Das Fremde als Entfremdung des Eigenen: Soziologische Theoriebildung mit der Akteur-Netzwerk-Theorie 9783839466100

Die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours kennt kein Konzept des Fremden. Dies mag irritierend erscheinen, bedenkt man,

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German Pages 290 [288] Year 2023

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Vorwort: ›Wir schaffen das.‹
Einleitung: Vom Theoretisieren
1 Entwurf einer Denkweise
2 Empirisch orientieren mit der Akteur-Netzwerk-Theorie
3 Der Fremde und die Soziologie
4 Vom Anderen her das Subjekt beunruhigen
5 Eine theoretische Entfremdung von Ausnahmezustand und Homo Sacer
6 Konfrontation mit dem Eigenen
Über das Verfassen von Berichten
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
Literatur
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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen: Soziologische Theoriebildung mit der Akteur-Netzwerk-Theorie
 9783839466100

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Edda Mack Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

Sozialtheorie

Editorial Der »State of the Art« der Soziologie ist in Bewegung: zum einen durch einen tiefgreifenden Strukturwandel der (Welt-)Gesellschaft, zum anderen durch einen Wandel ihres eigenen kognitiven Repertoires, der alte theoretische Frontstellungen durch neuere Sichtweisen auf Gesellschaft und Sozialität ergänzt. Die Reihe Sozialtheorie präsentiert eine Soziologie auf der Höhe der Zeit: Beiträge zu innovativen Theoriediskussionen stehen neben theoriegeleiteten empirischen Studien zu wichtigen Fragen der Gesellschaft der Gegenwart.

Edda Mack, geb. 1989, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Figuren des Fremden und Fremdheit als Bedingung von Vergesellschaftung.

Edda Mack

Das Fremde als Entfremdung des Eigenen Soziologische Theoriebildung mit der Akteur-Netzwerk-Theorie

Dissertation der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Referent: Prof. Dr. Joost van Loon (KU Eichstätt-Ingolstadt) Korreferentin: Prof. Dr. Karin Scherschel (KU Eichstätt-Ingolstadt) Datum der mündlichen Prüfung: 05. 07. 2022 Eingereicht unter dem Titel: ›Compassion Fatigue‹ – Untersuchungen zur soziologischen Schlüsselfigur des Fremden am Beispiel der Mitleidsermüdung bei ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern im Zuge der ›Flüchtlingskrise‹ 2015. Eine Soziologisierung von Giorgio Agambens Theorie des Ausnahmezustands und Homo Sacer. Entwicklung einer Denkweise zur theoretischen Erfassung komplexer Phänomene

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839466100 Print-ISBN: 978-3-8376-6610-6 PDF-ISBN: 978-3-8394-6610-0 Buchreihen-ISSN: 2703-1691 Buchreihen-eISSN: 2747-3007 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort: ›Wir schaffen das.‹ .................................................................. 7 Einleitung: Vom Theoretisieren ............................................................... 13 Zurück zum Empirismus........................................................................ 16 Über das Verfassen kritischer Berichte ........................................................ 20 1 1.1 1.2 1.3

Entwurf einer Denkweise ................................................................ 25 Von Denkweisen .......................................................................... 25 Zu Denkwegen ............................................................................. 31 Über Komplexität ......................................................................... 44

2 2.1 2.2 2.3

Empirisch orientieren mit der Akteur-Netzwerk-Theorie................................. 61 Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) ........................................................... 64 Empirische Orientierungen ................................................................ 82 Die Versammlung eines Forschungsfeldes .................................................105

3 Der Fremde und die Soziologie .......................................................... 127 3.1 Aushandlungen des Fremden..............................................................130 3.2 Wi(e)derlesungen des Fremden ............................................................153 4 Vom Anderen her das Subjekt beunruhigen ............................................. 177 4.1 Von der Egologie zum Ansatz der Alterologie............................................... 179 4.2 Die Entrückung des Subjekts .............................................................. 191 5 Eine theoretische Entfremdung von Ausnahmezustand und Homo Sacer ...............201 5.1 Die deutschsprachige FluchtMigrationsforschung und Giorgio Agamben ................... 202 5.2 Übersetzung: Flucht als Ausnahme ........................................................ 219 6 Konfrontation mit dem Eigenen .........................................................231 6.1 Über Grenzen des Helfens .................................................................231 6.2 Über Mitleidsermüdung .................................................................. 243

Über das Verfassen von Berichten ......................................................... 257 Danksagung ................................................................................. 267 Abkürzungsverzeichnis ..................................................................... 269 Literatur ..................................................................................... 271

Vorwort: ›Wir schaffen das.‹ 31. August 2015: ›Wir schaffen das!‹, Angela Merkel (CDU). 7. November 2021: ›Ja, wir haben das geschafft.‹, Angela Merkel (CDU).

›Wir schaffen das!‹ Drei Worte. Am 31. August 2015 tritt die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor die Bundespressekonferenz um sich zur (europäischen) ›Flüchtlingskrise‹ zu äußern und beteuert: »Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden. Der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun – zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen –, um genau das durchzusetzen.« (Merkel 2015) Diese drei Worte – später auch als ›ikonischer‹ Satz bezeichnet – sollten zu einem regelrechten Slogan der sogenannten ›Willkommenskultur”1 werden und nicht zuletzt auch die Amtszeit der Kanzlerin nach 2015 weiterhin begleiten. Bei einem Exklusiv-Interview mit der Deutschen Welle, wird die geschäftsführende Kanzlerin im November 2021 von Max Hoffman im Kanzleramt interviewt. Welche der Krisen, die sie in ihrer Amtszeit von 16 Jahren manövriert habe, habe sie am meisten persönlich herausgefordert, wird sie gefragt (vgl. Merkel bei Teilmann/Hoffmann 2021, Min. 11:01). Zögernd nennt sie nach kurzer Pause die Ankunft der Geflüchteten, wobei sie betont, dies ungern als ›Krise‹ zu bezeichnen, denn ›Menschen sind Menschen‹. Neben den Ereignissen von 2015 und deren Folgen und Konsequenzen, nennt Angela Merkel als zweite große Herausforderung ihrer Amtszeit die aktuelle Corona-Pandemie. Es seien Momente und Ereignisse, in denen 1

Der Begriff »Willkommenskultur« hat in den letzten Jahren einige Verschiebungen erfahren. Insofern wird er in dieser Arbeit in Anführungszeichen gesetzt. Es geht in dieser Arbeit nicht um »die« Willkommenskultur an sich. Der Begriff findet Eingang in diese Arbeit, weil die Akteure, deren Spuren verfolgt werden, den Begriff nutzen, um etwas zu beschreiben. Dabei geht es gar nicht so sehr darum zu fragen, ob das, was sich 2015 ereignet hat, auch wirklich als »Willkommenskultur« bezeichnet werden kann (darf) und/oder es ggf. sogar passendere Begrifflichkeiten dafür gäbe.

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

man deutlich gesehen hätte, wie es Menschen direkt betrifft, ›wo man es mit menschlichen Schicksalen‹ zu tun gehabt habe. Und im Rückblick auf 2015 und ihren »ikonischen Satz« (Merkel bei Teilmann/Hoffmann 2021, Min 12:30) ›Wir schaffen das!‹ nun die Frage nach ihrer Bilanz: Haben wir es geschafft, wird sie gefragt und antwortet ohne Umschweife: »Ja, wir haben das geschafft. Aber wir waren wirklich viele, viele Menschen in Deutschland, die mit angepackt haben. Viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, viele Ehrenamtliche, viele, die auch heute noch Patenschaften haben. Wir haben auch erlebt, dass es natürlich nicht alles ideal gelaufen ist und es gibt auch schlimme Vorfälle, wenn ich an die Kölner Silvesternacht denke, die sich da vielleicht eingeprägt hat, aber insgesamt sind wir […] haben wir wunderbare Beispiele von auch gelungenen, menschlichen Entwicklungen, wenn ich da an Abiturientinnen und Abiturienten und Ähnliches denke. Aber geschafft haben wir natürlich noch nicht, dass die Ursachen der Flucht bekämpft wurden; wir haben es noch nicht geschafft, dass Europa ein einheitliches Asylund Integrationssystem hat. Wir haben also noch keine selbstwirkende Balance zwischen den Herkunftsländern und den Ankunftsländern und wir müssen noch sehr viel mehr machen an Entwicklungshilfe, an legaler Migration. Was ich bedauerlich finde ist, dass heute immer noch die Schlepper und Schleuser eigentlich immer noch die Oberhand haben. […] Also einiges ist gelungen, aber das Thema Flucht und Migration wird leider auch wegen der Situation in Syrien und in vielen anderen Ländern bleiben […] Es bleibt eine große Herausforderung in einer Welt, die viele Probleme kennt.« (Merkel bei Teilmann/Hoffmann 2021, Min 12:35). Was die ›Flüchtlingskrise‹ von 2015 so besonders machte, führt die Journalistin von die Zeit Jana Hensel in einem Artikel vom 31. August 2020 (fünf Jahre danach) aus: Das Besondere ist, dass im Gegensatz zu den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York (USA) und im Gegensatz zu der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 die ›Flüchtlingskrise‹ (wie auch die Corona-Pandemie) nicht abstrakt gewesen sei. Es war nichts, was irgendwo sonst wo auf der Welt in der Ferne passierte. Auch Euro- und Finanzkrise seien, obgleich in Europa stattgefunden, auf eine Weise doch weit weggeblieben. Hensel geht an der Stelle sogar so weit hervorzuheben, dass Deutschland in Retrospektive gar als Profiteur der Eurokrise hervorgegangen sei. Eine Krise mit ungünstigem Ausgang, sei es also nicht gewesen. Zwar sei Deutschland irgendwie auch von der Euro- und Finanzkrise betroffen gewesen, doch diese hätte das Land nicht so »tief erschüttert und tiefgreifend verändert« (Hensel 2020: 1) wie die ›Flüchtlingskrise‹ (und Corona-Pandemie). Mit ›Wir schaffen das!‹ machte Angela Merkel »Deutschland nicht nur zu einem Schauplatz der Krise, sondern die Deutschen gleichsam zu Akteuren« (ebd.). Damit reiht Hensel die Ereignisse von 2015 in eine Reihe historischer Meilensteine der deutschen Nachkriegsgeschichte ein und nennt die ›Flüchtlingskrise‹ in einem Atemzug mit der Studentenbewegung der 68er und dem Mauerfall. Auch der deutsche Volkssport Fußball bleibt im Rückblick nicht ungenannt. Das Motto der Weltmeisterschaft von 2006: »Die Welt zu Gast bei Freunden« (ebd.) – und die Reaktion auf die Ankunft tausender Flüchtender im Jahr 2015 schien jenen Ton zu treffen. Die ›deutsche Willkommenskultur‹ wurde international gefeiert, gelobt und gepriesen.

Vorwort: ›Wir schaffen das.‹

Vor 2015 schien es, als hätte es in Deutschland nur die »angepasste Generation Merkel oder die anderen, die zu viel Ich-Management betrieben, sich pflichtbewusst der Vergangenheit erinnerten oder sich beim gemeinsamen Tatort am Sonntagabend kurzzeitig ins Wir-Gefühl flüchteten« (ebd.: 2, Herv. dort), gegeben. Man war angepasst – man war mit sich und der eigenen (kleinen) Welt beschäftigt. Etwas, das 2015 nicht mehr möglich blieb: also kein Ausweichen, kein Wegschauen. Ein Schock des Erwachens riss das Land und seine Bürger aus dem »normaldeutschen Aggregatszustand der 2000er Jahre« (Pauer 2015), womit die ›Flüchtlingskrise‹ zur Zäsur wurde. Und in ihrem Resümee, fünf Jahre später, stellt Jana Hensel fest, dass das Kartenhaus Deutschland in sich zusammengefallen ist: »Die Wahrheit ist wohl, dass Deutschland in den harten Auseinandersetzungen darüber, ob es richtig oder falsch war, die Grenzen für die Geflüchteten offen zu lassen […] auseinanderfiel.« (Hensel 2020.: 2) Politisch hat sich einiges getan, doch eine Sache ist nicht passiert: Unter dem Zustrom der Geflüchteten ging die deutsche Wirtschaft nicht in die Knie (vgl. ebd.: 3). Wenn wir an die ›Flüchtlingskrise‹ von 2015 denken, sind da die Bilder von überfüllten Rettungsbooten, Menschen in orangenen Westen, die es schaffen an europäischen Küsten an Land zu gehen. Es sind die Berichte von Schiffsunglücken im Mittelmeer. Wenn Max Hoffman in seinem Interview mit der geschäftsführenden Kanzlerin im November 2021 von rund einer Million Geflüchteten spricht, die Deutschland 2015 erreicht haben, dann gehören die 800, die vor der lybischen Küste bei einem Schiffsunglück ihr Leben verloren, nicht dazu (vgl. Luft 2016: 69). Nicht nur Schlagworte und Phrasen, wie ›Wir schaffen das!‹ oder ›Willkommenskultur‹ prägten die Zeit 2015. Es war auch die Rede von ›Flüchtlingswellen‹, von der ›Festung Europa‹, die ihre Tore öffnen (oder schließen) sollte. Es war die Rede vom Mittelmeer, das den Beinamen ›Massengrab‹ erhielt. Es waren und sind noch immer die Bilder von Schiffen, auf deren Decks flüchtende Menschen eng gedrängt standen und auch noch heute stehen. Schiffe, die (teils vergeblich) auf Aufnahmen in europäischen Häfen hofften. Es sind die Berichte von toten Menschen, die in abgestellten LKWs gefunden wurden (vgl. Kasparek/Speer 2015). Es sind Aussagen von Politiker:innen2 , die ihre Erschütterung vor der fehlenden Hilfsbereitschaft in Gesten der Abwendung und Distanzierung deutlich machten: »das ist nicht mein Europa, mein Europa bedeutet Leben« (SPD-Politiker Lars Castellucci) (vgl. Hihat 2015). Es sind die Bilder von Grenzzäunen, die (mit einem Mal) wieder innerhalb von Europa hochgezogen wurden, Serbien von Ungarn und Mazedonien von Griechenland trennen. Es sind die Bilder von jenen Grenzzäunen, die von Flüchtenden überwunden werden, die unaufhaltsam von den Rändern in Europas Mitte drängen. Es sind die Bilder von Straßen und Autobahnen, auf denen keine Fahrzeuge fahren, dafür aber Menschenmengen zu Fuß unterwegs sind. Bilder von Gruppen, die selbst aus weitestem Objektivwinkel heraus keinen Anfang und kein Ende zu kennen scheinen; Menschen auf der Wanderung, soweit das Auge reicht, bis sich die asphaltierte Straße am Horizont verliert. Es ist der

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In der Arbeit werden Bezeichnungen mit der Doppelpunkt-Schreibweise in den Fällen, wenn konkrete Personen(-Gruppen) gemeint sind, gendergerecht angepasst. Handelt es sich um (theoretische) Denkfiguren – also gerade eben nicht (in erster Linie) um konkrete Personen, wird auf eine Anpassung verzichtet.

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

#marchofhope (vgl. Kasparek/Speer 2015), der in den sozialen Medien trendet, als die ganze Welt die Ereignisse im langen Sommer der Migration von 2015 beobachtet, begleitet, darüber spricht, twittert, kommentiert, teilt und schließlich alles stehen und liegen lässt, um zur Hilfe zu eilen. Es sind die Bilder von den Zügen, die im September 2015 im Münchner Hauptbahnhof ankommen, die tausende Flüchtende nach Deutschland bringen. Es sind die Bilder von bunten Plakaten, von vollgestopften Tüten und lachenden Gesichtern, die die Menschen in München willkommen heißen. Es sind die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof, an dessen Rand kurzerhand eine provisorische Aufnahme für die Geflüchteten eingerichtet wird: Hunderte Helfer:innen packen tatkräftig mit an. Es wird geholfen, begrüßt, gespendet und geschenkt. Bilder, die fortan untrennbar mit der deutschen ›Willkommenskultur‹ verbunden werden. Es ist das Bild des toten Alan Kurdi, welches diese Ereignisse in München und Deutschland begleitet und selbst der BILD Zeitung am 8. September 2015 die Bildsprache verschlägt. Grau und farblos bleibt eine der auflagenstärksten Zeitungen Deutschlands an diesem Tag: »Warum die Bild heute keine Bilder druckt!« (Unbekannter Verfasser 2015. Herv. dort). 55 % der Deutschen über 16 Jahre waren laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Bereich der Hilfe für Geflüchtete 2015 in irgendeiner Form engagiert (vgl. BMFSFJ 2018). 2016 gründete sich im Zuge der Ereignisse und Erlebnisse von 2015 in München der Verein Münchner Freiwillige – Wir helfen e. V. (Haase/Somaskanda 2017). Im April 2017 fanden auf dem Münchner Marienplatz hunderte von Helfer:innen, Interessierte und Geflüchtete zur ersten Vollversammlung Ehrenamtlicher, organisiert vom Bündnis für Demokratie und Menschenrechte, zusammen. Es sind die Helfer:innen, die die Geflüchteten in Empfang nahmen, begleiteten, ihnen zur Seite standen: »wir waren wirklich viele, viele Menschen in Deutschland, die mit angepackt haben. Viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, viele Ehrenamtliche, viele, die auch heute noch Patenschaften haben.« (Merkel bei Teilmann/Hoffman 2021). Und ohne die Hilfe derjenigen, die 2015 spontan aktiv wurden, mit anpackten, hätte die Situation 2015 nicht gemeistert werden können (vgl. Bursee/von Billerbeck 2015). 2017 aber steigt der Frust unter den Helfenden, da wird von Unzufriedenheit und unerfüllten Erwartungen berichtet, Engagement wird niedergelegt, die Helfer:innenzahlen gehen zurück und die ›Ermüdung im Ehrenamt‹ wird medial, politisch aber auch wissenschaftlich (vgl. Hamann et al. 2017: 12) thematisiert. Im ersten Halbjahr 2017 nahm ich an einem vom bayrischen Flüchtlingsrat initiierten Workshop für Ehrenamtskoordinator:innen, Engagierte und Interessierte in Nürnberg teil (vgl. FB220517). Der Feldbesuch sollte zum Schlüsselmoment meiner unternommenen Promotionsforschung werden. Unter dem Titel Zwischen den Stühlen berichteten Vertreter:innen aus allen bayrischen Bezirken von ihren Erfahrungen im Bereich der Geflüchtetenhilfe, von den Herausforderungen und Rückschlägen der letzten Monate. Sie berichteten vom Rückgang der Helfer:innenzahlen, von Frustrationen, Ermüdung und vielem mehr. Der Feldbesuch stand allem Anschein nach im Gegensatz zu einer, nur einen Monat zuvor, in München stattgefundenen Vollversammlung der Helfer:innenkreise und Initiativen (vgl. FB230417). So waren im April 2017 auf dem Münchner Marienplatz Helfer:innenkreise und Initiativen zur ersten Vollversammlung der Geflüchteten-

Vorwort: ›Wir schaffen das.‹

helfer:innen, initiiert durch das Bündnis für Menschenrechte und Demokratie, zusammengekommen, um ein Statement zu setzen, politische Position zu beziehen und um (wieder) sichtbarer zu werden: »Die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof gingen 2015 um die Welt und kreierten den Begriff der Willkommenskultur. Wir lassen nicht zu, dass daraus eine Abschiebekultur wird. Wir sind nicht länger still und leise. Wir zeigen, dass wir viele sind und erheben unsere Stimme!« (Vgl. FB230417.01) Im Abstand nur weniger Wochen schienen sich auf den ersten Blick zwei konträre Bilder zu zeichnen – eine Kontroverse sichtbarer zu werden, womit jene Momente zu StartPunkten meiner ANT-geleiteten Forschung wurden.

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Einleitung: Vom Theoretisieren

Bei der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour handelt es sich nicht um eine Theorie. Die ANT ist kein System von zusammenhängenden Aussagen mithilfe derer empirische Phänomene verstanden und erklärt werden sollen. Die ANT formuliert keine Aussagen über das Wesen von Dingen oder Begebenheiten, sie erklärt keine Zusammenhänge oder weist auf vermeintliche Kausalitäten hin. Die ANT ist keine Theorie, die sich auf einen ausgewählten Gegenstand anwenden ließe. In dem Sinne ist die ANT »zunächst einmal ein negatives Argument […]. Sie sagt nicht irgendetwas Positives über irgendeine Angelegenheit aus« (Latour 2014: 245). Sie ist »eine Theorie darüber wie Dinge zu untersuchen sind, oder vielmehr, wie sie nicht zu untersuchen sind – oder vielmehr, wie man den Akteuren ein wenig Raum läßt, um sich selbst auszudrücken« (ebd.). Forscher:innen sind ständig damit beschäftig das Repertoire verschiedenster (soziologischer) Theorien zu erweitern und zu überarbeiten. Sie zeigen Grenzen von Erklärungsangeboten auf, deuten auf Lücken hin, versuchen diese zu schließen, sie üben Kritik und formulieren neu. Die Zahl der Theorien, die etwas Substantielles über die Dinge aussagen möchten, wächst kontinuierlich. Die ANT aber ist keine jener Theorien, die so viel über die Dinge aussagt: vielmehr wird eine Art und Weise aufgezeigt, wie wir uns den Dingen wieder annähern können. Die ANT beschreibt einen Weg, auf dem wir zu den Dingen selbst zurückzukehren können und eine Perspektive, die unseren dabei hilft, den wissenschaftlichen Blick nicht mehr durch die Grenzen bestehender Theorien einzuengen und nicht nur aufzeigt, wo bestehende Erklärungsmodelle unsere Perspektive womöglich einengen, sondern auch eine Art und Weise aufzeigt, mithilfe derer wird diese Limitationen bearbeiten können. Nutzen wir Durkheims Zugang zur Untersuchung sozialer Phänomene, suchten wir nach ›dem Sozialen‹, nach einer sozialen Kraft, nach (Formen von) Solidarität und nach soziologischen Tatbeständen und übersehen womöglich Dinge, die nicht ins Schema passen, die außerhalb liegen. Nach Weber begeben wir uns auf die Suche nach Sinn- und Bedeutungszusammenhängen, den Motiven, von denen wir annehmen müssten, dass sie dem beobachteten (sozialen) Handeln zugrunde liegen. Wir versuchten Idealtypen zu (re-)konstruieren und unsere Beobachtungen in gebildete Kategorien einzusortieren. Mit Parsons suchten wir nach Systemen und Teilsystemen, die in komplizierten Zusammenhängen zueinander in Bezug stehen sollten. Und wenn gefunden, suchten wir nach

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

den Entsprechungen des AGIL-Schema, um in komplizierter Weise zu erklären, was hier passierte. Ein Vokabular für das, was schon längst versammelt wurde, stellen jene Theorien bereit, die etwas Substantielles über die Dinge sagen möchten: Sie erklären, wie bestehende Ordnung funktioniert, wie wir sie als Gesamtes erfassen können. Sie erklären welche Teile in welcher Weise mit anderen zusammenhängen und wie sie aufeinander wirken, ineinandergreifen und das ›große Ganze‹ damit (weiterhin) aufrechterhalten. Sie erklären uns, wie die Ordnung erhalten bleibt. Schwierig wird es in den Momenten, »wenn die Dinge sich rasch verändern« (ebd.): dort, wo Ordnung zerfällt und dort, wo (neu-)geordnet werden muss. Wo aus ›einer Ordnung‹ ein Organisieren wird: dort, wo Ordnung droht zu zerfallen, wo Kräfte mobilisiert werden (müssen), um die Ordnung aufrechtzu-erhalten. Wo Akteure dazu aufgefordert sind, aktiv zu werden, zu handeln und zum Handeln gebracht werden: wo die Arbeit der Akteure (wieder) sichtbar wird. Hier setzt die ANT an. Sie ist ein Werk-Zeug, das dabei hilft, den Akteuren auf der Spur zu bleiben: die hilft, das, was sie tun, nicht zu verpassen und nicht zu übersehen. »Die ANT ist eine Methode und außerdem meistens eine negative; sie sagt nicht aus über die Gestalt dessen, was mit ihr beschrieben wird« (ebd.: 246). Und so handelt es sich bei dieser Arbeit auch nicht um die textliche Dokumentation eines Forschungsprogramms, das kleinschrittig vor-geplant und dann umgesetzt und in der Form eines abschließenden Forschungsberichts zusammengefasst wird. Dies ist nicht das finalisierte Endprodukt einer unternommenen Suche nach einer Antwort auf eine eingangs formulierte Frage. Die Dissertation von Maximiliane Brandmaier über Angepasstes und widerständiges Handeln geflüchteter Menschen in österreichischen Sammelunterkünften (2019) ist hierfür ein Beispiel: Die umfangreiche und aufwendige Forschung folgt einem klassischen Aufbau empirisch orientierter Forschung. Die Forschungsfrage wird ausformuliert, Theorie wird rezipiert, Begriffe geklärt und definiert und der Forschungsstand zusammengetragen. Im Anschluss werden ausgewählte Methoden und Instrumente erklärt, das Forschungsprogramm wird schrittweise dargelegt und schließlich die erhobenen Daten zusammengefasst und gemäß gegebener Regeln interpretiert. Daraufhin werden Ergebnisse abgeleitet und diskutiert und die Forschung im Abschluss (kritisch) reflektiert (vgl. Brandmaier 2019). Forschungsarbeiten dieser Art gibt es reichlich. Diese hier ist keine davon. Was nicht heißen soll, dass Forschungen, die nach Brandmaiers Beispiel durchgeführt würden, keine nutzbaren Ergebnisse und Erkenntnisse brächten: ganz im Gegenteil. Diese Arbeit aber ist das, was mit der ANT zu Tage befördert werden kann: es ist eine Versammlung und gleichzeitig schon immer selbst Teil anderer Versammlungen. Und der Bericht, als Versammlung von Vielem, wird als wiederum in Netzwerken zu einer Entität, die durch andere wiederum neu versammelt werden kann. »Ein guter ANT-Bericht ist eine Erzählung oder Beschreibung oder Proposition, in der alle Akteure etwas tun und nicht bloß herumsitzen« (ebd.: 223). Dies ist kein Bericht über die Dinge: der Bericht ist Teil, verschiebt und übersetzt, markiert, trennt und grenzt ab und ein und verbindet seinerseits immer schon mit. Auch wenn der Bericht endet, ist er nicht vollständig und erhebt auch nicht diesen Anspruch. Er beginnt in media res (vgl. ebd.: 214) und schon im Moment, in dem die Spuren der Akteure festgehalten werden, sind diese schon wieder überholt. Der Vollständigkeit liegt ein Moment der End-

Einleitung: Vom Theoretisieren

lichkeit inne: etwas wird fixiert und festgehalten. Begleitet wird dies Denken von einer statischen Idee von Dauerhaftigkeit und der Annahme, dass Dinge dauerhaft gemacht werden könnten. Und vor dem Hintergrund des beständigen Wirkens und Werkens der Akteur-Netzwerke, die in ihrem Arbeiten, dem Verbinden und Trennen, dem Organisieren und Sortieren, dem Kombinieren und Assoziieren ständig und immerzu Sozialität (re-)produzieren, wäre selbst eine theoretisch erreichte Vollständigkeit im nächsten Moment schon längst überholt. Die folgenden Ausführungen schlagen sich auf die Seite der Theorie, gleichzeitig wird keine Theorie angewendet oder erprobt und ebenso nicht gebildet. Genau genommen geht es um (soziologisches) Theoretisieren. Also um etwas, das getan wird. Damit stellt sich diese Arbeit einer vereinfachten Trennung von ›Theorie‹ und ›Empirie‹ entgegen. Das tut sie unter anderem vor dem Hintergrund einer Aussage, die im Grundsatzprogramm der 2017 gegründeten Akademie für Soziologie auf folgende Weise formuliert wurde: »Theorien sind Systeme aufeinander bezogener Konstrukte, Begriffe, Annahmen und Hypothesen. Sie müssen an mindestens einer Stelle eine Aussage über einen systematisch und über den Einzelfall hinausweisenden empirisch prüfbaren Zusammenhang enthalten. Es wird angenommen, dass das sinnhafte, kulturell geprägte soziale Handeln solche Zusammenhänge aufweist. Diese Annahme gilt auch für Vorgänge der sozialen Konstruktion der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse.« (Akademie für Soziologie 2019: 1) Darüber hinaus möchte die analytisch-empirische Soziologie offen für andere Ansätze sein, darunter für »quantitative wie für qualitative, für handlungs- wie strukturtheoretische, für beschreibend wie theorietestend ausgerichtete Forschung« (ebd.: 2). Theorie wird zu einem Zwischenglied für empirisch orientierte, analytische Forschung, die theorietestend forscht und deren Anliegen es ist, Hypothesen, die von Theorien abgeleitet werden, zu überprüfen. Bruno Latour unterscheidet Zwischenglieder von Mittlern. Dabei liegt es nicht in den Dingen selbst, Zwischenglieder oder Mittler zu sein. Es geht darum, wie die Dinge und Verbindungen betrachtet werden. Ignorierte man beispielsweise die Übersetzungstätigkeiten eines Telefonapparats während man ein Telefonat untersucht, degradierte man die beteiligten nicht-menschlichen Akteure zu reinen Zwischengliedern: als machten sie keinen Unterschied, als wären sie nur Mittel zum Zweck, wenn zwei Menschen auf größerer Distanz miteinander sprechen. Dabei tun die nicht-menschlichen Akteure in der Situation auch etwas. Sie machen einen Unterschied. Deutlich wird dies, wenn etwas schief geht: wenn das Akteur-Netzwerk des Telefonierens scheitert. Wir werden uns des Mitwirkens der nicht-menschlichen Akteure dann bewusst, wenn sie ihren Dienst versagen: wenn beispielsweise das Mikrofon in einem der Telefonapparate lockert und deswegen nicht mehr am zugewiesenen Platz in der Telefonhörerschale liegt und die Übertragung der Stimme dadurch gestört ist. Akteur-Netzwerke wirken auch nicht im abgeschlossenen Raum: sie können gestört werden, wenn beispielsweise andere Signale das Telefonsignal stören oder etwas im Weg ist, wie z.B. massive Wände und Decken. All diese Dinge tun auch etwas, sie übersetzen und wirken mit. Für eine Analyse sollten wir sie daher nicht nur als bloße Zwischenglieder, sondern als Mittler betrachten. Latour ver-

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

deutlicht diese Zusammenhänge mit der Soziologie des Türschließens (Johnson 2016). Und ähnlich wie Latour die nicht-menschlichen Akteure mit einbezieht, verhält es sich auch mit den Erzeugnissen unseres Denkens und der Art und Weise, wie wir denken: sie machen einen Unterschied. Vor dem Hintergrund der ANT geht es in dieser Arbeit nicht darum, bestehende Theorien auseinanderzunehmen, sie zu sezieren, in ihre einzelnen Stücke zu zerlegen und von allen Seiten zu prüfen, überholte Momente hervorzuheben und die Nutzbarkeit des Theoriesystems entsprechend grundlegend in Frage zu stellen. Trotzdem werden in der Arbeit Theorien bearbeitet: mit ihnen wird gearbeitet. Es ist dem Sinne keine Arbeit über Theorien, sondern mit Theorien. Theorien werden nicht als (leblose) »Systeme aufeinander bezogener Konstrukte, Begriffe, Annahmen und Hypothesen« (Akademie für Soziologie 2019: 1) verstanden, sondern als Akteur-Netzwerke von Ideen, Gedanken, Verbindungen und Assoziationen, die beständig verschoben, übersetzt, verbunden, entfernt, dekonstruiert und rekonstruiert und (neu) formuliert werden. Ein jedes Forschungsunterfangen nimmt Teile heraus, verarbeitet und verbindet und wird in Form eines Berichts, im Regelfall einer Veröffentlichung – in Form von Monografien, Aufsätzen, Blogbeiträgen, Kommentaren und auch Vorträgen – Teil bestehender oder sich neu formender Akteur-Netzwerke, die nie statisch gedacht, sondern immer in Veränderung prozesshaft begriffen werden müssen. Theorien sind keine starren Gebäude von Aussagen auf Aussagen und Verbindungslinien, die wie Stützbalken gemeinsam, das erbaute Gebäude irgendwie zusammenhalten und sich als weitgehend schlüssige Einheit präsentieren. Die Arbeit mit Theorien bedeutet aber auch nicht, auf bereits bestehende theoretische Gebilde keine Rücksicht zu nehmen und sie gar unbeachtet nebenan liegen zu lassen. Es werden die theoretischen Fäden aufgenommen, bereits bestehende, von anderen vollzogene Verbindungen zurückverfolgt und nachgezeichnet und Übersetzungsschritte markiert. Bereits bestehende Theorien werden auf- und übernommen »(over-taken)« (Latour 2014: 79, Herv. dort), dabei Elemente herausgelöst, andere übernommen und mit wiederum anderen (neu-)kombiniert, »anders aufgenommen (othertaken)« (ebd., Herv. dort), übersetzt und verschoben: »Roughly speaking, the expression ›to theorize‹ refers to what one does to produce a theory and to the thought process before one is ready to consider it final. While theorizing is primarily a process, theory is the end product. The two obviously belong together and complement each other. But to focus mainly on theory, which is what is typically done today, means that the ways in which a theory is actually produced are often neglected. This is true both for the individual researcher and for social science as a whole.« (Swedberg 2014: 1)

Zurück zum Empirismus »Es geht darum, zum Empirismus zurückzukehren« (Latour 2014: 252): zu den Dingen zurück, zu den Versammlungen, dem Wirken und Werken der Akteur-Netzwerke, die Verbindungen aufbauen, Grenzen abstecken, Brücken schlagen, ins Netzwerk reinholen und rausschieben, verschieben, übersetzen und transformieren. Sie sind immer schon

Einleitung: Vom Theoretisieren

selbst sehr beschäftigt. Dieses geschäftige Tun gilt es mithilfe der Werkzeuge der ANT zu kartografieren. Es geht also darum, den Verbindungen zu folgen, die die Akteure selbst zwischen den Dingen herstellen. Auch wenn sie »vollkommen inkommensurabel« (ebd.: 245) erschienen, gar widersprüchlich, paradox oder irgendwie quer liegen. Dabei ist es den Akteuren selbst überlassen, zu sortieren, und zu entscheiden, was wohin gehört und was nicht, und zudem: wie sie bezeichnen möchten, worüber sie sich unterhalten und austauschen. Welche Begriffe sie für die Dinge nutzen wollen, die sie bewegen: für das, was sie in Bewegung bringt. Die Akteure benennen ihre Dinge von Belang (matters of concern). Wenn 2015 noch von einem deutlichen Aktionismus geprägt war, ›Willkommenskultur‹ gelobt und Geflüchtetenhilfe allgegenwärtig schien, so scheint sich mit dem Jahr 2017 etwas verändert zu haben. Es ist einerseits von Ermüdung im Ehrenamt die Rede, Helfende, vor allem Koordinator:innen finden sich Zwischen den Stühlen (vgl. FB220517) wieder und auf dem Marienplatz in München versammeln sich Helfer:innenkreise und Initiativen: sie fordern Unterstützung, sie fordern Reformen und Spuren von Politisierungen lassen sich nachzeichnen. Spuren werden nachgezeichnet, Spuren werden aufgenommen, übernommen und neu verbunden: Netzwerke gehen dort an die Arbeit, wo staatliches Versagen droht. Das, was 2015 passierte hatte Auswirkungen in viele gesellschaftliche Bereiche des Lebens. Und es sind nicht nur Geflüchtete, Helfende und staatliche Akteure, die aktiv sind: auch Wissenschaftler:innen bringen sich mit ein und werden eingebunden. Forschung zum Thema FluchtMigration erlebte einen regelrechten Forschungsboom (vgl. Kleist 2019: 15): Forschung war betroffen und wirkte ihrerseits mit. Aus Perspektive der ANT gehören sie genauso dazu, wie alle anderen, die einen Unterschied machen. Eine Arbeit, wie diese, die sich mit dem Theoretisieren befasst, betrachtet folglich auch Forschung, die zu einem bestimmten Thema unternommen wird: Welche Theorien werden in welcher Weise genutzt? Wie wird Theorie eingebunden, übersetzt und (weiter-)entwickelt? Der Annahme folgend, dass Forschung, die sich mit Themen wie Flucht, Geflüchteten und der ›Flüchtlingskrise‹ befasste, beschäftigte sich gewiss auch mit der (soziologischen) Figur des Fremden, fand diese Forschung einen ihrer Startpunkte: beim Fremden. In Verbindung mit den Werkzeugen der ANT, begann die Forschung sich auf die Momente hin zu orientieren, wo die Arbeit der Akteur-Netzwerke besonders deutlich wird: in den Momenten des Scheiterns, wenn die Arbeit (wieder) aufgenommen werden muss und ihre Spuren besonders deutlich noch sind. Mit dem Forschungsboom stieg auch die Zahl unternommener Forschungen, mit dem Phänomen, das für einige Monate und Jahre gesellschaftsprägend werden sollte, gab es genug, was wissenschaftlich erforscht werden konnte, sollte und musste und die ›Krise‹ drängte nach Antworten und Lösungen. Mit der Aufmerksamkeit auf das Thema und dem Zusammenkommen von immer mehr wissenschaftlichen Akteuren, die fleißig zu Arbeiten begangen, wurden ständige Theoretisierungen übernommen, wurden Ideen und Konstrukte, Konzepte und Erklärungssysteme herangezogen und getestet. Giorgio Agambens Homo Sacer (2002) gehört mit dazu. Die Figur des Homo Sacer taucht auf, vom Ausnahmezustand ist auch außerhalb wissenschaftlicher Abhandlungen die Rede, wenn beispielsweise die Septemberwochen des Jahres 2015 am Münchner Hauptbahnhof auch als Ausnahmezustand beschrieben werden, doch verschwinden die Ansätze des Philosophen bald wieder und ma-

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

chen im Kontext soziologischer Analysen etabliert und getesteten Theorien, wie Erving Goffmans Totale Institution Platz. Ausgehend von der Beobachtung, stellt sich die Frage, inwiefern durch eine intensive Theoretisierung und Bearbeitung, womöglich doch mehr Ansätze aus dem Werk des Rechtsphilosophen gewonnen werden können, als bisher angenommen. Gerade das Verwerfen der Erklärungsansätze kann aus ANT-Perspektive auch als ein Scheitern begriffen werden: und entsprechend dort ist anzusetzen, wenn wir uns auf die Suche von Spuren von Theoretisierungen machen. Einzuordnen ist die vorliegende Arbeit als Beitrag zur soziologischen Theorie. Ziel ist es, eine Denkfigur von Fremdheit zu entwickeln, die als nutzbare Heuristik für soziologische Forschung über diese Promotionsarbeit hinaus Anwendung finden kann. Aus dieser leitet sich eine Denkweise ab, an die eine verstärkte Soziologisierung von Giorgio Agambens Theorie des Ausnahmezustands und Homo Sacer anschließt, wodurch der Mehrwert, den diese ursprünglich rechtsphilosophisch verortete Theorie für FluchtMigrationsforschung im Speziellen aber auch Soziologische Theorie im Allgemeinen mit sich bringt. Grundlage für das Vorgehen bildet der Werkzeugkasten der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour und das damit zusammenhängende soziologische Verständnis ›des Sozialen‹, das nicht als gegeben angenommen, sondern performativ wiederholt erst in Verbindung von Nicht-Sozialem hergestellt wird: ›das Soziale‹ wird nicht substanziell erfasst. Das soziologische Grundverständnis, auf das diese Arbeit verweist, geht von einem prozesshaften Charakter sozialer Zusammenhänge aus, die in einem ständigen Werden und gleichzeitigen Zerfallen begriffen sind. Ausgehend von der These, dass sich am Fremden vor allem das Eigene zeigt und damit in Konfrontation mit dem Fremden die Eigenheiten (Selbstverständlichkeiten) des Eigenen erst sichtbar werden, konzentriert sich die Promotionsforschung weniger auf eine noch bessere Erfassung des Fremden an sich, sondern darauf, welche Eigenheiten des Eigenen der Fremde zum Vorschein bringt. Im Zuge der Forschung wurden also (wissenschaftliche) Veröffentlichungen aus dem Feld der (weitgehend) deutschsprachigen FluchtMigrationsforschung nach Spuren des Fremden und Agambens Ausnahmezustand und Homo Sacer durchsucht. Die Veröffentlichungen dienen nicht nur als wissenschaftliche Referenzen und Bezugspunkte, sondern sind gleichzeitig auch Forschungsdaten, die es zu bearbeiten galt. Dabei lag der Fokus vor allem (aber nicht ausschließlich) auf Publikationen, die im Zuge der ›(europäischen) Flüchtlingskrise‹ ab 2015 veröffentlicht wurden. Geleitet von der ursprünglichen Irritation einer vermeintlichen Compassion Fatigue unter den Helfenden, lag ein besonderes Augenmerk auf den Arbeiten, die sich mit der ›Willkommenskultur‹ und dem Engagement der Helfenden befassten. Die Akteur-Netzwerk-Theorie Latours kennt kein Konzept des Fremden. An diesem Punkt vollzieht diese Arbeit eine kritische Auseinandersetzung mit der ANT: der Fremde und Fremdheit werden in soziologischen Untersuchungen als gegebene Phänomene betrachtet und sind gleichzeitig mehr als ›nur‹ Phänomene, die es zu erforschen gäbe. Fremdheit als eine Denkfigur kann Heuristik für soziologisches Verständnis bilden und zudem Werkzeug für soziologisches Theoretisieren sein. Insofern ist Fremdheit mehr als nur ein Phänomen, das soziologisch erforscht werden kann und es ist ein Versäumen der ANT, das Potenzial des Fremden nicht auszuschöpfen. Anliegen der Arbeit ist also auch, die ANT um ein Konzept von Fremdheit zu ergänzen und beide soziologisch nutzbaren

Einleitung: Vom Theoretisieren

Elemente zu verbinden. Begleitet wird diese Verbindung mit und durch die Entwicklung einer Denkweise, die im ersten Kapitel dieser Arbeit mithilfe von Edgar Morins Denken in Komplexität entworfen wird. Der Werkzeugkasten der ANT wird mit Edgar Morins theoretischer Methode von Komplexität ergänzt, die grundlegend Komplexität vor Reduktion denkt und erstere der zweiten stets vorzieht. Entsprechend ergänzen sich beide theoretischen Vorgehensweisen, wenn es gerade gilt keine Komplexitätsreduktion vorzunehmen, sondern vielmehr bei den Dingen zu bleiben und »zum Empirismus zurückzukehren« (Latour 2014: 252). Was in dem Falle hieß keine standardisierten, kontrollierten Methoden zu nutzen. Womit in diesem Zuge auch eine Denkweise entwickelt wurde, die das Theoretisieren als Praxis soziologischer Forschung begreift. Auch an dieser Stelle macht sich eine Aufbereitung des Fremden unabdingbar, wenn gerade daraus eine nutzbare Heuristik abgeleitet werden kann, die die Wechselwirkungen zwischen dem Fremden und Eigenen in den Blick nimmt. Die Figur des Fremden ist für diese Vorhaben insofern also relevant, als dass in der Auseinandersetzung mit Fremdheit als Phänomen einerseits, aber auch in der Wirkungsweise der Figur des Fremden als Begleiter soziologischer Forschungen, als heuristisches Hilfsmittel genau genommen, Eigenheiten des Denkens, des Forschens, wie aber auch des konkreten Fremden/Eigenen verdeutlicht werden kann. So wird in dieser Arbeit ausgeführt, dass der Fremde und Fremdheit nicht nur Gegenstand der Untersuchung sein kann, sondern gleichfalls auch als vielseitiger Begleiter soziologischer Unternehmungen begriffen werden kann. »Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewusstes – dieses ›Uneigene‹ unseres nicht möglichen ›Eigenen‹« (Kristeva 1990: 209). Am Fremden zeigt sich das Eigene. Oder auch: in der Konfrontation mit dem Fremden, kommt das Eigene zum Vorschein. Eben diese Denkfigur wird zur grundlegenden Leitlinie der folgenden Arbeit. Denn wenn wir dem Fremden begegnen, verrät uns der Fremde nichts über sich selbst, fordert aber, allein durch seine Anwesenheit, die Konfrontation, im Angesicht, vis-à-vis, in der Begegnung des Antlitzes des Anderen (vgl. Lévinas 2017: 198f, Römpp 1989: 131) auf – uns auf. Der Moment der Begegnung, die Konfrontation, bringt, nötigt gar das Eigene dazu, sich zu zeigen, aus dem Schleier des Selbstverständlichen herauszutreten, irritieren zu lassen, zu differieren, in der Differenz, die uns durch den Anderen, vielmehr in der Fremdheit des Anderen begegnet. Dabei handelt es sich nicht um das ›Wesen‹ des Eigenen, das als eine Substanz vorhanden, grundlegend eingeschrieben gedacht werden kann. Es ist gerade eine Wendung in der die »Identität des Subjekts […] nicht durch ein In-sich-Ruhen hervor[tritt], sondern durch eine Beunruhigung, die mach aus dem Kern meiner Substantialität verjagt« (Lévinas 2011: 312). Mithilfe einer Denkweise, die sich von einer substanziellen Fassung des Eigenen und Fremden abwendet, bleibt der Fremde, Fremdheit, das Fremde unterbestimmt, betont un-bestimmt. In der Begegnung kommt am Fremden das Eigene zum Vorschein. Womit nicht gemeint sein soll, dass Fremdheit zur Bedingung des Eigenen wird, das Eigene durch Fremdheit hervorgebracht würde. Ebenso wenig, wie davon auszugehen ist, dass das Eigene als immer schon gegeben vorhanden, da, in-sich-Ruhend in seinem Wesen schon fest, angelegt, tatsächlich in einem ontologischen Sinne ist. Im Anschluss an Edgar Morins Denken von Komplexität, einem komplexen Denken, wird

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

das Eigene als ständig aufgelöst, fluide, immerzu im Werden und Vergehen begriffen, also prozesshaft, erfasst. Die Notwendigkeit eines ausführlich reflektierten soziologischen Theoretisieren wird an der Stelle im dritten, sich anschließenden Vorhaben der Forschung deutlich, wenn es um die Notwendigkeit intensiver Soziologisierung von ursprünglich nichtsoziologischer Theorien geht. Am Beispiel von Giorgio Agambens Theorie vom Ausnahmezustand und Homo Sacer wird dies besonders deutlich. Die Theorie Agambens wird vom betrachteten Forschungsfeld zwar aufgegriffen und findet als ursprünglich rechtsphilosophische Theorie Eingang in die politikwissenschaftlichen, soziologischen und fluchtmigrationsfokussierten Diskurse, wird dabei aber oftmals nur als Fußnote oder verkürzt und nicht ausreichend übersetzt, angewendet. Am Beispiel von Agambens Theorie wird nicht nur die Notwendigkeit intensiverer Soziologisierung (Übersetzung) von Theorien deutlich, sondern auch das Potential in diesem Fall spezifisch der rechtsphilosophischen Theorie, aber im Allgemeinen auch »fachfremder« Theorien für die soziologische Theorie im Speziellen deutlich. Mit den oben skizzierten Vorhaben soll diese Theoriearbeit einen Beitrag zur soziologischen Theorie liefern. Sie (ver-)bindet dabei befruchtende Ansätze aus benachbarten Disziplinen wie u.a. Julia Kristevas Weiterführung des freudschen Unheimlichen, Jacques Lacans fragmentiertes Subjekt und Emmanuel Lévinas Alterologie als Gegenentwurf zur egologischen Perspektive – einer verstehenden Soziologie – und zeigt exemplarisch auf, wie eine Soziologisierung dieser Ansätze die soziologische Forschung bereichern kann. Soziologische Anbindung findet die Theoriearbeit v.a. durch Simmels Raumsoziologie, schließt dabei an Simmels Exkurs zum Fremden an und folgt in ihrer soziologischen Theoriebildung den Prinzipien der ANT und Soziologie der Assoziationen, sowie einer durch die Monadologie Gabriel Tardes befruchteten Denkweise.

Über das Verfassen kritischer Berichte Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie soll diese Arbeit nicht als vollständig abgeschlossener Forschungsbericht betrachtet werden. Sie ist vielmehr Teil von Netzwerken, die weit über diese Seiten hinaus gehen. Die vermeintlichen Schlussfolgerungen der folgenden Kapitel sind in Teilen auf eine Weise womöglich längst schon überholt, deswegen aber nicht weniger relevant und potenziell wirksam. Hauptanliegen dieser Arbeit ist es, verschiedene theoretische Experimente festzuhalten, die vor dem Hintergrund der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latours unternommen wurden. Obgleich eine empirische Orientierung den Ausgangspunkt des Theoretisierens bildete, handelt es sich nicht um eine empirisch-praktische soziologische Untersuchung. Unternommen wurde der Versuch praktischen Theoretisierens, das immer schon eingebunden und nie völlig losgelöst betrachtet werden kann. Immer schon sozial ist, weniger, weil der Mensch an sich als soziales Wesen begriffen würde, sondern vielmehr, weil Theoretisieren immer auch Verbinden heißt und das Verbinden von Elementen immer eine Bedingung von Theoretisieren ist. Theoretisieren kann eine Art und Weise des Denkens heißen, eine Praxis des Denkens oder Nach-denkens im Sinne eines (gegebenenfalls auch zeitlich) nachfolgenden Denkens, aus dem sich wiederum ein sys-

Einleitung: Vom Theoretisieren

tematisches Un-Denken ergeben kann. Theoretisieren ist der Nachvollzug eigener Denkwege und der Ein- und Nachbezug anderer Denkwege. Die einzelnen Kapitel der Arbeit sind gleichzeitig in sich inhaltlich geschlossen und können als Einzelne gelesen werden. Sie stehen dennoch in Bezug zueinander und durchdringen sich inhaltlich. Der Aufbau der Arbeit, wenn auch nacheinander gereiht, ist entsprechend nicht als ein Aufeinanderfolgen logischer Ergänzungen zu sehen. Es handelt sich um die Versammlung verschiedener Schlaglichter, die mit der Festlegung bestimmter Perspektiven und Fixpunkte Potenziale eines praktischen Theoretisierens mit der Akteur-Netzwerk-Theorie aufzeigen. Die Arbeit beginnt mit dem Entwurf einer Denkweise komplexen Denkens und Denkens mit Komplexität. Zu diesem Zweck werden mehrere bekannte, soziologische Denkwege vorgestellt: die spezifischen Perspektiven werden nachgezeichnet und Vorannahmen, auf denen jene theoretischen Richtungen basieren, aufgezeigt und dekonstruiert. Mithilfe von Edgar Morins Komplexität, Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie und der Perspektive der Soziologie der Assoziationen wird eine Denkweise entwickelt, die soziale Komplexität nicht überwinden oder bewältigen muss, sondern als solche aufnehmen kann. Die ANT liefert mit ihrem Werkzeugkasten eine Herangehensweise, die Komplexität nicht erst reduzieren muss, die soziale Phänomene in ihrer eigenen Organisationslogik stehen lassen und aufnehmen kann und sie nicht durch einengende Theoriemodelle beschneiden und vorsortieren muss. Soziologische Anbindung findet die entwickelte Denkweise in Verbindung mit Elementen der Denkweisen von Georg Simmel, Karl Marx, Marcel Mauss und Gabriel Tarde. Durch die Beleuchtung bekannter Denkwege wird zunächst ein Prozess des Un-Denkens und in Verbindung mit bekannten soziologischen Ansätzen und nicht-soziologischen Ideen ein Um-Denken vorgenommen. Durch Übernahme, Abgrenzung und Verbindung wird innerhalb dieses Abschnittes eine Denkweise entwickelt, die für die gesamte Arbeit als Grundlage dient. Im Anschluss an die Entwicklung dieser Denkweise, wird eine Übersetzung dieser Idee einer Art und Weise des Denkens in soziologisch nutzbare Form vorgenommen. Der Werkzeugkasten der Akteur-Netzwerk-Theorie dient hier als Anschlusspunkt. Mittels verschiedener Leitprinzipien der ANT von Bruno Latour und den Momenten der Übersetzung von Michell Callon, wird ein Fahrplan entwickelt, der den Dingen Raum gibt ihre Komplexität zu entfalten ohne, dass die soziale Komplexität durch Methode oder Instrumente von vornherein eingehegt werden muss. Der Fahrplan ist daher weniger eine vorab festgelegte Route, sondern lediglich ein Vehikel, das eine systematische Reise ermöglicht. Der zweite Teil dieses Kapitels beginnt dort, wo sich die Dinge ereignen: bei den Dingen selbst. Eine Teilnahme bei einem Workshop unter dem Titel Zwischen den Stühlen, der 2017 in Nürnberg stattfand, bildet den Ausgangspunkt für die Kartographie der ›Flüchtlingskrise‹ von 2015 mit besonderem Fokus auf die Gruppe der Helfenden. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird eine weitere, zweite eher übersehene Gruppe mit in die Kartographie mit einbezogen: die Gruppe wissenschaftlicher Akteure, die im Zuge der Ereignisse nicht untätig geblieben sind und deren Spuren in einem dritten Teil ebenso versammelt und nachgezeichnet werden. Das folgende Kapitel, wendet sich der Figur des Fremden zu und bildet neben dem ersten Kapitel, in dem die allem zugrundeliegend Denkweise entwickelt wurde, eines der Hauptkapitel der Arbeit. Die Figur des Fremden bringt eine Reihe von Besonderheiten

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mit sich, die sich soziologische Forschung schon lange zunutze macht. Fremdheit kann als Phänomen, als Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen betrachtet werden. In Verbindung mit dem, was durch gesellschaftliche Akteure als ›das Fremde‹ im Gegensatz zu dem ›Eigenen‹ identifiziert wird, lassen sich Gruppendynamiken, Grenzziehungen und das ›Wir‹ im Kontrast zu den ›Anderen‹ klarer erfassen und deskriptiv beschreiben. Womit sich an der Stelle auch eine Verschränkung von der Realfigur des Flüchtlings mit der Denkfigur des Fremden nachzeichnen lässt. Die Wirkungsweisen des Fremden werden im ersten Abschnitt mit verschiedenen Schlaglichtern beleuchtet und besprochen. Im zweiten Teil des Kapitels wird die Figur des Fremden, mit der die Soziologie schon lange arbeitet, mit drei klassischen Vertretern der Soziologie des Fremden aufgezeigt. Die unterschiedlichen Bearbeitungen des Fremden bringen uns in dem Kapitel wiederholt zur Ausgangsthese der Arbeit zurück: am Fremden zeigt sich zunächst das Eigene. Eine kritische Reflektion des angenommenen Eigenen – eines wie auch immer gearteten in sich ruhenden Subjekts – steht im nächsten Kapitel im Fokus. Es geht um das verstehende Subjekt, von dem eine verstehende Soziologie (Max Weber, Alfred Schütz) ausgehen muss. Mittels einer Verschiebung von einer egologischen Perspektive zu einem Denken, das sich nicht am Ego festhalten muss, sondern vom Anderen (Emmanuel Lévinas) her denken kann, wird eine erste Beunruhigung des in sich ruhenden Subjekts vorgenommen. Unter dem Titel der Entrückung des Subjekts wird im zweiten Teil des Kapitels eine zweite Beunruhigung vorgenommen: in Verbindung von Jaques Lacans fragmentiertem Subjekt, Sigmund Freuds Unheimlichen und schließlich Albert Camus und Julia Kristeva, wird die Fiktion des in-sich-ruhenden Subjekts, das von sich aus selbst heraus kommt, aufgelöst. Ein Denken vom Anderen nach Emmanuel Lévinas, lässt die Perspektive vom Ego im Zentrum abrücken. Der Prozess der Subjektwerdung, den Jaques Lacan mit dem Spiegelstadium beschreibt, verdeutlicht, dass das als in-sich-ruhende Subjekt immer schon als Ergebnis und nicht als Ursprungsquelle gedacht werden kann. Und mit Albert Camus und Julia Kristeva, die Freuds Unheimliches weiter entwickelt, wird die These untermauert, dass sich am Fremden immer schon eigentlich nur das Eigene offenbart. In dem anschließenden Kapitel wird der Faden Giorgio Agambens wieder aufgenommen. Zunächst wird die Art und Weise nachgezeichnet, wie theoretische Konzepte von Ausnahmezustand und Homo Sacer bereits (kritisch) bearbeitet wurden. Eine Rückkehr zu Agambens Text und spezifisch seiner Denkweisen wird im Anschluss daran vorgenommen. Es werden Denkwege nachgezeichnet und die Spuren anderer Denkweisen, die Eingang in Agambens Arbeiten fanden, aufgegriffen und am Beispiel von Carl Schmitts Spuren in Agambens Werk verdeutlicht. Agambens Ausnahmezustand und die Figur des Homo Sacer wird in dem Zuge gewissermaßen auseinandergebaut. Im zweiten Teil des Kapitels werden exemplarisch Elemente aus Agambens Ausnahmezustand und Homo Sacer in Verbindung mit dem Phänomen der Flucht zusammengeführt und Ansätze für die Nutzbarkeit von Giorgio Agambens Arbeit skizziert. Im letzten inhaltlichen Kapitel kehren wir zur Gruppe der Helfenden zurück und binden die Arbeiten wissenschaftlicher Akteure, die sich dem Phänomen des Helfens bereits annahmen, mit ein. In diesem Kapitel kommet wieder zusammen, was in den vorausgegangenen Kapiteln nach und nach auf- und ausgebaut wurde. Den Rückgang der Helfer:innenzahlen, die im Zuge des langen Sommers der Migration 2015 rasant angestie-

Einleitung: Vom Theoretisieren

gen sind, erklären sich die Akteure selbst durch Mitleidsermüden, das sowohl durch die Helfer:innen als Erklärung für den Rückgang im Engagement aufgegriffen wird, als auch von jenen aufgenommen wird, die sich mit dem Phänomen wissenschaftlich befassen. Die Rolle von Emotionen, die das helfende Tun motivieren sollen und damit zusammenhängend das emotionale Ausbrennen, das zur Compassion Fatigue führen soll, womit der Rückgang im Engagement plausibel erklärt werden soll. Es geht in diesem Kapitel nicht so sehr darum Mitleidsermüdung als Gegenstand selbst zu ergründen, sondern darum nachzuzeichnen, durch welch komplexe Zusammenhänge, die ›Erklärung‹ für das, was beobachtet und von den Akteuren besprochen wird, nicht etwa willkürlich ist.

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Die Art und Weise wie wir denken ist nicht an sich gegeben. Die Situativität und Kontextgebundenheit unseres Denkens-wie-üblich betrachtet Alfred Schütz in seinem sozialpsychologischen Versuch über den Fremden (1944). Vor diesem Hintergrund nimmt die vorliegende Arbeit zunächst das Denken selbst in den Blick. Im Folgenden wird anhand des Beispiels bekannter soziologischer Denktraditionen ein Prozess des Un-Denkens angestoßen und im Verlauf des Kapitels, durch die Einbindung verschiedener Ideen und Perspektiven eine Denkweise entwickelt, die als Grundlage für die darauffolgenden theoretischen Unternehmungen bildet. Wenn in dieser Arbeit eine Denkweise entwickelt wird, die soziologisch nutzbar sein soll – das heißt, eine Denkweise in dieser Arbeit entwickelt und umgesetzt wird, die eine theoretische Analyse mit empirischer Orientierung an einem exemplarisch gewählten Gegenstand (FluchtMigration und -forschung) ermöglicht – dann gilt es zunächst zu klären, was unter Denkweise verstanden werden soll.

1.1 Von Denkweisen Anhand dreier Perspektiven, wird der Rahmen für eine Perspektive geweitet, aus der sich schließlich ein Un- und Um-Denken ergibt. Gabriel Tardes Verständnis vom Soziologischen zeigt uns zunächst, dass den Grundannahmen, auf die u.a. Durkheim sein soziologisches Programm aufbaute, nicht etwa unbestreitbar sind: Soziologie auch anders gedacht werden kann. Latours und Morins Arbeiten setzen eben an dieser Idee des denkbar Anderen an und ergänzen im ersten Teil dieses Kapitels somit die Perspektive. Gleichzeitig dienen die Ansätze als Beispiele für Denkweisen, die im drauffolgenden Abschnitt den Denkwegen gegenübergestellt werden. Tarde, Latour und Morins Art und Weise über ihre gewählten Gegenstände nachzudenken soll also nicht unbeachtet bleiben.

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

1.1.1

Gabriel Tarde über die geistigen Vermittlungen

In Die sozialen Gesetze1 bezeichnet Gabriel Tarde die Soziologie als »angewandte Psychologie« (Tarde 2009: 14). Dabei wendet sich Tarde explizit gegen die Individualpsychologie, »welche die inneren Beziehungen der Eindrücke oder Bilder in einem und demselben Gehirn studiert« (ebd.). In Abgrenzung dazu müsse die Soziologie als eine Inter-Psychologie, die die Beziehung zwischen zumindest zwei Individuen in den Blick nimmt, verstanden werden: »Der Kontakt einer Seele mit einer anderen Seele ist tatsächlich im Leben einer jeden von ihnen ein ganz besonderes Ereignis.« (ebd.: 15) Tarde meint damit, dass es als wechselseitiger Prozess zu verstehen ist, als ein Moment der Bezugnahme und des Teilens, wenn eine Verbindung entsteht oder hergestellt wird. Er begreift dies als einen Moment, in dem etwas übertragen und übermittelt wird; wenn eine Art geistiger Ansteckung passiert. Weniger als die zeitliche Begrenzung des Moments betont Tarde den Ereignischarakter des Verbindens und Vermittelns, wodurch Beziehungen entstehen, so kurzweilig diese auch sein mögen: die Verbindung zweier Seelen. Es ist eben diese Verbindung, die für Tarde der eigentliche Gegenstand soziologischer Untersuchungen sein sollte. Es geht ihm dabei um die »Übermittlung von etwas Innerem, Geistigem, das von einem der beiden Subjekte zum anderen übergeht, ohne seltsamerweise irgendwie für das Erstere verloren zu gehen oder vermindert zu werden« (ebd.: 16). Bei diesen Vermittlungen kann es sich allerdings nicht um Empfindungen an sich handeln, da eben diese an sich nicht übertragbar sind, »ihrem Wesen nach nicht mitteilbar« (ebd.) sind. »Alles, was zwei Menschen einander mitteilen können, mit dem Bewußtsein, es sich mitzuteilen, um sich dadurch einiger und gleicher zu fühlen, das sind ihre Begriffe, ihre Wollungen, ihre Urteile und ihre Absichten, alles Formen, die ungeachtet der Verschiedenheit ihres Inhaltes die gleichen bleiben können, alles Produkte der geistigen Verarbeitung irgendwelcher sinnlichen Wahrnehmungen.« (Ebd.) Empfindungen an sich sind demnach nicht in dem Sinne teilbar, als dass sie nicht tatsächlich übermittelt werden können. Vermittelt werden kann nur das, was Ausdruck finden, beispielsweise in Worte gefasst und damit ver-mittelt werden kann. Dazwischen, in der Vermittlung, passiert etwas: Es finden Verarbeitungen statt. Etwas wird ver-arbeitet, wird über-setzt. Empfindungen können Ausdruck finden, Ziele, Wünsche und Absichten formuliert, Meinungen und Haltungen geäußert werden. Dabei muss sich dies nicht nur auf einer sprachlichen Ebene vollziehen, nicht nur in Begriffen und Worten Ausdruck finden, sondern kann eine Vielzahl unterschiedlicher Formen annehmen: Es kann verschiedene Wege gehen. Das, was sich manifestiert, was vermittelt, also in einem Moment offenbart und festgehalten wurde, kann als (vorübergehendes) Ergebnis, als Produkt, im Sinne von etwas, das produziert, das hergestellt wurde, der kontinuierlich fortlaufenden und ständig wechselseitigen Bezugnahme aufeinander, als Nachahmung und Differierung voneinander sowie weiterer Verarbeitungen und Vermittlungen, als Innovation und Transformation gefasst werden. Auch wenn Tarde von einer wechselseitigen Bezugnahme von verschiedenen Geistern oder Seelen spricht, bleiben diese Entitäten in seiner 1

Französischer Originaltitel : Les lois sociales. Esquisse d’une sociologie (1898).

1 Entwurf einer Denkweise

sich entfaltenden Soziologie vergleichsweise unterdeterminiert und unbestimmt. Das wiederum, das zwischen den Seelen vermittelt wird, wird geteilt: nicht im Sinne eines Auf-Teilens und eines Trennens, sondern eines Mit-Teilens. Es kommt nicht zu einer Teilung, die eine Halbierung, also Verringerung zur Folge hätte, sondern zu einer Mehrung, zu einer Vervielfältigung, wenn auch nicht exakten Kopie. Tardes Denken geht nicht von einer wie auch immer gearteten Gesamtheit aus, die in einer Vollständigkeit gedacht wird. Er geht nicht von vollständigen hundert Prozent einer Sache aus, die in kleinere Stücke zerteilt und dann aufgeilt würde. Womit von der Ganzheit je nur ein Bruchteil in den Teilstücken erhalten, aber nun kein ›Ganzes‹ mehr für irgendjemanden bliebe. Geht es um Ideen und Gedanken, so verliert ein Geist, eine Seele, wie Tarde sie nennt, doch nichts von ihrem Ursprünglichen, wenn die Ideen mit anderen geteilt werden. Es ist dieses Denken in totalen Einheiten, das von Vollständigkeiten ausgeht, von dem Tarde sich distanziert. Der Gegenstand, mit dem sich die Soziologie befasste, sei also grundlegend anders als substanziell zu denken. Tarde betrachtet jede Entität als Gesellschaft, welche sich aus einer Vielzahl weiterer Entitäten zusammenfinden, die wiederum eigentlich nur Gesellschaften von wiederum mehreren sind: Gesellschaft bedeutet bei Tarde so viel wie der mehr-oder-weniger Zusammenschluss verschiedener, nicht näher bestimmter Elemente, die sich auf eine wiederum eigene besondere Art in diesem Zusammenschluss, einer Gesellschaft, wiederfinden. Eben in diesen Gebilden (Gesellschaften) vollziehen sich beständig wechselseitige Prozesse des Beziehens, Verbindens und Differierens. Womit selbst eine augenscheinliche Stabilität einer gedachten Einheit immer nur scheinbaren Charakter besitzt, beständige Veränderung als Norm, nicht etwa Ausnahme verstanden werden muss. So versteht Tarde beispielsweise auch das (menschliche) Gehirn als einen Zusammenschluss vieler einzelner Elemente (Zellen unterschiedlicher Typen, Nervenbahnen, Blutbahnen, Flüssigkeiten), die in einer Gesellschaft verbunden das Gehirn bilden. Dabei stellt jedes Element für sich selbst immer schon eine eigene Gesellschaft dar, eine Gesellschaft aus wiederum anderen, kleineren, unterschiedlichen Elementen. Ausgangspunkt der Theorie, die Tarde für die Soziologie entwirft, sind die Monaden von Gottfried W. Leibniz, die »Geisteskinder« (Tarde 2015: 17) des Philosophen und Mathematikers der frühen Aufklärung. Im Anschluss an Leibnitz entwickelt Tarde die Idee der Monaden weiter. Sie werden zum grundlegenden Element seiner Monadologie und Soziologie (2015 [1893]). Monistischen Denktraditionen folgend wendet sich Tarde gegen René Descartes Dualismus vom Körperlichen und Gedanklichen: der res extensa und res cogitans. Für Tarde sind »Materie und Geist eins […] und nichts weiter.« (ebd.: 31) Tardes Denkweise folgen, heißt zu akzeptieren, »dass die ganze äußere Welt aus Seelen zusammengesetzt ist, die von meiner eigenen zwar verschieden, ihr aber doch ähnlich sind« (ebd.). Diese Seelen beziehen sich kontinuierlich auf sich und alles andere, verarbeiten Eindrücke, werden wiederum im Sinne einer wechselseitigen Bezugnahme auch selbst be-eindruckt. Bewegungen, Impulse, Neigungen gehen eben gerade nicht nur von einer einzelnen Seele aus und werden auch nicht von einer einzelnen anderen aufgenommen. Die Bewegung entsteht aus der wechselseitigen Verbindung selbst, die beidseitig Wirkung entfaltet. So müssen Eindrücke, Neigungen und Bewegungen nicht nur als das verstanden werden, was die Seele wahr- und auf-nimmt, sondern auch als das, was buchstäblich ein- und ab-drückt, was ein-wirkt, dem sie sich nicht entziehen

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kann. Das bringt uns zum Kontakt der einen Seele mit einer anderen, der Inter-Psychologie Tardes, zurück und dem, was vermittelt wird, und der Frage, wie es vermittelt wird. Vermittelt werden die Begriffe, Wollungen, Urteile und Absichten, die »Produkte der geistigen Verarbeitung« (Tarde 2009: 16): Fragmente von Ideen und Gedanken – eine Mischung aus einer Vielzahl von Ein-Drücken verschiedenster Formen, menschlicher wie nicht-menschlicher gleichermaßen, eine Flut von Eindrücken unterschiedlichster Intensitäten. So formen sich im wechselseitigen Wirken, Assoziieren, Bezugnehmen, Thesen. Hypothesen beginnen sich zu bilden, die durch die ständige zirkulierende und wechselseitige Bezugnahme der vielen verbundenen Seelen zu Theorien werden. Gerade diese Prozesse »der geistigen Verarbeitung« (ebd.) verweisen auf die Denkweisen hin verweisen, die nicht der einzelnen Seele selbst entspringen. Auch kann nicht angenommen werden, dass sie in ihr bereits vorangelegt sind. Vielmehr werden sie in ähnlicher wechselseitiger Bezugnahme zu-, mit- und untereinander in Wiederholung hervorgebrach, ständig neu- und über-dacht.

1.1.2

Bruno Latour über modernes Denken

Mit Wir sind nie modern gewesen (2015a) formuliert der Soziologe Bruno Latour nicht nur eine Kritik an der Moderne, sondern stellt ihre ganze Existenz grundlegend in Frage. Wenn wir von der Moderne sprechen, ist im allgemeinen Sprachgebrauch eine bestimmte Epoche der Geschichte der Menschheit gemeint. Mit der sogenannten Moderne wird eine neue Ära eingeläutet: Die Moderne wird als Kontrastfolie zur alten Welt, der vormodernen Welt entworfen. So mag Latours Behauptung, es haben nie eine ›moderne‹ Welt gegeben, eine fundamental erschütternde Wirkung entfalten. Die Moderne habe, so Latour, nie begonnen; entsprechend könne sie auch nicht überwunden werden. Wir sind tatsächlich nie modern gewesen. Und wer nicht von einer Moderne sprechen kann – oder möchte –, der kann folglich auch kaum von einer Postmoderne, einer Ära nach der nie stattgefundenen Moderne sprechen; auch eine Unterscheidung in Früh- oder Spätmoderne (vgl. Reckwitz/Rosa 2021) erscheint aus dieser Perspektive obsolet. »[Es hat] nie eine moderne Welt gegeben« (Latour 2015a: 65). Die Moderne ist nichts mehr als eine »(sozial-)wissenschaftliche Fiktion [und] ein Selbstbetrug« (Wieser 2012: 164). Wenn Latour von der Moderne spricht, meint er dabei eben gerade nicht, wie im alltäglichen Verständnis oft angenommen, eine spezielle Epoche. Die Zeit, die wir als ›Moderne‹ bezeichnen, ist nicht wie andere Epochen durch besondere Merkmale gekennzeichnet. Laut Latour ist ›die Moderne‹ weniger eine Epoche, sondern vielmehr eine spezielle Denkweise, die sich durch eine »große Trennung« (Latour 2015a) auszeichnet. Mit der großen Trennung meint Latour die Trennung von der nicht-menschlichen Natur und menschlicher Kultur. Es ist diese Verfassung der Moderne, die vom Aufstieg des Humanismus begleitet wird, die die »Geburt des ›Menschen‹ [begrüßt und] sei es, um seinen Tod anzukündigen« (ebd.: 22). Und im Schatten der Geburt des Menschen wird die »gleichzeitige Geburt der ›nicht-Menschheit‹: die der Dinge oder Objekte oder Tiere« (ebd.) übersehen. Die Trennung von Natur und Kultur bleibt dabei nicht die einzige. Es folgt eine zweite Trennung »zwischen dem, was sich ›oben‹, und dem, was sich unter der Oberfläche abspielt« (ebd.). Das was sich ›oben‹ abspielt, wird von einer bestimm-

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tem Praktik charakterisiert: Die Praktik der Säuberung, des Ordnens, des Sortierens und der Zuordnung. Alles, was erscheint muss entweder der Sphäre der Natur oder der Kultur zugeteilt werden (können). Dabei wird übersehen, was »unter der Oberfläche« (ebd.) passiert: Eben dort vermehren sich und wirken die Hybriden. Gemeint sind damit Entitäten, die sich weder der Natur noch der Kultur zuordnen lassen, die verbindend tätig sind, die ver-mitteln, übersetzen und assoziieren. Während an der Oberfläche die ›Arbeit der Säuberung‹ (purification) verrichtet wird, erfolgt unterhalb die ›Arbeit der Vermittlung‹ (translation). Durch letztere werden neue Hybride gebildet, »mixtures between entirely new types of beings, hybrids of nature and culture« (Czarniawska 2014: 89), und durch die Säuberung »distinct ontological zones« (ebd.) abgesteckt: »that of human beings on the one hand; that of non-humans on the other« (ebd.). Mit ›Moderne‹ meint Latour also keine Epoche oder bestimmte Zeitspanne, sondern eine Denkweise, die von dieser doppelten Trennung als etwas ausgeht, das als quasi-natürlich angenommen und nicht hinterfragt wird. Dabei scheinen die Akteure einer regelrechten Schizophrenie anheim zu fallen, da gar nicht erst davon ausgegangen werden kann, dass die einen zur einen, die anderen zur anderen Gruppe gehören. So kann gar nicht davon ausgegangen werden, dass sich die eine Akteursgruppe nur mit der Säuberung befasst, während die andere als Hybride beständig dabei sind zu verbinden und zu vermitteln. Die Denkweise der großen Trennung möchte suggerieren, dass die beteiligten Akteursgruppen sich eindeutig den jeweiligen Praktiken zuordnen ließen. Tatsächlich aber sind ein und dieselben beständig mit beiden Praktiken gleichzeitig beschäftigt: sie säubern, während sie verbinden, sie ordnen, während sie vermitteln. Sie sind immer schon die Hybride, die verbinden, vermitteln, assoziieren und versammeln, die Bezüge herstellen und gleichzeitig mit Trennen, Zuordnen, Einordnen beschäftigt sind. So erkennt Latour bereits zum Anfang seines Versuchs des Entwurfs einer symmetrischen Anthropologie, dass sie selbst, die Wissenschaftler:innen, die sich unter dem Namen der Science and Technology Studies (STS) zusammengefunden haben, Hybride sind: »Seit ungefähr 20 Jahren untersuchen meine Freunde und ich diese seltsamen Situationen, die von der intellektuellen Kultur, in der wir leben, nicht eingeordnet werden können. In Ermangelung eines Besseren nennen wir uns Soziologen, Historiker, Ökonomen, Politologen, Philosophen, Anthropologen. Aber die ehrwürdigen Disziplinen ergänzen wir jedesmal um den Genitiv: der Wissenschaften und Techniken. […] Wie das Etikett auch lauten mag, immer geht es darum, den gordischen Knoten neu zu knüpfen, indem man so oft wie nötig die Grenze überschreitet, welche die exakten Wissenschaften von der Ausübung der Macht trennt, oder sagen wir: die Natur von der Kultur. Wir sind selbst Hybriden, denn wir liegen quer zu den wissenschaftlichen Institutionen, in denen wir arbeiten.« (Latour 2015a: 9) Wir, die Akteure, die Hybriden, sind also ständig mit Verbinden, Kombinieren, Assoziieren und Übersetzen beschäftigt, ebenso wie wir kontinuierlich wiederholend eine Säuberung, Sortierung und Organisation eben unser selbst und aller anderen vornehmen, ebenso wie eine Zuordnung zu Natur oder Kultur stattfindet. In und durch die ständige Wiederholung (Nachahmung) der vermittelnden und säubernden Arbeiten begann sich die Verfassung der ›Moderne‹ zu festigen. Sie wird durch Wiederholung stabilisiert, bis zu dem Punkt, an dem sie als gegeben, uns fast schon na-

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türlich, scheinbar offensichtlich, selbstständig, ja fakt-isch als ›immer schon da gewesen‹ erscheint. Auch wenn es auf den ersten Blick anders wirkt, so besitzt Latours Wir sind nie modern gewesen (2015a) kein aufklärerisches Moment. Latour fordert nicht, dass diese doppelte Trennung und die Denkweise der Moderne überwunden werden muss: Denn wenn auch augenscheinlich gegenläufig, bedingen beide Praktiken (die Arbeit der Vermittlung und die der Säuberung) einander, denn »without the first set, the practices of purification would be fruitless and pointless. Without the second, the work of translation would be slowed down, limited, or even ruled out« (Czarniawska 2014: 89). Und doch mündet eben jene Denkweise der Moderne/moderne Denkweise in eine Überzeugung von einer Natürlichkeit, einer Quasi-Gegebenheit der vermeintlich logischen Trennung von Natur und Kultur, Objekt und Subjekt, mikro und makro, Körper und Geist. Es ist eine Trennung, die unhinterfragt übernommen wird und wiederum selbst Wirkung entfaltet: in Wissenschaft und Forschung, bis zur Formulierung umfassender Theorien. Und gerade hier erkennt der Philosoph (und Soziologe und Anthropologe) Edgar Morin die Notwendigkeit einer (dringenden) Wende.

