »geistige Verfassung« genauer bestimmt als »moderne Mentalität«, wird man noch deutlicher das Problem umreißen können, das Laqueur aufwirft. Er schlägt vor, die allgegenwärtigen Erscheinungen von Gewalt in den zeitgenössischen Gesellschaften im Zusammenhang mit jener Modernität mentaler Einstellungen zu interpretieren, die als Stimulus einer geistigen Krise durch eben diese auch das Ferment einer zivilisatorischen Krise sei. Bei dieser Deutung nimmt Laqueur implizit die inhaltliche Bestimmung von Modernität in sein Interpretationsmodell auf. Wie hier im zweiten und dritten Kapitel dargelegt, ist menschliche Existenz in dem Maße »modern«, wie sie eine Existenz im Chaos ist. Regeln und Traditionen, Geordnetes und Gleichbleibendes widersprechen einer modernen Mentalität; sie aktualisiert sich im Regelverstoß und der »Entwertung traditioneller Werte«, in der Auflösung von Ordnungen und der Verselbständigung von Fragmenten. Eine Einübung in die entsprechenden Formen modernen Verhaltens führt zu einer unablässigen Folge von Krisen, in denen die Selbstbehauptung dessen, der im Modus dieser Krisen existiert, noch die einzige Rechtfertigung menschlicher Existenz ist. Einzelnen mag es gelingen, eine derartige Existenz im Chaos durchzuhalten. Was aber geschieht, wenn das Wirkungsfeld dieser modernen Mentalität nicht nur die Intellekte einiger Individuen, sondern die geistige Welt einer Zivilisation umfasst? Dem Interpretationsvorschlag Laqueurs zufolge setzt eine Erosion dieser Zivilisation ein, die sich nicht zuletzt manifestiert in Erscheinungen von Gewalt. Warum aber Erscheinungen von Gewalt? Doch wohl deshalb, weil durch eine Mentalität, die zur Herbeiführung chaotischer Zustände drängt, überhaupt jede zivilisatorische Ordnung negiert wird und daher die Gewalt als konsequentestes Mittel zur Auflösung von Ordnungen eben die Form ist, durch welche die Implikationen dieser Mentalität am angemessensten aktualisiert werden können.

Walter Laqueur, »A Reflection on Violence. On Murder, Politics, and the Contemporary Sense of Doom«, in: Encounter, April 1972, Vol. XXXVIII, No. 4, S. 10.

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Die Krise der Moderne II

Aus der Logik dieser Negation zivilisatorischer Ordnung durch eine moderne Mentalität ergibt sich auch eine Krise der politischen Legitimation dieser Ordnung. Denn in der Perspektive eines Denkens, das im Chaos seine wahre Gestalt erfährt, erscheint politische Herrschaft allenfalls noch zum Zwecke des physischen Überlebens, der individuellen wie kollektiven Selbstbehauptung legitim. Aber selbst eine derart eingeschränkte Legitimität der politischen Herrschaft zerbricht an der Logik der Modernität. Da das Instrument einer Selbstbehauptung, die allein um ihretwillen postuliert wird, nichts anderes sein kann als die Gewalt, trägt auch diese Selbstbehauptung zu nichts anderem als zu ihrer immer zwingender werdenden Notwendigkeit bei. Eine Politik der Gewalt ist allein insofern »legitim«, als sie fortgesetzt wird,

Die Differenz zwischen »Geschichte I« und »Geschichte II« Nach ihrem theoretischen Entwurf – wie er im fünften und sechsten Kapitel dieser Arbeit vorgestellt wurde – sollte die Zivilisation der Moderne vollendet werden in einem »Reich des Menschen auf Erden«, welches sich dadurch auszeichnen würde, dass in ihm alle Natur nichts anderes mehr als eine Erscheinung menschlicher Macht sei. Von diesem Entwurf fällt die Wirklichkeit der modern genannten Zivilisation ab. Alles Moderne erweist sich noch immer eher in einem Modus unausgesetzter Krisen als in dem Modus seiner zivilisatorischen Vollendung. Unter denen, die als Zeitgenossen der Moderne an deren Zukunft interessiert sind, kann es nun angesichts dieser Differenz zwischen der gedachten und der wirklichen Geschichte der Moderne – der »Geschichte I« und der »Geschichte II« – zwei unterschiedliche Reaktionen geben. Die einen werden dazu neigen, überhaupt an einer Vollendung der Moderne zu zweifeln, oder gar folgern, dass eine solche nicht mehr möglich beziehungsweise nie möglich gewesen sei. Die anderen werden in der Differenz den Anlass dazu sehen, alles zu tun, um die Modernität der modernen Zivilisation doch noch sicherzustellen. Und aus der Logik dieser Reaktion erwächst, wenn alle anderen Mittel versagen, zuletzt ein Verlangen nach Gewalt. Wenn Modernität stets ihre eigene Krise ist, ist die Zukunft einer Vollendung der Moderne unerreichbar. Alle Versuche, sie der Gegenwart näherzubringen, in der sich Modernität als Krise manifestiert, werden die 193 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Die Krise der Moderne II

Modernität nicht in ihrer Vollendung, sondern allein in noch intensiveren Krisen erscheinen lassen. Den Anlässen zu all diesen Versuchen werden nur noch neue hinzugefügt. Für die, die in diesen Zirkel ihrer Logik der Modernität geraten, wird schließlich die Gewalt die letzte Alternative gegenüber dem Eingeständnis des Scheiterns sein. Vielleicht, so könnten sie argumentieren, wird erst durch eine radikale Modernität – und das hieße dann: eine radikale Zerstörung der bestehenden Welt – die Möglichkeit für eine Vollendung der Moderne, für eine Welt des radikal Neuen, geschaffen. Angesichts der unaufhebbaren Differenz zwischen dem theoretischen Entwurfe einer modernen Zivilisation und deren je gegenwärtigen Wirklichkeit aktualisiert sich daher ein modernes Bewusstsein konsequent in der Form eines revolutionären Bewusstseins, das apokalyptisch oder messianisch, oder rein terroristisch, oder in der Weise einer Mischung aus diesen Modi aufgeladen ist. 2

Die Divergenz zwischen Kultur und Zivilisation In einem Aufsatz, der überschrieben ist: Tensions et distortions dans l’humanisme contemporain, diskutiert der französische Literaturund Kulturwissenschaftler Jean Onimus das Problem der Gewalt in der gegenwärtigen Welt der Moderne und bemerkt dazu Folgendes: »Die glücklichen, d. h. harmonischen Zivilisationen haben immer eine Kultur besessen, in der sie als umfassend und sinnhaft erscheinen konnten. So hat es, die Geschichte der Menschheit hindurch, ganzheitliche und vollständig harmonische Ordnungen gegeben. Die Gewalt – die es immer gegeben hat, gewiss – wurde dadurch eingedämmt, übertroffen durch eine höhere Eintracht. Es gab etwas, worauf sich alles bezog – sei es Vernunft, Ordnung, Natur, oder Gnade, Vorsehung, Heiligkeit. Es gab ein Ordnungsmuster, in dessen Licht die schlimmsten Erscheinungen von Gewalt fassbar wurden. Der Einzelne verwirklichte sich ohne Bruch in der Kultur, die ihm sein Jahrhundert bot: es gab eine Osmose zwischen Kultur und Zivilisation. So hat es, in der Zeit der Harmonie zwischen Kultur und Zivilisation, eine Übereinstimmung zwischen diesen beiden Kräften des Lebens gegeben. Die Stadt, das Werkzeug, die Arbeit die Wohnung reflektierten die Vgl. dazu die Kapitel »Das existentielle Extrem: Das revolutionäre Bewusstsein«, »Endzeit und Exodus«, und »Zeit der Propheten« in meinem Buch Modernität und Geschichte. Das Experiment der modernen Zivilisation, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990.

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Welt der Kunst, der Gefühle, der Religion, des Imaginativen. Und umgekehrt musste man nicht, um von der Welt der Kultur zur Welt der Zivilisation überzuwechseln, die Vision der Realität verändern. Was aber geschieht bei uns im Westen? Man sieht, wie da ganz besonders eine Gewalt anwächst, die von einer Vergrößerung dessen herrührt, was man den Neigungswinkel zwischen Kultur und Zivilisation nennen könnte. Denn bei diesen handelt es sich nunmehr um zwei einander entgegengesetzte Kräfte: eine Situation der Zerreißprobe, durch die eine gewissermaßen von innen nach außen wirkende Gewalt erzeugt wird, die uns – in ungeahnter Weise – krank und anfällig macht.« 3

Wenn man diese Ausführungen überdenkt, muss man sich dann nicht fragen, warum in der Welt der Moderne Kultur und Zivilisation »zwei einander entgegengesetzte Kräfte« und nicht, wie bei früheren gesellschaftlichen Ordnungen in »Übereinstimmung« miteinander sein sollen? Und wenn Kultur und Zivilisation in der Moderne voneinander divergieren und der »Neigungswinkel« zwischen ihnen größer wird, warum und inwieweit wäre dann diese wachsende Divergenz eine Quelle der Gewalt? Eine Welt der Moderne ist ein Paradox. Darauf eben macht Jean Onimus aufmerksam. Diese Welt trägt in sich ihren eigenen Widerspruch. Einerseits unterliegt ihr, insoweit sie modern ist, eine grundsätzliche Tendenz zur Auflösung von Ordnungen. Andererseits wird von den in ihr lebenden Menschen gleichwohl eine »Ordnung«, nämlich eine solche der elementaren Bedürfnisregelung oder besser: eine Ordnung des Überlebens aufrechterhalten. Eine Modernität, die im Bereich der »Kultur« tatsächlich bis zu dem Extrem einer regellosen Willkür gesteigert werden kann, wird im Bereich der »Zivilisation« beständig durch eben die Regeln widerlegt, die einem zivilisierten Zusammenleben von Menschen notwendigerweise zugrunde liegen müssen. Aus diesem prinzipiell unaufhebbaren Unterschied in ihrem Modernisierungsgrad rührt die Divergenz zwischen der Kultur und Jean Onimus, »Tensions et distortions dans l’humanisme contemporain«, in: Michel Amiot et al. (Hrsg.), La violence dans le monde actuel, Paris: Desclée de Brouwer, 1968, hier: S. 14 f. – Im selben Band schrieb Lucien Mugnier-Pollet in seinem Beitrag »Violence et Morale«: »Die Rechtfertigung, die man im Mittelalter der Gewalt geben konnte, ist rein negativ. Sie zielt auf eine Ausmerzung der Gewalt, die Unterdrückung des Bösen, sie beansprucht keine Positivität. Demgegenüber haben die Rechtfertigungen von Gewalt in der heutigen Welt einen neuen Charakter. Für die modernen Autoren scheint die Gewalt Positives zu gebären, und das Gute selbst sich nur zu verwirklichen wie das Sein seine volle Positivität nur zu erreichen, wenn es begleitet ist von Gewalt.« (S. 27 f.)

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der Zivilisation her. Die erstere ist immer moderner als die letztere. Oder umgekehrt gesagt: An den Zwängen der Zivilisation scheitern die Entwürfe der Kultur. Die Kultur wird durch die Zivilisation nicht nur in ihrer Wirkung aufgehalten, sondern auch unablässig auf ihren Ursprung zurückgeworfen: die Revolte gegen jede Ordnung. Einer Ordnung indes, der nichts anderes als ihr Zwangscharakter zugebilligt wird, steht eine Revolte entgegen, die sich gegenüber dieser Ordnung nur immer intensiviert. Doch beide Formen des Lebens – die Form einer zwanghaften Ordnung wie die Form einer sich steigernden Revolte – gehören einer Welt der Moderne in gleicher Weise an, indem sie beide das Paradox dieser Welt auflösen in das aus ihnen aufsteigende Potential von Gewalt.