1.1.3

Edgar Morin über die Barbarei der Wissenschaft

In seinem Magnum Opus Die Methode, die Natur der Natur (2010 [1977]) richtet sich der französische Philosoph Edgar Morin gegen vereinfachendes Denken und wissenschaftlichen Reduktionismus: »Das Denken, welches vereinfacht, ist zur Barbarei der Wissenschaft geworden. Dies ist die spezifische Barbarei unserer Zivilisation.« (Morin 2010: 448) Morin kritisiert insbesondere erklärende Paradigma der Naturwissenschaften. Was insofern an dieser Stelle relevant ist, da gerade Émile Durkheim, der als einer der Gründerväter der Soziologie gilt, sich gerade an den Methoden und Denkweisen der Naturwissenschaften seinerzeit orientierte, als er die Soziologie als eigenständige Wissenschaft versuchte zu etablieren. Durkheim konzipierte seine soziologische Methode am Vorbild der Vorgehensweisen der Naturwissenschaften (vgl. Durkheim 1976). Womit Durkheim Ansätze vereinfachenden Denkens und wissenschaftlichen Reduktionismus in die (frühe) Soziologie importierte. Morin kritisiert, dass eben diese (modernen) Entwicklungen im Geiste der (modernen) Wissenschaften dazu führte, dass ein technischwissenschaftliches Denken Vorrang erhielt, welches zur Spezialisierung und regelrechten Hyperspezialisierung tendierte und lineare Kausalitäten (zur Erklärung komplexer Phänomene) präferierte und damit zur Folge hatte, dass mit dem Trend zu stetig steigender Abstraktion, sich wissenschaftliche Unternehmungen gleichzeitig immer weiter von den eigentlichen Dingen (what matters) entfernten.2 Aus dieser Art und Weise des Denkens ergibt sich die Formulierung abstrakter und gleichzeitig reduktionistischer

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Talcott Parsons Systemtheorie, insbesondere das in seinem späteren Werk entstandene AGILSchema und seine Anwendungsmöglichkeiten sowie die Skalierbarkeit des Handlungssystems vom individuellen Handeln zu gesamten Gesellschaftssystemen bilden ein Beispiel für eine in ihrer Abstraktion weit vom Gegenstand entfernte Theorie, die sich in ihrer Abstraktion wiederum regelrecht in der eigenen Überkomplexität verirrt (vgl. Parsons 2005 [1951]).

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Theorien, die eine zusätzliche ›Verstümmelung‹ durch dominierende Paradigmen erfährt, welche das Denken ein-engen, ein-hegen und disziplinieren (vgl. Hawkins 1997: 358 und Morin 1991). In seiner Kritik des reduktionistischen und simplifizierenden Denkens setzt sich Morin, der sich als Wissenschaftler selbst einer disziplinären Zuordnung entzieht, für ein Denken über das Denken ein, ein Denken in und mit Komplexität, Multidimensionalität und Multidisziplinarität (vgl. Altwegg/Schmidt 1987: 151f). Denkweisen beeinflussen die Art und Weise, wie über die Dinge nach-gedacht wird im Sinne eines Nachdenkens als ein (menschliches) Tun: ein Austausch über und mit anderen Seelen und Geistern sowie nicht-menschlichen Akteuren, mit Entitäten im allgemeinsten, im weitesten Verständnis (vgl. Tarde 2009, 2015). Die Art und Weise, wie wir über die Dinge denken, die wir wissenschaftliche untersuchen, beeinflusst unser Theoretisieren mit und über diese, es beeinflusst unseren Zugang, unsere Vorannahmen, die wir implizit treffen, selbst wenn wir versuchen Vorannahmen zu vermeiden, und unser Vorgehen methodische und methodologischen Kontrollen unterwerfen.

1.2 Zu Denkwegen Der Begriff Denkweise wird im Englischen als way of thinking oder mode of thinking übersetzt. Womit in der Übersetzung schon ein wesentlicher Unterschied deutlich wird. Wenn wir von Denkweisen sprechen, können wir einerseits Wege des Denkens beschreiben: einen Weg, der vorgegeben, abgesteckt, abgesichert, ausgeschildert und vom Start zum Ziel führt. Ein Weg, den das Denken beschreitet, der klaren Regeln folgt, selbst wenn nicht jeder folgende Schritt bereits bestimmt, der Vorgang, um zum nächsten Schritt zu kommen, ebenso klaren Logiken unterliegt und uns schließlich zu demnach auch entsprechend allen Regeln der Logik nach haltbaren Schlussfolgerungen führt. Wenn wir uns nun im Folgenden davon abwenden wollen, gilt es in einem ersten Schritt weniger zu bestimmen, wohin es gehen soll, als zunächst darzulegen, wovon wir uns abwenden. Um über die Einzäunungen hinweg zu blicken, muss eben jene Umzäunung zunächst einmal sichtbar gemacht und damit erkennbar werden. Es werden im Folgenden also zwei in soziologischen Untersuchungen prominente methodologische Programme skizziert. Besonderer Fokus liegt dabei auf ihren implizit angenommenen Vorannahmen, die unweigerlich als akzeptierte Selbstverständlichkeiten Eingang in die Heran- und Vorgehensweisen gefunden haben, die also immer (unsichtbar) mitwirken, unreflektiert (wiederum von weiteren Forschenden) übernommen wurden und sich als gegebene Selbstverständlichkeiten (matters of fact) stabilisieren – auch im Denken über die Dinge an sich und ihre Erscheinung – und gewissermaßen sogar verselbstständigt haben und als vorab gegebene Bestandteile, Elemente oder Eigenschaften der Dinge betrachtet werden, die nicht weiter hinterfragt werden müssen. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer anderen Denkweise, ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit gegebenen, gewohnten, gelernten Denkweisen notwendig, sondern bis zu einem gewissen Grad auch ein unthinking (vgl. Cudworth/Hobden 2012, Guanaratne 2003) eben jener Denkgewohnheiten, des thinking-as-usual (vgl. Schütz 2022 [1944]), ein Umdenken im Denken also.

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1.2.1

Methodologie

Bestimmte Denkweisen und -wege werden auch Methodologien genannt. Etymologisch leitet sich der Begriff vom griechischen méthodos ab, was so viel wie Weg (zu etwas hin) oder Gang einer Untersuchung bedeutet. Methodo-logie (gr. lógos) bezeichnet die Lehre von den Methoden (vgl. Beer 2008: 2) bzw. die Lehre von den allgemeinen Regeln wissenschaftlichen Forschens (vgl. Lankenau 1992). Und hier speziell die Lehre soziologischer Methoden. Soziologische Methodologien beschreiben Anleitungen zum ›korrekten‹ wissenschaftlichen Forschen. Sie geben eine Herangehensweise vor, legen bestimmte Axiome fest, geben an, wie und aus welcher Perspektive ein gewählter Gegenstand betrachtet werden soll, formulieren vor, wie der Gegenstand zu verstehen sei. Vom Entwurf eines Forschungsprogramms, über die der Frage und des Gegenstandes angemessenen Vorgehensweisen, zum vorgeschlagenen (idealen) Plan, über die Erhebung, Auf- und Bearbeitung der Daten bis zu einer Anleitung zur möglichst ›korrekten‹ Interpretation eben jener Daten. Formuliert werden dabei Prinzipien, denen ebenso wie den verfassten Regeln Folge zu leisten ist, welche wiederum oft auf ausgewählten Prämissen begründet werden. Eine wie auch immer bestimmte, aber immer bestimmte Herangehensweise wird im Rahmen einer Methodologie also schon vorgezeichnet. Sie, die Methodologie, empfiehlt passende Methoden und Instrumente, gibt methodologische Regeln und Rahmungen vor, mit deren Hilfe Fragestellung gefunden werden sollen, mit deren Handreichung die Formulierung von Thesen und Hypothesen nach Merkmalen der Überprüfbarkeit angeleitet werden. Dazu gehört auch eine normative Komponente: Methodologische Programme geben nicht nur an, wie eine wissenschaftliche Forschung konzipiert und durchgeführt werden kann – sondern auch wie sie idealerweise, durchgeführt werden sollte (vgl. Marguin/Knoblauch 2021: 448f). Diese Programme basieren auf bestimmten Grundannahmen und theoretischen Vorannahmen, die sich mit dem Gegenstand im Allgemeinen oder Speziellen befassen und wiederum konkrete Fragestellungen im Weiteren theoretischen und thematischen Kontext einbinden. Darin eingebettet werden unter anderem bestimmte Verständnisse von beispielsweise speziellen Gesellschaftsbegriffen. Was genau soll gemeint sein, wenn in der Forschung von ›Gesellschaft‹ gesprochen wird und was ist nicht gemeint? Wie verhält es sich mit ›sozialem Handeln‹ und in welchem Bezug steht ›soziales Handeln‹ zum gewählten Gesellschaftsbegriff? Definitionen werden vorgenommen (ausgewählt) und Abgrenzungen von anderen gezogen. Zusammenhänge werden aus Theorien importiert und unhinterfragt angenommen und weiterverwendet. Methodologie umfasst weiterhin aber auch eine wissenschaftliche (kritische) Reflexion über die Methoden und Programme selbst. So wird das forschende Tun, geleitet durch bestimmte methodologische Traditionen, selbst wiederum zum Gegenstand der Betrachtung. Eine methodologische Reflexion ist nicht unbedingt in erster Linie eine (rein) methodische Reflexion, sondern kann durchaus mehr umfassen. Methodische und methodologische Reflexionen sind immer ineinander verwoben und können nicht gänzlich getrennt voneinander betrachtet werden. Es geht also nicht nur darum den methodischen Werkzeugkasten zu sortieren, auszusortieren und mit weiterentwickelten, neueren Methoden zu ergänzen. Eine methodologische Reflexion setzt noch einen Schritt zu-

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vor, schon beim Nachdenken über das an, was untersucht werden soll: nämlich bei der Vielzahl bestimmter, teils unbewusster, unreflektierter oder implizit mitgedachter, unkritisch angenommener und nicht weiter hinterfragter, akzeptierter Vorannahmen. Wenn auch nicht explizit besprochen, so befolgen doch alle »implizit bestimmte methodologische Regeln« (Opp 2014: 21). Dies fängt schon bei sehr grundlegenden Vorannahmen an, wie beispielsweise der Annahme, dass eine sozialwissenschaftliche Theorie als schlussendlich ›wahr‹ verifiziert werden könnte bis hin dazu, dass Beobachtungen, die gemacht wurden, nicht falsch sein können: das Beobachtete wurde schließlich beobachtet und dokumentiert, es kann also nicht ›nicht passiert‹ sein, es muss folglich wahr sein (vgl. ebd.). Methodologische Reflexionen und Diskussionen bringen unter anderem bereits bestimmte Verzerrungen zum Vorschein, denen wiederum mit der Entwicklung neuer Methoden und Instrumente begegnet werden kann. Die Verzerrungseffekte durch soziale Erwünschtheit oder statistische Verzerrungseffekte, wie Scheinkorrelationen, sollen an dieser Stelle nur beispielhaft genannt sein. Weitere Verzerrungen, wie die Tendenz das als eher ›wahr‹ und mehr überzeugend anzunehmen, was auch den eigenen Glaubenssätzen und Überzeugungen entspricht, während Argumenten tendenziell kritischer begegnet wird, deren Inhalte den eigenen Überzeugungen fundamental und grundlegend widersprechen. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Kruger-Dunning-Effekt. Kruger und Dunning folgend besteht eine negative Korrelation zwischen den eigenen Kompetenzen und der Einschätzung der Kompetenzen anderer; sprich die Neigung zu einer unbegründeten Selbstüberschätzung und gleichsam unbegründeten Unterschätzung wiederum Anderer (vgl. Kruger/Dunning 1999). Zwar schlagen sich nicht alle der genannten Beispiele messbar und untersuchbar in wissenschaftlicher Forschung nieder und kognitive Verzerrungen sind gewiss nicht die einzigen Faktoren, die wissenschaftliche Forschung unterschwellig beeinflussen können, nicht-bemerkte Effekte entfalten und damit Konsequenzen für die weiteren Forschungsschritte haben könnten, doch wird schon an der angerissenen Oberfläche der Problematik deutlich, dass eine methodologische Reflexion unabdingbar ist, um eben jene Fallstricke kognitiver Verzerrungen, sozialer Erwünschtheitseffekte und logischer Fehlschlüsse in wissenschaftlicher Forschung aufzudecken und eine kritische Reflexion darüber möglich zu machen.

1.2.2 Methodologischer Individualismus und Holismus Die Komplexität des Gegenstandes der Soziologie wird zur Bedingung für ihre multiparadigmatische Aufstellung (vgl. Burzan 2018). Über hundertfünfzig Jahre nach ihrer Begründung als eigenständige Disziplin lässt sich rückblickend feststellen, dass jeder Versuch, eine Grand Theory zu formulieren, bisher fehlgeschlagen ist (vgl. Kneer/Schroer 2009). Dagegen entstand eine bunte Vielfalt theoretischer und methodologischer Ansätze, inklusive eines reichhaltigen Repertoires an Vorgehensweisen und Instrumenten. Die unterschiedlichen Ansätze reichen vom erklärenden über das verstehende bis zum interpretativen Paradigma (vgl. Keller 2012). Perspektiven, die sich zwischen einem positivistischen und konstruktivistischen Standpunkt mal mehr, mal weniger einordnen lassen.

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Die methodologischen Programme, deren Wurzeln sich bis zu den Gründervätern der Soziologie zurückverfolgen lassen, wurden über die Jahrzehnte hinweg beständig einer kritischen Reflexion unterzogen und weiterentwickelt. Der methodologische Individualismus, der auf Webers Konzeption einer verstehenden Soziologie zurückgeht, und der methodologische Kollektivismus, den man bis zu Durkheims Arbeiten zurückführen kann, gehören einerseits zu den prominenteren methodologischen Ansätzen und stehen andererseits in ihren Grundverständnissen in starkem Kontrast zueinander. In Wirtschaft und Gesellschaft (Weber 1922) und dem Aufsatz Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (Weber 1913) legt Weber sein Programm soziologischer Forschungen dar: »§ 1. Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« (Weber 1922: 15) Gegenstand soziologischer Untersuchungen sei das ›soziale Handeln‹, welches die kleinste Einheit soziologischer Gebilde darstellen sollte. Das ›soziale Handeln‹ bildet bei Weber das Kernelement gesellschaftlicher Zusammenschlüsse. Aus der Vielzahl ›sozialer Handlungen‹ ließen sich dann, Webers methodologischem Programm folgend, die größeren gesellschaftlichen Ordnungen und Zusammenhänge ableiten: Dem sogenannten methodologischen Individualismus »zufolge sind Sätze über gesellschaftliche Gruppen und Sachverhalte vollständig auf Sätze über Individuen reduzierbar« (Rönsch 2020: 334). Es wird also die Annahme fixiert, dass aus der Vielzahl sozialer Handlungen größere soziale Komplexe wie soziale Beziehungen (mit unterschiedlichsten Ausformungen) entstehen, aus denen sich wiederum größere soziale Gebilde entwickelten und sich diese Kette fortsetzen ließe, bis die größtdenkbarsten und gesamtgesellschaftlichen Gebilde entstünden: Institutionen, Strukturen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge. Womit sich im Umkehrschluss diese größten gesamtgesellschaftlichen Gebilde, die sich aus den kleinsten Einheiten bildeten, wiederum auf jene reduzieren ließen (vgl. ebd.). Dabei ist das ›soziale Handeln‹ bei Weber nicht wahl- oder orientierungslos. ›Soziales Handeln‹ ist immer an einem subjektiven Sinn orientiert. Es ist zielorientiert, erfüllt einen bestimmten Zweck, ist motiviert. ›Soziales Handeln‹ ist zudem von anderen Formen des Handelns oder Verhaltens zu unterscheiden, da soziales Handeln immer am Handeln anderer orientiert ist. Handlungen an sich sind lediglich zielorientiert, müssen aber nicht am Handeln anderer orientiert sein. Verhalten wiederum ist weder an anderen orientiert, noch muss es mit einem bewussten Sinn, mit einem Zweck oder Ziel verbunden sein. Dabei umfasst das ›soziale Handeln‹ nicht nur äußere, sichtbare Handlungen, sondern auch ein inneres Tun, wie zum Beispiel (Nach-)Denken. Handelnde orientieren sich also in ihrer gegenseitigen Bezugnahme aufeinander an etwas, das Weber ›Sinn‹ nennt. Dabei handelt es sich nicht um einen ›wahren‹ oder ob-

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jektiv ›richtigen‹ Sinn (vgl. Weber 1922). Sinn umschließt eine Vielzahl eingeübter, übernommener, anerzogener »kultureller Weltdeutungen« (Rosa et al. 2013: 56), die wiederum aufgenommen, verstanden, interpretiert und weiter-verarbeitet werden können. Es ist Aufgabe der Soziologie, dieses ›soziale Handeln‹ Einzelner im Ablauf und in der Motivation und Zielorientierung zu verstehen, wofür der ›Sinn‹ zur unabdingbaren Bedingung wird. Weber gilt demnach als Begründer der verstehenden Soziologie (vgl. Kaesler 2006: 191). Aufgabe der verstehenden Soziologie soll es sein, diese dem Handeln zugrundeliegenden Sinnstrukturen, -zusammenhänge, -gebilde herauszufiltern, zu analysieren, zu erklären und zu verstehen. Émile Durkheim dagegen verfolgte einen gänzlich anderen Ansatz soziologischer Untersuchungen. Durkheim vertrat ein positivistisches Verständnis der Soziologie als Wissenschaft, ging also davon aus, dass soziologische Tatsachen existieren, dass ›das Soziale‹ als eine gegebene Kraft immer schon auf Menschen einwirkt. Aufgabe der Soziologie müsse es für Durkheim folglich sein, die Wirkungsweisen und -mechanismen dieser Kraft zu erforschen, Regel- und Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten und Zusammenhänge zu erklären. Er gilt als Vertreter des methodologischen Kollektivismus. Dieser holistischen Denktradition liegt die Annahme zugrunde, dass zunächst von einem großen Ganzen ausgegangen werden muss. Gesellschaften müssten also immer in ihrer Gesamtheit, ihrer Ganzheit als Gesellschaften betrachtet werden. Nur aus dieser gesamtheitlichen Perspektive heraus ließen sich die Effekte und Wirkungen auf das Handeln Einzelner ableiten. Geleitet von der Idee, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, geht Durkheim also davon aus, dass mehr zur Gesellschaft gehören muss, als nur die offensichtlich sichtbaren Elemente; mehr als nur Individuen, Gruppen und Institutionen. In seinem Werk Die Regeln der soziologischen Methode (1894) erläutert Durkheim, wie soziologische Forschung ablaufen soll, Angefangen von der Notwendigkeit, vorab den Gegenstand der Untersuchung zu definieren (vgl. Durkheim 1976), bis über die allgemeine Bestimmung des eigenen Gegenstandes der Soziologie, den sozialen Tatsachen, die es soziologisch zu untersuchen gelte. Dabei definiert Durkheim soziologische Tatbestände als »jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereich einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.« (Durkheim 1976: 114) Anders ausgedrückt weisen soziale Tatbestände also bestimmte Merkmale auf, die sie wiederum als soziale Phänomene von anderen Erscheinungen, die nicht sozial sind, unterscheiden: »Soziale Tatbestände sind äußerlich, da sie dem Menschen nicht angeboren sind, sondern anerzogen werden müssen; sie sind zwanghaft, weil sie auf den Willen jeden Individuums einen moralischen Druck ausüben; sie sind allgemein und nicht universal, weil sie weder der Natur der Menschheit noch der Natur des Menschen innewohnen; sie sind unabhängig, da sie weder im Verhalten von einzelnen Individuen aufgehen noch sich in ihrer und durch ihre Praxis erschöpfen.« (Müller 2006: 155, Herv. dort)

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Weiterhin seien die soziologischen Tatbestände als Dinge und wie Dinge zu behandeln. Dabei orientiert sich Durkheim an den Methoden der seinerzeit etablierteren (Natur-)Wissenschaften. Eingebunden in die ›moderne Denkweise‹ der großen Trennung (vgl. Latour 2015a), die Natur und Kultur als strikt voneinander getrennte Sphären betrachtet, formuliert Durkheim darüber hinaus die Regel, dass Soziales nur durch Soziales erklärt werden kann. Nur soziale Erklärungen können auch soziale Tatsachen erklären. Alles (natürliche, technische, nicht-menschliche) Nicht-Soziale fällt nicht in den Gegenstandsbereich der Soziologie, die bei Durkheim streng als Wissenschaft des Sozialen, Wissenschaft der Gesellschaft verstanden werden soll. Durch diese Einschränkung lässt Durkheim auch keinen Raum für philosophische oder psychologische Erklärungen zur wissenschaftlichen Untersuchung sozialer Phänomene. Durkheims Programm und seine Vehemenz in der Abgrenzung der Soziologie als eigener Wissenschaft gegenüber angrenzenden Wissenschaften wie Philosophie, Psychologie, Erziehungswissenschaften, Wirtschafts- und Staatswissenschaften ermöglichte es, auch über die Bestimmung des eigenen Gegenstandes die Soziologie als eigenständige Disziplin zu begründen und folglich auch zu etablieren. Diese Arbeit leistete Durkheim insbesondere in Frankreich und im französischsprachigen Raum. Wohingegen soziologische Forschung im deutschsprachigen Raum zunächst von Karl Marx und später dann Ferdinand Tönnies, Max Weber und Georg Simmel begründet und in ihren Anfängen geprägt wurde. Beide vorgestellten methodologischen Denkweisen sind problematisch, da sie (im Vergleich zu anderen) besonders voraussetzungsvoll sind. Um als Denkweisen zu funktionieren, ist für beide Denkweisen notwendig, dass wir annehmen, dass es Gesellschaften oder zumindest gesellschaftsähnliche soziale Gebilde gibt. Sie werden als Existenzen sui generis als immer schon vorhanden angenommen. Ebenso ist unhinterfragt zu übernehmen, dass es einzelne Bestandteile dieser sozialen Gebilde gibt: Individuen. Zudem muss akzeptiert werden, dass mehrere Individuen nicht automatisch eine Gesellschaft ergeben, eine Gesellschaft, vor allem aus Durkheims Perspektive, ist mehr als nur die Summe ihrer Teile. Dieses Etwas-mehr ist bei Durkheim das ›Soziale‹, die unsichtbare Kraft, die außerhalb des Einzelnen wirkt und die wiederum einen Zwang auf das Handeln Einzelner ausübt. Auch bei Weber gibt es dieses Etwas-mehr. Bei Weber sind es die Sinnzusammenhänge oder der ›Sinn‹, der ebenso wenig fassbar und an sich unsichtbar ist, aber verstanden werden kann. Auf die Fragen also, wie Gesellschaft möglich ist, wie Gesellschaften entstanden sind, was sie zusammenhält, was Menschen überhaupt dazu bringt in weitgehend kooperativen Zusammenschlüssen zu leben, bieten Weber eine Antwort, die auf eine anthropologische Erklärung verweist und damit für Durkheim für eine soziologische Erklärung nicht gültig sein kann, da sich die Soziologie nach Durkheim schließlich keiner Erklärungen anderer Disziplinen bedienen darf. ›Weil es in der Natur des Menschen liegt‹, ist weder für Durkheim noch für Weber eine gültige soziologische Erklärung für gesellschaftliches Zusammenleben. Vor allem keine Antwort auf die Fragen, warum einander unbekannte Menschen sich in ähnlicher Weise verhalten, warum unterschiedliche Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten ähnliche Strukturen aufzuweisen scheinen. Durch solche Beobachtungen gelangten Weber, Durkheim und andere frühe Soziologen zu der Annahme, dass da mehr sein muss, etwas zusätzliches, das Gesellschaften innewohnt. Durkheim nennt es das ›Sozia-

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le‹, das sich in sozialen Tatbeständen untersuchen ließe. Weber dagegen setzt an die Stelle den ›subjektiv gemeinten Sinn‹, der allem ›sozialen Handeln‹ zugrunde liege. Der Ansatz des methodologischen Holismus führte Durkheim zu Untersuchungen von Solidarität, von Kollektivbewusstsein, von Werte- und Normensystemen. Er begreift Gesellschaften als moralische Gebilde. Im Gegensatz dazu ließ der methodologische Individualismus Weber nach Motivationen und nachvollziehbaren Sinnzusammenhängen suchen. Während sich Durkheim in Über die soziale Arbeitsteilung (1893) aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus mit der Differenzierung von Gesellschaften und in dem Zusammenhang verschiedenen Solidaritätsformen (mechanischer und organischer Solidarität) beschäftigte, entwarf Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft (1922) vier Idealtypen sozialen Handelns: zweckrationales, wertrationales, traditionales und affektuelles Handeln. Durkheims strukturorientierte Perspektive beeinflusste unter anderem den Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons. Parsons’ umfangreiches Werk gilt als eine der einflussreichsten soziologischen Strömungen der Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert. Namenhafte Soziologen wie Robert K. Merton und Niklas Luhmann werden zu seinen Schülern gezählt. Luhmann entwickelte an Parsons anschließend eine Systemtheorie, die speziell im deutschsprachigen Raum Ende des 20. Jahrhunderts zu den einflussreicheren Theorieschulen gehörte. Der Einfluss Durkheims zeigt sich in Parsons’ Strukturfunktionalismus verstärkt in der Fragestellung des Forschers selbst, wenn Parsons insbesondere an der Frage interessiert ist, wie soziale Ordnungen aufgebaut werden, wie sie dauerhaft und stabil werden und wie sie erhalten bleiben, sich gleichzeitig aber auch ›geordnet‹ weiterentwickeln können. Parsons war davon überzeugt, dass soziale Gebilde wie Gesellschaften eine ›natürliche‹ Tendenz zur Ordnung, zur Stabilität und zur Dauerhaftigkeit haben. Indem er die Arbeiten von Weber und Durkheim versuchte zusammen zu bringen, verfolgte Parsons das Ziel eine Grand Theory für die Soziologie zu formulieren. Weder mit dem Vorhaben der Entwicklung einer Grand Theory für die Soziologie war Parsons allein noch mit der Vorgehensweise sich dabei auf zwei der einflussreicheren Gründerväter zurück zu beziehen. Webers Werk entfaltete über strukturfunktionalistische und handlungstheoretische Ansätze hinaus Wirkung. So befasste sich mitunter der Begründer der phänomenologischen Strömung soziologischer Untersuchungen Alfred Schütz intensiv mit Webers Werk und schloss an Webers grundlegender Definition der Soziologie als Wissenschaft des sozialen Handelns an. Ebenso wie Weber verfolgte auch Schütz eine verstehende Soziologie. Er ergänzte allerdings Webers Konzeption des ›Sinns‹ mit philosophischen Anlehnungen aus Edmund Husserls Phänomenologie (vgl. Endreß 2006: 341f). Zu Schütz’ Schülern gehören die Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann, die mit Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (2003) ein Grundlagenwerk der (deutschsprachigen) Wissenssoziologie formulierten. Die beiden hier skizzierten methodologischen Programme stehen exemplarisch für eine Vielzahl unterschiedlicher, teils verwandter und kompatibler, teils höchst divergierender Programme, die sich in ihren grundlegenden Konzeptionen vom Gegenstande ihrer Untersuchungen unterscheiden und auch bei den innerhalb der Programme logisch anzuwendenden Methoden der Datenerhebung und -auswertung auseinandergehen. Dabei folgen sie vergleichsweise engen Rahmungen, strikten Prinzipien und klar

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definierten Herangehensweisen, was genau wie zu erforschen sei. Ein bestimmtes methodologisches Programm auszuwählen, bedeutet auch, einen Plan für das weitere Vorgehen festzulegen. Das schlägt sich nicht nur in der Auswahl von Methoden und Instrumenten nieder, sondern hat auch fundamentale Auswirkung darauf, was überhaupt als relevanter Gegenstand, als sinnvolle Fragestellung erachtet wird: Was erforscht wird – und was gehört nicht zum Gegenstand.

1.2.3 Historischer Materialismus Der von Karl Marx begründete historische Materialismus und Untersuchungen, die sich an den Grundsätzen der Akteur-Netzwerk-Theorie orientieren, unterscheiden sich eben gerade in diesem Punkt von den obigen vorgestellten Beispielen. Beide zeichnen sich weniger durch ein klares Set an Methoden, Regeln und Herangehensweisen aus, sind vielmehr über eine methodische Unterbestimmung gekennzeichnet (vgl. van Loon 2019: 60). Für beide gilt, dass die Fragestellung nicht an den methodischen Möglichkeiten entlang orientiert entwickelt wird. Die Fragestellung soll nicht durch die Möglichkeiten der Methoden eingeschränkt und determiniert werden. Wenn eine Methode der Datenerhebung nur bestimmte Informationen erfassen kann, dann sollte nicht etwa die Fragestellung daraufhin angepasst werden. Forschungsprogramme sollten nicht entlang der vorhandenen Möglichkeiten konzipiert werden. Nicht die Methode sollte das Forschungsprogramm bestimmen. Dem Gegenstand der Forschung soll stets der Vorrang gewährt werden. Womit die Fragestellung die Vorgehensweise bestimmt und nicht umgekehrt, die Vorgehensweise bereits die möglichen Fragestellungen vorbestimmt (vgl. ebd.). Marx entwickelt seine Vorgehensweise vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung des Idealismus und dialektischen Denkens Hegels. Marx betrachtet Gesellschaften als geworden und ständig weiterhin im Werden begriffen. Gesellschaften seien als gewachsene soziale Gebilde zu verstehen. Als solche sind sie geprägt von einer ständigen Auseinandersetzung und Bearbeitung ihrer umgebenden Natur. Gesellschaft gestaltet sich selbst durch ihre Auseinandersetzung mit der Natur, die sie umformt, verändert und die sie beständig zu beherrschen versucht. Die Art und Weise wie Gesellschaften in Beziehung zur Natur stehen, wird unter der Idee von Kultur subsummiert. Marx überwindet die dualistische Trennung von Natur und Kultur also nicht. Beides sind gleichfalls keine Existenzen, die separat und unabhängig voneinander existierten. Marx betrachtet vor allem die wechselseitige Bezugnahme beider aufeinander, die aus seiner Perspektive asymmetrisch erfasst werden muss und von einer starken ausbeuterischen Dynamik geprägt wird. Von einfachen Werkzeugen bis zu technologisch fortschrittlichen Methoden: die Bearbeitung, Unterwerfung, Erforschung und damit auch Kontrolle der natürlichen Umwelt prägt und beeinflusst soziale Formationen. Darüber hinaus ist es nicht nur die Natur, die im Produktionsprozess bearbeitet und eingehegt wird: der Mensch wendet diese Praktiken der Manipulation auch auf seine eigenen sozialen Produkte – die Gesellschaft – an. Diese ständigen, nicht aufhörenden Auseinandersetzungen, Bearbeitungen und Produktionen hinterlassen Spuren: die Erzeugnisse und Produkte werden greifbar und materiell, müssen immer als historisch geworden betrachtet werden und befinden sich beständig weiter in einem kontinuierlichen Prozess weiterer Ver- und Bearbeitung. So

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werden im Sinne des historischen Materialismus auch soziale Praktiken, Wertvorstellungen und Institutionen als Erzeugnisse sozialer Produktionen betrachtet. Dabei geht es weniger um die abstrakte Idee der Dinge als um ihre materielle Ausformung (in dem Moment, der betrachtet werden soll), also wie sie sich jetzt gerade manifestieren und zeigen. Die Realisierung einer Idee hinterlässt materielle Spuren. Sie werden konkret und können folglich nicht auf der abstrakten Ebene reiner Ideen und ihrer eigentlichen Bedeutung umgeformt werden, da sie eben in ihrer Materialität widerständig werden: »Objects resist because of their materiality, institutions regulate because of their materiality, situations become real in their consequences only if defining them as real is a material practice« (ebd.: 56). Wie eingangs aufgezeigt kann eine Denkweise ein Weg, aber auch ein Modus des Denkens sein. Während wir bei Weber und Durkheim Wege gesehen haben, ergibt sich mit Marx’ historischem Materialismus bereits ein Umdenken der Art und Weise des Denkens. Denkweisen sollen im Folgenden Arten und Weisens des Denkens, des Theoretisierens sein. Sie bieten grundlegende Orientierungen, orientieren sich an richtungsweisenden Prinzipien, leiten dabei aber die Untersuchungen nicht vom möglichen Ergebnis her ab, sondern bleiben möglichst unbestimmt und damit ergebnisoffen. Eine Denkweise soll also entworfen werden, mit deren Hilfe ein Forschungsfeld explorativ beschritten werden kann, ein Phänomen in der Weise, in der es sich manifestiert, wie es erscheint, erfasst werden kann, ohne dabei (vorab) Einschränkungen durch methodologische, methodische oder gar theoretische Programme in Kauf nehmen zu müssen.

1.2.4 Marcel Mauss und das Gabe-Theorem Ende der 1980er entwickelte sich innerhalb der französischsprachigen Geistes- und Sozialwissenschaft eine neue Strömung. Unter Einbezug poststrukturalistischer Ansätze und im Rückgriff auf Marcel Mauss formulierten französische Soziolog:innen einen neuen Ansatz soziologischer Theorienbildung. Dieser zeichnete sich einerseits durch eine Abkehr von den bis dato prägenden methodologischen Ansätzen (methodologischem Individualismus und Holismus) aus und andererseits durch ein grundlegend anderes Verständnis des Grundbegriffes soziologischer Forschung: der Gesellschaft. Gesellschaft sollte nicht mehr als ein »strukturiertes System […], dessen Elemente in einer relativ stabilen Weise aufeinander bezogen sind« (Moebius 2006: 357) verstanden werden. Man wendete sich von jenen Definitionen ab, die Gesellschaften als etwas Ganzes, als etwas Vollständiges erfassten und Gesellschaften als tendenziell stabil und wenig veränderlich betrachteten. Gerade im Hinblick auf empirische Untersuchungen, die sich mit intensivierenden Individualisierungsprozessen, fortlaufender Ausdifferenzierung und zunehmender Pluralisierung befassten, erschien ein solches Verständnis von Gesellschaft überholt. Es fand eine Abkehr von holistischen Ansätzen und Perspektiven statt; so wurden beispielsweise Gesellschaftskonzeptionen von Durkheim und Parsons verworfen. Vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen Wende wurden Arbeiten von beispielweise Georg Simmel und Erving Goffman neu interpretiert, ergänzt und weiterentwickelt (vgl. ebd.: 357). Der Aufsatz über die Gabe, der von Durkheims Neffen Marcel Mauss verfasst wurde, erfuhr ebenso besondere Aufmerksamkeit und vom sogenannten Gabe-Theorem wurden neue methodologische Ansätze abgeleitet.

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Mauss untersucht in seinem Essay über die Gabe (1990 [1923]) den Gabentausch als totales soziales Phänomen. Als solches durchsetzt und betrifft es alle Bereiche menschlichen, gesellschaftlichen Zusammenlebens und kann in unterschiedlichen Formationen beobachtet werden: es gibt keinen Bereich menschlichen Zusammenlebens, in dem keine Form des Gabentausches beobachtbar wäre. Die Geste der Gabe, also der wechselseitige Prozess des Gaben-Tauschens ist bei Mauss ein – der – Grundbaustein des Sozialen. In einer vergleichenden Studie betrachtet Marcel Mauss das Phänomen der ›Gabe‹ in unterschiedlichen archaischen Gesellschaften. Detailliert analysiert er die Tradition des Potlatsch und verweist ergänzend auf weitere indigene Kulturen in Nordwestamerika, Afrika, Polynesien und Malaysien, die in ähnlicher Weise ritualisierten Gabentausch praktizierten (Mauss 1990: 24f). Mauss betont in seinen Analysen, dass eine grundlegende Form des Gabentauschs in all seinen Studien auftaucht. Die Art und Weise aber, wie der Gabentausch gestaltet, durchgeführt oder eingeordnet und kontextualisiert wird, könne sich teilweise erheblich von anderen Formen des Gabentauschs unterscheiden. Neben den gegenständlichen Sachen, beinhaltet der Tauschprozess auch geistige Sachen, die zusätzlich zu den gegenständlichen Geschenken übermittelt werden. Aus diesem ›Geist des Geschenks‹ entsteht der Zwang die Gabe zu erwidern, etwas also zurückzuschenken, womit der wechselseitige, sich über längere Zeit hinweg erstreckende Prozess aufrecht erhalten bleibt. Es ist ein ständiges wechselseitiges und zirkulierendes Schenken und Zurückschenken. Dabei ist die Rückgabe nicht gezwungenermaßen an die gleiche Sache gebunden, kann also auch andere Tauschvorgänge und Personen mit einbeziehen. Der ›Geist des Geschenks‹, nicht der Gegenstand selbst, erzeugt den reziproken Zwang der Rück-Gabe (vgl. ebd.: 33). »Das, was in dem empfangenen oder ausgetauschten Geschenk verpflichtet, kommt daher, daß die empfangene Sache nicht leblos ist. Selbst wenn der Geber sie abgetreten hat, ist sie noch ein Stück von ihm. Durch sie hat er Macht über den Empfänger […] und das hau verfolgt jeden, der es innehat. Es verfolgt nicht nur den ersten Empfänger, eventuell sogar eine dritte Person, sondern jedes Individuum, dem das [Geschenk] einfach überlassen wurde. Im Grunde ist es das hau, das zu dem Ort seines Ursprungs, zur geheiligten Stätte des Waldes und des Clans und zum Eigentümer zurückkehren möchte. […] Es ist vollkommen logisch, daß man in einem solchen Ideensystem dem anderen zurückgeben muß, was in Wirklichkeit ein Teil seiner Natur und Substanz ist; denn etwas von jemand annehmen heißt, etwas von seinem geistigen Wesen annehmen, von seiner Seele; es aufzubewahren wäre gefährlich und tödlich, und zwar nicht allein deshalb, weil es unerlaubt ist, sondern weil diese Sache – die nicht nur moralisch, sondern auch physisch und geistig von der anderen Person kommt –, weil dieses Wesen, diese Nahrung, diese beweglichen oder unbeweglichen Güter, diese Riten oder Kommunionen magische und religiöse Macht über den Empfänger haben.« (Ebd.: 33f) Das Phänomen des Gabentausches muss immer zirkulierend gedacht werden. Es darf nicht eindimensional linear nur in eine Richtung wirkend betrachtet werden, vielmehr besteht eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, teils divergierender Prozesse und Bezugnahmen. Was scheinbar freiwillig und selbstlos gegeben wird – betrachtet man nur den einen Moment der einzelnen Gabe – entfaltet – bei längerer Betrachtung des wechselseitigen Gebens – einen Zwangscharakter, in dem sich ganz eigennützige

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Momente erkennen lassen. Mauss verweist in dem Zuge auf die soziale Fiktion des Geschenks. Wird eine Gabe als Geschenk gerahmt, muss das Gaben-Geben zelebriert werden. Die Übergabe wird von eingeübten Gesten und Floskeln begleitet. Betrachtet man das Phänomen des Geschenks aber vor dem Hintergrund der Gabe, die immer mit einem Zwangsmoment der Rück-Gabe einher geht, so offenbart sich das ›Geschenk‹ als ›soziale Lüge‹. Die Idee eines Geschenks wird als soziale Fiktion dekonstruiert (ebd.: 18). Dabei sind die Pflichten des Gebens und Zurückgebens nur ein Teil des totalen Phänomens der Gabe. Ebenso wichtig ist die Pflicht des Annehmens (vgl. ebd.: 36). Sowohl das Geben als auch Nehmen sind moralisch verpflichtend: Wird die Gabe abgewiesen, also die Pflicht ein- oder gar beidseitig nicht erfüllt, kommt es zum Konflikt: »Sich weigern, etwas zu geben, es versäumen, jemand einzuladen, sowie es ablehnen, etwas anzunehmen, kommt einer Kriegserklärung gleich; es bedeutet, die Freundschaft und die Gemeinschaft verweigern« (ebd.: 37). Das System der Gabe verbindet, es etabliert und stabilisiert Beziehungen. Ebenso werden Veränderungen in den Beziehungen durch die Gaben kenntlich gemacht. Beziehungen werden durch die Gaben aktualisiert. Dies gilt nicht nur für die materiellen Teile, sondern gerade auch für die immateriellen: für die Pflichten, die auferlegt werden, für die Erwartungen, die aufgebaut werden. Für Mauss ist vor allem das zirkulierende Moment des Gabentauschs wichtig: »Alles kommt und geht, als gäbe es einen immerwährenden Austausch einer Sache und Menschen umfassend geistigen Materie zwischen den Clans und den Individuen, den Rängen, Geschlechtern und Generationen« (ebd.: 39). So kann soziales Handeln auf Basis dieses Ansatzes nicht mehr nur entweder zweckrational oder traditional, affektuell oder wertrational gedacht werden, »vielmehr oszilliere Handeln zwischen [den] vier Polen […] der Verpflichtung, dem Interesse, der Freiwilligkeit und der Uneigennützigkeit. […] Die Überwindung des methodologischen Individualismus und Kollektivismus vollzieht sich also in der anthropologischen Annahme einer phänomenalen Vielfalt des Handelns, einer Gleichzeitigkeit von individueller Freiheit und kollektivem Zwang.« (Moebius 2006: 364) Zwei wesentliche Unterschiede ergeben sich aus dem Vergleich der eingangs vorgestellten Ansätze von Durkheim und Weber mit dem von Mauss. Erstens wird das ›Soziale‹ nicht vorausgesetzt: Mauss’ Ansatz benötigt keine ›soziale Kraft‹, die das Handeln anstößt. Die soziologische Analyse muss weder vom sozialen Handeln aus (methodologischer Individualismus) noch von der gesellschaftlichen Struktur aus (methodologischer Holismus) gedacht werden. Von der ›Gabe‹ aus zu denken, ermöglicht es Sozialität zu erfassen, ohne dass dabei eine schon bestehende Beziehung von Gesellschaft und Individuum angenommen werden muss. Entsprechend stellt sich nicht unmittelbar die Frage, welche Komponente in der Betrachtung bedeutsamer sein sollte: gesellschaftliche Struktur oder soziale Handlung. Der zweite wesentliche Unterschied ergibt sich daraus, dass Mauss’ Ansatz es zulässt, multiple Prozesse gemeinsam und gleichzeitig zu denken. Selbst dann, wenn die einzelnen Elemente womöglich entgegengesetzt erscheinen und ihre Gegensätzlichkeit den Anschein erweckt, sie müssten einander aufheben, ermöglicht dieser Ansatz, die Komplexität sozialer Prozesse insbesondere in ihren Widersprüchlichkeiten und ihrer Vielschichtigkeit aufzugreifen.

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1.2.5 Über die Komplexität des ›Sozialen‹ Noch – oder gerade als – die Soziologie in ihren Kinderschuhen steckte und es galt, ihren Gegenstand zu definieren, führten Émile Durkheim und Gabriel Tarde eben zu dieser Frage eine Debatte, die grundlegende Weichen für die sich bildende neue Disziplin stellen sollte. Tarde unterlag Durkheim im Zuge dieses Streits um den ›eigentlichen‹ Gegenstand der Soziologie. Damit sollte Durkheims Entwurf einer Soziologie prägend für soziologische Forschungen werden und Tardes Ideen gerieten lange Zeit regelrecht in Vergessenheit. »Es handelte sich um den Kampf der endlich etablierten Wissenschaft des Sozialen gegen die Prosa. Des zwanzigsten Jahrhunderts gegen das neunzehnte. Durkheim hatte gewonnen. Tarde lag k.o. am Boden. […] In der Soziologie erinnerte man sich an sein Werk nur als den missglückten Versuch, der Individualpsychologie einen Platz zu geben, der rechtmäßig ›der Erklärung durch das Soziale‹ zukam.« (Latour 2015b: 8). Bei Tardes Entwurf einer soziologischen Denkweise handelte es sich allerdings nicht – wie der Vorwurf lautete – um das Einfallen der psychologischen Erklärung in den Bereich der Soziologie, das einer Übernahme durch die Individualpsychologie womöglich Tür und Tor geöffnet hätte. Tarde schlug vielmehr eine monadische Denkweise vor, die eben ohne den gesetzten Gegensatz von Gesellschaft einerseits und Individuum andererseits auskommen sollte (vgl. Latour 2015b: 8f). Es ist der dualistische Gegensatz von Individuum und Gesellschaft, der maßgeblich für das soziologische Verständnis von Durkheim, Weber und Parsons ist. Während Durkheim von der bereits vorhandenen Kraft des ›Sozialen‹ ausgeht, die gerade in gesamtgesellschaftlichen Strukturen – der ›Gesellschaft‹ – eingeschrieben ist und determinierend auf die Handlungen Einzelner wirkt, geht Weber von einer Vielzahl vieler, ständiger Einzelhandlungen aus, die sich auf einen mehr oder weniger gegebenen (erlernten) Sinn(-zusammenhang) beziehen, die sich verstetigen und aus denen heraus sich größere, weitreichende soziale Strukturen (z.B. Herrschaftssysteme) ergeben. Obgleich Durkheim und Weber unterschiedliche Herangehensweisen nutzen, betrachteten sie doch denselben Gegenstand: Gesellschaften. Etwas, das Parsons vermeintlich erkannte und nachfolgend den Versuch unternahm die unterschiedlichen Perspektiven zu einer Grand Theory des ›Sozialen‹ zusammenzuführen. Dabei stand für Parsons vor allem die Frage im Fokus, wie gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten wird. Alle drei Vertreter soziologischer Forschung beschäftigten sich mit Phänomenen der ›Modernisierung‹, also gesellschaftlicher (Weiter-)Entwicklung, die gerade die früheren Vertreter der Soziologie intensiv untersuchten. Durkheim betrachtet in seinem Werk Über soziale Arbeitsteilung (1893) den Übergang von segmentär differenzierten Gemeinschaften zu funktional differenzierten Gesellschaften. Während in segmentär differenzierten Gesellschaften Solidarität vor allem über Ähnlichkeit, persönliche und familiäre Kontakte geschöpft wurde (mechanische Solidarität), werde in funktional differenzierten Gesellschaften Zusammengehörigkeit über Abhängigkeit hergestellt (organische Solidarität). Bei Weber steht hingegen der Modernisierungsprozess unter dem Vorzeichen zunehmender Rationalisierung. Wäh-

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rend in gemeinschaftlichen Zusammenschlüssen affektuelle und traditionale Elemente dominierten, vollziehe sich im Zuge von Modernisierungs- und Rationalisierungsprozessen auch eine Verschiebung hin zu mehr zweck- und wertrationalen Elementen (vgl. Weber 1922: 40). Vergemeinschaftung »soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns […] auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht« (ebd.), demgegenüber erklärt Weber, dass Vergesellschaftung »eine Beziehung heißen [soll], wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessensausgleich oder auf ebenso motivierter Interessensverbindung beruht« (ebd.). Deutlich wird diese Trennung von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Merkmalen auch in Webers Herrschaftstypen. Die Idealtypen von traditionaler und charismatischer Herrschaft sind stärker durch affektuelle und traditionale Merkmale geprägt. Im Kontrast dazu steht der Idealtypus der rational-legalen Herrschaft (vgl. ebd.: 165f). Parsons (später auch Luhmann) beschreibt diesen Prozess der Modernisierung als beständig fortlaufende Ausdifferenzierung. Parsons versteht Modernisierung als systemisch ablaufenden Prozess, der evolutionär zu einer höheren Funktionalität aller Teilbereiche des Gesamtsystems führt. Konflikte sind das Produkt von dysfunktional arbeitenden Teilsystemen, die die fortschreitende Entwicklung des Gesamtsystems verhindern. Die Anpassung des Systems an seine Umwelt scheitert also. Dies kann beispielsweise dann passieren, wenn sich einzelne Teilsysteme schneller ausdifferenzieren als andere und ein Ungleichgewicht zwischen den Systemen entsteht (vgl. Parsons 1942). Ausdifferenzierung ist auch immer gleichzeitig Innovation und damit evolutionärer Fortschritt (vgl. Parsons 1964). Gemäß dem Prinzip ständiger Ausdifferenzierung werden folglich auch ›moderne‹ Gesellschaften als komplexer im Vergleich zu früheren Gesellschaftsformen angesehen. Der fortlaufende Modernisierungs- und Ausdifferenzierungsprozess bringt also immer eine ständige Steigerung an Komplexität mit sich, die innerhalb von Gesellschaften bewältigt werden muss. Die Strategie der Systeme zur Bewältigung von Komplexität ist weitere Ausdifferenzierung, was wiederum eine Steigerung der inneren Komplexität des Gesamtsystems zur Folge hat. Systeme differenzieren sich also ständig in Richtung steigender Komplexität mit dem Ziel entstandene Komplexität zu ›reduzieren‹ (vgl. Luhmann 1997, 2009). Weber, Durkheim, Parsons und Luhmann eint die Überzeugung, dass wir es bei Modernisierung mit einem Entwicklungsprozess zu tun haben, der nur eine Richtung kennt: Fortschritt. Vorindustrialisierte Formen von Gesellschaften (Gemeinschaften) sind einfacher, weniger komplex, uniformer und ›primitiver‹ aus der Perspektive der vorgestellten Soziologen. Durch Modernisierungsprozesse, durch Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Rationalisierung, entwickeln sich Gesellschaften ›weiter‹ und werden komplexer. Tarde hingegen sieht in diesen Prozessen von Modernisierung eher eine Uniformierung, Vereinfachung und Gleichmachung. Womit sich auch hier eine Kehrtwende in der Perspektive zwischen den ›Klassikern‹ und Tardes Ansatz ergibt. Im Hinblick auf die bekannte soziale Welt betrachtet Tarde die Vielheit und Individualität der Menschen (Akteure), die »viel reicher an beständiger Veränderung sind« (Tarde 2015: 68) als die Regierungsapparate, Glaubens- und Rechtssysteme, Sprachsysteme und Verwaltungsstrukturen. Vereinfachung und Gleichmachung lassen sich in allen Bereichen menschlichen

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Handelns erkennen. Beispielsweise auch in architektonischen Gebilden: »Die Bahnhöfe für unsere Eisenbahnen sind in einem einfacheren und gleichförmigeren Stil erbaut als mittelalterliche Burgen« (ebd., Herv. dort). Ähnlich verhält es sich mit der Entstehung (moderner) Nationen, die aus einer Vielzahl bunter regionaler und lokaler Traditionen und Bräuche eine (imaginierte) Einheit werden lässt, die auf Sprache, Verwaltung, Regierung, Territorium und homogen gedachte Kultureinheit reduziert (vgl. Tarde 2015: 75f und Anderson 2005). Diese ›kulturelle Einheit‹ der Nation, die mit ›Gesellschaft‹ gleichgesetzt werden könnt und damit zum Gegenstand soziologischer Forschungen wurde, war bis zur Kritik des methodologischen Nationalismus (vgl. Beck/Grande 2010) Ende des 20. Jahrhunderts kaum hinterfragt worden. ›Gesellschaft‹ mit Nation gleichgesetzt zu denken, verengte den Blick soziologischer Unternehmungen. Während die frühen Soziologen sich also mit Nationalstaaten befassten und dem Irrtum erlagen Nationalstaaten mit Gesellschaften gleichzusetzen, ermöglicht Tardes Ansatz eine andere Perspektive, da er den Gegenstand der Soziologie grundlegend anders begreift. Wie bereits eingangs dargelegt ist für Tarde »jedes Ding eine Gesellschaft« (Tarde 2015: 51, Herv. dort). Hinzu kommt Morins Annahme, dass zunächst jedes System als komplex betrachtet und angenommen werden muss (vgl. Morin 2008: 7). Ein System bei Morin ist »a relation between parts that can be very different from one another and that constitute a whole at the same time organized, organizing und organizer« (ebd.: 7). Betrachten wir nun das Kleinere (Tarde) oder das Ganze (Durkheim) als mehr oder weniger komplex als das andere, lässt sich damit über Komplexität noch nicht viel aussagen, lediglich ihr Verhältnis mit ihrer eigenen Reduktion feststellen. Was uns den Ausgangspunkt für den ›einfachsten‹ Ansatz einer Definition von Komplexität gibt: »complexity is what is not simple« (Morin 1974: 555).

1.3 Über Komplexität Die Welt, sowohl unsere Lebens- als auch unsere Umwelt, wird immer komplexer. Komplexitätssteigerung wiederum gilt als charakteristisches Merkmal fortschreitender Modernisierung. Alle Bereiche des (individuellen) Lebens und der Gesellschaft erfahren eine Steigerung von Komplexität. Komplexität und die ständige Steigerung jener wird insbesondere als Merkmal ›moderner‹ Gesellschaften aufgeführt, wenn ›moderne‹ Gesellschaften von vor-industrialisierten Gesellschaften differenziert werden sollen. Als deskriptive Beschreibung avanciert der Begriff Komplexität nicht nur zum Modebegriff, sondern zum Schlüsselbegriff der ›Moderne‹ (vgl. Gloy 2014). Die Welt heute ist eine (augenscheinlich) komplexe(re) geworden. Und die Philosophin Karen Gloy führt dies in ihrem Werk Komplexität. Schlüsselbegriff der Moderne (2014) auf eine Reihe von Prozessen zurück, die sich im Zuge des 20. Jahrhunderts intensiviert haben und regelrecht überschlagen haben: allen voran verschiedene Globalisierungsprozesse. Die Vernetzung weltweit wird dichter, schneller, intensiver: die Welt ist zu einem globalen Dorf zusammengeschrumpft und damit regelrecht zu ›Einem‹ verwachsen (vgl. ebd.: 11). Dazu gehören eine Reihe von technologischen und technischen Entwicklungen im Bereich wirtschaftlicher Infrastruktur: Informationstechnologien erneuern sich in einem bislang neuen Tempo. Transportwege, Logistikstrategien sind verstärkt Opti-

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mierungszielen unterworfen: alles muss produktiver und effizienter ablaufen. Rationalisierung erscheint nach wie vor die ultimative Zauberformel zur Lösung von Problemen und bleibt das angestrebte Ziel. Von der Erfindung, über seine Entwicklung, bis hin zur weltweiten Verbreitung markiert das Internet einen Meilenstein und wird zu einem Katalysator der Beschleunigung und Vernetzung. Seit Ende des 20. Jahrhunderts erfahren eine Reihe von Prozessen dadurch einen regelrechten Schub: alles muss schneller, flexibler und zugänglicher werden. Schnellere Produktion und Re-Produktion von Gütern, ständiger Austausch von materiellen und immateriellen Sachen, Zugang zu Informationen immer und überall soll gewährleistet werden (wird erwartet), von jedem Ort, zu jeder Zeit. Und diese Entwicklungen beeinflussen alle Bereiche menschlichen Lebens, insbesondere in der westlichen Welt, in einer Weise, wie sie zuvor zumindest noch nicht dokumentiert worden wäre. Zur Vernetzung, Verdichtung und Beschleunigung kommt hinzu eine gesteigerte Aufmerksamkeit und Beobachtung eben jener Prozesse. Sie werden dokumentiert, überprüft und kontrolliert. Und nicht nur dies ist neu. Auch werden wiederum die Bewältigungsstrategien, mit denen die Herausforderungen der ›Moderne‹ gemeistert werden sollen, in ähnlicher Weise akribisch durchleuchtet, analysiert und bewertet. Es ist die Intensität dieser Prozesse, die auf vielen Ebenen beständig ablaufen, die die ›Moderne‹ von dem ›Früher‹ unterscheidet. Die »globale mediale und physische Vernetzung hat Auswirkungen nicht nur auf die Arbeits- und Berufswelt, auf Wissenschaft und Finanzen, sondern auch auf Kultur und Wissenschaften« (ebd.: 12). Gelebt werden Ideen von Multi-, Inter- und Transkulturalität, ebenso wie diese wiederum wissenschaftlich untersucht, reflektiert und kritisiert werden. Die Globale Vernetzung und das Zugänglichmachung von Informationen, Kommunikationstechnologien, die einen intensiveren Austausch über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg ermöglichen, lassen die individuelle Lebenswelt gleichzeitig klein und riesengroß erscheinen: das, was einst das Fremde sonst-wo irgendwo war hält buchstäblich Einzug ins heimische Wohnzimmer. Es ist nur ein *Klick* entfernt. Das Angebot ist selten niedrigschwellig, die Masse schier überwältigend. Auch Karen Gloy geht vom Dualismus von Gesellschaft und Individuum aus. Sie betrachtet einerseits gesamtgesellschaftliche Prozesse, die sich global vollziehen und unabhängig vom individuellen Einzelnen stattfinden, die Einzelnen allerdings wiederum betreffen und keine Möglichkeit zum Ausweichen geben. Den Einzelnen bleibt also wiederum nur Strategien zur Bewältigung dieser Herausforderungen zu finden, die von ›außen‹ auf sie einwirken, denen sie nicht ausweichen können. So versuchen sie beständig die Komplexität der modernen Welt beherrschbar zu machen, kontrollierbar zu machen, sie überhaupt erfassbar zu machen; sie zu be-wältigen und genau genommen zu überwältigen. So diagnostiziert Gloy ein ›überfordertes Individuum‹, das vom Produktivitätsdruck der Leistungsgesellschaft regelrecht in den Burn-out3 getrieben wird (vgl. u.a. Graefe

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Gemeint ist damit an dieser Stelle nicht die psychologisch-klinische Diagnose einer Erschöpfungsdepression. Fuchs, Iwer und Micali folgend wird im Ansatz einer Phänomenologie der Überforderung zwischen einer präklinischen Situation der Überforderung und dem Moment einer manifesten Erklärung im klinisch-psychologischen Sinn differenziert, wobei die Betrachtung sich auch in

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2019, Fuchs et al. 2018, Siegrist 2018, King et al. 2018), das neue Formen des Umgangs mit den veränderten Lebens-, Alltags- und Arbeitsbedingungen entwickeln muss, das »angesichts der immer komplexer und unüberschaubarer werdenden Welt […] Strategien zur Komplexitätsbewältigung« (Gloy 2014: 17) benötigt. In Gloys Ausführungen erscheint einmal mehr die Erzählung einer sich rasant verändernden Welt in der und an die sich Gesellschaften anpassen müssen. Und dies (neuerdings) in einem Tempo, welches auf individueller Ebene nicht mithaltbar ist. So sind die Individuen einmal mehr (hilflos) dem Takt gesellschaftlichen Wandels ausgesetzt und bleiben allein mit der Notwendigkeit konfrontiert individuelle Umgangsformen zu finden. Bei Gloy ist eben dies der Moment, wenn Komplexität zu etwas Bedrohlichem, etwas Gefährdendem wird. Komplexität wird zu einem Vorboten und Begleiter von Krisen: »Im alltäglichen Umgang nennen wir komplex etwas, das ungeheuer reichhaltig, kompliziert, verworren, vielzählig und vielgestaltig in Elementen und Beziehungen ist« (Gloy 2014: 17). Einer Herausforderung, die bewältigt werden muss. Kom-plex meint dabei das ›mit‹ (lat. com beziehungsweise cum) und ›Verknüpfte‹ (lat. plexio). Gemeint ist damit das »Zusammengeflochtene, Verbundene, Ineinandergreifende« (ebd.). Das Komplexe zeichnet sich nicht nur über eine Vielzahl von Verbindungen, Wechselwirkungen, Interdependenzen, Beziehungen und Elemente aus, sondern auch darüber, dass es »nicht oder nur schwer durchschaubar, unerklärlich und unverständlich« (ebd.) erscheint. Es ist nicht nur die quantitative Menge an Daten, Information, Verbindungen und Entitäten, sondern auch die qualitative »Vielgestaltigkeit und Heterogenität der Beziehungen« (ebd.), was in der »Vielzahl und Vielfalt […] ihrer Dichte und Interdependenz intransparent, unfassbar und unverständlich bleibt« (ebd.: 18, Herv. dort). Komplexität zeichnet sich also nicht nur in seiner Gestalt an sich aus, in der sich Komplexität als solche entfaltet, sondern auch dadurch, dass sie sich zumindest einem subjektiven Empfinden nach, als etwas »Unüberschaubares, Nicht-Kommunizierbares, [und] Nicht-Entscheidbares« (ebd.) einer kognitiven Erfassung entzieht. So wird Komplexität auf eine Weise zur Bedingung wissenschaftlicher Obsession: wenn Komplexität das ist, was noch nicht erfasst werden konnte, was noch nicht untersucht, noch nicht verstanden werden konnte, wird das Komplexe gleichzeitig zum Antrieb wissenschaftlicher Unternehmung.

1.3.1

Edgar Morin über komplexes Denken/Denken mit Komplexität

Edgar Morin richtet sich in seiner Vorgehensweise, seiner spezifischen Denkweise, gegen das Paradigma der Vereinfachung, Komplexitätsreduktion und einem Denken in linearer Kausalität (siehe Kapitel 1.1.3). Obgleich selbst Philosoph und Soziologe, fordert er in seinem Arbeiten die disziplinäre Abgrenzung, eine Einhegung und Sortierung der Wissenschaften ständig heraus und breitet seine Arbeiten konsequent in andere nicht

dieser Abhandlung auf den präklinischen Moment konzentriert (vgl. Fuchs et al. 2021: 14f): »Sie mag nämlich die Mechanismen erhellen, in denen gesellschaftliche Veränderungsprozesse mit ihren wechselnden oder zunehmenden Anforderungen einerseits und individuellen Internalisierungen, Anpassungen, Bewältigungsversuche oder Überlastungen andererseits ineinandergreifen« (ebd.: 14f).

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genuin soziologische Themenfelder aus. Und obgleich er sich von den etablierten, gefestigten Denkweisen abwendet, keinem methodologischen Paradigma folgen möchte, ist sein Vorgehen weder unsystematisch noch willkürlich. In seiner Forschung beginnt Morin nicht mit der einen bestimmten Methode, sondern einer Denkweise »in vollem Bewußtsein mit der Verweigerung der Vereinfachung« (Morin 2010: 34). Komplexes Denken heißt bei Morin auch sich vom Denken in linearer Kausalität abzuwenden und den Versuchungen des vereinfachenden Denkens nicht nachzugeben. Eben die Fallstricke, die sich dem Denkenden auf diesem Wege, gerade durch die gelernten Gewohnheiten eines reduktionistisch orientierten Denkens, ergeben, gilt es zu vermeiden. Zu eben jenen Modi des vereinfachenden Denkens gehören das Idealisieren, das Rationalisieren und das Normalisieren (vgl. ebd.). Unter Idealisieren versteht Morin das Denken, »daß die Realität in der Idee aufgehen könnte, die allein das intelligible Reale sei« (ebd.). Rationalisierend ist jede Art des Denkens, die »die Realität in eine Ordnung und die Kohärenz eines Systems einschließen« (ebd.) wollte. Dazu gehört auch, dass das rationalisierende Denken eben gerade nur innerhalb der Ordnungen und Systeme orientiert bleibt, womit ein »Ausgreifen auf [etwas] jenseits des Systems« (ebd.) geradezu verboten wird. Worin sich wiederum eine Art Disziplinierung des Denkens erkennen lässt. Im normalisierenden Denken begründet sich der dritte Fallstrick: ein Modus der Vereinfachung, in der Weise, dass im normalisierenden Denken das Fremde eliminiert wird und Geheimnisse gelüftet und entschlüsselt werden sollen. Damit Fremdes ebenso wie Geheimes bekannt wird (damit seine qualifizierenden Merkmale als ›Geheimes‹ und ›Fremdes‹ verliert) und eingehegt (eingeordnet und diszipliniert) wird (vgl. ebd.). Morin formuliert eine Wendung gegen ein positivistisches Denken, gegen das Selbstverständnis der Forschenden und ihrem Tun, welches als Entdeckung begriffen wird: die Entdeckung von Etwas, das ohnehin da ist und schon existiert, das nur gefunden, erkannt und in seinem Sein – seiner Substanz – entschlüsselt werden müsste. Er richtet sich gegen ein Denken gemäß der »großen Trennung(en)« (Latour 2015a): gegen den aufgespannten Dualismus von Natur und Kultur. Nicht eine simplifiziert gedachte Unterwerfung und Beherrschung des Gegenstandes ist das Ziel, sondern die Erfassung der Hybride, der Misch-entitäten, der Akteur-Netzwerke sollte stattdessen im Fokus stehen. Spricht Morin von einer ›Methode‹, meint er damit gerade nicht Methoden, wie sie aus der empirischen Sozialforschung bekannt sind. Bei Morin heißt Methode zunächst ein »Dahinwandern« (Morin 2010: 34). In seinem methodischen Programm »kommt es darauf an, das Wandern ohne Weg zu akzeptieren, den Weg beim Wandern zu machen. […] Die Methode kann sich nur im Zuge der Forschung herausbilden; sie kann sich nur später abzeichnen und formulieren, in dem Augenblick zu welchem der Ausdruck wieder zu einem neuen Standpunkt wird, dieses Mal mit einer Methode ausgestattet.« (Ebd.) Es geht Morin also um die Re-Innovation der wissenschaftlichen Method(en), die Komplexität nicht (zwanghaft) versuchen zu reduzieren, nicht nur wahrnehmen (feststellen), sondern buchstäblich aufnehmen (aufheben), aufgreifen und Raum (physischgedanklichzeitlich) zur Entfaltung ermöglichen können (vgl. Hawkins 1997: 359). Es geht bei Morins Ansatz also eben gerade nicht darum Komplexität zu bändigen oder zu be-

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wältigen, komplexe Phänomene einzuhegen, Ordnungen zu finden, Gesetzmäßigkeiten nachzuzeichnen, Kategorien abzustecken oder die Dinge zu sortieren. Seine Kritik richtete sich gegen die Denkweisen, die im augenscheinlichen Chaos von Komplexität Ordnungen finden möchten, Ordnungen schaffen, (wieder-)herstellen möchten. Ordnung wird gemeinhin verstanden als ein mehr oder weniger stabiles System, welches von gewisser Dauerhaftigkeit und damit auch Verlässlichkeit und Berechenbarkeit geprägt ist, messbar ist und sichtbar gemacht werden kann. So ist auch die Wissenschaft an sich stets darum bemüht ihr System des Wissens zu stabilisieren, Information festzuhalten und zu dokumentieren, Muster und Regelmäßigkeiten zu finden, Gesetzmäßigkeiten zu entschlüsseln und Komplexität zu entwirren. Ausgehend von dieser Beobachtung, des wissenschaftlichen Tuns Anderer, wendet sich Morin eben davon, der Ordnung-schaffenden Arbeit, ab und nimmt das die Tätigkeit des Organisierens selbst in den Blick. Dabei gilt es eben gerade nicht Chaos und Komplexität zu bewältigen. Wissenschaften sind insofern nicht die Helfenden, die Verbündeten, die Kategorien, Definitionen, Ordnungen, Rahmungen feststellen, festlegen und vorgeben, die dabei helfen das Chaos der Welt beherrschbarer zu machen. Morin sieht in der »Komplexität der kosmischen Desintegration, die Komplexität der Idee des Chaos, die Komplexität der Beziehung [die] Quelle der Organisation« (Morin 2010: 64). Er illustriert sein Argument mit dem Beispiel der Formveränderung von Eiswürfeln und der Ver- und unmögliche Entmischung von Eiern: »Während es zureichen ist, die Temperatur einer Umgebung zu erhöhen, um einen Eiswürfel zu schmelzen oder Eier zu zerschlagen, um sie zu verrühren, ist es nicht zureichend, die Umgebung wieder abzukühlen, damit der Eiswürfel wieder seine Form annehme, in umgekehrter Richtung zu schlagen, um die Eier zu entrühren; Organisation ist nicht umgekehrte Desorganisation.« (Ebd.: 120) So unterdrückt die Wissenschaft der Ordnung das Problem der Organisation, und eine Wissenschaft der Unordnung verstärkt im Grunde nur den Weg, den die Wissenschaft der Ordnung bereits vorgezeichnet hat, indem eben gerade Unordnung, Desorganisation, Desintegration immer noch als Gegenentwurf zur Annahme einer eigentlich bestehenden Ordnung betrachtet wird. Oder dem Ideal einer ordentlichen Grundform, einer vollständig möglichen Integration, einer Form der Organisation im Kontrast entgegengehalten wird. Die Problematisierung von Unordnung, Desintegration und Desorganisation, beruht auf der vorgefassten Annahme einer (existierender oder zumindest herstellbaren) Ordnung. Der Problematisierung von Desintegration geht eine Idee von Integration voraus. Des-Organisation beinhaltet immer schon Organisation. So kann auch die negative Wendung keine Neuerung bringen, sondern bestätigt nur von der ›anderen Seite her betrachtet‹. An einem ähnlichen Punkt setzt auch Latours Kommentar zu Gabriel Tardes Monadologie und Soziologie an, wenn der den Common Sense der Sozialwissenschaften problematisiert: ein Common Sense, der vom Beständigen ausgeht um Veränderung zu verstehen, der die »Gleichheit für die Regeln und den Unterschied für die Ausnahme« (vgl. Latour 2015b: 12) hält. Wohingegen aus Tardes (und Latours) Perspektive im Beständigen »nur die partielle und vorläufige Konsolidierung der Veränderung« (ebd.) gesehen werden kann und

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eher davon auszugehen wäre, dass der Unterschied die Regel ist (vgl. ebd.).4 Ein Beispiel dafür ist die Soziologie Talcott Parsons und seine Annahme, dass die (sozialen) Systeme tendenziell immer nach Stabilität5 und Ordnung streben (vgl. Parsons 2005 [1951]). Tun sie dies nicht, liegt Anomie (bei Durkheim), also Abweichung oder Dysfunktionalität (Parsons und weitere systemtheoretische Ansätze) vor. Es ist eben diese Hyper-Fixierung auf eine Idee von ›Ordnung‹ in der Morin die Krücke moderner Sozialwissenschaften sieht. In dieser Fixierung droht sie wesentliche Aspekte zu übersehen. Indem das Abweichende von der Idee der Ordnung als das Pathologische und Unerwünschte ausgeklammert wird. Dabei übersieht eine solche Denkweise, die in der ›Ordnung‹ die Norm sehen möchte, dass das Andere (was in diesem Fall Chaos wäre) als eine Bedingung für diese Ordnung nicht ausgeklammert werden kann. Die wissenschaftliche Bedeutungslosigkeit von Ordnung und damit die Widersprüchlichkeit in der wissenschaftlichen Fixierung auf diese verdeutlicht Morin anhand seiner Ausführungen zur Gleichzeitigkeit werdender (generierender, hervorbringender) und vergehender Prozesse. Lebende Organismen, wie die Zelle, sind beständig in Prozessen des Vergehens und der Regeneration begriffen: »The crux of biological complexity is the indissoluble bond between continuous decay and auto-poiesis, between life and mortality« (Morin 1974: 563). In dem Moment reichen sich Morin und Latour die Hand, wenn auch Morin biologisch-physische Prozesse einerseits und soziale andererseits nicht als getrennt voneinander, sondern hybridisch ineinander verflochten und zusammenwirkend betrachtet: »A society is in a permanent state of self-production through the death of its individual members […]. It continually reorganizes itself through disorders, antagonisms and conflicts, which undermine its existence and at the same time maintain its vitality.« (Ebd.) Morin wendet sich seinerseits nicht nur gegen eine holistisch orientierte Erklärung, sondern ebenso gegen den Gegenentwurf einer individualistischen Erklärung, die von den kleinsten Teilen, Elementen, eines betrachteten Gebildes ausgeht: »In opposition to reduction, complexity requires that one tries to comprehend the relations between the whole and the parts. The knowledge of the parts is not enough, the knowledge of the whole as a whole is not enough, if one ignores the parts; one is

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Weiterhin fasst Latour in seinem Vorwort zu Tardes Monadologie und Soziologie zusammen, dass auch die Identität »nur eine partielle und vorläufige Ausnahme« (Latour 2015: 12) ist. Eben an dieser Stelle ergibt sich ein Ansatz für Lacans fragmentiertes Subjekt, eine Denkweise, die eben gerade nicht von dem in sich ruhenden Subjekt, einem Ego, das in Einheit und Vollständigkeit gedacht wird, von vornherein angenommen wird, ausgeht, sondern grundlegend Subjekt, Ego, Ich und in Verbindung zu Tarde auch damit zusammenhängend Identität, als etwas fragmentiertes, fragiles, instabiles, ständig im Prozess des Werdens eben gerade prozesshaft, in konstanter Veränderung, Transformation betrachtet. Parsons spricht hier auch von einem Zustand der Homöostase, wenn Umwelt und System den höchsten Grad beidseitiger Stabilität und Balance, Ausgeglichenheit erreicht haben. Systeme tendieren, bei Parsons, grundlegend in Richtung eines Äquilibriums, vollständige Ausgeglichenheit (vgl. Parsons 2005 (1951)).

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thus brought to make a come and go in loop to gather the knowledge of the whole and its parts.« (Morin 2008: 6) Übertragen auf die soziologischen Klassiker und ihre methodologischen Herangehensweisen, mithilfe derer soziale Gebilde untersucht, erforscht, aber eben auch erklärt und verstanden werden sollten, lässt sich Morins Argument, sowohl gegen Durkheims methodologischen Holismus als auch Webers methodologischen Individualismus richten, denn: »The whole is more and less than the sum of the parts: this pseudarithmetic formula suggest that the whole produces qualities unknown to the isolated parts, namely emergences, and at the same time establishes constraints that suffocate qualities and render virtual certain possibilities of the party. Hence the whole is not necessarily superior to its parts, if, for example, like a totalitarian empire and the nations it dominates, it inhibits the qualities of the parts that were richer than those of the whole, or if the richer emergences belonged to the parts, as for example awareness, which emerges in individuals but not in society.« (Morin 1999: 120) Problematisch wird dabei insbesondere das Denken in Einheiten. Sowohl im Größeren als auch im Kleineren. Und eben an dieser Stelle eröffnet Gabriel Tardes Monade, eine auf differierendem basierende Denkfigur eine Auflösung einerseits und eine Öffnung im Denken andererseits. Tarde konzipiert die Monade nicht als kleinstes Element. Sie ist keine Einheit an und in sich. Sie ist nicht etwas, das ist. Die Monade bezeichnet die kleinste, vorstellbarste Differenz. Tarde geht also nicht von einer Einheit oder einer (materiellen oder immateriellen) Entität an und für sich aus. Und mit Differenz ist auch nicht ein feststellbarer Zustand der Verschiedenheit gemeint, sondern vielmehr das Differieren selbst; also ein Prozess, ein ständiges Tun: »existieren heißt differieren« (Tarde 2015: 71). »Die Differenz ist in gewissem Sinn das Wesen der Dinge« (ebd.). Was so viel bedeuten soll wie, dass erst in dem Unterschied, der sich zwischen dem Einen und dem Anderen feststellen ließe, eine Unterscheidung also eine Trennung des Einen vom Anderen vorgenommen werden kann. Nur durch das Differieren voneinander wird diese Trennung möglich. Und durch diese wird das Eine als das ›Eine‹ erkennbar, welches sich vom Anderen unterschiedet und damit zu ›Etwas‹ (konkretem) wird. Was einerseits die Frage anschließt, was es denn ist, wodurch die Trennung überhaupt möglich wird, also eine Frage hinsichtlich bestimmter Eigenschaften oder Merkmale, die das eine im Gegensatz zum anderen besitzt oder eben nicht besitzt, mehr besitzt oder weniger besitzt. Eröffnet aber auch den Raum die Frage zu stellen, wie unterschieden wird, nicht nur also woran der Unterschied gemessen wird. An der Stelle vollzieht Tarde eine weitere Wendung, von einer Ontologie des Seins zu einer Philosophie des Habens (vgl. ebd.: 88). In einer Seins-Ontologie wird von einer grundlegenden Eigenschaft, Eigenheit, von einer Seinheit der Sachen ausgegangen. Vor allem aber wird dieses Sein im Kern als unteilbar betrachtet, als eine Art Einheit, Totalität, die wiederum in Vollständigkeit gedacht wird. Es wird als eine in sich ruhenden Kraft wahrgenommen, als gegebenen Eigenschaft, als Substanz, aus der im Kern, sich das Sein heraus realisiert. Mit der Philosophie des Habens wendet sich Tarde von dem Bild der imaginierten vollständigen, totalen Einheit ab. Er nimmt eine Verschiebung vom Sein zum Haben vor. Woraus sich un-

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mittelbar eine Teilbarkeit, aber auch Unterscheidbarkeit eröffnet, die auf keine Essenz zurückgeführt werden muss. Während das eine Sein vom anderen Sein nur aufgrund differierender Seinheiten unterschieden werden kann, also aus dem unterschiedlichen Sein heraus, davon ausgegangen werden muss, dass in dem Sein – dem Wesen des Seins – selbst der Unterschied begründet liegt, sich daraus heraus entfaltet und manifestiert in unterschiedlichen Formen, die das Sein dann wiederum annimmt, in denen es sich der Welt zeigt, ergibt sich in der Logik einer Philosophie des Habens keine grundlegende Unterschiedlichkeit, sondern ein mehr-oder-weniger auf Basis eines Habens, also Besitz von Eigen-schaften beispielsweise. Damit entzieht diese Denkweise einer auf Identität fixierten Denkweise die Grundlage. Aus dem ›Ich bin…‹ wird ein ›Ich habe…‹ – welches wiederum änderbar, veränderlich und teilbar ist. Wohingegen das ›Ich bin…‹ in seiner Wesenhaftigkeit, aus sich heraus, unveränderlich, immerzu ist. Aus seiner Philosophie des Habens leitet Tarde den Gedanken der Quantifizierung (vgl. Tarde 2009: 2f und Tarde 2015: 88) ableiten. Wenn es weniger um die Frage des gegebenen Seins geht, sondern um das Mehr-oder-Weniger eines Habens, also Besitzens. Verdeuchtlich werden kann dies anhand des Beispiels eines medizinischen Tests. So geben beispielsweise Corona-Tests nicht an, inwiefern eine Person infiziert ist oder nicht, sondern messen genau genommen nur die Virus-Last: also wie viele Viren in welcher Konzentration gemessen werden können. Ebenso wie Schwangerschaftstests nicht etwa das Vorhandensein eines Embryos angeben, sondern Hormonkonzentrationen im Urin messen. Ein Umstand, der insbesondere während der Coronazeit 2020/2021 in Zusammenhang mit Schnell- und Selbsttest ausgiebig diskutiert wurde und Bewusstsein im Alltag erfahren hat: dass erst eine gewisse Viruslast Tests positiv anzeigen lässt. Was nicht mit einem Zustand des tatsächlichen Krankseins einhergehen muss. Während eine Orientierung auf einen Seins-Zustand also nur unpräzise Aussagen ermöglicht, ermöglicht eine Verschiebung hin zum Haben eine differenzierte Beschreibung und Feststellung und daraus folgend spezifischere und genauere Folgerungen. Eben aus der Idee der Monade und dem daraus abgeleiteten Differenzdenken begründet sich bei Tarde auch das sogenannte Wesen der Monaden, das Begehren und Überzeugen (vgl. Tarde 2015: 67f). Zwei Modi des Bezug-Nehmens auf Andere(s), Differierende(s), das Haben der Anderen, der Differierenden. Ähnlich wie warmes und kaltes Wasser Temperatur teilen und ausgleichen, eben weil ein Unterschied besteht und damit Bewegung entsteht, bis die Unterschiede wieder ausgeglichen, das Wasser lauwarm geworden ist. Wenn Edgar Morin also sowohl die Auflösung der Teile im Ganzen, als auch die Auflösung des Ganzen in seinen Teilen problematisiert, bildet Tardes monadologischer Ansatz, einer Denkweise im Differierenden, statt in gesetzten Einheiten, eine Alternative für das Problem des Reduktionismus (auf ein Wesen der Dinge) einerseits und Holismus andererseits. Wie auch der Unterscheidung in menschliche und nicht-menschliche Entitäten das Argument der Naturgegebenheit ihres Wesens an sich entzogen, ihre Trennung damit schwebend unwirksam erachtet werden kann. Eben auch weil im monadologischen Ansatz Tardes eben gerade nicht von der Einheit der Ordnung oder Ordnung der Einheiten ausgegangen wird, sondern Differieren zum grundlegenden Ausgangspunkt des Denkens wird. Ein Ansatz, der wiederum in Latours Soziologie der Assoziationen soziologisch ausgeformt wurde (vgl. Latour 2014).

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Neben Morins Kritik an den modernen Methoden der (harten) Wissenschaften und ihren mit Ordnungen in unterschiedlichsten Formen regelrecht besessenen, beherrschenden Paradigmen, die Komplexität eher suchen zu bewältigen, zu reduzieren und zu vereinfachen, steht Morin auch der zunehmenden Disziplinierung und Spezialisierung, bis hin zur Hyperspezialisierung der Wissenschaften kritisch gegenüber. Er selbst, als eigentlicher Philosoph, entzieht sich dabei ständig disziplinärer Zuordnung. Zwar den Sozialwissenschaften – irgendwie – zugeordnet, schreibt Morin in seinen Werken über die ›harten‹ Naturwissenschaften und gilt als Denker der Systemtheorien.6 Er beschäftigt sich außerdem mit Kybernetik, Thermodynamik und Informationstheorien (vgl. Hawkins 1997: 258f, Eckardt 2009: 130). So heißt es bei Peter Hawkins, der über The Method and Madness of Edgar Morin schreibt: »this kind of territorial chauvinism in areas of knowledge is one of the things attacked by Morin« (Hakwins 1997: 259). »Observations of the material world of physics cannot be isolated from the eco-systems of biology – the process of observation is part of the latter – and neither can be disentangled from the anthropo-social dimension which is necessary context for the production of scientific knowledge itself.« (Ebd.: 359) Und es ist eben gerad die Letztere, die Gewinnung des (wissenschaftlichen) Wissens, welcher Morin mit gesonderter Besorgnis begegnet, insofern, dass jede Form der Wissensgewinnung ein vereinfachander Prozess ist, eben weil damit immer bis zu einem gewissen Grad eine Abstraktion einhergeht, also eine Entfernung vom Konkreten, vom Eigentlichen, den Dingen selbst (what matters). In jenem Schritt von der Betrachtung, Dokumentation, Beschreibung, Überlegung und im Nachdenken über die Dinge, sowie im Formulieren der Überlegungen (das in-Form-bringen) fallen Dinge unbewusst weg und gehen verloren, während andere als »non-significant, irrelevant, contingent« (Morin 1974: 556) aktiv eliminiert werden. Es ist die Trennung wissenschaftlicher Disziplinen, in denen Morin einen Produkt des reduktionistischen Denkens erkennt. Eben dies bespricht Morin in einem Aufsatz unter dem Titel Restricted Complexity, General Complexity. Darin beschreibt er die drei Prinzipien, nach denen »classical science« (Morin 2008: 1) Komplexität ablehnt – mit anderen Worten einhegt, bewältigt und zu beherrschen versucht. Dabei handelte es sich um die Prinzipien von »universal determinism [,] reduction [and] disjunction« (ebd.: 1). Es ist gerade das Prinzip der Disjunction, also Trennung, welches mitunter zur Ausdifferenzierung und Disziplinierung der Wissenschaften führte: »the principle of disjunction […] consists in isolating and separating cognitive difficulties from one another, leading to the separation between disciplines, which have become hermetic from each other« (ebd.). In Form der drei Prinzipien begegneten die klassischen Wissenschaften komplexen Phänomene. Und mithilfe dieser versuchten sie Komplexität an sich zu überwinden, zu bewältigen und einzugehen, bis zu dem Punkt, an dem die Beschreibung komplexer Gegenstände lediglich noch markiert, dass bestimmte Herausforderungen und Schwierigkeiten bestehen passende Definitionen zu finden (vgl. ebd.: 1f).

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Wobei Morin Systeme als offen und miteinander interagierend betrachtet; eben gerade nicht autopoetisch geschlossen, einander »nur« beobachtend.

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»On the other hand, since the truth criterion of classical science is expressed by simple laws and concepts, complexity relates only to appearances that are superficial or illusionary. Apparently, phenomena arise in a confuse and dubious manner, but the mission of science is to search, behind those appearances, the hidden order that is the authentic reality of the universe. […] In classical science, behind appearances, there is the impeccable and implacable order of nature.« (Ebd.: 2) Komplexität verschwindet so hinter der disziplinären Trennung der modernen Wissenschaften, wurde bewältigt oder wie Latour sagen würde: zum Schweigen gebracht. Sie wird unsichtbar. Und gerade dies ist aus dem Kern von Komplexität heraus problematisch insofern, als dass Kom-Plexität eben gerade das Miteinander-Verbundene bedeutet: »what is woven together« (ebd.). Und in ihrer zunehmenden hermetischen Abgrenzung zueinander haben die modernen, hoch spezialisierten Wissenschaften geradezu verlernt miteinander zu kommunizieren: »the particularity, not of the discipline in itself, but of the discipline as it is conceived, non-communicating with the other disciplines, closed to itself, naturally disintegrates complexity« (ebd.: 2).7 Ein Umstand, den auch Bruno Latour in Science in Action (1987) problematisiert und als »Babel der Disziplinen« (Latour 1987: 16) bezeichnet. Womit er mit dieser Metapher Morins Bedenken im Hinblick auf die fortlaufende Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Disziplinen in immer weitere Spezialfelder hinein auf den Punkt bringt, wenn auch Morin zu dem Schluss kommt, dass bei aller Bereicherung, die die Spezialisierung und Disziplinierung der Wissenschaften für die allgemeine Gewinnung von Erkenntnissen und das Schöpfen von Wissen mit sich gebracht hat, Bedenken an dem Punkt entstehen, wenn ihr eigens gesetzten (disziplinären) Grenzen wichtiger wurden, als ihr Bemühen um Aufklärung (vgl. Morin 2007: 1). Dabei geht es Morin nicht etwa darum komplexe Systeme oder Organisationen zu analysieren, sondern Komplexität in Bezug zu einer Praxis des Organisierens zu betrachten (vgl. Morin 1999: 120). »[…] only things that are organized can be known as beings, and the idea of organization is therefore of ontological importance. The organized being, and especially the self-organizer, is a ›dasein‹, ›to be there‹, hic et nunc, depending on an aleatory environment and subject to time the transformer; thus we come to the idea of existence, which is the condition of living beings in a universe where there is risk, danger, and probability. Hence the organization is rooted in physis (the physical world), but at the same time it draws from the observer-inventor who isolates it relatively in a tangle of organizing-disorganizing feedback mechanisms and a web of systems one within the other. The idea of organization, like that of system is physical for the feet and mental for the head.« (Ebd.: 120) Die Bedeutung des Organisierens als wichtiges Element seiner Denkweise führt Morin unter anderem in seinem Aufsatz Organization and Complexity (1999) aus. Organisation bei 7

Und real-empirisch beobachtbar nicht unbedingt nur innerhalb abgesteckter Disziplinen, sondern gar innerhalb eigentlich verfasster Disziplinen, wie am Beispiel der Gründung (und Abspaltung) der Akademie der Soziologie 2018 von der Deutschen Gesellschaft der Soziologie nachgezeichnet werden kann.

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Morin bezieht sich weniger auf eine Ordnung oder Ordnung-Schaffendes in erster Linie. Es geht ihm um das Verhältnis der einzelnen Elemente, die in Verbindungen miteinander ein größeres Ganzes bilden, wobei sich weder das größere Ganze auf seine einzelnen Teile, noch umgekehrt die einzelnen Teile im Großen Ganzen reduzieren lassen: »Organization binds elements (particles, atoms, molecules, cells, individuals etc.) in relationships that thus become components of a whole. In the first definition, organization is a structure of relations between components to produce a whole with qualities unknown to these components outside the structure. Hence, organization connects parts to each other and parts to the whole. This gives rise to the complex character of the relation between the parts and the whole. […] Organization binds, forms, transforms, produces, maintains, orders and renders autonomous. It cannot be reduced to structure. Structure only means rules of invariance and transformation in a system. Organization means structure, relation to wholeness, specific characters, relations between the whole and the party, unity-multiplicity, and emergences. The idea of structure mutilates the idea of organization, strips the idea of system, enucleates the idea of complexity. The more the organization is complicated, the more the idea of structure becomes inadequate.« (Morin 1999: 115f). Diese wiederum relative autonome und relativ stabile Entität einer Organisation bezeichnet er als »unitas multiplex« (ebd.: 116). Eine komplexe Entität, die sowohl eine (Einheit, Entität), als auch viele (multiple) gleichzeitig ist (vgl. Morin 1999: 116). Einmal mehr deutlich wird in Morins Denken hier eine Gleichzeitigkeit auf den ersten Blick widersprüchlicher beziehungsweise normalerweise entgegengesetzt erscheinender Elemente. So wie er verfallende und generierende Prozesse als ständig gleichzeitig ablaufen betrachtet, wird auch hier, die Gleichzeitigkeit einer aus vielen Teilen gebildeten Einheit, als Einheit – the whole – begriffen. Sowohl das gebildete Ganze besteht, ebenso wie die einzelnen Teile als Einzelteile ihr ›Dasein‹ nicht verlieren, nur weil sie Teil des Ganzen geworden sind. Sie bestehen sowohl als auch (vgl. ebd.: 115f). Deutlicher wird es noch, wenn Morin diese Organisationen als gleichzeitig abhängig und unabhängig von ihren Bestandteilen begreift: »Organization is a notion that is dependent and at the same time independent of its constituents« (ebd.: 116). Oder im Hinblick auf die erschienene Homogenität der Einheit und gleichzeitigen Heterogenität ihrer Bestandteile, die sich je nach Blickwinkel und Perspektive der Betrachtung erkennen lässt: »the concept of unit renders homogeneous and breaks up multiplicity: the concept of multiplicity divides unity into compartments and breaks it up. Hence the organized entity is one and homogeneous from the point of view of the whole, and different and heterogeneous from the point of view of the constituents« (ebd.: 116f). Eben deswegen enthält jede Organisation auch immer schon Elemente ihrer eigenen Des-Organisation. Einmal mehr also betont Morin damit die Gleichzeitigkeit einander im ersten Moment gegenläufiger, widersprüchlicher Prozesse, die nichtsdestotrotz nicht in einer aufhebenden Form einander subtrahierend, annullierend angenommen werden: wenn die Verbindungen zwischen den Bestandteilen gleichzeitig auch eine divergierende Tendenz beinhalten und ständige Konsolidierungsarbeit geleistet werden muss um das Ganze zu stabilisieren; während das Ganze aber beständig sich als eben Ganzes von

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anderen Organisationen abgrenzt. Was wiederum bedeutet, dass sowohl Prozesse des Verbindens und der Assoziation als auch der Trennung und der Dissoziation ablaufen (vgl. ebd.: 117). Entsprechend Organisation nicht im Stillstand gedacht werden kann, sondern beständig in der eignen Re-Organisation als solcher – oder in anderer Form – begriffen ist. Sich Organisation(en) also in einem ständigen Werden (becoming) befinden: »All this leads us towards dialogic, a principle of knowledge that conceives the complementarity of antagonisms, such as in the relation organization-disorganization« (ebd.: 121).

1.3.2 Morin Soziologisieren mit Georg Simmel Schon Georg Simmel – Zeitgenosse Max Webers – versuchte eine substanzielle Fassung des ›Sozialen‹ zu umgehen, indem er weder das Individuum oder individuelles (soziales) Handeln, noch gesellschaftliche Strukturen oder die ›Gesellschaft‹ zu zentralen Elementen seines Entwurfs soziologischer Forschungen. Simmel entwarf eine Theorie der Wechselwirkung8 als frühen Ansatz eines prozesshaften Soziologisierens, mithilfe derer vor allem die Verbindungslinien und Bezugnahmen, das Dazwischen in den Blick genommen werden sollte. Simmel stellte im Laufe seiner Schaffenszeit eine Vielzahl von Studien zu unterschiedlichsten Themen und Bereichen an, die ausgiebige Aufmerksamkeit im soziologischen Feld erhalten.9 Im Vergleich weniger Beachtung dagegen erhält sein 1909 Feuilleton-Beitrag Brücke und Tür. Wobei eben in letzterem der besondere Stil Simmels, dem oftmals von Kollegen eine zu starke Nähe zur Philosophie und Psychologie vorgeworfen wurde, besonders deutlich wird. Simmels Stil ist im starken Kontrast zu Webers juristisch-orientierten Sprachstil (siehe u.a. bei Weber 1922) prosaisch-essayistisch. Was nicht der einzige Punkt ist, in dem Simmels Arbeiten sich von denen Durkheims und Webers unterscheiden, denn im Gegensatz zu Durkheim, der mit den soziologischen Tatbeständen einen genuin eigenen Gegenstand für die Soziologie definiert, zeichnet sich die Soziologie für Simmel weniger durch ihren ganz eigenen Gegenstand, sondern ihre besondere Perspektive auf bestimmte Gegenstände und Phänomene aus (vgl. Simmel 1908: 22f). Wie auch seine Zeitgenossen untersuchte er Modernisierungsprozesse mit ihren Konsequenzen und Effekten für gesellschaftliche Zusammenhänge und soziale Phänomene. Dabei steht seine Konzeption der Wechselwirkungen und die Betonung der Vergesellschaftung im Gegensatz zum Gesellschafts-Fokus exemplarisch für die besonders prozesshaften Elemente der simmel’schen Soziologie. Gesellschaft existiert für Simmel eben dort, »wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten« (ebd.: 17).

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Nicht Interaktion. Zu seinem bedeutendsten Werken zählen unter anderem die Philosophie des Geldes (1900), die große Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908) und die Aufsatzsammlung über die Philosophische Kultur (1911), sowie die Essays über die Philosophie der Mode (1905) oder Die Großstädte und das Geistesleben (1903). Darüber hinaus verfasste er Arbeiten zur Psychologie des Scham (1901), über Die Religion (1906) und formulierte die Grundfragen der Soziologie (1917).

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»Diese Wechselwirkungen entstehen immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke Willen. Erotische, religiöse oder bloß gesellige Triebe, Zwecke der Verteidigung wie des Angriffs, des Spieles wie des Erwerbes, der Hilfeleistung wie der Belehrung und unzählige andere bewirken es, daß der Mensch in ein Zusammensein, ein Füreinander-, Miteinander-, Gegeneinander-Handeln, in Korrelation der Zustände mit anderen tritt, d.h. Wirkungen auf sie ausübt und Wirkungen von ihnen empfängt. Diese Wechselwirkungen bedeuten, daß aus den individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine ›Gesellschaft‹ wird.« (Ebd.) Mit Vergesellschaftung sei wiederum das gemeint, was eben in diesen Wechselwirkungen realisiert wird: wenn aus einem isolierten Nebeneinander ein Miteinander und Füreinander durch die wechselseitige Bezugnahme aufeinander und wiederum auf Dritte wird. Diese Bezugnahme kann dabei verschiedene Formen annehmen und auf unterschiedlichste Weisen erfolgen. Sie kann sinnlicher oder idealer Natur sein, von momentaner oder dauerhafter Gestalt, bewusst oder unterbewusst erfolgen, kausal treibend oder teleologisch ziehend erfolgen (vgl. ebd.: 19). In der Folge also kommen Interessen zusammen, wachsen zusammen, entsteht eine Einheit, die die Soziologie ›Gesellschaft‹ nennt, in der wiederum die versammelten und verbundenen Interessen realisiert und verwirklicht werden (können) (vgl. ebd.). Dabei bezieht Simmel explizit auch die räumlichen Formationen, die physische Räumlichkeit der ›Umwelt‹ mit ein und diskutiert räumliche Nähe und Distanz in Bezug zu Wechselwirkungen, zu sozialen Beziehungen und Abgrenzungen, Begrenzungen, Ausgrenzungen von und durch Gruppen (vgl. ebd.: 687ff). Es ist eben dies Kapitel über den Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft in dem Simmel den Exkurs über den Fremden verortet, der heute zu den Klassikern soziologischer Fremdentexte zählt. Auch wenn Simmel in seiner Konzeption der Wechselwirkungen und mit dem Blick auf Vergesellschaftungsprozesse im Gegensatz zu einem statischen Begriff von Gesellschaft die Prozesshaftigkeit sozialer Dynamiken hervorhebt und sich sowohl von den gedachten Einheiten des Individuums als auch der Gesellschaft abwendet, also auf das konzentriert, was dazwischen passiert, gelingt es Simmel nicht ganz den Dualismus von Gesellschaft und Individuum zu überwinden. Eine Interpretation von Simmels Aufsatz Brücke und Tür ermöglicht an der Stelle Anschlüsse an Morins Forderung eines Komplexen Denkens/Denkens über und mit Komplexität, welches insbesondere erfordert die Gleichzeitigkeit divergierend erscheinender Prozesse mit-zu-denken. In dem Aufsatz geht es um die Gleichzeitigkeit des Verbindens und Trennens, als ständiges Tun von Menschen, welches gleichzeitig Effekt und Bedingung füreinander darstellt: »Nur dem Menschen ist es, der Natur gegenüber, gegeben, zu binden und zu lösen, und zwar in der eigentümlichen Weise, daß eines immer die Voraussetzung des anderen ist. Indem wir aus der ungestörten Lagerung der natürlichen Dinge zwei herausgreifen, um sie als »getrennt« zu bezeichnen, haben wir sie schon in unserem Bewußtsein aufeinander bezogen, haben diese beiden gemeinsam gegen das Dazwischenliegende abgehoben.« (Ebd.: 1)

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Unabhängig davon, was tatsächlich nun gegeben sei: das Getrennte, welches verbunden werden muss – oder das Verbundene, welches getrennt werden muss – das Tun der Menschen ließe sich demnach in zwei Modi unterscheiden: von was ausgegangen werde, was als vorhanden gelte. Da beides immerzu gleichzeitig erfolgt, das Trennen und das Verbinden, könnte also nur darin Unterscheidungen gemacht werden, von was wir annahmen, dass es natürlich gegeben sei, worauf wir also unsererseits den Blick lenkten, unser Konzentration, Aufmerksamkeit richteten: auf das Verbinden oder das Trennen als aktives Tun, im Gegensatz zu dem Zustand, der uns als gegeben erscheint, allerdings lediglich ob unserer Entscheidung diese Zuschreibung des Gegebenen erhält, nicht weil es natürlich gegeben wäre (vgl. ebd.: 1f). Und in Simmels sinnbildlicher Beschreibung des Brückenbaus und Türeneinsetzens – ihres Schließens und Öffnens – in Wände kommt einmal mehr auch zum Tragen, dass sich die sozialen Verhältnisse, das soziale Miteinander und Füreinander immer auch räumlich realisiert, Spuren – Abdrücke und Eindrücke – hinterlässt (vgl. Simmel 1909: 2f). Und darüber hinaus ist es einmal mehr die Auseinandersetzung mit dem angenommenen Gegenstück, der Natur, wenn es gilt Brücken über Flüsse zu bauen, sich über die natürliche Trennung der Ufer durch Flüsse hinwegzusetzen, Natur zu bearbeiten, zu manipulieren und zu kontrollieren: wobei dies in dem Sinne weniger in unbedingtem Dualismus Kultur/Natur sondern vielmehr als Technik – im Sinne einer Bezugnahme, einer Assoziation mit – in einem Anschluss an Latour gedacht werden kann. Mit der Brücke und der Tür werden im übertragenen Sinne zwei Modi menschlicher Bezug/Nicht-Bezugnahme verdeutlicht. Dabei werden beide nicht als einander gegensätzlich begriffen. Die Brücke steht für die Verbindung, für eine Assoziation. Sie ist wechselseitig in beide Richtungen geöffnet und verbindet Orte, die eigentlich getrennt waren, miteinander. Es macht für die Brücke selbst keinen Unterschied von welcher Seite man die Brücke betritt und die natürliche Hürde überwindet. Sie ist in der Weise symmetrisch, gleichseitig und wechselseitig. Die Tür hingegen unterscheidet sich von der Brücke. Die Tür befindet sich in einer (nicht natürlichen, sondern menschlich gemachten) Wand. Erst durch die Tür ist die Wand überwindbar, genau genommen durchquerbar. Verlässt oder betritt man einen Raum, wechselt man von einem ›Innen‹ zu einem ›Außen‹. Solange die Tür geöffnet ist und passierbar bleibt, kann man hin und her wechseln. Wird die Tür aber verschlossen, wir das im ›Inneren‹ nun eingesperrt, das, was sich außerhalb befindet, ausgesperrt. Die Tür ermöglicht einen räumlichen Wechsel. Das Fenster im Gegensatz ermöglicht keine räumliche Re-Lokalisation, doch aber ein Hineinsehen oder Hinausblicken (vgl. Simmel 1909: 5 und Tester 2001: 128f). Brücke, Tür und Fenster stehen bei Simmel stellvertretend für unterschiedliche Modi der Bezugnahme, die im übertragenen Sinne im sozialen Miteinander beständig und kontinuierlich beobachtet werden und mittels derer soziales Miteinander gestaltet wird. Dabei sind Brücke und Tür nicht nur symbolisch zu verstehen. Sie beinhalten ein wichtiges Element: ihre Dinglichkeit, ihre Materialität. Die unterschiedlichen Modi also, die das Leben bestimmen, finden festen Ausdruck, räumliche Realisierung, stabilisieren sich, hinterlassen Spuren in ihrer, dieser materialisierten, stofflichen Form, als Brücke, als Tür (vgl. Simmel 1909: 6).

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1.3.3 Entwurf einer Denkweise zur theoretischen Erfassung komplexer Phänomene Komplexes Denken/Denken mit und in Komplexität heißt (ergebnis-)offen Denken. Mit Morin Denken heißt einerseits die performative Schließung erkennen, die sich über Jahrzehnte hinweg mit zunehmender Disziplinarisierung, Spezialisierung, Trennung im (wissenschaftlichen) Denken vollzogen hat. Mit Morin zu denken, eröffnet andererseits aber auch eine Grundlage. Morin gibt einen Anhaltspunkt von wo aus ein Un-Denken und Um-Denken möglich werden kann. Ein komplexes Denken/Denken in und mit Komplexität beutet auch das Denken selbst als fortlaufenden, zirkulierenden, wechselseitigen Prozess zu begreifen; ein gleichzeitiges wiederholtes Abwenden und Hinwenden: den Schließungstendenzen der eigenen Denkweisen zu begegnen, ihnen zu entgehen – wiederholt entlang der Grenzen, scheinbaren Limitationen, am Rande von Komplexität, mit Komplexität, unter Einbezug von Komplexität zu denken. Mit Morins Hilfe, der ein kritisches Licht auf simplifizierende Denkmomente, reduktionistische Tendenzen, das Trennend-Teilende lenkte, wird die Praxis der Komplexitäts-Bewältigung als eine Strategie des Ausweichens entlarvt. Die Ordnung, die Trennung, die Disziplinierung und Differenzierung und verselbstständigende Spezialisierung versprechen eine Mehr an Wissen und an Erkenntnis und haben doch nur eine Zerstückelung, Vereinzelung und Fragmentierung des Eigentlichen zur Folge: es nur ein spezieller Teil betrachtet, nur eine Perspektive einbezogen. Stößt eine wissenschaftliche Praxis an die Grenzen ihrer Disziplin, wird die Arbeit an die Nächsten abgegeben und weiter delegiert und somit das Eigentliche, die Phänomene, in dutzende Stück zerlegt. Wenn das moderne Denken/Denken der Moderne, wie es durch Latour ans Licht gezerrt wurde, teilt, dann trennt es, verrichten alle beteiligten Entitäten, Akteur-Netzwerke, die kleineren wie die größeren, augenscheinlich die Arbeit der Säuberung: sortieren, ordnen und entscheiden was wohin gehören soll. Zumindest ist es das, was sie behaupten, das sie tun. Komplexität reduzieren und Komplexität bewältigen. Sie fragen, wie Ordnungen erhalten werden und wie sie stabilisiert werden. Da geht es um gesellschaftliche Ordnungen, Ordnungen des Sozialen und Wissensordnungen. Ein ordentliches wissenschaftliches Denken folgt den Vorgaben bekannter Methodologien: die eine ist für die einen Fragestellungen zu präferieren, die andere für die anderen besser geeignet. Hat man oft so getan, oft umgesetzt, häufig wiederholt, konnte bestätigt werden: da gibt es Benutzerhandbücher, die gradlinig vorgeben, worauf zu achten, welche Fallstricke zu vermeiden, welche Instrumente wie anzuwenden, welche Daten wie aufzubereiten, welche Interpretationsschemen auszuwählen sind. Nicht den Spuren der Akteure selbst folgen, nicht das Phänomen an sich aufnehmen, sich davon etwa leiten lassen: einfach nur dem Handbuch folgend, Schritt für Schritt, nachahmen, die Wege nachgehen, die andere schon beschritten haben. Wenn wir die Dinge in ihrer Ganzheit, ihrer Vollständigkeit, ihrer Gesamtheit und Totalität erfassen wollten, so liegt das Problem schon in der Annahme, dass sich die Dinge eben so denken ließen, erfassbar wäre: in ihrer Gesamtheit und ihrer Vollständigkeit. Dass die Dinge so sind. Sie können betrachtet werden als stabile Systeme oder bestehende Ordnungen. Die ›Moderne‹ gibt es nicht laut Latour, es gibt aber eine bestimm-

1 Entwurf einer Denkweise

te Denkweise, die die ›moderne Denkweise‹ genannt werden kann. Und Komplexität ist nicht etwa etwas, durch das diese Zeit geprägt wäre, nicht etwas, das mit der modernen Denkweise erkannt und bewältigbar worden wäre. Komplexität ist ebenso wenig etwas, das durch die ›Moderne‹ hervorgebracht worden wäre, noch weniger eignet sich Komplexität als Unterscheidungskriterium zwischen der ›vor-modernen‹ und der ›modernen‹ Welt, der vorindustrialisierten Gesellschaft (Gemeinschaft) und der industrialisierten, technisierten und digitalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Komplexität ist nicht etwas, das als Ist-Zustand ergreifbar oder messbar wäre. Komplexität meint etwas, meint Teile, die sich (noch) entziehen, die (noch) wirr, ungebändigt, »ungeheuer reichhaltig, kompliziert, verworren, vielzählig und vielgestaltig« (Gloy 2014: 17) erscheinen. Komplexität ist etwas »Unüberschaubares, Nicht-Kommunizierbares, Nicht-Entscheidbares« (ebd.: 18), etwas, das sich einer kognitiven Erfassung (noch) entzieht. Es ist das Unbestimmte. Es ist das geistige Fremde, das da (nah) und gleichzeitig fern (unbekannt, noch nicht erfasst, noch unbestimmt) ist. Komplexität an sich ist kein Problem, keine Bedrohung an und für sich. Lediglich für das denkende, das um Verstehen bemühte, wissenschaftliche Selbst problematisch, das von der »Barbarei der modernen Wissenschaft« und ihren Prinzipien (vgl. Morin 2008) in der Gewohnheit gefangen nicht anders kann, als zu erfassen, zu begreifen, zu verstehen, zu erklären, zu disziplinieren, zu entwirren und zu ordnen. Mit Morin denken heißt ein Denken von, in und mit Komplexität. Kom-Plexität bedeutet schließlich auch das Verbundene, die Vielheit der Verbindungen, die qualitative, wie quantitative Variation aller verbundenen Elemente, wie auch ihrer vielgestaltlichen Verbindungen und (wechselseitigen) Beziehungen. Morins Denken heißt auch, sich von den reduktionistischen Tendenzen abzuwenden, lineare Kausalität nicht zu akzeptieren, sich wissenschaftlicher Disziplinierung – Einengung – nicht zu unterwerfen. Es bedeutet auch im Denken verbindend vorzugehen: in WechselseitigkeitUNDGleichzeitigkeit zu denken, heißt scheinbar einander aufhebenden Prozesse eben nicht fortstreichen oder wegsubtrahieren; Trennungen nicht nur zu erkennen, sondern aufzuheben, zu überwinden, wieder und neu zu verbinden; Türen öffnen, Brücken bauen (vgl Simmel 1908). Es bedeutet auch die Prozesshaftigkeit der Dinge anzunehmen und von substanziellen Setzungen Abstand zu nehmen: von der Veränderung als der Normalität auszugehen, Stabilität und Ordnung als Ausnahmen zu betrachten (vgl. Latour 2015b). Ausgehende von Tardes Monade, deren einziges, ganzes Wesen Überzeugen und Begehren ist (vgl. Tarde 2015: 67) und einer Philosophie des Habens10 (vgl. ebd.: 88) wird Besitz, das Haben, das Besitz-Ergreifen, zur treibenden Bewegung, eines fortlaufenden Prozesses. Tarde (ebenso wie Latour, Callon und van Loon) verstehen Socio-Logie als eine Wissenschaft der Verknüpfung, des Verbindens, der Assoziation und der Übersetzung. Und es sind eben jene kleinsten Verbindungen und Assoziationen, aus denen bereits Gesellschaften entstehen, aus denen das ›Soziale‹ entsteht. Insofern wird bei Tarde alles zur Gesellschaft, nicht zuletzt auch, weil er sich der (modernen) Trennung von Natur und dem ›Sozialen‹, also Gesellschaft, oder Kultur widersetzt. Eine Gesellschaft ist immer schon die Vielzahl von Verbindungen, Differenzen, Entitäten, gleich jeder Qualität oder 10

Als Gegenentwurf einer Seins-orientierten Ontologie, die sich dem »Wesen der Dinge« zuwendet, eine »inneren Substanz« des Seins ergründet.

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Quantität: so spricht Tarde von der Gesellschaft der Tiere, der Gestirne, der Wissenschaften, der Systeme, der Organe, der Zellen, der Moleküle, der Atome usw. (vgl. ebd.: 51). Komplexität ist nicht nur die quantitative Vielzahl der Elemente und ihrer Verbindungen und ist mehr als nur die qualitative Vielheit. Komplexität beinhaltet auch immer, dass das, was es zu betrachten gilt, sich der kognitiven Erfassung entzieht. Komplexität kann in dem Sinn nicht erfasst werden, weil Komplexität jenes Charakteristikum verliert, in dem Moment, da sie begriffen wurde. So bezeichnet Komplexität das, was noch-nicht-begriffen-wurde, etwas, das tendenziell mit den gegebenen Instrumenten und Methoden der Untersuchung noch-nicht-erfasst-werden-kann. Etwas, das mittels der bereits formulierten Theorien noch-nicht oder nicht-mehr erklärt werden kann, nochnicht oder nicht-mehr verstanden werden kann. Womit sich zwar auch die Notwendigkeit ergibt Methoden und Instrumente weiterzuentwickeln und ganz neue Verfahren zu konzipieren, aber auch die fortlaufende Notwendigkeit der Theorienbildung nicht übersehen werden darf. Zunächst aber besteht vor allem die Notwendigkeit Denkweisen zu entwickeln, die zumindest eine Annäherung an die Erfassung komplexer Phänomene möglich machen. Ein Denken mit Morin findet Verbündete bei Gabriel Tarde, Georg Simmel und Marcel Mauss Gabe-Theorem, aus welchem wiederum Sozialität als zirkulierend gedacht werden, das Soziale ›flach‹ gehalten werden kann. Um ein solches Denken soziologisch fruchtbar zu machen, die Idee, das Denken in eine theoretische Analyse zu übersetzen, finden sich weitere Verbündete bei Bruno Latour und den Vertreter:innen der AkteurNetzwerk-Theorie. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), welche eben gerade letzteres, eine Theorie, nicht ist. Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist vielmehr ein tool, ein Werkzeug oder eine Technik. Sie gibt eine Reihe von Orientierungspunkten und grundlegende Prinzipien, die den Weg nicht vorgeben, das Ziel nicht geradewegs ansteuern, sondern ermöglichen das aufzudecken, was sich unter der Arbeit der Säuberung, des Sortierens, des Ordnung-Schaffens, versteckt ereignet, was neben der ›Trennung der Moderne‹ gemacht wird. In den Verbindungen, den Assoziationen, den Wechselwirkungen, der Bezugnahme, des Einbeziehens, der Arbeit der Akteure, wird das hervorgebracht, was wiederum als das ›Soziale‹ Gegenstand der Soziologie sein sollte.

2 Empirisch orientieren mit der Akteur-Netzwerk-Theorie

Die Soziologie ist die Wissenschaft des Sozialen. Und es war der große Irrtum einiger ihrer Gründerväter, das Soziale als das Erklärende anzunehmen, statt als das, was es zu erklären gilt. Das reicht von Émile Durkheims immer schon existierender Gesellschaft, dem ›Sozialen‹ an sich, der unsichtbaren, äußeren Kraft, die in der Vorstellung auf eine ›mysteriöse‹ Weise auf das Handeln einwirkt, über Max Webers ›Sinn‹, auf den sich die Handelnden beziehen können, der sie befähigt einander zu verstehen. Die Soziologie, die Wissenschaft, die soziologische Tatbestände untersucht, Zusammenhänge erklärt, Regel- und Gesetzmäßigkeiten aufdeckt (Durkheim). Die Soziologie, die »soziales Handeln deutend verstehen und in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber 1922: 15). Das Soziale muss durch das Soziale erklärt werden. Das Soziale ist jene Kraft, die da ist, die wirkt, Einfluss nimmt, die das Soziale in seinen jeweiligen Ausformungen, verschiedene Gesellschaften hervorbringt. Das Soziale als der Klebstoff, welcher Gesellschaften zusammenhalten soll. Seien es geteilte Sinnzusammenhänge, (implizite) Wissensbestände oder Solidaritätsformen. Das Soziale begründet die gesellschaftlichen Ordnungen, ermöglicht das geordnete, gesellschaftliche Zusammenleben. Die Soziologie als die Wissenschaft des Sozialen nimmt weniger das ›Soziale‹ selbst in den Blick, als vielmehr wird das ›Soziale‹ zur Erklärung: um das ›Soziale‹ zu erklären (Soziologie des Sozialen), um alles zu erklären (kritische Soziologie). Latour differenziert hier auch eine ostensive Definition des Sozialen, von dem die Soziologie des Sozialen eben ausginge, gegenüber einer performativen Definition des Sozialen, die eben gerade nicht von der Existenz des ›Sozialen‹ ausgeht, sondern das, was wir als das ›Soziale‹ bezeichnen als Ergebnis vom Nicht-Sozialen. Das, was wir das ›Soziale‹ nennen ist das, was sich aus dem ergibt, was nicht-soziale Entitäten, die sich verbinden, aufeinander beziehen und assoziieren, tun. Entitäten, die sozial werden, weil sie (sich) assoziieren. Das, was es zu erklären gelten (das ›Soziale‹) mit dem Erklärenden zu vertauschen, ist der Irrtum, auf den Bruno Latour die Soziologie der Assoziationen begründet.1 La-

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Angefangen von den Laborstudien mit Steve Woolgar in Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts (1979), über die Pasteurization of France (1988) zur Überwindung der ›großen Trennung‹ in Wir sind nie modern gewesen (2015 [1995]), zum Parlament der Dinge (2001), Pandora’s Hope (1999), bis zur Formulierung einer neuen Soziologie für eine neue Gesellschaft (2014 [2007]).

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tour wendet sich gegen die dualistische Trennung von Natur/Kultur, Geist/Körper, Subjekt/Objekt, mikro/makro, Handlung/Struktur, global/lokal usw. und sieht in der unhinterfragten Annahme eben jener Trennungen die Krux des ›modernen‹ Denkens (vgl. Latour 2015a). Er richtet den Blick von der Trennung zu den Hybriden, zu den Mischwesen, den Entitäten, die gleichzeitig Kultur, Gesellschaft, Technik und Natur sind, die global wirken und lokal erscheinen, die (sich und andere) subjektivieren und gleichzeitig zu Objekten der Betrachtung werden, die objektivieren, verallgemeinern und generalisieren und dabei doch konkret bleiben. Er wendet sich gegen die Annahme einer Kraft, die das Soziale genannt wird und einer ostensiven Definition eben jener Kraft. Die Wissenschaft, die sich mit dem Sozialen befasst, sollte stattdessen untersuchen, wie das Soziale performativ hervorgebracht wird. Das ›Soziale‹ sollte nicht als Erklärung, sondern als Effekt, als Konsequenz, als Ergebnis betrachten: als das, was entsteht, kontinuierlich hervorgebracht, erneuert wird, das durch die Arbeit aller versammelten Akteure, menschlicher wie nicht-menschlicher, produziert wird (vgl. Latour 2014): »[Weder] Gesellschaften noch Soziales existiert von vornherein. Sie müssen durch subtile Veränderungen beim Verbinden nicht-sozialer Ressourcen entworfen werden« (ebd.: 65). Die Soziologie des Sozialen hat sich vornehmlich mit den (sozialen) Gebilden beschäftigt, die schon da waren. Sie untersucht die vorgefundene gesellschaftliche Ordnung, fragt danach, wie sie stabilisiert wird, wie sie gefestigt wird, wie sie sich erneuert, was sie stört und wie sich der Wandel von der einen zu der anderen Ordnung vollzieht und sich ihre Formen verändern. So beschreibt Durkheim den Wandel von einer segmentär zu einer funktional differenzierten Gesellschaft im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung und beobachtet in dem Zusammenhang den Wandel der Solidaritätsformen, die diese (neuen) Gesellschaften auszeichnen. Wenn vorindustrialisierte Gesellschaften durch mechanische Solidarität geprägt werden, dann erkennt Durkheim eine Verschiebung zu vermehrt organischen Solidaritätsformen in der ›Moderne‹. Das ›Soziale‹ ist unveränderlich aber der Klebstoff, der die Gesellschaften zusammenhält. Nur realisiert sich das ›Soziale‹ in unterschiedlichen Formen. Die Ansätze, die Bruno Latour unter dem Oberbegriff der kritischen Soziologie versammelt, haben die bereits existierenden Theorien, Begriffe und Perspektiven weiterentwickelt, kritisch reflektiert und erweitert. Wenn erstere gesellschaftliche Gegebenheiten mit besonderem Fokus auf ordnungsgebende Strukturen betrachten, befasst sich die kritische Soziologie mit ungleichen Verhältnissen, Machtasymmetrien und dem hierarchischen und asymmetrischen Aufbau von Gesellschaften. Themen wie Unterdrückung, Ausbeutung, Subjektivierung und Entfremdung werden zum Gegenstand kritischer Forschung. Der Annahme folgend, dass die sozialen Gegebenheiten als schon gegeben angenommen werden, interessieren sich beide Perspektiven, auch wenn sie sich in so vielen Punkten antagonistisch gegenüberstehen, dafür das Gegebene bis zu den kleinsten Einzelteilen hin auf Gesetzmäßigkeiten und Determinanten zu untersuchen. Dem entgegen befasst sich die Soziologie der Assoziationen (ein Ansatz, der durch Bruno Latours Arbeiten mehr Aufmerksamkeit erfährt) mit der Frage, wie gesellschaftliche Ordnungen überhaupt zustande kommen, unter welchen Bedingungen sich bestimmte Ordnungen herausbilden, während alternative Formen nicht realisiert werden und unter welchen Bedingungen Ordnungen zerfallen, und was getan werden muss, um einen solchen zu verhindern. Latours Ansatz nimmt das Versammeln in den Blick; das,

2 Empirisch orientieren mit der Akteur-Netzwerk-Theorie

was die Akteure (Latour spricht auch von Entitäten) tun, wenn sie sozial werden. Sozial im Sinne eines Folgens, Anwerbens, Verbündens, gemeinsamen Habens (vgl. ebd.: 18). Sozial vom lateinischen socius, dem Gefährten, dem Gesellschafter, dem associate (ebd.). Eine solche Wendung des Verständnisses, des Blicks auf den Gegenstand, hat eine Verschiebung zur Folge: Die Soziologie als die Wissenschaft des Sozialen geht diesen Verbindungen nach, folgt den Spuren, die die Assoziationen, die die Akteure bei ihren verbindenden und trennenden Tätigkeiten hinterlassen und nimmt diese Spuren auf, dokumentiert sie und zeichnet sie wiederum nach. Wodurch die Soziologie selbst wiederum Spuren beginnt zu hinterlassen. Sozial werden die Dinge erst in ihrer Verbindung miteinander, der Assoziation, der Bezugnahme zu- und aufeinander: »Sichtbar wird das Soziale aber nur in den Spuren, die es hinterläßt […], wenn eine neue Assoziation zwischen den Elementen hervorgebracht wird« (ebd.: 22, Herv. dort). In Latours radikal anderem Ansatz soziologischer Denkweisen ergeben sich gerade die Anschlussmomente an Morins Entwurf komplexen Denkens/Denkens von Komplexität. Morin fordert multidisziplinäres Denken, Latour dehnt soziologische Betrachtungen auf nicht-menschlichen Entitäten, auf alles, was einen Unterschied macht (what matters) aus. Latour analysiert die Zuordnung der Entitäten zu der einen oder anderen Kategorie (Natur/Gesellschaft) als soziale Praxis – die Arbeit der Säuberung (vgl. Latour 2015a). Morin spricht vom Organisieren (vgl. Morin 1999). Latour betont, dass soziologische Forschung wieder zur Empirie zurückkehren müsste, zurück zu den Akteuren, die sowieso schon die eigentlich relevante, interessante Arbeit verrichten: Gruppen bilden, Gruppen abgrenzen, sie erhalten, sie verlassen, sich abwenden, gleichzeitig schon wieder anderen zuwenden, neue Gruppen bilden, Entitäten versammeln, verbinden, sich assoziieren, beständig und immerzu (vgl. Latour 2014). Und die dabei nicht auf jene angewiesen sind, die ihr Tun wissenschaftlich erfassen, ihnen versuchen zu erklären, was es ist, was sie eigentlich tun. Latour streicht dabei die Forschenden nicht gänzlich aus der soziologischen Betrachtung: ihr forschendes Tun – Kommentieren, Theoretisieren, Interpretieren – wird allerdings auf gleicher Ebene betrachtet. Es wird keine Hierarchie von vornherein angenommen. Die Tätigkeiten der beteiligten Akteure werden zunächst als gleichermaßen relevant angenommen (generalisierte Symmetrie). Morin wendet sich von einem Denken in linearer Kausalität ab, kritisiert wissenschaftliche Praxen, deren Ziel eine Komplexitätsreduktion (-bewältigung) ist. Und Latour wendet sich gegen implizierte Vorannahmen, illegitime Abkürzungen, öffnet Blackboxen, wendet sich den Dingen, den Akteur-Netzwerken zu, verliert sich nicht in immerzu abstrakter werdenden Erklärungsmodellen. So gibt die Soziologie der Assoziationen keinen vorgefertigten Werkzeugkasten an die Hand, keine ausformulierten Theorien, die lediglich noch getestet und gegebenenfalls verfeinert, angepasst werden müssen, keine klaren methodologischen Programme, von wo aus zu denken ist, wie an die Dinge heranzugehen ist. Es gibt keine Programme, nur einen Rahmen, eine Denkweise. Kein Weg – ein Modus. So ergibt sich aus dem Ansatz der Soziologie der Assoziationen kein einheitlicher Theorierahmen, sondern eine Handreichung zur Theoriebildung, zum Theoretisieren – was in dem Falle nicht einmal (nur) Aufgabe der Forschenden ist, sondern von den Akteuren selbst bereits tatkräftig unter- und regelrecht über-nommen wird. So obliegt den Forschenden schlussendlich nur noch das

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Verfassen (kritischer) Berichte, die »die Netzwerke und Akteure auf den neusten Stand« (ebd.: 224) bringen. Das ›Soziale‹ wird in den Berichten flach gehalten, indem die Berichte sich darauf konzentrieren die Spuren, die Akteure in ihrem Tun hinterlassen, zu dokumentieren, nachzuzeichnen und damit sichtbar zu machen. Ein Bericht macht somit das, was all die anderen Teile im Netzwerk auch tun: er versammelt, sortiert, ordnet und organisiert, verbindet, übersetzt und verschiebt. In einem guten Bericht sitzen die Akteure nicht nur rum, ein guter Bericht hat die Spuren der Akteure aufgesammelt, nachgezeichnet, die Akteure zum Sprechen gebracht (vgl. ebd.: 223). Der wissenschaftliche Bericht steht also nicht über den Dingen, er ist Teil des Gegenstandes, der wissenschaftlich erforscht werden sollte. Im Folgenden wird zunächst der Werkzeugkasten der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour und die Momente der Übersetzung von Michel Callon vorgestellt. Diese bilden den ›methodischen‹ Rahmen, die Orientierungspunkte für den zweiten und dritten Teil dieses Kapitels. Der zweite Abschnitt zeichnet die Spuren der Akteur-Netzwerke nach, die im Zuge des langen Sommers der Migration als ›Gelingenbedingung‹ zur ›Bewältigung der Flüchtlingskrise‹ bezeichnet wurden: die Helfenden. Startpunkt der Kartografie bildet ein Workshop, der 2017 in Nürnberg unter dem Titel Zwischen den Stühlen stattfand. Im letzten Teil verschieben wir die Perspektive unserer empirischen Orientierung hin zu einer weiteren – in der Weise der Erforschung – noch eher unterbeleuchtet gebliebenen Gruppe: wir richten unsere Aufmerksamkeit auf das Tun der wissenschaftlichen Akteure.

2.1 Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) versteht sich als eine »radikal-empirische Sozialwissenschaft« (van Loon 2014: 106). Der Ansatz, der in den 1980er Jahren im Kreise der Science and Technology Studies (STS) entwickelt wurde, war von der anti-positivistischen Wende in der Wissenschaftsphilosophie im ausgehenden 20. Jahrhundert geprägt (vgl. Peuker 2010: 325). Die ANT geht von ein paar grundlegenden Prämissen und Prinzipien aus, die im Folgenden besprochen werden. Für die folgende Lesart der ANT ist wichtig, dass wir die ANT als das Ergebnis (eine Antwort) auf eine kritische Auseinandersetzung mit bereits bestehenden soziologischen Vorgehensweisen verstanden wird. Durch Latour produktive Kritik an den Ansätzen, die er unter Soziologie des Sozialen und kritische Soziologie zusammenfasst, wurden Limitationen von Theorien, Methodologien und Methoden deutlich und dort, wo Vorgehensweisen der Soziologie des Sozialen und kritischen Soziologie an Grenzen stößt, beginnt die Arbeit der ANT. Um die Lesart und Verwendung der ANT im Folgenden verstehen zu können, ist es wichtig, einige der bereits besprochenen Kritiken und Unterschiede in den Denkweisen im Gedächtnis zu behalten. Die Umkehrung der Erklärung und des zu Erklärenden wurde zu Beginn von Kapitel 2 bereits besprochen. Für beispielsweise Durkheim (Soziologie des Sozialen) ist das ›Soziale‹ die Erklärung für soziale Tatbestände. Mit dem ›Sozialen‹ lässt sich erklären, warum Menschen sich im gesellschaftlichen Miteinander auf

2 Empirisch orientieren mit der Akteur-Netzwerk-Theorie

bestimmte Arten und Weisen verhalten. Für die ANT ist dagegen wichtig, dass das ›Soziale‹ nicht Erklärung ist, sondern das, was es zu erklären gilt. Statt von einer ostensiven Definition des Sozialen, wird von einer performativen Definition ausgegangen: »Since the settlement of a controversy is the cause of Society’s stability, we cannot use Society to explain how and why a controversy has been settled« (Latour 1987: 258, Herv. dort). Gabriel Tardes Arbeiten über die Sozialen Gesetze (1898) bilden die Grundlage auf der Latour die ANT entwickelt. Tarde arbeitete drei grundlegende Gesetze des Sozialen hervor: Das Gesetz der Wiederholungen, das der Gegensätze und das der Anpassungen. Sowohl wissenschaftliche Unternehmungen als auch soziales Miteinander, wenn auch in unterschiedlichen Ausformungen, vollziehen sich demnach auf die gleiche Weise gemäß der drei verschiedenen Modi: Wiederholung (Nachahmung), Gegensatz (Widerstand) und Innovation (Anpassung). Das Prinzip der Wiederholung lässt sich in unterschiedlichen konkreten Ausformungen erkennen, wie beispielsweise im Echo und der Welle (Physik), genetischer Vererbung (Genetik und Biologie) und Nachahmung von Verhaltensweisen (Soziologie) (vgl. Tarde 2009).

2.1.1

Bruno Latours Werkzeuge der Akteur-Netzwerk-Theorie

Schon durch den Namen der Akteur-Netzwerk-Theorie macht Latour eines der wichtigen Prinzipien seines Forschungsansatzes deutlich. Jeder Bestandteil des Namens ist relevant, sogar die Bindestriche zwischen den Begriffen. Es geht um Akteure, um Netzwerke, um Theorien und um die Bindestriche (vgl. Latour 2006: 561). Der Akteursbegriff bei Latour umschließt neben den menschlichen auch die nicht-menschlichen Entitäten. Menschliche und nicht-menschliche Akteure besitzen nicht von sich aus Handlungsfähigkeiten. Sie werden durch ihre Einbindung in Netzwerken zum Handeln gebracht. Erst wenn Akteure in Netzwerken eingebunden werden, können sie Handlungspotentiale entwickeln und diese auch realisieren. Die Ver- und Einbindung ermöglicht Handlung (vgl. Latour 2014). Da die ANT zur Erklärung von Handlung keine intrinsische Motivation benötigt, muss weder auf eine psychologische noch auf ›mystische‹ Erklärungen zurückgegriffen werden. Handlung muss also nicht durch die ›soziale Kraft‹ (Durkheim) oder ›subjektiv gemeinten Sinn‹ (Weber) erklärt werden. Handlung wird bei Latour aber auch nicht willkürlich. Es folgt Prinzipien von Nachahmung, Widerstand und Innovation: »Handeln wird aufgehoben (over-taken), oder […] wird von anderen aufgehoben, anders aufgenommen (other-taken)! Es wird von anderen aufgenommen und mit der Masse geteilt« (ebd.: 79, Herv. dort). Gleichzeitig bleibt Handeln immerzu unterdeterminiert (vgl. ebd.: 80). Es ist nicht von vornherein festgelegt welches Handlungspotential sich in welcher Weise realisiert. Der Akteur »ist nicht Ursprung einer Handlung, sondern das bewegliche Ziel eines riesigen Aufgebots von Entitäten, die zu ihm hin strömen« (ebd.: 81). Der Netzwerkbegriff der ANT unterscheidet sich vom allgemeinen Sprachgebrauch. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Verbund verschiedener Entitäten, die durch bestimmte Verbindungen zu einem Netzwerk zusammengeschlossen werden. Das Netzwerk der ANT hat mehr als nur einen deskriptiven Charakter. Es handelt sich nicht um das Nachzeichnen und Visualisieren von Beziehungen, die zwischen Akteuren bestehen. Netzwerke im Sinne der ANT sind mehr als nur Beziehungsgeflechte von

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Akteuren. Es handelt sich um heterogene Netzwerke, die aus einer Vielzahl unterschiedlicher menschlicher und nicht-menschlicher Akteure und aus den Verbindungen zwischen jenen bestehen. Dabei können diese Verbindungen flüchtiger Natur sein und jederzeit verfallen während anderswo im Netzwerk neue gebildet werden. Auch die Prozesse von Zerfall und Neubildung sind teil der Netzwerke. Netzwerke umfassen also nicht nur Entitäten und Beziehungen, sondern auch Prozesse: Dinge, die sich vollziehen und Dinge, die passieren. Die Netzwerke der ANT zeichnen sich durch einen hohen Grad von Komplexität aus. Netz-Werke werkeln buchstäblich (vor sich hin): auf sie wird eingewirkt und sie entfalten ihrerseits Wirkung. Netzwerke sind außerdem produktiv: sie machen einen Unterschied. Sie sind Kraft- und Arbeits-Werke. Ein Netzwerk ist immer mehr als nur ein weiterer (größerer) Akteur. Netzwerke sind immer auch ihrerseits wieder eingebunden und können nicht substanziell gedacht werden. In der Akteur-Netzwerk-Theorie geht es nicht ohne Akteure, Netzwerke, Bindestriche und Theorien: ohne Akteure kein Netzwerk, ohne Netzwerk keine Akteure. Sie bedingen sich wechselseitig und können nicht aufeinander reduziert werden. In seinem Aufsatz Über den Rückruf der ANT (2006) bespricht Latour die Problematik der Hin-und-Hergerissenheit der Sozialtheorie: Das ständige Wanken zwischen System und Akteur, Handlung und Struktur, mikro und makro, Globalität und Lokalität. Er problematisiert außerdem seine Beobachtung, dass es ein starker Wunsch der Wissenschaft zu sein scheint jede (neue) Theorie in eine bereits bestehende Kategorie (beispielsweise Akteurstheorie, Handlungstheorie, Gesellschaftstheorie usw.) zu sortieren (vgl. Latour 2006: 562f). Es wird sortiert und geordnet und auch Theorien können sich dem nicht entziehen. Latour unternimmt mit seiner ANT allerdings den Versuch diesen ›Sortierungszwang‹ zu überwinden. Die ANT entzieht sich nicht nur der säubernden Tätigkeit des Sortierens und Trennens (siehe Kapitel 1.1.2). Sie stellt außerdem einen Werkzeugkasten bereitstellt, der es Forschenden ermöglicht die verbindenden Tätigkeiten der Hybride aufzunehmen: »Es ist nicht ganz wahr, dass Sozialwissenschaften immer zwischen Akteur und System, zwischen Handeln und Struktur geschwankt haben. Es ist vielleicht produktiver zu sagen, dass sie zwischen zwei Typen von gleichermaßen mächtigen Unzufriedenheiten geschwankt haben. […] Es scheint mir, dass die ANT einfach ein Weg ist, diesen beiden Unzufriedenheiten Aufmerksamkeit zu schenken – nicht, sie zu überwinden oder das Problem zu lösen, sondern ihnen an einen anderen Ort zu folgen und zu versuchen, die tatsächlichen Bedingungen, die diese beiden gegensätzlichen Enttäuschungen ermöglichen, zu erforschen.« (Ebd.: 562f) Der Begriff ›Theorie‹ wird im Sinne der ANT ebenso anders gedacht. Ein zentrales Vorhaben Latours war es, die Dichotomie von Methode (Empirie) und Theorie aufzuheben (vgl. Kneer 2009: 26f). Hinter der ›Theorie‹ in Akteur-Netzwerk-Theorie steht kein System von zusammenhängenden Aussagen und Erklärungen. Es wird keine ausformulierte Theorie bereitgestellt, die Erklärungen für (soziale) Phänomene liefern könnte. Die ›Theorie‹ in Akteur-Netzwerk-Theorie steht symmetrisch auf einer Ebene mit den Akteuren und Netzwerken. Es handelt sich nicht um eine Theorie über Akteur-Netzwerke. Latour holt die Theorien, die die Akteure und Netzwerke bewegen in die Betrachtung. Nicht nur die Tätigkeiten und Verbindungen von Akteuren und Netzwerken und Akteur-Netzwerken

2 Empirisch orientieren mit der Akteur-Netzwerk-Theorie

sollen Teil der Betrachtung werden, auch die Theorien, die die Akteure und Netzwerke heranziehen, um sich ihre Umwelt, ihre Realität, ihre Erfahrung und ihre Handlungen zu erklären, sind Teil der Betrachtung und dürfen nicht ausgeklammert werden. Wie erklären sich die Akteure Ereignisse, die sie erleben oder erfahren? Wie erklären sie sich ihr eigenes Handeln und das anderer? Dabei geht es der ANT nicht darum zu beurteilen, inwiefern diese mobilisierten Erklärungen (Theorien) der Akteure ›richtig‹ oder ›falsch‹ sind. Die ANT bezieht keine Partei zur Wahrheitsfrage. Es geht darum nachzuvollziehen, welche Theorien besonders überzeugend für die Akteure erscheinen und warum andere Theorien nicht in Erwägung gezogen werden. Es geht darum die Übersetzungen und Assoziationen der Akteure selbst abzugehen, ihre Wege nachzuzeichnen und sichtbar zu machen, wie durch Aushandlungen, Bezugnahmen, Klärungen usw. die Akteure selbst Erklärungszusammenhänge für ihr Erleben bilden, wie sie selbst Theoretisieren: »Es ist, als würden wir zu den Akteuren sagen: ›Wir wollen nicht versuchen, euch zu disziplinieren, euch in unsere Kategorien zu stecken; wir werden euch eure eigenen entfalten lassen und euch erst später bitten zu erklären, wie ihr es angestellt habt, sie zu festigen.‹ Die Aufgabe, das Soziale zu definieren und zu ordnen, sollte den Akteuren selbst überlassen bleiben und nicht vom Analytiker übernommen werden.« (Latour 2014: 44f) Dabei betrachtet die ANT nicht nur das sogenannte ›Alltagswissen‹. Auch wissenschaftliches Wissen wird mithilfe der ANT durchleuchtet. Im Anschluss an die Laborstudien2 von Latour und Woolgar (1979) und Knorr-Cetina (2016 [1984]) lässt sich mithilfe der ANT eine Betrachtungsweise entwickeln, die »wissenschaftliches Wissen als Produkt wissenschaftlicher Praxis« (van Loon 2014: 101) untersucht und dabei »die Aufhebung der Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen« (ebd.: 101) ermöglicht. Zentrale Fragen dabei sind: Wie wird Wissen hergestellt? Wie wird insbesondere wissenschaftliches Wissen gebildet? Und wie wird theoretisiert? Also, wie werden Theorien gebildet? Und im Sinne der ANT wird dabei durch die Forschenden selbst nicht von vornherein das Wissenschaftliche vom Anderen, vom Rest, vom Alltäglichen getrennt. Was nicht bedeutet, dass wissenschaftliches und nicht-wissenschaftliches Wissen (und ebenso Theorien) gleichgemacht wird. Es handelt sich vielmehr um eine methodische Gleichbehandlung. Die ANT bietet dabei eine »idiosyncratic methodology« (Law 2009: 146), einen Analyserahmen (vgl. ebd.: 146) mit einem Angebot an »tools, sensibilities and methods of analysis« (ebd.: 141). Wenn die ANT sich wissenschaftliches Wissen ansieht, konzentriert sie ihre Untersuchungen »readymade science« (Latour 1987: 258). Es geht nicht um eine Überprüfung wissenschaftlich gefestigter, unumstrittener Tatsachen (matters-of-fact). Es geht darum,

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Bei Latour und Woolgar, sowie Knorr-Cetina sind die Labore »als Orte der Konstruktion von wissenschaftlichen Tatsachen« (van Loon 2014: 101) untersucht wurden, konnte mitunter dargelegt werden, dass die Orientierung der Wissenschaftler:innen an der Publikation ihrer Forschungsergebnisse teils dazu führte, dass bestimmte Schritte in der Wissensproduktion verkürzt, verzerrt, verschleiert oder gänzlich außen vor gelassen wurden, die im Prozess selbst allerdings einen wesentlichen Beitrag leisteten.

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wie diese Tatsachen hergestellt werden. Unumstrittene Tatsachen (matters-of-fact) werden als das Ergebnis der Arbeit von Netz-Werken betrachtet. Und um zu sehen, wie genau diese Netz-Werke jene unbestrittenen Tatsachen produzieren, empfiehlt die ANT die Forschung dort anzusetzen, wo noch keine Einigkeit über die Tatsachen gefunden wurde: dort, wo die Netz-Werke noch am Arbeiten sind. Es gilt dort anzusetzen, wo Aushandlungen noch nicht beendet wurden, wo noch übersetzt wird, wo noch Überzeugungsarbeit geleistet werden muss, dort, wo die Akteure die Arbeit noch selbst leisten. Die Phase, die sich an die Aushandlungen anschließt, nennt Latour Backboxing. Wenn die Akteure die Arbeit abgegeben und delegieren und wenn Strukturen gebildet werden, die die errungene Einigkeit und das Ergebnis der Netzwerke stabilisieren.3 Latour bietet Forschenden zwei Startpunkte für ihre Unternehmungen: Einmal können wir dort ansetzen, wo noch kein Blackboxing stattgefunden hat; dort, wo die Tatsachen noch nicht gefestigt wurden, noch keine Einigkeit über ihre Gültigkeit und Aussagekraft gefunden wurde, dort wo die notwendigen Entscheidungen noch nicht getroffen wurden, wo die Dinge noch ausgehandelt werden. Als zweite Möglichkeit bietet Latour uns an, dass wir nach Kontroversen Ausschau halten sollen. Kontroversen entfalten sich einerseits dort, wo Blackboxen drohen wieder aufzubrechen und die Unbestrittenheit einst stabilisierter Tatsachen wieder auf den Prüfstand gelegt wird und andererseits da, wo sowieso noch nie Einigkeit bestand (vgl. ebd.: 258). Eine Blackbox kann an jeder Stelle als Knoten in einem Akteur-Netzwerk auftauchen. Latour spricht hier auch von Vermittlern oder Mittlern.4 Ein Mittler ist eine Entität, die innerhalb eines Netzwerks wirkt und etwas tut, etwas verändert und übersetzt, also einen Unterschied macht. In einer Blackbox passiert auch etwas: Man kann es sich wie ein Netzwerk in einem Netzwerk vorstellen. Dabei bleiben die restlichen Tätigkeiten innerhalb des Netzwerks von dem, was in der Blackbox passiert, scheinbar unberührt. Mit

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Ein Beispiel dafür ist der streikende Türschließer. Latour verweis in dem kurzen Artikel darauf, dass Menschen Tätigkeiten an Dinge übertragen. Statt Türen aktiv beim Ein- und Austreten wieder zu schließen (sodass Wärme nicht aus dem Gebäude entweicht), wurden Scharnieren mit der Aufgabe betraut geöffnete Türen automatisch wieder zu schließen. Ohne den nicht-menschlichen Akteur (Scharnier) wäre weiterhin notwendig Portiers einzustellen (und zu bezahlen) oder die Türnutzenden zu disziplinieren die Tür nach der Nutzung pflichtbewusst wieder zu schließen. Dass hier eine Aufgabe an einen nicht-menschlichen Akteur delegiert wurde, wird in dem Moment deutlich, wenn das Scharnier ›streikt‹ und die Aufgabe nicht mehr wahrnimmt, weil es beispielsweise kaputt ist. Nun muss ein Akteur-Netzwerk gebildet werden und (wieder) tätig werden (vgl. Latour 1996). Latour problematisiert die Unterscheidung zwischen Mittler und Zwischenglied, oder vielmehr den Umstand, dass nicht-menschliche Akteure, Teile von Akteur-Netzwerken (darunter können auch mehr-oder-weniger formalisierte Prozesse beispielsweise fallen) als quasi Zwischenglieder betrachtet werden: Elemente, die keinen Unterschied machen, die wie eine Art Durchgangstunnel beispielweise Information unverändert transportieren, übermitteln. Wohingegen Mittler etwas verändern, verzerren, transformieren, umformen usw. können. Latour kritisiert, dass in herkömmlichen, klassischen soziologischen Analysen Dinge, Elemente, im Netzwerk oftmals wie Zwischenglieder behandelt und damit übersprungen, nicht weiter beachtet werden – er plädiert dafür, dass diese Zwischenelemente vielmehr als Mittler betrachtet werden sollten: Dinge, die in irgendeiner Weise einen Unterschied machen, Übersetzungsarbeit leisten (vgl. Latour 2014: 179f).

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Blackbox beschreibt Latour eine Art Verkürzung, Abkürzung oder ein Sprung in der Erklärung, der komplett selbstverständlich vollzogen und akzeptiert wird. Eine Blackbox spricht für andere Akteur-Netzwerke, die in ihrem Inneren zum Schweigen gebracht wurden. Von Blackboxing kann also gesprochen werden, wenn nach einer Reihe von Aushandlungsprozessen und -schritten die Ergebnisse eines Akteur-Netzwerk stabilisiert werden (vgl. Peuker 2010: 327f). »[Blackboxing is] the way scientific and technical work is made invisible by its own success. When a machine runs efficiently, when a matter of fact is settled, one need focus only on its inputs and outputs and not on its internal complexity. Thus, paradoxically, the more science and technology succeed, the more opaque and obscure they become.« (Latour 1999) Was uns an dieser Stelle zur Latours Unterscheidung der unbestrittenen Tatsachen (matters of fact) und Dinge von Belang (matters of concern) bringt. Die unbestrittenen Tatsachen »sind feste, solide, eingestampfte« (Latour 2014: 200) Tatsachen. Sie erscheinen unveränderbar und statisch. Alle Fragen sind beantwortet, die Aushandlungen sind beendet, alle notwendigen Entscheidungen wurden getroffen: man ist sich einig. Die Arbeit des Akteur-Netzwerks ist getan und damit schließt sich die Blackbox und in der Folge werden die Akteur-Netzwerke stumm und die Spuren ihrer verrichteten Arbeit unsichtbar. Fortan wirkt und arbeitet die Blackbox so, als wäre sie immer schon da gewesen unhinterfragt und als gegeben akzeptiert. Bei den Dingen von Belang (matters of concern) allerdings sind die Spuren noch deutlich sichtbar. Bei den Dingen von Belang passiert noch etwas; hier sind die AkteurNetzwerke noch aktiv und produktiv: »Die Kartographie wissenschaftlicher Kontroversen über umstrittene Tatsachen soll es uns erlauben, den Schauplatz des Empirismus von Grund auf zu erneuern – und damit die große Trennung zwischen Natürlichem und Sozialem. Eine natürliche Welt, die aus umstrittenen Tatsachen besteht, sieht ein wenig anders aus als eine aus unbestrittenen Tatsachen; sie lässt sich nicht mehr so leicht als Folie für eine symbolisch-menschlich-intentionale soziale Ordnung verwenden.« (Ebd.: 200) Die englische Übersetzung der Dinge von Belang macht besonders den stofflichen Charakter dieser umstrittenen Tatsachen deutlich: what matters. Demonstrationen können beispielsweise als Effekte von matters of concern betrachtet werden: Kontroversen, die sich um matters of concern herum entfalten. Dabei sind Demonstrationen selbst nicht umstrittene Tatsachen, aber intensiv geführte Kontroversen um die umstrittenen Tatsachen können eine Wirkung entfalten, die dazu führt, dass wir Demonstrationen beobachten können. Dabei gehört mehr zu einer Demonstration als allein das Thema, weswegen sich Menschen versammeln. Menschen versammeln sich und hinterlassen Spuren: Plakate, Flyer, Fotos und Videoclips begleiten und dokumentieren das Geschehen. Straßen werden für Demonstrationen gesperrt, was zur Folge hat, dass Verkehr im Umfeld umgeleitet werden muss und andere Verkehrsteilnehmer:innen Umwege in Kauf nehmen müssen. Es gibt Radio- und Fernsehberichte über Demonstrationen und gegebenenfalls die Ereignisse rund herum. Das Geschehen wird kommentiert, kontextualisiert, eingeordnet und interpretiert. Und auch nachdem die eigentliche De-

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monstration vorüber ist, endet die Wirkung dieses Akteur-Netzwerks nicht, wenn das, was passierte und weswegen es passierte, weiter besprochen wird, vielleicht Nachahmung findet und im Lichte anderer Ereignisse in Retrospektive umgedeutet wird. Fotos und Videos auf digitalen Plattformen machen die Stofflichkeit der Spuren, die matters of concern hinterlassen, besonders deutlich. In ihrer Stofflichkeit entfalten matters of concern auch Widerständlichkeit. Die umstrittenen Tatsachen sind widerständig, weil sie sich nicht ignorieren oder wegstreichen lassen: Dinge, die sich ereigneten, die geschehen sind, Dinge, die gesagt wurden und Aufmerksamkeit erregten, über die gesprochen wurde, können nicht ungeschehen und ungesagt gemacht werden: Sie lassen sich nicht ignorieren. Und in dem Sinne sind sie widerständig, weil sie sich auf eine – ihre – Weise ereignet haben und nicht anders. Dabei ist auch die Art und Weise wie sich die Kontroversen um die Dinge von Belang entfalten nicht willkürlich: Sie sind historisch gewachsen (Marx, van Loon). Die Dinge von Belang sind immer auch materiell durch die Stofflichkeit der Spuren, die sie hinterlassen, durch ihre historische Gewachsenheit und ihre damit verbundene Fähigkeit zu widerstehen – to resist (vgl. van Loon 2019: 40f). Matters matter – nicht, weil spontan entschieden wird, dass sie es tun, sondern weil ihre Bedeutung historisch bedingt ist; sie waren nicht immer schon bedeutsam, sie wurden es aber. Und eine besonders hohe Widerständigkeit entwickeln matters of concern dann, wenn die Dinge von Belang durch die intensive Arbeit von Akteur-Netzwerken und dem wiederholten Bilden (Schließen) von Blackboxen ein hohes Maß an Wiederholung, Verstetigung, Stabilisierung erfahren. Wir sehen die Ergebnisse dieser Arbeit in gefestigten Institutionen, Routinen und (Alltags-)Praktiken, die uns in einem selbstverständlichen Charakter begegnen, als wären sie immer schon da gewesen und die wir eben deswegen gar nicht weiter hinterfragen (vgl. ebd.: 46). Und im Widerstand gegen Veränderung, den wir eben bei stabilisierten Tatsachen, bei gewachsenen Institutionen und Selbstverständlichkeiten beobachten können, wird die Kraft des ›Sozialen‹ besonders deutlich. »We might be more connected to each other by our worries, our matters of concern, the issues we care for, than by any other set of values, opinions, attitudes or principles« (Latour 2004a: 4). Latour warnt einerseits davor matters of fact und matters of concern als zwei unterschiedliche Typen von Angelegenheiten zu betrachten und andererseits davor erstere, die unbestrittenen Tatsachen in einer ANT-Analyse als ›irrelevant‹ außen vor zu lassen. Matter of facts und matters of concern stehen sich nicht antagonistisch gegenüber. Sie bilden vielmehr die Extrempunkte von ein und demselben Spektrum: »matters of fact are only very partial and, I would argue, very polemical, very political renderings of matters of concern and only a subset of what could also be called states of affairs« (Latour 2004b: 323). Entsprechend geht es bei der ANT nicht darum sich von den vermeintlich gefestigten Tatsachen abzuwenden und gezielt nach umstrittenen Tatsachen zu suchen. Die Dinge (von Belang) sind nicht umstritten oder unumstritten. Sie sind in Teilen immerzu beides. Bei denen einen ist die Arbeit, die die Akteur-Netzwerke einst geleistet haben, unsichtbarer und versteckter und sie geben sich den Anschein von Dauerhaftigkeit und Beständigkeit. Aber auch dies muss beständig er-arbeitet, verteidigt und behauptet werden. Arbeit, die auch von Akteur-Netzwerken geleistet wird, wenn sich diese Arbeit von der Arbeit in den Akteur-Netzwerken unterscheidet, die sich um gerade entflammende Kontroversen herum bilden.

2 Empirisch orientieren mit der Akteur-Netzwerk-Theorie

Und in einer derartigen Betrachtung geht es nicht darum ein Urteil über ›richtig‹ oder ›falsch‹, ›wahr‹ oder ›unwahr‹, ›wissenschaftlich‹ oder ›unwissenschaftlich‹ zu fällen. Es geht nicht darum eine Partei zu beziehen und zu verteidigen. Die ANT interessiert sich für das, was genau passiert. Für die Wirkungen, die die Dinge von Belang entfalten und für die Bedingungen, die die einen Tatsachen zu Tatsachen machen, die unumstritten scheinen und die anderen zu Tatsachen, um die kontrovers gestritten wird. Es geht dabei nicht darum, den Akteuren tatkräftig zur Seite zu stehen oder ihnen zu erklären, was es eigentlich ist, was sie tun: Es gilt nachzuzeichnen was passiert und es obliegt den Akteuren selbst ihre (eigenen) Grenzen zu ziehen, Dinge voneinander abzugrenzen, einzugrenzen und diese Grenzen zu verschieben und die Dinge einzuordnen, wo sie – die Akteure – es für ›richtig‹ erachten (vgl. Latour 1987: 258). Latour formulierte für die ANT drei grundlegende Prinzipien für eine systematische und analytische Vorgehensweise: das Prinzip der Agnostik, das Prinzip der generalisierten Symmetrie und das Prinzip der freien Assoziation. Diese bilden die Grundlage für den methodologischen Ansatz, den die ANT anbietet und bauen auf die kritische Auseinandersetzung Latours mit dem trennenden Denken der ›Moderne‹ (siehe Kapitel 1.1.2) auf. Mit der ANT sollte eine methodische Vorgehensweise entworfen werden, die ohne eine vorab gemachte dualistische Trennung von Natur/Kultur, sozial/technologisch, menschlich und nicht-menschlich auskommt, denn »these conventionally distinct realms […] are in reality inextricably intertwined, and it makes no sense to analyse either in isolation from the other« (Mills 2018: 290). Eine ANT-geleitete Untersuchung orientiert sich am Prinzip der (1) Agnostik, der (2) generalisierten Symmetrie und der (3) freien Assoziation. Das Prinzip beschreibt die agnostische Grundhaltung der Forschenden und wird als Unparteilichkeit des Forschenden übersetzt. Es gilt aufzunehmen, was die Akteure selbst mitzuteilen haben, ohne sie dabei zu zensieren oder eine vermeintliche Korrektur vorzunehmen. »Der Beobachter ist nicht nur unparteiisch gegenüber den von den Protagonisten einer Kontroverse verwendeten wissenschaftlichen und technischen Argumenten, sondern enthält sich einer Zensur der Akteure, wenn sie über sich selbst oder ihre soziale Umwelt sprechen. Er vermeidet es, die Art und Weise zu beurteilen, in der die Akteure die sie umgebende Gesellschaft analysieren. Kein Standpunkt wird bevorzugt und keine Interpretation zensiert. Der Beobachter fixiert nicht die Identität der darin verwickelten Akteure, solange diese Identität immer noch ausgehandelt wird.« (Callon 2006: 142) Das zweite Prinzip, das der generalisierten Symmetrie, ist gleichzeitig auch das Prinzip, das am heftigsten umstritten erscheint. Gemäß diesem Prinzip darf die Terminologie von Beschreibung und Erklärung der teils widersprüchlich und heterogen erscheinenden Kontroverse nicht geändert werden. Sind unterschiedliche Akteursgruppen in einem Akteur-Netzwerk verbunden, das sich um ein Ding von Belang gebildet hat, muss die gleiche Terminologie zur Erklärung der Verhaltensweisen für alle Gruppen angewendet werden. Das gilt insbesondere dann, wenn Forschende vor dem Hintergrund ihrer Überzeugungen geneigt sind die Gruppen in unterschiedlichen Kategorien zu verorten. Das hat zur Folge, dass die Erklärungen, die wir beispielweise heranziehen, um das Ver-

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halten von menschlichen Akteuren zu beschreiben auch zur Erklärung des Verhaltens von nicht-menschlichen Akteuren angewendet werden muss. Ebenso gilt, dass in allen Fällen angenommen werden muss, dass wir es nicht mit homogenen und gleichartigen Akteur-Netzwerken zu tun haben. Akteur-Netzwerke sind immer schon hoch komplex Zusammenschlüsse von unterschiedlichen Entitäten. Akteur-Netzwerke lassen sich also nicht eindeutig der ein oder anderen Sphäre zuordnen: sie versammeln sich nicht nur innerhalb der Sphäre des Biologischen, Politischen oder Wirtschaftlichen. Die Akteur-Netzwerke machen diese Unterscheidungen nicht: Sie verbinden sich über diese Grenzen hinweg und sind daher immer schon Hybride. Das heißt konkret, dass beispielsweise bei der Untersuchung komplexer und vor allem heterogener Akteur-Netzwerke nicht für einige Akteurs-Gruppen eine Erklärung naturalistische Erklärung gelten darf: Sie verhalten sich so, weil es in ihrer Natur liegt – wohingegen für andere Akteurs-Gruppen eine soziale Erklärung angewendet wird: Sie verhalten sich so, weil es ihnen anerzogen wurde. Stehen sich in einer Kontroverse widersprüchliche Aussagen verschiedener Akteure gegenüber, so darf die eine Aussage nicht vor dem Hintergrund einer vermuteten psychisch-pathologischen Erklärung diskreditiert werden, während der anderen eine ›wahrere‹ Bedeutung zugeschrieben wird, nur weil erstere uns Forschenden womöglich absurd erscheint. Mit dem Symmetrieprinzip soll eine Ungleichbehandlung durch unterschiedliche Erklärungszusammenhänge verhindert werden und auf eine methodische Gleichbehandlung geachtet werden. Eine Gleichbehandlung in dem Fall bedeutet allerdings keine Gleichsetzung (vgl. Gertenbach/Laux 2019: 44). Die Verwechslung der Gleichbehandlung mit einer Gleichsetzung ist oft der Grund für die Kritik am Prinzip generalisierter Symmetrie. Dabei soll lediglich vermieden werden, dass Forschende eine Abkürzung in ihren Erklärungen mit »Verweis auf die Natur der Sache selbst« (ebd.: 44) vornehmen. »In ANT, the ›symmetrical‹ approach is adopted and adapted, with the language of ›truth‹ abandoned in favour of an approach that sees scientific facts as being ›constructed‹ when a scientist can convince others that an object (or a ›spokesperson‹ of a group of objects) conforms to a particular theory. This is described in terms of the object, as well as other people and objects, being ›enrolled‹ into an explanatory scheme […] To simplify somewhat, Latour and other ANT scholars viewed scientific facts as ›constructed‹ not by society, nor by distinctive factors which can be described as social (or political), but by scientists and the human and non-human objects with which they interact.« (Mills 2018: 289) Aus diesem Prinzip heraus ergibt sich einmal mehr die Notwendigkeit auch nichtmenschliche Akteure mit einzubeziehen: sie nicht nur als Werkzeuge, Mittel zum Zwecke, zur Ausführung, zur Umsetzung, als Assistenten der eigentlichen Protagonisten – der menschlichen Akteure – zu behandeln, sondern methodisch gleich zu behandeln. Nur durch diese methodische Gleichbehandlung kann sichergestellt werden, dass sich etwaige Ergebnisse der Forschung nicht auf eine ungleiche Behandlung der Akteursgruppen zurückführen lassen. Für alle wurden die gleichen Erklärungsregeln angewendet: Unterschiede, die sich zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren ergeben, lassen also vermuten, dass hier tatsächlich ein Unterschied besteht, der aber nicht auf ein methodisch unsauberes Erklären zurückzuführen ist.