Der Verlust gemeinsamer Überzeugungen oder: Der Zerfall der menschlichen Welt »Auf was gründen sich die Gesellschaften, die gemeinsamer Überzeugungen beraubt sind?«, fragte einmal der französische politische Theoretiker Raymond Aron. »Alle bekannten Zivilisationen«, so erklärte er, »haben in der Einheit einer Religion existiert. Als Bindemittel besaßen sie einen kollektiven Glauben. Doch die westliche moderne Zivilisation hat die religiöse Gemeinsamkeit verloren.« In dieser Leere, so fuhr Aron fort, breite sich dafür etwas anderes aus: »Eine Art von Kult der Gewalt.« 4 An der Feststellung Arons, dass moderne Gesellschaften nicht wie frühere Gesellschaften in einem »kollektiven Glauben« begründet sind, wird wohl kaum jemand zweifeln. Doch die Modernität dieser Gesellschaften stammt nicht alleine von einem Auseinanderbrechen früherer religiöser oder ideologischer Gemeinsamkeiten her. Vielmehr bedingt die Modernität einer Gesellschaft prinzipiell einen Mangel an gemeinsamen Überzeugungen, oder aphoristisch ausgedrückt: eine moderne Gesellschaft ist immer eine Gesellschaft ohne gemeinsamen Überzeugungen. Denn den Prinzipien einer modernen Anthropologie entspricht ganz folgerichtig eine menschliche Welt, die zertrümmert ist in lauter einzelne, voneinander losgelöste Individuen. In dieser Welt – unterlegt man einmal die Vorstellung ihrer vollen Verwirklichung – wird einerseits das Streben eines jeden Ein4

Raymond Aron, La révolution introuvable, Paris: Fayard, 1968, S. 44–47.

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zelnen nach höchstmöglicher Individualität gleichgesetzt mit dem Streben nach Vollkommenheit. Und andererseits wird die Zahl der Möglichkeiten zur Individualität für unendlich eingeschätzt, da es jedem Menschen freistünde, seine Natur als das Ergebnis seiner Selbstbestimmung je nach Belieben zu wählen. Eine moderne Gesellschaft – würde sie rein existieren – wäre demnach eine Gesellschaft ohne gemeinschaftliche psychisch-geistige Substanz. Sie wäre allein das Regelsystem für die Bewältigung der physischen Bedürfnisse ihrer Mitglieder, nicht aber der Ort und das Medium für ein gemeinschaftliches politisches Handeln von Menschen entsprechend den ihnen gemeinsamen, die Ordnung dieser Gesellschaft in ihrem Bewusstsein begründenden Überzeugungen. Wenn nun eine derart moderne Gesellschaft geschaffen werden soll, ergibt sich eine widersprüchliche Situation. Von den Menschen, die in einer solchen Gesellschaft leben, wird nämlich verlangt, dass sie einerseits die Ordnung dieser Gesellschaft als factum brutum akzeptieren und andererseits die gesellschaftliche Bedingung ihrer Existenz allein für sich selbst – gewissermaßen als geistiges Privatunternehmen – begründen. Im konkreten Fall wird dieser Widerspruch allerdings zumeist durch jene Legitimationsmuster überdeckt, die der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung entweder aus Tradition zugemessen oder unter dem Einfluss herrschender Eliten beigeheftet werden. Unter bestimmten Voraussetzungen, vor allem der einer ökonomischen Prosperität, mag dies auch hinreichen. Aufgehoben wird der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Existenz und privater Sinngebung dadurch natürlich nicht. Und er wird sicherlich politisch dann virulent, wenn die Institutionen einer Gesellschaft durch Ereignisse erschüttert werden, die ihnen ihre einzige Legitimation entziehen: ihre Funktionsfähigkeit. In solch einer Situation wird der bloß äußerlich überdeckte Zerfall der gesellschaftlichen Welt in lauter individuelle – oder höchstens: mikrokollektive – Sinngebungszonen gewiss zum Anlass für ein Verlangen nach Gewalt. Denn jede dieser individuellen Sinngebungszonen könnte im Prinzip die allgemeine sein, nämlich dann, wenn alle anderen in sie einbezogen worden sind. Wie aber könnte darüber anders entschieden werden als durch Gewalt? Natürlich wäre es möglich, die Ordnung der betreffenden Gesellschaft neu in einer Gemeinsamkeit von Überzeugungen der Menschen zu gründen, die in ihr leben. Eben dies würde indes einen Verzicht auf das »Prinzip Modernität« erfordern. Denn dieses lässt eine Sinnhaftigkeit der gesellschaftlichen Welt jen197 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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seits der privaten Selbstbestimmung der einzelnen Individuen nicht zu.

Die Krise des Ich Am Ende seines Werkes L’être et le néant spricht der französische Schriftsteller Jean-Paul Sartre von der »Leidenschaft« des Menschen, zum Grund der eigenen Existenz zu werden: »Jede menschliche Wirklichkeit ist eine Leidenschaft, insofern sie entwirft, sich selbst zu vernichten, um das Sein zu gründen und um zugleich das AnSich zu konstituieren, das als sein eigener Grund der Kontingenz entgeht, das Ens causa sui, das die Religionen Gott nennen. Die Leidenschaft ist somit die Umkehrung der Leidenschaft des Christus, denn der Mensch richtet sich als Mensch zugrunde, damit Gott entstehe. Aber die Idee Gottes ist widerspruchsvoll, und wir richten uns umsonst zugrunde: der Mensch ist eine nutzlose Leidenschaft.« 5

Sartre frappiert: er beschreibt den Menschen als einen zukünftigen Gott, und doch identifiziert er die menschliche Gottwerdung mit der Katastrophe der menschlichen Existenz. Warum? Die überraschende Sartre’sche Deutung der menschlichen Leidenschaft, Gott zu sein, erklärt sich sicherlich aus mehreren Gründen. Hier soll nur der eine Grund hervorgehoben werden, welcher zusammenhängt mit dem, was im Folgenden behandelt werden soll unter dem Thema: die Krise des Ich. Indem er den existentiellen Selbstentwurf des Menschen gleichsetzt mit dem Prozess einer Gottwerdung, reiht sich Sartre in die moderne Tradition anthropologischen Denkens ein, die zurückgeht auf die in der Renaissance geführte – und im fünften Kapitel dieses Buches behandelte – Debatte über die Würde und das Elend des Menschen. Damals stellte Giovanni Pico della Mirandola das Programm einer menschlichen Selbstvergottung auf, ohne dabei auch nur ungefähr davon zu sprechen, dass eine Gottwerdung des Menschen »nutzlos« sei. Im Gegenteil: er konnte sich nicht genug daran tun, all seine Begeisterung zu äußern über dieses magnum miraculum, das der Mensch, der zum Gott Berufene, sei.

5 Jean-Paul Sartre, L’être et le néant (1934), dt.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg: Rowohlt, 1962, S. 770.

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Wenn nun Sartre ebenso wie Pico von einer Gottwerdung des Menschen spricht, behandelt er zwar auf topischer Ebene nichts weiter als das mittlerweile klassische Thema einer modernen Anthropologie. Auf der exegetischen Ebene hingegen macht er das klassische zu einem kontroversen Thema, indem er diese »Leidenschaft« nach einer göttlichen Existenz, durch die er den Menschen schlechterdings charakterisiert, eine »nutzlose« nennt. Man hält zwar am modernen Verständnis des Menschen fest, kann sich darüber aber keineswegs mehr begeistern, denn man verbindet mit ihm die Erfahrung des Absurden. Dieser Unterschied erklärt sich aus der Geschichte des modernen Ich. Denn die moderne Idee des Menschen, der ein Gott im Werden sei, wurde vom 17. Jahrhundert an zusehends in den Begriffen Moi, Ego, Ich, das Selbst symbolisiert, und in dieser Form zu einer umfassenden Theorie einer modernen menschlichen Existenz entfaltet. Nach Pascals berühmter Pensée über das Ich will sich dieses zum »Mittelpunkt von allem« (centre de tout) machen. 6 Und dieses würde deshalb, so erklärt Pascal, alles daransetzen, damit seiner Macht nichts entgehe oder aber das, was ihm widerstehe, zerstört werde. Wer ein Gott sein will, aber noch keiner ist – so könnte man das Problem der menschlichen Gottwerdung von Pascals Pensée her näher bestimmen –, muss sich erst noch der Welt bemächtigen, deren Gott er überhaupt sein will. Wenn denn das Ich von Menschen als die Form ihrer Existenz gewählt wird, ergibt sich offenkundig ein grundsätzlicher Machtkonflikt. Jede und jeder dieser Menschen erhebt – als ein »Ich« – für sich den Anspruch, der »Mittelpunkt von allem« zu sein. Und doch kann dies von allen nur eine oder einer sein. Hinsichtlich der sozialen Praxis könnte man auch formulieren: für jede und jeden dieser Menschen ist es normal, den Anspruch auf eine totale Befriedigung ihrer oder seiner Bedürfnisse zu erheben, obwohl dieser Anspruch allenfalls für einige erfüllt werden kann. Von daher zeigt sich, warum das Ich als Form menschlicher Existenz unausweichlich in eine Krise verfällt. Es ist einerseits zunächst nur vorhanden in dem Modus all der Ansprüche, die von ihm ausgehen, aber noch nicht erfüllt sind. Es ist andererseits daran gehindert, sich eigentlich zu verwirklichen, da seine Ansprüche mit anderen Ansprüchen kollidieren und der Widerstand, auf den es trifft, 6

Blaise Pascal, Pensées, fg. 100, Édition Brunschvicq, Paris: Garnier, 1960, S. 101 f.

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umso größer wird, je mehr es diesen durch seine Expansion provoziert. So kann es nur in der Krise wirklich werden, im Zustand jener andauernden Gefährdung, die es sich selber in der Form dieses Widerstands durch die ihm eigene Tendenz zur potentiell unbegrenzten Ausdehnung schafft. Aber da ein Nachgeben gegenüber diesem Widerstand, und das hieße: eine nur partielle Erfüllung seiner Ansprüche dem Verzicht gleichkäme, ganz ein Ich zu sein, ist es natürlich versucht, dem drohenden Scheitern durch eine noch größere Aggressivität bei der Durchsetzung seiner Ansprüche zu entkommen. Doch daraus folgt allein eine Eskalation von Expansion einerseits und Widerstand andererseits. Und diese führt schließlich dazu, dass in ihm der Wille, Ich zu sein, und die Aggressivität, das Verlangen nach Gewalt, konvergieren. Wenigstens im Moment der Zerstörung kann es ein einziges Mal das beherrschen, was sich seinem Machtanspruch sonst entzieht. Wenn Menschen ihre Existenz in der Form des Ich zu verwirklichen suchen, stellt sich ihnen nicht nur das Problem dieses allseitigen Machtkampfes, der davon herrührt, dass den Status eines gottgleichen Ich logisch immer nur eine oder einer, wenn irgendjemand, einnehmen kann. Es stellt sich ihnen auch das Problem, überhaupt noch begreifen zu können, was man als Mensch eigentlich ist, wenn man ein Ich ist. Zum einen könnte gesagt werden: das Ich ist Macht. Aber wenn jemand alle Macht besitzt, erklärt dies noch nicht das Wesen ihrer oder seiner Existenz. Denn wer wiederum ist es, der da Macht ausübt? Man könnte zum anderen sagen: das Ich ist Gott. Aber die Idee Gottes im Modus menschlicher Selbstvergottung, so sagt Sartre, ist »widerspruchsvoll«. Zumal, wenn dieser Gott noch im Werden ist und sich als Mensch erst vernichten muss, »um das Sein zu gründen und um zugleich das An-sich zu konstituieren, das als sein eigener Grund der Kontingenz entgeht«. Eine wahrlich widerspruchsvolle Idee. Da ist ein »Gott«, der nichts ist, und von dem nichts ist, und der doch Ausfluss seiner selbst wie aller Wirklichkeit sein soll. Was also ist das Ich? Auch wenn die Antwort auf diese Frage fehlt, wird man eines sagen können: das Ich ist das, wozu sich der sich vergöttlichende Mensch entwirft (oder in Picos Worten: »Wir sind unter der Bedingung geboren, das zu sein, was wir sein wollen.«) Und man könnte, gewissermaßen beruhigt, hinzufügen, dass der Mensch im Prozess dieses autonomen Selbstentwurfs zwar noch nicht ein Gott sei, aber doch schon wie ein solcher handle. Indes hat 200 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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sich das Problem nur auf eine andere Ebene verlagert, auf der es noch schärfer hervortritt. Die Freiheit des Menschen zum autonomen Selbstentwurf ist die Freiheit der menschlichen Phantasie. Die Möglichkeiten der menschlichen Imagination, Bilder einer menschlichen Existenz zu entwerfen, sind aber potentiell infinit. Das Ich ist zwar das Ergebnis eines autonomen Selbstentwurfs des Menschen, aber wo ist es unter den unzähligen Bildern in den unendlichen Räumen der menschlichen Imagination? Die Idee Gottes als vergöttlichter Mensch ist absurd. Denn wer immer seine Existenz in der Form des Ich als Ergebnis seiner Einbildungskraft zu verwirklichen sucht, wird die Erfahrung des Absurden machen. Nämlich die Erfahrung, sich in etwas zu entwerfen, das sich in die Unendlichkeit seiner möglichen Formen entzieht. Und wieder wird aus dieser Erfahrung ein Verlangen nach Gewalt entstehen. Dann, wenn sie gewahr wird als Erfahrung einer so recht nutzlosen Leidenschaft, aus der sich keine Göttlichkeit, wohl aber die Verzweiflung nährt, nicht sein zu können, was man sein wollte, ein göttliches Ich.

Entgrenzung und Imagination Im letzten Kapitel seiner Studie L’homme révolté, die einer »erstaunlichen Geschichte«, nämlich der »Geschichte des europäischen Stolzes« gewidmet ist, 7 schrieb Albert Camus: »Die Menschen Europas, dem Schatten seiner Geschichte ausgesetzt, haben sich abgewandt vom festen und strahlenden Punkt der Gegenwart. Sie vergessen die Gegenwart über der Zukunft, die lebendige Verbindung untereinander über der Illusion der Macht, das Elend der Vorstädte über einer Stadt ewigen Glanzes, die tägliche Gerechtigkeit über einem leeren Land der Verheißung. Sie verzweifeln an der Freiheit einzelner Personen, und träumen von einer seltsamen Freiheit der Gattung; sie weisen die Erfahrung des einsamen Todes von sich und verleihen einer gewaltigen kollektiven Agonie den Namen Unsterblichkeit. Sie glauben nicht mehr an das, was ist, an die Welt und den lebendigen Menschen; Europa liebt nicht mehr das Leben, das ist sein Geheimnis. Diese Blinden haben in kindischer Weise geglaubt, dass es darauf hinausläuft, Jahrhunderte der Unterdrückung zu rechtfertigen, wenn sie einen einzigen Tag des Lebens lieben. Das ist der Grund, warum sie von der Oberfläche der Erde die Freude verbannen wollen, um sie erst 7 Albert Camus, L’homme révolté, in: ders., Essais, Hrsg. Roger Quilliot, L. Fancon, Paris: Gallimard 1965, S. 420.

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wieder viel später zuzulassen. Die Ungeduld gegenüber Grenzen, die Weigerung, beide Seiten ihrer Existenz zu sehen, die Verzweiflung, Mensch zu sein, haben sie schließlich in eine unmenschliche Maßlosigkeit geworfen. Die wahre Größe des Lebens verneinend, mussten sie dagegen ihre eigene Vortrefflichkeit setzen. In Ermangelung von etwas Besserem haben sie sich vergöttlicht und ihr Unglück begann: denn diesen Göttern sind die Augen ausgestochen.« 8

In wenigen Worten erklärt Camus, warum er die Geschichte des modernen Europa eine »Geschichte des europäischen Stolzes« nennt. Aus ihrem Studium gewann er die Einsicht, dass die Menschen Europas bei einem rebellischen Aufbruch zu imaginären Zielen die Grenzen überschritten, die ihnen als Menschen gesetzt sind, und dass sie dabei einer Verblendung verfielen, die sie blind für das Maß des Lebens und der Dinge macht. Halten wir uns etwas bei dem Begriff »Grenze« auf, den Camus als den kritischen Begriff seiner Analyse benützt. Denn er ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der Moderne. Wie hier im sechsten Kapitel zu zeigen war, wurden die frühmodernen Vorstellungen von einer Herrschaft des Menschen über die Natur ausdrücklich zu dem Zweck entwickelt, die menschliche Macht über die Dinge der Welt soweit wie nur möglich auszuweiten. Diesem Vorsatz, die menschliche Macht zu entgrenzen, entsprach das parallele Bestreben, auch die conditio humana durch den Prozess eines gänzlich voraussetzungslosen Selbstentwurfs des Menschen zu entgrenzen. Und in beiden Fällen wurden die Ergebnisse der Entgrenzungen vorweg genommen in der Imagination. Zum einen mit der Vorstellung einer dem Menschen eigene und ihm ganz untertane Welt (das regnum hominis). Zum anderen mit der Vorstellung, der Mensch sei auf einzigartige Weise vortrefflich und darin Gott gleich. Doch mit diesen Entgrenzungen wurden nicht Grenzüberschreitungen von der Gegenwart zur Zukunft, von der dem Menschen vorgegebenen zu einer dem Menschen gefügigen Welt, sondern allein Grenzüberschreitungen von der Wahrnehmung der Realität zur Irrealität der Imagination vollzogen. Die Entgrenzungen waren allein imaginäre Entgrenzungen. Noch immer wurde die Situation des Menschen von der Wirklichkeit dieser Welt und der Wirklichkeit des Lebens umgriffen, also begrenzt. Von Menschen, die ihrer »Ungeduld gegenüber Grenzen« folgen, kann so denn zurecht gesagt wer8

Ebd., S. 708.

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den, dass sie zwangsläufig in eine »unmenschliche Maßlosigkeit geworfen« werden, nämlich in den Konflikt ihrer Imagination mit der Wirklichkeit. Ihr Handeln vollzieht sich zwar noch immer innerhalb der Wirklichkeit, die ihrem Handeln Grenzen zieht. Aber sie handeln so, als ob diese Grenzen aufgehoben worden wären. Sie handeln bei »ausgestochenen Augen«, da sie, geblendet von ihrer Imagination gegenüber der Realität, die in der Wirklichkeit gezogenen Grenzen, die Strukturen zwischen den Dingen, deren Maße nicht mehr wahrnehmen. Sie handeln maßlos, d. h. ohne Orientierung; d. h. aber auch in einer blindwütigen Maßlosigkeit. Und eben diese Maßlosigkeit richtet sich gegen die Wirklichkeit, innerhalb derer sie sich selber weiter befinden, und also gegen die Grenzen stoßen, die darin jedem Menschen noch immer gesetzt sind. Ein Konflikt mit der Wirklichkeit in der Wirklichkeit kann aber nicht anders ausgetragen als durch Gewalt. Durch ein Handeln, das darauf abgestellt ist, diese Wirklichkeit zu vernichten, welche die Grenze ist für die Wirksamkeit der menschlichen Einbildungskraft.

Die intellektuelle Konstituierung eines Klimas der Gewalt In seinen Manifestes du surréalisme (1924, 1930) erläutert der französische Dichter André Breton als maßgeblicher Theoretiker des Surrealismus was dieser sei, wie er hervorgebracht, und was mit ihm beabsichtigt werde. Und er stellt seinen Erläuterungen das eine wesentliche Prinzip von Modernität voraus: die Freiheit des Menschen, zu denken, was ihm einfällt, und zu tun, was ihm beliebt, ist identisch mit der Freiheit seiner Imagination und diese ist absolut. 9 Breton begreift daher den Surrealismus als einen automatisme psychique pur, durch den die »wirkliche Tätigkeit des Denkens« (fonctionnement réel de la pensée) frei von jeglicher Kontrolle durch die Vernunft und frei von jeglicher ästhetischen oder moralischen Befangenheit dargestellt werde. 10 Und aufgrund dieser inhaltlichen Bestimmung versteht er den Surrealismus als eine epochale Erscheinung in der Geschichte des menschlichen Denkens. Denn beim Surrealismus gehe es ja darum, der Imagination des Menschen zu ermöglichen, sich an André Breton, Manifestes du surréalisme, Manifeste du surréalisme (1924), Paris: Gallimard, 1972, S. 12 ff. 10 Ebd., S. 37. 9

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allen Dingen zu rächen; es gelte jetzt, nachdem der menschliche Geist über Jahrhunderte domestiziert und in einer törichten Ergebenheit gehalten worden sei, eben diese menschliche Imagination endgültig zu befreien. 11 Im Sinne dieses Programms interpretiert Breton den Surrealismus als Provokation; in intellektueller und moralischer Hinsicht, so erklärt er, ziele der Surrealismus auf nichts so sehr ab wie auf eine »Bewusstseinskrise« (crise de conscience) von der allgemeinsten und schwerwiegendsten Art. 12 Diese Absichtserklärung ist konsequent, denn eine Befreiung der menschlichen Imagination von allem Zwängen und das heißt vor allem von der Bindung an eine rational kontrollierte Wahrnehmung der Realität kann erst dann einsetzen, wenn das menschliche Bewusstsein erschüttert und in seiner kritischen Funktion ausgesetzt worden ist. Dann nämlich, wenn im menschlichen Bewusstsein die Grenzen zwischen Irrealität und Realität, zwischen Imagination und Wahrnehmung verwischt worden sind, wird der Surrealismus zu einer disposition d’esprit 13 werden können: zu dem teilnahmslosen Spiel des Denkens unter der Allmacht des Traumes. 14 Doch die Befreiung der menschlichen Imagination würde noch lange nicht vollendet sein, wenn sie es bei einer Herrschaft des Traumes im Bewusstsein des Menschen beließe. Solange wie die Allmacht des Traumes beschränkt bliebe auf die Sphäre des Bewusstseins und sich nicht ausdehnte auf die Wirklichkeit, so lange wäre auch die menschliche Imagination noch nicht endgültig befreit. Breton erhofft sich deshalb eine zukünftige »Aufhebung« von Traum und Wirklichkeit in einer »Art absoluter Realität«, in einer surréalité, wie er es nennt, 15 wobei er allerdings das »Wirkliche« an dieser surréalité ausdrücklich mit dem »Phantastischen« identifiziert. »Das Bewunderungswürdige am Phantastischen ist«, so schreibt er, dass es hier nichts Phantastisches mehr gibt: es gibt nur Wirkliches.« 16 Wie aber werden der Traum und die Wirklichkeit aufgehoben in einer surréalité? Sicherlich nicht durch die reinen Akte eines imagi-

11 12 13 14 15 16

Ebd., S. 135. Ebd., S. 76. Ebd., S. 79. Ebd., S. 37 f. Ebd., S. 23 f. Ebd., S. 25.

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nären Denkens, denn in dem, was sie bloß als Einbildung ist, wird die Imagination ja nur zurückgedrängt auf sich selbst – also nicht befreit. Vielmehr müssten wohl die Akte des Träumens zu Akten in der Wirklichkeit werden; es müssten Handlungen erfolgen, durch welche die Imagination freigesetzt wird, indem die Wirklichkeit aufgebrochen wird. Als er die manifestes du surréalisme verfasste, beabsichtigte Breton wohl nicht, den Surrealismus als eine Theorie der Gewalt zu begründen. Sein primäres Anliegen war die Befreiung der menschlichen Imagination. Doch in seiner Exegese des Surrealismus, den er als den Modus dieser Befreiung begriff, zeigte sich schließlich, dass die Gewalt – d. h. jede Handlung, welche die Imagination befreit, indem sie Wirklichkeit aufbricht –, diejenige Ausdrucksform ist, in der ein Surrealismus (wie der von Breton erdachte) am konsequentesten hervortritt. Und durchaus als ein Vertreter des »teilnahmslosen Spiels des Denkens«, schreckte Breton denn nicht davor zurück, die folgenden berühmt gewordenen Sätze über den Surrealismus zu formulieren: »Der Surrealismus hat keine Scheu, sich zu einer Lehre der absoluten Revolte, des totalen Ungehorsams, der regelrechten Sabotage zu machen, und er richtet überdies seine Hoffnungen auf nichts als die Gewalt. Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und aufs Geratewohl, so viel wie man nur kann, in die Menge zu schießen.« 17

Wenn man Bretons Exegese folgt, wird durch den Surrealismus, genauer: in dessen Einflussbereich, intellektuell ein Klima der Gewalt konstituiert. Man würde den entscheidenden Punkt bei dem von Breton angebotenen Beispiel für die »einfachste surrealistische Handlung« übersehen, wenn man sich an dem Beispiel selber festhaken und es als wörtlich zu nehmende Aufforderung verstehen würde, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings in die Menge zu schießen. Breton selber hat dies nicht getan, und er hielt sich doch gewiss für einen Surrealisten. Viel schwerwiegender ist diese allgemeine Aussage über den Surrealismus, die Breton mit seinem Beispiel illustriert: die surrealistische Befreiung der Imagination facht eine ihr entsprechendes Verhalten an und dieses Verhalten ist angewandte Gewalt. 17

Ebd., S. 78.