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Die Herausforderung an der Stelle ist es ein Vorgehen zu erlernen, das die Aufnahme nicht-menschlicher Entitäten in die Betrachtung und Dokumentation ermöglicht: »the empirical world can ›talk back‹ in the sense of challenging and resisting, or not bending to, our images or conceptions of it« (Blumer 1969: 22). Somit ergibt sich daraus die Herausforderung den Widerstand (die Momente des resistings) aufzunehmen und nicht als pathologogisch und abweichend zu beurteilen. Während soziologische Ansätze, die beispielsweise mit Durkheims Methodologie arbeiten, nicht-menschliche Akteure nicht als ›eigene‹ Akteure, sondern nur als Werkzeuge menschlicher Akteure in ihrer Forschung aufnehmen können, ermöglicht der Ansatz der ANT eine Verschiebung: eine Analyse, die nicht-menschlichen Akteuren mehr Raum zugesteht. Als drittes Prinzip legt Latour die freie Assoziation für die ANT fest: »Der Beobachter muss alle a-priori-Unterschiede zwischen natürlichen und sozialen Ereignissen verwerfen. Er muss die Hypothese einer definierten, die beide Bereiche trennenden Grenze ablehnen. Solche Trennungen sind konfliktreich, denn sie sind das Ergebnis und nicht der Ausgangspunkt der Analyse. […] Statt ihnen [Akteuren, Entitäten] ein vorbestimmtes Analyseraster aufzuerlegen, folgt der Beobachter den Akteuren, um herauszufinden, wie sie die verschiedenen Elemente definieren und in Verbindung bringen, mit denen sie ihre Welt aufbauen und erklären- unabhängig davon, ob sie sozial oder natürlich ist.« (Callon 2006: 143) Freie Assoziation soll heißen, dass es den Akteuren obliegt ihre Akteur-Netzwerke zu versammeln, Unterscheidungen und Abgrenzungen auszuhandeln und vorzunehmen, zu stabilisieren, zu sortieren und zu ordnen, zu trennen, zu verschrieben und zu benennen. Wenn wir mit der ANT arbeiten, können wir nicht vorab davon ausgehen, dass die Kriterien, die wir für wissenschaftliches Vorgehen anlegen von sich aus, gegeben wären. Sie sind nicht unveränderlich und existieren nicht von sich aus und aus sich heraus. Die Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens, die uns heute bekannt sind und an deren Leitlinie wir uns in unserem Tun, das wir wissenschaftliches Arbeiten nennen, orientieren, sind deswegen aber nicht wahllos: Sie sind die Produkte eines lange arbeitenden AkteurNetzwerks, das in komplexen Aushandlungen, Abgrenzungen, Einbindungen und Verschiebungen diese Kriterien formuliert, sie festigt, sie institutionalisiert und in Vorgehensweisen formalisiert. Akteur-Netzwerke sind in dem Sinne nicht nur komplexe Zusammenschlüsse verschiedener Elemente und Verbindungen, deren Analyse möglich ist: In Akteur-Netzwerken wird beständig gearbeitet, übersetzt, getrennt und verbunden, vermittelt, verzerrt, manipuliert und neu kombiniert. Akteur-Netzwerke sind beständig in Bewegung, sie sind zeitgleich ständig im Zerfall und Werden begriffen, sie sind nicht an sich stabil, fest oder als gleichförmig zu denken. Um Forschenden einen Anhaltspunkt zu geben, wie die Prinzipien der ANT umgesetzt werden können, zeigt Latour, indem er einen Gegenentwurf zur wissenschaftlichen Metasprache entwickelt, eine Möglichkeit auf das ›Soziale‹ und vor allem die ›soziale Erklärung‹ flach zu halten: Er spricht davon eine Infra-Sprache anstelle der wissenschaftlichen Metasprache zu nutzen (vgl. Latour 2014: 53f). Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften, wie beispielsweise der Mathematik, verfügt die Soziologie nicht über eine ›ei-

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gene‹ Sprache. Auch vermag es die Soziologie nicht, wie beispielsweise die Rechtswissenschaft und -praxis, ihre Sprache so sehr zu entfremden, dass obgleich die gleichen Begriffe verwendet und bekannte Grammatik eingehalten wird, ein Studium notwendig ist, um das Geschriebene und seine Bedeutung vollständig zu erfassen. Auch wenn es der Soziologie punktuell gelang eine eigene Metasprache zu entwickeln, erreichte das soziologische Vokabular nie ein ähnliches Niveau der Entfremdung. Dies gilt insbesondere für die Kernbegriffe der Soziologie, wie beispielsweise soziales Handeln, Gesellschaft, Individuum und sozialer Wandel. Wenn vom (sozialen) Handeln gesprochen wird, sind Soziolog:innen dazu angehalten zu spezifizieren: ist im Folgenden soziales Handeln nach Weber oder nach Bourdieu gemeint? Wenn von Gesellschaft gesprochen werden soll, folgt die Frage, inwiefern Durkheims Gesellschaftsverständnis gemeint sei oder nach Tönnis Gemeinschaft von Gesellschaften differenziert werden würde. Die Begriffe, die die Soziologie nutzt, wie beispielsweise auch Kommunikation, System, Diskurs und Beziehung sind durch Definitionen, Bedeutungen und Theorien beladen, teils sogar über-laden. Die Herausforderung, die sich der Soziologie dabei stellte eine eigene wissenschaftliche Metasprache zu entwickeln, wurde schon von früheren Soziologen, wie Durkheim oder Weber angenommen. Begriffsfindung, -definition und -umdeutung ist zu einer Teilaufgabe soziologischen Arbeitens geworden. Was dies mitunter zur Folge haben kann, lässt sich an Alfred Schütz’ Konstruktionen erster und zweiter Ordnung erkennen. Mit Konstruktionen erster Ordnung sind die gemeint, die die Akteure in der Welt selbst konstruierten, wenn sie die Welt (um sich herum) interpretieren. Diese sind wiederum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analysen. Indem Sozialwissenschaftler:innen diese Konstruktionen erster Ordnung interpretieren, erzeugen sie Konstruktionen zweiter Ordnung (vgl. Knoblauch 2009: 309). Auch wenn es in Schütz’ Arbeiten zu den Konstruktionen erster und zweiter Ordnung um mehr als nur Begriffsinterpretation geht, gehören die Begrifflichkeiten unweigerlich mit dazu, wenn Interpretationen und vermutete Bedeutungszusammenhänge eben mithilfe von Begriffen ausgedrückt werden (müssen). Dabei erfordert die Begriffsnutzung innerhalb der Soziologie implizit oder explizit immer auch eine Einordnung der genutzten Begriffe in weitreichendere Theoriesysteme. Es wird erwartet, dass eine theoretische Einbettung vorgenommen wird. Latours Infra-Sprache erzeugt nun keine neuen Begrifflichkeiten für soziologisches Arbeiten. Latour beschreibt mithilfe dieses Werkzeuges eine Vorgehensweise: wie die Berichte, die über die Forschung an, mit und über Akteur-Netzwerken unternommen werden zu verfassen sind und wie diese Berichte gleichzeitig auch zu lesen sind. Verwendete Begriffe sollen möglichst bedeutungsleer, zumindest aber bedeutungsarm und eher allgemein als spezifisch verstanden werden. Die Infra-Sprache sitzt also nicht ›oberhalb‹ der Dinge, die wissenschaftlich erfasst werden sollen. Sie schreibt nicht ›über‹ die Dinge. Sie wird ›unterhalb‹ der Dinge, die in Worte gefasst werden sollen, verortet. Durch die Begriffe sollen den Dingen keine weiteren Bedeutungen hinzugefügt werden. Die InfraSprache ist immer weniger als das, was sie zu beschreiben versucht. Die Beschreibung soll nahe am Phänomen bleiben. Das, was sich ereignet soll erfasst werden. Gleichzeitig soll vermieden werden sich vom Vokabular bereits formulierter Theorien verlocken zu lassen und die empirisch orientierte Beschreibung davon einengen zu lassen. Wenn nun nicht wenige Theorien zu einem System verschiedener Definitionen, Axiome, kom-

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plexer Zusammenhänge und Relationen formuliert wurden, sich im Anspruch von Allgemeingültigkeit und Generalisierbarkeit vom Gegenstand gar entfernt haben, Begriffe durch die komplexen Systeme der Theorien aufgeblasen wurden, besteht doch das Risiko sich im Urwald abstrakter Theoriensysteme im Kreis zu drehen und eigene, nicht zuletzt gar theoretische Forschung, mutiert zum selbstreferentiellen System, das nur mit Verkürzung und Reduktion einen Zugang zur empirischen Wirklichkeit versuchen kann zu finden. Das Risiko, dass Relevantes, was einen Unterschied macht, übersehen wird, wenn ein kompliziertes Modell einer bereits ausformulierten Theorie lediglich am gewählten Phänomen angewendet wird, ist aus Perspektive der ANT schlicht zu hoch. Und gerade weil dem Phänomen, den Dingen selbst und den Akteuren, die ihre Netzwerke gestalten, der Vorrang zu geben ist, ist notwendig diese Herausforderung zu besprechen, das Risiko zu reflektieren. Diese Besprechung ist demnach eng verbunden mit den Prinzipien der ANT und besonders dem bereits ausgeführten Prinzip der generalisierten Symmetrie (vgl. Callon 2006). Mit der ANT zu forschen, heißt den Akteuren zu folgen (vgl. u.a. Latour 2006), ihre Spuren aufzunehmen, nachzuzeichnen aber vor allem sie sprechen zu lassen und zum Sprechen zu bringen. Und dazu gehört, die Sprache der Akteure aufzunehmen und nicht die eigene wissenschaftliche Sprache darüber zu stülpen und zu behaupten, auch wenn die Akteure dies oder jenes täten, sagten, interpretierten, meinten sie doch etwas anderes. Der Unterschied an der Stelle ist ein feiner: Nicht das ›Beziehungsgeflecht‹, das zwischen den Akteuren besteht, soll durch die ANT nachgezeichnet werden. Es geht darum den Akteuren zu folgen und ihnen auf der Spur zu bleiben, während sie ihr Netzwerk versammeln und gleichzeitig auch selbst nachzeichnen. Der ANT geht es nicht darum herauszufinden, was die Akteure ›eigentlich meinen‹, wenn sie Dinge tun und darüber sprechen. Es geht nicht darum ›richtige‹ von ›falschen‹ Interpretationen zu unterscheiden oder Einordnungen für die Akteure vorzunehmen. Es bleibt stets den Akteuren selbst überlassen das, was passiert zu interpretieren, die Dinge einzuordnen und zu beurteilen. Aufgabe der Soziolog:innen ist es lediglich dies Tun der Akteure zu dokumentieren. Wissenschaftliche Tätigkeiten und insbesondere theoretisches Arbeiten wird im allgemeinen Sprachgebraucht gerne in den sogenannten Elfenbeinturm verbannt. Ein Bild, das suggeriert, dass es eine Distanz zwischen dem, was in der empirischen Wirklichkeit passiert und dem wissenschaftlichen Arbeiten gäbe. Als betrachteten die Wissenschaftler:innen aus ihrer ›objektiven‹ Distanz von oben aus dem Elfenbeinturm heraus ihre Gegenstände, das Wuseln der Akteure am Fuße des Turms. Ein Bild mit dem die ANT bricht, wenn grundlegend ein ständig wechselnder Bezug zwischen den Akteur-Netzwerken angenommen wird und Wissenschaft, insbesondere jene, die sich mit Gesellschaften befassen, immer schon Teil ihrer Gegenstände sind. Während die einen, wie Detektive die Spuren der anderen aufnehmen, darüber berichten und sich unterhalten, nehmen die anderen die Berichte auf, bringen sich ein, entfalten neue Diskurse, Informationen werden hin und her getragen, verarbeitet, zerstückelt, rekonstruiert, neu kombiniert, übersetzt, vereinfacht und verkompliziert, etwas wird hinzugefügt und anderes weggelassen. Am Beispiel des Flüchtlingsbegriff lässt sich diese wechselseitige Beeinflussung und Wirkung durch die Arbeiten innerhalb heterogener Akteur-Netzwerke, in denen wissen-

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schaftliche Akteure gleichranging mit Akteuren aus Praxis und Verwaltung mit eingebunden sind, verdeutlichen. Der Begriff des Flüchtlings wird durch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und ihre Ergänzung 1967 völkerrechtlich definiert. Mit Flüchtlingen, gemäß der Konvention, sind Menschen gemeint, die sich außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen und in einem anderen Land Schutz ersuchen, da sie in ihrem Heimatland aufgrund »ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen« (UNHCR 2015 [1951/1967], Art. 1) Furcht vor Verfolgung haben müssen und aufgrund er genannten Gründe nicht den Schutz ihres Heimatlandes in Anspruch nehmen können oder wollen. Auch als Flüchtlinge gemäß der Konvention gelten Menschen, die aufgrund von Krieg oder eingangs genannter Gründe staatenlos geworden sind und daher nicht in ihr Heimatland zurückkehren können oder aus Furcht vor Verfolgung eben nicht in das Land zurückkehren wollen, in dem sie einst ihren ständigen Wohnsitz hatten. Gleichzeitig werden durch die Genfer Flüchtlingskonvention auch Einschränkungen vorgenommen: Es werden Rechte und Pflichten für Menschen definiert, die gemäß der völkerrechtlichen Definition den Flüchtlingsstatus erhalten möchten (vgl. UNHCR 2015 [1951/1967], Art 1F). Der Begriff des ›Flüchtlings‹ wurde 1951 nicht mit der Konvention erfunden. Lediglich erhielt der Begriff mit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 erstmals eine völkerrechtliche Fassung. Die völkerrechtliche Definition ersetzt damit nicht andere Verständnisse und Verwendungsweisen des Begriffs. Es kommt stattdessen gleichzeitig zu einer Einschränkung und Erweiterung. Durch die Bedingungen, die an den Status geknüpft werden, wird eine Ein- bzw. Beschränkung vorgenommen, der Begriff wird verengt. Gleichzeitig erfährt der Begriff eine Erweiterung. Wird der Status anerkannt, erfahren jene, die als Flüchtlinge gemäß der Konvention gelten, die Möglichkeit Ansprüche, insbesondere den Anspruch auf Schutz, gegenüber jenen Staaten geltend zu machen, die den Status anerkennen (siehe Kapitel 5.2). Als Flüchtling anerkannt zu werden, hat also völkerrechtliche, juristische Folgen, die wiederum konkrete Wirkung entfalten können. In einer von der Robert Bosch Stiftung geförderten Studie über Die Aufnahme von Flüchtlingen in den Bundesländern und Kommunen (2015) stellen die Autor:innen fest, wie der Flüchtlingsbegriff in der behördlichen Verwaltungspraxis wiederum Anwendung findet. Der Begriff des Flüchtlings wird oft als ein »Sammelbegriff für Personen, die ihren Heimatort verlassen haben, um einer behördlichen Situation zu entkommen, und zumeist in einem anderen Land Asyl ersuchen« (Aumüller et al. 2015: 13) verwendet. Damit werden Menschen gemeint, die »als asylsuchend nach Deutschland gekommen sind und bislang keinen geregelten Aufenthaltsstatus in Form eines Aufenthaltstitels erlangt haben« (ebd.: 13). Diese Gruppe wiederum wird in der behördlichen Praxis, formrechtlich und nach bürokratischen und formalen Prozessen wiederum unterteilt in Asylsuchende, Asylantragstellende, Asylbewerber, subsidiär Schutzbedürftige und Geduldete, deren Asylantrag zwar abgelehnt wurde, die aber aus anderen Gründen, wie beispielsweise, weil das eigentliche Herkunftsland unbekannt ist oder notwendige Dokumente fehlen, nicht abgeschoben werden können. Unterdessen hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch bis 2021 die Nutzung des Begriffs Geflüchtete weitgehend durchgesetzt (siehe u.a. bei Münchner Freiwillige – wir Hel-

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fen e.V.5 ). Mit dieser Verschiebung sollen zwei Besonderheiten explizite Beachtung finden: der zeitliche und der ontologische Aspekt. Mit Ge-Flüchtete wird deutlich, dass die Flucht in der Vergangenheit liegt: sie ist abgeschlossen. Was dann wichtig wird, wenn es der Übergang zwischen Flüchten und Ankommen hervorgehoben werden soll. Außerdem soll diese abgewandelte Bezeichnung die Fluchterfahrung nicht zu einem seins-definierenden Element der Person machen. Die Flucht ist etwas, das er-, durch- und überlebt wurde. Sie liegt in der Vergangenheit und die Erfahrung soll nicht automatisch als identitätsdefinierend angenommen werden (vgl. Stefanowitsch 2012). Auch wenn es sich beobachten lässt, dass auch in der verwaltungsbehördlichen Kommunikation vermehrt der Begriff der Geflüchteten genutzt wird, hat dieser den formrechtlichen Flüchtlingsbegriff nicht abgelöst. Beide Begriffe bestehen gleichzeitig nebeneinander. Aus Perspektive der ANT wird an der Stelle keine Einordnung und Bewertung dahingehend vorgenommen, welche Nutzung nun ›richtiger‹ oder ›angemessener‹ wäre. Interessant ist, wie die Akteur-Netzwerke die Begrifflichkeiten und die Begriffsnutzung besprechen und welche Wirkung diese Arbeit wiederum entfalten kann und wie beispielsweise Akteur-Netzwerke argumentieren und auf welche anderen Bezugspunkte sie sich hin orientieren, wenn sie versuchen andere Akteur-Netzwerke von ihren Interessen zu überzeugen. Latours Kritik an der Soziologie, die er die ›Soziologie des Sozialen‹ nennt, wird in der vorliegenden Lesart verstanden als das Aufzeigen von Grenzen im Sinne von Limitationen jener soziologischen Vorgehensweisen, die beispielsweise auf Webers methodologischen Individualismus oder Durkheims methodologischen Holismus zurückgehen. Mit der ANT wiederum setzt Latour dort an, wo andere soziologische Vorgehensweisen an ihre Grenzen stoßen. Das Anliegen ist es dabei nicht eine weitere, dritte, ähnliche Herangehensweise anzubieten, sondern ein grundlegend anderes Vorgehen für soziologische Unternehmungen anzubieten, das schon in den zugrundeliegenden Prämissen andere Wege geht. Hierfür bietet Latour mit der ANT einen Werkzeugkasten an, der nicht aus methodischen Instrumenten besteht, sondern zunächst in der kritischen Reflexion bereits existierender Methodologien ein Umdenken (siehe Morin Kapitel) und dem folgende eine Sensibilisierung ermöglicht. Latour bietet Leitlinien an, indem er den Fokus der Forschung auf die Dinge von Belang und die Arbeit der Akteur-Netzwerke lenkt. Es gilt den Akteuren zu folgen und ihre Spuren lediglich aufzunehmen. Die Akteure selbst haben den Vorrang: sie sortieren, interpretieren und bewerten. Ihre Sprache wird aufgenommen und soll nicht durch die wissenschaftliche Sprache überschrieben werden. Außerdem formuliert Latour drei Prinzipien, die das soziologische Vorgehen leiten aber nicht vorgeben sollen: Agnostik, generalisierte Symmetrie und freie Assoziation. Während Latour mit grundlegenden Gedanken der ANT ein Fundament schafft, liefert Michel Callon mit seinem Aufsatz über die Elemente einer Soziologie der Übersetzung (2006), der im Folgenden besprochen wird, ein Beispiel dafür, wie eine ANT-geleitete Untersuchung konkret aussehen kann.

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https://www.muenchner-freiwillige.de/

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2.1.2 Michel Callons Momente der Übersetzungen und Verschiebungen Latour folgend, muss eine ANT-geleitete Studie dort anfangen, wo die Dinge sich ereignen: bei den Dingen selbst. Es gilt zunächst also den Akteuren zu folgen und sie dabei zu beobachten, wie sie ihr Netzwerk verbinden, Elemente versammeln, problematisieren, verhandeln, mobilisieren, vermitteln und übersetzen. Callon versteht übersetzen dabei nicht in dem Sinne, dass etwas von einer Form in einen andere übertragen wird, wie man es beispielsweise bei sprachlicher Übersetzung versucht. Im Sinn der ANT soll mit Übersetzen vielmehr ein Verschieben gemeint sein (vgl. Callon 2006: 169). Callon unterscheidet dabei vier (bzw. fünf) Momente der Übersetzung (Verschiebung): die Problematisierung, das Interessement, das Enrolement und die Mobilisierung und an fünfter Stelle soll immerzu auch die Möglichkeit des Scheiterns mitgedacht werden (vgl. ebd.: 135f). Was wie ein einfach zu befolgender Leitfanden für die Forschenden erscheint, ist gerade nicht als ein solcher zu verstehen. Es handelt sich nicht um eine Checkliste, die schrittweise abgehandelt werden kann. Es geht hierbei nicht um einen vorgezeichneten Weg, sondern eine Art und Weise des Vorgehens. Da es in textlicher Form nicht anders möglich ist, folgen die Momente der Verschiebung in einer Reihenfolge aufeinander. Sie sind deswegen allerdings keinesfalls als kausal-linear aufeinander folgend zu verstehen. Wie bereits in Kapitel 1.3 über Komplexität verdeutlicht wurde, gehen wir immer von einer Gleichzeitigkeit der Bewegungen aus: d.h. auch die Momente der Verschiebungen sind als gleichzeitig ablaufende, ineinandergreifende Prozesse zu denken. Zudem lassen sich die Momente nicht isoliert für separate Akteur-Netzwerke analysieren. Die AkteurNetzwerke sind nicht als gegebene Einheiten von vornherein zu denken. Sie sind ständig im Werden und Zerfallen begriffen. Ebenso wie die Momente der Verschiebungen ständig ablaufen. Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaftler:innen die komplizierten Verflechtungen zu entwirren und Ordnung in das vermeintliche Chaos zu bringen: stattdessen wird diese Arbeit den Akteuren selbst überlassen und lediglich, gemäß der Prinzipien der ANT, das Tun der Akteure dokumentiert und nachgezeichnet. Insofern bedeutet dies, dass obgleich die textliche Darstellung ein Nacheinander und sogar eine Priorisierung suggerieren mag, eben von einer solchen Abstand zu nehmen ist. Wenn Problematisierung die Rede ist, dann sind damit die Momente gemeint, wenn sich die Akteur-Netzwerke an die Arbeit machen: »Netzwerkbildung beginnt dort, wo ein Problem empfunden wird« (Belliger/Krieger 2006: 40). Dabei soll es den Akteuren selbst überlassen sein die Probleme als solche anzuzeigen. Es ist nicht Aufgabe der Forschenden jene zu erkennen und zu benennen. Der ›wissenschaftliche‹ Blick ist dennoch Teil der Betrachtung, schließlich sind auch die wissenschaftlichen Akteure Teil der AkteurNetzwerke: sie sind eingebunden im Netzwerk, werden dadurch auch zum Handeln gebracht und entfalten wiederum eine Wirkung. Sie blicken allerdings nicht aus objektiver Distanz von ›oben‹ her auf das Geschehen. Sie sind mit eingebunden, sie wirken und arbeiten mit. Problematisierung meint den Moment, wenn die Akteur-Netzwerke sich an die Arbeit machen: sie werden beispielsweise durch das Scheitern von Blackboxen zum Handeln gebracht. Wenn also aus einmal stabilisierten Ergebnissen, die von anderen AkteurNetzwerken zuvor ausgehandelt wurden, aus matters of fact doch wieder matters of concern

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werden. Auslöser jener Momente des Scheiterns kann viel sein und im Sinne Morins (siehe Kapitel 1.3.1) ist eher davon auszugehen, dass eine Vielheit unterschiedlichster und gleichzeitig wirkender Momente zusammenkommen, sodass sich keine klare Kausalität rekonstruieren lässt. Wir haben es in jedem Moment immer mit einer Vielzahl unterschiedlicher Akteur-Netzwerke zu tun, die beständig in Prozessen des Zerfallens (Vergehens) und (Neu-)Bildens (Generierens) begriffen sind. In den Momenten des Scheiterns wird die Arbeit der Akteur-Netzwerke nur besonders sichtbar. Akteure, insbesondere sprechende Akteure bezeichnen diese Momente oft auch als ›Krisen‹. ›Krisen‹ müssen dabei nicht automatisch Momente des Bruchs oder ein Versagen markieren. Ebenso wird nicht jedes Scheitern als ›Krise‹ bezeichnet.6 Der Begriff der ›Krise‹ ist dennoch etwas, das, wie wir im folgenden Kapitel (2.2) noch sehen werden, von Akteur-Netzwerken zur Beschreibung genutzt wird. Ebenso wie davon abzusehen ist in kausaler Linearität zu denken, vollzieht sich das Scheitern eines einmal stabilisierten Akteur-Netzwerks nicht abrupt. Verschiebungen werden bereits vollzogen, die Grenzen getestet und Limits gedehnt, bis eine Schwelle schließlich überschritten ist: Scheitern sich einstellt. Aus-Lösen kann in diesem Fall auch als ein Heraus-Lösen oder Los-Lösen verstanden werden. Und so verlockend es sein mag, so gilt es gerade nicht nach dem eigentlichen Auslöser zu forschen: das, was letztlich die ›Krise‹ auslöste. Im Sinne der ANT geht es nicht darum die Ereignisse zu rekonstruieren, wie sie scheinbar kausal aufeinander folgten. Von Interesse ist, was die Akteure selbst als ›Auslöser‹ bestimmen, worauf sie sich einigen und welche Überzeugung sie folglich beginnen zu festigen. Zum Moment der Problematisierung gehört außerdem dazu, dass weitere Akteur(Netzwerke) vom ›Problem‹ überzeugt werden müssen. So müssen die bereits Versammelten daran arbeiten weitere zu überzeugen sich ›ihrer Sache‹ anzuschließen: sich für ›ihre‹ Sache zu interessieren. Dabei »beschreibt die Problematisierung ein System von Allianzen oder Assoziationen, zwischen Entitäten, die dadurch die Identität und das, was sie ›wollen‹ definieren« (Callon 2006: 150). Wir haben es also einmal mehr mit einer Vielzahl heterogener und hybrider Entitäten und Akteur-Netzwerke zu tun, die unterschiedliche Interessen verfolgen können, die wiederum auf unterschiedlichsten Wegen während der Problematisierung(en) davon überzeugt werden müssen, dass das besprochene ›Problem‹ – matter of concern – auch ihr Problem ist: sie davon betroffen sind. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass Identitäten entworfen werden, an denen sich Akteure und Akteursgruppen wiederum orientieren können. Im Sinne eines Unter-Werfens werden die EntWorfenen Identitäten zu einem verbindenden Element, das wiederum die Interessen (der Gruppe) stärkt und festigt. Ist man sich darüber einig, was das ›Problem‹ ist, und hat womöglich einen Namen dafür gefunden, gilt es eine Lösungsstrategie zu entwickeln und ein Ziel festzulegen, von dem nun alle wiederum überzeugt werden müssen, dass es die ›richtige‹ Lösung ist.

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Das Dienstversagen des Türstoppers (vgl. Johnson 2006) vermag sich kaum als ›Krise‹ zu qualifizieren; wird vielmehr als eine Störung im Netzwerk aufgefasst, markiert aber nicht desto weniger ein Scheitern.

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Michel Callon bezeichnet diesen Moment als »Definition eines obligatorischen Passagepunktes (OPP)« (ebd.: 149). Das Interessement ist ein weiterer Moment der Übersetzungen Callons. Interessement wird etymologisch abgeleitet aus inter-esse: etwas dazwischen halten oder dazwischen sein (vgl. Callon 2006: 152). An etwas interessiert sein bedeutet auf etwas Bezug nehmen, etwas erfassen wollen, etwas zu sich holen: interessiert an einem anderen Menschen heißt, einen anderen Menschen kennen lernen wollen, mehr von dieser Person wissen zu wollen. An einem Thema interessiert sein heißt, mehr über dieses Thema wissen wollen. Etwas, das einst un-verbunden war, wird durch die Momente des Interessements zusammengebracht: eine Brücke wird geschlagen. Im Moment des Interessements zeigen sich ähnliche Momente, wie sie Georg Simmel in seinem Essay über Brücke und Tür (1957) herausarbeitet (siehe Kapitel 1.3.2). Es werden wieder Verschiebungen vorgenommen, Entitäten in Abgrenzung zu anderen stabilisiert und gleichzeitig einstige Trennungen überwunden: Dinge werden verbunden. »Sofern der Prozess des Interessement erfolgreich ist, führt er zum Enrolement« (Callon 2006: 156). Enrolement ist ein weiterer Moment der Übersetzung. En-Role-Ment enthält dabei nicht versehentlich den Begriff der Rolle, der in den Theorien von Talcott Parsons und Erving Goffman besondere Beachtung findet. Bei Callons en-role-ment ist allerdings eine andere ›Rolle‹ gemeint. Es geht nicht darum bereits festgelegte Rollen zu beschreiben und es geht nicht darum zu analysieren, welche Eigenschaften eine ›Rolle‹ besitzen muss, um nach vorgegebener Definition eine zu sein. Auch geht es nicht um Rollenmuster, Rollenerwartungen oder gar Rollenkonflikte. Aufgabe der Analyse ist es einmal mehr den Akteuren selbst diese Arbeit zu überlassen: sie konstruieren und definieren Rollen, sie bilden Aufgabenbereiche und -pakete und verteilen eben jene wiederum: »Das Enrolement zu beschreiben, bedeutet somit, die Folge multilateraler Verhandlungen, Prüfungen der Willensstärke und Tricks zu beschreiben, welche die Prozesse des Interessement begleiten und ihnen den Erfolg ermöglichen« (ebd.: 156). Dabei darf an dieser Stelle nicht aus den Augen verloren werden, dass jederzeit auch ein solcher Vorgang scheitern kann: Rollen eben gerade nicht übernommen werden und das, was als zu tun vereinbart wurde, nicht durchgeführt wird. Ein Scheitern ist in jedem Moment möglich. Die Mobilisierung bildet einen weiteren Moment der Übersetzung. »[Die] Akteure treten in Transaktionen ein. Sie tauschen Zeichen, Dinge, Rollen, Interessen mit allen möglichen Mitteln aus. Vermittler bzw. Vermittlungsinstanzen sind das, was zwischen Akteuren ausgetauscht wird (z.B. Produkte, Texte, Geld, Leistungen usw.). Akteure bilden Netzwerke, indem sie Vermittlungsinstanzen untereinander derart zirkulieren lassen, dass die Positionen der Akteure im Netzwerk stabil werden.« (Bellinger/Krieger 2006: 41) Es ist an dieser Stelle die Frage, wer für wen spricht, wer in wessen Namen spricht, wer durch wen repräsentiert wird (vgl. Callon 2006: 159). Dabei muss es sich bei den ›Sprechern‹ nicht um Repräsentanten der verschiedenen Gruppen, die im Akteur-Netzwerk versammelt wurden, handeln. Gerade dieser Punkt wird in Michel Callons ANT-Analyse über Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht (2006) deutlich. Callon umreißt in seiner Analyse einen »neuen Ansatz zur Untersuchung

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von Machtverhältnissen« (Callon 2006: 135). Er beachtet dabei die drei Prinzipien der ANT – Agnostik, generalisierte Symmetrie und freie Assoziation – und illustriert die vier (bzw. fünf) Übersetzungsmomente im Fallbeispiel. Ausgangspunkt seiner Analyse bildet eine Kontroverse, die sich um den schrumpfenden Bestand der Kammmuschelpopulation in der französischen St. Brieuc-Bucht beobachten ließ. Der Rückgang der Muschelpopulation wurde mitunter bei einer Konferenz 1972 besprochen. Die Interessierten stellten fest, dass dieser Rückgang als problematisch zu erachten sei und etwas unternommen werden müsste. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass ein Informationsdefizit darüber bestand, welche Bedingungen die Kultivierung der Kammmuscheln begünstigen könnten. Bislang hatte sich die Wissenschaft diesbezüglich nicht intensiver mit den Kammmuscheln befasst. Hinzu kam, dass die Kammmuscheln zu stark abgefischt wurden, sodass sich der Bestand nicht natürlich regenerieren konnte. Außerdem traf es sich, dass drei Ozeanforscher bei einer Reise nach Japan festgestellt hatten, dass dort eine Technik einer besseren Verankerung der Muscheln entwickelt wurde, die es ermöglichte, die Kammmuscheln (in der Region) intensiver zu kultivieren (vgl. ebd.: 144f). Ein Akteurs-Netzwerk versammelte sich. Callon zeichnet, geleitet von den drei Prinzipien der ANT (Agnostik, generalisierte Symmetrie und freie Assoziation) die Momente der Übersetzung innerhalb des Akteur-Netzwerks nach. Gemäß dem Prinzip der freien Assoziation, obliegt es den Akteuren selbst ihre relevanten Gruppen zu identifizieren. Die Forscher bestimmen drei Gruppen: die Gruppe der Fischer, die Gruppe der Kammmuscheln selbst und die Gruppe der wissenschaftlichen Kollegen (vgl. ebd.: 148). Problematisch ist, aus unterschiedlichen Gründen, der Rückgang der Muschelpopulation in der Bucht. Im Interesse aller müsse es sein etwas zu unternehmen, damit sich diese Situation künftig änderte. Die Forscher möchten ihre Kenntnisse erweitern und Reputation unter ihren Peers erhalten. Die Kammmuscheln, davon sei auszugehen, haben den Wunsch zur Selbsterhaltung. Die Fischer sind tendenziell an Profiten (langfristigen – so nehmen es die Forscher an, da dies rationaler sei) interessiert. Die wissenschaftlichen Kollegen sind ebenso daran interessiert das Wissen über die Kammmuscheln zu erweitern, allerdings ohne dabei bestehende Kenntnisse revidieren zu müssen (vgl. ebd.: 151). Der obligatorische Passagepunkt (OPP) ergibt sich aus der Überzeugung, dass, »wenn die Kammmuscheln überleben wollen […], wenn die wissenschaftlichen Kollegen ihr Wissen auf diesem Gebiet zu erweitern hoffen […], wenn die Fischer ihre langfristigen ökonomischen Interessen zu wahren hoffen […]« (ebd.: 149), dann sollten sie bei der Klärung der Frage wie die Kammmuscheln sich (besser) verankerten kooperierend mitwirken und zudem »erkennen, dass ihre Allianz in dieser Fragestellung jedem von ihnen nützen kann« (ebd.). Das Projekt der Forschenden scheiterte schlussendlich und Callon zeigt durch seine ANT-geleitete Analyse die verschiedenen Momente des Scheiterns auf. Dabei lenkt er den Blick insbesondere auf verschiedene fehlgeleitete Annahmen der Forschenden, die aus ihrer Perspektive heraus Interessen definierten und den verschiedenen Akteursgruppen zuschrieben, dabei die Akteure also nicht selbst sprechen ließen. So gingen die Forschenden beispielsweise davon aus, dass die Fischer auf kurzfristige Profite verzichten würden, d.h. das Abfischen der Muscheln während des Projekts einstellen würden, da der Erfolg des Projekts ihnen langfristig höhere Profite in Aussicht

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stellte. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung, die für die Forschenden rational erschien und daher müsse logischerweise anzunehmen sein, dass die Fischer dies ebenso sahen. Callon stellt in diesem Punkt ein Mangel an Überzeugungsarbeit fest. Denn letztlich hielten sich die Fischer nicht an diese Vereinbarung. »Mit einer Kontroverse wankt nicht nur der Überzeugungsstand, sondern auch die Identität und die Charakteristika der darin verwickelten Akteure ändert sich« (ebd.: 166). Diese, in den Momenten von Problematisierung ausgehandelten Identitäten, Interessen und Ziele können sich zu jedem Zeitpunkt ändern und auch das Enrolement – die Verteilung der Aufgaben – scheitern, wenn von einem Tag auf den anderen die zugewiesenen und übernommenen Aufgaben nicht mehr ausgeführt werden. In diesem Falle wäre es Aufgabe der Fischer gewesen nicht zu fischen. Deutlich wird in Callons Analyse außerdem, dass das Übersetzungsmoment der Mobilisierung ein gewaltsames Element enthalten kann. Es ist die Frage wer in wessen Namen spricht und wer wen repräsentiert (vgl. ebd.: 159). In dem konkreten Beispiel werden Für-Sprecher, Sprecher in den Forschern selbst gefunden: die Forscher sprechen für die Fischer und die Kammmuscheln. Die Forschenden sprechen also in ihrem Namen, indem sie ihnen Interessen unterstellen und Aufgaben verteilen. Damit im Namen anderer gesprochen werden kann, müssen jene zunächst zum Schweigen gebracht werden. Und das ›zum Schweigen bringen‹ beinhaltet wiederum einen Gewaltakt: »Für andere zu sprechen, bedeutet zunächst, jene zum Schweigen zu bringen, in deren Namen man spricht. Es ist sicher sehr schwierig menschliche Wesen auf eine definitive Art zum Schweigen zu bringen, aber es ist noch schwieriger, im Namen von Entitäten zu sprechen, die keine verständliche Sprache besitzen: Dies setzt einen Bedarf an kontinuierlichen Anpassungen und weit höher entwickelten Werkzeugen und Interessement voraus.« (Ebd.: 162) Die Momente der Übersetzung sind, wenn auch hier an dieser Stelle nacheinander besprochen, nicht als einander folgend zu verstehen. Mittels der umrissenen Übersetzungsmomente lassen sich Schlaglichter auf die Arbeit der Akteur-Netzwerke werfen: Sie bieten eine (erste) Orientierung. Die Momente der Übersetzung, die Callon ausarbeitete und anhand des Kammmuschel-Beispiels illustrierte bilden neben den drei Prinzipien der ANT (Agnostik, generalisierte Symmetrie und freie Assoziation) und den Leitlinien, die Latour ausarbeitete die Grundlage für die folgende Betrachtung von Übersetzungen und Verschiebungen am Beispiel der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ von 2015 und der Mitleidsermüdung, die sich in den Jahren darauf unter den Helfenden einzustellen schien.

2.2 Empirische Orientierungen Im vorausgegangenen Kapitel wurden die Werkzeuge der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) vorgestellt und mit Callons Arbeit über die Kammmuschel-Kontroverse ein Beispiel aufgezeigt, wie eine soziologische Forschung mit den Werkzeugen der ANT aussehen kann. Mit der ANT forschen heißt immer auch zu den Dingen zurückzukehren: Die Fragestellung, von der sich die soziologische Forschung leiten lässt, soll

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nicht etwa aus wissenschaftlichen Ergebnissen heraus abgeleitet werden. Es gilt nicht nach einer vermeintlichen Forschungslücke zu suchen, die durch die Forschung nun geschlossen werden soll. Sich den Dingen von Belang wieder zuzuwenden, bedeutet den Akteuren (wieder) zuzuhören. Mit der ANT zu forschen, heißt in erster Linie den Akteuren zu folgen, während die Akteure selbst ihren Tätigkeiten nachgehen. Dabei soll es nicht Aufgabe der Forschenden sein, das Tun der Akteure zu interpretieren und herauszuarbeiten, was sie eigentlich täten oder sagten. Es geht nicht darum, einen Sinnzusammenhang zu ergründen oder zu rekonstruieren, von dem wir ausgehen, dass er den Handlungen vermeintlich zugrunde liegt. Die Dinge miteinander zu verbinden, Sinn in Handlungen zu generieren und Einordnungen vorzunehmen ist eine der (vielen) Aufgaben, die den Akteuren selbst überlassen bleibt. Aufgabe der Forschenden, die die Werkzeuge der ANT nutzen, ist es lediglich, zunächst die Spuren aufzunehmen, sie nachzuzeichnen und zu dokumentieren. Die Akteure zeigen an ›what matters‹, was die Dinge – ihre Dinge – von Belang sind. Dabei folgen die Forschenden nur den Spuren, die die Akteure hinterlassen, wenn sie Akteur-Netzwerke bilden, wenn Kontroversen eine (neue) Versammlung erfordern und die Arbeit (wieder) aufgenommen werden muss. Gemäß dem Prinzip der Agnostik gilt es unparteiisch zu bleiben, wenn Spuren der Akteure aufgenommen und nachgezeichnet werden. Geleitet vom Prinzip der Freien Assoziation wird in die Dokumentation aufgenommen, was auch immer von den Akteuren im Netzwerk zusammengetragen und eingebunden wird, was von ihnen als relevant und bedeutsam angezeigt wird. Dies geschieht ungeachtet etwaiger Vorannahmen oder Vorverurteilungen. Und wenn die Versammlung der Dinge dokumentiert ist, soll gemäß dem Prinzip der generalisierten Symmetrie in der Analyse darauf geachtet werden, für alle die gleiche Sprache anzuwenden: Das heißt, methodische Gleichbehandlung zu gewährleisten. Eine soziologische Forschung mit den Werkzeugen der ANT beginnt immer inmitten der Dinge: Sie ist schon immer in Akteur-Netzwerke eingebunden und in media res. Um dennoch einen Startpunkt für die Forschung (nicht die Dinge von Belang oder Akteur-Netzwerke, die es zu untersuchen gilt) zu finden, orientieren sich die Forschenden an den Kontroversen, den matters of concern, den Aushandlungen, den Tätigkeiten, die von Akteur-Netzwerken bei der Bearbeitung der Kontroversen verrichtet werden und dort, an den umstrittenen Tatsachen, besonders deutlich zum Vorschein kommen. Die Forschung setzt also dort an, wo die Arbeit der Akteur-Netzwerke Spuren hinterlässt. Die sogenannte europäische Flüchtlingskrise von 2015 ist eines jener Ereignisse, die ohne Zweifel eine große Zahl von Akteur-Netzwerken hervor- und zum Arbeiten gebracht hat: dazu gebracht hat, zu verbinden, zu verschieben, zu trennen und zu sortieren. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist ein Workshop, der am 22. Mai 2017 in Nürnberg durchgeführt wurde. Der Workshop Zwischen den Stühlen wurde vom bayrischen Flüchtlingsrat organisiert und richtete sich an Interessierte und Ehrenamtskoordinator:innen, die im Zuge der ›Flüchtlingskrise‹ Helfer:innenkreise und -vereine bei ihrer eigentlichen Arbeit, der Geflüchtetenhilfe, unterstützen sollten. Während des eintägigen Workshops teilten die Teilnehmer:innen, die aus ganz Bayern angereist waren, Erfahrungswerte und Lösungsstrategien und tauschten sich über akute und dauerhafte Problematiken in ihren unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern aus. Der Rückgang der Helfer:innenzahlen in den letzten Jahren seit dem langen Sommer der Migration

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2015 wurde von den Teilnehmenden als eine der größeren aktuellen Herausforderungen benannt. Diese »Ermüdung der Engagierten« (Haman et al. 2017: 12) ist etwas, das nicht nur durch die Akteure ›im Feld‹ besprochen wurde, sondern auch wissenschaftlich in einem Projekt des BIM (Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung) Aufmerksamkeit erfährt. Die Akteure machen sich also an die Arbeit, die Problematisierung (siehe Kapitel 2.1) beginnt.

2.2.1 Workshop: Zwischen den Stühlen Am 22. Mai 2017 fand in Nürnberg ein Workshop für Ehrenamtskoordinator:innen statt, an dem ich als Forschende teilnehmen durfte. Da der Workshop nicht durch einen kirchlichen oder wohltätigen Verband für die eigenen Mitglieder organisiert wurde, fanden sich Teilnehmer:innen aus unterschiedlichen Bereichen und Tätigkeitsfeldern, sowie Interessierte und Engagierte aus schwächer institutionalisierten Helfer:innenkreise aus ganz Bayern ein. Auch wenn der Workshop für Interessierte und Engagierte offen war, so sollten insbesondere Ehrenamtskoordinator:innen angesprochen werden. Hintergrund dafür war, dass im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise seit 2015 in Landkreisen, Kommunen und Städten neue Stellen geschaffen wurden, die die Tätigkeiten der Helfer:innenkreise, die sich seit 2015 verstärkt herausgebildet hatten, organisatorisch unterstützen sollten. Dabei handelte es sich nicht um eine landesweit systematisch durchgeführte Maßnahme. Je nach Bedarf und Geldmitteln wurden diese Koordinationsstellen direkt vor Ort in den Landkreisen, Kommunen und Städten eingerichtet. Finanziert wurden sie aus öffentlichen Geldern der Landkreise, Kommunen und Städte, durch caritative Verbände, wohlfahrtsstaatliche Organisationen oder durch kirchliche Träger. Die neuen Stellen sollten vorranging als Schnittstellen, Netzwerkförderer und Vermittler zwischen den freiwilligen Helfer:inneninitiativen und bereits etablierten Ehrenamtsstrukturen und lokaler Verwaltung dienen. Die Notwendigkeit für mehr Koordination entstand als 2015 Helfer:innenkreise und -initiativen unabhängig voneinander und spontan »wie Pilze aus dem Boden sprossen« (vgl. FB220517: 5). Diese spontan entstandenen Gruppen sollten stärker in bestehende Strukturen eingebunden und damit verstetigt werden. Die Koordinator:innen wurden als Akteure im bestehenden Akteur-Netzwerk, das sich um die Geflüchtetenhilfe ausgebildet hatte, eingebunden. Ihnen wurde die Aufgabe der ›säubernden‹ Arbeit, das Sortieren und Organisieren, vonseiten der Verwaltung übertragen: Ziel war es, einen Überblick über die Hilfsangebote vor Ort zu gewinnen. Außerdem übernahmen die Koordinator:innen verbindende und übersetzende Tätigkeiten, wenn sie als Schnittstellen zwischen Helfer:innenkreisen und Verwaltung agierten und beidseitig integrative und vermittelnde, d.h. verbindende Tätigkeiten übernahmen. Einerseits sollten die Helfer:inneninitiativen in bestehende Strukturen eingegliedert werden, andererseits boten diese etablierten Strukturen Kontakte, Informationen und Erfahrungen an: Wissen also, das den oftmals ad hoc entstandenen Initiativen in der eigenen Tätigkeit hilfreich sein könnte. Aufgabe der Koordinator:innen sollte es sein Kontakte herzustellen, Informationen über Prozesse und Vorgehensweisen zu vermitteln und für akute Fragen zur Verfügung zu stehen.

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Gleichzeitig begannen auch diese Koordinator:innen weitere Akteur-Netzwerke aufzubauen, indem sie sich untereinander überregional vernetzten und andere AkteurNetzwerke, die im Bereich arbeiteten, wie in diesem Falle der bayrische Flüchtlingsrat, begannen ihrerseits damit, die Koordinator:innen mit einzubeziehen. Betrachtet man die Einrichtung der Koordinator:innenstelle als Ergebnis eines Akteur-Netzwerkes, lassen sich Spuren der Arbeiten in den Übersetzungsmomenten Callons nachzeichnen. Identifizierbar im Netzwerk als Akteure sind die Vertreter:innen öffentlicher Verwaltungsstrukturen, d.h. Angestellte bei Kommunen, Landkreisen und Städte, sowie Personen in den Entscheidungspositionen (z.B. Bürgermeister:innen, Verwaltungsmitarbeiter:innen). Hinzu kommen die Fürsprecher:innen der Helfer:innenkreise und -initiativen, sowie die Helfer:innen selbst. Als Schnittstelle dazwischen sollen die Koordinator:innen agieren, die zwar in die Verwaltungsstrukturen eingebunden sind, deren übertragene Tätigkeit sich aber in vermittelnder Weise an die Helfer:innenkreise richtet. Eine vierte Akteursgruppe erscheint in Form der Geflüchteten, die zwar nicht selbst als sprechende Akteure auftauchen, dennoch zentral für die Kontroverse sind, um die das Akteur-Netzwerk der Geflüchtetenhilfe entstand: sie erscheinen als Empfänger:innen der helfenden Tätigkeit der Helfer:innenkreise und -initiativen. Und diese helfende Tätigkeit ist die Arbeit, die durch und im AkteurNetzwerk unterstützt werden soll. Dies wird als gemeinsame Zielsetzung des AkteurNetzwerk festgelegt. Für den OPP (Obligatory Passage Point) (siehe Kapitel 2.1.2) kann demnach festgestellt werden, dass das Akteur-Netzwerk davon ausgeht, dass es im Sinne der Helfer:innenkreise sein sollte, mit den Verwaltungsstrukturen zu kooperieren und sich von den Ehrenamtskoordinator:innen in jene integrieren zu lassen, da sie von den bestehenden Strukturen und dem drin bereits gesammelten Wissen profitieren könnten. Im Interesse der Verwaltungsstrukturen ist es einerseits, im Sinne von Übersichtlichkeit und Ordnung auf regionaler Ebene, einen Überblick über den ›Wildwuchs‹ spontaner Initiativen zu gewinnen und andererseits die Arbeit der Initiativen zu unterstützen, da diese Aufgaben der Aufnahme, Versorgung und Integrationshilfe übernehmen. Durch die geschaffenen Koordinationsstellen wird die Aufgabe von Vermittlung, Überzeugung zur Kooperation und Eingliederung der Initiativen in bestehende Strukturen in einer Rolle gebündelt und damit gleichzeitig aus der gegebenen Verwaltungsstruktur ausgliederbar: Die Arbeit der Vermittlung wird delegiert. Mit spontan und ad hoc aus dem akuten Bedarf heraus entstandenen Initiativen und bereits etablierten Verwaltungsstrukturen stehen sich zwei Akteur-Netzwerke gegenüber, von denen angenommen wird, dass sie auf sehr unterschiedliche Weise operieren. Obgleich vordergründig ihre Arbeit an die gleiche Gruppe (die Geflüchteten) gerichtet ist, unterschieden sich ihre Vorgehensweisen. Aufgrund dieser Annahme, wird der Bedarf nach Vermittlung und Anpassung abgeleitet. Die Koordinationsstellen sollen diese Aufgabe bewältigen. Der Titel des Workshops (Zwischen den Stühlen) und das Einbinden weiterer Akteure (bayrischer Flüchtlingsrat) und das Tätigwerden der Koordinator:innen über ihre lokalen Arbeitsbereiche hinaus, deutet bereits auf Momente des Scheiterns (siehe Kapitel 2.1.2) hin: Die Akteur-Netzwerke nehmen ihre Arbeit – unter anderem im Rahmen des Workshops – (wieder) auf: In vier Fokusrunden wurde (1) die Arbeit als Koordinator:in-

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nen reflektiert, (2) Zusammenarbeit mit anderen thematisiert, (3) Best Practice Beispiele ausgetauscht und (4) über die Arbeit mit den Helfenden gesprochen. Die Koordinator:innen begreifen sich selbst als Förder:innen der Helfenden: Sie sehen sich als »Mama, Freundin und Managerin« (vgl. FB220517: 2). Sie sind Fürsprecher:innen und »Klassensprecher:innen« (vgl. ebd.: 4). Gleichzeitig fänden sie sich immer wieder »zwischen den Stühlen« (ebd.) wieder und müssten »Spannungen aushalten« (ebd.: 2). Als Vermittler:innen seien sie ständig zwischen unterschiedlichen Akteuren positioniert: da seien die Helfenden und die Ehrenamtlichen, die Mitarbeiter:innen in Behörden und die eigenen Kolleg:innen. Hinzu kämen politische und behördliche Ansprechpartner:innen, wie z.B. Landrät:innen und Bürgermeister:innen, die über Maßnahmen entscheiden müssten. Außerdem seien sie in gewisser Weise auch immer ihren Trägern verpflichtet: Abhängig davon, wie die eigene Stelle finanziert werde, müssten sie auch Interessen des Trägers bedenken und vertreten. Um »zerrüttete Beziehungen zu kitten« (ebd.: 4) seien mancherorts runde Tische veranstaltet worden, um (Interessens-)Konflikte zwischen den verschiedenen Seiten (Helfer:innenkreise und Behörden) zu lösen. Die Koordintor:innen versuchten dann in erster Linie gegenseitiges Verständnis zu fördern. Insbesondere gelte es, die Helfenden zu sensibilisieren, dass sie zwischen Amt, Rollen, Strukturen und den konkreten Personen, die bestimmte Stellen innehaben, unterscheiden sollten. Dies geschehe vor dem Hintergrund, dass festgestellt wurde, dass innerhalb der Helfer:innenkreise teilweise ein sehr homogen geprägtes Bild bezüglich der Hauptamtlichen und Verterer:innen der Behörden existierte: »es wird kaum differenziert. […] Wenn man in Helferkreisentreffen reingeht, dann ist es oft so, dass die dann gar nicht mehr differenzieren – und gleich so: ihr seid Behörde – ihr seid alle gleich« (ebd.). Dazu käme im Zuge von Asylverfahren oftmals Frustration (bei den Helfenden und Geflüchteten) auf. Ein weiter Faktor für Konflikte seien unklare Abgrenzungen. Das Risiko für Spannungen sei dann besonders groß, wenn neue Stellen für Hauptamtliche geschaffen werden. Die Helfer:innen glaubten oft, dass sie sich besser als die (neuen) Hauptamtlichen in einzelnen Bereichen der Geflüchtetenhilfe und Asylverfahren auskennen. Tatsächlich ließe sich nicht von der Hand weisen, dass viele Freiwilligen über mehr Wissen und Erfahrung in dem Bereich verfügten. Dies liege unter anderem an der fortschreitenden Professionalisierung der freiwilligen Helfenden. Dabei sei die Stoßrichtung vonseiten der Behörden und öffentlichen Trägerschaften klar: »Ziel ist es schon, dass Hauptamtliche das machen; bis Finanzierung geklärt, muss das im Moment noch ehrenamtlich gemacht werden« (ebd.). Die Helfer:innen fangen vorübergehend eine Bedarfslücke ab: Dies solle allerdings kein Dauerzustand werden. Seit 2015 habe sich da einiges geändert. Wenn es ›früher‹ noch eine bottom-up-Bewegung durch die spontan entstandenen Initiativen gegeben haben, werde seit 2017 eine verstärkte top-down-Bewegung registriert. Impulse für Maßnahmen und Veränderungen kämen nicht mehr aus dem Bedarf der Geflüchtetenhilfe heraus. Neue Maßnahmen werden eher von ›oben‹ angestoßen und orientierten sich damit mehr an den Vorstellungen davon, wie Geflüchtetenhilfe im Sinne von Administration und Behörden organisiert werden sollte. Als Beispiel wird das damals neue Integrationsgesetz Bayerns und die unmittelbaren Folgen, die die Umsetzung nach sich zog, genannt: Da wird von einer Familie berichtet, die ›gut integriert‹ gewesen sei, deren Kinder auch zur Schule gegangen sei-

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en, die aufgrund der neuen Gesetzeslage dann aufs Land hätte umsiedeln müssen: »Da war das Verständnis nicht groß bei den Ehrenamtlichen« (ebd.: 5) und ›das Menschliche‹ gelte für die Politik nicht (vgl. ebd.). Die politischen Entwicklungen hätten vermehrt zu Fragen aus den Reihen der Helfenden geführt; »die Antworten bleiben sie [die Politiker:innen] aber schuldig« (vgl. ebd.). »Die Ehrenamtlichen sehen es vor allem als Schikane – im Grunde ist es ja nix anderes, manche sagen auch ›Verarsche‹« (ebd.). Vor allem die CSU wolle diese politische Richtung: »Die anderen könnten sich profilieren, dass sie sagen, sie machen’s anders – aber die haben in Bayern ja nix zu sagen« (vgl. ebd.). So beobachtete man teils eine zunehmende Politisierung unter den Helfenden. Am Anfang sei vor allem eine Orientierung auf die Geflüchteten notwendig gewesen, nun kämen auch vermehrt politische Fragestellungen auf, die »Leute [Helfenden] werden mit der Politik konfrontiert« (vgl. ebd.). Die Politisierung unter den Freiwilligen sei aber eine Entwicklung, die von den meisten als unproblematisch erachtet werde. Die Abschiebethematik ist ein weiterer Faktor, der die Helfenden stärker betreffe. Sie fänden nur schwierig Wege, damit umzugehen. Etwas, das nicht zuletzt daran läge, dass sich die Helfer:innen ihre Betroffenheit nicht zugestehen wollten: »Mich belastet das – aber eigentlich habe ich kein Recht, dass es mir schlecht geht«, hieße es da (vgl. ebd.). Man sei schließlich nicht von drohender Abschiebung betroffen: »Den anderen [Geflüchteten] geht’s ja viel schlechter, die sind ja betroffen« (ebd.). Die Verbundenheit mit den Geflüchteten, die über längere Zeit unterstützt würden, führte auch dazu, dass Ehrenamtliche die Schuld für negative Entscheide bei sich selbst suchten: »Hätte ich da anders beraten müssen?« (ebd.). Die Helfenden sähen sich in der Verantwortung für das Schicksal und das Leben der Geflüchteten. So suchten sie die Schuld bei sich, wenn Integration nicht erfolgreich sei. Dabei betonten die Koordinator:innen, dass diese Verantwortungsübernahme und Schuldübernahme etwas sei, das den Bereich der Geflüchtetenhilfe charakterisierte: Bei Kleiderspenden, bei der Essensausgabe oder beim Spielenachmittag im Seniorenheim käme diese Belastungsthematik der Helfer:innen nicht so stark auf. Man beobachtete da neue Formen von Verantwortungsübernahme bei den Helfenden. Zudem schätzten die Helfer:innen diese Belastung ›falsch‹ ein, sähen sie gar nicht oder gestünden sich diese nicht zu – gerade das Patenmodell sei für die Integration einerseits am effektivsten, führe aber andererseits schnell zum ›Ausbrennen‹ bei den Helfenden (vgl. ebd.: 8). Viele wüssten auch nicht, dass sie Supervision oder Coachings in Anspruch nehmen könnten, wüssten nicht, dass es das gäbe. Auch Abgrenzung zum Selbstschutz – »mal ›Nein!‹ sagen« (vgl. ebd.: 6) – fiele vielen schwer. Das Engagement lebe aber von positiven Erlebnissen. Die positiven Erfahrungen lieferten den Ansporn für weiteres Engagement. Negative Erfahrungen führten eher dazu, dass Engagement zurückgefahren, ganz eingestellte werde oder eine Verschiebung des Engagements zum Politischen stattfände. Und klar sei auch, dass Integration über die Ehrenamtlichen stattfände: »Das ist über die Professionellen nicht machbar. Der Beziehungsaufbau und die Kontaktpflege ist von Hauptamtlichen nicht leistbar; das muss über die Ehrenamtlichen geschehen« (vgl. ebd.) Daher sei eine stärkere Verzahnung der Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen – über die Koordinator:innen – notwendig. Der Schutz der Helfenden (z.B. indem sie Coachings und Supervisionen vermittelten) läge damit auch im Verantwortungsbereich der Koordinator:innen, die sich als Für-

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sprecher:innen und Manager:innen, Freund:innen und Fürsorger:innen begreifen (vgl. ebd.). Dabei seien auch sie in den Möglichkeiten ihrer Unterstützung an die Entscheider:innen gebunden. Beobachtet wurde in dem Bezug, dass nicht etwa die politische Zugehörigkeit der Entscheider:innen ausschlaggebend für die Unterstützung sei, sondern eher deren persönliche Einstellung: »Unser Landrat unterstützt uns zum Glück.« (Ebd.) Deutlich wird in dem Bericht über den Workshop, dass die Ehrenamtskoordinator:innen einen besonderen Akteur im Akteur-Netzwerk der Geflüchtetenhilfe bilden. Als Repräsentant:innen treten sie nicht nur für eine Akteursgruppe, sondern mehrere, mindestens zwei, auf: Sie sprechen für die Helfenden einerseits und vertreten andererseits die Interessen ihrer Arbeitgeber:innen und der behördlichen Verwaltungsapparate. Zudem stehen sie in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis gegenüber denjenigen Institutionen, durch die ihre Stellen finanziert werden. In diesem Spannungsverhältnis offenbart sich der ambivalente Charakter der Koordinator:innen, die gleichzeitig eine Vielzahl von unterschiedlichen Interessen vereinen, abwägen und vertreten und einen Umgang finden müssen. Ihre Situation bildet ein konkretes Beispiel für das Verständnis Komplexität, wie wir sie eingangs im ersten Kapitel über Denkweisen bei Edgar Morin gesehen haben (siehe Kapitel 1.1.3). Die Koordinator:innen können diese Gleichzeitigkeit teils widersprechender Interessen nicht auflösen: sie finden sich Zwischen den Stühlen wider und müssen die »Spannungen aushalten« (FB220517: 2). Ein zweiter Aspekt, der sich in der Beobachtung hervorheben lässt, ist die beständige Organisierende, Sortieren und gleichzeitig verbindende Tätigkeit, die die Koordinator:innen konstant verrichten. Sie nehmen Informationen, Erfahrungen und Interessen auf und ihre vermittelnde Rolle z.B. bei Veranstaltungen wie Runden Tischen wahr. Sie beobachten und reflektieren ihr Tun und ihre Situation, stellen unklare Rollen- und Aufgabenbeschreibung und unklare Abgrenzungen fest. Sie sind dabei gleichzeitig dieser Unklarheit und den Spannungen im Feld nicht gänzlich ausgeliefert, sondern werden durch ihre Eingebundenheit im Netzwerk wiederum zum Handeln gebracht und durch z.B. Kontakte zu anderen Koordinator:innen befähigt, ihrerseits Anstöße zu geben: Handlungsmöglichkeiten werden durch die Koordinator:innen wahrgenommen und umgesetzt. Sie initiieren Runde Tische und vernetzen sich mit anderen Koordinator:innen, sie gewährleisten die Unterstützung derjenigen, die die Entscheidungspositionen innehaben und binden die unterschiedlichen Seiten produktiv ein. Dies geschieht insbesondere durch die Eingebundenheit eines anderen Akteurs: der Geflüchteten, die als Adressanten und Empfänger von den Helfenden angesprochen werden. Auch wenn die Koordinator:innen in erster Linie die Interessen von Verwaltungsstruktur und Helfer:innen zusammen bringen, blenden sie die Gruppe der Geflüchteten nicht aus: sie gehören mit dazu, schließlich richtet sich die Tätigkeit der Helfenden an sie, die Geflüchteten. Das Engagement lebe von den positiven Erfahrungen der Engagierten, heißt es da. Außerdem füllte das freiwillige Engagement eine Bedarfslücke. Und dann wiederum sind es politische Entwicklungen (insbesondere Umverteilung und Abschiebung), die sich negativ auf die Stimmung der Engagierten ausschlage. Ein augenscheinlicher Widerspruch, wenn es im Interesse von Politik und Verwaltung sein müsste, das freiwillige Engagement, das eine Bedarfslücke füllte zu fördern, statt zu hemmen. Etwas, das

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aus Perspektive der ANT auf einen Moment des Scheiterns hindeutet. Konkreter lässt sich vermuten, dass es nicht gelang alle Akteursgruppen durch den OPP (siehe S. 92 in diesem Kapitel) zu leiten: d.h. möglicherweise Interessen nicht richtig festgehalten werden konnten, die Arbeit der Überzeugung nicht ausreichend geleistet wurde. Nicht alle versammelten Akteure konnten davon überzeugt werden, dass Kooperation in ihrem Interesse war. Die Koordinator:innen stellen die diesen Widerspruch auch selbst fest und schließen die Beobachtung an, dass sich jene Helfenden, die den Kontakt zu Geflüchteten durch z.B. Umzüge oder Abschiebung verlieren, nicht etwa anderen Geflüchteten zuwenden, sondern zunehmend politischer engagieren. Das Engagement verschwindet nicht, es verschiebt sich lediglich. Es bilden sich neue Akteur-Netzwerke, die an jenen Momenten des Scheiterns ansetzten und durch ihr Tun die Umstände aufzeigen, die ihres Erachtens nach zum Scheitern führten: die Problematisierungen beginnen von Neuem. In diesem Fall wenden sich die Akteure von dem helfenden Engagement ab und beginnen sich zu politisieren. Etwas, das die Teilnehmer:innen des Workshops 2017 feststellen: die zunehmende Politisierung im Bereich der Geflüchtetenhilfe, die an und für sich, zumindest durch die Teilnehmer:innen als nicht problematisch eingeschätzt wird. Nicht der Fokus, der sich hin zum Realpolitischen verschiebt, wird als problematisch erachtet. Der Rückgang der Engagierten in der Hilfe ist das, was während des Workshops moniert wird. Dabei setzt sich auch das vermehrt politische Engagement sowohl für die Gruppe der Geflüchteten als auch die Gruppe der Helfenden ein.

2.2.2 Politisierung der Freiwilligen – Engagement sichtbar machen Für den 23. April 2017 rief das (Münchner) Bündnis Gemeinsam für Menschenrechte und Demokratie zur ersten Vollversammlung der Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe auf. Aktive aus Vereinen, Initiativen und Netzwerken aus der Region versammelten sich in der bayrischen Landeshauptstadt auf dem Marienplatz, um (wieder) sichtbar(er) zu werden und ein Statement gegen die »zunehmend feindselige Stimmung gegenüber Geflüchteten« (vgl. FB230417.01) zu setzen. Der Aufruf ging an all jene, die sich als »Stützen einer offenen Gesellschaft erweisen [und die sich] für Meinungs- und Religionsfreiheit, für die Einhaltung von Menschenrechten, für soziale Gerechtigkeit, für das Recht auf Bildung und Arbeit und für kulturelle Vielfalt« (ebd.) einsetzen. Diese Arbeit werde oft »still und leise« (ebd.) verrichtet und dies solle sich nun durch die Veranstaltung ändern: Die Tätigkeiten sollten wieder sichtbarer werden. Die Redner:innen kritisierten vor allem die »behördliche Willkür« (ebd.), die die Arbeit der Helfenden be- und verhindere. Und statt Helfende zu unterstützen, werde ein »Klima der Angst erzeugt. […] Arbeitsverbote und Sammelabschiebungen machen viele von dem zunichte, was von Ehrenamtlichen und Geflüchteten bereits geleistet wurde und noch geleistet werden könnte.« (Ebd.) Und im Hinblick auf die anstehenden Landtagswahlen (2018) müssten auch die Helfenden (politisch) aktiv(er) werden. Die eintägige Veranstaltung auf dem Marienplatz ließ sich in zwei Abschnitte teilen. Eine Begrüßung aller Helfer:innenkreise, Engagierten, Interessierten und Geflüchteten

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reihum. Sie machten mit Plakaten und Fahnen ihre Zugehörigkeiten kenntlich. Mehrere Redner:innen erhielten zu Beginn das Wort. Im Anschluss wurden Diskussionsrunden gebildet. Hierfür waren bereits vorab auf dem Münchner Marienplatz mit Straßenkreide Bereiche gekennzeichnet worden. Die Versammelten verteilten sich, je nach Interessenslage, auf die jeweiligen Schwerpunkte. Die Gesprächsrunden wurden von zuvor benannten Moderator:innen. Ein Wechsel von einer zur anderen Gruppe war jederzeit leicht möglich. Man konnte sich frei zwischen den Bereichen auf dem Platz bewegen. Im Anschluss an die Veranstaltung wurden von den Moderator:innen der Gruppen Protokolle verfasst, die auf der Homepage des Bündnisses, neben Redeskripten hochgeladen wurden.7 In einer der ersten Reden wurde betont, dass es sich bei der »Willkommensbewegung […] weniger um eine humanitäre Bewegung […], als eine politische Bewegung« (ebd.) handelt. Die zeigte sich vor allem auf der kommunalen Ebene: dort, wo die Zivilgesellschaft aktiv geworden sei, dort wo Initiativen und Helfer:innenkreise 2015 entstanden seien. Die »Gesellschaft der Bundesrepublik, die Zivilgesellschaft [hat] sich neu aufgestellt und neuformiert« (ebd.). »Es war weit mehr als Hilfe Es war eine Reorganisation der kommunalen, der örtlichen, politischen Kultur, die hier stattgefunden hat und wo oft Zivilgesellschaft und die kommunalen Entscheidungsträger, also Bürgermeister, Stadtverwaltungen, an einem Strang gezogen haben, um tatsächlich eine bessere und weltoffenere Stadtgesellschaft zu formieren.« (Vgl. FB230417.02) Diese politische Bewegung sei eng verbunden mit einem »bewussten politischen Engagement gegen Rechts« (ebd.). »[Und es war] nicht nur ein Fokus auf Mitleid, was wichtig ist, es war darüber hinaus ein Überschreiten dieses Mitleids im Hinblick auf ein starkes Bewusstwerden von globaler Gerechtigkeit. Was wir erlebt haben, ist, dass über diese Geflüchtetenarbeit tatsächlich die globalen Unrechtsstrukturen ins Bewusstsein gerückt wurden, und zwar auf einer ganz anderen Weise, als es durch Medien überhaupt möglich ist. Durch die konkrete Begegnung mit Geflüchteten wurden die Einzelnen in einer lebendigen und sehr engen Weise mit dem Elend in Syrien konfrontiert.« (Ebd.) Nicht nur wurden die Helfenden mit dem Leid der Geflüchteten konfrontiert. Die Erfahrungen von 2015 und der Folgejahre hätten weitere mit sich gebracht: So wurden die Helfer:innen (wie auch die Geflüchteten) mit der »Ungerechtigkeit in der deutschen Gesellschaft« (ebd.) konfrontiert. »Die Behandlung der deutschen Verwaltung, des BAMF, der Ausländerbehörden, gegenüber den Geflüchteten wurde von denjenigen, die sich engagiert haben, als tiefes Unrecht empfunden, weil sie den bewussten Erfahrungen, die man gemacht hat, mit den konkreten Anderem, nicht gerecht wurden.« (Ebd.)

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Stand 2022: Die Homepage wird nicht mehr aktiv betreut.

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Nun, 2017, zwei Jahre nach dem langen Sommer der Migration, sei es an der Zeit sich auch politisch zu engagieren: Zu lange habe man den »Rechten, das Feld der Meinungsbildung weitgehend überlassen« (ebd.). »Wir [die Engagierten, die Helfer:innen] haben eine große Chance: Die Politik ist wahnsinnig beunruhigt was den Widerstand aus der Mitte der Gesellschaft betrifft. Die Politik ist irritiert davon. Bisher konnte die Politik eine Grundsatzkritik an der Bundesrepublik immer auf die Extremisten schieben. Den Rechten Rand. Linken Rand. Islamischen Rand. Was hier jetzt stattfindet ist, dass aus der Mitte der Gesellschaft der Protest kommt und das Unbehagen an dieser Politik und an der Nachhaltigkeit dieser Politik.« (Ebd.) Deutliche Worte fand eine weitere Rednerin mit ihrem Aufruf: »Herr Seehofer, schauen sie heute hier nach München. Und auf all die Helferkreise und Initiativen in diesem Land. Dann sehen Sie, was dort bereits in Eigeninitiative alles geschaffen wurde. Und was Sie mit ihrer Politik zunichtemachen« (vgl. FB230417.03). Im Nachgang der Reden verteilten sich die Teilnehmenden auf die Workshopbereiche: Schwerpunktthemen der Workshops waren stark praxisorientierte Problemlagen und Herausforderungen. Moniert wurden die Uneinheitlichkeit bei bestimmten Regelungen, wie z.B. der 3+2 Regelung des Bundesintegrationsgesetzes, welches regeln soll, dass diejenigen Geflüchteten, die eine Lehrstelle finden für drei Jahre (Ausbildungszeit) und dann nochmal zwei weitere Jahre (Anstellung) im Land bleiben dürfen. Es ging, um die Forderung Arbeitsverbote aufzuheben, Umzug aus den Gruppenunterkünften heraus in private Wohnungen leichter zu gestalten und zu fördern, Zugang zu Bildung (z.B. Sprachkursen) und Arbeit allgemein zu erleichtern. Die Gruppe Rechtsstaat und Menschenrechte forderte mitunter die »Abschaffung des Konzepts der sicheren Herkunftsländer und Beibehaltung des Anspruchs von Einzelfallprüfung« (vgl. FB230417.04: 1). Im Anschluss an die Vollversammlung organisierte das Bündnis Gemeinsam für Demokratie und Menschenrechte themenspezifische Diskussionsrunden (meist halbtags am Wochenende), während der Themenschwerpunkte aus der Vollversammlung aufgegriffen und vertieft wurden, darunter ein Forum zum Thema Abschiebung (21. Mai 2017) und zu Medien (20. August 2017). Diese Entwicklung nahm in den folgenden Jahren nicht ab. Am 24. März 2018 gründete sich in Nürnberg das Bündnis unserVeto. Das Bündnis versteht sich als »überparteilichen Bürgerbewegung für alle ehrenamtlichen Helfer*innen, die glauben, dass es wichtig ist, politische Forderungen stärker zu artikulieren« (vgl. unserveto-bayern.de8 ). Als Grundlage für die politische Arbeit des Verbands wurde einen Masterplan der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer:innen formuliert, der in seiner längeren Fassung über sechzig Seiten umfasst, und in einer Kurzfassung auf vier gekürzt wurde. Deutlich wird aus den Grundsätzen des Verbandes, dass man sich darüber bewusst ist, dass die Helfer:innen einen »wichtigen Beitrag bei der Betreuung und Integration der Geflüchteten geleistet [haben]. Ohne diese Arbeit wären die bisherigen Erfolge nicht möglich gewesen« ().

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https://www.unserveto-bayern.de/index.php

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Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass »eine sinnvolle und effektive Flüchtlingsarbeit […] zunehmend behindert und teilweise diskriminiert [wird.] Viele Flüchtlingshelfer*innen sind frustriert, da sie so wenig Unterstützung finden und die Gesetze immer restriktiver werden.« (unserveto-bayern.de) Die Politik lobe die Arbeit der Ehrenamtlichen zwar in sogenannten ›Sonntagsreden‹, in der Praxis aber werde die Arbeit entweder ignoriert oder gar als Störfaktor wahrgenommen (vgl. ebd.): »Gegen diese Politik möchte unserVeto Einspruch einheben.« (Ebd.) Der Aufruf zum politischen Engagement während der Vollversammlung der Ehrenamtlichen auf dem Münchner Marienplatz, bei dem ein Vorhaben besonders zentral war und schon im Moment der öffentlichen Versammlung umgesetzt wurde, war der Wunsch, das Ehrenamt wieder sichtbarer zu machen. Dabei wurden durch die Redner:innen und Veranstallter:innen klare Verbindungen zu den Ereignissen 2015 in der bayrischen Landeshauptstadt gezogen, die am Ende des langen Sommers der Migration im September 2015 sinnbildlich für eine politische Kehrtwende in der deutschen Flüchtlingspolitik, das gleichzeitig Versagen behördlicher Verwaltungsstrukturen und die Stärke der Zivilgesellschaft stand. Gemeint ist die Ankunft der Flüchtlingszüge im September 2015 in München.