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Denn unter der Voraussetzung dieser Gleichung zwischen einer Befreiung der Imagination und einer Praxis der Gewalt ist die Gewalt zu dem Ethos des Menschen avanciert, der die Freiheit seiner Imagination gleichsetzt mit der Freiheit seiner Existenz. Sie erhält eine anthropologische Qualität. Ihre Anwendung ist die Verwirklichung der menschlichen Freiheit. Natürlich wäre es falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass eine Freiheit seiner Imagination nur erfahren kann, wer ein Gewalttäter ist. Denn man kann diese Erfahrung ja auch schon machen, indem man beispielsweise Erstarrungsformen in der Sprache oder in der Kunst aufbricht, gesellschaftliche Tabus durchstößt, oder bei einer gewalthaften Demonstration einen Satz auf eine Mauerwand schmiert wie diesen: »Je casse, donc je suis.« – »Ich mache kaputt, also bin ich.« 18 Was aber geschieht, wenn – was der zuletzt zitierte Satz nahelegt – die Gleichung zwischen Befreiung der Imagination und Praxis der Gewalt umgekehrt gelesen wird, und von einer jeden Praxis der Gewalt überhaupt erwartet wird, dass sie eine Befreiung der Imagination und also eine Freiheit menschlicher Existenz erbringt? Man wird, setzt man diese Gleichung einmal voraus, kein Argument gegen diese umgekehrte Lesart vorbringen können. Im Gegenteil: in dem intellektuellen Klima der Gewalt, das ja eben erkannt wurde in der Gleichung zwischen einer Befreiung der Imagination und einer Praxis der Gewalt, erscheint es durchaus als rechtens, diese Gleichung ebenso vom Ausgangspunkt der praktizierten Gewalt wie vom Ausgangspunkt der sich befreienden Imagination aus aufzufassen. Wenn von der Lehre ausgegangen wird, dass die Freiheit der Imagination und also die Freiheit der eigenen Existenz erwirkt werde in einer Praxis der Gewalt, wer kann dann noch angesichts einer konkreten Gewalthandlung sagen, ob nun gerade diese der Befreiung der Imagination und nicht einem ganz anderen Zwecke, etwa der Machtlust oder der Abtötung von Frustration, diene? Und wenn von der Person, die diese Gewalthandlung vollführt, behauptet wird, sie bezwecke mit ihrer Tat allein eine Befreiung ihrer Imagination und da-

Am Nachmittag des 14. Juni 2016 kam es in Paris bei einem Demonstrationszug entlang des Boulevard du Montparnasse zu gewalthaften Exzessen. Dabei brachte jemand den zitierten Satz an der Wand eines vor kurzem gänzlich renovierten Gebäudes an. Er wurde am selben Tag von einem Bekannten des Autors fotografisch dokumentiert. Nach drei Tagen war er übertüncht.

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mit ihrer Freiheit als Mensch, wer kann dann noch diese Behauptung widerlegen? So dürfte vielleicht deutlich werden, was ein Klima der Gewalt hervorbringt: dort, wo es herrscht, sind die Kriterien suspendiert, anhand derer es möglich wäre, Gewalt als Gewalt zu identifizieren. Alle Gewalthandlungen gelten in ihm potentiell als »humane«, d. h. als solche Handlungen, durch welche die menschliche Freiheit erwirkt und ausgeübt wird. Man müsste den Anspruch auf diese Freiheit ablehnen, um sich dem Anspruch auf Gewalt überhaupt widersetzen zu können. Oder anders formuliert: in einem Klima der Gewalt ist es nicht länger möglich, zu unterscheiden zwischen einer Praxis der Gewalt und einer Praxis der Humanität.

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Kapitel 9 Gestalt in der Moderne: Das konstitutionelle Regime

Es gibt keine Freiheit, ohne eine Organisation der Freiheit. François Mitterrand, Interview, Libération

Bringt man die programmatischen Inhalte des modernen Bewusstseins auf einige Schlagworte, so wären es diese: wir können, was zu können wir uns ausdenken; wir erschaffen, was zu erschaffen wir uns vornehmen; wir vollführen, was uns zu vollführen fasziniert. Nichts ist uns ferner als eine Grenze für die Ausweitung unseres Vermögens, zu erlangen, was wir erlangen wollen, zu besitzen, was zu besitzen uns gefällt, zu genießen, was uns zu genießen vergnügt. Alles ist uns verfügbar, nichts ist vor uns gefeit. Und wird uns von einer Grenze oder Grenzen überhaupt gesprochen, so überhören wir es, oder weisen es zurück. Grenzen gehören nicht in unsere Zivilisation, die moderne. In solchen oder ähnlichen Losungen spiegelt sich das moderne Bewusstsein in der Form einer Ideologie. Über die intellektuelle Entwicklung und die gesellschaftliche Verdichtung dieser Ideologie wurde in den vorangegangenen Kapiteln berichtet. Wie über die Skepsis, auf welche die Moderne nunmehrig aus sich heraus stößt, und über die unausgesetzte Krise, die sie wie eine Bedingung ihrer selbst in sich birgt. Dabei schien auch verschiedentlich das Thema »Grenze« oder »Grenzen« auf, schält es sich doch ganz logisch in einer Bestimmung von Modernität heraus. Ihm ist in einer Diskussion der Moderne nicht zu entgehen, und es wird uns, die fragenden Gefährten des modernen Zeitalters, nicht verlassen. Wer immer, einfach durch empirische Beobachtungen dazu angespornt, etwa Überlegungen anstellt hinsichtlich zivilisatorischer Bestände, die den Einschlag der Moderne gewissermaßen überlebt haben beziehungsweise über jene womöglich hinausweisen (und es gibt, schauen wir uns um, nicht wenige solcher Überlegungen), setzt bei dem Thema »Grenze« an. Gibt es, so löst sich aus der Erfahrung der Moderne die Frage heraus, vielleicht doch Gestalten menschlicher Existenz, die in der 208 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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Irregularität der Moderne für sich bestehen und der Irregularität nicht teilhaftig sind? Wir haben an anderen Stellen diese Frage behandelt, uns dabei jedoch vorwiegend mit zivilisatorischen Gegebenheiten befasst, die Alternativen zur Moderne darstellen, insoweit als sie ihr entgangen sind oder dafür aufgeboten wurden, sie zu durchkreuzen, oder auf ein ihr gänzlich gegenläufiges politisches Paradigma verweisen. 1 In dem Kapitel, das nun folgt – und es wird das abschließende dieser Studie sein – möchten wir eine Besonderheit am zivilisatorischen Unternehmen der Moderne thematisieren, die, gemessen an der Ideologie der Moderne, gewiss erstaunlich ist. Es ist, so wäre dazu zuerst zu sagen, allseits bekannt, dass die Moderne eine überaus bedeutende Errungenschaft politischer Zivilisation hervorgebracht hat. Diese wird im Deutschen mit dem Begriff »Verfassungsstaat« bezeichnet, im Englischen wird sie benannt als »constitutional government«, im Französischen als »régime constitutionnel«. Ihr Leitmotiv ist eine originäre Eingrenzung aller politischen Macht und, jener folgend, eine fortwährende Kontrolle der Ausübung von politischer Macht. Alles Regieren soll gebunden sein an eine vorgegebene Gestalt, die Verfassung, sowie an die aus der Ausführung der Verfassung hervorgegangenen Gesetze. Die Regierenden sollen bei ihrem Regieren grundsätzlich und anhaltend eingefriedet sein – von den Grenzen, die nach der Verfassung und den Gesetzen allem Ausüben politischer Macht gezogen sind. Grenzen? Ja, Grenzen. Es verhält sich wirklich so. Mitten in die Moderne, diesem zivilisatorischen Unternehmen über jedwede Grenze hinaus, ist ein Komplex von Grenzen eingebracht. Es ist die Gestalt des konstitutionellen Regimes. Diese, wie gesagt, ist uns bekannt. Aber mögen wir über ihr Vorhandensein inmitten der Moderne nicht auch verwundert sein? Grenzen, wo es keine Grenzen geben soll? Vgl. Tilo Schabert, »Moderne Architektur – und die Hütten der Epigonen. Menschliches Bauen als politische Kunst der Vergangenheit« in: Der Monat, 30. Jg., H. 2, Dez.1978, S. 127–133; »The Roots of Modernity« in: The Independent Journal of Philosophy, Vol. IV, 1983, S. 27–30; »Zwischen Hybris und Humanität. Die Krise des Menschen im 20. Jahrhundert« in: Das heutige Menschenbild, Hrsg. Maja Svilar, Bern: Peter Lang, 1989, S. 235–255; Modernität und Geschichte. Das Experiment der modernen Zivilisation, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990, inbes. Kap. VIVIII; »Inszenierung der Metropolis. Der ›Chaosmos‹ städtischer Architektur« in: Universitas, 50. Jg. Nr. 584, Febr. 1995, S. 130–140; Die Architektur der Welt. Eine kosmologische Lektüre architektonischer Formen; Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz, Freiburg-München: Alber, 2009.

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Grenzen, die geplant ins Politische geschnitten sind? Grenzen zu einer Gestalt politischer Zivilisation, die in diesen Grenzen ihre Bestimmung hat? Wie zeigt sich, so fragen wir uns, die Moderne hier, in einer Errungenschaft, die gewiss von ihr erzeugt worden und doch ganz anders als ihre anderen Effekte ist?

Der einzuhegende Mensch Ein konstitutionelles Regime ist eine Manifestation menschlicher Selbstbeherrschung. Es geht ihm eine Anthropologie voraus, der zufolge Menschen auf ihr Verhalten hin einzuhegen sind. Diese Einhegung geschieht mit den politischen Gestaltungen ihrer Existenz. Sie werden über jene Gestaltungen und innerhalb derselben zu einem bestimmten Verhalten gebracht. In der Dimension politischer Macht vorgestellt, kann die Einhegung als ein Akt der Selbstbegrenzung bezeichnet werden. Es sind moderne Menschen, denen das konstitutionelle Regime gilt. Sie unterscheiden sich, was ihre menschliche Natur überhaupt betrifft, nicht von Menschen anderer Epochen. Sie fallen aus allgemeinen Menschenlehren, wie der platonischen oder der taoistischen beispielsweise, keineswegs heraus. Es ist wohl kaum eine Lehre vom Menschen ausgearbeitet worden, die von der menschlichen Natur nicht auch deren triebhaft zügellose Seite behandelt, und, ethisch gewendet, in die Anweisung an die Menschen mündet, sich selbst zu beherrschen. Was ist dann beim modernen Menschen anders? Seine Selbstdeutung. Und sein aus dieser folgendes Auftreten in der Welt. Er hält sich, wie wir sahen, für einen Herrscher durch und durch. Was ihn selbst betrifft, wie auch die Welt. Er glaubt aus allem entlassen zu sein, das ihm vorgegeben sein könnte. Was sollte ihn da noch halten, wenn er vor sich gewahr wird, was ihn zum Herrschen lockt? Dies erscheint nur, wie es ihm dünkt, zum Zwecke seines Zugreifens. Es hemmt ihn nicht. Im Gegenteil. Es bestätigt, was er um sich sieht: eine Welt entworfen aus Enthemmung. An Menschen vornehmlich dieser Art wurde gedacht, als das konstitutionelle Regime ersonnen und theoretisch ausgebildet wurde. Als Baruch Spinoza in seinem Tractatus Theologico-Politicus (1670) eine »Gemeinschaft« skizzierte, »wo die Herrschaft bei Allen ist, und die Gesetze nach allgemeiner Übereinstimmung erlassen werden«, 210 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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also »das Volk frei bleibt, weil es nicht nach dem Ansehen eines Andern, sondern nach seiner eignen Übereinstimmung handelt«, stellte er seinem Abriss einen anthropologischen Vermerk voran. Dieser hebt ganz auf eine Zügellosigkeit der Menschen und die Notwendigkeit ab, jene politisch unter Kontrolle zu bringen: »Wären die Menschen von Natur so angewöhnt, dass sie nur das wahrhaft Vernünftige verlangten, so bräuchte die Gesellschaft keine Gesetze, sondern es genügte die Unterweisung der Menschen in den moralischen Lehren, um freiwillig und von selbst das wahrhaft Nützliche zu tun. Allein die menschliche Natur ist ganz anders beschaffen; denn Alle suchen zwar ihren Vorteil, aber nicht nach der Vorschrift der gesunden Vernunft, sondern sie begehren in der Regel nur die Dinge im Antrieb von Lüsten und Affekten der Seele … Deshalb kann keine Gesellschaft ohne oberste Gewalt und Macht und folglich nicht ohne Gesetze bestehen, welche die Begierden der Menschen und die zügellose Hast mäßigen und hemmen.« 2

Dem klassischen theoretischen Text zur Errichtung eines konstitutionellen Regimes in Amerika, den Federalist Papers (1787–1788), unterliegt keine andere Anthropologie. »Die Leidenschaften [der Menschen]«, so heißt es in dem von James Madison verfassten 49. Artikel, »müssen von der Regierung beherrscht und reguliert werden«. 3 Denn sie sind keine »Engel«, wie Madison an einer überaus eindrücklichen Stelle im 51. Artikel erklärt. Sie sind vielmehr so beschaffen, schrieb er hier, dass die Notwendigkeit von Regierungen alles über sie sagt. »Aber ist nicht die Tatsache, dass es Regierungen gibt, schon an sich der bedeutendste aller Kommentare zur menschlichen Natur? Wenn die Menschen Engel wären, so bräuchten sie keine Regierung. Würden die Menschen von Engeln regiert, dann bedürfte es weder äußerer noch innerer Kontrollen der Regierenden. Richtet man indes ein Regierungswesen ein, bei dem es Menschen sind, die über Menschen regieren, dann besteht die große Schwierigkeit darin: man muss zu-

Spinoza, Tractatus Theologico-Politicus, Kap. V. Zitiert nach der Ausgabe: The Federalist Papers. Alexander Hamilton. James Madison. John Jay, Hrsg. Clinton Rossiter, New York-Toronto: The New American Library 1961, S. 317. – Madisons anthropologisch-politische Beobachtung trifft mit der zusammen, die Alexander Hamilton in dem von ihm verfassten 72. Artikel äußerte: »Das Begehren nach Belohnung ist einer der stärksten Antriebe im menschlichen Verhalten; die beste Vorkehrung für die Verlässlichkeit von Menschen besteht darin, ihr Interesse mit ihrer Pflicht in Übereinstimmung zu bringen.« (a. a. O., S. 437). – Macht, so erklärte Madison im 48. Artikel ist von »ausgreifender Natur« (a. a. O., S. 308). 2 3

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erst die Regierung befähigen, die Regierten zu beherrschen, und sie dann zwingen, sich selbst in ihrer Macht zu beschränken.« 4 »Warum überhaupt«, fragt Alexander Hamilton im 15. Artikel, »ist das Regieren eingeführt worden?«. Die »Leidenschaften der Menschen«, so antwortet er, »entsprechen ohne Zwang nicht den Weisungen von Vernunft und Gerechtigkeit.« 5 Das konstitutionelle Regime ist ein Programmieren menschlicher Selbstbeherrschung, Dieses Programmieren ist aber nur dann erfolgreich, wenn es selbst wieder ein Akt des Selbstbegrenzens ist. Die Einhegung des Menschen muss auch die Menschen einhegen, durch welche die Einhegung geschieht. Denn auf den Menschen für sich ist kein Verlass: »Aber das ist doch eine seit ewig bekannte Erfahrung«, so hielt Montesquieu in seiner Schrift Vom Geist der Gesetze (De l’Esprit des Lois) fest, »dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu verleitet wird, sie zu missbrauchen.« 6

Ihre Körper umfangen und bestimmen die Menschen Vor jeder Ausformung einer Anthropologie erkennen die Menschen zuallererst die politische Bewandtnis ihrer körperlichen Existenz. Sie sind aufeinander bezogen vom Anbruch ihres Erscheinens her in einer von Körpern gebildeten Welt. 7 Sie beanspruchen darin für ihre Körper je für sich Raum, und es gibt all die anderen, die dies gleichfalls tun. Sie müssen sich denn räumlich arrangieren, Körper zu Körper hin. Ihre Körper haben sie darüber belehrt. Sie leiden Not, verlangen nach Nahrung, Kleidung, einem Unterkommen. Sie müssen denn für sich sorgen, und ihre Körper belehren sie wieder: die Sorge ist weit besser zu tragen, wenn sie eine gemeinschaftliche ist. Sie sind mit ihren Körpern, je für sich, jedem anderen Körper ausgesetzt; sie können in ihren Körpern mit ihren Körpern behelligt, verletzt, gefangen genommen, getötet werden. Sie müssen sich denn schützen, auf dass ihre körperliche Existenz unversehrt bleibe. Ihre Körper, so

a. a. O., S. 322. a. a. O., S. 110. 6 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (De l’Esprit des Lois), Buch XI, Kap. IV. 7 Siehe dazu ausführlicher das Kapitel »Im Körper«, in: Die zweite Geburt des Menschen, S. 32–51. 4 5

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sagen ihnen diese, sind ein Gut, das es nur uneingeschränkt geben kann. Es definiert eine absolute Grenze. Das konstitutionelle Regime dient dieser Grenze. Es ist auf diese hin konstruiert. Das Gut im Zentrum der Konstruktion ist die Freiheit. Sie ist die politische Auslegung der Grenze, die alle Menschen in der Antwort auf die Lehren ihrer Körper eint. Ob sie sich als moderne Menschen verstehen oder nicht. In der Konstruktion des konstitutionellen Regimes schuf die Moderne eine Gestalt, die ganz die ihre ist und doch schon immer vorhanden war: in den Körpern von Menschen, die des Gutes wegen, das jeder Körper kundgibt, den von ihren Körpern ausgehenden Anspruch frei begrenzen.

Souveräne Existenz, das heißt Freiheit – in der Figuration der Vielen Alle Menschen sind in ihren und mit ihren Körpern souverän. Sie sind, um existieren zu können, zu einer körperlichen Unversehrtheit konstituiert, und für diese Konstitution tritt jede und jeder von ihnen für sich allein auf. Sie sind, je für sich, Souverän ihrer individuellen Existenz. Jeder, jede gehört nur sich selbst. Das ist die den Menschen anfänglich gegebene konstitutionelle Freiheit. Sie sind zu einer Freiheit in der Ausübung ihrer Existenz verfasst. Numerisch gesehen, heißt dies: jeder Mensch, alle Menschen sind zu dieser Freiheit verfasst. Alle. Und das heißt: viele. Freiheit stößt so denn auf Freiheit, in einem Lebenskreis, in dem sie sich alle bewegen. Ihre individuelle Souveränität schließt keine Souveränität über andere ein und gleichfalls gebieten andere nicht über ihre individuelle Souveränität. Und doch ist jeder und jede in dieser Figuration der Vielen zur freien Ausübung seiner, ihrer Existenz verfasst. Wie sind sie dann einerseits Teil der vielen und andererseits als Einzelne je für sich selbst? Aus ihrer Vielheit erhebt sich für alle eine Grenze, die den Raum ihrer Souveränität durchtrennt. In der Anschauung dieser Grenze können wir unsere Frage beantworten. Die individuelle Souveränität, so können wir einerseits sagen, ist unteilbar, bis zur Grenze der Vielheit gilt sie ausschließlich. Kein Mensch ist eines anderen Menschen Souverän. Jeder und jede ist souverän ganz für sich. Jenseits der Grenze der Vielheit, also in der Figuration der Vielen, so sehen wir andererseits, ist die Freiheit aller zur Ausübung 213 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

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ihrer Existenz indes eine Sache der Zahl. Sie ist zu einer Formierung im Numerischen hin konstituiert. An dieser numerischen Konstitution setzt das konstitutionelle Regime an. Um über die Grenze der Vielheit hinweg – die natürlich verbleibt – eine Freiheit in der Zahl herzustellen. In der zweiten seiner Abhandlungen über das Regieren (Two Treatises of Government, 1689) beschrieb John Locke den Vorgang: »Da die Menschen, wie schon gesagt wurde, von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind, kann niemand ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Der einzige Weg, über welchen jemand diese natürliche Freiheit aufgibt, und sich die Bindungen einer politischen Gesellschaft zu eigen macht, besteht darin, mit anderen darin zu übereinkommen, sich zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen und zu vereinen.« 8

Eins in der Vielheit – und Grenzen in der Sache Viele werden Eins, aus ihrer körperlichen Existenz heraus bilden sie zusammen einen Körper, den body politic, wie er in der angelsächsischen politischen Sprache sinnfällig genannt und als ein elementarer Begriff der politischen Theorie benützt wird. Die Formung dieses Körpers dient, wie gesagt, dem Ziel, die Freiheit in der Zahl herzustellen. Die je auf Einzelne beschränkte Freiheit zur Ausübung ihrer Existenz soll zu einer Freiheit erweitert werden, die im Zusammenspiel vieler ausgeübt wird, als ein Vermögen der vielen in der Form eines Vermögens von ihnen gesamt. Sie erlangen, wie Locke es formulierte, die »Macht, als ein Körper zu handeln (a Power to Act as one Body)«. 9 Im Vorgang von dessen numerischer Konstitution wird für das konstitutionelle Regime die Grenze der Vielheit überwunden. Doch sogleich tun sich andere Grenzen auf. Sie sind Teil der besorgten Sache, nämlich des einen aus vielen Körper geschaffenen Körpers und der mit ihm gefassten Macht zu einem Handeln der vielen in der Weise jetzt eines einheitlichen Handelns. Es schälen sich, genau be8 John Locke, Two Treatises of Government (Second Treatise, Chap. VIII), Hrsg. Peter Laslett, Cambridge: Cambridge University Press, 1970, S. 348 f. (Meine Hervorhebung, T. S.). 9 Ebd., S. 349.

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sehen, zwei Modi von Macht heraus. Der eine Modus erscheint in der numerischen Konstitution des konstitutionellen Regimes. Ein politischer Körper wird geformt, und mit ihm kommt Macht hervor. Dies ist eine Macht, die sich durch sich selbst erweist. Sie ist eine Macht des Innehabens. Der andere Modus erscheint nach der Konstitution des konstitutionellen Regimes. Der politische Körper ist geformt und mit ihm wird Macht ausgeübt. Dies ist eine Macht, die sich als eine handelnde erweist. Sie ist eine Macht des Verfahrens. Die Macht des Innehabens und die Macht des Verfahrens erscheinen voneinander getrennt, die eine wird aktualisiert zur Machtbestellung, die andere zur Machtausübung. »Jede Verfassung«, so schrieb Walter Bagehot in seiner Schrift The English Constitution (1867), »muss zuerst Macht erzielen, und dann Macht anwenden«. 10 Die beiden Modi von Macht erscheinen indes nicht nur bei der Schaffung eines konstitutionellen Regimes, sondern wann immer ein body politic gebildet wird. Jeden solchen durchzieht die Grenze zwischen den beiden, zwischen dem Inhaber der bestellenden Macht, der in der Zahl geformten und gewohntermaßen »Volk« genannten Gesamtheit, (viele in eine Einheit gebracht), und den Ausführenden der hervorgerufenen Macht, der »Regierung« (viele in einer Gestalt, die sie einheitlich handeln lässt). Die beschriebene Grenze ist, so wurde soeben gesagt, dem konstitutionellen Regime wie jedem politischen Regime eigen. Charakteristisch für das konstitutionelle Regime ist jedoch, dass diese Grenze und mit ihr weitere Grenzen maßgebliche Komponenten seiner Konstruktion sind. Es ist eine politische Form geschöpft aus Grenzen. 11 Deren Wirken ist sein Sinn, ihretwegen wurde es ausgedacht. Es ist zugegen, wenn sie es sind, die regieren, allda es heißt: dies ist ein konstitutionelles Regime. 12 Jede Konzeption des konstitutionellen Regimes definiert denn die Macht des »Volkes« als unteilbar. Nur die Vielen, in die Einheit eines body politic gebracht, haben die Macht inne, die sich durch sich Walter Bagehot, The English Constitution, Glasgow: Fontana/Collins, 1963, S. 61. »Verfassung (constitution)« steht hier für das konstitutionelle Regime. 11 Dazu gehört auch die für die politische Praxis so wichtige Abgrenzung zwischen »Mehrheit« und »Minderheit«; vgl. dazu grundsätzlich John Locke, Two Treatises of Government (Second Treatise, Chap. VIII), S. 350. 12 In den Federalist Papers kommen die Wörter »limits«, »limitation«, »limiting«, »limited« zusammen 111 Mal vor; bei John Lockes Two Treatises kommt man bei einer Zählung derselben Wörter auf die Zahl 181. 10

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selbst erweist und die Fähigkeit bringt, in einem für alle zu handeln. »Das Volk ist die einzige legitime Quelle der [politischen] Macht«, erklärte James Madison im 49. Artikel der Federalist Papers. 13 In gleicher Weise stellte Walter Bagehot in The English Constitution fest: »Das Prinzip der Volksherrschaft liegt darin, dass das Volk die höchste Gewalt innehat.« 14 Dementsprechend wird die Macht der Regierenden – also die vom Volk bestellte Macht zur Ausübung der ihm innewohnenden Macht – scharf von der Macht des Volkes abgehoben. Während die originäre Macht sich als immerwährend versteht, wird die regierende Macht (in ihren Organen »Parlament« und »Exekutive«) unter das Gebot einer stets zeitlichen Grenze ihrer Existenz gestellt. Die »regierende Macht«, so formulierte John Stuart Mill in seiner Schrift On Liberty (1859), habe »aus der periodischen Wahl der Regierten hervorzugehen« 15. Ihre daraus gewonnene Macht ist nur entlehnt. Das Lehen der Regierungsmacht muss regelmäßig durch Wahlen erneuert werden, und in diesen wird neu entschieden, wem es für die Zeit bis zu den nächsten Wahlen anvertraut wird. Wahlen – regelmäßig abgehalten, in bestimmten zeitlichen Abständen, kraft eines Wettstreits mehrerer Bewerber, frei, geheim, allgemein, auf alle Einzelheiten hin gesetzlich geregelt – sind in die Konstruktion des konstitutionellen Regimes wie ein Wehr gegen eine Verhärtung der Regierungsmacht eingebaut, damit sie ein elective and responsible government (John Stuart Mill) 16 bleibe, und sich nicht, von der originären Macht entfernt, zur einzigen Macht steigere. Wie nichts anderes sichern Wahlen das Gut, auf das hin das konstitutionelle Regime konstruiert ist: die Freiheit.