2.2.3 September 2015 am Münchner Hauptbahnhof Aus Deutschlands Perspektive war 2015 in vielen Aspekten ein besonderes Jahr. Es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass in so kurzer Zeit so viele Flüchtende die Staatsgrenzen übertraten und Asyl ersuchten (vgl. Luft 2016: 9). Der letzte zahlenmäßige Höchststand vor 2015 war im Jahr 1992 mit ca. 438.000 Asylanträgen dokumentiert worden. Schon 2013 und 2014 stiegen die Zahlen im Vergleich zu den Vorjahren deutlich an. 2015 wurden über 476.000 Asylanträge in Deutschland gestellt, 2016 waren es über 745.500. Erst 2017 gingen die Zahlen langsam zurück. 2020 wurden 108.000 Asylanträge gestellt (vgl. BAMF 2020). Nicht nur die Menge oder die Distanzen, die die Flüchtenden auf ihrer Flucht zurücklegten, unterschieden sich von zuvor stattgefundenen Fluchtbewegungen innerhalb Europas (vgl. Luft 2016: 19). Die Fluchtbewegungen Anfang der 2010er Jahre bis 2015 wurden medial intensiver dokumentiert und begleitet. Die Ereignisse von 2015 konnten in den Sozialen Medien live miterlebt werden. Flucht findet seither nicht nur an den nationalstaatlichen Grenzen im geografisch verortbaren Raum statt. Sie wird nicht nur medial begleitet und dokumentiert, sondern auch mitgestaltet. So begann das Jahr 2015 mit Berichten über erneute Schiffsunglücke im Mittelmeer. Im April allein starben 800 Menschen bei einem Schiffsunglück vor der libyschen Küste (vgl. Georgi 2016: 189). Das Mittelmeer wird zum ›Massengrab‹ und unterdessen gelang es immer mehr Flüchtenden, die Lager in der Türkei zu verlassen. Über Griechenland und die Westbalkanroute bahnte sich der ›Flüchtlingsstrom‹ einen Weg nach Zentraleuropa (vgl. Hess et al. 2017: 11). Im Juli 2015 begann die ungarische Regierung mit dem Bau eines Zauns an der serbischen Grenze, nachdem täglich zwischen 1.000 und 1.500 Grenzübertritte Flüchtender gezählt wurden. Und nicht einmal die Abschreckungspolitik Ungarns schien den ›Menschenstrom‹ zu stoppen (vgl. Kasparek/Speer 2015). Im August rief

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Mazedonien den Ausnahmezustand aus. Wenige Tage später durchbrachen Flüchtende die Grenzzäune zwischen Griechenland und Mazedonien. Unterdessen wurden in Ungarn Flüchtende daran gehindert, Züge für die Weiterreise zu nutzen. Das inoffizielle Flüchtlingscamp am Bahnhof Keleti wuchs binnen kürzester Zeit auf mehrere Tausend an (vgl. ebd.). Am 31. August erklärte Angela Merkel: »Wir schaffen das.« Und ab dem 3. September wurde der lange Sommer der Migration fortan von den Bildern des ertrunkenen Alan Kurdi begleitet. Am 4. September machten sich tausende Flüchtende zu Fuß aus Ungarn auf den Weg nach Österreich: Das Hashtag #marchofhope trendete in den Sozialen Medien (vgl. ebd.). Am 5. September öffnete die Bundesregierung die deutschen Grenzen für die Flüchtenden aus Ungarn und am folgenden Wochenende des 5. und 6. September erreichten schätzungsweise 17.500 Geflüchtete den Münchner Hauptbahnhof (vgl. Korntheuer/Hergenröther: 26). Später sollte die Zahl der Ankommenden an nur einem Wochenende auf 20.000 steigen (ebd.: 26). Die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof in den Septemberwochen stehen fortan stellvertretend für die deutsche ›Willkommenskultur‹ und #refugeewelcome. Im September 2015 wurde der Münchner Hauptbahnhof zum regelrechten Drehund Angelpunkt der europäischen ›Flüchtlingskrise‹ (vgl. ebd.: 24) und über 6.000 freiwillige Helfer:innen eilten zum Bahnhof, um bei der Aufnahme und Notversorgung der Geflüchteten zu helfen (vgl. Lessig et al. 2019: 9). Es waren allerdings nicht nur die Bilder von #refugeewelcome in München, die diese Tage prägten. Am 21. und 22. August 2015 gab es wieder Ausschreitungen gegen Geflüchtetenunterkünfte durch Asylgegner und Rechtsextremisten. Ende August 2015 sprach Bundespräsident Joachim Gauk von einem hellen und dunklen Deutschland (vgl. der Spiegel 2015). Das Heft Nr. 36 des Spiegels vom 29. August 2015 erschien daraufhin in zweifacher Ausführung. Das erste Cover zeigt eine Gruppe junger Menschen mit Kindern und Luftballons vor einem blauen Himmel unter dem Titel Helles Deutschland. Es liegt an uns, wie wir leben werden. Ein Manifest. Das Gegenstück zeigt ein brennendes Haus bei Nacht. Der Titel in gotischer Schriftart lautet nun: Dunkles Deutschland. Es liegt an uns, wie wir leben möchten. Ein Manifest. Die ›Welle des Willkommens‹ am Münchner Hauptbahnhof wird begleitet von Berichten über Anschläge auf Unterkünfte, Proteste und Widerstände gegen Aufnahme und Asyl, vom Tod Alan Kurdis und dem Bericht über einen LKW, der einfach an der A4 in Österreich abgestellt wurde. Die Polizei konnte nur noch 71 Tote bergen (vgl. Eckardt 2017: 37). Am 12. September erreichten 13.000 geflüchtete Menschen den Münchner Hauptbahnhof. Von ihnen wurden nur 1.400 in andere Bundesländer weitergeschickt. Für den Großteil der Geflüchteten wurden in München notdürftig Unterbringungen und Versorgung organisiert. Empfangen wurden die Geflüchteten in München von einer Vielzahl freiwilliger Helfer:innen, die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn, den lokalen Behörden, Polizei und Hilfsorganisationen die Ankunft und erste (medizinische) Versorgung organisierten (vgl. Lessig et al. 2019): »Driven by a feeling of concern and curiosity, many people went to the places and routes where refugees were arriving, and an overwhelming attitude and proclivity to help emerged« (Dünnwald 2020: 72). Während die freiwilligen (Spontan-)Helfer:innen sich vor Ort um Dinge wie Verteilung von Spenden, Kleidern, Nahrungsmitteln, Hygieneartikeln usw. kümmern, war es vor allem das

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Anliegen der Behörden, die ankommenden Geflüchteten zu registrieren (vgl. ebd.: 72f). Binnen kürzester Zeit wurden Zelte aufgestellt, Schichtpläne entworfen, Helfer:innen organisiert und Bedarfe eruiert, Übersetzer gefunden, Informationen und Unterstützung bereitgestellt. Der Herbst 2015 markierte einen Wendepunkt im langen Sommer der Migration: als die Geflüchteten den Münchner Hauptbahnhof erreichen, wurden sie von einer »Welle des Willkommens« (BIM 2020) begrüßt. Die Rede war von einem (zweiten) »Sommermärchen, [vom] Wunder von München« (Eckardt 2017: 34). Es wurde ein symbolträchtiges Bild gezeichnet: Deutschland als »moralische Großmacht, als Land der offenen Herzen« (ebd.: 37). Freiwillige nahmen sich Urlaub, um im September am Hauptbahnhof mit den ankommenden Geflüchteten zu helfen und manche Betriebe ermöglichten es ihren Angestellten eben für dies Engagement zusätzliche Urlaubstage zu nehmen. »Doctors and medical staff set up a volunteer medical screening and first aid system, which, after some months, was financed by the government and transformed into a regular service. It was only with this volunteer support system, which emerged in the main places of arrival of refugees, that the government, administration, and police could handle the situation with respect and a minimum of dignity to the newly arrived persons, children and families. The sentiment of this welcoming attitude was closely linked to Chancellor Angela Merkel, who refused to close the borders and was paramount in assisting the other EU member states from which many of the refugees were transiting.« (Dünnwald 2020: 72f) Die Situation glich einem Ausnahmezustand: »Nicht nur Staat und Behörden, auch die großen Hilfsorganisationen sind mit den vielen Flüchtlingen überfordert« (Eckardt 2017: 39) und gleichzeitig mangelte es nicht an freiwilligen (Spontan-)Helfer:innen – viele Hilfsbereite mussten sogar vertröstet werden, bis die Bedarfe der Geflüchteten geklärt und die Hilfe organisiert werden konnte: »Ihr seid großartig! Wir fragten nach 30 Helferinnen und Helfern und 120 sind gekommen. Bitte habt Verständnis, dass es keinen Sinn macht, jetzt mit Euch allen zu arbeiten. Aber auch wenn wir Euch jetzt nicht mehr brauchen, schaut weiterhin auf unseren Twitter, vielleicht brauchen wir jeden einzelnen von Euch morgen für eine neue Aufgabe dringend!« (Lessig et al. 2019: 45) 2015 markierte nicht nur wegen des starken Anstiegs der Geflüchtetenzahlen (vgl. Luft 2016: 9) eine Zäsur, es ist auch jene – gefühlte – Homogenität der Aufnahmestimmung: einer gelebten ›Willkommenskultur‹, die von Medien und Berichterstattungen gestützt, von politischer Seite gelobt, vom Ausland positiv kommentiert wurde. »[For] many political and academic observers the temporarily hegemonic atmosphere of welcome in 2015 came as a surprise. Every major political party, trade union, company, all kinds of associations and the media joined in the welcoming campaign (even the populist and rather right-leaning tabloid »BILD«). The events themselves, and the positive attitude of the government and mainstream media together mainstreamed the movement that already existed.« (Hamann/Karakayali 2016: 73f)

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Im deutschen Kontext von Migration ist der Begriff Willkommenskultur keine neue Schöpfung des Jahres 2015. Der Begriff ist bereits aus der Phase der Gastarbeiter:innenmigration in den 1970er Jahren bekannt. Die Ereignisse von 2015 führten allerdings zu einer Verschiebung der Begriffsbedeutung. Frühere Verständnisse von ›Willkommenskultur‹ waren an Bedingungen geknüpft: sie richtete sich in erster Linie an arbeitsfähige und -willige Migrant:innen (vgl. Hamann/Karakayali 2016, Karakayali 2017a: 7). Es bestand also keine allgemeine, sondern nur eine eingeschränkte ›Willkommenskultur‹. Dies änderte sich mit den Ereignissen von 2015: Willkommen geheißen wurden nun nicht mehr nur ausgewählte Fachkräfte. Die ›Willkommenskultur‹ galt nun (uneingeschränkt) allen. Aus dem Engagement während der Wochen im September 2015 formierte sich später der Verein Münchner Freiwillige – Wir helfen! e.V. (vgl. Haase/Somaskanda 2017). 2019 wurde aus dem Kreise der damaligen Helfer:innen und Organisator:innen ein Handbuch für Spontanhilfe veröffentlicht. Engagement, das unter Spontanhilfe fällt, wird von den Herausgeber:innen des Handbuchs vom institutionalisierten Ehrenamt unterschieden. Was Spontanhilfe im Kern bedeutet, wird im Vorwort des Handbuchs beispielhaft illustriert: »[Vor] 20 Minuten noch auf dem Sofa und nun muss man eine Großgruppe anleiten in einer eher chaotischen Lage, um dazu beizutragen die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.« (Lessig et al. 2019: 3f) Einerseits existiert in Deutschland ein »etabliertes Hilfeleistungssystem, in dem hauptund ehrenamtliche Einsatzkräfte bei Katastrophenlagen zum Einsatz kommen« (ebd.: 5) und insbesondere die Arbeit der Ehrenamtlichen sei eine »tragende Säule des Bevölkerungsschutzsystems« (ebd.). Die Spontanhilfe aber sei etwas anderes. Neben den Haupt- und Ehrenamtlichen seien dies Menschen vor Ort, die spontan beginnen mitzuhelfen (vgl. ebd.). Was Spontanhilfe leisten könne, habe man im September 2015 gesehen. Insgesamt über 40.000 Menschen erreichten innerhalb von drei Wochen München und mussten untergebracht, notversorgt und registriert werden. Dabei halfen neben Behörden, Verwaltung, Polizei, Hilfswerken und -organisationen auch über 6.000 Spontanhelfer:innen. Der Kraftakt konnte tatsächlich, so heißt es weiter, nur mit der Hilfe der Spontanhelfer:innen gemeistert werden (vgl. ebd.: 9). In der Berichterstattung wird von den freiwilligen Helfer:innen, den tausenden Freiwilligen gesprochen – dabei würde, so betonen die Autor:innen es Handbuchs, kaum zwischen denjenigen, die bereits durch vorausgegangenes Engagement in ehrenamtlichen Strukturen eingebettet gewesen seien und jenen unterschieden, die tatsächlich ad hoc reagierten: spontan halfen. Hier läge aber ein wichtiger Unterschied von Spontanhilfe zum institutionalisierten Ehrenamt: Spontanhilfe sei stark ereignisbezogen, von Ereignissen, die unvorhergesehen, spontan und ungeplant eintreten und dazu führten, dass Bürger:innen selbst aktiv würden. Dies geschehe vor einem speziellen Hintergrund: »Sie haben das (eventuell subjektive) Erlebnis, dass die offiziellen Kräfte ›versagen‹ und sie als Bürgerinnen und Bürger selbst anpacken müssen bzw. die offiziellen Hilfskräfte unterstützen müssen, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. […] Mit

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Herstellung eines gewissen Maßes an öffentlicher Ordnung oder Etablierung von offiziellen Regelstrukturen ist das Ereignis abgeschlossen.« (Lessig et al. 2019: 13) Die Autor:innen berichten über die Erlebnisse während der Septemberwochen 2015 und greifen besonders das Thema der Absicherung der Tätigkeit der Spontanhelfenden auf: Entscheidungsbefugnisse, Versicherungen im Schadenfalls oder finanzielle Verantwortung sei in den ersten Momenten nicht geklärt gewesen. Die (versicherungs-)rechtliche Ungewissheit habe die Hilfswilligen nicht von ihren Akten der Spontanhilfe abgehalten: »Wesentlich ist jedoch, dass die meisten Helferinnen und Helfer im Gottvertrauen, schon irgendwie abgesichert zu sein, tätig wurden und gar nicht die Frage nach Haftung stellten. Die meisten werden sich schlichtweg nie gefragt haben, ob etwas passieren könnte, und wer dann haften würde. Es war außerhalb ihres Fokuses [sic!]. Im Austausch mit anderen Spontanhelferinnen und Spontanhelfern haben wir später festgestellt, dass mancherorts Spontanhilfe mit dem Verweis, die tätig werdenden Personen seien nicht abgesichert, verhindert wurde. Dies finden wir ebenso schade wie es falsch ist.« (Ebd.: 17) In ihrem Handbuch versuchen die Autor:innen in Retrospektive eine Einordnung vorzunehmen. Klar sei, dass Spontanhelfende nicht unter das »Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz« (ZSKG) fielen. Durch jenes werden diverse Helfer:innengruppen ausdrücklich definiert: darunter Ehrenamtliche Helfer:innen, freiwillige Feuerwehr, Rotes Kreuz, Menschen, die Wehrdienst leisteten oder für den Zivilschutz freigestellte Personen. Da Spontanhilfe sich durch die ad hoc Aufnahme einer helfenden Tätigkeit auszeichnete, also nicht vorab schon in ehrenamtlichen oder ehrenamtsähnlichen Strukturen eingebettet ist, könne die Definition des ZSKG nicht angewendet werden. Um dennoch eine rechtliche Einordnung für diese Tätigkeit der Spontanhilfe zu finden, empfehlen die Verfasser:innen des Handbuchs Spontanhelfende als Verwaltungshelfen zu kategorisieren (vgl. ebd.: 15). Dies sei insofern passend(er), »da es keinen offiziellen Akt benötigt, als Verwaltungshelferin oder -helfer herangezogen zu werden, wie es bei Beliehenen der Fall wäre. Verwaltungshilfe ist also kein Bestellungsakt, sondern vielmehr ein Realakt. Dies bedeutet, dass durch den formlosen Akt des Tätigwerdens bereits Personen zu Verwaltungshelferinnen und -helfern werden. In dem Moment, wo also beispielsweise eine Person erkennt, dass sie tätig werden muss und beispielsweise mit der Verteilung von Spenden beginnt, in diesem Moment ist sie bereits als Verwaltungshilfe in ihrer Kommune tätig.« (Ebd.: 16) Drei Aspekte werden in dem Fall besonders deutlich. (1) Einmal wird eine Einordnung erst im Nachgang vorgenommen: die Tätigkeiten, Handlungen, das Helfen in dem Fall, wird erst im Nachgang reflektiert und der Versuch unternommen es in bestehende Ordnungssysteme einzuordnen. Der Umstand, dass die Spontanhilfe erst einmal gar nicht klar eingeordnet werden konnte (kann), hat nicht (überall) davon abgehalten zu handeln: in einem »Gottvertrauen schon irgendwie abgesichert zu sein« (ebd.: 17) habe man geholfen. (2) Gleichzeitig habe der Umstand, dass die Tätigkeit nicht eingeordnet und damit abgesichert sein konnte, auch dazu geführt, dass nicht geholfen wurde. Zu irgendeinem

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Zeitpunkt kam früher oder später die Frage auf: wo ordnet sich die Tätigkeit eigentlich in die gegebenen Ordnungssysteme ein? Und wo Widerstand aufgrund der Nicht-Einordnung groß genug war, wurde die Hilfsbereitschaft ausgebremst oder gar eingestellt. (3) Es sind die Helfenden selbst, die diese Überlegungen der ›Einordnung‹ ihrer Tätigkeiten vornehmen. Es wird ihnen nicht von außen auferlegt. Sie haben das ›EinordnenMüssen‹ gewissermaßen verinnerlicht: Michel Foucault spricht in solchen Fällen auch von internalisierter Kontrollmacht (vgl. Foucault 1993). Sie sind selbst diejenigen, die die Verbindungsarbeit (hybride) leisteten und diejenigen, die organisierten und ordneten (vgl. Latour 2015a). In den Fällen, in denen die Tätigkeit realisiert wurde, obgleich die rechtliche Einordnung nicht geklärt war, wird ein Auseinanderfallen zwischen Recht und Realität deutlich: auf der einen Seite stehen Strukturen und Praxen der Ordnung, der Ordnungsschaffung, der Regulierung und Rahmung und auf der anderen Seite sehen wir die Arbeit der hybriden Akteur-Netzwerke, die verbinden und assoziieren (vgl. ebd.). Spontanhilfe wird damit zu einem Ereignis, das erst einmal nicht rechtlich normiert und reguliert ist, trotz allem aber 2015 realisiert wurde. Im Nachgang aber begannen die Akteure (die Verfasser:innen des Handbuchs) die Tätigkeit doch in die vorhandenen Strukturen einzuordnen. Im Moment der Spontanhilfe, für die charakteristisch ist, dass sie nicht vordefiniert, vorstrukturiert und bereits in Strukturen eingebunden ist, fallen Ordnungsstruktur (in dem Fall rechtliche Einordnung) und Realität (das Ereignis selbst) auseinander. Die Helfenden sind nicht formalrechtlich nicht abgesichert. Sie werden dennoch in einem »Gottvertrauen, schon irgendwie abgesichert zu sein« (Lessig et al. 2019: 17) tätig. In diesem Moment des trotzdem Tätigwerdens lassen sich mehrere Elemente von Giorgio Agambens Ausführungen zum Ausnahmezustand und Homo Sacer feststellen. Rechtsgültigkeit und Rechtskraft fallen in dem Moment der Spontanhilfe auseinander, wenn helfende Tätigkeit – z.B. im institutionalisierten Ehrenamt – durchaus abgesichert ist, aber in diesem konkreten Fall der Spontanhilfe auf diese Absicherung nicht zurückgegriffen werden kann. Die Helfenden befinden sich in einem Zustand von Unsicherheit: sie sind schutzlos. Es ist ein Moment, der sich als Ausnahmezustand de facto präsentiert. Und im Ausnahmezustand erscheint die Figur des Homo Sacer, der von Agamben als schutzlos ausgeliefert charakterisiert wird (vgl. Agamben 2022 und 2004). Dabei sind die Helfenden nicht etwa hilf-los in ihrer Schutzlosigkeit. In ihrem ›Gottvertrauen‹ berufen sie sich auf eine andere Instanz, die zum Schutze angerufen wird: ein grundlegendes Verständnis von Nächstenliebe und einem (christlichen) Hilfsgebot im Angesicht der Not. Der Mangel des Schutzes und der Absicherung der Tätigkeit der Helfenden wurde im Moment der Spontanhilfe 2015 schon durch die Akteure selbst festgestellt. So wurde bereits vor Ort versucht diesen Mangel anderweitig zu kompensieren. In diesem Falle wird die Schutzverantwortung auf die Individuen (zurück) geschoben: »Die Menschen sind häufig aus eher selbstlosen und solidarischen Motiven Spontanhelferin oder Spontanhelfer. Man überzeugt sie nicht dadurch auf Arbeitsschutz zu achten, indem man an ihren Selbstschutz appelliert, als vielmehr an ihr Mitgefühl.« (Lessig et al. 2019: 45)

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Eine Strategie derjenigen, die die Spontanhelfer:innen organisierten und koordinierten sei es gewesen, an deren Mitgefühl gegenüber den anderen Helfenden zu appellieren: die anderen Helfenden verzichteten auf Familienabende und kämen nach stressigen Arbeitstagen und bei schlechtem Wetter extra vorbei um zu helfen: »Willst Du wirklich, dass wir Anna heimschicken müssen, obwohl sie alles richtig gemacht hat, nur weil Du jetzt nicht deine Weste abgeben willst?« (ebd.: 44). Dies sei effektiver gewesen, als Helfende darauf hinzuweisen sich nicht selbst auszubeuten und gegenüber sich selbst auf Arbeitsschutz zu achten. Ein weiterer Aspekt, in dem sich Spontanhelfende von Ehrenamtlichen unterschieden, seinen Regelmäßigkeit und Routine des Engagements: für ein normales Ehrenamt hätten Spontanhelfende in ihrem Alltag oftmals keinen Platz. Aufgrund diverser Lebensumstände (Umzug, Familienplanung, Jobwechsel usw.) könne »man sich nicht fest an eine Organisation regelmäßig binden« (Haase/Somaskanda 2017: 1). Dies hieße aber nicht, »dass diese Menschen nicht gesellschaftlich aktiv sein und Gesellschaft gestalten« (ebd.) wollten: »2015 gab es einfach die Möglichkeit für jeden, spontan ungebunden aktiv zu werden und auch in wenigen Stunden einen sehr sinnvollen Beitrag zu leisten« (ebd.). Dies Phänomen der spontanen Hilfe blieb allerdings nicht auf München und Bayern beschränkt: »Allein in München helfen geschätzt siebentausend Menschen. Der Glücksrausch der guten Tat steckt an, erfasst mehr und mehr Bürger. Zuerst in München, Köln, Düsseldorf, dann in allen anderen Großstädten, Kreisstädten, Kleinstädten – als hätten viele jahrelang nur darauf gewartet, endlich helfen zu dürfen.« (Eckardt 2017: 38) Das Engagement der Hilfswilligen endete auch nicht im Herbst 2015. Helfende begleiteten in den folgenden Jahren Geflüchtete im Prozess des Ankommens und Einfindens in Deutschland: Sie engagierten sich im Rahmen von Sprachkursen, beim Fahrservice, begleiteten Geflüchtete bei Behördengängen und halfen bei der Suche nach Kinderbetreuung und Wohnungen. 2015 waren mehr als zehn Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung in irgendeiner Weise in über 15.000 neuen Projekten, Initiativen und Helferkreisen auf allen Ebenen der Geflüchtetenhilfe aktiv (vgl. Detjen 2020). Die Journalistin Ann-Kathrin Eckardt spricht vom überwältigenden Aktionismus der Hilfsbereiten (Eckardt 2017: 39) und Karin Göring-Eckardt (die Grünen) ergänzte 2015: »Wir sind plötzlich Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Menschenliebe« (Karin Göring-Eckardt 2015). Die ›Welle der Flüchtenden‹ wurde von einer »Welle der Solidarität« (Niebergall 2016) beantwortet. Die gesehene Hilfsbereitschaft sei nicht selbstverständlich, so die Journalistin Eckhardt: »Das Ehrenamt muss zur Tradition eines Landes gehören. Ohne bereits bestehende Strukturen verhallt der Hilferuft im Nichts« (Eckardt 2017: 41). Für sie lässt sich die ›Willkommenskultur‹ von 2015 auf zwei wesentliche Elemente zurückführen. Zunächst auf ein Selbstverständnis des Bürgertums: »Wer an den Dingen der Stadt keinen Anteil nimmt, ist kein stiller, sondern ein schlechter Bürger« (ebd.: 42). Das in der christlichen Lehre verankerte Gebot der Nächstenliebe bildet bei Eckhardt den zweiten wesentlichen Aspekt (vgl. ebd.).

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Die Publizistin und Historikerin Marion Detjen gründete im Zuge ›Wir schaffen das‹-Euphorie ein Aktionsbündnis: Wir machen das9 (vgl. Detjen 2020: 1). »Dies alles geschah getragen vom Mainstream. Aber es geschah auch in dem Zeitgefühl, etwas völlig Neues, einen radikalen Anfang zu erleben. Es herrschte eine merkwürdige Euphorie. Begegnungen, Beziehungen auf Augenhöhe fanden statt. Es wurde nicht nur geholfen, sondern geteilt.« (Ebd.) Damit es überhaupt dazu kommen konnte, war eine »vorübergehende Ausnahmesituation« (ebd.) notwendig. In eben dieser Ausnahmesituation erschien es »im Bereich des Möglichen, das ›Migrationsregime‹ insgesamt zu revolutionieren« (ebd.). Der revolutionäre Geist, der durch die Flüchtenden aus den Umbrüchen des arabischen Frühlings 2015 nach Deutschland kommen sollte, brachte in jenem Moment (demokratischen) Aufbruchs auch die Möglichkeit mit sich eine »neue Ordnung zu erreichten« (ebd.: 1). Fünf Jahre nach dem langen Sommer der Migration zieht Detjen eine Bilanz darüber, was von der ›Willkommenskultur‹ geblieben sei. Einerseits hätten sich Bündnisse, Netzwerke und entstandene Strukturen zunehmend institutionalisieren können, darunter beispielsweise neu gegründete Verein, wie Wir machen das oder Münchner Freiwillige – wir helfen e.V. Auch bleibe die Furcht und das Wissen darüber, dass aller Grund bestehe sich zu fürchten (vgl. Detjen 2020, Arendt 1963). Die Erfahrung, die 2015 in Deutschland gemacht wurde, hinterließ Spuren. 2015 wurde Deutschland mit der eigenen Realität konfrontiert, als der lange Sommer der Migration tausende Flüchtende ins Land brachte. Die Ereignisse hinterließen materielle Spuren (siehe Kapitel 1.2.3) und die Möglichkeit, dass das, was einmal passierte, noch einmal geschehen könnte (vgl. Detjen 2020). Was außerdem bliebe, sei eine Melancholie, die gerade die Momente des Scheiterns begleitete, die dem revolutionären Bewusstsein eingeschrieben sei (vgl. Detjen 2020, Habermas 1989): »Für kurze Zeit hatten wir erfahren, dass unsere private Person und unsere öffentliche Person in eins fallen dürfen […]« (Detjen 2020). Zum Abschluss ihrer Reflektion bemüht Marion Detjen Hannah Arendt: »Und der Schatz war nicht mehr und nicht weniger als er selbst, dass er ›sich selbst gefunden‹ habe, dass er sich nicht mehr der ›Unaufrichtigkeit‹ verdächtigte, dass er keine Maske und keine Schauspielerei brauchte, um zu erscheinen, dass er, wo immer er hinkam, den andere und sich selbst als der erschien, der er war, dass er es sich leisten konnte, ›nackt zu gehen‹.« (Detjen 2020 nach Arendt 1963)

2.2.4 Ermüdung der Helfenden Das Jahr 2015 endete mit der Silvesternacht 2015/2016: »Hunderte Frauen wurden an Silvester 2015/2016 in Köln sexuell bedrängt und angegriffen. Die Schreckensnacht veränderte Deutschland – politisch und gesellschaftlich« (Bosen 2020). 661 sexuelle Straftaten wurden im Nachgang gemeldet, 1210 Strafanzeigen erstattet, davon 511 wegen sexueller Übergriffe und 28 Fälle versuchter oder vollendeter Vergewaltigung wurden verzeichnet

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(vgl. ebd.). Verdächtigt und in der Folge festgenommen, wurden unter anderem »zahlreiche Ausländer und Asylbewerber aus muslimischen Ländern, die sich erst kurze Zeit in Deutschland [aufhielten]« (Deutsche Welle 2016). Stimmen nach einem Wechsel in der Flüchtlingspolitik wurden lauter. Im März 2016 wurde das neue Asylpaket II beschlossen, das die Ausweisung ausländischer Straftäter erleichtern und beschleunigen sollte (vgl. Bose 2020). Und die Journalistin Ann-Kathrin Eckardt beobachtete: »Die Willkommenskultur scheint in diesen Tagen zusammenzuschrumpeln, wie ein alter Luftballon« (Eckardt 2017: 184). Die Stimmung, in den Sozialen Medien und in der Medienberichterstattung der Leitmedien, schien zu kippen. Doch »auch wenn die Willkommenskultur inzwischen nicht mehr so euphorisch praktiziert, wird: Flüchtlingssolidarität ist nach wie vor eine breite soziale Bewegung« (ebd.: 192). 2015 war von der ›Wir schaffen das‹-Euphorie bestimmt. Doch schon mit dem Start ins Jahr 2016 zeichnete sich ein anderes Bild ab: »Irgendwann ist die kollektive Euphorie also weg, das Chaos legt sich, und mit etwas Abstand wird deutlich: Flüchtlinge sind nicht die besseren Menschen und Helfer keine Engel. Auch sie […] machen Fehler« (ebd.: 71). »Schön war’s, das Sommerrefugeemärchen. Flüchtlinge wurden an den Bahnhöfen mit Applaus und Schokolade begrüßt. Die Kanzlerin appellierte an die ›deutsche Flexibilität‹ und rief ihrem Volk zu: ›Wir schaffen das.‹ […] Doch die schöne Zeit ist womöglich schon wieder vorbei, die Realität holt uns ein. Und sie ist grausam: Das Land ist in weiten Teilen auf die Zahl von Menschen, die da kommen, schlicht nicht eingestellt – weder mental noch organisatorisch.« (Nelles 2015) Enttäuschung stellte sich ein. Viele Helfer hätten gehofft innerhalb von einem Jahr mehr erreicht zu haben und dann stellten sie fest: »Ein Jahr ist vorbei, und es gibt keine sichtbaren Erfolge« (Eckardt 2017: 71). Auch verstünden einige Helfende nicht, »dass für Flüchtlinge jetzt nicht alles gut ist, nur weil sie hier sind« (ebd.). Oft kämpften die Geflüchteten mit traumatischen Erfahrungen, die sich in ihren Heimtaländern und auf der Flucht erleben mussten. Hinzu käme fehlende Abgrenzung der Helfenden und neben ›Helfersyndrom‹ spielte auch oft eine »Macher-Attitüde« (ebd.: 72). eine Rolle. 2017 mehrten sich die Berichte über Auflösungen von Helferkreisen: »Krisenstimmung bei den Schrobenhausener Helferkreisen: Weil sie an bürokratischen Vorgaben scheitern, erleben Ehrenamtliche wieder und wieder, dass sie umsonst um die Zukunft eines Flüchtlings gekämpft haben. Jetzt schlägt auch die Stadt Alarm.« (Petry 2017: 1) »Vor zwei Jahren konnten Flüchtlingsinitiativen sich kaum retten vor Menschen, die helfen wollten. In den vergangenen Monaten ist die Hilfsbereitschaft zurückgegangen – dabei werden Ehrenamtler jetzt dringend benötigt« (Klein 2017: 1), hieß es 2017. In den beiden Vorjahren habe es noch Wartelisten mit hunderten Hilfswilligen gegeben, mittlerweile seien aber viele abgesprungen. Helfer:innenkreise und Initiativen müssten mittlerweile proaktiv Werbung machen, um neue Engagierte zu finden. Die Journalistin Rahel Klein berichtete aus Kreisen der Organisierenden. Man beobachte neben der Tendenz, dass sich Menschen lieber projekt-orientiert engagierten eine

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zweite Verschiebung: Während es 2015 noch zum guten Ton gehörte sich (für Geflüchtete) zu engagieren, habe sich die Bewertung in der Gruppe der Helfenden verschoben. In dem Moment, in dem das Engagement politisch(er) werde, scheine es auch innerhalb der Gruppe kritischer betrachtet zu werden (vgl. ebd.). Zudem führten »Hassmails, volksverhetzende oder menschenverachtende Kommentare« (ebd.), die sich gegen die Helfenden richteten, ebenso zum Rückgang der Bereitschaft. Auch während des Workshops des bayrischen Flüchtlingsrates im Mai 2017 berichteten Teilnehmer:innen vom Rückgang des Engagements: Anfeindungen und Drohungen, die meist anonyme in Briefkästen landeten seinen Gründe für Helfer:innen mit dem Engagement aufzuhören (vgl. FB220517). Sachbeschädigung, eingeschlagene Fensterscheiben und (versuchte) Brandstiftung sei auch schon vorgekommen – dies eskalierte teils sogar bis zu tätlichen Übergriffen (vgl. Klein 2017: 1). Die Reaktionen der Engagierten auf derartige Anfeindungen und Drohungen fielen dagegen sehr unterschiedlich aus: »Das reicht von Wut, aber auch Angst, bis hin zu noch größerer Entschlossenheit, das Engagement fortzusetzen.« (Ebd.) Im Gegensatz zu der Berichterstattung Rahel Kleins, wurde das zunehmend politische Engagement der Helfenden von den Teilnehmer:innen des Workshops allerdings nicht als problematisch erachtet. Internationale Beobachter:innen sprachen im Rückblick auf die Jahre vor 2020 von eintretender Compassion Fatigue: »Some nationalist politicians have attempted to use the crisis to stir up support. In general, sympathy for the plight of those coming up the Balkan Route appears to have declined. People are protesting against asylum centres and compassion fatigue has taken root.« (De Launey nach Evans 2020). Die beklagte ›Ermüdung der Engagierten‹ wurde 2017 schon von Wissenschaftler:innen des BIM (Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung) aufgegriffen. Die Untersuchung richtete sich auf die »oftmals angenommene Ermüdung der Ehrenamtlichen in Willkommensinitiativen« (Hamann et al. 2017: 12). Diese ›Ermüdung‹ wird dabei am Rückgang der Helfer:innenzahlen, an beklagenden Aussagen der Helfenden und der medialen Berichterstattung festgemacht. Berichte darüber, dass Helferkreise von Mitgliederschwund gezeichnet sind, ihre Aktivitäten einstellen oder ständig auf der Suche nach neuen Mitgliedern sind, die bereit wären verschiedene Aufgaben im Bereich der Begleitung Geflüchteter wahr- und überzunehmen, zeichneten ein einschlägiges Bild. Das Jahr 2018 war nicht nur das Jahr in dem Angela Merkel ihre vierte – und letzte – Amtszeit als Bundeskanzlerin antrat. Es ist auch das Jahr, in dem die Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag vereinbarte Zentren für Ankunft, Entscheidung, Rückführung (AnkER-Zentren) einzurichten. In diesen Zentren sollten Geflüchtete untergebracht werden, deren Asylanträge eine geringe Chance auf einen positiven Entscheid haben: Geflüchtete mit »geringer Bleibeperspektive« (bay. Flüchtlingsrat). Die ersten AnkErZentren wurden im August 2018 in Bayern eröffnet (vgl. Glas et al. 2018). In den AnkEr-Zentren sollen alle für die Entscheidung über Asylanträge relevanten Akteure an einem Ort versammelt werden, um die Verfahren zu beschleunigen und effizienter zu gestalten. Hilfsorganisationen und Engagierten kritisieren bis heute die Isolation der Geflüchteten in den AnkER-Zentren und den erschwerten Zugang für Helfer:innen.

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Aus diesem Grund haben der Bayrische und Münchner Flüchtlingsrat Anker Watch10 gegründet. Ein Internetblog, auf dem Berichte aus den AnkER-Zentren veröffentlicht werden, um das Geschehen in den Zentren sichtbar(er) zu machen. Pro Asyl spricht in dem Kontext auch von »staatlich angeordneter Integrationsverhinderung« (Klöckner 2018). Und auf einem Asylgipfel am 9. Februar 2019 in Nürnberg berichteten Geflüchtete von ihren persönlichen Erfahrungen in AnkER-Zentren: Sie berichteten von psychischer Belastung durch Isolation und dem massiv erschwerten Zugang zu medizinischer und psychotherapeutischer Versorgung. Es gäbe keine oder nur unzureichende Kinderbetreuung und im Falle von Schäden in der Unterbringung werde Geflüchteten, die handwerklichen Reparaturen an den Gebäuden selbst durchführen könnten, der Zugang zu notwendigen Werkzeugen untersagt.

2.2.5 Die ›Flüchtlingskrise‹ und die Momente des Scheiterns Krisen haben Hochkonjunktur: von Wirtschaftskrisen, zu Finanz-, Banken- und Eurokrise, zur Umweltkrise, über familiäre Krisen, Identitätskrisen, psychische Krisen, bis zur Gesundheitskrise und drohenden Bildungskrisen. Selbst die einstige »Umbruchsbzw. Krisenwissenschaft« (Schäfers 2018: 245), die Soziologie, bleibt von ihrer eigenen Krise nicht verschont (vgl. Preunkert 2011). Unter einer Krise wird zunächst ein Ergebnis verstanden: ein nun erreichter Zustand einer Situation, dem unterschiedliche Entwicklungen vorausgegangen sind. Aus einem Zustand der Nicht-Krise wird ein Zustand der Krise, der als problematisch und nicht wünschenswert bewertet wird. Eine Krise wird markiert durch ein »plötzliches Auftreten massiver Probleme« (Reinhold 2000: 370). Krisen werden von einem ambivalenten Charakter begleitet: sie geben sich den Anschein eines plötzlichen und unerwarteten Auftretens. Gleichzeitig suggerieren die Analysen vergangener Krisen eine scheinbar lineare, kausale Kette von Ereignissen und Wendungen, von der ausgegangen wird, dass sie zur Krise führten. Etwas, das im ersten Moment wie ein Paradox erscheint, das aber nicht aufgelöst werden kann oder muss. Aus Perspektive Edgar Morins kann eine Krise sowohl plötzlich als auch unerwartet erscheinen. Die Krise markiert einen Moment des Überschreitens von Grenzen. Grenzen, die in dem Moment ihres Überschreitens deutlich werden. Krisen verweisen also auf ein Limit: eine Limitation, eine Be-Grenzung von Möglichkeiten oder Kapazitäten. In Krisen müssen nun »unter Zeitdruck schwierige Probleme der Anpassung, der Koordination und ggf. der Strukturveränderung und Systemerhaltung« (Schäfers 2018: 245) gelöst werden. Der Begriff Krise lässt sich aus dem Griechischen krisis ableiten, was übersetzt Wettstreit, Entscheidung oder entscheidende Wende bedeutet (vgl. Schäfers 2019: 245) bedeutet. Mit Krisen werden Wendepunkte markiert (vgl. Solty 2021: 671): sie deuten auf einen disruptiven Wandel hin und ihnen liegt ein Moment der Entscheidung inne. Eine Krise ruft zum Aktionismus und zur Re-Aktion auf. Krisen sind Momente und Situationen, die die Möglichkeiten auszuweichen beschränken, indem beispielsweise im Falle der Klimakrise die Kosten des Ausweichens exorbitant hoch werden können.

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https://www.anker-watch.de/

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Der Begriff Krise wird auch mit dem Begriff der Katastrophe in Verbindung gebracht. Eine Katastrophe bringt immer auch ein Risiko und eine Bedrohung (für das System, die Ordnung, aber auch das Leben) mit sich (vgl. Preunkert 2011: 434f). Katastrophen gehen einher mit dem Zusammenbruch von Strukturen, der Zerstörung von Lebensräumen, Gebäuden und Besitz und bedrohen womöglich das (nackte) Leben. Als real-empirisches Phänomen sind Krisen nicht wegzudenken: denn »Krisen im Kapitalismus [sind] bekanntlich nichts Ungewöhnliches, sondern für diesen, im Gegenteil, notwendig« (Graefe 2019: 17). Die Soziologin Stefanie Graefe spricht auch vom systemischen und transformativen Charakter der (modernen) »Vielfachkrise« (Graefe 2019: 17), die für den Kapitalismus als wiederkehrender Impuls für Erneuerung und gleichzeitig Stabilität der Re-/Produktionsweisen notwendig ist, allerdings, entgegen der oberflächlichen Konnotation einer Krise, keinen echten »systemüberwindenden Charakter« (Graefe 2019: 17, Herv. dort) besitzt. Aus dieser Perspektive führen Krisen nicht etwa zu einer Anpassung und Erneuerung und stellen keine wirkliche Überwindung gesellschaftlicher Strukturen und Verhältnisse in Aussicht. Vielmehr führten Krisen heutzutage zu einer Re-Stabilisierung und Verfestigung bestehender Ordnungen, die nur scheinbar von Krisen bedroht werden. So haben Krisen eher verstärkenden Effekt auf bestehende Ordnungen, die im Angesicht der Krisen herausgefordert werden, ihre bestehenden Strukturen zu festigen und damit widerständiger zu machen. Im alltäglichen Gebrauch inflationär genutzt, vieldeutig verstanden, politisch und medial instrumentalisiert, besitzt der Begriff zunächst eine »Signalwirkung« (Preunkert 2011: 439), aber keine »theoretische Unterfütterung« (ebd.). Der Begriff bringt eine analytische Unschärfe mit sich, kann soziologisch trotzdem aber wertvoll sein: als Signal der Akteur(-Netzwerke). Denn sie markieren durch den Gebrauch des Begriffs besondere Situationen: Situationen, die es wert sein könnten, genauer betrachtet zu werden. Krisen sind nicht von sich aus: sie werden. Sie entstehen nicht aus sich heraus, sie werden festgestellt: wenn, wo und wann Krise ausgerufen wird, passiert etwas, das für eine ausreichend hohe Zahl an Akteur(-Netzwerken) von Bedeutung zu sein scheint. Krisen fordern Aufmerksamkeit, denn »eine Krise, die niemand als solche erkennt, ist keine« (Graefe 2019: 18). Das Ausrufen einer Krise kann auch »als politischer Kampfbegriff verwendet werden, der Handlungsdruck erzeugen und Durchsetzung politischer Ziele erleichtern soll« (Luft 2016: 8). In dieser Lesart lässt sich eine gewisse Verwandtschaft der Krise und des Ausnahmezustandes erkennen: wenn in einer sich ereignenden Katastrophe eine ›Krise‹ festgestellt wird und mit ihrer Feststellung die Legitimationsbasis geschaffen wird einen (politischen) Ausnahmezustand auszurufen, der wiederum Handlungsfähigkeit (von beispielsweise Staaten) wieder herstellen soll. Dabei dient der realpolitisch beschlossene Ausnahmezustand dazu mit nun möglichen Mitteln und Maßnahmen den eigentlichen Normalzustand und die Ordnung wieder herzustellen (vgl. Agamben 2004: 41). In dieser realpolitischen Fassung verweist der politische Ausnahmezustand zurück auf einen SollZustand, der als Kontrast zum aktuell erlebten Ausnahmezustand als etwas imaginiert wird, das zuvor existierte: Ordnung. Die Erzählung der ›Flüchtlingskrise‹ von 2015 beginnt nicht mit den Bildern des toten Alan Kurdi. Sie beginnt auch nicht mit Merkels ›Wir schaffen das!‹ und nicht mit dem #marchofhope in Ungarn. Menschen flüchteten schon vor dem Jahr 2015 aus ihren

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Heimatländern und machten sich auf den Weg nach Europa. Zwischen 1994 bis 2014 starben über 30.000 Menschen auf ihrem Weg nach Europa und die Aufnahmelager an den EU-Außengrenzen waren schon vor 2015 überfüllt (vgl. Schiffer-Nasserie 2016: 1). 2009 wurden etwas über 33.000 Anträge auf Asyl gezählt, 2013 sind es über 125.000 Anträge, 2014 über 200.000 (vgl. BAMF 2014). Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière spricht im Sommer 2015 derweil von einer »drastischen und nicht vorhersehbaren Entwicklung«, betont aber auch: »Überfordert ist Deutschland mit dieser Entwicklung nicht. Wir kriegen das hin« (vgl. DIE ZEIT 2015). Von einer ›Krise‹ ist in dem Moment (noch) nicht die Rede: zumindest nicht in Deutschland. Es sind nicht die Lebensumstände, aus denen Menschen flüchten, es sind nicht die gefährlichen Fluchtrouten und es ist nicht das humanitäre Leid, von dem in (sozialen) Medien die Rede ist, was als Krise bezeichnet wird: Es ist die Zahl der zu erwartenden Ankommenden, was Europas Regierende im Zuge des langen Sommers der Migration 2015 mit einem Mal von ›Krise‹ sprechen lässt (vgl. Schiffer-Nasserie 2016). Die Zahl von 800.000 Flüchtenden auf dem Weg nach Deutschland soll schlussendlich die Zahl sein, die die Situation über die Schwelle hebt, die Zahl, die die ›Krise‹ einläutet, die Zahl, die den Moment der Wende markiert. Dabei ist es nicht die Zahl, die die Krise auslöst. Die Situation zur Krise werden lässt oder etwas an der Gesamtsituation maßgeblich änderte. Mit ›Flüchtlingskrise‹ ist nicht etwa allgemein die prekäre Situation Flüchtender weltweit gemeint. Es ist die ›europäische Flüchtlingskrise‹ oder die ›Flüchtlingskrise Deutschlands‹ von 2015 damit gemeint. Es handelt sich also um eine ver-ortbare Krise: sie findet in Europa, in der EU und in Deutschland statt. Von ›Flüchtlingskrise‹ wurde erst gesprochen, als sie Europa erreichte. Sie fand nicht (mehr) ›irgendwo anders‹ (somewhere, anywhere) statt: sie war nun hier. Die Erzählung der ›(europäischen) Flüchtlingskrise‹ beginnt 2011. Die Vorbereitung reicht bis zum Arabischen Frühling zurück, der als Schlüsselmoment durch wiederholte Referenz stabilisiert und zu einem Anker der Narration wird: »Der lange Sommer der Migration lässt sich zugespitzt als Krisenkonstellation beschreiben, die in zweifacher Weise aus den Aufständen des Arabischen Frühlings resultierte« (Hess et al. 2017: 9). Der Zusammenbruch der nordafrikanischen und vorderasiatischen Diktaturen markiert auch das Scheitern des europäischen Grenzregimes, das vor 2011 und im Nachgang terroristischer Anschläge seit 2001 beständig ausgedehnt – externalisiert – wurde (vgl. Campesi 2011: 1). Das Grenzregime wurde wie eine Art Burgraben um die ›Festung Europa‹ – von Mauretanien im Westen bis Bahrain im Osten – gezogen und teilweise bis hinein in die Herkunftsstaaten Flüchtender ausgedehnt. In der Zeit vor den revolutionären Umstürzen in der Region waren die als »extrem stabil« (Jünemann/Zorob 2013: 11) geltenden arabischen Autokratien unterstützt worden, wodurch europäische Sicherheitsund Wirtschaftsinteressen verfolgt und den Mittelmeerraum möglichst konfliktarm gestaltet werden konnte. Zur Stärkung der europäischen Außengrenze wurden Akteure, wie beispielsweise FRONTEXT eingesetzt. Die nordafrikanischen und vorderasiatischen Drittstatten wurden gewissermaßen zu Teilen des EU-Kontrollregimes: womit die eigentliche Grenze externalisiert, d.h. nach außen verschoben wurde (vgl. Hess et al. 2017: 9). Zwar blieben die Nationalstaatsgrenzen gleich, die Grenzen fanden allerdings nicht an ihrer geographischen Verortung statt: sie wirkten bis in die angrenzenden Staaten hinein.

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Der Arabische Frühling markiert – neben anderem – auch das Scheitern dieser europäischen Strategie (vgl. ebd.: 8f). Die zweite Entwicklung ist eine Art »demokratischer Aufbruch« (ebd.: 9), der eben durch die Flucht der Flüchtenden räumlich und körperlich (vgl. u.a. Agamben 2015, Hess et al. 2017) gebunden, realisiert und verortet wird.

2.3 Die Versammlung eines Forschungsfeldes Im vorausgegangenen Kapitel konnten wir den Spuren der Akteure bei ihren Gruppenbildungen und Versammlungen folgen und entlang Verschiebungen an Kontroversen und entlang den Dingen von Belang nachzeichnen. Besonderer Fokus lag in der vorausgegangenen Kartografie der Spuren der Akteure auf den Akteursgruppen der (Spontan-)Helfer:innen, Ehrenamtlichen und Koordinator:innen. Die Helfer:innen werden auch als die »Gelingenbedingung für den Aufnahme- und Integrationsprozess« (Speth/ Becker 2016: 43f) bezeichnet. Daneben gibt es noch eine weitere Gruppe, die in der ANT-Kartografie der empirischen Orientierung auftauchte, sich aber nicht als Gruppe innerhalb der Akteur-Netzwerke offenbarte: die Gruppe der Wissenschaftler:innen, die ebenso wie Medien, Politik und Zivilgesellschaft das Geschehen 2015 beobachteten, dokumentierten und besprachen. Und in ihrem Tun, wie wir im kommenden Teil sehen werden, beschränkten sich die wissenschaftlich tätigen Akteure nicht nur darauf die Ereignisse zu erforschen, zu analysieren, einzuordnen und Ergebnisse zu präsentieren. Sie selbst waren Teil der Akteur-Netzwerke, die das Geschehen begleiteten und mitgestalteten. Die Migrationsforscher Bernd Kasparek und Marc Speer, die auf der Homepage des Vereins bordermonitoring.eu (Gründung 2011) 2015 einen Beitrag unter dem Titel Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration veröffentlichen sind aus dem vorausgegangenen Kapitel bereits bekannt. In ihrem Beitrag halten sie berichterstattend die Ereignisse der Sommermonate entlang der Balkanroute 2015 fest. Die Historikerin und Publizistin Marion Detjen, die 2020 ihre Überlegungen zur Willkommenskultur veröffentlichte, lehrt und arbeitet am Bards College Berlin. Beide exemplarischen Beiträge zum langen Sommer der Migration und der Willkommenskultur werden kaum konventionellen Maßstäben wissenschaftlicher Forschungspublikationen gerecht. Sie wurden deswegen nicht weniger von Akteuren verfasst, die auch wissenschaftlich im Feld tätig sind. Sie erscheinen als Hybride und wie wir eingangs im Kapitel 1.1.2 mit Bruno Latour feststellen konnten: »in Ermangelung eines Besseren nennen wir uns Soziologen, Historiker, Ökonomen, […]« (Latour 2015a: 9). Wissenschaftler:innen waren ebenso wie Koordinator:innen hybride Akteure und immer schon eingebunden in Akteur-Netzwerke. Und während sie ordnenden, sortieren und trennenden Tätigkeiten nachgingen, bildeten sie gleichzeitig ständig (neue) Verbindungen. Genauso wie die Koordinator:innen, die wir im letzten Abschnitt begleiteten und deren Erfahrungen wir aufgenommen haben, die zwischen Privatpersonen und Verwaltungsposition und die die eigenen, persönlichen Einstellungen von den Verpflichtungen und Erwartungen anderer beständig trennen (lernen) mussten, zeigt sich im folgenden Abschnitt die gleiche Gleichzeitigkeit im Tun der wissenschaftlichen Akteur-Netzwerke. Sie trennen, ordnen und organisieren, sie verbinden und bauen

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Zusammenhänge auf und werden durch ihre Eingebundenheit in Akteur-Netzwerke, die sich nicht auf die wissenschaftlichen Diskurse allein beschränken, ständig dazu aufgefordert ihre Verständnisse von Wissenschaftlichkeit und ihren Objektivitäts- und Neutralitätsanspruch auf den Prüfstand zu stellen. Es sind nicht nur die Helfer:innenkreise, die 2015 »wie Pilze aus dem Boden geschossen« (vgl. FB220517) sind. Auch Forschung im Bereich FluchtMigration11 erfährt einen regelrechten Boom (vgl. Kleist 2019: 15). Vor diesem Hintergrund startete 2016 ein vom BMBF gefördertes Verbundprojekt unter dem Namen Flucht: Forschung und Transfer (FFT). Aufgabe des Projekts sollte es sein, die unterschiedlichen und vielfältigen Forschungsaktivitäten zum Feld FluchtMigration im deutschsprachigen Raum zusammenzutragen und eine Bestandsaufnahme des Forschungsfeldes vorzunehmen. Einen Beitrag zur besseren Vernetzung der Forschungsstandorte und -projekte zu leisten, waren neben der Bündelung des bereits produzierten Wissens, um das Risiko von Mehrfachforschung zu reduzieren, weitere Aufgaben, mit denen das Projekt betraut wurde. Außerdem sollten Erkenntnisse aus der Forschung über den (rein) wissenschaftlichen Diskurs hinaus in Politik, Administration, Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit getragen werden (Stichwort: Transfer) (vgl. Kleist et al. 2019). Wie auch die Erzählung der ›Krise‹ – wie wir bereits im letzten Abschnitt (Kapitel 2.2: Empirische Orientierungen) gesehen haben – nicht erst mit der Ankunft der Geflüchteten im Herbst 2015 begann, beginnt auch die Formierung des Forschungsfeldes nicht erst 2015: »Die Ereignisse von 2015 waren noch nicht abzusehen, doch die Vertreibungskrise in Syrien gab dem Thema in der Öffentlichkeit bereits Aufmerksamkeit und die Bundesregierung implementierte in dem Jahr [2013] ein humanitäres Aufnahmeprogramm für syrische Flüchtlinge.« (Kleist 2019: 15) Das Jahr 2013 sollte, so der Migrationsforscher Olaf Kleist, einen »Neubeginn« (Kleist 2019: 15) in der deutschen Forschungslandschaft markieren. 2013 ist das Jahr, in dem sich das Netzwerk Fluchtforschung (damals noch unter dem Namen: Flüchtlingsforschung) im Zuge einer Tagung zum 20. Jahrestag des Inkrafttretens der Asylrechtsreform von 1993 in Berlin gründete (vgl. Kleinschmidt 2013). Drei Jahre später, im Oktober 2016, organisierte das Netzwerk seine erste eigene Konferenz in Osnabrück (vgl. Rischke/ Freudberg 2017). In diesem Jahr begann auch die Laufzeit des Verbundprojekts Flucht: Forschung und Transfer (FFT). Seit 2017 wird in Kooperation mit dem Netzwerk Fluchtforschung die Fachzeitschrift Z’Flucht: Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung zweimal jährlich veröffentlicht. 11

Fischer et al. verwenden 2018 in ihrem Sammelband FluchtMigration und gesellschaftliche Transformationsprozesse den Begriff der FluchtMigration mit dem zwei Dimensionen des Phänomens betont werden sollen: Einerseits wird durch den Begriff eine Eingrenzung des Forschungsgebiets auf Formen von Zwangsmigration vorgenommen, andererseits wird durch das Binnen-M verdeutlicht, dass eine klare Abgrenzung von unterschiedlichen Migrationsformen, wie beispielsweise Flucht-, Arbeits- oder Binnenmigration, kaum möglich ist. Das Binnen-M dient also dazu das durch den Begriff der Flucht eingegrenzte Forschungsfeld doch wieder zu erweitern: wodurch die Forschenden immer schon dazu aufgefordert werden über die (künstlich) gezogene Grenze hinweg zu blicken (vgl. Fischer et al. 2018: 4f).

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Das Netzwerk Fluchtforschung ist nicht das einzige oder erste Forschungsnetzwerk, das im deutschsprachigen Raum zum Thema Flucht und Migration Forschende zusammenbringt. Das Labor für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) ist an die Uni Göttingen angegliedert und wird von Sabine Hess geleite. Seit 2012 werden in unregelmäßigen Abständen Konferenzen organisiert und seit 2015 die Zeitschrift movements: Journal for Critical Migration and Border Regime Studies (vgl. Redaktion movements 2015) veröffentlicht: In der Publikationsreihe Grenzregime sind bis 2022 bereits vier Bände erschienen (vgl. Hess/Kasparek 2010, Heimeshoff et al. 2014, Hess et al. 2016, Hänsel et al. 2022). Die Forschungstätigkeiten von kritnet werden der kritische Grenzregimeforschung zugeordnet (vgl. Scherr 2021: 16). Eine kritische Analyse (europäischer) Grenzregime steht im Zentrum der Forschung dieses Bereichs der FluchtMigrationsforschung. Dazu gehören Untersuchungen, die sich vor allem darauf konzentrieren, auf welche Weisen Zugang zu Asyl behindert und erschwert wird und behördliche Strukturen und Prozesse zu einer verstärkten Prekarisierung der Situation Geflüchteter beitragen und in welcher Weise Geflüchtete eine besondere Gefährdung durch europäische und nationalstaatliche Strukturen erfahren. Speziell beim Thema Flucht wird in der Regel die Perspektive vertreten, dass es sich beim Schengenabkommen um eine »rassistische und klassistische Europäische Mobilitätsordnung [handelt], die auf das ›Interesse‹ der europäischen Hegemonen ausgerichtet ist« (Hess et al. 2017: 6). Europäische Flüchtlingspolitik wird demnach besonders kritisch in den Blick genommen und die Mobilität Flüchtender als eine »politische, soziale und transformative Praxis (ebd.: 32) betrachtet. Immer wieder solidarisieren sich kritische Grenzregimeforscher:innen mit Flüchtenden und Geflüchteten, weswegen ihnen eine »flüchtlingssolidarische Position« (Scherr 2021: 16) zugeschrieben wird. Kritnet und seine Plattformen der Veröffentlichungen versteht sich dabei als »Versuch einer interdisziplinären europäischen Vernetzung kritischer Migrations- und GrenzregimeforscherInnen und politischer AktivistInnen, die nicht selten beides zugleich sind« (vgl. http://kritnet.org/netzwerk/). Womit sich die Akteure des Netzwerks und Autor:innen von movements schon in ihrer Selbstbeschreibung als hybride Akteure begreifen. Neben deklariert wissenschaftlichen Artikeln und Forschungsberichten werden in movements auch »konzeptionelle und methodologische Reflektionen, Debatten und Interviews, Rezensionen, aber auch politische Interventionen« (Redaktion movements 2015: 4) veröffentlicht. Die Zeitschrift des Forschungsnetzwerks Fluchtforschung Z’Flucht dient dagegen mehr als Plattform für die Veröffentlichung wissenschaftlicher Beiträge, Rezensionen und Forumsbeiträgen. Vom IMIS (Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück) wird seit 2021 zudem zweimal jährlich die Zeitschrift für Migrationsforschung herausgebracht, in der (bislang) überwiegend (nur) wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht werden. Ein Blick in die Forschungslandschaft des deutschsprachigen Raumes verrät, dass sich die Forschungsaktivitäten im Bereich FluchtMigration seit 2013, spätestens aber mit der Ankunft der Tausenden 2015, intensiviert haben. Zwischen 2014 und 2016 verdreifachte sich die Anzahl der Projekte, die das Verbundprojekt FFT dokumentierte: »Diese Entwicklung ging einher mit einem deutlichen Anstieg der Zahl der angekommenen Ge-

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flüchteten und der Asylanträge in Deutschland (bis 2016) sowie mit einem hohen öffentlichen Interesse an den Themen Migration und Flucht« (Kleist et al. 2019: 7). Dabei sind Migration und Flucht keineswegs neuen Themen innerhalb der deutschsprachigen Forschungsdiskurse: Als »interdisziplinäres Querschnittsthema« (ebd.), tauchen Migration und Flucht in allen möglichen Forschungsbereichen auf. Abhängig von der aktuellen Situation und historischer Kontexte, beschäftigten sich in der Vergangenheit sowohl Erziehungs- und Geschichtswissenschaften als auch Politik-, Rechts- und Sozialwissenschaften immer wieder zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit den Themen Flucht und Migration und beleuchteten die Themen unter verschiedenen Gesichtspunkten. Beispielweise ist Flucht ein Thema in Forschungsaktivitäten im Kontext von Vertreibung, Deportation und Friedens- und Konfliktforschung. Auch im Rahmen der Gastarbeiter- und Ausländerforschung, die um die Jahrtausendwende stärker in Deutschland betrieben wurde, gerieten Flucht und Migration in den Blick. Da sich der Fokus der Forschung damals mehr auf Integrationsfragen und Asylpolitik konzentrierte, erschienen Flucht und Migration daneben als eher untergeordnete Themenbereiche (vgl. u.a. Braun et al. 2018, Kleist et al. 2019, Pries 2021). Speziell für den deutschsprachigen Raum lässt sich festhalten, dass das Thema Migration bis Ende des 20. Jahrhunderts »theoretisch und empirisch unterentwickelt und nationalistisch eingehegt« (Pries 2021: 170) verblieben war. Laut dem Migrationsforscher Ludger Pries lag dieser verzerrte Blick mitunter daran, dass Deutschland sich lange der Selbstwahrnehmung als ›Einwanderungsland‹ verwehrte (vgl. ebd.: 170f). In einer Debatte um die Nutzung des Begriffs des Migrationshintergrundes unternimmt der Soziologie Ulrich Bielefeld eine ›Suche‹ nach einer Soziologie des Fremden (Bielefeld 2004) und stellt fest, dass es sich beim Fremden nicht etwa um ein klassisches Thema der Soziologie handelt, sondern um ein »klassischerweise vernachlässigtes« (Bielefeld 2004: 397), wohingegen »Integration, Mobilität und Ausschluss« (ebd.: 405) zu den Kernthemen (deutschsprachiger) soziologischer Arbeiten gehörten (siehe Kapitel 3). Ein Versäumnis, das allmählich zu einem Umdenken und der Formierung einer deutschsprachigen Migrationsforschung führt (vgl. Pries 2021), allerdings nicht dazu, dass das Thema des Fremden als Forschungsgegenstand in den Vordergrund rückt. 1991 wurde das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück (IMIS) gegründet (vgl. Kleist 2015: 156). Das Institut ging aus einem 1989 ins Leben gerufenen Arbeitskreis für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien hervor. Es sollte noch bis 2018 dauern, ehe das Institut in die Organisationsform eins Forschungszentrums der Universität Osnabrück überführt wurde. 2014 wurde an der Berliner Humboldt-Universität das Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) gegründet. Einerseits sollte empirische Forschung im Feld hier zusammengebracht und versammelt werden, andererseits sollte das Institut als Ansprechpartner für die Politik etabliert werden. 2017 folgte die Gründung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Es teilt sich in das DeZIM-Institut und die DeZIM-Forschungsgemeinschaft.12 Eines der Ziele des DeZIMs ist das aktive Einwirken auf Politik, Zivilge12

Zur Forschungsgemeinschaft des DeZIM gehören neben dem IMIS und BIM auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltfor-

2 Empirisch orientieren mit der Akteur-Netzwerk-Theorie

sellschaft und Medien. Außerdem sollen die Aktivitäten des DeZIM zu einer Versachlichung der Diskurse zu den Themen Integration, Migration, Diskriminierung und Rassismus beizutragen. Die deutschsprachige Forschungslandschaft im Bereich Fluch- und Migrationsforschung wird ergänzt durch eine Reihe von Forschungszentren, die an unterschiedlichen Universitäten gegründet wurden: das interdisziplinäre Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (InZentim) der Universität Duisburg-Essen (2016), das Zentrum für Flucht und Migration (ZFM) der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (2016) und das Forum für Migration und Demokratie (MidDem) der TU Dresden (2017) (vgl. Schammann 2021: 127). Die Gründungen und rein zahlenmäßige Verstärkung, sowohl in Form von Instituten und Forschungszentren, als auch durch den Anstieg der Anzahl der Projekte, die in den Themenbereichen Migration und Flucht (vgl. Kleist et al. 2019) unternommen werden, wird als Signal hin zu einer stärkeren Institutionalisierung der Forschung in den Themenbereichen Flucht und Migration gewertet (vgl. Scherr 2021: 127). Die Arbeit der Akteur(-Netzwerke) wird sichtbar, mehrt sich: Sie wird übernommen, aufgenommen, over-taken und nachgeahmt (vgl. Tarde 2009, Latour 2014). Neben den eigentlichen Forschungstätigkeiten zum Thema Flucht und Migration, verrichten die AkteurNetzwerke Arbeiten, die zur Stabilisierung ihrer Netzwerke beitragen: »Während die Soziologen nach einhundertfünfzig Jahren noch immer darüber uneins sind, welches die ›richtigen‹ sozialen Aggregate sind, ist es eine sehr viel einfachere Aufgabe, sich darauf zu einigen, dass in jeder Kontroverse über Gruppenbildung – wozu selbstverständlich auch akademische Dispute gehören – einige Elemente stets präsent sind: Gruppen werden zum Sprechen gebracht; Gegengruppen werden identifiziert; um die Gruppengrenzen dauerhafter zu machen, greift man auf neue Ressourcen zurück; und es werden Fachleute mitsamt ihrer statistischen und intellektuellen Ausrüstung mobilisiert.« (Latour 2014: 57) Ein Blick über den deutschsprachigen Raum hinaus verrät, dass es noch einiges an institutionalisierender und stabilisierender Arbeit aufzuholen gilt.13

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schung (IKG), das interdisziplinäre Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (InZentIM) und Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Der Think Tank Center for Migration Studies of New York wurde 1964 gegründet, das Refugee-Documentation Projekt der York Universität in Kanada 1988 in Center for Refugee Studies umbenannt und das Refugee Studies Programm der Universität Oxford besteht seit 1982; um an dieser Stelle nur ein paar Beispiele zu nennen. Seit 1982 wird das Refugee Survey Quarterly veröffentlicht und seit 1988 das Journal of Refugee Studies. Und das Journal of Immigration & Refugee Services, das seit 2002 existiert, wurde 2006 in das Journal of Immigrant & Refugee Studies umbenannt (vgl. Neumann 2017: 141f). Im Vergleich dazu ist im internationalen Bereich das Journal »Migration Studies« mit seiner ersten Ausgabe von 2013 noch eher jung. Das Journal selbst begreift sich als eine Reaktion bzw. setzt sich auch zum Ziel ein Umdenken, ein Neudenken, eine Reform innerhalb der Migration Studies zu begleiten. So sei die Gründung des neuen Journals auch als Reaktion auf die in den 60er und 70er Jahren begründeten Journals zu sehen. Während die älteren sich vielmehr als Plattformen verstanden, die sich überhaupt erst einmal mit dem Thema befassten, es erfassten, abgrenzten, definierten und deskriptiv untersuchten, möchte das Journal »Migration Studies« eben diese erste Phase hauptsächlicher Deskription des Phänomens hinter sich lassen. Es sei Zeit über den Teller-

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Wissenschaftliche Akteure sind – wie wir bei den Untersuchungen Callons’ (2006) gesehen haben – schon immer Teil der Netzwerke. Sie werden eingebunden, sie werden zum Handeln gebracht: Sie verschieben mit und werden wiederum verschoben, sie übersetzen und verbinden ebenso, wie sie ständig mit Arbeiten des Trennes, Abgrenzens und Sortierens beschäftigt sind. Im Sinne der ANT werden auch die wissenschaftlichen Akteure gemäß den Prinzipien der Agnostik, der freien Assoziation und der generalisierten Symmetrie mit einbezogen in die Kartografie, die sich an dieser Stelle an den vorausgegangenen Abschnitt der empirischen Orientierungen (Kapitel 2.2) anschließt. Und dabei gilt weiterhin, dass wir »unparteiisch gegenüber den von den Protagonisten einer Kontroverse verwendeten wissenschaftlichen und technischen Argumenten« (Callon 2016: 142) bleiben und uns »einer Zensur der Akteure, wenn sie über sich selbst oder ihre soziale Umwelt sprechen« (ebd.) enthalten. Es geht im Folgenden darum nachzuzeichnen, wie die wissenschaftlichen Akteure ihre Forschungsgegenstände auswählen und untersuchen. Dabei obliegt es den Akteuren selbst die Dinge (von Belang) zu benennen und das, was sie für wesentlich erachten vom Rest zu trennen. Sie bestimmen ihre Definitionen, sie handeln die Erklärungsmuster und -zusammenhänge aus. Sie entwerfen, gemäß ihrer eigenen Kriterien, Herangehensweisen um ihre Vorhaben umzusetzen und handeln die Regeln ihrer Diskurse aus. Wir sehen uns also an, wie sie vorgehen, welche Schwerpunkte sie setzen, was explizit erklärt und was als selbstverständlich angenommen wird: was unbestritten übernommen und was wiederum umstritten wird. Was wird auf welche Weise ausgehandelt, diskutiert, bewertet, einsortiert, geordnet? Welche Bezüge werden aufgebaut, welche Verbindungen gezogen und welche Abgrenzungen vorgenommen? Dabei handelt es sich gerade nicht um eine Untersuchung einer Wissensform erster oder zweiter Ordnung (vgl. Knoblauch 2009): »[Denn] während in der ersten Denkrichtung Akteure und Forscher in zwei verschiedenen Booten sitzen, sitzen sie [hier] die ganze Zeit im selben Boot und haben dieselbe Funktion, nämlich Gruppenbildung. Wenn das Soziale versammelt werden muss, wird jede Hand gebraucht. Erst am Ende werden wir die Konsequenzen aus dieser grundlegenden Gleichheit ziehen.« (Latour 2014: 61f) Anliegen dieser Forschung ist es, das Theoretisieren als eine soziale Praxis in den Blick zu nehmen, als etwas zu betrachten, das Akteure beständig tun: dabei wird eine dadurch entstandene Wissensform einer anderen nicht vorangestellt oder übergestellt, der einen oder anderen mehr Bedeutung vorab schon zugewiesen. Es obliegt allein den Akteuren zu bewerten, auszuhandeln und zu sortieren: validere und gültigere Ergebnisse von anderen zu unterscheiden. Dabei folgen wir den Spuren der (wissenschaftlichen) Akteure wie sie ihre Kontroversen bearbeiten, Grenzen verschieben und neue ziehen, während sie andere überwinden und durch ihr Tun an den Grenzen die Limitationen der eigenen Techniken, Strategien und Methodologien nicht nur deutlich werden, sondern auch durch die Akteure bearbeitet werden: womit das markiert wird, was sich (noch) entzieht, was rand hinaus zu blicken. Eben in dieser nächsten Phase, sollte das neue Journal eine Schlüsselrolle einnehmen. Im Zentrum stehen dabei neue theoretische Konzepte, Methodologische Innovation und zeitgenössische Analysen (vgl. Gamlen et al. 2013).

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noch (zu) komplex erscheint, noch nicht eingefangen und noch nicht eingehegt werden konnte. Es geht im Folgenden also um den scientific gaze, der selbst zum Untersuchungsgegenstand gemacht wird.

2.3.1 Vom/n Netz-Werken Seit seiner Gründung 2013 organisierte das Netzwerk Fluchtforschung vier (Stand 2022) Konferenzen. Die erste Konferenz fand im Oktober 2016 in Osnabrück (vgl. Rischke/Freudberg 2017) und die zweite im Oktober 2018 in Eichstätt (vgl. Albrecht 2018) statt. Aufgrund der Coronasituation musste die dritte Konferenz im September 2020 online durchgeführt werden. Die vierte Konferenz wurde 2022 in Chemnitz in hybrider Form durchgeführt. Entlang der ersten drei Konferenzen lässt sich die Vergrößerung des Forschungsfeldes veranschaulichen: 2016 standen knapp einhundert Vorträge im Programm. Diese Zahl verdoppelte sich bis 2018 (vgl. ebd.: 334). Die Konferenz von 2018 markiert auch einen weiteren Meilenstein: Sie war die bis dato größte Konferenz zum Thema Flucht- und Flüchtlingsforschung im deutschsprachigen Raum (vgl. ebd.). Getoppt wird die Konferenz zwei Jahre später von ihrer Nachfolgekonferenz. Während der Konferenz 2020 wurden in über 85 Veranstaltungen (Panels, Sessions und Workshops) Vorträge in englischer und deutscher Sprache gehalten und diskutiert. Auch eine zunehmend sprachliche Verschiebung lässt sich über die drei Konferenzen hinweg feststellen: Während bei den ersten beiden Konferenzen deutschsprachige Beiträge dominierten, hielten sich deutsch- und englischsprachige Beiträge 2020 schon die Waage. Von Anfang an waren auf den Konferenzen verschiedene Fächer vertreten: angefangen von Sozialund Politikwissenschaften, über Kommunikations- und Rechtswissenschaften, bis zu Psychologie und Sozialer Arbeit, Medien- und Musikwissenschaften. Auch thematische Verschiebungen lassen sich über die Jahre entlang der Konferenzprogramme nachvollziehen: »Ging es 2016 noch verstärkt um die Aufnahme, Fluchtursachen und Flüchtlingslager, dominierten 2018 die Themen Partizipation, Arbeitsmarkt sowie die Zukunft von Flucht- und Flüchtlingsforschung und (inter-)nationaler Forschungsnetzwerke« (ebd.: 346). 2016 geht es vor allem um Flüchtlingspolitik, Bildungsteilhabe Neuzugewanderter und die Situation (unbegleiteter) minderjähriger Flüchtlinge (vgl. Rischke/Freudenberg 2017). 2018 geht es um politische und rechtliche Rahmenbedingungen, Asyl und Asylrecht, Fluchtrouten und Unterbringung, um regionale Netzwerke und kommunale Flüchtlingsarbeit und um die öffentlich kontrovers diskutierte Einrichtung von AnkER-Zentren. In Bezug auf (moderne) Nationalstaatlichkeit, ging es um Integration, Identität und Zugehörigkeit und ›den Staat‹ als realpolitischem Akteur. Wiederholt steht auch die Gesundheit Geflüchteter und insbesondere ihre psychotherapeutische Begleitung auf dem Programm. Bereits 2016 wurde die Abgrenzung des eigenen Forschungsfeldes gegenüber anderen Forschungsfeldern diskutiert und die (mögliche) Ausrichtung und Weiterentwicklung des Feldes besprochen. Es ging um Begrifflichkeiten und um Forschungsproramme und methodische Herausforderungen. Die Herausforderungen, die mit Sprachbarrieren einhergehen und damit verbunden die Notwendigkeit und der gleichzeitige Mangel von geeigneten Dolmetschern, wurden diskutiert und besprochen und der dadurch erschwerte Zugang zum Feld problematisiert. Die Frage nach angemessenen und geeigne-

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ten Methoden und Vorgehensweisen ist eine der Fragen, die das Feld konstant bis heute umtreibt. Die Frage, wie Forschung stattfinden kann und soll, wird immer wieder an ethische Überlegungen angebunden. 2020 sprach Christina Clark-Kazaks (University of Ottawa, Kanada) in ihrer Keynote über The Future of Forced Migration Research? Ethics and Methods in Politicised (Im)mobilitiy Context. In ihrem Vortrag ging es um rechtliche Unsicherheiten, ethische Fragen und Machtasymmetrien zwischen Forschenden und Beforschten. Clark-Kazaks sprach von dem Spannungsverhältnis zwischen der Verantwortung gegenüber dem Gegenstand und der Verantwortung gegenüber der Forschung. Eben dies Thema wurde in der Konferenz methodisch, methodologisch, theoretisch und konzeptionell unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert. Unmittelbar im Anschluss an die Keynote fand ein Roundtable unter dem Titel Participatory Research in Forced Migration Research und parallel dazu ein Workshop Wir schaffen das! Fluchtforschung und ihre Öffentlichkeit statt. Das Feld bewegt sich bis heute in einem Aushandlungsprozess bezüglich der »do no harm is not enough«-Prämisse und der eigenen Positionierung, die über die eine Abgrenzung und Positionierung gegenüber wissenschaftlichen Nachbarn hinausgeht und realpolitische Bedenken mit einbezieht: »Wie politisch soll und darf die Flüchtlingsforschung sein?« (ebd.: 167). Schwerpunkthemen über die Jahre hinweg bleiben Bildung, Arbeit und Integration, Migrationsregime und politische Konfliktfelder, rechtliche Unsicherheiten, Asyl(strukturen) und behördliche Praxis, psychische Gesundheit und psychotherapeutische Begleitung und Versorgung Geflüchteter feste Themenkomplexe, die das Forschungsfeld bewegen. Seit 2020 finden zudem vermehrt intersektionale Themen Eingang in die Konferenzprogramme.14 Die Rolle von Medien, Staat und Behörden werden ebenso wie die eigene Rolle als wissenschaftliches Akteur-Netzwerk kritisch reflektiert und besprochen. In Bezug zu den Themenschwerpunkten Bildungsteilhabe, Arbeitsmarktintegration, sprachlicher Förderung und rechtlicher Rahmenbedingungen, die nach wie vor intensiv im Forschungsfeld besprochen werden, lässt sich Ulrich Bielefelds Feststellung von 2004 bestätigen. Auch wenn Bielefeld speziell für soziologische Forschung sprach, scheinen auch inter- und transdisziplinäre Forschungsfelder zu den Themen Flucht und Migration thematisch ähnliche Schwerpunkte zu setzen: Während der Fremde ein klassischerweise vernachlässigtes Thema der Soziologie zu sein scheint, sind »Integration, Mobilität und Ausschluss« (Bielfeld 2004: 397) Kernthemen in (soziologischen) Untersuchungen. Diese thematische Verengung auf Fragen von Integration, Mobilität, Teilhabe und Ausschluss lässt sich auch im Forschungsfeld FluchtMigration feststellen (vgl. Kleist 2019: 19).15 Der Überfokus auf Integrationsthematiken bildet den Großteil der Forschung 14

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Es geht um Verwirklichungschancen und Agency geflüchteter Frauen, Queer Asylum und Repräsentation, Herausforderungen und Aktionismus und in Bezug zum Thema Beratung Geflüchteter wird die besondere Situation von Geflüchteten mit Behinderungen beleuchtet. Außerdem finden aktuelle Genderdebatten, stärkere intersektionale Perspektiven und Männlichkeitsthematiken Eingang in die Beiträge (vgl. NFKonf2020). Laut Olaf Kleist führte die Neuausrichtung des Feldes ab 2013 auch zu einer disziplinären Verschiebung. So werde der Großteil der dem Feld zugeordneten Forschung hauptsächlich durch sozialund gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen durchgeführt. Der Großteil sei als soziologische

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innerhalb des Feldes. Dies gilt besonders für Forschungen, die sich mit der Situation Geflüchteter in Deutschland befassen. Anders verhält es sich mit Forschung aus dem Umfeld von kritnet und movements: die kritische Grenzregimeforschung legt den Fokus verstärkt auf Fluchtthematiken und die Situationen auf der Flucht: so werden beispielsweise Analysen von Fluchtrouten vorgenommen und die Situationen in den Grenzregionen in Ost- und Südeuropa erforscht (vgl. z.B. Alberti 2017, Augustova/Sapoch 2020, Beznec/ Kurnik 2020). Die Figur des Fremden wird weder in den Forschungsaktivitäten, die das Netzwerk zusammenbringt, bearbeitet, noch taucht die Figur des Fremden im Umfeld der kritischen Grenzregimeforschung auf. Die einen konzentrieren sich auf Integrationsthematiken, die anderen auf Mobilitätsformen und beide besprechen Teilhabe- und Ausschlussthematiken. Der Fremde bleibt, wie Ulrich Bielefeld 2004 schon feststellte, unterbesprochen (vgl. Bielefeld 2004). Im Zuge der Arbeiten des Verbundprojekts FFT wird 2019 eine »thematische Zuspitzung« (Kleist 2019: 19) des Feldes, die mit einer »geographischen Verengung der Forschungsperspektive« (ebd.) einhergeht festgestellt: Der Großteil der Forschung im Bereich FluchtMigration konzentriert sich auf die Situation in Europa und besonders auf Deutschland oder prominente Herkunfts- und Transitländer, wie Syrien, Afghanistan und die Türkei: »Während 2012 noch die Hälfte der Projekte ohne Deutschlandbezug auskam, traf dies 2016 nur noch auf 20 % der Projekte zu« (ebd.). Das Thema Aufnahme und Integration erfuhr einen Aufschwung und nimmt 2019 innerhalb des Forschungsfeldes einen großen Raum ein (vgl. ebd.). Das zivilgesellschaftliche Engagement, die 2015 gelobte Willkommenskultur und Willkommensgesellschaft und die Rolle von freiwilligen Helfer:innen, deren Beitrag bei der Bewältigung der ›Flüchtlingskrise‹ als essentiell betrachtet wurde, wurde im Vergleich kaum wissenschaftlich bearbeitet. Auf der Konferenz des Netzwerks wird 2016 noch über Prekären Aktionismus und Willkommenskulturen zwischen (Selbst-)Organisation, Solidarität und humanitärer Hilfe gesprochen und Flüchtlingsarbeit mit Friedensarbeit in Zusammenhang gebracht. Themen, die zwei Jahre später auf der Konferenz 2018 keinen Raum mehr haben und 2020 nur in einem Panel unter dem Titel Grenzen zivilgesellschaftlichen Engagements aufgegriffen wurden (vgl. NFKonf16, NFKonf18, NFKonf20).

2.3.2 Kontroversen nachzeichnen Das Tun der Akteure nachzuzeichnen, ist eine Kernprämisse, wenn mit der dem Werkzeugkasten der ANT gearbeitet werden soll (siehe Kapitel 2.1.1). Es gilt nachzuzeichnen, wie die Akteure selbst sowohl die trennende, ordnende und organisierende Tätigkeit, als auch die verbindende Arbeit verrichten. Die Akteur-Netzwerke zeigen an, welche Aspekte für sie relevant, für ihre Aushandlungen wichtig sind. Es obliegt nicht der Forschenden, die die Spuren der Arbeit der Akteur-Netzwerke nachzeichnen, ein Urteil über Be-

und politikwissenschaftliche Forschung einzuordnen. Forschungsvorhaben mit gesundheitswissenschaftlichem Fokus oder aus dem Bereich der Stadtforschung erlebte im Zuge der Neuordnung des Feldes und des Forschungsbooms seit 2015 einen überproportionalen Anstieg im Vergleich zum Zuwachs in den anderen Disziplinen (vgl. Kleist 2019: 19).

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deutung, Wichtigkeit und Richtigkeit zu fällen (vgl. Latour 1987: 258). Wer mit der ANT forscht, ist darum bemüht unparteilich gegenüber den Argumentationen zu bleiben, die die Akteur-Netzwerke heranziehen (vgl. Callon 2006: 142). Im Folgenden wird ein besonderes Licht auf die Aushandlungen und Bearbeitungen durch die wissenschaftlichen Akteur-Netzwerke geworfen, d.h. das Tun und Schaffen der wissenschaftlichen Akteure wird zum Gegenstand gemacht und mithilfe der Werkzeuge der ANT bearbeitet. Es kann als eine Besonderheit des Forschungsfeldes der FluchtMigrationforschung betrachtet werden, dass es im Vergleich zu anderen noch dabei ist sich zu versammeln, Aushandlungen noch im Gange sind und es im Gegensatz zu anderen thematisch orientierten Forschungsfeldern noch dabei ist sich zu stabilisieren: die Institutionalisierungsmomente sind gerade erst dabei sich zu vollziehen, die Arbeit der Akteur-Netzwerke ist noch besonders sichtbar. Das Feld ist noch dabei sich zu stabilisieren und sich einen Raum in der deutschsprachigen Forschungslandschaft zu schaffen. Die auf den folgenden Seiten nachgezeichneten Kontroversen, verfolgen die Spuren, die durch einige Sprecher:innen-Akteure des Forschungsfeldes in Form von Berichten zusammengetragen und veröffentlicht wurden. Dazu gehört der Soziologe Albert Scherr, der unter anderem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift Z’Flucht und Mitglied im Rat für Migration ist und der Politikwissenschaftler Olaf Kleist. Kleist war Projektkoordinator des BMBF-Verbundprojekts Flucht: Forschung und Transfer (FFT) und war bis 2022 Mitglied im Vorstand und Organisationskreis des Netzwerks Fluchtforschung. Das Forschungsfeld FluchtMigration bewegt in einer Traditionslinie, die auf die ältere Migrationsforschung zurückbezogen wird: die Soziologen Albert Scherr und Michael Bommes ziehen die ›Erblinie‹ der FluchtMigrationsforschung bis in die (thematisch breiter aufgestellte) Migrationsforschung zurück und betrachten FluchtMigrationsforschung aus dieser Perspektive als (weitere) Ausdifferenzierung und thematische Spezialisierung dieser speziellen Forschung (vgl. Bommes 2011, Scherr 2021). Für das inter- und multidisziplinäre Feld der FluchtMigrationsforschung ergeben sich aufgrund seiner Multidisziplinarität seit jeher methodologische, methodische, theoretische und konzeptionelle Herausforderungen (vgl. Kleist 2015: 159f, Kleist 2019: 18f). Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn eine tatsächlich interdisziplinäre Forschung angestrebt wird. Die konzeptionellen Herausforderungen werden schon beim Begriff des Flüchtlings deutlich. Während sich rechtswissenschaftlich orientierte Forschungsansätze auf die Genfer Flüchtlingskonvention stützen, nutzen sozialwissenschaftlich orientierte Arbeiten ein erweitertes Verständnis des Flüchtlingsbegriffs. Die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention gibt Kriterien vor, gemäß derer Flüchtlinge als solche auch auf einer völkerrechtlichen Ebene den Status Flüchtling erhalten sollten (siehe Kapitel 3.1.1). Ein sozialwissenschaftliches Verständnis des Begriffs betrachtet Flüchtende als eine spezielle Erscheinung von Migrierenden. Flüchtende sind gleichzeitig immer auch Migrierende, aber nicht alle Migrierenden sind Flüchtende (vgl. Kleist 2015: 152f). Die Abgrenzung von ›Flucht‹ und ›Migration‹ ist eine ständige Herausforderung für sozialwissenschaftlich orientierte Forschungen. Ein abschließender Konsens über eine Minimaldefinition konnte bislang noch nicht gefunden werden (vgl. Kleist 2015, Kleist 2019, Scherr 2021). Da Flucht als Querschnittsthema durch verschiedene wissen-

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schaftliche Perspektiven besprochen und untersucht wird, macht die Abwesenheit einer gemeinsamen Grundlage die interdisziplinäre Forschung zu einer besonderen Herausforderung (vgl. Kleist 2015: 154). Um dieser Herausforderung zu begegnen, werden zusätzliche Spezifikationen herangezogen (mobilisiert), um das eigentlich Gemeinte zu konkretisieren. Doch auch Zusätze, wie beispielsweise Überlebens-, Zwangs-, Gewaltoder Krisenmigration oder eine Unterscheidung zwischen ›freiwilliger‹ und ›erzwungener‹ Migration werden vom Forschungsfeld nicht uneingeschränkt übernommen (vgl. u.a. Kleist 2019, Scherr 2012). Für spezifische Forschung an konkreten Beispielen können diese Zusätze die Perspektive zwar schärfen, doch für ein allgemeines Verständnis von Flucht als Gegenstand kaum einen Beitrag leisten. Bislang konnte keiner der vorgeschlagenen Alternativbegriffe den Begriff der Flucht ablösen. Eine Ergänzung des Begriffs z.B. durch die Definition, dass nur Zwangsmigration als Flucht zu betrachten sei, hätte nur eine Verengung zur Folge. Ein weiterer Aspekt, der durch das charakteristisch interdisziplinär aufgestellte Feld vor Herausforderungen stellt, bilden die unterschiedlichen Herangehensweisen und methodischen Konzepte, die durch die verschiedenen Disziplinen und ihre Traditionen eingebracht werden. Einerseits wird von einer »Konsolidierung disziplinärer Methoden« (Kleist 2015: 160) gesprochen. In ethnografischen und soziologischen Arbeiten werde stärker flüchtlingszentriert geforscht. Andererseits nehmen rechts- und politikwissenschaftliche Forschung vielmehr regimeorientierten Schwerpunkte in ihren Forschungen auf (vgl. ebd.). In der kritischen Grenzregimeforschung setzte man insbesondere starken Fokus auf diskursive Machtverhältnisse und Ein- wie Ausschlussdynamiken (vgl. ebd.). Auch wenn das Feld als inter- und multidisziplinär charakterisiert wird, wurde im Rahmen des Verbundprojekts FFT festgestellt, dass obgleich fächerübergreifende und stärker interdisziplinäre gemeinhin als wünschenswert gelte, derartige Forschungsprojekte selten tatsächlich umgesetzt werden (vgl. Kleist 2019: 19). Statt einem Mit-Einander zeichnete sich ein stärkeres Nebeneinander ab, was auch, so Olaf Kleist, (infra-)strukturelle Hintergründe hat (vgl. ebd.: 20). Scherr spricht an dieser Stelle von einer »theoretisch undisziplinierten Interdisziplinarität« (Scherr 2021: 3). Damit gemeint ist, dass die Wissensbestände der unterschiedlichen Disziplinen nur gelegentlich aufeinander bezogen werden. Häufiger stehen sie lose als Ergänzungen nebeneinander und es findet kein reflexiver Austausch auf theoretischer Ebene statt: »[dem] korrespondieren uneinheitliche theoretische Rahmungen und thematische Fokussierungen« (ebd.: 3f). Letztere führten zu einer Vielzahl von Publikationen zu spezifischen Problemfeldern, wie z.B. Untersuchungen zu Integrationsprozessen einerseits und Analysen staatlicher Flüchtlingspolitiken andererseits und globale Fluchtbewegungen werden mit weltgesellschaftlichen Ungleichheiten in Bezug gesetzt (vgl. ebd.: 4). Die charakteristische Heterogenität im Feld führt bisher nur zu einer reinen Versammlung. Eine tatsächliche Verschränkung und gegenseitige Befruchtung der Forschung durch interdisziplinäre Ergänzungen und Erweiterungen von Methoden, Konzepten und Theorien findet dagegen kaum statt. Neben methodologischer und methodischer Heterogenität steht das Feld im ständigen Spannungsverhältnis zwischen einer möglichst praxisnahen und anwendungsorientierten Forschung, der teils schwierigen, ambivalenten Nähe zur Realpolitik, sowie rein wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse: »Die mangelnde Distanz der Forschung

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zur politischen Praxis […] gilt als eine von deren zentralen Schwächen« (Kleist 2015: 162). Besonders zum Tragen kommt bei der Flüchtlingsforschung auch die ethische Verantwortung der Wissenschaften gegenüber den Geflüchteten mit und über die geforscht wird. Dabei bedarf es »angesichts politischer und ethischer Implikationen besonderer Forschungsmethoden, um Schutzbedürftigkeit, prekäre rechtliche Situation, Machtverhältnisse, asymmetrische Geschlechterverhältnisse sowie das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Interessensvertretung zu berücksichtigen« (ebd.: 164). So bewegt sich das Forschungsfeld immer im Spannungsverhältnis zwischen Erkenntnisinteresse der Wissenschaft und einer Praxisrelevanz der Forschungsergebnisse, die in ihrer Anwendungsbezogenheit durchaus den Anspruch von Mitgestaltung erheben und nicht nur zu einer reinen Mehrung des Wissens beitragen möchten (vgl. ebd.: 165). Das Feld befindet sich somit immer in einem Aushandlungsprozess zwischen der Verantwortung gegenüber dem eigenen Wissenschaftsverständnis und den Anforderungen, die aus der Praxis heraus an das Feld herangetragen werden, wenn z.B. praxisnähere Akteure, wie NGOs, Geflüchtetenhilfe und Asylberatung Probleme aufwerfen und von Wissenschaft und Forschung Antworten erwarten. Ebenso ist das Feld immerzu von politischen Akteuren, Entscheidungen und Entwicklungen betroffen und diskutiert diese nicht nur aus ›objektiver‹ Distanz: so ergäben sich – besonders aus dem Bereich der kritischen Grenzregimeforschung – immer wieder Fragen zu einer (stärkeren) politischen Positionierung der Wissenschaften zu politisch und gesellschaftlich diskutierten Themen. Zudem ließe sich, so Kleist, beobachten, dass in dem Feld der FluchtMigrationsforschug vermehrt ethische Forschungsfragen besprochen werden: »Forschung mit und über Flüchtlinge bedarf angesichts politischer und ethischer Implikationen besonderer Forschungsmethoden, um Schutzbedürftigkeit, prekäre rechtliche Situationen, Machtverhältnisse, asymmetrische Geschlechterverhältnisse sowie das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Interessensvertretung zu berücksichtigen.« (Ebd.: 164) Laut Albert Scherr ist das Feld durch einen ›doppelten Imperativ‹ charakterisiert: Es ist eingebunden in ein konstantes Spannungsverhältnis zwischen »flüchtlingssolidarischer Forschung [und] weberianischer Werturteilsfreiheit« (vgl. Scherr 2021: 12f). Ziel der Migrationsforschung, in deren Tradition Scherr die FluchtMigrationsforschung sieht, war und ist es nach wie vor, eine »Einwirkung auf Politik und Öffentlichkeit und in dem Zusammenhang […] eine enge Anlehnung an Fragestellungen, Prämissen und Informationsbedarfe politischer Institutionen und Akteure« (ebd.: 1) zu vereinen. Das jüngere Feld erbe diese Zielsetzung. Allerdings zeichnet sich das Feld der Fluchtforschung – im Gegensatz zur breiter aufgestellten Migrationsforschung – zusätzlich durch eine stärkere moralische Aufladung aus (vgl. ebd.). Nach Scher ist Flucht ein Thema mit wissenschaftsexterner Relevanz: das Thema wird nicht nur wissenschaftsintern besprochen und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Unternehmungen haben immer auch Wirkung außerhalb wissenschaftlicher Diskurse. Aus diesem Grund stehe die FluchtMigrationsforschung in der Verantwortung, den Geltungsanspruch der eigenen Forschungsergebnisse zu reflektieren und einzuordnen und die »relative Unsicherheit und die interne Kontroversität [des] Wissens« (ebd.: 11) im öffentlichen Diskurs transparent zu kommunizieren.

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Scherr stellt in seiner Beobachtung des Forschungsfeldes eine gewisse wissenschaftliche Naivität fest. Er problematisiert, dass einerseits zwar wissenschaftliches Wissen generiert werden soll, andererseits aber der Glaube vorzuherrschen scheint, dass mit mehr Wissen auch eine Verbesserung der Lage Geflüchteter erwirkt werden könne (vgl. ebd.: 13). Konkret meint er, dass »von wissenschaftlicher Forschung [zu erwarten ist], dass sie zur Steigerung des verfügbaren Wissens führt; damit zugleich die Erwartung zu verbinden, dass dies zwangsläufig direkt oder indirekt zu einem moralischen Fortschritt beiträgt, ist zumindest hoch riskant und tendiert zur Wiederbelebung eines Aufklärungsoptimismus.« (Ebd.) Ein rein wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn bedeutete nicht automatisch, dass die Situation Geflüchteter sich verbessert. Auch die ›besten‹ Intentionen der Wissenschaftler sind kein Garant für die ›gute‹ Verwendung des erlangten Wissens. Konkret für die Fluchtforschung heißt das, dass Ergebnisse aus Studien zu z.B. Fluchtrouten oder Lösungsstrategien Geflüchteter potenziell von realpolitischen Akteuren genutzt werden können, um beispielsweise Lücken bei der Grenzkontrolle zu schließen und damit Fluchtrouten zu behindern. Ebenso könnte nicht davon ausgegangen werden, dass Untersuchungen zur Aufnahme Geflüchteter in Kommunen auch dafür verwendet werde Aufnahme-, Unterbringung- und Integrationsprozesse politisch und administrativ zu unterstützen und zu fördern (vgl. ebd.: 14). Ein Beispiel, das Scherrs Bedenken unterstreicht, liefern die ab 2018 geöffneten AnkER-Zentren. Durch die besondere Gestaltung und Organisation der AnkER-Zentren haben zivilgesellschaftliche Organisationen und ehrenamtliche Helfer:innen kaum mehr Zugang zu Geflüchteten. Vor dem Hintergrund, dass dieser persönliche Kontakt von Einheimischen und Geflüchteten ein wesentlicher Bestandteil gelingender Integration darstellt, behindert diese Isolation und Abschottung Geflüchteter in den Zentren ein Ankommen und Integration. Dies geschieht wiederum vor dem Hintergrund, dass AnkER-Zentren dazu eingerichtet wurden die Abschiebeprozesse zu beschleunigen. Es soll also keine Basis für eine Argumentation geschaffen werden, die eine Abschiebung erschweren könnte. In jenen Momenten wird die moralische Frage der eigenen Forschung besonders deutlich, wenn darüber reflektiert wird und antizipiert werden muss, dass die Ergebnisse der Forschung auch Schaden für die Beforschten mit sich bringen könnten (vgl. Scherr 2021: 15 und Ruzicka 2016). Forschung zu Integration, Fluchtursachen und -wegen, sowie die Rolle von Unterstützungsnetzwerken kann immer auch Grundlage für repressive politische Maßnahmen darstellen. Es sei also nicht gewährleistet, dass auch politische Entscheider die gleiche flüchtlingssolidarische Position wie die Forschenden vertreten und entsprechend dieser Entscheidungen träfen (vgl. Scherr 2021: 14f). Mit diesem Dilemma zwischen Erkenntnisgewinn und Verantwortung gegenüber dem Gegenstand konfrontiert, dürfe die Lösung, so Scherr, allerdings keine Rückbesinnung zum ›naiven‹ Empirismus, der ohne moralische und ethische Reflexionen auskommt, sein (vgl. Scherr 2021: 13). Forschende dürften sich dieser Problematik also nicht entziehen oder verschließen. Die beiden Forschungsnetzwerke Netzwerk Fluchtforschung und kritnet sowie ihre jeweiligen Zeitschriften Z’Flucht und movements stellt Scherr diesbezüglich als Kontrastbeispiele einander gegenüber. So sei das Netzwerk Fluchtforschung eher an der wissen-

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schaftlichen Profilierung des Feldes interessiert und betonte den Anspruch einer kritischen Auseinandersetzung: wie dieser aber zu realisieren sei, bleibe offen (vgl. ebd.: 15). Dementgegen beziehe das Netzwerk kritnet eine offen kritische und damit flüchtlingssolidarische Position, die mit einer »dezidierten Kritik an den dominanten politischen Positionen sowie an geltenden rechtlichen Festlegungen« (ebd.: 16) verbunden werde. In dieser flüchtlingssolidarischen Position sieht Scherr das Problem einer absichtsvollen »Vereinseitigung des Erkenntnisinteresses auf die Kritik der problematischen Auswirkungen der etablierten Flüchtlingspolitik und des geltenden Flüchtlingsrechts« (ebd.: 17). Besonders problematisch bei den Arbeiten im Umfeld von kritnet sei, dass nicht immer zweifelsfrei der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Tatsache und politischer Präferenz erkennbar sei (vgl. ebd.: 17): »Insofern ist von einer als Macht- und Herrschaftskritik angelegte Forschung […] nicht mehr und nicht weniger zu fordern, als transparent zu halten, welche normativen Grundsätze sie in Anspruch nimmt und von welchen Vorstellungen über Merkmale einer anstrebenswerten gesellschaftlichen Transformation sie ausgeht.« (Ebd.) Ein weiteres Risiko dieser politisch positionierten Forschung sieht Scherr darin, dass wissenschaftsexterne Akteure, die die politische Position nicht teilen, dazu geneigt sein könnten, die tatsächlich wissenschaftlichen Erkenntnisse der flüchtlingssolidarischen Forschung infrage zu stellen (vgl. ebd.: 18). Das Journal movements versteht sich als interdisziplinäre Plattform, die die Grenzen wissenschaftlicher Routinen und Traditionen herausfordert und (kritisch) hinterfragt. Neben wissenschaftlichen Aufsätzen werden daher auch politische Interventionen veröffentlicht: »Zugänge, Empirie und Diskussionen im Erkenntnisprozess öffentlich zu machen, sollte gängige Praxis wissenschaftlichen Arbeitens sein, anstatt ihre Publikation als irrelevant abzuqualifizieren. Insofern umfasst movements neben der Rubrik für wissenschaftliche Aufsätze auch andere Bereiche, die Forschungsberichte, konzeptionelle und methodologische Reflektionen, Debatten und Interviews, Rezensionen, aber auch politische Interventionen beinhalten können.« (Redaktion movements 2015: 4). Der gemeinsame Nenner der Autor:innen ist ihre dezidierte kritische Position gegenüber dem (europäischen) Grenzregime. Die Veröffentlichungen richten sich in erster Linie »gegen die Disziplinen übergreifende Tradition von Objektivierung, Naturalisierung und Problematisierung von Migration auf Grundlage von Ethnizismus, Rassismus und methodologischem Nationalismus« (ebd.: 2). Der Großteil der Untersuchungen konzentriert sich auf Prozesse von Ein-/Ausschließungen und begreifen Ungleichheiten als ein Produkt von soziökonomischen, kulturellen und politischen »Herstellungsleistungen und als Gegenstand der Kämpfe politischer und sozialer Bewegungen« (ebd.: 3). Olaf Kleist ordnet die »selbstdeklarierte ›kritische‹« (Kleist 2015: 152) Grenzregimeforschung wie folgt ein: »Die selbstdeklarierte ›kritische‹ Forschung ist explizit politisch und zwischen Wissenschaft und Aktivismus auf mehr oder weniger klare Ergebnisse ausgelegt, nämlich Mi-

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grationsverhinderung zu kritisieren und politische Kämpfe zu unterstützen, wodurch politisch aktive Migrant:innen in ihren Untersuchungen stark überrepräsentiert sind. Während die kritische Grenzforschung mit ihrer Forderung nach einem ›Recht auf Mobilität‹ einen interessanten Blickwinkel in die Migrationsforschung einbringt, wird mit der Konzentration auf Mobilität und ihre Verhinderung letztlich die rechtliche und politische Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und anderen Migrant:innen irrelevant und die Kategorie ›Flüchtling‹ zugunsten eines allgemeinen Migrationsbegriffs aufgelöst.« (Ebd.: 152) Deutlich wird im Kontrast, dass sich unterschiedliche Ideen davon, wie Wissenschaft funktioniert – funktionieren sollte – und welche Schwerpunkte, Prämissen und Prinzipien im wissenschaftlichen Bereich berücksichtigt werden sollten. Auf der einen Seite wird eine Idee von neutraler, objektiver Wissenschaft deutlich, die aus sich heraus nicht politisch ist, deren Erzeugnisse aber politisch – außerhalb des wissenschaftlichen Systems, also wissenschaftsextern – weiterverwendet werden könnten. Auf der anderen Seite wird jene Trennung von Wissenschaftlichkeit von anderen realweltlichen Bereichen, wie politischer Situiertheit und Bedingtheit von allein schon Forschungsfragen aufgegriffen und be- und verarbeitet und versucht wissenschaftliche Konventionen und formalisierte Prozesse neu zu denken. Dies geschieht insbesondere in einer intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit der moralischen Konnotation und normativen Durchdringung des ausgewählten Phänomens: Flucht. Die moralische Konnotation des Forschungsfeldes bringt, so Scherr, einen weiteren problematischen Effekt mit sich: Forscher:innen könnten nicht offen über ihre Motivationen sprechen. Gründe wie z.B., dass sie sich bessere Karrierechancen, Reputationsgewinn im wissenschaftlichen Diskurs oder leichteren Zugang zu Finanzierung erhofften, werden eher sanktioniert. Es wird implizit erwartet, dass Forschung im Bereich FluchtMigration von einer besonderen ›Sorge‹ aufgrund der Situation der Betroffenen motiviert wird (vgl. ebd.). Silke Betscher thematisiert diese Herausforderungen in ihrem Beitrag über Reflexionen über strukturelle Hürden und grenzen der Wissensproduktion. Als Titel wählte sie ein Zitat einer Freundin: »They come and build their careers upon our shit« (Betscher 2020). Betscher berichtet von unterschiedlichen Momenten der Verschiebung, hervorgerufen durch moralische Bedenken, die ihre Forschung seit Forschungsstart 2014 beeinflussten: »[Einerseits] hatte ich anknüpfend an eine vorherige Forschung zu öffentlichen Bildern von Migration in den 1960ern ein fortlaufendes Forschungsprojekt zu visuellen Diskursen von Flucht und Asyl in bundesdeutschen Medien – ein Projekt, bei dem das Material die Forschung in den Jahren 2015/16 überrollte –, andererseits behagte mir dieser neue Hype überhaupt nicht.« (Ebd.: 239) Dies Unbehagen, so erklärt Betscher, war einer der Gründe, warum sie ihren Forschungsfokus von Geflüchteten fort und in Richtung der Einheimischen gerichtet hätte. Ein anderer Grund für diese Fokusverschiebung sei gewesen, »dass es angesichts der vielen ganz konkreten und alltagspraktischen Herausforderungen, vor denen

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Geflüchtete standen, in erster Linie Menschen brauchte, die solidarisch behandelten und nicht Wissenschaftler*innen, die sie als interessanten Untersuchungsgegenstand erforschten« (ebd.). Forschungspragmatische Überlegungen, wie beispielsweise der Umgang mit besonderen Sprachbarrieren, waren weitere Gründe für die Verschiebung des Forschungsschwerpunktes. Obwohl die Forschende zu Beginn bewusst versuchte den Fokus ihrer Forschung so zu legen, dass sie nicht mit dem Dilemma konfrontiert würde, fand sie sich im Zuge ihrer Forschungsunternehmung doch wiederholt in Situationen wieder, in denen sie sich diesem Dilemma nicht entziehen konnte: sie sich den Geflüchteten und ihrer Betroffenheit nicht entziehen konnte. Sie illustriert dies mit einem konkreten Beispiel: Während ihrer Forschung wurde sie gebeten mit einem Brief zu helfen, den ein Geflüchteter aufgrund der Sprachbarriere nicht verstehen konnte. Sie half bei der Übersetzung und wurde schließlich selbst aktiv, als es galt Schadensbegrenzung in dem konkreten Fall zu betreiben. Sie setzte sich also für den Geflüchteten ein. Obwohl sie ihr Forschungsfeld, das die Akteursgruppe der Geflüchteten zwar berührte, eingegrenzt hatte, sodass der Forschungsfokus nicht auf der Situation der Geflüchteten lag, wurde sie mit-eingebunden und fühlte sich wiederholt »zum solidarischen Handeln aufgefordert« (ebd.: 250). Sie erklärt in ihrer Reflektion, dass sie fortan »in die Praktiken des ›Helfens‹ involviert [war und] über diesen Weg zum Teil der Gemeinschaft und damit zur Akteurin im Feld« (ebd.) geworden sei. Abschließend kommt sie zu dem Schluss, »einem Feld, welches durch vielfache intersektionell verschränkte Diskriminierungen und Ausgrenzungen (angefangen von Sprachbarrieren, über rassistische Sondergesetze, unreflektiertes Handeln von Verantwortlichen etc.) geprägt ist, [kaum möglich ist], eine Forschung durchzuführen, die sich nicht positioniert.« (Ebd.: 256) Mit Betschers Beispiel wird deutlich, dass selbst wenn Forschende bewusst andere Schwerpunkte setzen, sich Menschen, die betont eingeübt haben, sich nur methodisch kontrolliert in ihrem Forschungsfeld zu bewegen, der ethischen Verpflichtung und Aufforderung zum solidarischen Handeln doch nicht vollständig entziehen können: und trotz des Wissens um den wissenschaftlichen (Mehr-)Wert einer distanzierten Position, diese verlassen wird. Das, was Bettscher in ihrer Reflexion thematisiert, kann als Dilemma aufgefasst werden, das durch die besondere Realfigur des Flüchtlings immer schon gegeben ist (siehe Kapitel 3.1.1). »Von Flüchtlingen (im Unterschied zu anderen Kategorien von Migrant*innen) zu sprechen, impliziert die Annahme, dass es sich um Menschen handelt, die gezwungen sind, ihr Herkunftsland zu verlassen (insbesondere aufgrund von Verfolgung, Vertreibung, Kriegen und Bürgerkriegen) und die deshalb in besonderer Weise einen Anspruch auf Aufnahme und Schutz haben, woraus eine ethische Situierung und Verantwortung auch der Forschung resultiert.« (Scherr 2021: 8) Dem Phänomen liegt also von vornherein ein ethisch wirksames Element inne, das im Zuge einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen nicht weggestrichen werden kann und, wie Scherr in seiner Beobachtung des Forschungsfeldes feststellt,

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Wirkung entfaltet und diese wiederum hat »im Fall der Flucht- und Flüchtlingsforschung besondere Komplikationen« (ebd.). Im Vergleich zu anderen Forschungsfeldern, wie beispielsweise der Armuts- oder Gesundheitsforschung ließe sich bei Fluchtforschung keine eindeutig normative Richtung bestimmen. In der Gesundheitsforschung ist der ›erkrankte Organismus‹ das Problem, welches es zu beheben gilt: einen Beitrag zur Genesung zu leisten, ist das grundlegende Ziel der Forschung. Der binäre Gegensatz von ›Krankheit‹ und ›Gesundheit‹ gibt eine klare, normative Orientierung vor. In der Fluchtforschung, so Scherr, gäbe es keinen Konsens über die normative Orientierung (vgl. ebd.). Die Abgrenzung von Flucht zu anderen Formen der Migration sei ebenso unklar und darüber hinaus, erklärt Scherr, sei die »Unterscheidung selbst normativ voraussetzungsvoll, in dem sie Annahmen darüber in Anspruch nimmt, welche Ursachen und Gründe von Migration als Fluchtursachen gelten sollen« (ebd.: 8f). Aus diesen ›Fluchtgründen‹ ergebe sich dann der berechtigte Anspruch auf Aufnahme und Schutz (vgl. ebd.: 9). Um einen Fall von Flucht festzustellen, müsse demnach eruiert werden, aus welchen Gründen migriert, oder gegebenenfalls geflüchtet wurde. Auch im Rahmen des Verbundprojekts FFT wird die normative Durchdringung des Gegenstandes thematisiert und diese Herausforderung als »zentrales Thema in theoretischen und methodologischen Auseinandersetzungen« (Kleist et al. 2019: 10) erkannt. Dabei wird die normative Komponente, die mit dem Phänomen von Flucht und der Figur des Flüchtlings einhergeht, zum gesonderten Thema wissenschaftlicher Reflexion gemacht. Scherr betont im Gegenzug, dass ein Minimalkonsens über den eigentlichen Gegenstand für derartige Überlegungen notwendig ist. Dieser Minimalkonsens könne dann »als Bezugspunkt für Auseinandersetzungen [und] als Bestimmung dessen, worüber kontroverse zu diskutieren ist« (Scherr 2021: 10) dienen. In zwei Punkten besteht unterdessen weitgehende Einigkeit: dass es sich bei Flucht um eine Form von erzwungener Migration handelt und der Aspekt der Schutzgewährung wesentlicher Bestandteil des Phänomens ist (vgl. Scherr 2021 und Kleist et al. 2019). In der Konzeption einer Partizipativen Fluchtmigrationsforschung (vgl. Aden et al. 2019) wird aus forschungspraktischer Perspektive auf die spezifische Beziehung zwischen Phänomen und Forschenden Bezug genommen: die konventionell getrennten Rollen zwischen Forschenden und Beforschten werden durch die Partizipative Fluchtmigrationsforschung grundlegend infrage gestellt. Es werden praktische Möglichkeiten exploriert, wie Geflüchtete als Forschungspartner:innen in den Prozess mit einbezogen werden können. Die Autor:innen des Forumbeitrags, der 2019 in der Zeitschrift Z’Flucht veröffentlicht wurde, kritisieren, dass bislang vor allem über Geflüchtete, aber selten mit Geflüchteten geforscht werde. Zentraler Aspekt ihrer Kritik ist, dass Forschende bis zu einem gewissen Grad auch die Objekte ihrer Forschung, durch z.B. Zuschreibungen mit-produzieren. Der spezifisch erkenntnistheoretische Zugang der Forschenden und ihre Positionierung innerhalb und in Bezug zu ihrem Gegenstand, prägte den Blick auf den Gegenstand ohnehin schon und der scientific gaze könne dazu führen, dass wichtige Aspekte des Phänomens unterbeleuchtet blieben. Um dieser Problematiken zu begegnen, werde die Partizipative Fluchtmigrationsforschung als ein Gegenentwurf (bzw. Ergänzung) zu bereits etablierten Herangehensweisen vorgeschlagen (vgl. ebd.: 304). Der Ansatz die Akteursgruppe der Beforschten in die Forschung

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mit einzubeziehen, ist keinesfalls neu und wird beispielsweise im Bereich der Disabilty Studies bereits angewendet. Insofern, so die These der Autor:innen, könnte dieser Ansatz auch für die Fluchtforschung produktiv genutzt werden. Die Autor:innen weisen weiterhin darauf hin, dass dieser Ansatz lediglich in Bezug zu der konventionellen und spezifischen deutschen Wissenschaftskultur eine Neuerung darstelle und aus Perspektive deutschsprachiger Wissenschaftskonventionen als »inkompatibel« (ebd.: 308) umstritten sei. Problematisiert werde am partizipativen Ansatz die Frage von angestrebter Objektivität der Forschung. Die Sorge ist, dass ein Einbezug der Perspektive der Beforschten den Objektivitätsanspruch der Forschung mindern könnte (vgl. ebd.). An dies Kriterium der ›Objektivität‹ werden weitere Aspekte der Forschung angebunden: objektive Forschung gilt als qualitative Forschung und das generierte Wissen habe einen hohen Anspruch auf Allgemeingültigkeit (vgl. ebd.). Die potenziell fehlende ›Objektivität‹ wird zu einem Problem, wenn ›Objektivität‹ konstitutiv für das geschöpfte Wissen angenommen wird. Die Autor:innen unterstreichen die Potenziale, die durch die partizipativen Forschungsprogramme entfaltet werden könnten: »Durch dieses Vorgehen können die Stimmen derjenigen Gehör finden, die als ›Beforschte‹ unmittelbar von den Forschungsvorhaben betroffen sind und deren lebensweltlichen Zusammenhänge von den Forschungsergebnissen beeinflusst werden könn(t)en« (ebd.: 305). Die Beforschten sollen im Forschungsprozess nicht mehr nur als Informationsquellen fungieren, sondern aktiv als teilnehmende und teilhabende Forschungspartner:innen in die Prozesse der Wissensproduktion mit einbezogen werden (vgl. ebd.). Die Autor:innen betonen, dass ein Unterschied besteht, zwischen einer Forschung, die vorrangig über ihren Gegenstand forscht und einer, die den Gegenstand mit einbezieht. Die besondere Konstitution des Gegenstandes ›Flucht‹ und die Situation der Geflüchteten bedeutet, dass Forschung die ethische Dimension nicht ausblenden kann und soll und diese Überlegungen sollten auch in Reflexionen über Forschungsmethoden, Heran- und Umgangsweisen mit dem Gegenstand einbezogen werden und sich konsequent in der Forschungsrealität niederschlagen. Die Autor:innen verweisen wiederum auf den ›dualen Imperativ‹ (Jacobsen/Landau 2003), durch den die FluchtMigrationsforschung geprägt ist: »Aufgrund der humanitären Lage Geflüchteter [muss] Forschung über geflüchtete Menschen sowohl ethischen und wissenschaftlichen Standards entsprechen als auch politische und praxisrelevante Zielsetzungen verfolgen« (Aden et al. 2019: 307, Herv. dort). Ein weiterer wichtiger Aspekt partizipativer Ansätze sei, dass diese mögliches Empowerment förderten (vgl. ebd.: 308). Kritisch reflektieren die Autor:innen derartige Überlegungen, dass die Idee von Empowerment nur vor dem Hintergrund ihrer Notwendigkeit aufgrund von vorliegender oder empfundener Machtlosigkeit funktionieren kann (vgl. ebd.: 310). Das Argument des Empowerments funktioniere also nur, wenn zuvor eine Machtlosigkeit festgestellt oder möglicherweise auch – durch z.B. Forschungsprogramme, wenn beispielsweise Deutungshoheit entzogen wird – hergestellt wird. Aus Perspektive der ANT werden die Forschenden zu (Für-)Sprecher:innen von Akteursgruppen, die zuvor zum ›verstummen‹ gebracht wurden (siehe Kapitel 2.1.2): »Für andere zu sprechen, bedeutet zunächst, jene zum Schweigen zu bringen, in deren Namen man spricht« (Callon 2006: 162).

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Durch partizipative Ansätze seien die methodologischen und methodischen Instrumente beständig einem stärkeren Innovationsdruck ausgesetzt, wenn wiederholt Hürden bei der Einbeziehung der Co-Forschenden gemeistert werden müssten. So müsste konstant hinterfragt und reflektiert werden, dass gewisse Selbstverständlichkeiten, die sich aus einem gesellschaftlichen Selbstverständnis der Forschenden ergeben, nicht als gegebene Selbstverständlichkeiten der Co-Forschenden angenommen werden könnten. Gleichzeitig bestehe das Risiko der Re-Subjektivierung der Co-Forschenden durch partizipative Ansätze, wenn innerhalb der Forschung von ›Betroffenen‹, ›Vulnerablen‹, ›Marginalisierten‹ und ›Geflüchteten‹ gesprochen werde. Neben Fragen des Objektivitätsanspruches des erlangten Wissens, sei es notwendig, die gegebenen Ressourcen zu reflektieren und sprachliche, kulturelle und finanzielle Herausforderungen mitzudenken, wenn partizipative Ansätze umgesetzt werden sollen. Auch die entstehende Beziehung zwischen den Forschenden und Co-Forschenden müsse (kritisch) reflektiert werden. Besonders Abhängigkeitsverhältnisse, die zwischen Forschenden und Geflüchteten bestünden und eventuelle Interessenskonflikte gelte es zu moderieren. Forschende müssten darauf achten klarzumachen, dass sich die (motivierte) Partizipation am Forschungsprozess nicht in positiver (oder negativer) Weise auf die Asylverfahren auswirken könne (vgl. Aden et al. 2019: 308). Zu dieser Aufklärung gehörte außerdem ein reflektiertes Bewusstsein darüber, dass Co-Forschende in späteren Publikationen auch namentlich genannt würden und dies, insbesondere im Falle intersektional gelagerter Forschungsvorhaben, beispielsweise im Bereich von LGBTQ+-Thematiken reale negative Konsequenzen für die Co-Forschenden haben könne (vgl. ebd.: 309). Gleichsam könnte durch die Co-Autorenschaft wiederum Zugang zur ansässigen scientific community eröffnet werden. Partizipative Ansätze brächten also eine Reihe von Herausforderungen mit sich, die auf unterschiedlichen Ebenen der Forschung – methodologisch, methodisch und konzeptionell, sowie theoretisch – den Bedarf und die Notwendigkeit fortwährender Innovation und Be- und Überarbeitung erfordern: dazu werde regelrecht aufgefordert. Die Fragen »Wer generiert welches Wissen über wen und wer profitiert auf welche Weise von akademischen Aktivitäten und Erkenntnissen – und wer nicht?« (vgl. ebd.: 311, Herv. dort) müssen ständig reflektiert und bearbeitet werden. Die auf den letzten Seiten nachgezeichneten Spuren machen die komplexen Spannungsverhältnisse, die das (junge) Forschungsfeld der FluchtMigration besonders prägen sehr deutlich. Einige der umstrittenen Fragen begleiten das Feld bereits seit seiner Neuerung in den 2010er Jahren, andere haben sich erst in den letzteren Jahren herauskristallisiert. Das Forschungsfeld, das sich als eigenes Feld emanzipieren und aufstellen, d.h. auch von anderen abgrenzen muss, bleibt immer doch eingebunden in andere wissenschaftliche Zusammenhänge (vgl. Scherr 2021). Es wird in die ›Traditionslinie‹ der Migrationsforschung eingebunden und ›erbt‹ Zielsetzungen, Prämissen und Kontroversen. Und obwohl die Besonderheit des Gegenstandes erkannt und reflektiert wird, dies auch zur Methodeninnovation führt, bleiben die Wissensproduktionen innerhalb des Feldes doch eingebunden in vereinbarte wissenschaftliche Konventionen. Wenn auch als interdisziplinär beschrieben, stellen sowohl Kleist (vgl. u.a. Kleist 2019 und Kleist et al. 2019), sowie Scherr (2021) fest, dass das Feld bei genauerem Hinsehen eher von einem Nebeneinander als Miteinander verschiedener Fächer geprägt ist. Die

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Uneindeutigkeit oder vielmehr Uneinigkeit darüber, wie der eigentliche Gegenstand des Feldes zu definieren sei – man vom Flüchtling oder vielmehr von Flucht sprechen möchte – gestalte den Austausch über die disziplinär gefestigten Grenzen hinweg nicht einfacher. Unterschiedliche Herangehensweisen, Perspektiven, Methoden, Theorien und Erklärungsangebote, sowie Fragestellungen und Einordnungen der Ergebnisse stehen eher parallel und bestenfalls ergänzend nebeneinander, statt dass sich tatsächliche Brückenschläge über disziplinäre Grenzen hinweg ergäben. Eben diese Feststellung, die sich insbesondere aus den Ergebnissen des Verbundprojekts FFT ergeben, weisen auf eine Übersetzungsproblematik hin und hier wird Edgar Morins Kritik der »Barbarei der Moderne« (siehe Kapitel 1.1.3) deutlich. Dass sich die Logiken oder vielmehr Sprachen der jeweiligen, sich über die Zeit gebildeten und gefestigten Disziplinen so voneinander entfremdet haben und einander so fremd geworden sind, dass obwohl zum gleichen Thema gearbeitet wird, das Ziel eines Miteinanders wünschenswert erachtet, das Ergebnis öfter in einem bloßen Nebeneinander verbleibt: Interdisziplinarität also bislang scheitert. Anders erscheint der Blick über die Wissenschaften hinaus, wenn nicht-wissenschaftliche Akteure in die Betrachtung mit einbezogen werden. Bei Scherr finden wir ein stark systemisch geprägter Ansatz, der Wissenschaft als Teilsystem neben anderen als Lieferant von Wissen betrachtet, das anderen Teilsystemen zur Verarbeitung zur Verfügung gestellt werden soll. Gleichzeitig soll sich das wissenschaftliche System intern gemäß den eigenen Logiken um einen Erkenntnisgewinn innerhalb der wissenschaftlichen Kreise bemühen. Wobei beides, die wissenschaftliche Dienstleistung einerseits, sowie das rein wissenschaftliche Erkenntnisinteresse andererseits, als scheinbare Gegensätze einander gegenübergestellt werden. Die besondere Anwendungsorientierung und Praxisbezogenheit des Feldes werden als ein charakteristisch besonderes Merkmal erkannt. So nehme das Feld Impulse aus der Praxis auf, orientierte sich besonders an Problem- und Fragestellung aus der Praxis und erarbeite mit den eigenen Methoden lösungsorientiert Antworten. Es erscheint fast wie eine besondere Form der ›Auftragsforschung‹, wenn nicht unbedingt immer klare Aufträge nicht-wissenschaftlicher Akteure gegeben werden, sich die Forschenden selbst aber den Auftrag erteilen mit der eigenen Arbeit zu einer Verbesserung der Situation Geflüchteter beizutragen. Womit eine weitere besondere Eigenheit deutlich wird: die ethische Dimension, in der sich die Forschung kontinuierlich bewegt. Da ist ständig die Spannung zwischen der Verantwortung gegenüber der Wissenschaft und der gleichzeitigen Betroffenheit durch die Situation Geflüchteter und der Aufforderung zur Solidarität und zum moralisch ›guten‹ Handeln, das sich zumindest an der do-no-harm-Prämisse orientieren sollte. Wie die Forschungsreflexion von Silke Betscher (2020) zeigte, gestaltet es sich schwer im Feld der FluchtMigrationsforschung sich dieser mehrfachen Verantwortung und potenziellen Interessenskonflikte zu entziehen. Und wenn soziologische, wissenschaftliche Forschung gemäß des weber’ianischen Prinzips der Werurteilsfreiheit zumindest das Ziel verfolgen sollte neutral und möglichst objektiv zu sein, erscheint die Grenzregimeforschung von kritnet wie ein ›Ausreißer‹ im ›Idealbild‹. Während Forschung im Umfeld von kritnet selbst politisch eingebunden und situiert ist und sich auch als politisch aktiver Akteur begreift, bemüht sich das Netzwerk Fluchtforschung um eine Positionierung gegenüber politischen und praxisnahen Akteuren. Der distanzierte Kommunikationszusammenhang, in dem sich das Netz-

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werk Fluchtforschung mehr an einem weber’ianischen und luhman’ianischen Verständnis von Wissenschaftlichkeit orientiert, soll ermöglichen, dass an die »Politik die Erwartung adressiert werden [kann], als seriöse, politisch unvoreingenommene Forschung und damit als Dialogpartner ernst genommen zu werden« (Scherr 2021: 16). In vielen Aspekten lassen sich die Verschiebungen und noch ablaufenden Verhandlungen im Feld nachzeichnen, doch in einem Punkt sind sich sowohl Kleist als auch Scherr einig: die Forschung im Feld der FluchtMigration ein grundlagentheoretisches Defizit auf und eine verstärkte gesellschaftstheoretische Rückbindung der Forschung ist in einer nächsten Phase notwendig (vgl. ebd.: 15): »Wenngleich anwendungsorientierte wissenschaftliche Perspektiven auf aktuelle politische, soziale oder ökonomische Herausforderungen im Vordergrund standen, blieb doch auch eine gesellschaftstheoretisch informierte und interessierte Debatte nicht aus. […] Mit Blick auf den internationalen Forschungsstand zeigen sich […] noch grundsätzliche konzeptionelle, theoretische und erkenntnistheoretische Desiderate, die einem besseren Verständnis dieser komplexen Phänomene entgegenstehen. [So müsse die Fluchtforschung] auch stärker anschlussfähig für die zentralen theoretischen und konzeptionellen Fragstellungen der für sie wesentlichen Disziplinen werden.« (Kleist et al. 2019: 38f)

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3 Der Fremde und die Soziologie

Die Ausgangsthese dieser Arbeit ist, dass am Fremden zunächst das Eigene zum Vorschein kommt. Die Konfrontation von Wissenschaften mit Komplexität (siehe Kapitel 1.1.3) zeigt die Limitationen von Herangehensweisen, Werkzeugen und Theorien auf. Werden wir realgesellschaftlich mit Fremden konfrontiert, so lässt sich auf Anhieb kaum etwas über die Qualitäten der Fremden aussagen, doch die augenblickliche Reaktion, die die Begegnung provoziert, bring die Eigenheiten des Eigenen deutlich zum Vorschein. Dort wo das Gewohnte, das Bekannte nicht mehr funktioniert, dort wo improvisiert werden muss, wo die Akteur-Netzwerke die Arbeit wieder aufnehmen müssen, werden die Spuren ihres ständigen Tuns besonders deutlich. Im Vorausgegangenen Kapitel wurden die Spuren der Akteur-Netzwerke versammelt und mit besonderer Perspektive auf das Eigene kartografiert. Mit tausenden Geflüchteten kamen reale (damals noch) Fremde nach Deutschland und nach anfänglicher Orientierung auf die Bedürfnisse der Geflüchteten, wurden die »Leute […] mit der Politik […]« (FB220517: 5) und der »Ungerechtigkeit in der deutschen Gesellschaft« (FB230417.01) konfrontiert (siehe Kapitel 2.2). Auch das Versagen der Verwaltungsstrukturen und Behörden als die Systeme drohten unter der großen Zahl Geflüchteter zusammen zu brechen, blieb nicht nur jenen im Gedächtnis, die als Spontanhelfende am Ende des langen Sommers der Migration 2015 zum Münchner Hauptbahnhof eilten um bei der Ankunft, Versorgung, Registrierung und Unterbringung der Geflüchteten zu helfen. Die Spontanhelfenden waren die »Gelingenbedingung für den Aufnahme- und Integrationsprozess« (Speth/Becker 2015: 43f). Dabei waren – sind – nicht nur Behörden, Verwaltungsstrukturen und Zivilgesellschaft vor Ort mit dem Fremden konfrontiert, auch Wissenschaften, insbesondere jene, die sich mit den Ereignissen, dem gesellschaftlichen und politischen Umgang und der Lebensrealität Geflüchteter befassten, herausgefordert: die Konfrontation mit dem Fremden hat auch methodologische und methodische Innovationen hervorgebracht und eine intensive Reflexion über das Eigene angestoßen (siehe Kapitel 2.3). An die methodischen Innovationen und kritische Auseinandersetzung mit empirischen Herangehensweisen anschließend, erklären Sprecher des Feldes FluchtMigrationsforschung, dass in der nächsten Phase eine stärkere gesellschafts- und sozialtheoretische Rückbindung der FluchtMigrationsforschung notwendig sei (vgl. Kleist 2019, Scherr 2021). Die hauptsächlich anwendungs- und praxisorientierte Forschung leide bis-

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lang unter einem konzeptionellen und theoretischen Defizit (vgl. Kleist et al. 2019: 11, Scherr 2021: 15f). Gerade mit Blick auf internationale FluchtMigrationsforschung bestehe hier für die deutschsprachige FluchMigrationsforschung Aufholbedarf. Nicht aufgezeigt wird in der Kritik, dass sich über die soziologische Figur des Fremden eine mögliche theoretische und konzeptionelle Rückbindung anbieten könnte. Der Brückenschlag zwischen FluchtMigrationsforschung und soziologischen Figuren des Fremden wurde von eher politikwissenschaftlich orientierten Arbeiten bereits vorgemacht (vgl. Friese 2017, Schulze-Wessel 2017). Die Lücke, die sich zwischen der Realfigur des Flüchtlings und der Sozialfigur des Fremden und Theorien von Fremdheit allgemeiner auftut, ergibt sich beidseitig: soziologische Arbeiten aus dem Bereich der FluchtMigrationsforschung (vgl. u.a. Bauman 2017) stellen kaum Bezüge zur Sozialfigur des Fremden auf. Und auch in Grundlagenwerken zu Theorien des Fremden, wie dem von Wolfang MüllerFunk (2016) wird die Realfigur des Flüchtlings nur in einer Aufzählung neben Gast, Ausländer, Migranten, Diplomaten und Tourist als »Formen des Alteritären [und als] dramatische Figur unserer Tage« (Müller-Funk 2016: 19) erwähnt. Im Durchblick der Veröffentlichungen aus den Zeitschriften Z’Flucht und movements stellt sich heraus, dass weder auf Georg Simmels Figur des Fremden noch Alfred Schütz oder der Marginal Man von Robert E. Park verwiesen wird. In der Zeitschrift Migrationsforschung des IMIS verweist Ludger Pries in seinem Beitrag über die Entwicklung der Migrationssoziologie im 21. Jahrhundert auf die Werke der Chicago School und damit Robert E. Parks Marginal Man (vgl. Pries 2021). Häufiger wird auf Zygmunt Baumans Arbeiten Bezug genommen, der selbst auch im Bereich FluchtMigrationsforschung veröffentlichte und 2017 das Essay Die Angst vor den anderen. Tatsächlich werden Baumans Arbeiten zu Flucht, gesellschaftspolitischer Umgang mit Flucht und Phänomene des Fremden kaum referiert. Wenn Baumans Werke einbezogen werden, dann im Hinblick auf seine Arbeiten über die Herausforderungen der Moderne und die Notwendigkeit der Überwindung und Bewältigung von Ambivalenzen, sowie der Hierarchisierung von globaler Mobilität (vgl. u.a. Dieterich 2019, Scheel 2015, Düvell 2021: 216f). Auch in Arbeiten, die sich mit Rassismus befassen, werden Baumans kritische Diagnosen zur Reproduktion der Freund-Feind-Unterscheidung im Kontext von Flucht und Migration einbezogen (vgl. u.a. Scherschel/Bazyar-Gudrich 2021). Eine Auseinandersetzung mi dem Fremden erscheint ansonsten im Umfeld der untersuchten Zeitschriften lediglich im Zuge eines Interviews mit Étienne Balibar, das 2015 im movements Journal veröffentlicht wurde. Das Interview trägt den Titel Fremde – eine europäische Obsession1 . Das Interview startet mit einem Verweis auf ein Zitat von Zygmunt Bauman in dem er erklärt, dass jede Gesellschaft ihre eigenen Fremden produziere (vgl. Balibar et al. 2015: 1). Die Interviewenden fragen Balibar nach einer Einschätzung zu ›unserem‹ Fremden. Balibar betont, dass schon die unterschiedlichen Übersetzungen des Begriffs die Vielschichtigkeit des Phänomens verdeutlichen: Während die französische Sprache einen Begriff zur Verfügung stellt – l’étranger – bietet die englische Sprache mehrere: alien, stranger und foreigner. Übersetzungen von einer in die andere Sprache 1

Das Interview wurde von Catherine Portevin und Mathilde Blottière geführt und erschien im Original im April 2011 bei Télérama, einem französischen Kultur und TV Magazin. Eine deutsche Übersetzung wurde 2015 bei movements veröffentlicht.

3 Der Fremde und die Soziologie

sind damit schon immer kontextabhängig. Im Gegensatz zum deutschen ›Fremden‹ und dem französischen l’étrarnger bietet die englische Sprache die Möglichkeit zur Präzision und Differenzierung: mit foreigner wird im Regelfall der Ausländer gemeint. Alien ist der Unbekannte oder Außerirdische: der »radikal und oft monströs andere« (ebd.: 1) wird als alien bezeichnet und der Begriff stranger betont wiederum die Andersartigkeit des Anderen. Wenn Zygmunt Bauman vom Fremden spricht, dann meint er den stranger (vgl. ebd.: 1). Und wenn er sagt, dass jede Gesellschaft ihre eigenen Fremden produziert, dann meint er diejenigen, die »nicht unmittelbar als Teil der Gesellschaft angesehen« (ebd.: 1) werden. Diejenigen, die nicht zum ›Eigenen‹ gehören. Indem er davon spricht, dass Gesellschaften ihre Fremden hervorbringen, wird zudem deutlich, dass den Fremden keine Essenz des Fremdseins innewohnt, sondern sie nur in Relation zu einer Gesellschaft betrachtet werden können und: wie werden von der Gesellschaft produziert und dann wiederum durch beispielsweise nationalstaatliche Grenzpraktiken reguliert und kontrolliert. Gesellschaften bringen ihre Fremden hervor, schließen sie aus und holen sie durch Machtausübung wieder herein, wenngleich die ›Fremdheit‹, in dem Sinne als das Andere vom Eigenen, nicht (wieder) aufgelöst wird. Balibar unterstreicht in dem Zuge, dass Fremdheit immer im Zusammenhang mit einem Verständnis von Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit und Teilhabe, sowie Ausschluss, Abgrenzung und Grenzziehung betrachtet werden muss (vgl. Balibar 2015). Beschäftigte sich Forschung also vorranging nur mit dem Fremden und seinen realen Entsprechungen, d.h. Migranten oder Ausländern, bliebe ein wesentlicher Aspekt des Fremden unbeleuchtet. Das folgende Kapitel bildet eines der Hauptkapitel dieser Arbeit. Im Fokus steht die Sozialfigur des Fremden und das Phänomen von Fremdheit. Die Realfigur des Flüchtlings bildet für die folgenden Ausführungen die empirische Verankerung, anhand der aus unterschiedlicher Perspektive, mit verschiedener Schwerpunktsetzung die Bedeutung und Wichtigkeit der Sozialfigur des Fremden beleuchtet und die Notwendigkeit eines differenzierten und intensiven soziologischen Ausbaus einer Heuristik des Fremden und von Fremdheit verdeutlicht wird. Aus der Kartographie der Forschungslandschaft der FluchtMigrationsforschung ergab sich aus dem vorausgegangenen Kapitel bereits, dass es der schwerpunktmäßig anwendungsbezogenen und praxisorientierten Forschung aus dem Bereich der FluchtMigrationsforschung bislang noch an einer stärkeren gesellschafts- und sozialtheoretischen Rückbindung fehle (vgl. Kleist et al. 2019: 38f). Ulrich Bielefelds Feststellung von 2004, dass es sich beim Fremden nicht etwa um ein klassisches Thema der Soziologie handele, »sondern vielmehr um ein klassischerweise vernachlässigtes« (Bielfeld 2004: 397), liefert bereits einen Hinweis, welches Potenzial für eine stärkere gesellschafts- und sozialtheoretische Rückbindung aus dem Anschluss an die soziologischen Figuren des Fremden möglich sein könnten und gleichzeitig lässt sich spekulieren, dass der Umstand, dass der Fremde auch weiterhin nach 2004 ein eher vernachlässigtes Thema der Soziologie blieb, diese Lücke und das Potenzial eben jenes im Umfeld der FluchtMigrationsforschung womöglich bislang übersehen wurde. Im Folgenden wird die Komplexität, die im Sinne Morins als Vielheit, Ambivalenz und Gleichzeitigkeit begriffen wird (siehe Kapitel 1.3.1) von Fremdheit und der Figur des Fremden ausgebreitet. Im Sinne einer ANT-geleiteten Forschung werden verschiedenen Nutzungsweisen und Bearbeitungen von Fremdheit und des Fremden zusammengetra-

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

gen und nebeneinander ausgebreitet. Das Kapitel gliedert sich in zwei große Abschnitte: Im ersten Teil steht die Besprechung des Fremden und von Fremdheit im Fokus der engen Verschränkungen und Durchdringungen unterschiedlicher Definitionen und Kategorien des Fremden, Aushandlungen von Fremdheit und versuchten Umgangsweisen und Einhegungen des Fremden, sowie sozialhistorischen Verschränkungen. Die Ausführungen des ersten Abschnitts helfen schließlich dabei, die Kernthese dieser Arbeit herauszuschälen: Am Fremden zeigt sich zunächst das Eigene. Und gemäß den Prinzipien von Agnostik, Freier Assoziation und generalisierter Symmetrie, werden die herangezogenen Referenzen wissenschaftlicher Autor:innen nicht nur als erklärende Quellen gelesen. Sie werden selbst zum Gegenstand der theoretischen Untersuchungen gemacht, zu Zeitzeugen der Soziologie ihrer jeweiligen Wirkungszeigen. Kernessenz des ersten Teils des Kapitels ist es, dass Fremdheit und der Fremde als Bedingung für soziologische Forschung, die Entstehung der Soziologie als einer Wissenschaft, sowie die Bedingung von Modernisierung und Verbreitung des modernen Nationalstaats als ordnungsgebendes Moment der Moderne betrachtet werden kann: Die Geschichte der Soziologie ist die Geschichte des Fremden, ist eine Geschichte der (europäischen) Modernisierung und der Entwicklung des (modernen) Nationalstaats. Eine Wi(e)derlesung der klassischen, soziologischen Fremdenfiguren bildet den zweiten Abschnitt dieses Kapitels. Es wird eine dichte und textnahe Lesung, ein Vergleich und eine Einordnung der Fremdenfiguren von Georg Simmel, Robert E. Park und Alfred Schütz, sowie ihre zeitgenössische Anwendungsmöglichkeiten in soziologischen Arbeiten vorgenommen. Dabei stellt sich heraus, dass obgleich Simmel, Park und Schütz auf ihre Weise über den Fremden und Fremdheit sprechen, sie die gleichen Begrifflichkeiten nutzen und daher naheliegenderweise in Rezeptionen über den Fremden und Fremdheit gemeinsam genannt werden, ein jeder Ansatz eigentlich etwas ganz anderes bespricht und das, was um was es eigentlich geht, lediglich als ›das Fremde‹ bezeichnet wird. Fremdheit in der angebotenen Lesart kann demnach, wie eine Art Platzhalter betrachtet werden: für das, was sich bislang noch dem forschenden Verständnis entzieht. Etwas, das sich mit Edgar Morin als das Komplexe bezeichnen lässt: etwas, das noch nicht erfasst werden konnte (siehe Kapitel 1.3.1)

3.1 Aushandlungen des Fremden Im folgenden ersten Abschnitt des Kapitels wird die Figur des Fremden und Fremdheit unter drei verschiedenen Schlaglichtern betrachtet. Der Abschnitt beginnt mit einem Brückenschlag zwischen der Sozialfigur des Fremden und der Realfigur des Flüchtlings. Darauf folgt eine Besprechung der engen Verzahnung der Figur des Fremden und des Phänomens Fremdheit mit der Wissenschaft der Soziologie: eine Beschäftigung mit dem Fremden und Fremdheit ist mehr als nur ein Thema soziologischer Untersuchungen. Fremdheit kann als eine Bedingung des ›Sozialen‹ betrachtet werden. An dritter Stelle folgt eine Betrachtung von Fremdheit unter den Bedingungen des (modernen) Nationalstaats. Dabei liegt besonderer Fokus auf Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung und Zygmunt Baumans Arbeit zur Ambivalenz der Moderne, die im Kontrast zur klaren

3 Der Fremde und die Soziologie

Unterscheidungskategorie Schmitts eben gerade die Unentschlossenheit der ›Moderne‹ unterstreicht.

3.1.1

Die Realfigur des Flüchtlings

In der empirisch erfassbaren Realität findet die Figur des Fremden eine Reihe unterschiedlicher Entsprechungen: Eine davon ist die Realfigur des Flüchtlings. Der Flüchtling (im Englischen refugee) zeichnet sich durch eine konkrete Handlung aus: Er ersucht ein Refugium, einen sicheren Ort, an dem er Zuflucht sucht und hofft zu finden. Damit kommen in der Figur des Flüchtlings zwei Elemente zusammen, die einander gleichzeitig konstitutiv bedingen: das, wovor geflüchtet wird auf der einen Seite und das, wohin geflüchtet wird auf der anderen Seite. Durch das Tun des Flüchtlings, werden den Orten (oder Akteuren) zwei unterschiedliche Zusätze zugeschrieben: der Ort, zu dem hin geflüchtet wird, der um Zuflucht ersucht wird, an dem Aufnahme erbeten wird. Die Bewegung des Flüchtenden ist entgegenkommend, sich nähernd, eine Hinzu-Bewegung. Der Flüchtende wendet sich im gleichen Moment vom anderen Ort (oder Akteur) ab, von dem aus weg geflüchtet wird. Flüchtende befinden sich also in einem Spannungsmoment zwischen zwei räumlich verortbaren Punkten (z.B. nationalstaatliche Territorien), die durch die Aktion des Flüchtens in Beziehung gebracht – deren Beziehung zumindest vorübergehend dadurch performativ intensiviert – werden. Durch den besonderen Charakter der Fluchtbewegung wird außerdem eine Asymmetrie in der Beziehung hergestellt oder verstärkt: die Zuwendung einerseits und die Abwendung andererseits. Es handelt sich dabei um zwei unterschiedliche Modi der Bezugnahme in einer positiven und negativen Wendung (vgl. Simmel 1959, siehe Kapitel 1.3.2). Da es sich bei den Orten meist auch um politische Akteure (Nationalstaaten) handelt, die durch die Flucht des Flüchtenden angesprochen und in-Verbindung-gebracht werden, wird der Flüchtende schon in dem Moment zu einer »hoch politischen Gestalt« (Inhetveen 2010: 148), der zugleich materielle und politische Interessen verschiedener Akteure berührt und (unaufgefordert und ungefragt) zusammenbringt (vgl. ebd.). Das politische Element des Flüchtenden wird also schon klar, wenn durch das Tun wenigstens zwei realpolitische Akteure ins Akteur-Netzwerk der Flucht mit einbezogen werden. Das materielle Momente hingegen wird an der Stelle deutlich, wenn wir von ›Flucht‹ nur dann sprechen, wenn die Bewegung durch eine existentielle Not, also eine lebensbedrohliche Zwangslage (vgl. Oltmer 2013: 43) initiiert wurde. Flüchtende finden sich zudem in einer besonderen Lage von (vorübergehender) Schutzlosigkeit wieder: Sie entfliehen dem Bereich eines politischen Akteurs und sind noch nicht im Schutze eines anderen angekommen (angenommen). Sie ersuchen den Schutz, gewährt wurde er noch nicht. In dieser Situation von Schutzlosigkeit und (Bürger-)Rechtslosigkeit, sieht der Philosoph Giorgio Agamben die Figur des Homo Sacer, der auf das nackte, bloße Leben reduziert wurde (vgl. Agamben 2002). Der Flüchtende wird durch ein mehrfaches Ausgeliefertsein bestimmt: Neben der materiellen Not (Nacktheit) und dem politischen Spannungsmoment zwischen realpolitischen Akteuren, ist der Flüchtende auch beständigen Projektionen und unterschied-

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lichen Deutungen ausgesetzt. Die Figur dient scheinbar als Projektionsfläche und teils einander widersprechende Erwartungen, Interessen, idealisierte Werte und imaginierte Ideen werden gebündelt und ihr eingeschrieben. Es werden Bilder werden konstruiert, denen er, als realer Repräsentant zu entsprechen hat. Katharina Inhetveen bezeichnet diese »Gruppe von Figuren, als Figurenkarussell« (Inhetveen 2010: 148). Er, der Flüchtling, der Begriff, die Gestalt und Figur, kann und wird von unterschiedlichsten Interessen regelrecht besetzt. Es wird Deutungshoheit und Geltungsanspruch erhoben. Er wird zum Opfer, Helden und gleichzeitig zur Bedrohung (vgl. Friese 2017). Flüchtende sind die Tapferen, die diktatorische Regime und Gesellschaftsordnungen kritisieren. Sie sind die politisch Verfolgten und Überlebenden, die versuchen tobendem Krieg zu entkommen. Sie sind gleichzeitig immer auch hilfsbedürftige Opfer. Als regelrechte »Klienten des Humanitarismus« (Inhetveen 2010: 152) sind sie Adressaten wohltätiger Verbände, von Kirchen, NGOs und Vereinen: »Der Flüchtling, auf den sich diese Organisationen beziehen, über den sie ihre Arbeit legitimieren und mit dem sie um Spenden und Marktanteile werben, ist unschuldig und hilfsbedürftig« (ebd.). Auch überzogene Genderbilder werden dem Flüchtenden eingeschrieben, wenn es heißt, dass die männlichen Flüchtenden diejenigen seien, die »Hilfsgüter verkaufen, versaufen oder gar für den bewaffneten Kampf in der Heimat einsetzen« (ebd.: 153), die bedrohlich und gefährlich sein sollen. Während auf der anderen Seite die die unschuldige, hilfsbedürftige Frau mit Kind zum idealisierten Sinnbild der Hilf- und Schutzbedürftigkeit aufgebaut wird, mit dem NGOs und humanitäre Organisationen um Spenden werben (vgl. ebd.): Sie ist »die madonnenhafte Flüchtlingsmutter [als] eine Gestalt in der Ferne« (ebd.), die medial inszeniert wird. Da ist der Flüchtende aber auch ein »betrügerischer Schmarotzer« ein »gerissener Betrüger« (ebd.: 154), der Sozialtourismus betreibt (vgl. Fiedler et al. 2017: 10), der Asylbetrüger, der ›Wirtschaftsflüchtling‹ einerseits und ein Träger von Arbeitskraft, eine potenzielle (ökonomische) Ressource andererseits. Er verkörpert die »erwünschte Mobilität von Arbeitskraft« (ebd.). Aus Perspektive des Nationalstaates wird er der »illegale Einwanderer«, der den rechtspopulistischen Diskurs befeuert, das Eigene bedroht und mit seiner Einreise die Souveränität des Nationalstaats infrage stellt (vgl. ebd.). Er, der Flüchtling, wird zu einem beunruhigenden Moment in der Ordnung des Nationalstaats, weil er die »Identität von Mensch und Bürger und damit von Abstammung und Nationalität [beschädigt]« (Agamben 2001: 5). Und somit hebt der Flüchtling die »alte Dreieinigkeit Staat-Nation-Territorium aus den Angeln« (ebd.). Und in der heutigen Zeit waren es nicht nur ein paar. 2015 waren es Tausende, die allein in einem einzigen Jahr Europas Grenzen erreichten: Es sind die erwarteten 800.000, die 2015 kommen sollten. Und es ist jene »größer werdende Zahl Menschen, […] die nicht länger in der Nation repräsentiert (und repräsentierbar) ist« (ebd.), die damit nicht nur einzelne nationalstaatliche Ordnungen bedroht, sondern potenziell die globale Ordnung bedrohen könnte. Durch die Flucht werden also mindestens zwei realpolitische Akteure mit einbezogen, in der potenziellen Betroffenheit der dominierenden Ordnung, geht es alle etwas an. Und er ist, allein in jenem ordnungsbedrohenden Moment, auch immer der Fremde, der – bei Alfred Schütz – von außen an eine bestehende Gruppe (Gesellschaft) herantritt und um Aufnahme ersucht (vgl. Schütz 2002 [1944]). Der Flüchtling hat, nicht weniger als der Fremde, viele Gesichter. Und obgleich gerade die Figur des Flüchtlings spätestens seit 2015 politisches, zivilgesellschaftlich wie auch wissenschaftliches Interesse bindet,

3 Der Fremde und die Soziologie

konnte doch (noch immer) kein Minimalkonsens darüber gefunden werden, wer er denn nun – eigentlich – ist, oder vielmehr sein sollte (vgl. Kleist 2019, Scherr 2021). In der Ermangelung einer ausreichenden Definition wird auf das Zurückgegriffen, worauf sich zumindest einmal geeinigt werden konnte. Etwas, dem in seiner Stofflichkeit als verfasstes juristisches Dokument gegenüber willkürlicheren Definitionsversuchen mehr Überzeugungskraft zugesprochen wird: die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Kleist et al. 2019.: 13).2 Sowohl Flucht als Phänomen und Flüchtling als Begriff existierte schon vor 1951. 1951 aber wurde der Begriff erstmals in einer rechtlichen Formulierung definiert: Ein Flüchtling ist demnach eine Person, die aus »Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.« (UNHCR 2015 [1951/1967]: Art. 1) Zur Frage ob erst die rechtliche Rahmung und Definition ›Flüchtlinge‹ zu Flüchtlingen macht oder mit der Flüchtlingskonvention 1951 nur einem bestehenden Phänomen eine rechtliche Rahmung verliehen wurde, besprechen Fitzgerald und Arar 2018 in ihrem Aufsatz: The Sociology of Refugee Migration. Sie stellen zwei Ansätze vor: einen konstruktivistischen (constructivist) einem realistischen (realistic) Ansatz (vgl. FitzGerald/Arar 2018). Beide Ansätze drehen sich im Kern um die Frage, ob die rechtliche Definition des Flüchtlings den ›Flüchtling‹ überhaupt erst als solchen hervorgebracht habe (constructivist approach) oder ob unabhängig der rechtlichen Definition, Menschen auf der Flucht immer schon ›Flüchtlinge‹ sind, unabhängig davon ob der Status eines ›Flüchtlings‹ juristisch definiert wurde oder (durch Nationalstaaten) anerkannt wird (realistic approach). Zu dieser Frage hält das Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) fest: »28. Sobald eine Person die in dem Abkommen von 1951 genannten Kriterien erfüllt, ist sie ein Flüchtling im Sinne dieses Abkommens. Dieser Zustand ist zwangsläufig schon vor dem Augenblick gegeben, da die Flüchtlingseigenschaft formell anerkannt wird. Nicht aufgrund der Anerkennung wird er ein Flüchtling, sondern die Anerkennung erfolgt, weil er ein Flüchtling ist.« (UNHCR 2013: 10) Für eine soziologische Erfassung des ›Flüchtlings‹ ist die rechtliche Definition nicht ausreichend: die Figur des Flüchtlings geht immer schon über die (verengte) rechtliche De-

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Auch wenn diese Definition beim genaueren Hinsehen nicht die Gültigkeit entfalten konnte (bisher), die man ihr idealerweise gern zugesprochen hätte: Nur ein Viertel aller Staaten weltweit hat die Konvention unterschrieben und nicht alle haben die Richtlinien die Konvention auch in nationales Recht überführt und dort, wo es überführt wurde, wurde die Definition teils stark angepasst und eingeschränkt (vgl. Kleist et al. 2019).

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finition hinaus. Die Verrechtlichung ist gleichzeitig ebenso ein Element, das mit dem materiellen und politischen Element in der Realfigur verschränkt und ihr eingeschrieben wird. Die Figur des Flüchtlings lässt sich also nicht in diese rechtliche Definition reduzieren; sie geht immer darüber hinaus. Und wie wir im vorausgegangenen Kapitel sehen konnten, geht mit der Anerkennung des Flüchtlingsstatus eine reale Konsequenz einher, wenn sich aus dem Flüchtlingsstatus »in besonderer Weise [ein] Anspruch auf Aufnahme und Schutz« (Scherr 2021: 8) ableitet. Der Flüchtling hat also nicht nur eine politische, eine materielle und eine rechtliche, sondern auch ethische Dimension. Albert Scherr hebt in dem Zusammenhang hervor, dass es keine wissenschaftlichen Verfahren gäbe, »die es ermöglichen würden zu entscheiden, welche Bedingungen und Praktiken normativ als solche Zwänge zu bewerten sind, die Flucht von anderen Formen der Migration unterscheiden« (ebd.: 9). Welche »Lebensbedingungen als zumutbar und welche als solche Zwänge gelten sollen, die als Fluchtursachen anzuerkennen sind« (ebd.). Die besondere Konstitution des Flüchtlings zeigt Grenzen auf: die Unmöglichkeit inhaltlichen Bestimmung(en). Womit die Figur des Flüchtlings einmal mehr nicht nur politische, materielle, rechtliche und ethische Herausforderungen mit sich bringt, sondern auch als komplexe Figur bezeichnet werden kann. (siehe Kapitel 1.3). Der Flüchtling markiert also immer das, was noch nicht beantwortet werden kann, erst after the fact festgestellt werden kann und das, was immerzu neuen und wiederholenden Aushandlungen unterliegt, denen die Flüchtenden wiederum immer ausgeliefert sind: Welche Umstände waren in speziellen Momenten jene, die die Grundlage für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus werden sollten? Denn über den anerkannten Flüchtlingsstatus leitet sich wiederum Asyl (die Aufnahme) ab.3 Und es sind jene wiederholten und ständigen Aushandlungen und vorübergehend gültigen (stabilisierten) Einigungen, aus denen sich reale Konsequenzen für Geflüchtete ableiten, die wiederum sozialwissenschaftlich besonders relevant sind. Wenn Albert Scherr darauf hinweist, dass es keine wissenschaftliche Methode gibt mithilfe derer ›objektiv‹ festgestellt werden könnte, welche Lebensumstände nun ›wirklich‹ als unzumutbar gelten, wann Leben nun ›tatsächlich‹ bedroht werde, so können jene Aushandlungen, jene Bestimmungen, die Entscheidungen wissenschaftlich erfasst werden, die tatsächlich getroffen wurden: das, was anerkannt wurde. Womit sich in eben jener Perspektivenverschiebung die Lücke offenbart, die Entkoppelung, zwischen dem Eigentlichen, dem real Vorhandenen und dem Anerkannten: dem, was als vorhanden und real anerkannt wird, d.h. in Folge verschiedener Aushandlungen Entscheidungen darüber getroffen und gefestigt wurden: das ist so – wir sind überzeugt und einig darüber, dass das so ist. So können die Anerkennungen aus Perspektive der ANT als (vorübergehende) Ergebnisse einer Vielzahl von Akteur-Netzwerken betrachtet werden, die ständig tätig sind, verschieben, verbinden, trennen und unterscheiden und vor allem überzeugen.