Gesetze herrschen, und nicht Menschen Man kann Freiheit organisieren. Das Mittel dafür sind Verfassungen und Gesetze. Nicht von ungefähr griff Madison im 47. Artikel der Federalist Papers Montesquieus Bild für die englische Verfassung auf. Diese sei, so Madisons Fassung des Bildes von Montesquieu, ein The Federalist Papers, S. 313. The English Constitution, S. 78. 15 John Stuart Mill, On Liberty (Chap. 1), Hrsg. Gertrude Himmelfarb, Harmondsworth: Pelican Books, 1974, S. 61. 16 Ebd., S. 62. 13 14

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»Spiegel der Freiheit (mirror of liberty). 17 Denn die Engländer, so Montesquieu, hatten für sich durch ihre Gesetze eine Verfassung ausgebildet, die mit ihrer Konstruktion alle politische Macht in sich geteilt und dabei in gegenseitiger Kontrolle hielt und dergestalt eine gesetzhafte Weite für die Freiheit schuf. 18 Die Freiheit, derer sich die Engländer erfreuten, wurde von Gesetzen bewirkt. 19 »Ein freies Volk«, betonte Montesquieu in einem Fragment über die politische Freiheit, »ist nicht jenes, das diese oder jene Form von Regierung hat: das ist jenes, das die Form der Regierung genießt, welche durch das Gesetz errichtet ist.« 20 Gesetze sind der Stoff des konstitutionellen Regimes. Es wird durch ein »Grundgesetz«, die Verfassung, geschaffen (hier ist das Wort für die bundesdeutsche Verfassung sinnfällig), und ist in diesem festgelegt. Gesetze bestimmen, was durch es geschieht. Nach Gesetzen wird dabei verfahren. Gesetze sind sein Werk. Gesetze führen die ihm zugehörigen Menschen. Sie alle sind gleich vor dem Gesetz. Dieses ist die Instanz zum Erhalt des Friedens unter ihnen. Aber es sind immer Gesetze für Menschen, von Menschen gehandhabt. Und Menschen, so die Anthropologie, die in die Konstruktion des konstitutionellen Regimes eingegangen ist, werden von Begierden angetrieben, die sie nach einem Besitz von Macht verlangen lassen, der ihnen nie genug ist, sehen sie doch, wie ungebunden eine Aneignung von Macht sein kann. Man kann sich keinesfalls darauf verlassen, dass für sie das Gesetz die »Vernunft ohne Wünsche« ist. 21 Bei der Organisation der Freiheit müssen die Menschen in ein Regierungswerk gebracht werden, das die Macht der Gesetze ihrer Macht entzieht und diese damit einschneidend begrenzt. 22

The Federalist Papers, 302. – Vgl. zu dem Bild bei Montesquieu: Vom Geist der Gesetze (De l’Esprit des Lois), Buch XI, Kap. V. 18 Vgl. ebd., Buch XI, Kap. VI (»De la Constitution d’Angleterre«). 19 Ebd. 20 Pensées et fragments inédits de Montesquieu, Hrsg. Gaston de Montesquieu, Bordeaux: G. Gounouilhou, 1899, S. 415 (online: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ bpt6k6213190n/f459.item.r=peuple%20libre, aufgerufen am 16. März 2018). (meine Hervorhebung, T. S.). 21 Die Formel für das Gesetz als »Vernunft ohne Wünsche« findet sich bei Aristoteles (Politik 1287a25–30). 22 »Zeitweilig oder immer«, so schrieb Montesquieu, »ist ein Richter vonnöten, der die Adligen [sinngemäß: die herrschende Schicht der Adligen] zum Zittern bringt.« (Vom Geist der Gesetze (De l’Esprit des Lois), Buch V, Kap. VIII). 17

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Gestalt in der Moderne: Das konstitutionelle Regime

Nach der klassischen, 1779 vermerkten Formulierung von John Adams, einem der Gründer und dem zweiten Präsident der Vereinigten Staaten, kann das konstitutionelle Regime allein aus einem Gefüge von politischer Macht hervorkommen, das eine »Regierung von Gesetzen und nicht von Menschen (government of laws and not of men)« 23 ist.

Die Mechanik des Regierens Wie aber bringt man Menschen als Halter politischer Macht dazu, auf eine Weise mächtig zu sein, dass nicht sie, sondern die Gesetze herrschen? Indem man das Regime mit einer Dynamik der Macht versieht, so die allgemeine Antwort, in welche die Regierenden unweigerlich verfangen werden, sodass im Verfolg ihrer Macht diese jeweils Macht entgegen der Macht des anderen ist. Eine solche Dynamik – der »innere Wesenszug, die Spannkraft der Verfassung (the inner moving essence, the vitality of the Constitution)«, nach Bagehots Beschreibung 24 – wird durch zwei Ursachen herbeigeführt, eine institutionelle und eine, die in den Menschen liegt (nach der hier anzusetzenden und oben skizzierten Anthropologie). Die institutionelle Ursache wurde von Montesquieu im Zusammenhang mit der Schaffung politischer Freiheit vorgetragen: »Sie [die politische Freiheit] wird durch eine bestimmte Aufteilung der drei Gewalten [Legislative, Exekutive, Judikative] begründet.« 25 Freiheit also aus einer Gewaltentrennung – ein konstitutionelles Regime Adams gebrauchte die Formulierung in seinem von ihm 1779 erstellten Entwurf für eine Verfassung des »Commonwealth of Massachusetts« (The Report of a Constitution, or Form of Government for the Commonwealth of Massachusetts, Chapter II: The Frame of Government). Für den Text des Entwurfs siehe: https://founders. archives.gov/documents/Adams/06–08–02–0161–0002 (aufgerufen am 18. März 2018) oder Papers of John Adams, Bd. 8, Hrsg. Gregg L. Lint et al., Cambridge, Mass: Harvard University Press, 1989 (online: https://www.masshist.org/publications/ apde2/view?id=ADMS-06-08-02-0161-0002, aufgerufen am 18. März 2018). – In der 1780 verabschiedeten Verfassung von Massachusetts erscheint die Formulierung in Teil 1, Art. XXX. Für den Text dieser Verfassung siehe: https://malegislature.gov/ Laws/Constitution (aufgerufen am 18. März 2018) – Vor Adams hatte James Harrington in seinem Buch The Commonwealth of Oceana (1656) die Formel »empire of laws and not of men« verwendet. 24 The English Constitution, S. 60. 25 Vom Geist der Gesetze (De l’Esprit des Lois), Buch XII, Kap. I. 23

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ist nicht anders als mit dieser grenzziehenden Sequenz in der Mitte seiner Konstruktion zu denken. Für John Adams war denn die von ihm eingeforderte Herrschaft des Gesetzes – und damit der Freiheit – nur dadurch zu erreichen, dass die »legislative, exekutive, und rechtsprechende Gewalt in getrennte Zweige gebracht werden«. 26 James Madison bezog sich ausdrücklich auf Montesquieu und dessen »science of politics« 27, als er seinerseits die institutionelle Anlage jener Sequenz – er sprach von einer »besonderen Struktur« 28 beziehungsweise einer »inneren Struktur der Regierung« 29 – theoretisch vorstellte. Diese Struktur müsse so ausgeklügelt werden, dass die einzelnen Teile der Regierung durch sich selbst die Instrumente dafür seien, »sich gegenseitig in dem ihnen angemessenen Bereich zu halten« 30, und dass anderweitig im Regierungsapparat jede Behörde (office) ein Hemmnis (check) für die andere sei 31. In seiner 1908 veröffentlichten Abhandlung Constitutional Government in the United States veranschaulichte Woodrow Wilson die institutionellen Anstöße für die Dynamik der Macht im Innern eines konstitutionellen Regimes wie folgt: »Die Schöpfer unserer Bundesverfassung übernahmen die Vorlage, die sie ausgeführt bei Montesquieu vorfanden, sie übernahmen sie mit einem echten wissenschaftlichen Enthusiasmus. Die bewundernswerten Erörterungen im Föderalist [= The Federalist Papers] lesen sich wie gedankenvolle Anwendungen von Montesquieu auf die politischen Bedürfnisse und Umstände von Amerika. Sie sind voll der Theorie der checks and balances. Der Präsident ist Gegengewicht zum Kongress, der Kongress zum Präsidenten, und jeder zu den Gerichten. Politik ist verwandelt in Mechanik. Die Gravitationstheorie gilt uneingeschränkt.« 32 Siehe seinen Entwurf für eine Verfassung des »Commonwealth of Massachusetts«, Chapter II: The Frame of Government. 27 The Federalist Papers (47. Artikel), S. 301. 28 Ebd. 29 The Federalist Papers (51. Artikel), S. 320. 30 Ebd. 31 The Federalist Papers (51. Artikel), S. 322. – Madison dachte natürlich bei seinen Ausführungen zur Gewaltentrennung an eine ausgedehntere Fragmentierung politischer Macht durch deren großräumige Aufteilung in einer föderalen Ordnung, wie jener der Vereinigten Staaten. Dann konkurrierten auch einzelstaatliche und darunter lokale Regierungsinstitutionen miteinander. (Siehe The Federalist Papers, 51. Artikel, S. 323 f.). 32 Woodrow Wilson, Constitutional Government in the United States, in: The Papers of Woodrow Wilson, Hrsg. Arthur Stanley Link, Bd. 18 (1908–1909), Princeton: Princeton University Press, 1974, S. 106. 26

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Man kann den »wissenschaftlichen Enthusiasmus«, von dem Wilson hier spricht, bestens verstehen, wenn man aufnimmt, was er mit den letzten beiden Sätzen des zitierten Absatzes sagt. Die Theorie der checks and balances, so konstatiert er, kann mit der Weltlehre der modernen Naturwissenschaften verglichen werden; hier geht es um das Kräftespiel im konstitutionellen Regime, dort um das Kräftesystem des Universums, und das eine entspricht dem anderen. Eine Nennung Newtons durch Wilson fehlt folglich nicht. In dieser Art, »Exekutive, Legislative, und Judikative durch eine Reihe von Hemmnissen und Gegenkräften gegenseitig in Schach zu halten«, so führte Wilson einige Zeilen vor den soeben zitierten aus, könnte Newton »leicht [etwas] erkannt haben, das auf den Mechanismus des Himmels hinweist.« 33 Was aber konnte Wilson, der sich ja auf eine ausgearbeitete Theorie der checks and balances berief, bewogen haben, seinen Vergleich anzustellen? Was ist in dieser Theorie enthalten, das ihn zu diesem Vergleich einlud? Der menschliche Faktor im Konstrukt der checks and balances, das heißt der Ehrgeiz von Menschen zur Übermacht. Das ist die Antwort. Die Halter von Macht in einem konstitutionellen Regime, so erklärte James Madison, muss man darin gewähren lassen, bei der gegenseitigen Machtbegrenzung nicht nur ihre konstitutionellen Mittel einzusetzen, sondern auch aus »persönlichen Beweggründen (personal motives)« heraus vorzugehen. Dann, so die Logik, wird das Kräftespiel im Inneren des Regimes existentiell, und nicht mehr weiter überwindbar ist der eine Mensch des anderen Menschen Grenze. 34 James Madison beschrieb den Mechanismus so: »Aber die beste Absicherung gegenüber einer allmählichen Konzentration der verschiedenen Gewalten bei einer davon besteht darin, jenen, welche die einzelnen dieser Gewalten innehaben, die konstitutionellen Mittel und die persönlichen Beweggründe zuzubilligen, die dafür nötig sind, sich der Übergriffe der anderen zu erwehren. Machtstreben muss dazu gebracht werden, Machtstreben entgegenzuwirken (ambition must be made to counteract ambition) Das Selbstinteresse des Einzelnen muss mit den Befugnissen der eingenommenen Stellung verbunden werden.« 35 Ebd. Es sei denn der andere Mensch, »Gegenmacht«, wird aus dem Kräftespiel entfernt, wenn dies institutionell bzw. rechtlich möglich ist, da in einem konstitutionellen Regime dagegen auch wiederum Barrieren oder starke Hemmnisse eingebaut sind. 35 The Federalist Papers (51. Artikel), S. 321 f. 33 34