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Es ist eben wiederum der Grund, dass sich aus der Anerkennung als Flüchtling auch ein Asyl ableitet, worin sich divergierende politische Interessen treffen und sich einmal mehr die Komplexität steigert, wenn die politischen, materiellen, ethischen usw. Momente des Flüchtlings in sich auch nicht homogen und einheitlich gedacht, sondern wiederum als komplexe Interessensgemenge betrachtet werden müssen.

3 Der Fremde und die Soziologie

Die Anerkennung des Flüchtlingsstatus ist insofern auch über die reale Asyl-Konsequenz hinaus relevant, wenn im »Figurenkarussell« (Inhetveen 2010: 148) die Kategorie des Flüchtlings auch identitätsstiftende Momente beinhaltet. Der ›Flüchtling‹ ist eine Projektionsoberfläche für eine Vielzahl teils auch divergierender Bilder, die gleichzeitig mit Erwartungen einhergehen, denen zu entsprechen sei. Die Bezeichnung und Anerkennung als ›Flüchtling‹ kann identitätsstiftende und gleichzeitig identitätsverengende Wirkung entfalten: sie kann und wird von geflüchteten Personen selbst mobilisiert, kann aber auch als ein Etikett von Anderen aufgetragen werden (vgl. ebd.: 153). Wird im wissenschaftlichen Diskurs von Flüchtlingen oder Geflüchteten gesprochen, drängt sich die Notwendigkeit auf, jene von anderen Migranten zu unterscheiden. Heaven Crawley und Dimitris Skleparis bezeichnen dies als »categorical fetishism« (Crawley/ Skleparis 2017). Was Skleparis und Crawley in ihrem Artikel Refuees, migrants, neither, both feststellen ist, dass sich eine (künstliche) Trennung zwischen den Sphären von Politik und Wissenschaft (sowie anderen) bei genauer Betrachtung nicht halten lässt. Auch wenn die sprechenden Akteure (z.B. Wissenschaftler:innen) darum bemüht sind klare Abgrenzungen der Definitionen zu geben, präzisere Formulierungen zu finden, stellen Skleparis und Crawley fest, dass die verschiedenen Sphären einander doch ständig durchdringen: unterschiedliche Bedeutungen, Definitionen und der praktische Gebrauch wird nicht sauber getrennt. Unabhängig davon, wie sehr Arbeiten von Trennung und Sortierung durch die Akteur-Netzwerke vorgenommen werden. Die verschiedenen Definitionen und Erfassungen des ›Flüchtlings‹ stehen vielmehr in einer ständigen Wechselwirkung zueinander, sie verschränken sich, formen sich, verschieben sich. Politische Akteure, Medien, Berichterstattung, Zivilgesellschaft und wissenschaftliche Akteure kommen trotz kritischen Reflexionen doch wiederholt auf die notwendig erscheinende Unterscheidung zurück, scheinen überzeugt, sie müssten ›Flüchtlinge‹ klar(er) von ›anderen Migranten‹ unterscheiden. Innerhalb dieser Hyperfixierung auf die Kategorien werden die diese –’Flüchtling‹ und ›Migrant‹ – so behandelt »as if they simply exist, out there, as empty vessels into which people can be placed in some neutral ordering process« (ebd.: 49). Einmal mehr zeigen Crawley und Skeleparis also auf, dass eben diese Kategorien auf einem sehr simplifizierten Verständnis von Flucht und Migration basieren, »[they are] based on binary, static and linear understandings of migration processes and experiences« (ebd.: 59). Der Umstand, dass im Bereich der Realpolitik nach wie vor jene Hyperfixierung auf fixe Kategorien besonders hervortritt, macht vor dem Hintergrund eines »substantial body of academic literature« (ebd.) jene Entkopplung zwischen Realpolitik und Wissenschaft deutlich. Eine Entkopplung, durch die aber die Wechselwirkungen nicht aufgehoben oder gekappt werden würden. Einmal mehr ein Beweis für Morins Verständnis von Komplexität, in dem auch scheinbar widersprüchliche, einander entgegen laufende und einander aufhebende Bewegungen und Dynamiken eingebunden werden können, ohne nach er Auflösung der Spannung gelangen zu müssen (siehe Kapitel 1.3.). Crawley und Skeleparis kommen in ihren Ausführungen schließlich zu dem Schluss: »The lives of those o the move are complex [and] categories have consequences« (ebd.). »[People on the move] are not simply a sum of the categories that are constructed around them. Neither can their experiences always easily be dropped into one or other

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category intended to contain and make sense of the world. People can and do shift between and across categories both in their countries of origin and as they travel through space and time. This movement has proved deeply problematic for policy-makers and politicians, many of whom have chosen to blame refugees and migrants for their failure to fit, rather than problematizing the nature of categories and the process of category construction. This is not merely an issue of semantics. Categories have consequences. They entitle some to protection, rights and resources whilst simultaneously disentitling others.« (Ebd.) Mit der Benennung geht auch eine Verstärkung einher: durch ständige Wiederholung eine Verstetigung der Kategorien – aber auch eine wiederholte Bestätigung derjenigen Akteure, die in der Position sind jene Entscheidungen treffen zu können, welche Kategorie für welche Gruppe von Akteuren anzuwenden ist: »powerful actors establish and use categories, and the labels with which they are associated, to understand and frame a problem which in turn reflects how issues are – and are not – represented in policy debates and discourse« (ebd.). Die Kategorien, die durch diese policy makers ausgehandelt und bestimmt werden in wissenschaftlichen Diskursen zu ignorieren oder zu umgehen, »does not mean they go away« (ebd.: 60). Vielmehr bringen Strategien des Ignorierens, Ausweichens oder gar Ablehnens (rejecting) auch das Risiko mit sich, die »important interrelationship between scientific and political forms of knowledge production that have become inherent to the creation and maintenance of categories« (ebd.) unsichtbar werden zu lassen. Wichtig sei es demnach, so Crawley und Skeleparis, eine »critical awareness of the constructedness of categories« (ebd.) zu adaptieren und fortwährend das Risiko (unbeabsichtigter) Verstärkungen und Reproduktionen zu bedenken, das insbesondere dann erhöht ist, wenn gegebene Kategorien und Definitionen als unumstritten gegebene Tatsachen angenommen und unkritisch übernommen werden.

3.1.2 Der Fremde und die Soziologie Dass die Figur des Fremden hinter andere Themen, wie Integration, Mobilität und hinter Untersuchungen, die ihren Fokus auf Prozesse von Ein- und Ausschluss in Gesellschaften legen zurücktritt, ist keine Besonderheit, die nur der FluchtMigrationsforschung zugesprochen werden könnte. 2004 skizziert Ulrich Bielefeld seine Spurensuche nach einer Soziologie des Fremden (2004) und stellt auch für die allgemeinere Soziologie fest, dass das Thema des Fremden nicht etwa Kernthema der Soziologie zu sein scheint, sondern eher ein vernachlässigtes (vgl. Bielfeld 2004: 397). Bielefelds Spurensuche zur Soziologie des Fremden (2004) beginnt mit den drei klassischen, soziologischen Figuren des Fremden. Georg Simmel veröffentlichte den Exkurs über den Fremden 1908 in seinen Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Robert E. Park wurde im Zuge seiner Studien, die er als Mitglied der Chicago School durchführte auf die besondere Figur des Marginal Man aufmerksam mit der sich auch sein Schüler Everett Stonequist intensiver auseinandersetzte und 1935 den Aufsatz über the Problem of the Marginal Man publizierte. Und 1944 veröffentlichte Alfred Schütz seinen sozialpsychologischen Versuch zur Situation des Fremden. Auch wenn der Fremde nicht explizit als Fremder benannt, sondern oft als das Andere oder das Pathologische

3 Der Fremde und die Soziologie

erscheint, berühren auch die Arbeiten von Max Weber und Werner Sombart die Thematik (vgl. Bielefeld 2004: 397). Auch Georg H. Mead wird in dem Zuge genannt.4 Zu den mehr zeitgenössischeren Arbeiten gehörten Werke von Bernhard Waldenfels, der einen phänomenologischen Zugang zum Fremden wählt und die Werke von Robert Stichweh, die sich stärker durch systemtheoretische Denkweisen auszeichnen. Zeitgenössischere Auseinandersetzungen mit dem Fremden unternahm unter anderem Bernhard Waldenfels, der einen phänomenologischen Zugang nimmt oder Robert Stichweh. Bielefeld verweist weiterhin auf die Auseinandersetzungen mit dem Fremden, die in erster Linie nicht direkt der Soziologie zugeordnet werden können, darunter Arbeiten von Hannah Arendt oder Sigmund Freud (vgl. Bielefeld 2004). Und unter Einbezug der um die Jahrtausendwende innerhalb deutschsprachiger Räume dominierenden Ansätze, die sich zumindest im Ansatz mit Fremdheit und dem Fremden befassten – wie beispielsweise die Arbeiten von Hartmut Esser – stellt Bielefeld fest, dass sichh die Arbeiten nicht so sehr um den Fremden oder Fremdheit als zu untersuchenden Gegenstand drehten, sondern der Fremde und Fremdheit als Elemente einbezogen werden, die auch zum eigentlichen Phänomen – oftmals Integration, Mobilität oder Formen des Ausschlusses (vgl. ebd.: 405) – gehörten. Daraus folgert Bielefeld, dass bei den ausgewählten Themen, »eine bestimmte, sozialwissenschaftlich verbreitete Perspektive […] das Problem des Fremden als existentielles geradezu [voraussetzt] statt es zu analysieren« (ebd.). Zur gleichen Zeit, als Bielefeld nach der Soziologie des Fremden (vgl. Bielfeld 2004) sucht, befasst sich auch die Soziologin Julia Reuter mit der Thematik (vgl. Reuter 2002). Sie untersucht in ihrer Dissertation die Ordnungen des Anderen [und] das Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden (Reuter 2002). Sie zeigt dabei alltägliche, typische und praktische Ordnungen des Fremden auf, bespricht die klassischen Figuren des Fremden bei Simmel, Park, Schütz und Mead und untersucht (wissenschaftliche) Praktiken des Othering und De- und Rekonstruktionen des Eigenen und Fremden (vgl. Reuter 2002). Reuter verfasste unter anderem den Beitrag zum Fremden in dem Glossar über die Sozialfiguren der Gegenwart, den Stephan Möbius und Markus Schröer 2010 veröffentlichten. Eben dort reihen sich Fremder und Flüchtling buchstäblich Seite an Seite nacheinander als Schlüsselfiguren der Gegenwart ein (vgl. Möbius/Schröer 2010, Reuter 2010, Inhetveen 2010). Und während zu Flucht und Flüchtenden in den letzten Jahren seit 2015 so viel geforscht wurde, dass ein eigenes Projekt notwendig wurde, um einen Überblick über die

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Neben Georg Simmel, Robert Park und Alfred Schütz, gilt auch Georg Herbert Mead als einer der Soziologen, die sich in ihren Studien dem Fremden widmeten, wobei Mead nicht an einer grundlegenden Theorie des Fremden oder Fremdheit gelegen ist. »Anstelle einer Theorie der Differenz formuliert er […] eine Theorie der Interaktion, die den Fremden als Übergangsphänomen behandelt« (Reuter 2002: 113). Fremdheit muss also überwunden werden, Fremdheit und der Fremde stellen ein Problem, oder zumindest eine Herausforderung für Integrationsprozesse dar, unhinterfragt wird die Notwendigkeit angenommen, dass der Fremde (ins System) integriert werden muss.

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Forschungslandschaft zu gewinnen (vgl. Kleist et al. 2019), erscheint der Fremde im Vergleich weit weniger Aufmerksamkeit erfahren zu haben.5 Zehn Jahre nach ihrer Dissertation über die Ordnungen des Anderen (2002) wagt Julia Reuter in Perspektiven in der Soziologie des Fremden (2011) einen Rück- und Ausblick auf die Rolle der Sozialfigur des Fremden und Fremdheit als soziologisch zu untersuchendes Phänomen innerhalb der deutschsprachigen Soziologie. An ihre Ausführungen anschließend kommt sie zu dem Schluss, »dass der Fremde und die Soziologie seit jeher eine produktive Allianz bilden« (Reuter 2011: 168). Auf eine Weise lässt sich sogar sagen, dass die Geschichte des Fremden als Sozialfigur eng mit der Entstehungsgeschichte der Soziologie verbunden ist, deren Aufstieg mit der (europäischen) Modernisierung und der Neuordnung der Welt in der nationalstaatlichen Logik verschränkt ist. Aus dieser Perspektive wurde der Fremde nicht etwa vergessen oder vernachlässigt. Die Sozialfigur findet beständig Eingang in (soziologische) Forschung. Dies geschieht in sich ständig wandelnden Formen und teilweise unter verschiedenen Namen. Der Fremde wird übersetzt und umgewandelt, er wird empirisch konkretisiert, damit das Verständnis verengt und die Perspektive fokussiert: Der Fremde begegnet uns in soziologischen Untersuchungen als der Migrant, der Flüchtling und der Andere und wird in seiner spezifischen Situiertheit innerhalb der empirischen Realität untersucht. Robert E. Park erkennt den Fremden im Phänomen des Grenz- und Randgängers, in der Figur des Marginal Man (vgl. Stonequist 1935). Und bei Elias und Scotson erscheint er als der Außenseiter (Elias/Scotson 2002 [1965]). Fremdheit wird in (modernen) Großstädten zur Normalität und eine Gesellschaft unter Fremden zur Faszination der Soziologie und der Fremde somit zur »Zentralfigur der Moderne« (Reuter 2010: 163). Möchten wir an der Stelle nach einer Soziologie des Fremden suchen, suchten wir dennoch vergeblich. Der Fremde ist mehr als seine realempirischen Entsprechungen. Die Idee von Fremdheit und die Figur des Fremden ist keine, die die Soziologie allein faszinierte. So taucht der Fremde in philosophischen, phänomenologischen, psychoanalytischen und literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten wiederholt in unterschiedlichen Formen auf. In ihrem Überblick über die deutschsprachige Forschung zum Thema Fremdheit und der Figur des Fremden unterscheidet Julia Reuter zwischen einer »Soziologie des Fremden« (Reuter 2011: 162, Herv. Dort) und einer »Soziologie von Fremdheit« (ebd.). Während die Erste sich dem ›faktisch‹ Fremden (vgl. ebd.) zuwendet, befasst sich die Zweite

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Neben den Arbeiten von Julia Reuter wurde 2002 die Habilitationsarbeit von Elke Geenen mit dem Titel Soziologie des Fremden veröffentlicht. 2005 folgte die Arbeit von Roswitha Breckner: Migrationserfahrung – Fremdheit – Biografie und 2009 die Dissertation von Yaşar Aydin: Topoi des Fremden. Diese Arbeiten, die vor 2015 veröffentlicht wurden, besprechen Fluchtthematiken nur am Rande. 2010 wird Rudolf Stichwehs Der Fremde veröffentlicht und 2016 folgt von dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk eine Einführung in die Theorien des Fremden. Im gleichen Jahr erscheint ein Kursbuch von Armin Nassehi Fremd sein!, in dem unter anderem Aufsätze von Julia Kristeva und Naika Foroutan zu lesen sind. 2017 folgt Andreas Rauhs Fremdheit und Interkulturalität: Aspekte kultureller Pluralität und die Anthropologin und Kulturwissenschaftlerin Heidrun Friese verbindet in ihren Betrachtungen die Figur des Flüchtlings mit der des Fremden in Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden: zur politischen Imagination des Fremden (2017).

3 Der Fremde und die Soziologie

mit alltäglichen Fremdheitserfahrungen, die als »unvertraute sachliche Differenz untersucht« (ebd.) werden. Beispiele für die »Soziologie des Fremden« (ebd., Herv. Dort) haben wir in dieser Arbeit schon kennen gelernt. Der Fremde wird in einer – oder mehreren – empirisch erfassbaren Gruppen (scheinbar) wiedererkannt. Die Figur des Fremden erscheint uns also vermeintlich in unserem Alltag: er (der Fremde) tritt uns gegenüber und wir erkennen ihn als den Fremden. Es handelt sich also um reale Personen, die wir dieser Sozialfigur des Fremden zuordnen. Die Forschung richtet sich nun auf die identifizierte Gruppe, deren Situation als Fremde untersucht werden soll. Auf welchem Wege die Personengruppe als Fremde identifiziert wurden, erscheint in der Perspektive wenig relevant. Das Fremde bzw. Fremdheit wird als ›gegebene‹ angenommen und nicht hinterfragt. Forschung aus dem Bereich der FluchtMigrationsforschung gehörte zu dieser Soziologie des Fremden, ebenso wie Forschung zu den Themen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Diskriminierung und Interkulturalität befassten oder auch Ausländer- und Gastarbeiterforschung. In den Untersuchungen geht es oft um eine spezifische Gruppe deren Situation beleuchtet werden soll: es geht um ›russische Aussielder:innen‹, ›türkische Mitschüler:innen‹ oder ›polnische Nachbar:innen‹ und nach den 2010er Jahren reihte sich der ›syrische Flüchtling‹ in diese Reihe ein (vgl. ebd.: 164f). Diese Forschung aus dem Bereich der Minoritäten- und Migrationsforschung ist aus heutiger Perspektive kritisch zu betrachten. Die Konstruktion der »Kultur-Fremden« (ebd.: 165) in Kontrast zum ›Eigenen‹ beruht oft auf ethnischen Merkmalen und die gebildeten Kategorien sind häufig durch einen hohen Grad an Pauschalisierung, Verkürzung und Undifferenziertheit charakterisiert. So besteht das Risiko, dass durch diese unterkomplexen Kategorien Denkweisen über ethnisch, homogene Gemeinschaften reproduziert und verstärkt werden. »[Gleich], wie sich die Fremdheitsforscher heute [2011] selbst verstehen, eines wird an ihren ›neuen‹ Figuren des Fremden deutlich: auch sie existieren nur in Relation zu den eigenen Vorstellungen des ›Natürlichen‹, ›Normalen‹ und ›Vertrauten‹. Und: Ihre Fremdheit birgt gehöriges Verunsicherungs- wie Entwicklungspotenzial – nicht für die ihre soziale Nahwelt, sondern auch für die Wissenschaft.« (Ebd.: 168) Zur zweiten Entwicklungsrichtung, der Soziologie von Fremdheit, zählt Reuter Forschungen, die sich schwerpunktmäßig mit der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften befassen: Forschungen, die moderne Gesellschaften als komplexe, differenzierte Systeme betrachten. Diese Differenzierung bezieht sich nicht nur auf bestimmte Teilbereiche von Gesellschaften und des alltäglichen Lebens. Sie wird auch im Individuum sichtbar, wenn Personen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Rollen einnehmen, die sich nicht unmittelbar auf ihre Ganzheit als Person zurück beziehen lassen und nur einen Teilaspekt der Person ansprechen – temporär und situationsbezogen – wodurch unter der Bedingung umfassender, allgegenwärtiger Fremdheit innerhalb von Gesellschaften ein gesellschaftliches Zusammenleben ermöglicht werden kann.

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Fremdheit ist in der modernen, differenzierten Gesellschaft, kein sozialer Status mehr.6 Fremdheit ist allgemein und universal: sie betrifft jeden. Menschen interagieren nicht mehr als Freunde oder Feinde: Interaktion findet zwischen Fremden statt, die unterschiedlichen Funktionsrollen in unterschiedlichen Situationen, Teilsystemen, Kontexten und Erwartungen zu entsprechen haben. Dabei ist nicht nötig, dass die Fremdheit untereinander aufgehoben wird, um eine gelingende Interkation zu gewährleisten (vgl. Reuter 2011: 162f, nach Hahn 1994 und Stichweh 1997). Reuter verweist auf ein Beispiel des Soziologen Stefan Hirschauer. Hirschauer untersuchte Alltagssituationen von Fremdheit auf minimalem Raum (innerhalb eines Aufzugs) und beobachtete ein Phänomen, das er als demonstrative Indifferenz bezeichnet: »trotz oder gerade wegen der räumlichen Enge [behandeln sich Fahrstuhlinsassen] konsequent als Fremden […], um ein persönliches Territorium zur Vermeidung von Zudringlichkeit aber auch Respektierung der anderen zu schaffen.« (Reuter 2011: 163) Diese civil inattention (vgl. Goffman 1971), d.h. (demonstrative) Indifferenz gegenübereinander, die von Deferenzgesten (Abwenden des Blickes und Körpers und Gesten des Selbstbezugs) begleitet werden, ist ein Schlüsselbegriff moderner Weltgesellschaftstheorien (vgl. Reuter 2011: 164). Indifferenz wird als »moralischer Minimalkonsens zwischen sich zufällig begegnenden, aber im Grunde einander unbekannten Personen« (Reuter 2011: 164, Stichweh 1997 und 2008) verstanden. Es handelt sich um ein impliziertes Übereinkommen, die körperliche Nähe des Unbekannten auszuhalten (vgl. Reuter 2011: 164). Was nach Julia Reuter dazu führt, dass die »Kategorie der Indifferenz – zumindest langfristig – den Abschied des Fremden und der Fremdheit als semantische Zuschreibung von Gesellschaften [einläutet], denn gegenwärtige Weltgesellschaften besitzen ihrer Struktur nach kein ›soziales Außen‹ mehr, was auf die Dekomposition des Anderen hinausläuft.« (Ebd.: 164) Aus Konzeptionen der Indifferenz ergibt sich eine scheinbare Auslösung des Fremden, die vor allem in der räumlichen und sozialen Vernetzung, Verengung und Intensivierung begründet wird. In einer Welt, die in ihren Strukturen kein Außen mehr kennt, verliert Fremdheit ihre besondere Stellung. Für Reuter fallen in diesen Momenten der Fremde und der Andere zusammen. Fremdheit löst sich im anderen Gegenüber, dem Anderen auf. In der Folge wird Fremdheit alltäglich. Während in vorindustrialisierten Zeiten persönliche Beziehungen (und eine klare Freund-Feind-Unterscheidung der Personen untereinander) Gesellschaften stabilisierten, wird diese Ordnungslogik im Zuge funktionaler Differenzierung transformiert: das gesellschaftliche Miteinander wird an Institutionen, Rollen und Rechtssysteme ausgelagert, die nun als alltägliche Selbstverständlichkeiten Lebensrealitäten vorstrukturieren. Es benötigt keine Freund-Feind-Entscheidung mehr. Fremdheit wird allgegenwärtig und allgemein und damit verliert der Fremde seinen Sonderstatus innerhalb des sozialen Gefüges. Indifferenz wird zur neuen Umgangsform mit alltäglicher, ständiger Fremdheitserfahrung. Reuter sieht darin ei6

Während im Kontrast dazu angenommen wird, dass in vor-industrialisierten Gesellschaften – Gemeinschaften – vor allem Außenseiter, als Ausländer, Nicht-Zugehörige als »Fremde« betrachtet wurden (vgl. Neckel 2000).

3 Der Fremde und die Soziologie

ne Abwendung vom (zumindest radikalen) Fremdheitsbegriff innerhalb der Soziologie. Nicht mehr Fremdheit, sondern Formen der Indifferenz werden zu zentralen Themen soziologischer Untersuchungen (vgl. u.a. Stichweh 2008). Wird Fremdheit heute thematisiert, verliert sich die Fragestellung darin, wer der Fremde denn heute sei, wer unser Fremder sei (vgl. Balibar 2015). Betrachtungen zum und über Fremde und Fremdheit führen scheinbar unweigerlich, vor allem wenn es sich um soziologische Arbeiten handelt, zu dem Fremden, einer konkreten Figur, einem Sozialtypus, einer realempirischen Erscheinung. Wer repräsentierte den Fremden in einer, unserer Gesellschaft und welche Folgen hat die Anwesenheit der Fremden für diese, unsere Gesellschaft? Welchen Herausforderungen bringen die Fremden mit sich und wie lässt sich das ›Problem‹ des Fremden lösen? Fragen und Forschungen zu Integrationsmodellen, Diskussionen über (veraltete) Assimilationsparadigmen, Diskriminierung und Rassismus, Fremdenfeindlichkeit schließen sich an diese Fragen an. Der Fremde und Fremdheiten begegnen uns in soziologischen Forschungen aber nicht erst mit dem verstärkten Fokus sozialwissenschaftlicher Forschungsinteressen auf beispielsweise die Situation der Gastarbeiter in der BRD, oder Fluchtmigration, die das 20. Jahrhundert prägte. Die Figur des Fremden und Fremdheit auch als Alltagserfahrung unter Fremden, unter Nachbarn in der Großstadt, die einander mehr fremd als vertraut sind, begleitet die Soziologie seit ihren Anfängen: Wie ist geordnetes Zusammenleben in einer industrialisierten Gesellschaft möglich? Wie kommt es, dass im Zuge der Herauslösung der Individuen aus tradierten, festen Gemeinschaftsstrukturen, auch untereinander unbekannten Fremden, in funktional differenzierten Gesellschaften, eine Art von Solidarität, Kollektiv, Zusammengehörigkeit geschöpft werden kann (vgl. u.a. Durkheim 1984).7 Mit 7

Das Herauslösen aus traditionellen Lebensformen und routinierter Alltagsgestaltung, begleitet von den Veränderungen innerhalb der Arbeitswelt und des sozialen Zusammenlebens im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung, bedeutete für Durkheim, dass in jenen gesellschaftlichen Umwälzungen neue Formen von (sozialer) Integration gefunden werden würden, welche es wiederum soziologisch zu erforschen gelte. Durkheim betrachtete Gesellschaften aus holistischer Perspektive heraus, nahm dabei Gesellschaften als Ganzes in den Blick und konzentrierte sich auf gesellschaftliche Strukturen, die in seinen Ansätzen maßgeblich das alltägliche Leben der Gesellschaftsteilnehmer prägten, bis gar determinierten. Durkheims methodologischem Holismus lässt sich in Retrospektive Webers methodologischer Individualismus entgegensetzen, der vor allem im subjektiv geteilten Sinn und sozialem Handeln die Kernkomponente gesellschaftlicher Gestaltung sah. Durkheims Betonung gesellschaftlicher Strukturen und seine Ausführungen zum Sozialen, das er als eigenständige Kraft außerhalb der Individuen betrachtete, die wiederum aber einen Zwang auf das Handeln Einzelner ausüben könnte (vgl. Durkheim 1976) legte einen wichtigen Grundbaustein für den französischen Strukturalismus und entwickelte über den französischsprachigen Raum hinaus Wirkung innerhalb soziologischer Forschung. Soziologen wie Pierre Bourdieu, aber auch der US-amerikanische Soziologe Talcott Parsons bezogen sich in ihren Forschungen (in Teilen) auf Durkheims Grundlagen zurück. Durkheims theoretisches Wirken fand über Parsons Schüler Niklas Luhmann und dessen Weiterentwicklung von Parsons Strukturfunktionalismus wiederum Eingang in die deutschsprachige Soziologie, wo die von Luhmann entwickelte Systemtheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitreichend rezipiert und angenommen wurde. Von den genannten Gründungsvätern der Soziologie ist Georg Simmel zwar nicht der Einzige, der sich mit Fremdheit thematisch beschäftigte, allerdings ist sein Exkurs über den Fremden (1908) einer der in dem Kontext am häufigsten und meist zitiert und referierten soziologischen Texte über den Fremden. Für Durkheim war Fremdheit als Thema nur insofern relevant und für

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

der Großen Transformation und den Umwälzungen, die diese für europäische Gesellschaften mit sich brachte, erfuhr nicht nur der Fremde und Fremdheit eine gesellschaftliche Umdeutung: die Soziologie als eigene Wissenschaft begann sich auf diesen Entwicklungen zu formieren.8 Und mit der Durchsetzung der (modernen) Nationalstaatslogik als dominierender politischer und gesellschaftlicher Ordnung, wurde das Phänomen des Fremden zu einem Problem für die Grundlage, auf der sich diese neue Ordnung berufen sollte. Sowohl in vormodernisierten Gesellschaften als auch den modernisierten Gesellschaften (Europas) ist der Fremde und Fremdheit eine der grundlegenden Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens: eine Grundbedingung des ›Sozialen‹. Lediglich

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seine Betrachtungen bedeutsam, als dass durch die Herauslösung aus den traditionelleren, vorindustriellen Gesellschaftsstrukturen sich neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickelten: Formen, deren gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht mehr auf persönliche, familiäre Beziehungsgeflechte aufgebaut werden konnte. Im Zuge der Industrialisierung und vor allem Urbanisierung, der erhöhten Mobilität innerhalb aller Bevölkerungsschichten im Laufe der Modernisierungsprozesse, musste sich eine neue Form vom solidarischen Zusammenhalt entwickeln. Eine, die nicht mehr hauptsächlich auf die Eigenschaften segmentär differenzierter Gesellschaften zurückgreifen konnte. Fremdheit, oder eher Befremdung, Entfremdung, voneinander, untereinander, bedingt durch das Herauslösen aus den traditionellen Strukturen von Familie, Dorfgemeinschaft, Religionsgemeinschaft, war ein mit den Modernisierungsprozessen einhergehender Effekt, etwas, das wiederum überwunden werden musste: für Durkheim stellte sich an der Stelle vor allem ein Integrationsproblem. Die empirischen Beobachtungen als Gegebenheiten annehmend, sollte in einer funktional differenzierten Gesellschaft Zusammenhalt nun über die Form einer organischen Solidarität begründet und erklärt werden können. Entfremdung voneinander untereinander musste für Durkheim nicht zwangsweisen in Anomie wenden – wenn auch die Möglichkeit von Durkheim mitgedacht und untersucht wurde – vielmehr aber müsste sich unter den nun gegebenen, neuen Bedingungen eine neue Form der Solidarität entwickeln: eine Solidarität unter Fremden (vgl. Reuter 2010: 162). Auch in systemtheoretischen Arbeiten ergibt sich – in Bezug auf Fremdheit – wenn überhaupt ein Integrationsproblem. Die einzelnen Individuen, Mitglieder der als System gedachten Gesellschaft, sind nun nicht mehr – wie in vorindustrialisierten Gesellschaften – als ganze Person integriert, sondern werden in Teilen über mehr oder weniger fest institutionalisierte Rollen, wie z.B. Wähler, Patient, oder ihrem Beruf entsprechenden Rollen, wie Arzt, Lehrer, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, in verschieden Teilsysteme der Gesellschaft integriert. Fremdheit wird an der Stelle zu etwas Anderem und innerhalb systemtheoretischer Ansätze in einer binären Codierung übersetzt: etwas, das außerhalb des Systems steht. Wenn mit System die betrachtete Gesellschaft gemeint wird und fremd oder vielmehr der Fremde eine oder mehrere Personen sein sollen, die von außen an das System herantreten, also (noch) nicht Teil sind – ergo integriert werden müssten. Der Fremde wird in einer solchen soziologischen Forschung oftmals mit bzw. im Ausländer wiedergefunden. Deutlich wird dies beispielsweise, wenn der Soziologe Alois Hahn feststellt, dass »der Prototyp des Fremden […] der Ausländer im Inland [ist]« (Hahn/Bohn 1999: 252). Die Konsequenzen der Umwälzungen, die im Zuge der – im Vergleich – rasanten und abrupten Veränderungen, ausgelöst durch technologische Entwicklungen, politische Neuerungen, philosophisches Umdenken, neue Ideen staatlicher Organisation, Krise des Glaubens, Reformation, französischer Revolution usw., zusammengefasst unter der Großen Transformation, die Europa vor allem im 19. Jahrhundert maßgeblich prägte und den Alltag und das Leben etlicher Menschen tiefgehend veränderte, war auch die Geburtsstunde der (modernen) Soziologie, die von August Comte, Ferdinand Tönnies, Émile Durkheim, Max Weber, Georg Simmel und Herbert Spencer in ihrer frühesten Phase besonders geprägt wurde.

3 Der Fremde und die Soziologie

die Art und Weise des Umgangs mit Fremdheit und dem Fremden hat sich mit der Zeit verändert. In den sogenannten »vormodernen Gesellschaften« (Neckel 2000: 230) erfüllte das Fremde eine notwendige Funktion: »der Fremde [hob sich] von der existierenden Gemeinschaft ab, [da] er außerhalb lokaler Zugehörigkeit, verwandtschaftlicher Bindung und familiärer Solidarität existierte« (ebd.: 230). Der Fremde machte die Grenzen des ›Eigenen‹ sichtbar. In modernisierten Gesellschaften aber wird Fremdheit allgemein und universal. Stichweh spricht von der »Universalisierung des Fremden« (Stichweh 2008: 38, Her. dort) in der ›Moderne‹. Und so ist es mitunter der moderne Nationalstaat, der in seiner anhaltenden »Selbstidentifizierung« (Neckel 2000: 231) einen »Mechanismus fortlaufender Erzeugung von Fremdheit« (ebd.: 231) etabliert (hat): »Die Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts, an deren Ausgangspunkt u.a. die Erfindung des Nationalstaats als einer universellen politischen Form steht, bringt in einer Hinsicht eine radikale Vereinfachung dieser diversifizierten Muster und damit eine [weitere] Form des Umgangs mit Fremden hervor: An die Stelle der Pluralität der Status treten binäre Klassifikationen, die Einheimische, die vollgültige Mitglieder des Nationalstaats sind, von Fremden, denen die entsprechenden Berechtigungen fehlen, unterscheiden. Ohne den Nationalstaat und die komplexen Sets von miteinander gekoppelten Mitgliedschaftsrechten, auf denen er aufruht, wäre diese Vereinfachung der vormodernen Statusvielfalt nicht möglich gewesen.« (Stichweh 2008: 38) Auffallend wird, in dieser Betrachtung, dass sonderbarer Konsens darüber besteht, dass es gilt Fremdheit zu überwinden oder aufzuheben. In Durkheims Arbeiten begegnet der Fremde in Form des Pathologischen, der Anomalie, dessen, was durch die soziale Kraft eingehegt werden muss: das, was integriert werden muss. Ähnliche normative Orientierungen finden sich insbesondere in Forschungen, die sich mit Integrationsfragen befassen. Fremdheit muss – soll – durch Integration überwunden werden (vgl. ESSER). Deutlich zeigt sich dieser Fokus auch im Feld der FluchtMigrationsforschung (siehe Kapitel 2.3): Bei den Konferenzen des Netzwerks Fluchtforschung geht es um Arbeitsmarkt- und Bildungsintegration, es geht um Sprachvermittlung und Lernangebote. Und auch im Umfeld der (Spontan-)Helfer:innen und Ehrenamtlichen tauchen ähnliche Motive auf: Es geht darum das Ankommen zu gestalten, Unterkunft zu organisieren, Sprachkurse zu vermitteln oder zu leiten, Integration soll gelingen (siehe Kapitel 2.2). Die Überwindung der ›Flüchtlingskrise‹ soll(te) durch die Integration der Geflüchteten von 2015 erfolgen.

3.1.3 Fremdheit und der Nationalstaat Der Fremde wird auch als eine relationale Sozialfigur betrachtet (vgl. Möbius/Schröer 2010). Der Fremde ist nicht ›an sich‹ fremd. Fremdheit beschreibt eine Relation, d.h. Verhältnisse und Zusammenhänge zwischendrin, die sich durch einen besonderen Grad von gleichzeitiger Ähnlichkeit und Unähnlichkeit auszeichnen (vgl. Müller-Funk 2016: 15ff): »Die Figur des Fremden widersetzt sich jedweder Substanzialisierung. Jeder und jede von uns kann in einer bestimmten Situation, Beziehung oder Konstellation zum Fremden bzw. zur Fremden werden.« (ebd.: 16). Müller-Funkt spricht auch von einem

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›Subjekt-Subjekt-Verhältnis‹ (vgl. ebd.: 22): »In der Begegnung mit dem Anderen vollzieht sich jenes Moment der Annahme des Fremden und Anderen, das zugleich SelbstAnnahme bedeutet« (ebd.). Die besondere Relationalität des Fremden muss sich nicht zwingend auf ein personales Subjekt-Subjekt-Verhältnis beziehen: d.h. nicht zwingend auf ein konkretes, menschliches ›Ich‹ in Bezug zu einem ›Anderen‹ betrachtet werden. Fremdheit kann auch eine besondere Form der Relation zwischen anderen Akteursformen beschreiben: Die Figur des Fremden steht auch in enger Verbindung zum modernen Nationalstaat. Bauman spricht davon, dass jede Gesellschaft ihre eigenen Fremden hervorbringt (vgl. Balibar et al. 2015, siehe Kapitel 3). Neckel konkretisiert dies in Bezug zum modernen Nationalstaat, der in seiner ständigen ›Selbstidentifizierung‹ fortlaufend Fremdheit und den Fremden erzeugt (vgl. Neckel 2000). Und gleichzeitig wird dieser erzeugte Fremde zu einer ständigen Herausforderung für den modernen Nationalstaat (vgl. Stichweh 2008: 38). Aus der Perspektive des modernen Nationalstaats muss das Fremde gemäß einer Freund-Feind-Unterscheidung eingeordnet werden. Die Freund-Feind-Unterscheidung geht auf den deutschen Staatsrechtler und Philosophen Carl Schmitt zurück. Schmitts Denkweisen gelten heute als stark umstritten. Seine Werke zeichnen sich durch eine besondere Skepsis gegenüber der modernen, liberalen Ordnung aus (vgl. Müller-Funk 2016: 147). In seiner Arbeit zum Begriff des Poltischen (1963 [1932]) erläutert Schmitt sein Verständnis des politischen Handelns: Politisches Handeln soll heißen, eine Unterscheidung zwischen Freund und Feind vorzunehmen. Dies ist die Hauptaufgabe und Kompetenz des ›Politischen‹. Politisches Handeln heißt also eine Unterscheidung vorzunehmen, d.h. es ist eine Tätigkeit des Trennens und Sortierens. Im Politischen, bei Schmitt, wird unter einem Feind nicht jemand oder eine Gruppe verstanden, die per se als bösartig, böse Intentionen verfolgend oder moralisch böse betrachtet wird, »er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten.« (Schmitt 1963 [1932]: 77). Der politische Feind ist »der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass es in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist« (ebd.: 77). Derjenige, der emotional unerreichbar ist, so radikal fremd, dass keine Empathie möglich ist, kann bei Schmitt nur noch als (absolut) Fremder erkannt werden. Dadurch fällt der Fremde bei Schmitt mit dem Feind zusammen: »Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben. Den extremen Konfliktfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.« (Ebd.: 27) Der Fremde bei Schmitt ist der, der so anders ist, der so entfernt ist, dass keine Bezugnahme möglich und kein Verstehen realistisch ist. Durch seine Existenz allein bringt der Fremden aber auch die Möglichkeit der Negierung des Seins und damit eine Bedrohung des Eigenen (Lebens) mit sich (vgl. ebd.: 27). Für Schmitt sind Konkurrenten oder

3 Der Fremde und die Soziologie

Gegner im Allgemeinen keine Fremden oder Feinde. Ebenso klammert er private Feinde oder Personen aus, denen auf individueller Ebene Antipathien entgegengebracht werden (vgl. ebd.: 29). Es geht also nicht um den unmittelbaren Nachbarn oder persönlich Bekannte, deren Beziehungen von Spannung und Konflikt geprägt wären. Mit Feind meint Schmitt eine »Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht« (ebd.: 29). Schmitt bindet diese Denkfigur explizit an den Begriff des »Volkes« (vgl. ebd.). Im Krieg sieht Schmitt die äußerste Realisierung jener Feindschaft zwischen den ›Gesamtheiten von Menschen‹ (vgl. ebd.: 33f). Bei Schmitt kann jeder »religiöse, moralische, ökonomische, ethische oder andere Gegensatz […] in einen politischen Gegensatz [gewendet werden], wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren« (ebd.: 37). Soll heißen, dass in dem Moment, wenn ein Gegensatz stark genug wird, dass aus einem bloßen Unterschied Fremdheit entsteht, d.h. kein Erkennen und Verstehen mehr möglich scheint, eine Wendung zum Politischen in dem Moment vollzogen wird, wenn die Entscheidung zwischen Freund und Feind vorgenommen wird. Das Politische liegt, bei Schmitt, nicht im Kampf selbst, sondern darin diese Freund-Feind-Unterscheidung vornehmen zu können und damit die entsprechenden realen Konsequenzen und Möglichkeiten, wie z.B. des Krieges, zu realisieren (vgl. ebd.: 37f). »Das Politische kann seine Kraft aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Lebens ziehen, aus religiösen, ökonomischen, moralischen und anderen Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, deren Motive religiöser, nationaler (im ethischen oder kulturellen Sinne), wirtschaftlicher oder anderer Art sein können und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Verbindungen und Trennungen bewirken.« (Ebd.: 38f) Und solange »ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muss es, wenn auch nur für den extremen Fall – über dessen Vorliegen es aber selbst entscheidet – die Unterscheidung zwischen Freund und Feind selbst bestimmten [und darin] liegt das Wesen seiner politischen Existenz« (ebd.: 50). Was auch heißt, dass der umgekehrte Fall eintreten kann: Sollte ein Volk nicht mehr über diese Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Freund und Feind verfügen, »hört es auf, politisch zu existieren« (ebd.). Die Freund-Feind-Unterscheidung ist dem zwar Fremden nachgestellt, Fremder und Feind bleiben bei Schmitt allerdings immer eng verbunden: die radikale Fremdheit wird zum Bestimmungsmerkmal des politischen Feindes. Und diese Fremdheit kann bei Schmitt verschiedene Formen annehmen und an unterschiedlichen Merkmalen festgemacht werden: es handelt sich zunächst um einen starken Gegensatz. Was zur Folge hat, dass bei Schmitt jeder (beliebige) Gegensatz die Entscheidung zwischen Freund und Feind notwendig machen kann und den Ausschlag in Richtung der Zuordnung zum ›Feind‹ nach sich ziehen kann. Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung in Bezug zum Fremden steht im Kontrast zu Georg Simmels Figur des Fremden, der das Fremdsein als »positive Beziehung« (Simmel 1992 [1908]: 765) begreift. Bei Simmel ist der Fremde Teil der Gruppe. Der (einzelne) Fremde erscheint nur und wird erst relevant, in Bezug zur Gruppe, von der er stets Teil ist, weil die räumliche Nähe bedingendes Element für Fremdheit ist. Durch aber die besondere Position, die der Fremde in Relation zu allen andere und den Relationen ihrer

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untereinander einnimmt, kann er, im Vergleich zum Rest der Gruppe, eine objektivere, neutralere Perspektive einnehmen. Die räumliche Nähe geht beim Fremden Hand in Hand mit einer sozialen Ferne. Der Fremde ist im Vergleich zu allen anderen Gruppenmitgliedern (noch) nicht oder sehr viel schwächer in die Beziehungsgeflechte der Gruppe eingebunden. Dies verleiht dem Fremden eine besondere Objektivität. Eine Eigenschaft des Fremden, die sich Gesellschaften immer wieder zu Nutze machen, indem im Streitfall bewusst Fremde zur Schlichtung und Entscheidung hinzugezogen werden. Da der Fremde nicht in gleich intensiver Weise in die Beziehungsgeflechte der Gruppe eingebunden ist, kann er unparteiischer sein. Er ist nicht durch Familieninteressen oder besondere bestehende Beziehungen befangen (vgl. ebd.: 767). Simmel illustriert dies an einer Praxis italienischer Gemeinschaften, die im Streitfall Fremde als Richter aus entfernten Dorfgemeinschaften herbeiriefen (vgl. ebd.). Diese Strategie findet auch heutzutage Anwendung, wenn größere Unternehmen für interne und v.a. personelle Umstrukturierungen Fremde, d.h. externe Betater:innen beauftragen. Carl Schmitt und Georg Simmel stehen an dieser Stelle stellvertretend für zwei fundamental unterschiedliche Zugänge, Denkweisen und Verarbeitungen in Bezug zur Figur des Fremden und Fremdheit. Schmitt betrachtet Fremdheit im Kontrast zur Idee eines ›homogenen‹ Nationalstaats, der durch Volk, Territorium und Souverän definiert wird. Alles Fremde steht außerhalb dieses Akteurs, dessen Souveränität durch den radikal Fremden bedroht wird, womit sich für Schmitt die Notwendigkeit ableitet, den Fremden als Freund oder Feind zu klassifizieren. Schmitt geht von einer ›als Einheit denkbaren‹ Gesellschaft aus. Simmel nimmt mit seiner Soziologie betont Abstand von einem solchen Verständnis von Gesellschaften. Zwar geht auch Simmel von größeren, gesellschaftlichen Zusammenhängen aus, die über die einzelnen Individuen und Gruppen ›in‹ diesen Gesellschaften hinausgehen, zentraler für Simmels Untersuchungen über die Formen von Vergesellschaftung sind aber die Bezugsrelationen innerhalb und zwischen sozialen Elementen in Gesellschaften. Während der Fremde bei Schmitt mit dem Feind zusammenfällt, betrachtet Simmel Fremdheit als eine besondere Beziehungsrelation innerhalb von sozialen Zusammenhängen. Die Verkürzung vom Fremden und Feind ist etwas, das auch in zeitgenössischen Arbeiten zum Fremden, insbesondere in Bezug zu staatsähnlichen Akteuren, die mitbetrachtet werden, auftaucht. In der Art und Weise, wie die Sozialfigur des Fremden in ›ihren‹ vermeintlich realen Erscheinungen, wie z.B. in Verbindung mit Ausländer:innen, Migrant:innen, Flüchtenden usw. eingebunden wird, verstärkt die Verquickung vom Fremden mit dem Anderen. Denkfiguren, die eine homogene Einheiten betonen, werden dann im Kontrast zu dem aufgebaut, das nicht dazu gehört: das anders ist und außerhalb steht, gleichzeitig damit auch als ›bedrohlich‹ eingeordnet wird. Die Untersuchungen zum Fremden in der modernen und postmodernen (europäischen, westlichen) Gesellschaft des Soziologen Zygmunt Baumans setzen eben an diesem Punkt an. Im Gegensatz zu Carl Schmitt, der Fremde (und Feinde) existentialistisch fasst, betrachtet Bauman (moderne) Umgangsformen mit dem, was als das ›Fremde‹ durch moderne Gesellschaften hervorgebracht wird. Es geht Bauman also nicht darum eine Antwort auf die Frage zu finden, was das Fremde und wer der Fremde ›an sich‹ ist. Er betrachtet die Arten und Weisen, wie moderne (europäische) Gesellschaften mit dem umgehen, was sie als fremd erachten (vgl. Bauman 2017). Bauman unternimmt vorran-

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ging zeitdiagnostische Analysen. In diesen erscheint der ›bedrohliche‹ Fremde als ein Produkt der ›Moderne‹. Baumans Vorgehensweise ist theoretisch informiert und empirisch orientiert. Obgleich Baumans Arbeiten dem Phänomen zugewendet sind, gelingt es ihm in besonderer Weise seine Beobachtungen und Analysen im Sinne einer Allgemeinen Soziologie theoretisch zurückzubinden (vgl. Junge 2006: 13f). Baumans zeitgenössische Analysen erfolgen unter einem besonderen kritisch-skeptischen Blick: Im Gegensatz zu optimistischeren Modernisierungstheorien beleuchtet er die Schattenseiten fortschreitender Modernisierungsprozesse und ihre problematischen Effekte (vgl. Aydin 2009: 127). Diese Position Baumans ist motiviert durch eine Grundhaltung, die als »naturalistischer Humanismus« (Junge 2006: 12f, 46f) bezeichnet werden kann. Mit dem naturalistischen Humanismus soll eine Soziologie begrünet werden, »die den Menschen daran erinnert, was der Mensch sein könnte« (ebd.: 46). Baumans Soziologie liegt entsprechend zu Beginn schon eine ethische Komponente inne, die sich im Kern dem Menschen verschrieben sieht. Die Verbindung eines naturalistischen Humanismus mit einer »existentialistische[n] Phänomenologie ermöglicht neue Einblick in die ethische Verfassung von Moderne und Postmoderne« (ebd.: 12). Dem kritisch-skeptische Blick Baumans liegt also auch ein hoffnungsvolles Element inne: Die Analyse zeitgenössischer Probleme soll den Beginn ihrer Lösung markieren und den Weg ebenen für »eine dem Grundgedanken des naturalistischen Humanismus gerecht werdende gesellschaftliche Verfasstheit« (ebd.: 36). Der ›bedrohliche‹ Fremde bei Bauman ist also nicht bedrohlich oder feindlich an sich. In der ›Moderne‹ wird der Fremde als bedrohlich konstruiert. Die Bedrohlichkeit ist demnach kein Element, das dem Fremden innewohnt. Die Bedrohlichkeit wird ihm zu- und eingeschrieben: Es wird hinzugefügt. Wodurch sich im Bild des ›bedrohlichen‹ Fremden keine Eigenheiten des Fremden offenbaren. Etwas Eigenes, das dem Fremden nicht an sich innewohnt, wird vielmehr sichtbar: Es ist eine Eigenheit der ›Moderne‹, nicht des Fremden. Für Bauman sind (moderne) Gesellschaften von einer Widersprüchlichkeit geprägt: Sie sind gefangen in einer unauflöslichen Ambivalenz. Für Bauman bewegen sich (moderne) Gesellschaften beständig in einer Art trade-off zwischen Freiheit und Sicherheit auf einem Spektrum hin und her, wobei die Entstehung, der Wandel, die Erhaltung und die (inneren) Kämpfe um und mit gesellschaftlichen Ordnungen wiederkehrende Themen seiner Arbeiten bleiben (vgl. ebd.: 14f). Die ›Moderne‹ wurde, so Bauman, durch den »Kollaps der göttlichen Ordnung der Welt« (Bauman 1991: 43) eingeläutet. Für Bauman ist die ›Moderne‹ also ein Gegenentwurf gesellschaftlicher Ordnung, die sich in fundamentalen Eigenheiten gegenüber den Gesellschaftsordnungen der Vormoderne abgrenzen lässt. Sowohl vormoderne als auch moderne Gesellschaftsordnungen sind durch die Ambivalenz und Gegensätzlichkeit von Ordnung und Chaos bestimmt. Vor dem »Kollaps der göttlichen Ordnung« (ebd.: 43), die die Vormoderne bestimmte, gab es diese eine Ordnung: die göttliche Ordnung. Sie wurde nicht im Kontrast zum (drohenden) Chaos begriffen. Sie war das, was bekannt war. Sie war die Ordnung, wie sie war: die Art und Weise wie diese Ordnung erlebbar und erfassbar war, entsprach gleichzeitig dem, was unter Ordnung verstanden wurde (vgl. ebd.). Erst mit dem Kollaps der göttlichen Ordnung wird hinter der Ordnung das drohende Chaos sichtbar: die Idee des Chaos ist bei Bauman eine Idee der ›Moderne‹. In seinen Analysen geht es Bauman nicht um verschie-

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dene (moderne) Ordnungen, die miteinander im Wettstreit stehen: eine »Ordnung zielt nicht gegen eine andere Form von Ordnung« (ebd.: 45). Alle Ordnungen sind allerdings immer im Kampf gegen Chaos zu begreifen. Ordnung und Chaos (nicht verschiedene Ordnungen in Konkurrenz zueinander) bilden das Ambivalenzpaar der ›Moderne‹: »Der Kampf um Ordnung ist kein Kampf einer Definition gegen eine andere, einer Möglichkeit, Realität auszudrücken, gegen eine andere. Es ist ein Kampf zwischen Determination und Ambiguität, zwischen semantischer Genauigkeit und Ambivalenz, zwischen Transparenz und Obskurität, zwischen Klarheit und Verschwommenheit. Ordnung kämpft unaufhörlich ums Überleben. […] Jede Ordnung ist immer eine Ordnung als solche, mit Chaos als einziger Alternative.« (Ebd.) Ordnung wird in der ›Moderne‹ im Gegensatz zum drohenden, unberechenbaren und unbestimmten Chaos positiv konnotiert. Das Chaos wird in dieser Lesart zum »Ursprung und der Grundform jeder Angst« (ebd.). Aus dieser Perspektive leitet sich der ›Wahn‹ der ›Moderne‹ ab: durch die Vermessung von Gesellschaften, soll das potenzielle Chaos, die Unordnung kontrollierbar und eingehet werden. Eine von Ordnung und Kontrolle besessene ›Moderne‹ kann die Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit des Chaos nur negativ und bedrohlich konnotieren: »Die Negativität des Chaos ist ein Produkt der Selbstkonstitution der Ordnung […] Ohne die Negativität des Chaos gibt es keine Positivität der Ordnung; ohne Chaos keine Ordnung« (ebd.). Diese Ambivalenz der ›Moderne‹ wird bei Bauman als charakteristisches Merkmal moderner Gesellschaften verstanden. Mit Ambivalenz meint Bauman eine sprachliche Unordnung, Doppel- oder Mehrdeutigkeit oder eine Un-Eindeutigkeit (vgl. Aydin 2009: 127). Ambivalenz können wir dann beobachten, wenn die gewohnten Strategien der Ordnung, Ein- und Zuordnung scheitern, wenn nicht mehr eindeutig das eine vom anderen getrennt werden kann, eine exakte Differenzierung also nicht mehr möglich ist (vgl. ebd.: 128). In der ›Moderne‹ übernehmen Kultur und (National-)Staat die Aufgabe, diesen Ambivalenzen zu begegnen. Ihre Aufgabe ist es, Eindeutigkeit (wieder) möglich zu machen, Strategien und Lösungen für den Umgang mit Ambivalenz anzubieten. Sie sollen Dinge klassifizierbar machen und vermeintliche Einheitlichkeit (wieder) herstellen (vgl. ebd.). Nichts prägt ›moderne‹ Gesellschaften so sehr, wie die Angst vor dem Unbestimmten, »gegen die alle verfügbaren Mittel von Technik, Wissenschaft und Organisation aufgeboten werden« (Neckel 2000: 227). Es lässt sich ein regelrechter »Wahn, die Gesellschaft wie einen ›Garten‹ bestellen zu wollen« (ebd.: 227) erkennen. Beete werden gezogen, Rasen getrimmt, Blumen gepflanzt, gehegt und aufgezogen, mit Stangen und Bögen dazu gebracht in einer bestimmten Form zu wachsen, Unkraut wird gerupft und Ecken und Kanten glattgezogen: alles bekannt, alles nach Plan, alles unter Kontrolle. Alles organisiert und kategorisiert (siehe Kapitel 1.1.2 und 1.1.3). Der Fremde wird vor diesem Hintergrund zu einem Problem für die ordnungsgebenden Instanzen und Systeme. Da Fremdheit durch Ambivalenz bestimmt ist, ist Fremdheit an sich nicht auflösbar: die Ambivalenz des Fremden ist nicht aufhebbar (vgl. Aydin 2009: 129). Freund und Feinde hingegen werden zum Rahmen (gelungener) Vergesellschaftung innerhalb ›moderner‹ Gesellschaften: Sie sind eindeutig, sie sind unterscheidbar und zuordenbar: »Die ersten sind, was die zweiten nicht sind« (Bauman 1991: 23). Freunde stehen im Inneren und Feinde stehen außerhalb. Das Äußere lässt sich klar

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vom Inneren abgrenzen: es ist nicht das Innere, es handelt sich um eine Negation des Inneren. Freunde und Feinde bilden bei Bauman eine scheinbare Symmetrie: »Es gibt keine Feinde, wo es keine Freunde gibt, und es gibt keine Freunde ohne die drohende Hölle der Feinde« (ebd.). Scheinbar ist diese Symmetrie, weil die Bestimmung durch die Freunde einhergeht: Die Freunde definieren die Feinde und die Freunde entscheiden über die Zuschreibungen und Klassifikationen. Die Perspektive der Freunde überwältigt die der Feinde nicht nur, die andere Perspektive (der Feinde) wird gar nicht erst in Betracht gezogen: sie wird nicht einmal beachtet oder als andere Perspektive zumindest anerkannt. Dieser Gegensatz zwischen Freunden und Feinden ermöglicht eine eindeutige Zuordnung: Wahres wird vom Falschen unterschieden, »Gutes von Bösem, Schönes von Hässlichem. [Der Gegensatz] trennt auch eigen und un-eigen, richtig und falsch, geschmackvoll und unverträglich« (ebd.: 24). Der Gegensatz »macht die Welt lesbar« (ebd.). Der Gegensatz bietet die Grundlage gesellschaftlichen Zusammenseins, die Möglichkeit auf irgendeine Weise »mit anderen zu sein« (ebd.: 25): gleich ob in Kooperation als Freunde oder im Kampf als Feinde. Gegenüber Freunden besteht eine moralische Verpflichtung, eine Verantwortung gegenübereinander und ein wechselseitiges Interesse am Wohlergehen untereinander. Dies wird reziprok gefasst: die Verantwortung gegenübereinander ist also die Gabe, die zirkulierend zur ständigen Rückgabe verpflichtet (vgl. Bauman 1991: 24 und Mauss 1990). Während Freundschaft durch ständige Zuwendung und Verantwortungsübernahme reproduziert und realisiert wird, erfolgt die (Re-)Produktion von Freundschaft bei Bauman über das Unterlassen. Es ist nicht die Gleichgültigkeit, die die Feindschaft begründet, sondern die Zurückweisung, Abweisung oder Ablehnung von (moralischer) Verantwortung. Zum Feind wird man also erst durch die einseitige Ablehnung auf, die nur noch reagiert werden kann. Die wechselseitige, beidseitige, Ablehnung der Verantwortung besiegelt schließlich die Feindschaft (vgl. Bauman 1991: 24). Ob als Freund oder Feind werden sowohl die Gegenüber als auch ich selbst zu Subjekten: Freund oder Feind zu sein, bedeutet auch als »Subjekt ›ähnlich dem Selbst‹« (ebd.: 25) wahrgenommen zu werden. Womit weder Freund noch Feind zum Problem der Ordnung werden: sie lassen sich Einordnen. Der Fremde aber wird in seiner Unbestimmtheit zu einer potenziellen Bedrohung, wenn er sich der Zuordnung entzieht und nicht eindeutig bestimmen lässt: er ist weder Freund noch Feind, als bliebe er unentschlossen. Die Bedrohung, die der Fremde damit mit sich bringt, ist nicht die der Aggression des Feindes, die Drohung des (baldigen) Kampfes. Mit seiner bloßen Anwesenheit stellt der Fremde die Hoheit der Ordnung infrage. Er bedroht die Vergesellschaftung selbst, indem er den Gegensatz von Freund und Feind aussetzt: Der Fremde kann beides sein, Freund oder Feind und gleichzeitig nichts von beidem. Der Fremde wird bedrohlich »weil wir nicht wissen und nicht wissen können, was zutrifft« (ebd.). »Unentscheidbare sind alle ›weder-noch‹, und d.h. gleichzeitig ›dieses und jenes‹. Ihre Unterdeterminiertheit ist ihre Potenz: Weil sie nichts sind, können sie alles sein. Sie setzten der ordnenden Macht der Gegensätze ein Ende. Gegensätze ermöglichen Wissen und Handlung; Unentscheidbare lähmen. Sie decken brutal die Fragilität höchst sicherer Trennungen auf. Sie bringen das Äußere ins Innere und vergiften die Bequemlichkeit der Ordnung mit dem Mißtrauen des Chaos.« (Ebd.: 26)

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Der Fremde erscheint als ein Dritter neben Freund und Feind, der im Vergleich zu beiden vollkommen unterbestimmt ist, sich jedem System der Erfassung entzieht und sich nicht den binären Codierungen der bestehenden Ordnungssysteme unterwirft: Der Fremde ist zwar da, aber als »noch nicht Entschiedener« (ebd.: 29) ist er nicht nur ›noch nicht‹ klassifiziert, sondern eher überhaupt nicht klassifizierbar (vgl. ebd.). Und mit dem Nicht-Wissen geht neben einer gewissen Bedrohlichkeit auch eine Paralyse einher. Die ›Moderne‹ ist durch ihre Arbeit des Ordnung-Schaffens charakterisiert: Gesellschaften (und die Welt) wird vermessen, wissenschaftlich erfasst, eingeordnet und kontrollierbar gemacht. Umwelt soll beherrschbar werden. Damit werden Unbestimmtheiten aufgelöst, das Unbekannte wird zum Bekannten und Unsicherheiten sollen reduziert werden (vgl. ebd.: 27). Und dem gegenüber steht der Fremde, der sich diesem Zugriff durch Ordnungen entzieht, sich nicht ›bekannt‹ machen lässt. Und vor diesem Hintergrund wird das ›Problem‹ des Fremden erst durch die Fixierung auf die Erfassung und Erschließung alles Unbekannten hervorgebracht. Auf eine Weise ist die Präsenz des Fremden in der ›Moderne‹ und die Problematisierung des Fremden nur durch die charakteristische Eigenheit der ›Moderne‹ begreifbar. Während die Problematisierung des Fremden ein Produkt der ›Moderne‹ ist, ist der Fremde, der das Unbekannte, das Unerschlossene, das, was (noch) außerhalb der Ordnung liegt, das Komplexe (siehe Kapitel 1.1.3) gleichzeitig eine Bedingung von Vergesellschaftung (in der ›Moderne‹). Jede Erscheinung bringt unmittelbar ihre eigene Negierung mit sich. Jeder Ordnung ist die eigene Abschaffung bereits eingeschrieben. Diese Denkbewegung verweist hier bereits auf etwas, das Giorgio Agamben als die Logik der Ausnahme identifiziert hat (vgl. Agamben 2016: 27 und siehe Kapitel 5) Baumans Lesart des Fremden folgend, ist es nun nicht Aufgabe des (modernen) Nationalstaats den Fremden als Feind zu identifizieren. Es ist Aufgabe die Fremdheit des Fremden aufzulösen. Das Fremde soll also eingehegt werden. Um dies zu erreichen, wurden im modernen Nationalstaat eine Reihe von Strategien etabliert, die den potenziell Fremden greifbar machen sollen und den Fremden dazu zwingen sich der Ordnung zu unterwerfen. Das weltweit durchgesetzte System von Staatsbürgerschaft ist ein Produkt dieser Ordnungsschaffenden Arbeit: jede einzelne Person kann gemäß ihrer Staatsbürgerschaft (die entweder durch Blut oder Boden begründet wird) eindeutig einem Territorium und einer Staatsgewalt zugeordnet werden und Aufenthalte in anderen Ländern werden beispielsweise durch Visa-Systeme organisiert und reguliert. Als Touristen und Gäste unterwerfen wir uns dem Diktat der Ordnungen, die dort bestehen, wo wir uns aufhalten. Gäste und Touristen unterscheiden sich demnach vom Fremden, eben weil sie sich Ordnungssystemen unterwerfen, d.h. sich formalen und bürokratischen Prozessen unterwerfen und Vorgaben befolgen. Der Fremde aber entzieht sich diesen beständig. Auf den Fremden reagieren Nationalstaaten mit Eingliederungs- und Integrationsprogrammen, die behördlicher Natur sein können und ebenso zivilgesellschaftlich realisiert werden. Die Idee von Assimilation ist, so Bauman, eine ›moderne‹ Idee: sie ist ein Produkt moderner Nationalstaaten, die mit dem Ziel der Vereinheitlichung versuchen durch Assimilation, Akkulturation und Absorbierung ethnische, kulturell differente und allgemein heterogene Gruppen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen einzuhegen. Durch den Verweis auf eine vermeintlich geteilte Geschichte und eine gemeinsame kulturelle Einheitlichkeit wird versucht diesen Bestrebungen der modernen Staatlich-

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keit eine Grundlage zu geben. Es wird auf ein gemeinsames Bewusstsein und eine übergeordnete Idee von Nation verwiesen. Bilder von militärischer, zivilisatorischer, technologischer Überlegenheit werden in dem Zuge gezeichnet, wodurch eine Übernahme des ›Eigenen‹ und das ›Ablegen‹ des Anderen legitimiert werden soll. Wobei allerdings völlig außer Acht gelassen wird, dass sich dieses Bild einer ›kulturellen Einheit‹ nicht mit den heterogenen Lebensformen derjenigen deckt, die im Inneren des Staatsgebildes damit eigentlich angesprochen werden sollten. In diesem Punkt decken sich Baumans (1991) und Andersons (2005) Vorstellungen vom modernen Nationalstaat und der Idee der Nation, die zwar territorialer und kulturelle und linguistische Vereinheitlichung unter der Idee einer gemeinsamen geteilten Nation innerhalb eines Territoriums verfolgt, schlussendlich aber nicht realisiert werden konnte. Eben daraus ergibt sich ein (weiterer) Widerspruch zwischen der Vereinheitlichung, die der Idee der Nation inhärent ist und der realen (kulturellen) Heterogenität innerhalb eines durch eine spezifisch gewachsene Verwaltung organisierten Territoriums (vgl. Bauman 1991: 41). Das Projekt der kulturellen Vereinheitlichung innerhalb eines Nationalstaates, bringt die Bedingungen des eigenen Scheiterns schon hervor (vgl. ebd.: 43). Im Übergang zur ›Postmoderne‹ verliert der Staat, laut Baumans Analysen, seine ordnungsgebende Funktion. Die Ordnungskonstruktion durch den Staat ist nicht mehr gegeben (vgl. Aydin 2009: 136). Der Umstand, dass der Nationalstaat die Funktion verliert, bedeutet allerdings nicht, dass die ambivalenten Spannungen, die die ›Moderne‹ prägten in der Postmoderne aufgelöst worden wären. Der Nationalstaat, der für eine Weile die Lösung des Ordnungsproblems war, verliert in der ›Postmoderne‹ seine Fähigkeit die Spannungen und Ambivalenzen zu verhandeln und zu ordnen: die Spannungen selbst bleiben aber. Nichtmehr staatliche Gebilde müssen diese Spannungen nun aushalten und auflösen. Die ambivalenten Spannungen, die die gesellschaftliche Verfassung der ›Moderne‹ kennzeichnen, werden im Übergang zur ›Postmoderne‹ privatisiert und individualisiert. Diese Delegation der Aufgaben konnten wir bereits in den Fallbeispielen der empirischen Untersuchungen (siehe Kapitel 2.2.) beobachten. Die Ehrenamtskoordinator:innen sprachen explizit davon Spannungen aushalten zu müssen (vgl. FB220517: 2) aber nicht auflösen zu können. Durch Privatisierung von Kultur und fortschreitender Individualisierung werden Ambivalenz – und dazu gehören auch die Ambivalenzen, die der Fremde mit sich bringt – nun nicht mehr auf staatlicher Ebene ausgefochten und ausgehandelt. Der Umgang mit den Spannungen und Ambivalenzen wird ins Private verlagert und es obliegt nun dem Einzelnen Lösungen zu finden, womit wiederum ethnische Komponenten in der Betrachtung Einzug halten (vgl. Aydin 2009: 136). Zu den neuen Ambivalenzen, die nun die postmoderne Welt prägen, gehören laut Bauman weltweite Unübersichtlichkeit, Deregulierung, Schwächung sozialer Sicherheitssysteme, moralische Verbindlichkeiten sind abhandengekommen, normative Autoritäten haben ihre Wirkung verloren, Alternativen sind nicht mehr denkbar, Solidarität, Kontinuität und Sicherheit, alles Kennzeichen der noch modernen Welt werden abgelöst von einem Leben in existentieller Unsicherheit (vgl. ebd.: 136). Und daraus entsteht, so Bauman, eine neue Spielart der Ungewissheit, die als vorübergehendes und zu überwindendes Übel erscheint, welches es durch politische Maßnahmen abzumildern gelte (vgl. ebd.: 137).

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»Während die modernen Fremden zur Vernichtung, Assimilation oder Exklusion vorgesehen waren und die vorrückende Grenzlinie der entstehenden Ordnung markierten, gilt es heute, den Fremden mit seiner Fremdartigkeit zu erhalten. Diese gehe auf die Einsicht der Notwendigkeit des Zusammenlebens mit Fremden zurück.« (Ebd.: 137f) Die (neue) ›Postmoderne‹ erkennt die Andersheit des Fremden als schützenswert, bereichernd, produktiv und kultivierenswert (vgl. ebd.: 138). Die Denationalisierung des Staates führte in der ›Postmoderne‹ zu einer Privatisierung von Nationalität und Kultur, wodurch ethnische und kulturelle Differenzen nicht mehr durch den Nationalstaat bearbeitet werden müssen: »Mit einem Staat, der seine Indifferenz gegenüber kulturellen und ethnischen Pluralismen deklariert (und praktiziert), hat Toleranz eine größere Chance als jemals zuvor« (Bauman 1991: 48). Bauman meint damit, dass in der ›Postmoderne‹ ein gesellschaftliches Umdenken stattgefunden habe. Stärkere Individualisierung gehe einher mit einem toleranteren Bewusstsein gegenüber der Andersheit und Vielheit innerhalb gesellschaftlicher Verbände. Es fand eine Verschiebung von deiner Betonung des Gemeinsamen zu einer positiven Bewertung der Verschiedenheit statt. Hinzu käme, so Bauman, eine Delegation staatlicher Aufgaben: d.h. die Ambivalenzen, durch die Gesellschaften noch immer geprägt sind, werden nun nicht mehr durch staatliche Akteure bearbeitet, sondern ins Private verschoben. Diese führte dazu, dass es den nun freigesetzten Individuen, die das (eigene) ›Eigene‹ als fluide, temporärer, wechselhaft und fragmentarisch betrachten auch einen potenziell toleranteren Blick auf das Fremde möglich sei. An dieser Stelle wird Baumans naturalistischer Humanistischer und der hoffnungsvolle Blick, den Bauman trotz seiner kritischen Analyse aktueller Lagen behielt, wiederum besonders deutlich. Während Bauman mit der Beobachtung einer Delegation staatlicher Aufgaben und der verstärkten Individualisierung richtig liegen mochte, wird die Prognose an der Stelle einseitig, wenn er die Chance auf potenziell mehr Toleranz betonte, dabei die Kehrseite übersieht, dass die Delegation des Aushaltens und Aushandelns von Ambivalenz auch toleranzgefährdende Effekte nach sich ziehen könnte.

3.1.4 Am Fremden zeigt sich das Eigene I Die Schlaglichter, die auf den letzten Seiten ausgeführt wurden, machen eine Sache besonders deutlich: über den Fremden kann an sich zunächst kaum etwas gesagt werden. Der Fremde markiert immer das Unbekannte, das, was noch nicht bekannt gemacht wurde, noch nicht erfasst wurde, das, was sich der Ordnung aktuell noch entzieht, das, was von der Ordnung womöglich nicht unterwerfen lässt. Fremdheit geht immer mit einem Mangel an Wissen einher. Der Fremde verweist auf eine Grenze, eine Lücke oder eine Limitation. Gleichzeitig ist Fremdheit nicht Nichts. Es ist mehr als nichts und weniger als etwas. Der Fremde entzieht sich und bleibt unbestimmt – der Fremde muss gleichzeitig unbestimmt bleiben, um weiterhin fremd sein zu können. Fremdheit ist ebenso nicht vollständig unbekannt: Fremdheit verspricht zumindest hypothetisch bestimmbar zu sein. Der Fremde markiert die Grenze zwischen dem Bekannten und (noch) Unbekannten. Das Fremde kann nicht weiter reduziert werden: Der Fremde ist irreduzibel. Der Fremde an sich ist unterdeterminiert und wird gleichzeitig vom ›Eigenen‹, dem der

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Fremde gegenübertritt überdeterminiert und bestimmt: womit sich am Fremden vor allem das Eigene zeigt. Der Fremde tritt in der Soziologie an die Stelle von Etwas, das zunächst nicht bestimmt werden kann, das sich erst in seiner Auseinandersetzung mit dem Fremden herausschälen lässt, das sich erst noch zeigen muss. Der Fremde markiert also eine Leerstelle und gleichzeitig einen Übergang und begegnet uns in vielfachen Formen an unterschiedlichen Stellen. In soziologischen Untersuchungen, aber auch literarischen, psychoanalytischen, politikwissenschaftlichen und philosophischen Werken, begegnet uns der Fremde als Außenseiter, als Nichtdazugehöriger, als Ausgestoßener und als die Figur an den Rändern. Er ist der Neuankömmling und erscheint er als Hybrid. Der Fremde wird zur Bedingung für Vergesellschaftung in der ›Moderne‹ und von der ›Moderne‹ zum Problem gemacht: eines, das der (moderne) Nationalstaat nun wiederum lösen sollte, was mit fortschreitender Modernisierung scheinbar wiederum delegiert wird. Auf eine Weise bindet die Figur des Fremden als eine Kontroverse der ›Moderne‹ ein kompliziertes Netzwerk aus Akteuren und Interessen, die am Fremden beständige Verschiebungen vornehmen und damit die scheinbare Kontroverse, die im Fremden reduziert wird, bearbeiten, dabei weniger aber den Fremden bearbeiten, sondern vielmehr ›sich selbst‹ an der Figur des Fremden ab-arbeiten. Die vielfältigen Wirkungen des Fremden werden zu Bedingungen (moderner) Gesellschaften. Die Konfrontation mit der personalisierten Form des Fremden erzeugt erst die Grundlage dafür, dass eine Notwendigkeit sichtbar wird und etwas herausgebildet werden muss, das an die Stelle traditioneller, gemeinschaftlich orientierter, durch vor allem familiäre, persönliche Verbindungen gestaltete Ordnungen treten kann: die Idee einer (ethnisch homogenen) Nation, die sich über Nation, Volk und Macht konstituiert, definiert und stabilisiert. Und es ist jene ständige, alltägliche Fremdheit, das (Zusammen-)Leben unter Fremden in (modernen) Großstädten, Gemeinschaften, die nun als (moderne) Gesellschaften bezeichnet werden, die ständig neue Formen der Ver-Gesellschaftung hervorbringen: Forme des trotzdem aufeinander Beziehens, in immerzu komplexeren Verschränkungen und Konstellationen. Fremdheit, in welcher Form auch immer sie uns begegnet, fordert zur Bezugnahme auf, erzeugt überhaupt erst die Notwendigkeit das Eigene, im Kontrast zum Fremden, kenntlich zu machen. Das Fremde ist in dem Sinne nicht außerhalb des Eigenen zu denken: es ist immer schon als Bedingung Teil des Eigenen.

3.2 Wi(e)derlesungen des Fremden Georg Simmels Exkurs über den Fremden, Robert E. Parks Marginal Man und Alfred Schütz’ sozialpsychologischer Versuch zur Situation des Fremden gehören zu den drei Klassikern der Soziologie des Fremden. Im folgenden Abschnitt wird eine textnahe Rezeption der drei Texte über den Fremden vorgenommen, denen jeweils eine zeitgenössische Kritik und Einordnung angeschlossen wird. Die Ausführungen folgen der Grundthese, dass obgleich die drei Texte über ›den Fremden‹ sprechen, die Autoren grundlegend andere Dinge damit meinten. Und diese Unterschiede gehen darüber hinaus, dass

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die Soziologen andere real-empirische Entsprechungen in ihren Ausführungen als konkrete Beispiel für den Fremden und Fremdheit mobilisierten.