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Das konstitutionelle System der Gewaltentrennung wirkt nicht allein. Es wirkt indes, wenn der Machtdrang von Menschen zu seinen Gunsten ausgenützt wird. Ein menschlicher Charakterzug, der im allgemeinen eher Missfallen erregt, wird in entscheidender Weise dafür eingesetzt, etwas Gutes, nämlich die Einrichtung und den Erhalt der Freiheit, herbeizuführen. 36 Madison sah, dass man dem Menschen kein Kompliment macht, wenn man sagt, dies sei die Methode, die nötig sei, um die Regierenden vom Missbrauch ihrer Macht abzuhalten. 37 Und er stellte seine hier schon angeführten Überlegungen zur Natur der Menschen an, die eben keine Engel seien. Montesquieu hatte für ein konstitutionelles Regime, um bei diesem einen Missbrauch von Macht zu verhindern, gefordert, dass durch die Anordnung von Macht in ihm »die Macht die Macht aufhält« (le pouvoir arrête le pouvoir). 38 Madisons Formel – Machtstreben wirkt Machtstreben entgegen – scheint demgegenüber präziser zu sein. Sie reicht deutlich über institutionelle Zusammensetzungen hinaus in die tiefere Schicht menschlicher Eigenschaften. Und Institutionen gibt es letztlich ja nur insoweit, als sie von Menschen gebildet werden. 39 Es wäre nicht damit getan, so argumentierte denn Madison, auf Pergament die konstitutionellen Grenzen für die einzelnen Ressorts festzulegen. Das wäre kein ausreichender Schutz gegen jene Übergriffe, die zu einer tyrannischen Konzentration aller Regierungsgewalt in einer Hand führten. 40 Nein, der Schutz sind vor allem Menschen durch sich selbst. Sie bringen das konstitutionelle System der Gewaltentrennung zu der Dynamik, dank der Machthunger nur beschränkt gestillt werden kann, weil viele dazu gebracht worden sind, auf ein Stillen ihres Machthungers aus zu sein, und dies auf eine Weise, die sie zu Antagonisten macht. Sie tun, was das System von ihnen will. Um Wilsons

Bei einer dichten Beschreibung der Gewaltentrennung sprach Bagehot von den »schlimmen Tendenzen (evil tendencies) jeder der Gewalten gegen die anderen, durch welche ein »gutes Ganzes (good whole)« konstruiert werde (The English Constitution, S. 60). 37 Vgl. ebd. 38 Vom Geist der Gesetze (De l’Esprit des Lois), Buch XI, Kap. IV. 39 Siehe dazu die in dem Band The Primacy of Persons in Politics. Empiricism and Political Philosophy, Hrsg. John von Heyking, Thomas Heilke, Washington, D.C.: The Catholic University of America Press, 2013 enthaltenen Studien. 40 The Federalist Papers (49. Artikel), S. 313. 36

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Diktum etwas abgewandelt zu zitieren: Regieren ist verwandelt in Mechanik. Diese Mechanik, von der steten Kraft menschlichen Machtdrangs angetrieben, arbeitet wie von allein. Sie ist, auf der einen Seite, ein sehr modernes Produkt. Ihr Stoff ist der Mensch, wie ihn sich die Moderne ausgedacht hat: Eigner von Macht. Ihr Plan ist ganz wissenschaftlich – aus einer science of politics hervorgegangen, die sich als eine naturwissenschaftliche Disziplin verstanden hat. Ihre Installation in dieser oder jener Verfassung lässt sich, wie immer man es mag, modifizieren, und passt perfekt in eine Kultur steten Verbesserns. Auf der anderen Seite ist sie ein von der Moderne abweichendes Artefakt. Ihr Zweck ist Mäßigung, die Tugend aus den Zeiten alter Weisheit. Ihre Anwendung geschieht aus Skepsis, in einer Epoche von Verheißungen wird die Tradition fortgeführt, vor allem bewährten Erfahrungen zu trauen. 41 Ihre Ausarbeitung erweist sich als ein Symbol der Besonnenheit. Grenze und Modernität widersprechen sich. Und doch durchzieht die Moderne eine Grenze. Sie ist sichtbar in der Gestalt des modernen konstitutionellen Regimes. 42

»Konventionen«, schrieb Bagehot, »sind die erste Barriere gegen die Tyrannei.« (The English Constitution, S. 243). 42 Die Gewaltentrennung, so effizient sie der Freiheit wegen sein muss, bringt mit sich ein Problem: Wie kann es dann noch eine Regierung geben, die ihrerseits effizient und tatsächlich in der Lage ist, die für ein Regieren notwendige Macht zu entfalten? Wir haben deswegen an verschiedenen Stellen von einem Paradox der Freiheit bzw. einem Paradox der Macht gesprochen, und versucht, zu zeigen, wie Regierungen, und insbesondere deren Häupter (Bundeskanzler, Präsidenten …), mit nicht wenig politischer Kunst auf den konstitutionell gewollten Entzug von Macht mit bestimmten Strategien und organisatorischen Dispositionen zur Akkumulation von Macht reagieren. Siehe Tilo Schabert, »Das Paradox der Macht. Anmerkungen zur Regierungspraxis in Washington, Paris und Bonn«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 188, 17./ 18. August 1985, S. 81; Boston Politics. The Creativity of Power, Berlin-New York: De Gruyter, 1989, insbes. Kap. 1, 2 und 4; »Ein klassischer Fürst. François Mitterrand im Spiegel einer vergleichenden Regierungslehre«, in: Brigitte Sauzay, Rudolf von Thadden (Hrsg.), Mitterrand und die Deutschen, Göttingen: Wallstein, 1998, S. 78–106; »The True Form of Governments: The Constitutional Movements of Power«, in: John von Heyking, Thomas Heilke (Hrsg.), The Primacy of Persons in Politics, S. 3–22; der Abschnitt »In der Freiheit«, in: Die zweite Geburt des Menschen, S. 144–154. Vgl. auch: Félix Blanc, »Le concours des pouvoirs aux origines du régime constitutionnel en France et aux États-Unis«, in: Jus Politicum, Nr. 18, Juli 2017, S. 219–245. 41

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Namensverzeichnis

Abrams, Meyer Howard 173 Adams, John 218 f. Alberti, Leon Battista 180–182 Alexander, der Große 32 Alvarez, Al 176 Amiot, Michel 195 Anaximander 72 Anaximenes 72 Aquin, Thomas von 54 Archimedes 67, 154 Arendt, Hannah 21 Aristoteles 16, 39, 53, 126, 143, 217 Aron, Raymond 196 Assisi, Franziskus von 71 Augustinus, Aurelius 17

Bostetter, Edward E. 173 Boullée, Étienne-Louis 185 Boyle, Robert 67 Bravermann, Harry 161 Bremmer, Jan 109 Breton, André 203–205 Brownell, Baker 186 Bruno, Giordano 32, 34 Buffon, Comte de 143, 150 f., 154, 159 Burckhardt, Jacob 174 Burdach, Konrad 119 Burger, Heinz Otto 119 Burke, Peter 58 Byron, Lord 173, 175

Backer, Keno 28 Bacon, Francis 17 f., 35 f., 44 f., 68, 88, 103 f., 106, 140–147, 149, 152 f., 159 Bagehot, Walter 215 f., 218, 221 f. Baker, Herschel C. 108 Baron, Hans 35 Baruzzi, Arno 186 Baudelaire, Charles 49, 177 Behrens III, William W. 19 Belaval, Yves 42 Bell, Daniel 25 Bellow, Saul 23 Bense, Max 69 Bentley, Richard 93 f. Berger, Peter L. 161 Beyme, Klaus von 179 Bingen, Hildegard von 80 Bodin, Jean 33 f. Böhm, Anton 161 Boileau, Nicolas 41 Bossuet, Jacques Benigne 42

Calvin, Jean 164 Camus, Albert 21, 201 f. Canetti, Elias 176 f. Cassiodorus, Flavius Magnus Aurelius 28, 30, 41, 45 Castiglione, Baldassare 52, 57–64 Chartres, Bernhard von 31, 78 Chartres, Thierry von 31, 78 Chew, Samuel C. 32 Chiaromonte, Nicola 21, 25 f., 162 Cicero, Marcus Tullius 31, 60 Clemens VII., Papst 50 Colbert, Jean-Baptiste 168–170 Cole, Charles Woolsey 166 Conches, Wilhelm von 31 Condillac, Étienne Bonnot de 42 Condorcet, Marquis de 19, 42, 44, 96 Corbin, Henry 15 Corneille, Pierre 40 Cousin, Victor 44 f.

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Namensverzeichnis Dante, Alighieri 15 Demokrit 67, 72 Descartes, René 18, 38 f., 44, 88, 142–146, 152, 154, 159 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude 96 Diderot, Denis 99 Donne, John 87 f. Du Vair, Guillaume 107 f. Duhem, Pierre 72 Duns Scotus, Johannes 54 Eliade, Mircea 16, 21, 24, 97 Ellard, Peter 31 Empedokles 72 Engels, Friedrich 19 Epikur 93 Eratosthenes 16 Eudoxos 32 Euklid 16, 67 Evers, Tilman 31 Faret, Nicolas 58 Fénelon, François 41 Fichte, Johann Gottlieb 126, 143, 148–150, 155, 159 Fontenelle, Bernard le Bovier 19, 41–43 Forbes, Robert James 161 Forssman, Erik 179 f. Frankfort, Henri 15, 97 Frankfort, Henriette Antonia 97 Freud, Sigmund 161 Friedrich, Hugo 173, 176 Galilei, Galileo 57 f., 88, 91, 101 f., 104–106 Garin, Eugenio 53, 182 Garnier, Tony 186 Gellner, Ernest 162 Gillot, Hubert 35 Giorgio, Castelfranco da 58, 181 Giorgio, Francesco di 180 Giorgione (s. Giorgio, Castelfranco da) Giovannoni, Gustavo 179 Goodheart, Eugene 173

Gössmann, Elisabeth 28 Granet, Marcel 15 Gregory, Tullio 78 f. Gropius, Walter 186 Guthke, Karl Siegfried 173 Hahn, Gerhard 119 Hamburger, Michael 173 Hamilton, Alexander 211 f. Hardouin-Mansard, Jules 40 Harrington, James 218 Hazard, Paul 41 Heckscher, Eli F. 166 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18 Heilke, Thomas 221 f. Heisenberg, Werner 67, 93, 97 Hennis, Wilhelm 162 Heraklit 48, 67, 72–74 Hesiod 72 Hexter. Jack H. 165 Heyking, John von 221 f. Hill, Christopher 165 Hobbes, Thomas 38–39, 44 Holton, Gerald 68 Homer 72, 108 Hume, David 89 f., 183 Innozenz VIII., Papst 53 Jauß, Hans Robert 35 Jesus Christus 75 f. Kalippos 32 Kant, Immanuel 183 f. Karl V., Kaiser 58 Kaufmann, Emil 183–185 Kepler, Johannes 67 Kesting, Marianne 173 Kopernikus, Nikolaus 32 Koyré, Alexandre 68, 91, 99 f. Kranz, Walther 72 f., 77 Kristeller, Paul Oskar 108 Kues, Nikolaus von 81, 83 La Bruyère, Jean de 41 La Fontaine Jean de 40 f. Laing, Ronald D. 20

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Namensverzeichnis Langer, Susanne K. 68 Laqueur, Walter 191 f. La Rochefoucauld, François de 38 Lasalle, Ferdinand 140 Latschenberger, Petra 40 Le Brun, Charles 40 Le Corbusier 184, 186 Ledoux, Claude-Nicolas 184 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 44, 99 Lenoble, Robert 68 f. Lequeu, Jean-Jacques 185 Lévi-Strauss, Claude 20 f., 25 Locke, John 44, 214 f. Lukrez 69 Luther, Martin 164 Madison, James 211, 216, 219–221 Malebranche, Nicolas 44 Mallarmé, Stéphane 49 Malraux, André 21 Maltes, Corrado 182 Mantegna, Andrea 58 Manuel, Frank E. 42 Marino, Adrian 26, 173, 178 Martini, Francesco di Giorgio 180 Marx, Karl 19 Matz, Ulrich 162 McCarthy, Mary 21 Meadows, Dennis L. 19 Meadows, Donella H. 19 f. Mersenne, Marin 88 Michel, Paul-Henri 179 Michelangelo 58, 103 Mill, John Stuart 216 Miller, J. Hillis 176 Miller, Perry 93 Mitterrand, François 208, 222 Molière 40 Montaigne, Michel de 33–35, 48, 110, 129–139, 164 f. Montesquieu, Baron de 100 f., 212, 216–219, 221 Moses 122 f. Mun, Thomas 167 Newton, Isaac 39, 67 f., 84, 88, 92–96, 98–100, 105 f., 220

Nø´rgård, Jø´rgen Stig 20 Olney, James 173 Onimus, Jean 194 f. Ozment, Steven E. 165 Palladio, Andrea 180 f. Palustre, Léon 179 Panizza, Cesare 21 Parenti, Christian 20 Parmenides 67, 72 f. Pascal, Blaise 18, 36–39, 71, 153 f., 161, 199 Pattberg, Philipp 161 Paul, Jean 66 Paulus, Apostel 76, 126, 131 Perrault, Charles 40 Perrault, Claude 40 Perret, Auguste 186 Petrarca, Francesco 16 f. Pico della Mirandola, Gian Francesco 53 Pico della Mirandola, Giovanni 52 f., 63, 109 f., 120–122, 126 f., 198 Pilatus, Pontius 75 Pine, Martin L. 82 Plato 17, 31, 49–53, 55, 63, 67, 75, 79, 85 f., 88, 90, 134 Pomponazzi, Pietro 38, 82, 105, 121, 126 f. Porrée, Gilbert de la 31 Poulet, Georges 155 Poussin, Nicolas 40 Prolemäus 16 Rabelais, François 31 Racine, Jean 40 Raffael 58, 103 Randall, John Herman 67 Randers, Jǿrgen 19 Randow, Thomas von 20 Rawley, William 143 Rich, Edwin E. 166 Rigault, Hippolyte 35 Rimbaud, Arthur 49 Robinson, Henry 170 Romano, Ruggiero 174

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Namensverzeichnis Rosenblum, Robert 183 Rosenthal, Macha Louis 173, 176 Roszack, Theodore 161 Rousseau, Jean-Jacques 18 f., 99, 154 f., 175 Saint Evremond, Charles de 41 Salisbury, Johannes von 31 Sander, Volkmar 173 Santinello, Giovanni 179 Sartre, Jean Paul 18, 198–200 Saxl, Fritz 32 Schelling, Friedrich Wilhelm 79, 143, 156 f., 159 Schneewind, Jerome B. 108 Seneca 77 Serra, Antonio 167 Silone, Ignazio 21 Singer, Charles Joseph 16 Smith, Adam 167 Snell, Bruno 73, 109 Sokrates 49 Spinoza, Baruch 44, 210 f. Spitzer, Leo 69 Steffen, Hans 28 Supple, Barry E. 166 Taut, Bruno 186 Telesio, Bernardino 82 f., 87 f., 105 Tenenti, Alberto 174 Tepl, Johannes von 109 f., 116, 119 f., 128, 142 Tepl, Peter von 119

Teutsch, Leo 29 Thales 72, 75 Theodorich, der Große 28 Tizian 103 Toussaint, Stéphane 70 Trinkaus, Charles 108 Troeltsch, Ernst 166 Trousson, Raymond 175 Vico, Giambattista 28, 42 Vinci, Leonardo da 58 Vitruv 180 f. Voegelin, Eric 15, 97 Voltaire 38, 42 Weber, Max 164, 166 f. Weinrich, Harald 177 Weizsäcker, Carl Friedrich von 67, 69, 90, 93, 96 Wetherbee, Winthrop 31 Wilson, Charles Henry 166 f., 169 f. Wilson, Woodrow 219–221 Wittkower, Rudolf 179, 181, 183 Wootton, David 88 Wright, Frank Lloyd 186 Yates, Frances A. 69, 121 Zeno 77 Zilsel, Edgar 175 Zoubov, Vassili 181

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Sachverzeichnis

Anthropologie 13, 18, 210–212, 217 f. –, moderne (neue) 42, 128, 130–132, 165, 172, 196, 199 Altertum 36–38, 40 f. Antike 29–32, 34, 39–41, 44, 67, 69, 84, 108 antiquitas 28, 30, 41 f., 45, 159 Architektur 13, 32, 36, 40, 103, 178–180, 182–184, 186 –, anthropometrische 181, 183 –, anthropomorphe 182 –, antike 180 –, autonome 185 –, europäische 163 –, funktionale 186 –, moderne 164, 178, 183–185 Architekturtheorie 180 –, der Renaissance 179 f., 182 f. Bewusstsein 18, 46, 66, 73 f., 77, 88, 92, 96, 105, 151, 177, 186, 191, 197, 204 –, literarisches 178 –, menschliches 204 –, kosmologisches 25–27 –, modernes 142 f., 161 f., 187, 194, 208 –, revolutionäres 194 Bewusstseinform(en) 26, 45, 187 –, der Moderne 27, 42 checks and balances 219 f. Denken 48, 50 f., 73 f., 97, 100, 115, 120, 152, 155, 193, 203 –, anthropologisches 198 –, christliches 82, 126

–, diskursives 36 –, europäisches 42, 45 –, imaginäres 204 –, kosmologisches 155 –, menschliches 41 f., 137, 154, 203 –, modernes 23, 44, 68, 78, 98, 159 –, philosophisches 99 –, religiöses 155 –, spekulatives 159 –, vor-modernes 44 –, Gesetze des 39 –, Modell des 63 Dialektik 50–52 Eifersucht –, anthropozentrische 104 Eristik 49, 52, 63 Fortschritt 18 f., 22, 37–39, 47, 95, 162 Freiheit 23, 129, 152, 155 f., 158, 201, 203, 206, 213 f., 216 f., 219, 221 f. –, absolute 125, 127 –, der Einbildungskraft 136 –, grenzenlose 156 –, konstitutionelle 213 –, menschliche 82, 207 –, natürliche 214 –, Organisation der 208 –, Paradox der 222 –, unbeschränkte 129, 137 Gesellschaft (en) 42, 64, 179, 186, 211 –, menschliche 34, 42, 185

227 https://doi.org/10.5771/9783495817667 .

Sachverzeichnis –, moderne 162, 187, 191, 196 f. –, Modernität der 191 –, politische 214 Gesetz(e) 75, 100, 158, 209–211, 216– 218 –, der Natur 81, 83, 85, 101, 106, 146, 148 –, des Staates 171 –, göttliches 74 –, Herrschaft des Gesetzes 219 –, menschliches 74 –, physikalische 83, 89, 100 Gewalt 191–196, 203 –, der Natur 148 f. –, des Todes 110–112, 116 –, Klima der 203–207 –, Kult der 196 –, Praxis der 206 –, politische 214 –, Theorie der 205 –, über die Natur 142 –, Verlangen/Bedürfnis nach 191, 193, 197, 200 f. Gewaltentrennung 218 f., 221 f. Gott (es) 28, 66, 68, 77, 80, 82, 84–86, 90, 98–102, 105, 107, 115–117, 122–125, 155, 198 –, Allmacht 100 –, jenseitiger 85 –, Newtons 99 f. –, transzendenter 77, 94 –, unsichtbarer 90 –, wahrnehmbarer 75 f. Grenze(n) 14 f., 17, 25, 106, 136, 139, 202–204, 208–210, 214–216, 220, 222 –, absolute 213 –, konstitutionelle 221 Ich –, das 156, 199–201 Imagination (Einbildungskraft)16, 43, 136 f., 201–206 Kosmologie 80, 86, 90 –, antike 77, 85 –, griechische 73–75

–, Hildegards von Bingen 80 –, mittelalterliche 78 –, philosophische 79 Kosmos 16–18, 21 f., 24–27, 42, 70–78, 80, 83–96, 98, 103–107, 126, 166, 175, 183 Kultur (en) 28–31, 194–196 –, antike 28, 108 –, höfische 58 –, westliche 18, 22, 29, 66, 69, 75, 78, 108, 173, 191 Literatur 29, 31, 40, 58, 103, 108, 163, 172–178 Macht 47, 150 f., 156 f., 199–201, 211 f., 214–216, 221 f. –, der Gesetze 217 –, Dynamik der 218 f. –, göttliche 82, 95 –, menschliche 193, 202 –, politische 209 f., 216–218 Merkantilismus 167, 169 f. –, Theorie des 170 f. Moderne 13 f., 16, 42, 44 f., 47–49, 52, 63, 66, 75, 84, 159 f., 162, 165, 167, 173, 176, 178, 193 f., 208 f., 213, 222 –, Experiment der 18–20, 22, 24–26, 47, 106 f. –, Genesis der 66, 70, 84 –, Geschichte der 159 f., 162 f., 193 –, Welt der 161, 166, 176, 194–196 –, Weltbild der 67, 74 –, Zeitalter der 70, 103 –, Zivilisation der 160, 193 f. Modernität 29 f., 36, 42 f., 47, 66, 70, 162 f., 164 ff., 193–197, 208, 222 –, Bewusstsein der 66, 191 –, Merkmale von 191 –, Prinzip von 203 mundi constructio 83 f., 86 f., 106, 147 f. Natur 16–21, 24, 33, 45, 67, 69, 74, 80 f., 83, 91, 96, 98 f., 102, 141, 144, 147, 153, 155, 157 –, autonome 82, 85

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Sachverzeichnis –, Entmachtung der 156 –, Herrschaft des Menschen über die 22, 145 f., 152, 160, 202 –, neue 149–151, 159 –, Verwandlung der 151, 158, 160 –, Welt der 85–87, 89–95, 97 f., 101, 103–107, 130, 140, 146, 148, 156, 160 Naturgesetz (e) 100 f. –, System der 75 Naturwissenschaften 16, 34, 46, 67 f., 91, 97, 142, 160 –, moderne 33, 220 nuova scienza 40 Originalität 23, 53, 56, 60 f., 64 Philosophie 23, 53, 56, 60 f., 64, 143 f. –, neue 64 –, spekulative 145 –, vorsokratische 72 Philosophieren 53–55, 63 f. Reformation 67, 164–165 regnum hominis 18, 140 f., 160, 202 Revolution –, anthropologische 127 –, mentale 66, 70 –, methodologische 63, 66 –, naturwissenschaftliche 22 –, wissenschaftliche 32, 39, 41 Schöpfung 26, 80 f., 99 f., 100, 124, 141 –, Gottes 122, 124 Selbstbestimmung 121, 156–158, 197 f. –, absolute 23 Sprache 48, 57, 61 f., 64 f., 97, 176 –, literarische 176 f. –, naturwissenschaftliche 96 –, Spiel mit der 61, 63 –, Sprache der Physik 95 f.

Stil 49 f., 60 f., 64 –, individueller 57 –, neuer 47 Surrealismus 203–205 translatio studii 30, 45 Umwelt 16, 24 f., 27, 70, 180, 183, 185 f. Wahlen 216 Wahrheit 43, 47, 53, 55, 62, 101, 104, 138 –, Tochter der Zeit 32 Weisheit 17, 32, 34, 40, 48, 51, 101, 103, 112, 124, 222 Welt 18, 20, 26, 36, 42, 64, 66 f., 71– 73, 75–79, 81–85, 89, 93, 95, 102, 113, 122, 125, 134, 154, 148, 166, 187 –, Dinge der 79, 140, 151, 156, 202 –, Kosmos der 73 f., 76, 84–88, 90–92, 95 f., 98, 103–107, 183 –, künstliche 27, 146 –, Logos der 75 –, moderne 109, 176, 186, 194–196 –, Primärordnung der 74, 98, 103 –, primordiale 74 –, System der 39, 88, 94 –, vorgegebene 15 –, Wirklichkeit der 88 f., 202 –, Wohlordnung der 73 Weltseele (anima mundi) 79, 83 Zivilisation 67, 192, 194–196 –, europäische 15, 18 –, menschliche 47, 141 –, moderne 40, 69, 140, 159–161, 193 f. –, neuzeitliche 41 –, politische 209 f. –, westliche 22, 66, 191, 196 –, wissenschaftlich-technische 39

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