3.2.1 Georg Simmel und der Exkurs über den Fremden Simmels Soziologie steht im Kontrast zu Durkheims oder Webers Soziologie. Für Simmel ist es die spezielle soziologische Perspektive, die die Soziologie als Wissenschaft von anderen Disziplinen unterscheidet. Während Durkheim und Weber viel Arbeit darauf verwendeten den Gegenstand der Soziologie zu definieren und darüber die Eigenständigkeit der Soziologie als Wissenschaft zu begründen, ging es Simmel weniger darum einen ›eigenen‹ Gegenstand der Soziologie von den Gegenständen anderer Disziplinen abzugrenzen: er verwies in seinen Arbeiten stärker auf die besondere, soziologische Perspektive. Simmels Arbeiten zeichnen sich durch einen starken Fokus auf die Prozessualität des ›Sozialen‹ aus. Simmel untersuchte insbesondere die Zusammenhänge, Verbindungen und das, was ›Dazwischen‹ passiert. Es ging ihm weniger um eine Beschreibung oder Erklärung von ›der Gesellschaft‹ in Abgrenzung zu ›den Individuen‹. Im Zuge seiner Untersuchungen entwickelte Simmel das Konzept der Wechselwirkungen. Menschen befinden sich immer schon und ständig in Wechselwirkungen mit anderen: dies können andere Menschen, die unmittelbare Umwelt, eine Gesamtheit von Gesellschaft und nur abstrakte Ideen sein. Menschen nehmen auf diese Dinge Bezug. Sie entfalten durch diese Bezugnahme eine Wirkung auf andere Menschen, Umwelt, Gruppen oder Ideen und gleichzeitig wirken diese ›anderen‹ Elemente auch auf einzelne Menschen ein. Die Wirkungen erfolgen also nicht nur einseitig, sondern immer reziprok und wechselseitig. Eine Gesellschaft ist für Simmel dann lediglich die Einheit, die sich aus den unzähligen Wechselwirkungen herauskristallisieren lässt: Gesellschaften entstehen erst durch diese vielen Wechselwirkungen (vgl. Simmel 1992 [1909]: 18f). Die Form von Wechselwirkungen ist nicht vorbestimmt und Wechselwirkungen können somit vielfältige Gestalt annehmen und folglich kann auch die Einheit, zu der viele Wechselwirkungen zusammengefasst werden können, sich sehr präsentieren: »Ich bezeichne nun alles das, was in den Individuen, den unmittelbar konkreten Orten aller historischen Wirklichkeit, als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andere und das Empfangen ihrer Wirkungen entsteht – dieses bezeichne ich als den Inhalt, gleichsam die Materie der Vergesellschaftung. An und für sich diese Stoffe, mit denen das Leben sich füllt, diese Motivierungen, die es treiben, noch nicht sozialen Wesens.« (Ebd.: 18) Aus der Vielzahl von Wechselwirkungen bilden sich Gesellschaften, wenn aus dem »isolierten Nebeneinander von Individuen […] Formen des Miteinander und Füreinander« (ebd.: 19) werden. Schon die allgemeinen Verständnisse von Hunger, Arbeit, Liebe oder Religiosität, sowie Technik und Resultate der Intelligenz sind Spuren von Vergesellschaftung (vgl. ebd.: 18). Simmel entwirft diese besondere Form soziologischer Denkweise, die im Kontrast zu Durkheims holistischer Perspektive oder Webers methodologischem Individualismus (siehe Kapitel 1.2.2) als relationale Soziologie bezeichnet wird (vgl. Rosa et al. 2013)

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und wendet die Denkfigur der Wechselwirkungen auf unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene, wie z.B. Mode, Armut, Religion, Geld, Kunst und Ästhetik, sowie Scham, an. Ein weiterer Unterschied von Simmels Vorgehensweise im Vergleich zu Durkheims ist, dass Simmel sich nicht gegenüber philosophischen und (sozial-)psychologischen Ansätzen abgrenzte. Für Simmel zeichnet sich die Soziologie nicht durch ihren genuin eigenen Gegenstand aus. Es ist ihre spezifisch soziologische Perspektive, der Besondere Blickwinkel, vom dem aus die Soziologie gesellschaftliche Phänomene betrachten kann, der die Soziologie als Wissenschaft auszeichnet. Simmels Exkurs über den Fremden ist Teil seiner Ausführungen zum Raum und den räumlichen Ordnungen von Gesellschaften (vgl. Simmel 1992 [1909]: 687ff). Der Fremde zeichnet sich bei Simmel durch seine besondere Stellung im Raum in Bezug zur Gruppe aus. Simmel unterscheidet zwei grundlegenden Modi menschlicher Mobilität: Sesshaftigkeit und Wanderung. Beide markieren Extreme eines Spektrums menschlicher Mobilität zwischen einer vollständig im physischen Raum fixierten Position (Sesshaftigkeit) und einer vollständigen Gelöstheit im Raum (Wanderung). Im Rahmen seiner Raumsoziologie untersucht Simmel die räumlichen und geophysischen Bedingungen von Sozialität. Jeder Raum, der von einer Gruppe eingenommen und bewohnt wird, wird auch durch diese Gruppe mitgestaltet und verändert. Gleichfalls formiert sich die Sozialität der Gruppe innerhalb des geophysischen Raumes nicht beliebig: auch ihre Form ist von den Gegebenheiten des Raumes beeinflusst. Die ›Einheit‹ des Raumes steht also in einem Zusammenhang zur angenommenen ›Einheit‹ der Gruppe, die diesen Raum ausfüllt: Die ›Einheit‹ des Raumes wird von der ›Einheit‹ der Gruppe getragen, ebenso wie die ›Einheit‹ der Gruppe sich auch in der ›Einheit‹ des Raumes ausdrückt (vgl. Reuter 2002: 83). Beide angenommenen ›Einheiten‹ bedingen sich gegenseitig, werden erst durcheinander zu erkennbaren ›Einheiten‹, womit die ›Einheit‹ des Raumes mit der ›Einheit‹ der Gruppe scheinbar zusammenfällt. Der Fremde stellt eine Sonderform in dieser Betrachtung dar, da er die »Gelöstheit des Kommens und Gehens« (Simmel 1992 [1908]: 764) noch nicht vollständig überwunden hat: Der Fremde ist der, »der heute kommt und morgen bleibt« (ebd.). Der Fremde ist nicht der Wandernde, der heute kommt und morgen wieder geht: er ist der potenziell Wandernde. Bei Simmel steht der Fremde an der Schwelle zwischen den zwei einander ausschließenden Modi der Bewegung. Durch diese Eigenheit stellt der Fremde jene gedachte ›Einheit‹ von Gruppe und Raum durch sein Erscheinen allein bereits in Frage. Das Verhältnis, das der Fremde zur Gruppe als auch zum Raum besitzt, ist kein eindeutiges und damit unterdeterminiert (vgl. Reuter 2002: 84). Neben der Verortung im physischen Raum bringt der Fremde bei Simmel eine direkte zeitliche Komponente mit sich: er ist der, der »heute kommt und morgen bleibt« (Simmel 1992 [1908]: 764). Heute ist der Fremde da. Er ist aber auch gleichzeitig ungebunden (genug), sodass er morgen gehen könnte, Fremder aber bleibt, wenn er bliebe. Das morgige Gehen verweist auf eine Loslösung, Ungewissheit, Unentschlossenheit, eine potenzielle Trennung, eine Abwendung, die sich allerdings erst noch vollziehen muss, im Moment aber noch nicht realisiert wurde. Etwas, das als (virtuelles) Risiko ständig Teil des aktuell Gegebenen ist, in dem Sinne also einen Unterschied macht und daher nicht

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ignoriert werden kann. Obgleich (noch) nicht realisiert, wirkt diese Potenzialität in das Jetzt hinein. Bei Simmel ist der Fremde immer schon »ein Element der Gruppe selbst« (ebd.: 756). Was genau Simmel damit meint, verdeutlicht er mit der Unterscheidung der Unbekannten (Bewohner der Sirius), die hypothetisch existieren könnten, aber von denen (noch) nichts bekannt ist, die zudem weit entfernt sind. Sie sind irgendwo-anderswo. Der Fremde ist dies nicht: der Fremde ist hier. Die Figur des Fremden kann bei Simmel nur in Bezug zur Gruppe betrachtet werden: losgelöst von der Gruppe, wäre er kein Fremder mehr, er wäre nur noch irgendjemand. Wichtig bei Simmel ist, dass der Fremde Teil der Gruppe ist. Er steht nicht in Kontrast zur Gruppe, er steht nicht außerhalb der Gruppe jenseits einer imaginierten Grenze. Entfernt sich die Person, die die Position des Fremden in Bezug zur Gruppe innehat (hatte), so verliert sie augenblicklich diese besondere Position. Der Fremde ist keine konkrete Person, die durch besondere Eigenheiten, die sie auszeichnen, als Fremder erkannt werden würde. Das Fremdsein liegt nicht in ihrer Essenz eingeschrieben. Der Fremde stellt vielmehr eine Position in Relation zur Gruppe dar. Es ist keine Person, es ist eine besondere Beziehung, die als fremd erfasst wird. Bei Simmels Fremden handelt es sich also um eine relationale Position, nicht um einen ontologischen Seinszustand oder etwas mit substanziellem Charakter. Der Fremde ist eine Beziehung, ähnlich wie Freundschaft, Partnerschaft, Familie, Konkurrenz oder Feindschaft besondere Beziehungsformen innerhalb von Gruppen bilden. Auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint an dieser Stelle Simmels Spezifizierung, wenn er beschreibt, dass der Fremde darüber bestimmt werde, dass er zuvor noch nicht da gewesen ist. Er gehörte also vor seinem Kommen noch nicht zu den Elementen in diesem Raum (Ort): »seine Position ist dadurch wesentlich bestimmt, dass er nicht von vornherein in ihn [den Raum] gehört, dass er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen könne, in ihn hineinträgt« (ebd.). Betrachtet man das Erleben von Fremdheit aus der biographischen Perspektive Einzelner, so erscheint der Fremde als jemand, der von außen an die Gruppe herantritt, also von außen kommt und damit neu ist. Der Fremde ist jemand, der von irgendwo anders herkommt, an einem anderen Ort zuvor war, eine andere Heimat besitzt, der womöglich einen anderen Alltag kennt. Er, der baldige Fremde, kommt ›neu‹ dazu. Aus den egozentrierten Perspektiven des Fremden und der Gruppe heraus betrachtet, erscheint der Fremde tatsächlich auch als Neuling, er ist ein real (neu) Hinzukommender. Der Neuling, der Hinzukommende oder Ankommende und der Fremde sind allerdings unterschiedliche Figuren, die in manchen Momenten in einer konkreten Person zusammenkommen, aber deswegen nicht ineinander fallen. Faktisch treten unterschiedliche Sozialfiguren in einer konkreten Person zwar auf, sie werden also gleichzeitig sichtbar und sind präsent, werden aber nicht zu einer und derselben. Was den Fremden vom Neuankömmling und Dazukommenden trennt ist, dass der Fremde erst zum Fremden wird, wenn er an die Gruppe herantritt. Zuvor war er (noch) kein Fremder. Er war nur Irgendjemand und eventuell ein Unbekannter. Für den Neuankömmling wichtiges Element ist, dass er ›neu‹ dazukommt. Er muss tatsächlich von irgendwoher aus dazukommen und ankommen. Die Figur des Neuankömmlings betont den Moment des Ankommens: seine besondere Beziehung zur Gruppe wird über diese temporale Bestimmung nicht weiter definiert. Der Ankömmling wiederum muss nicht

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unbedingt ein Fremder sein, er kann früher einmal schon hier gewesen sein, er kann zurückkommen oder wiederkommen. Auf die Ankommenden kann auch schon gewartet worden sein. Er muss kein, kann aber, ein Fremder sein. Das Zusammenkommen von Nähe und Ferne ist eine der bedeutenden Eigenheiten des Fremden bei Simmel: »Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, dass die Ferne nah ist.« (Ebd.) Nähe und Ferne kommen hier in der Figur des Fremden gleichzeitig zusammen und werden im höchsten Spannungsverhältnis zueinander untrennbar verbunden: »Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden.« (Ebd.: 769) Die Gleichheit von der Simmel spricht, bezieht sich dabei nicht auf eine konkrete Gleichheit. Es handelt sich um Ähnlichkeiten, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen in gleicher oder ähnlicher Weise erscheinen können, wie beispielsweise Religiosität. Die Ähnlichkeit kann aufgrund des gleichen Elements erkannt werden ohne, dass die Elemente inhaltlich gleicher Natur sein müssten. Es geht also nicht unbedingt darum, um welche Religion es sich konkret handelt, es geht darum, dass ein gleichförmiges Element erkannt wird. Diese ähnlichen Elemente können unterschiedlicher Form sein. Es kann sich beispielsweise um Religion handeln, es kann auch eine sprachliche Ähnlichkeit sein oder ein anderes gesellschaftsprägendes Element sein. Welche Gleichheiten und Ähnlichkeiten in konkreten Situationen und zu bestimmten Momenten als ›gleich genug‹ erkannt werden und worauf sich Aufmerksamkeit und Fokus richtet, ist nicht vorbestimmt, gleichzeitig aber auch nicht vollständig beliebig. Es unterscheidet sich von Gruppe zu Gruppe. Womit das situative Moment von Fremdheit zum Vorschein kommt. Diese Figur des Fremden kann also geophysische, soziale, kulturelle, religiöse und sprachliche oder nur Teile davon in der Unterscheidung von Ferne und Nähe verbinden. Die Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne ist dabei zwingendes Merkmal der Figur des Fremden. Simmels Fremder ist immer durch die mindestens geophysische Nähe gekennzeichnet. Gleichzeitig muss es gleichzeitig eine Form der Ferne, eine Distanz auf anderer Ebene geben. Fällt der Aspekt der Nähe oder Ferne weg, verliert die Figur ihr charakteristisches Spannungsmoment: die Fremdheit löst sich auf. Fremdheit entfaltet sich also immer in einem Spannungsverhältnis von Nähe und gleichzeitiger Ferne. Wenn der Fremde uns nah ist in den Dingen, in denen wir gleich empfinden, erkennen und denken und fern in den Dingen, in denen kleinere und größere Unterschiede uns trennen. Dabei schränkt Simmel nicht weiter ein, durch welche operationalisierbaren Merkmale diese Nähe und Ferne (Gemeinsamkeiten und Unterschiede), bemessen werden könnten, wie stark spürbar (Grad der Intensität) oder zählbar (Quantifizierung) jene Nähe und gleichzeitige Ferne sein muss, um vom Fremden und Fremdheit sprechen zu können. Fremdheit wird zu einem Element, das im Kleins-

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ten ebenso erscheint und wirkt, wie es im Größten sichtbar werden kann. So sind die real-empirischen Beziehungen von Ausländern zu Einheimischen durch Fremdheit gekennzeichnet, ebenso wie intime Beziehungen Elemente von Fremdheit aufweisen können. Am Beispiel mittelalterlicher Judensteuer zeigt Simmel, dass während das Gemeinsame, die erkannte Nähe, oftmals in der empirischen Wirklichkeit auf einer allgemeinen Ebene verortet bleibt, wohingegen die Unterschiede wiederum als besondere Kennzeichen und Merkmale überfokussiert werden. Während die Unterschiede also besonders betont werden, werden die Gleichheiten vernachlässigt (vgl. ebd.: 770). So wurde die Steuerhöhe für die christliche Bevölkerung etwa im Großraum Frankfurt im Mittelalter auf Basis verschiedener, einzeln zu betrachtender Faktoren festgelegt, wohingegen die Steuer für Juden »ein für alle Mal festgesetzt« (ebd.) wurde. Während also die Steuerhöhe für jeden nicht-jüdischen Bürger gemäß seinen Besitztümern und Einkünften unterschiedlich bemessen wurde, war »der Jude […] als Steuerzahler in erster Linie Jude und dadurch erhielt seine steuerliche Position ein invariables Element« (ebd.). Einerseits war also eine zunehmende Individualisierung in allen Bereichen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu erkennen, wohingegen den ›Fremden‹ eine gesonderte Behandlung zu Teil wurde. Gerade jenen, die als Fremde behandelt werden, wird ihre Individualität aberkannt. Sie werden zu einer (homogen gedachten) Gruppe zusammengefasst. Die Individualität Einzelner wird durch eine »starre Unabänderlichkeit« (ebd.) sozial überschrieben. Damit wird der Fremde in der gesellschaftlichen Realität und des gesellschaftlichen Umgangs mit Fremden zu einer Ausnahme und Fremdheit zu einer vermeintlichen Eigenschaft umgedeutet. Trotz dieses Widerspruchs zwischen Simmels theoretischer Figur des Fremden und der real-sozialen Übersetzung, die wir beobachten können, bleibt der Fremde »mit all seiner unorganischen Angefügtheit […] doch ein organisches Glied der Gruppe, deren einheitliches Leben die besondere Bedingtheit dieses Elements einschließt, nur dass wir die eigenartige Einheit dieser Stellung nicht anders zu bezeichnen wissen, als dass sie aus gewissen Maßen von Nähe und gewissen von Ferne zusammengesetzt ist.« (Ebd.: 771) Bei Simmels Figur des Fremden ist wichtig, dass er den Fremden nicht als Persönlichkeitstypus versteht. Es handelt sich nicht um konkrete Personen, die sich durch besondere Eigenschaften als Fremde qualifizieren. Fremd kann jeder und jede sein: Unabhängig von individuellen, persönlichen Besonderheiten, Eigenschaften oder Fähigkeiten. Der Fremde wird zum Fremden in der Relation zur Gruppe. Die besondere Position des Fremden in Bezug zur Gruppe bringt einen Effekt mit sich, den Simmel als die Objektivität des Fremden bezeichnet. Der Fremde besitzt keinen Boden. Dies geht bei Simmel über den rein stofflichen Besitz von tatsächlichem Boden hinaus. Der Fremde ist nicht eingebunden in die Beziehungsgeflechte der Gruppe. Er hat keine Teilhabe an der Geschichte der Gruppe und ihm fehlen verwandtschaftliche, freundschaftliche oder feindschaftliche Berührungspunkte. Durch diese Nicht-Eingebundenheit und weitgehende Nicht-Teilhabe besitzt der Fremde eine besondere Objektivität gegenüber den Belangen der Gruppe (vgl. ebd.: 767).

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»[Der Fremde] ist der Freiere, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilslos, miss sie an allgemeineren, objektiven Idealen und ist in seiner Aktion nicht durch Gewöhnung, Pietät [bezogen auf religiöse Gefühle und Wertvorstellungen anderer], Antezedentien [gemeint als etwas Vorausgegangenes, Gegebenes] gebunden.« (Ebd.) Der Fremde ist durch »keinerlei Festgelegtheiten gebunden, die ihm seine Aufnahme, sein Verständnis, seine Abwägung des Gegebenen präjudizieren könnten.« (Ebd.). Diese Objektivität liegt dem Fremden nicht als gegebene Qualität inne: er ist nicht allgemein in dieser objektiven Position. Nur in Bezug auf die Belange der Gruppe verfügt der Fremde über ein höheres Maß an Objektivität im Vergleich zu allen anderen Mitgliedern der Gruppe. Es handelt sich hierbei also nicht um eine Nicht-Teilnahme, sondern eher um eine distanzierte Teilnahme. Yasar Aydin spricht in seiner Rezeption des Fremden von Simmel auch von einer blasierten Distanz und einer Versachlichung und Autonomie des Fremden (vgl. Aydin 2009: 94). Eine besondere Konstellation, in der sich der Fremde wiederfindet, die ihn nicht nur von Verpflichtungen befreit sein lässt, sondern auch gefährdend werden kann. Auch wenn Simmel die Beziehung des Fremden gemeinhin als eine sehr produktive betrachtet, ignoriert er nicht die Kehrseite. So kann sich diese Un(ein)gebundenheit des Fremden auch negativ gegen den Fremden wenden, denn »von jeher wird bei Aufständen aller Art von der angegriffenen Partei behauptet, es hätte eine Aufhetzung von außen her, durch fremde Sendlinge und Hetzer stattgefunden« (Simmel 1992 [1908]: 767). Der Fremde ist einerseits im Streitfall unparteilich, weil keine bestehenden Beziehungen ihn zur Sympathie mit der ein oder andren Partei verpflichtet, andererseits kann sich der Fremde nicht auf eben die Sicherheit bestehender Beziehungen im Konfliktfall verlassen: Während der Fremde bei Simmel in seiner Objektivität und Neutralität besonders frei und ungebunden ist, kann der Fremde gleichfalls nicht darauf vertrauen, dass jemand aufgrund bestehender Beziehungen im Konfliktfall für ihn Partei ergreift. Durch seine Un(ein)gebundenheit und die Gelöstheit im Raum, »symbolisiert [der Fremde] die Gelöstheit aus lokalen sozialen Zusammenhängen und erinnert mit seiner Ankunft an die Zerbrechlichkeit der Sicherheit, die Einheit und die Abgeschirmtheit, die Einheimische mit ihrem Ort assoziieren« (Aydin 2009: 90). In seinem Text über die modernen Großstädte (1903) verweist Simmel darauf, dass in der modernisierten Gesellschaft die Fremdheit nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist: eine blasierte Indifferenz gegenüber unmittelbaren Nachbarn, zeichnet die Beziehungen in modernen Großstädten aus. Etwas, das auch mit und durch die Verbreitung des Geldes als Hauptzahlungsmittel begünstigt wurde (vgl. Simmel 2003 [1900]). Das Geld ist das (neue) Medium und »Schnittstelle moderner Interkation« (Reuter 2002: 89). Persönliche Kontakte, die An-Erkennung des Gegenübers als Person ist für den Tausch nicht mehr notwendig. Die Bedeutung des Gegenübers als Person wird reduziert, die Interkation auf den funktionalen Tausch reduziert. Warentausch ist nicht mehr räumlich fixiert und eingeschränkt, nicht mehr zeitlich abzustimmen, kann nun flexibel und beweglich gestaltet werden. Es sind eben die (modernen) Großstädte, die zu regelrechten gesellschaftlichen Verdichtungsräumen (Nähe) werden und gleichzeitig zu Schauplätzen ständiger Interkationen unter Fremden. Der Fremde stellt hier nicht mehr die

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Ausnahme dar, vielmehr die Regel und wird zur Norm. Der Großstädter entwickelt die Fähigkeit, »seine Mitmenschen eben nicht zu Nachbarn zu domestizieren, sondern sie als Fremden und damit in die Sphäre der Nichtaufmerksamkeit abzuschieben« (ebd.: 92). Austausch innerhalb der Großstadt konzentriert sich dabei vor allem auf geschäftliche Dinge, d.h. ist Geldbezogen, versachlicht, unpersönlich. Dabei wird nicht etwa die Individualität Einzelner ausgelöscht, sondern diese eher anonymisiert. Und an dieser Stelle taucht Simmels Figur des »blasierten Großstädters« auf. Der blasierte Großstädter lebt auf Distanz zu seinen Mitmenschen, die gleichzeitig doch Tür an Tür wohnen, also räumlich nah sind. Der Großstädter weist damit Eigenschaften des Fremden von Simmel auf, wobei er eben gerade in der Großstadt nicht die Ausnahme, sondern die Norm ist (vgl. ebd.: 93). Der Fremde hier aber eben »nicht als marginale Randfigur, sondern als Prototyp einer im Aufbruch der Moderne stehenden Gesellschaft« (ebd.). Allerdings nimmt die Person, der der blasierte Großstädter gleichgültig begegnet, nicht etwa eine passive Rolle ein: die Anderen Großstädter sind ihrerseits wechselseitig in dem Prozess beteiligt, begegnen einander gleichgültig, distanziert, indifferent: »Die Fähigkeit sich selbst als ›anders‹ und die anderen als ›fremd‹ zu behandeln, wird so zum Privileg des Großstädters, das bei Simmel mehr als die reine Umgangspraxis kennzeichnet, gerade weil es in das Seelenleben hineinreicht« (ebd.: 94).

3.2.2 Robert E. Park und der Marginal Man Im Zuge seiner Arbeiten zu The City (1925) stößt Park auf die Figur des Marginal Man. Der Marginal Man wird im Deutschen als Randseiter oder Grenzgänger übersetzt. Erstmalig Erwähnung findet der Marginal Man in Parks Aufsatz über Human Migration and the Marginal Man von 1928. Parks Schüler Everett V. Stonequist greift die Figur des Marginal Man später in seinem Aufsatz The Problem of the Marginal Man (1935) noch einmal auf. Der Marginal Man gehört neben den Arbeiten zum Fremden von Schütz und Simmel zu den Schlüsselwerken der Soziologie des Fremden. Robert E. Park gilt neben Albion W. Small, William I. Thomas und Ernest W. Burgess zu den Wegbereitern und Gründern der Chicago School of Sociology, die die Soziologie in Nordamerika Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägte. Die Arbeiten, die im Umfeld der Chicago School entstanden, waren stark von den Entwicklungen jener Zeit geprägt. Zwischen den beiden Weltkriegen erfuhr Chicago einen großen Bevölkerungszuwachs. Ein Grund dafür war die Einwanderung flüchtender Menschen aus Europa. Diese Entwicklung ging einher mit einer Expansion der städtischen Infrastruktur: Straßenbahnen wurden ausgebaut, Hochhäuser entstanden und Einkaufszentren wurden aufgebaut. Diese rasante Entwicklung ging einher mit einer optimistischen und zuversichtlichen Stimmung: Chicago sollte die Stadt der Möglichkeiten und Potenziale sein. Die Urbanisierung im Umkreis der Stadt hatte unterdessen auch Auswirkungen auf das ländliche Umfeld. Der eher ländlich geprägte Lebensstil wurde zunehmend von städtischen Lebensformen abgelöst. Neue Routinen mussten ausgebildet werden und die alltägliche Lebensrealität neugestaltet werden. Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre brachte unterdessen neue Herausforderungen mit sich. Die Stadt verzeichnet einen Anstieg von Kriminalität, einer stärkeren Ghettobildung und zunehmend wurden Spuren des Zerfalls der öffentlichen, und sozialen

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Ordnung sichtbar. Soziologen erklärten sich diesen Umschwung damit, dass der rasante Wandel der Alltagsgestaltung mit einem Herauslösen aus traditionellen Routinen mit einem Bedeutungsverlust von Moral, Normen und Werten einhergegangen sei. Sie begünstigte in dem speziellen Kontext der Stadt besonders deutliche Formen von ›Unsittlichkeit‹ (vgl. Dimitridas 2006: 338f). Zusammengefasst wurden jene Entwicklungen unter dem Begriff der sozialen Desorganisation. In Chicago waren diese Entwicklungen besonders deutlich und auf engem Raum konzentriert zu beobachten. Dieser Umstand machte die Stadt für die Chicago School of Sociology besonders interessant. Zu den prominentesten Studien dieser Zeit gehören Louis Wirths The Gheotto (1977) und Clifford Shaws Deliquency Areas (1929). Auch William Thomas und Florian Znanieckis The Polish Peasant in Europe und America (1918) wird der frühen Chicagoer Schule zugerechnet. Schwerpunkte innerhalb der Studien waren unter anderem Themen wie soziale Ungleichheit, abweichendes Verhalten, soziale Desorganisation und soziale Desintegration, Immigration und das Städteleben (vgl. Lutters/Ackerman 1996: 2). Im Umfeld der Chicago School wurde in ihren Anfängen ein besonderer Forschungsansatz entwickelt: die Sozialökologie, die ethnografische Elemente in ihre Forschungsprogramme integrierte. Der Ansatz basiert auf der Annahme, dass menschliches Verhalten in unmittelbarem Zusammenhang mit der nichtmenschlichen Umwelt steht. Verhalten sei also immer auch durch die räumliche Umwelt beeinflusst, teilweise bedingt oder zumindest vorstrukturiert. Menschliches Handeln findet also nicht gänzlich losgelöst von den physischen Gegebenheiten rund herum statt. Die Chicago School bezog in diesen Ansätzen auch Simmels Arbeiten zur Raumsoziologie mit ein. Diese angenommene Verzahnung zwischen Gesellschaft/Kultur und Umwelt/Natur findet im sozialökologischen Forschungsprogramm der früheren Studien der Chicago School besondere Berücksichtigung. Zwar überwindet die frühe Chicago School den Dualismus von Kultur/Natur und Gesellschaft/Umwelt nicht, betont aber stärker die Situativität kultureller und gesellschaftlicher Phänomene und betrachtet diese nicht losgelöst von der (natürliche) nichtsozialen Umwelt. In den Studien der frühen Chicago School wurde nicht versucht eine direkte Kausalität zwischen Natur und Kultur oder Gesellschaft und Umwelt zu beweisen. In den Studien wurden insbesondere die Wechselwirkungen in den Blick genommen und untersucht, dass bestimmte äußerliche, nicht-soziale Begebenheiten bestimmtes Verhalten ›eher‹ begünstigen. Shaw betont explizit in seinen Arbeiten zu Delinquent Areas, dass die Art und Weise wie Orte und Umgebung gestaltet wird zwar abweichendes Verhalten begünstigen kann, dieses aber nicht ursächlich hervorbringt. Vom Wohnort einer Person können also nicht automatisch darauf geschlossen werden, dass die Person zu abweichendem Verhalten neige (vgl. Shaw 1929). Shaw verwies besonders, dass besondere Eigenschaften im Raum und Qualitäten des Ortes durchaus in Wechselbeziehung zu dort öfter beobachtetem Verhalten liegen. Raum und Ort kann also nicht komplett isoliert von sozialen Phänomenen betrachtet werden oder auch: wer soziale Phänomene untersucht, muss auch örtliche und räumliche Begebenheiten mit betrachten. Die Figur des Fremden und der Migrant als eine seiner real-empirischen Manifestationen, taucht in den Arbeiten der Chicago School wiederholt auf. Besonders hervortritt dabei der Marginal Man, den Robert E. Park in seinen Arbeiten zu The City (Park/Burgess 1925) herausarbeitet und der später von Parks Schüler Everett Stonequist weiter ausgearbeitet wird.

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Die Figur des Marginal Man wird von Park und Stonequist als besonderer Persönlichkeitstyp konzipiert, der sich durch eine Reihe besonderer Merkmale auszeichnet. Zunächst betrachtet Park den Marginal Man als das Ergebnis verschiedener Prozesse. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Marginal Man nicht als situative oder spontane Erscheinung begreifen. Er muss immer im Kontext seiner Entstehung betrachtet werden. Der Marginal Man findet seine direkte real-empirische Entsprechung nicht in der Figur des Migranten. Dennoch ist Migration ein Element, das eng mit dem Marginal Man verbunden ist. Er selbst ist nicht der Migrierende, er ist der Nachkomme von Menschen, in deren Biografien Migration einst eine Rolle spiele (vgl. Stonequist 1935: 7). Der Marginal Man ist ein »Produkt menschlicher Migration und Akkulturation« (Reuter 2002: 95). Der Persönlichkeitstyp des Marginal Man erscheint als eine Art Hybrid: er ist das Kind zweiter Welten und lässt sich sozialdemografisch an einem Schnittpunkt zwischen zwei Gruppen, die zunächst als getrennt betrachtet werden. Die Figur kommt also mit einer »biographischen ›Zweigleisigkeit‹ einher« (ebd.: 97). Der Marginal Man erscheint dort, wo unterschiedliche Gruppen, die sich durch starke (kulturelle) Unterschiede zwischeneinander auszeichnen, auf engem Raum, also in unmittelbarer nachbarschaftlicher Nähe, zueinander leben. An dieser Stelle zeigt sich Simmels Einfluss auf die Arbeiten von Park und Stonequist, denn auch Simmels Fremder zeichnet sich durch dieses Spannungsverhältnis von (kultureller und sozialer) Ferne und (räumlicher) Nähe aus. Während für Simmel die räumlich-soziale Ambivalenz des Fremden im Fokus steht, besprechen Park und Stonequist besonders die kulturelle Ambivalenz (vgl. ebd.).9 Für Park ist der Marginal Man das Produkt eines längeren Prozesses: »In the long run, however, peoples and races who live together, sharing in the same economy, inevitably interbreed, and in this way if no other, the relations which were merely co-operative and economic become social and cultural. [Amidst this,] there appeared a new type of personality, namely, a cultural hybrid, a man living and sharing intimately in the cultural life and traditions of two distinct peoples; never quite willing to break, even if he were permitted to do so, with his past and his traditions, and not quite accepted, because of racial prejudice, in the new society in which he now sought to find a place. He was a man on the margin of two cultures and two societies, which never completely interpenetrated and fused.« (Park 1928: 892) Eine direkte räumliche Nähe muss zwar nicht zwingendermaßen zur Entstehung der Marginal Man Persönlichkeitstypen führen, doch verweist Park auf die Ethnologin Griffith Taylor, die davon ausgeht, dass »people of mixed raced are the rule and not the exception« (Park 1928: 883, nach Taylor 1928: 336).10

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Der Kulturbegriff den Park und Stonequist in ihren Arbeiten zum Marginal Man verwendeten, gilt heute als überholt. Der Kulturbegriff, der von Park und Stonequist genutzt wird, geht von einer weitgehend in sich geschlossenen Homogenität von Gruppen aus. s Park ergänzt an der Stelle, dass besondere sozialstrukturelle Bedingungen diese Vermischung der Gruppen behindern können. Er verweist beispielsweise auf Gesellschaften, in denen Gruppen als getrennt voneinander erachtet werden und diese Trennung als strikte Separation über Generationen hinweg gesellschaftlich fixiert und stabilisiert wurde. Ein Beispiel dafür sei, so Park, die indische Kastengesellschaft. Derartige gesellschaftsstrukturelle Besonderheiten könnten die Ent-

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Ein feststellbarer Statusunterschied zwischen den Ursprungsgruppen ist zudem ein wichtiger Faktor für die Entstehung des Persönlichkeitstypus. Die ursprünglich migrierende Gruppe muss in dem Fall allerdings nicht zwingendermaßen die Gruppe darstellen, der der niedrigere gesellschaftliche Status zugeschrieben wird. Im Falle einer Eroberung, in deren Folge die ursprünglich ansässige Bevölkerung durch die Eroberer unterdrückt und unterworfen wird, erhielte die Gruppe der Migrierenden die überlegene soziale Machtposition in Bezug zur ursprünglich ansässigen Bevölkerung (vgl. u.a. Petersen 1958: 257). Als weitere Beispiele für unterschiedliche Machtbeziehungen zwischen Migrierender Gruppe und der Gruppe der Ansässigen, verweist Park auf verschiedene Formen erzwungener Migration, wie beispielsweise Vertreibung, Verschleppung und im nordamerikanischen Kontext besonders relevant auch Migrationsbewegungen, die durch Sklavenhandel geprägt waren (vgl. Park 1928: 891).11 Der Marginal Man bildet dann den personifizierten Berührungspunkt zwischen den betrachteten Gruppen. Es handelt sich dabei um einen besonderen Persönlichkeitstyp, der durch diesen spezifischen Kontext, in dem er entsteht, in besonderer Weise geprägt ist. Park bezeichnet den Marginal Man auch als racial oder cultural hybrid (vgl. ebd.: 883 und Reuter 2010: 97). Auch wenn die (kulturelle) Herkunft des Marginal Man eine Rolle spielt, lenkt Park in der Genese des Persönlichkeitstyps den Fokus besonders auf die Differenz beider Herkunftskontexte. Diese Differenz ist es, die eine besondere Stärke mit sich bringen muss, die den Persönlichkeitstyp hervorbringt. Nicht jedes ›Kind zweiter Welten‹ kann automatisch dem Persönlichkeitstyp zugeordnet werden oder zeichnet sich durch die besonderen Merkmale aus. Der Unterscheid zwischen den Herkunftskontexten muss besonders deutlich und stark genug sein, um diesen Persönlichkeitstyp hervorzubringen. Und ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den Herkunftsgruppen ist der (extreme) Statusunterschied und das Machtgefälle, dass beide Gruppen trennen muss. Der Persönlichkeitstyp des Marginal Man entsteht an dem Schnitt- bzw. Berührungspunkt beider Gruppenkontexte und ist den Spannungen, die sich durch die Unterschiede ergeben, besonders ausgesetzt. Eben dies führt zu einer persönlichen Krise: »The individual who grows up in such a situation is likely to find himself faced, perhaps unexpectedly, with problems, conflicts, and decisions peculiar to the melting-pot. This is true particularly of those who are expected to do most of the melting, that is, those who belong to a minority group, or to a group which has an inferior status in the land. The more powerful or dominant group does not expect to adjust itself to the other; it is the subordinate group which is expected to do the adjusting, conforming, and assimilating – or remain apart.« (Stonequist 1935: 2)

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stehung des Marginal Man zwar behindern und hemmen, aber nicht vollständig verhindern (vgl. Park 1928: 891). Parks empirisches Beispiel für seine Genese des Marginal Man war die Realfigur des Mulatto in den USA: »Ordinarily the marginal man is a mixed blood, like the Mulatto in the United States or the Eurasian in Asia, but that is apparently because the man of mixed blood is one who lives in two worlds, in both of which he is more or less of a stranger.« (Park 1928: 893)

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Der Marginal Man entsteht an der Grenze zwischen den beiden Gruppen. Er gehört gleichzeitig zu beiden Gruppen, erfährt aber in keiner der Gruppen eine vollständige Zugehörigkeit. In unterschiedlicher Stärke erfährt der Marginal Man Ausgrenzung und Stigmatisierung von beiden Gruppen. Diese Ausgrenzung unterscheidet sich entlang des Machtgefälles zwischen den beiden Herkunftsgruppen, d.h. aus Richtung der überlegenen oder größeren Gruppe werden die Ausgrenzungsprozesse stärker erfahren als aus Richtung der anderen Herkunftsgruppe. Auf der einen Seite erfährt der Marginal Man einen inneren Identitätskonflikt – er kann sich nicht vollständig selbst verorten – und gleichzeitig erfährt er Ausgrenzung und Stigmatisierung von außen. Er erlebt also eine doppelte Krise: eine persönliche und eine soziale. Stonequist geht davon aus, dass der Marginal Man in erster Linie Anerkennung und Aufnahme durch die höher gestellte Gruppe anstrebt: er der besser gestellten, privilegierteren Mehrheit angehören möchte und von ihr anerkannt und aufgenommen werden möchte. Von eben jener überlegenen Mehrheit erfährt der Marginal Man aber im stärkeren Maße Aus- und Abgrenzung (vgl. ebd.: 3). Stonequist arbeitet die Entstehung und Entwicklung des Marginal Man als Persönlichkeitstyp im Anschluss an Park detaillierter aus und untergliedert den Werdegang des Persönlichkeitstyps in vier Phasen, die durchlebt werden. Die erste Phase beginnt mit der Geburt: Der Marginal Man wird in einem der der beiden Kulturen geboren, aus denen die Eltern stammen. In der ersten Phase seines Lebens (des life cycles, den Stonequist beschreit) wächst der Persönlichkeitstyp hauptsächlich im Umfeld der Gruppe auf, in die er hineingeboren wurde. Dies führt zu einem höheren Grad von Assimilation innerhalb dieser Gruppe. Diese stärkere Assimilation innerhalb der ersten Gruppe, die den Marginal Man stärker prägte, ist eine Bedingung für künftige Krisenmomente, darunter besonders Loyalitätskrisen, die der Persönlichkeitstypus während der Lebenszyklen erfahren wird (vgl. ebd.: 10). Die zweite Phase beginnt mit einer Häufung konflikthafter Erfahrungen, die der Marginal Man auf Grund seiner spezifischen Herkunft erfährt: »[The] individual, through one or more defining experiences, becomes aware of the cultural conflict which involves his own career. […] The typical traits of the marginal man arise out of the crisis experience and in response to the situation. The individual’s life-organization is seriously disturbed. Confusion, even shock, restlessness, disillusionment, and estrangement may result; a new self-consciousness develops to mirror the newly realized situation.« (Ebd.: 10f) Stonequist zeigt nun die unterschiedlichen Möglichkeiten auf, wie der Persönlichkeitstyp mit diesen Krisen umgehen kann. Es folgen Phasen der Orientierung und in deren Folge schließlich eine Positionierung. Eine Variante ist, dass der Marginal Man versucht durch die höhergestellte, privilegierte Gruppe akzeptiert und in ihr aufgenommen zu werden. Er orientiert sich zunehmend an den Wertevorstellungen, Orientierungsmustern und Gepflogenheiten der privilegierten Gruppe. Gelingt diese Strategie, spricht Stonequist von passing (vgl. ebd.: 11). In einer zweiten Variante, die im Kontrast zur ersten steht, solidarisiert sich der Marginal Man mit der unterlegenen Gruppe und sucht hier Aufnahme und Integration. In diesem Szenario ergeben sich für den Marginal Man verschiedene Möglichkeiten, die

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über reines passing hinausgehen und der Marginal Man kann bestimmte Rollen innerhalb der unterlegenen Gruppe einnehmen (vgl. ebd.): Er kann ein »›revolutionary‹, or agressive nationalist« (ebd.) werden. Er kann die Rolle eines Lehrers oder Anführers einnehmen, er kann als Brückenbauer zwischen den Gruppen dienen oder ein Revolutionär werden, der das Ziel verfolgt den Status der unterlegenen Gruppe anzuheben. Die dritte Variante beschreibt eine Abwendung. Der Marginal Man wendet sich keiner der beiden Gruppen zu. Er wendet sich von seinen Herkunftskontexten ab und wird selbst, wie seine Vorfahren, zum Migranten (vgl. ebd.). Eine vierte Möglichkeit ist, dass die Gruppe der Marginal Man bis zu dem Grad quantitativ anwächst, dass sie selbst eine eigene, neue Gruppe beginnen zu bilden. Diese kann dann beispielsweise als ›Puffer‹ zwischen den Ursprungsgruppen fungieren und besonders wenn diese einander konflikthaft gegenüberstehen, kann die Entstehung einer weiteren, dritten Gruppe der Marginal Men eine deeskalierende Wirkung entfalten. Stonequist verweist außerdem auf die Möglichkeit, dass die Gruppe der Marginal Men so stark anwächst, dass sie selbst zur Mehrheit innerhalb der Gesellschaft werden (vgl. ebd.: 11f). Für Stonequist beschreibt der Life Cycle des Marginal Man nicht nur die soziale Biografie von einzelnen Individuen. Es soll sich um einen idealtypischen Verlauf handeln, den ›Kinder zweier Welten‹ in unterschiedlicher Weise erleben. Stonequist beschreibt nicht (nur) eine Momentaufnahme individueller Schicksale. Er blickt aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive mit dieser besonderen Sozialfigur auf fortlaufende Prozesse innerhalb größerer Gesellschaften. Die Krisen, die die Figur des Marginal Man erfährt, markieren gleichzeitig auch Momente gesellschaftlichen und sozialen Wandels: »In any case, the marginal man is likely to have an important part. He is the key-personality in this type of cultural change. From the practical viewpoint, then, the study of the marginal man is obviously significant. From the standpoint of theoretical science, his life history offers a method for studying the cultural process from the mental, as well as objective, side.« (Ebd.: 12) Das Aufkommen von Marginal Men kann als Hinweis für sozialen Wandel interpretiert werden. Die besondere Mentalität, die den Marginal Man charakterisiert, wird als »Katalysator zur intellektuellen und moralischen Weiterentwicklung« (Reuter 2002: 98) betrachtet: er wird zum Motor für gesellschaftlichen Wandel (vgl. ebd.: 99). Der Marginal Man kündigt »die Ankunft einer neuen Form von Gesellschaft an, einer Gesellschaft, deren Mitglieder unterschiedlichen kulturellen Bedeutungssystemen angehörigen und nicht unter der ›kulturellen Glocke geselliger Eintracht‹ stehen« (ebd.: 100). Ähnlich wie Simmel betont Park auch die Prozesshaftigkeit von Sozialität, untersucht Phänomene der Bewegung, des Übergangs und des Wechsels, wobei er den Marginal Man vorranging als Zwischenglied, Grenzgänger, an der Schnittstelle kulturell gefasster Ordnungen sieht, weniger auf die räumlichen, physisch-geographischen Ordnungen verweise – im Gegensatz zu Simmel (vgl. ebd.: 103). In zeitgenössischen Rezeptionen der Figur des Marginal Man konzentrieren sich Soziolog:innen verstärkt auf die besondere Mentalität dieser Figur, die als »psychologische Konsequenz der ›marginal man‹-Position für den Betroffenen, die sich aus dem Assimilationsdruck der Gruppe einerseits und der fehlenden Eindeutigkeit der eigenen Kultur

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erwachsen« (ebd.: 98). Parks Verständnis von Race und der Annahme von homogen geschlossenen Kulturkreisen findet dagegen weniger Beachtung. Stärker sichtbar wird diese Reduktion auf die persönliche Krise des Marginal Man bei Rainer Winters und Anja Stabers Beitrag zu den Schlüsselwerken der Migrationsforschung von 2015. Für Winter und Staber fallen unter die erlebten Krisen beispielweise Momente der Desillusionierung und innerlicher Kulturkonflikte, die ein »geteiltes Selbst zur Folge« (Winter/Staber 2015: 53) hätten. Alte Gewohnheiten seien vom Migranten noch nicht abgelegt worden und neue noch nicht erlernt, die alten also mit neuen noch nicht ersetzt worden. Diese »Phasen innerlichen Aufruhrs und von Instabilität, die das Individuum stark verunsichern« (ebd.: 53) würden dazu führen, dass das Individuum in keiner der beiden Kulturen so richtig ankommen könne. Begegnet werden können dieser Krise lediglich mit zumindest vorübergehender Assimilation. »Bedingt durch seine kulturelle Zwischenposition, kann der »marginal man« aber immer wieder in Krisen geraten« (ebd.: 53). Etwas, das wiederum vom Marginal Man selbst gelöst werden kann, denn »der ›marginal man‹ ist einerseits ein Eingeweihter in zwei Kulturen, zum anderen kann er sich kritisch von jeder dieser Kulturen distanzieren. Zwangsläufig bildet er durch seine Randständigkeit multiple Perspektiven aus, reflektiert diese und lernt kreativ, mit Differenzen zu leben.« (ebd.: 54) In ihrem kritischen Ausblick verweisen Winter und Staber auf die Aktualität von Parks und Stonequists Arbeiten. Denn »der ›marginal man‹ wird in ihrer Lesart zum Idealtyp des Migranten. Er wird nie vollständig in der neuen Kultur ankommen, seine Position der Distanz zu seiner Herkunftskultur, aber auch zu seiner neuen Kultur macht ihm die Kontingenz beider Perspektiven bewusst und lässt ihn neue Wege beschreiten. So können krisenhafte Erfahrungen der Ausgangspunkt für kreative Lösungen und neue Formen der Vergesellschaftung sein.« (Ebd.: 56) Wohingegen sich die Ausführungen Yasar Aydins vornehmlich auf die Funktion des Marginal Man als einer Art gesellschaftlichen »Seismograph des sozialen Wandels« (Aydin 2009: 99) beziehen. Aydin verdeutlicht, dass obgleich die deutsche Übersetzung diese Assoziation nahelegte, der Marginal Man als kultureller Hybrid nicht als Außenseiter zu betrachten sei, der an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gedrängt, aus sozialen Systemen ausgeschlossen wurde, sondern als zentrale Figur Modernisierungsprozesse gar anführte (vgl. ebd.: 97). Der Marginal Man als Hybrid wird bei Aydin vorrangig positiv interpretiert. Nicht als Außenseiter, sondern kulturelle Innovation (vgl. ebd.: 99). Auch wenn Aydin nicht außer Acht lässt, dass der Fremde zwar einerseits ein produktives Element gesellschaftlichen Wandels ist, gleichzeitig, aber auch beständig mit kulturellen Konflikten behaftet bleibt (vgl. ebd.: 99). Kritik übt Aydin bei Park, dem er einen »theoretische Überwältigung« (ebd.: 100) vorwirft. Einerseits werde dem Spannungsverhältnis, das zwischen dem Eigenen und Fremden aufgebaut wird und welches der Motor für Modernisierung sei überbetont. Gleichzeitig wird die Vereinbarung vom Eigenen und Fremden zu einer Norm stilisiert: worin sich vorranging ein integrationistischer und assimilatorischer Ansatz widerspiegelte (vgl. ebd.: 100). Schon in seiner Bearbeitung von Simmels Fremden betont Aydin, dass der Fremde, obgleich oft so erfasst, eben nicht als

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Gegenpol zum Selbst begriffen werden sollte, sondern ein »zentrales Moment der Konstitution des Selbst« (ebd.: 94) darstelle.

3.2.3 Alfred Schütz’ sozialpsychologischer Versuch Neben Simmels Exkurs über den Fremden (1908) und Parks Marginal Man, gehört Schütz’ sozialpsychologischer Versuch zum Fremden zu den drei Schlüsseltexten über den Fremden in der Soziologie. Schütz gilt als Begründer der phänomenologischen Soziologie und seine Denkweise steht in der Tradition von Max Webers soziologischen Arbeiten. Webers Verständnis von Soziologie konzentriert sich auf das Soziale Handeln, das im Kern Gegenstand soziologischer Untersuchungen sein sollte (siehe Kapitel 1.2.2). Als soziales Handeln bezeichnet Weber jede Art des Handelns, das in seinem subjektiv gemeinten Sinn am Handeln anderer (Menschen) orientiert ist (vgl. Weber 1922). Aus diesem ›subjektiv gemeinten Sinn‹ ergibt sich für Weber die Motivation zum Handeln. Dieser ›Sinn‹ wird zur Bedingung Sozialer Handlung bei Weber. Während bei Webers Soziologie dieser ›Sinn‹ als weitgehend gegeben angenommen wird, setzt Schütz’ an dieser Stelle an: Schütz’ untersucht, wie Einzelne diesen ›Sinn‹ erzeugen und wie dieser intersubjektiv gestaltet und verstanden wird. In seinem Versuch das Element des ›Sinns‹ theoretisch zu verankern, bezieht sich Schütz auf die phänomenologischen Arbeiten von Edmund Husserl zurück. Ausgehend von seinen Auseinandersetzungen und Verbindungen zwischen der Soziologie von Max Weber und Edmund Husserls Phänomenologie entwickelt Schütz das Konzept der Lebenswelten, die er als intersubjektiv sinnvolle Welt, die es soziologisch zu erforschen gelte, begriff. Mit Lebenswelt meint Schütz eine intersubjektiv geteilte (Um-)Welt, die sich darüber auszeichnet, dass sie bereits existierte, noch ehe der Einzelne in sie hinein geboren wurde oder sie – z.B. durch Migration – betrat. Die Lebenswelt einer einzelnen Person besteht aus individuellen Erfahrungen und erlangten und überlieferten Wissensbeständen, die uns auch durch unsere Vorfahren vermittelt werden. Obgleich die Lebenswelten subjektive Bestanteile enthalten, gibt es quasi objektiv geteilte Elemente, die intersubjektiv gestaltet werden, d.h. Elemente, von denen wir ausgehen, dass so wie wir sie in unserer Lebenswelt erfahren, sie auch durch unsere Mitmenschen erfahren werden. Die Art und Weise wie diese Lebenswelten, in die wir hineingeboren werden, gestaltet und geordnet erden, erscheint uns als natürlich gegeben und ›richtig‹. Wissensbestände, die innerhalb dieser Lebenswelten verankert sind und reproduziert werden, werden bis zu einem gewissen Grad als selbstverständlich angenommen und unhinterfragt akzeptiert. Sofern sich keine massiven Widersprüche auftun, wird das vermittelte Wissen als wahr angenommen. Dieses Alltagwissen wird ständig in tagtäglichen Interkationen miteinander intersubjektiv reproduziert, stabilisiert, gestaltet und vereinbart. Schütz geht also davon aus, dass es grundlegende Zivilisationsmuster des Gruppenerlebens gibt: diese nennt er Common Sense. Zu diesen Zivilisationsmustern gehören bestimmte Wertungen, Institutionen, Orientierungs- und Führungssysteme, Volksweisheiten, Sitten, Gesetze, Gewohnheiten, Bräuche und Vorgaben über das gesellschaftliche und gute Benehmen.

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Handelnde Akteure orientieren sich in ihren Handlungen an diesem Common Sense und gehen gleichzeitig davon aus, dass auch ihre Interaktionspartner sich auf diesen beziehen, sodass Interkationen miteinander in Bezug zum Common Sense intersubjektiv verstanden werden können. Diese als selbstverständlich angenommenen Zivilisationsmuster, die sich uns, als ob natürlich präsentieren dienen dazu die soziale Welt zu navigieren. Sie bilden also Rezepte und Anleitungen, die den Teilnehmern einer Gesellschaft Wege zur Problemlösung oder zur Zielerreichung aufzeigen. Sie helfen uns verschiedene Dinge ›richtig‹ einzuordnen, sie zu beurteilen, Wertungen vorzunehmen, Folgen abzuschätzen und Chancen abzuwägen. Sie helfen uns außerdem auch die Motivationen anderer zu verstehen (vgl. Schütz 2002 [1944]: 74f). Der Handelnde erhält Anleitungen und Orientierungssysteme zur Interpretation und darüber hinaus Reflektion über das Handeln anderer, sowie über das eigene: »Der Handelnde in der sozialen Welt erlebt sie jedoch primär als ein Feld seiner aktuellen und potenziellen Handlungen und nur sekundär als Objekt seines Denkens« (ebd.: 75). Für Schütz ist klar, dass der einzelne Handelnde sich selbst immer im Zentrum der eigenen Lebenswelt sieht. Wir sortieren und ordnen unsere Umwelt und damit auch unsere Lebenswelt immer aus unserer Perspektive heraus. Schütz nutzt hierfür die Metapher eines Stadtplans, auf dem wir uns orientieren möchten: wir gehen immer von unserer aktuellen Situation auf dem Plan aus und erschließen uns von dieser aus, den Weg zu unserem Ziel (vgl. ebd.: 83). Dabei wird die Um- und Lebenswelt gemäß unserer eigenen Interessen und Ziele selektiv gefiltert: Dinge, die uns aktuell relevanter erscheinen, werden anders eingeordnet, als Dinge, wir für unser aktuelles Tun als vernachlässigbar einordnen (vgl. ebd.: 75). Daraus folgt bei Schütz, »dass das Wissen des Menschen, der in der Welt seines täglichen Lebens handelt, nicht homogen ist; es ist erstens inkohärent, zweitens nur teilweise klar und drittens nicht frei von Widersprüchen« (ebd.: 76). Inkohärent ist dieses Wissen, da die Interessen der einzelnen Individuen nicht kohärent sind. Wir können also nicht davon ausgehen, dass alle Individuen über vergleichbare Wissensbestände verfügen: »[…] die Interessen schwanken dauernd und verursachen dadurch eine ununterbrochene Umformung der Gestalt und der Dichte der Relevanzlinien. Es ändern sich nicht nur die Gegenstände der Neugierde, sondern auch der Grad des bezweckten Wissens« (ebd.: 77). Zudem ist der Mensch, so Schütz, in seinem alltäglichen Leben nur teilweise, wenn überhaupt, an der Klarheit seines Wissens interessiert. So verfügen nicht alle Menschen über das gleiche Maß an Einsicht und Verständnis darüber, in welchen Zusammenhängen bestimmte Dinge unseres Alltags zueinanderstehen. Abhängigkeiten und Kausalzusammenhänge zwischen Entwicklungen und beispielsweise die Zusammenhänge von Aktion und Reaktion sind nicht im gleichen Maße einer jeden Person im vollen – oder ähnlichen – Umfang bewusst. Frage nach dem Warum, Woher oder Wie werden teilweise (großzügig) ausgeblendet. Um etwas zu kaufen und zu nutzen, muss man nicht wissen, wie es hergestellt wurde (vgl. ebd.). Außerdem ist dieses Wissen nicht unbedingt konsistent, denn »zur selben Zeit kann der Mensch Aussagen als in gleicher Weise gültig betrachten, die in der Tat völlig unvereinbar sind« (ebd.). Diese Inkonsistenzen, Inkohärenzen und die Widersprüchlichkeiten in unseren alltäglichen Wissensbeständen, könnte potenziell zu Unsicherheiten in Bezug zum gültig

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angenommen Common Sense führen. Schütz beobachtete aber, dass dies innerhalb der in-groups nicht passierte: Das Wissen, das oftmals inkohärent, inkonsistent und nur teilweise klar ist, »hat für die Mitglieder der in-group den Schein genügender Kohärenz, Klarheit und Konsistenz« (ebd.: 78). Es kommt also nicht zur Verunsicherung oder gar Krise. Das geteilte Wissen wird als unbestreitbare Tatsache akzeptiert und nicht in Frage gestellt. Einzelne Unstimmigkeiten, Brüche oder Widersprüche werden scheinbar ausgeblendet und ignoriert. Diese etablierten Wissensbestände bleiben trotz aller Inkonsistenzen, Inkohärenzen, Unklarheiten und Widersprüche bestehen, solange, so Schütz, vier Grundannahmen erfüllt werden: (1) Es wird davon ausgegangen, dass das soziale Leben immer so sein wird, wie es gerade ist und sich nicht nennenswert ändern wird. Probleme, die wir aktuell erfahren, werden zwar wiederkehren, doch für sie werden die gleichen Lösungen, die wir bereits erfolgreich getestet haben, wieder funktionieren. (2) Es gilt die Übereinkunft darüber, dass das Wissen, das durch Lehrende, Regierungen, Eltern und Institutionen gelehrt wird, als wahr angenommen, akzeptiert und übernommen wird, auch wenn der Ursprung dieses Wissens den Einzelnen gar nicht (mehr) bekannt ist. (3) Die etablierten Wissensbestände müssen eine gewisse Allgemeingültigkeit besitzen. D.h. sie sind allgemein genug, dass sie sich in einer Vielzahl verschiedener Situationen gleichermaßen ›gut‹ anwenden lassen. Es handelt sich also nicht um Informationen und Wissensbestände zu einem sehr spezifischen Fall, sondern um Aussagen und Kenntnisse zu einem allgemeineren Typus von Situationen und Ereignissen: »Im normalen Ablauf der Dinge […] genügt [es], etwas über den allgemeinen Typus oder Stil der Ereignisse zu wissen, die uns in unserer Lebenswelt begegnen, um sie zu handhaben und zu kontrollieren;« (ebd.: 79, Herv. dort). Und (4) nehmen wir an, dass diese Rezepte und Orientierungsmodelle, sowie die Annahmen, die ihnen zugrunde liegen, nicht unsere eigenen privaten sind, sondern von jedem anderen Mitmenschen in gleicher oder ähnlicher Weise geteilt und angewendet werden (ebd.). Diese Ausführungen zu Schütz’ Lebenswelt, seinem Verständnis von Zivilisationsmustern und der Bedeutung und Eigenschaft von geteilten Wissensbeständen bildet die Grundlage für Schütz’ Arbeit zur Figur des Fremden: In dem Moment, wenn Fremdheit erfahren wird, stellen wir nämlich fest, dass diese Grundlage unseres intersubjektiven Zusammenlebens doch nicht so natürlich gegeben und stabil unveränderlich ist, wie es den Anschein macht. Der Fremde, der mit anderen Wissensbeständen ausgestattet in die Fremde geht, erfährt in dem Moment eine Krise, wenn die bisher erfolgreich genutzten Rezepte und Strategien in der Fremde nicht mehr die gleichen Erfolge mit sich bringen. Unsere Wegweiser durch die soziale Welt funktionieren nun nicht mehr oder nicht mehr so, wie wir es erwartet hätten. Schütz betrachtet die Realfigur des Migranten als die Manifestation des Fremden. 1944 veröffentlicht er den Aufsatz Der Fremde, ein sozialpsychologischer Versuch und zwei Jahre später den Text über den Heimkehrer. Schütz’ Ausführungen über den Fremden beginnen mit dem Moment, wenn Migranten an einem neuen Ort ankommen. Es handelt sich um eine Situation, in der eine neue Person zu einer bereits bestehenden Gruppe hinzustößt. Ähnliche Situationen finden ständig im bekannten Alltag statt. Beispielsweise wenn Partner das erste Mal der Familie vorgestellt werden. Für Schütz ist beiden Situationen, auch wenn sich der Grad der

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Fremdheit unterscheidet, gemeinsam, dass jemand (Immigrant oder neuer Partner) zu einer bestehenden Gruppe hinzustößt und Teil von ihr werden möchte. Den Fremden begreift schütz als »einen Erwachsenen unserer Zeit und Zivilisation […], der von der Gruppe, welcher er sich nähert, dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte« (ebd.: 73). Der Fremde ist allerdings kein unbeschriebenes Blatt. Er war bereits Teil einer anderen Gruppe und hat bestimmte Umgangsformen, Denkweisen und Rezepte gelernt: es sind lediglich andere. Er hat also bereits einen (kulturellen) Hintergrund. Für Schütz ist zudem wichtig, dass der Fremde sich nicht nur im geophysischen Raum bewegt. Er wechselt auch die sozialen Kreise: er betritt ein neues (soziales) Umfeld, in dem die altbekannten Rezepte nicht mehr funktionieren und sein Denken-wie-üblich scheitert. Diese Erfahrung führ dann zu einer persönlichen Krise: »Für ihn [den Fremden] haben die Zivilisations- und Kulturmuster der Gruppe, welcher er sich annähert, nicht die Autorität eines erprobten Systems von Rezepten,« (ebd.: 80). Der Fremde ist der Mensch, »der fast alles, was den Mitgliedern der Gruppe, der er sich nähert, unfraglich erscheint, in Frage stellt« (ebd.). Er erlebt und erkennt, dass das, was er bislang unhinterfragt als gegeben und wahr angenommen hat, nicht universell und allgemein gültig sein kann. Die Umgangsformen der in-group sind dem Fremden allerdings auch nicht vollständig fremd. Er hat die Gruppe, der er sich annähert, bereits aus der Ferne studiert. Aus der räumlichen und kulturellen Distanz heraus, hat der Fremde Kenntnisse über die Gruppe erlangt. Doch nun, wenn er sich der Gruppe annähert und versucht ein Teil von ihr zu werden, stellen sich auch diese potenziell als verzerrt und unvollständig heraus. Das Bild, das der Fremde vor seiner Ankunft über die Gruppe erlangte, war geprägt durch die Perspektive seines eigenen Denken-wie-üblich: es war selektiv und gefiltert durch die eigene Beobachterperspektive auf Distanz. Er stellt also noch einmal fest, dass das Wissen, das er aus der Ferne erlangte, sich jetzt vor Ort nicht bewähren kann und nicht verlässlich ist: »Das Wissen, welches dieses Bild anbietet, dient nur als ein handliches Auslegungsschema und nicht als eine Anleitung zur Interaktion« (ebd.: 82). Es kommen Vorurteile und verzerrte Perspektiven, vorgefertigte Meinungen und Bilder zum Vorschein, Missverständnisse entstehen und dies wird nun auch von der in-group beklagt (vgl. ebd.: 83). Der Moment, wenn der Fremde erkennen muss, dass das Wissen, das er sich aus der Ferne über die Gruppe angeeignet hat, nicht ausreicht und verzerrt ist, markiert für Schütz die erste Erschütterung in das Vertrauen der Gültigkeit des habitualisierten Denken-wie-üblich (vgl. ebd.). Durch weitere Missverständnisse und wiederholte Erfahrungen, wie das eigene Denken-wie-üblich und die verinnerlichten Rezepte im neuen Alltag scheitern, erfährt der Fremde ständig weitere Krisen in Bezug zu jener angenommenen Allgemeingültigkeit und Universalität des eigenen Wissens und Denkens. Gleichzeitig erkennt der Fremde die Brüche und Diskrepanzen in dem Denken-wieüblich der in-group, die er nun aus der Nähe beobachten kann und deren Wissensbestände er versucht zu erlernen. Der Fremde sieht die Inkonsistenzen, die Inkohärenzen und Widersprüche und doch funktionieren die Rezepte und Strategien der in-group in ihrer Lebenswelt weitgehend (vgl. ebd.: 84). Da wir ständig davon ausgehen, dass alle nach den gleichen bekannten Zivilisationsmustern handeln, antizipieren wir die Handlungen anderer. Wir identifizieren typische Situationen und greifen auf das geteilte Wissen darüber zurück, welche Handlungsmög-

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lichkeiten in diesen oder ähnlichen Situationen zu erwarten sind und welche Reaktionen wiederum von uns erwartet werden. Wir gehen also davon aus, dass sich alle weitgehend an die gleichen Zivilisationsmuster halten (vgl. ebd.: 86f). Daraus ergibt sich eine augenscheinliche Objektivität dieser Regeln und des Denken-wie-üblich. Es handelt sich also um Selbstverständlichkeiten, die »sowohl Sicherheit wie auch Rückversicherung« (ebd.: 87) bieten. Aufgrund mangelnder Kenntnisse kann sich der Fremde aber nicht auf diese Gültigkeit verlassen. Für ihn werden die Handlungsschema subjektiv: er muss es ständig neu abwägen und prüfen (vgl. ebd.: 88). »Mit anderen Worten, die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, welcher sich der Fremde nähert, sind für ihn kein Schutz, sondern ein Feld des Abenteuers, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein fragwürdiges Untersuchungsthema, kein Mittel, um problematische Situationen zu analysieren, sondern eine problematische Situation selbst und eine, die hart zu meistern ist.« (Ebd.: 89) Daraus leitet Schütz – ähnlich wie Simmel – eine objektive Perspektive des Fremden ab – verweist aber gleichzeitig auf die zweifelhafte Loyalität des Fremden in Bezug zur in-group (vgl. ebd.). Das Denken-wie-üblich wird durch das Hinzukommen des Fremden in Frage gestellt. Der Fremde selbst erfährt eine Krise, weil sein habitualisiertes Denken-wie-üblich die selbstverständliche Sicherheit und Gewissheit verliert. Die in-group, die nun mit dem Fremden konfrontiert ist, erfährt aber auch eine Krise. Denn auch der in-group wird nun deutlich, dass das eigene Denken-wie-üblich nicht als uneingeschränkt universell und natürlich gegeben angenommen werden kann. Fragilität des Eigenen wird in der Konfrontation mit dem Fremden beidseitig erlebt und damit besonders deutlich. Während Simmel also vor allem räumliche Formationen betont und in der Rezeption von Parks Marginal Man dessen Race- und Kulturbegriff kritisch dekonstruiert wird und zeitgenössische Arbeiten zum Marginal Man insbesondere die psychologischen und sozialen Krisen dieser besonderen Figur beleuchten, geht es bei Schütz um das Spannungsverhältnis von Wissen und Nicht-Wissen. Simmel betrachtet die Beziehungspositionen innerhalb von Gruppen. Der Marginal Man ermöglicht es individuelle Krisenmomente und persönliche wie soziale Konflikte differenziert im Kontext von Migration, Akkulturation und Assimilation zu besprechen. Bei Schütz geht es hingegen um die Frage des intersubjektiven Verstehens: »Diese Ordnung der Welt anhand von Wissensstrukturen – bzw. Wissenstypen, in denen das Wissen immer auch zeitlich, räumlich, kulturell bzw. relevanzmäßig strukturiert ist, konstituiert das Eigene und das Fremde als inkommensurable ›Wissensinseln‹. Daher bezeichnet Schütz denjenigen, der ein bestimmtes Maß gemeinsam geteilten Wissens besitzt, als ›Mit-Mensch‹ während die Folge dieser Vertrautheit die Konstruktion des Fremden als Mensch einer anderen Wissensordnung ist.« (Reuter 2002: 113) Vor dem Hintergrund eben dieser »Ordnung der Welt anhand von Wissensstrukturen« (ebd.) wird die Begegnung mit dem Fremden – dem Anderen – zu einem Moment der Krise, den der Fremde bei Schütz ebenso wie die Gruppe, auf die er trifft, die mit ihm konfrontiert wird, erfährt.

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»Als Grundlage des sozialen Handeln eröffnet das Fremdverstehen die Kalkulierbarkeit und Antizipierbarkeit jenes Mit-Menschen, der einen ähnlichen Wissensvorrat besitzt. Personen gleicher Wissensordnungen benutzen dieselben Typisierungen zur Auslegung der Wirklichkeit, so dass man sich aufgrund der Selbstauslegung dem anderen verstehen näher kann.« (Ebd.: 112) Dabei geht es bei Schütz nicht um das Verstehen von »›objektiven‹ Ordnungen der Wirklichkeit« (ebd.: 104). Vielmehr nimmt Schütz an, »dass der Sinn der Außenwelt im eigenen Bewusstsein konstituiert wird und Verstehen somit [immer] subjektiv bleibt« (ebd.). Bei Schütz wird der Fremde vor allem als eine Kontrastfigur begriffen: »Fremd ist derjenige, der aus der Sicht eines bestimmten Kulturkreises nicht dazugehörig und damit nicht weiß, welche Bedeutung und Konsequenzen sein Handeln hat« (ebd.).

3.2.4 Am Fremden zeigt sich das Eigene II Der zweite Abschnitt des dritten Kapitels zeigt, dass obwohl die Arbeiten von Simmel, Park und Schütz oft als ›Klassiker‹ der soziologischen Texte zum Fremden und Fremdheit rezipiert werden, sich wesentliche Unterschiede in ihren spezifischen Zugängen zum Phänomen zeigen und sogar gesagt werden kann, dass es den Autoren, obgleich sie den gleichen Begriff – den Fremden – benutzten, im Kern um höchst unterschiedliche soziologische Sachverhalte ging. Die Perspektiven der drei Autoren sind bereits sehr unterschiedlich. Simmels Soziologie zeichnete sich durch eine besondere Betonung von dem, was zwischen einzelnen Bestandteilen von Gesellschaften passierte. Hierfür nutzte er sein Konzept der Wechselwirkungen. Seine Soziologie wird auch als relationale Soziologie bezeichnet. Der Exkurs über den Fremden ist Teil von Simmels Raumsoziologie, die wiederum von der Chicago School, zu deren Vertretern Robert E. Park und Everett Stonequist gehörten, aufgegriffen und in dem besonderen Zugang der Sozialökologie weiterentwickelt wurde. Obgleich dieser Verbindungslinien und Einflussnahme von Simmels Werk auf die frühe Schaffenszeit der Chicago School, unterscheiden sich Parks und Simmels Perspektiven in anderen Dingen sehr stark. Parks Marginal Man funktioniert nur in Bezug zu einer Reihe von Vorannahmen, die als Bedingungen für die Entstehung des Persönlichkeitstypus akzeptiert werden müssen. Auch wenn Simmel ebenso wie Park und die Chicago School die besonderen Gegebenheiten im geophysischen Raum mit in soziologische Untersuchungen einbezogen, d.h. die Stofflichkeit ebenso wie historische Materialität in soziologischen Analysen nicht ausblendeten, lassen sich Simmels Fremder und Parks Marginal Man nur in dem Punkt vergleichen, dass beide ein Moment maximaler Spannung beinhalten: wenn (räumliche) Nähe und (soziale und kulturelle) Ferne in höchster Konzentration in einer Position bzw. einem Persönlichkeitstypus zusammen kommen. Simmel umschreibt mit dem Fremden eine besondere Position in Bezug zur Gruppe, die einen geophysischen Raum einnimmt, für sich beansprucht und mitgestaltet. Er differenziert zwei Modi von menschlicher Bewegung in diesem Raum: die Fixiertheit im Raum auf der einen Seite als eine extreme Ausprägung und die völlige Gelöstheit im Raum als die gegenteilige extreme Ausprägung. Diese Mobilität im geophysischen Raum wird bei Simmel als ein Spektrum betrachtet. Simmels Fremder verbindet diese räumli-

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che Dimension mit Zeitlichkeit und Potenzialität: Der Fremde ist der, »der heute kommt und morgen bleibt« (Simmel 1992 [1908]: 764). Er hat die Gelöstheit im Raum noch nicht ganz verloren, er ist zwar im Moment ›da‹ aber könnte jederzeit wieder gehen. Der Fremde bei Simmel beschreibt zudem eine besondere Beziehung innerhalb der Gruppe: Simmels Fremder ist immer Teil der Gruppe. Die Position des Fremden ist nur in Bezug zur Gruppe denkbar. Der Fremde zeichnet sich darüber aus, dass er im Vergleich zu allen anderen Mitgliedern der Gruppe weniger im sozialen Geflecht der Gruppe eingebunden ist. Die Fremdheit des Fremden ist keine Eigenschaft, die der Person inne läge, die als Fremde in Bezug zur Gruppe identifizierbar wäre: die besondere Beziehung zur Gruppe und ihren Mitgliedern ist das, was den Fremden zum Fremden macht. Sobald die konkrete Person die Gruppe verlässt, verliert sie auch ihre Fremdheit in Bezug zur Gruppe. Der Fremde kann also nicht ohne den Bezug zur Gruppe gedacht werden und Fremdheit markiert damit eine besondere Beziehung und Position (innerhalb) der Gruppe: der Fremde steht nicht außerhalb. Und gerade keine negative Beziehung in Form einer Nicht-Beziehung-Beziehung. Womit an der Stelle womöglich weniger von dem Fremden gesprochen werden müsste, sondern vielmehr in Form eines Adjektivs vom fremden. Und obgleich Park und Stonequist räumliche Gegebenheiten im Sinne der Tradition der Chicago School in ihren Studien mit einbeziehen, markiert ihr Marginal Man eine ganz andere Fremdheit als die, die wir bei Simmel gesehen haben. Der Marginal Man ist nicht situativ bedingt (wie bei Simmel): der Marginal Man erscheint als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses. Er besitzt eine soziale Biografie, die auf Generationen zurückverweist. Der Marginal Man ist nur vor diesem Hintergrund seiner Geschichte verstehbar. Im Vergleich zu Simmel ist der Marginal Man keine besondere Beziehungskonstellation innerhalb einer Gruppe: der Marginal Man steht zwischen zwei Gruppen, die sich durch einen hohen Grad an Unterschiedlichkeit und ein Status- und Machtgefälle zueinander auszeichnen. Der Marginal Man wird als Rand- oder Grenzgänger übersetzt. Der Persönlichkeitstypus des Marginal Man erscheint dort, wo eine weitgehend als homogene Einheit gedachte Gruppe endet: an der Grenze. Er markiert das Dazwischen und eine mögliche Verbindung. Der Marginal Man hat Verbindungen in beide Kulturkontexte aus denen seine Vorfahren entstammen und ist gleichzeitig keinem von beiden vollständig zugehörig. In dieser besonderen Position zwischen den Gruppen erlebt der Marginal Man Momente der Krise. Er erlebt persönliche und soziale Krisen. Persönliche insofern, als dass er seine Identität nicht in Bezug zur Herkunftsgruppe stabilisieren kann. Und soziale Krisen erlebt er, wenn er Ausgrenzung und Stigmatisierung durch die Herkunftsgruppen erfährt. Diese Kombination unterschiedlicher Faktoren erzeugt, Park und Stonequist folgend, einen besonderen Persönlichkeitstypus. Der Marginal Man besitzt also Eigenheiten an sich, die ihn zum Marginal Man machen. Er verliert diese Eigenschaften nicht, wenn er sich beispielsweise von den beiden Herkunftskontexten abwendet. Sein Gewordensein hinterlässt Spuren und insofern ist der Persönlichkeitstyp des Marginal Man zunächst stofflicher als der die Beziehungskonzeption des Fremden bei Simmel. Die besondere Betrachtung der Perspektiven, die sich bei Park und Stonequist bereits im Marginal Man, der zwischen den Gruppen erscheint, abzeichnet, wird bei Alfred Schütz’ Fremden stärker deutlich. Der Fremde bei Schütz findet seine konkrete Manifestation im Immigranten, der als Fremder aus einem anderen kulturellen und sozialen Kontext zu einer neuen, anderen, fremden Gruppe, der in-group, herantritt. Der Frem-

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de kommt mit einem eigenen Set an Wissensbeständen und einem gewohnten Denkenwie-üblich, das der Fremde als natürlich gegeben annimmt. Erst wenn er mit einem anderen Wissensbestand und anderen Gewohnheiten des Denken-wie-üblich konfrontiert wird, erfährt er eine Krise und erkennt, dass das eigene gewohnte Denken-wie-üblich weder natürlich gegeben noch universal oder allgemein gültig ist. Die Konfrontation mit der Andersheit des Fremden, der in der neuen Umwelt (Wissens-)Krisen erlebt, erzeugt auch bei der in-group Krisen, da auch die in-group durch den Fremden und sein anderes Wissen die Erfahrung macht, dass ihr eigenes Denken-wie-üblich nicht allgemein gültig oder universal sein kann. Die Selbstverständlichkeit des Eigenen wird mit der Andersheit des Fremden konfrontiert und die Ordnung des Eigenen damit aus ihrem Zustand des In-sich-Ruhens enthoben. Besonders bei Alfred Schütz’ Fremden zeigt sich die Problematik der egozentrischen Perspektive der Betrachtung besonders deutlich. Durch die Wiederlesung der Figuren des Fremden von Simmel, Park und Schütz wird vor allem eines deutlich: Die Soziologen bezeichneten etwas als ›Fremdheit‹ oder ›den Fremden‹, fanden aber keine Antworten auf die Frage, wer oder was genau ›der Fremde‹ ist. Sie nutzten die gleichen Begriffe, untersuchten allerdings ganz unterschiedliche Dinge. Es geht um besondere Beziehungen von Menschen innerhalb von geophysischen Räumen, es geht um Mobilitätsmodi und besondere Beziehungen. Es wird sozialer Wandel entlang und innerhalb von Gruppen beobachtet und die Relativität von Wissensbeständen untersucht. Schütz beschreibt, ebenso wie Simmel und Park, ein besonderes Phänomen, das er beobachten konnte: die Wirkung, die eine Sache entfalten kann und der Glaube an besondere Eigenschaften einer Sache und die Krise, die die Konfrontation mit der Realität hervorruft, wenn diese angenommenen Eigenschaften sich nicht als real herausstellen. Der Glaube an die allgemeine Gültigkeit des Wissens, die Überzeugung, dass alle anderen Teilnehmer einer Gesellschaft sich in ihrem Handeln auf den gleichen Common Sense beziehen, macht etwas: Diese Überzeugungen und Annahmen entfalten Wirkung in der sozialen Realität. Menschen antizipieren auf der Basis dieser Annahmen Handlungen, leiten Erwartungen ab und gestalten ihre eigenen (Re-)Aktionen. Konfrontiert aber mit dem, was Schütz als Fremde bezeichnet, wird eine Krise erlebt, wenn sich diese angenommenen Eigenschaften, die allgemeine Gültigkeit und natürliche Gegebenheit als falsch herausstellen. Mit der Figur des ›Fremden‹ wird etwas markiert, das sich entzieht, das (noch) nicht erfasst werden, etwas das unterbestimmt bleibt. Durch den Fremden wird außerdem eine Grenze markiert. Ebenso eine Grenze zu etwas, das noch nicht näher bestimmbar ist, noch nicht erfasst wird, eine Grenze in Richtung des Unbestimmten. Als Denkfigur dient der Fremde als Markierung für eben das, was noch nicht näher erfasst und noch nicht bestimmt werden kann. Wird das Fremde bekannt, verliert es die eigene Fremdheit: es wird zu etwas, das bekannt ist, erfassbar gemacht werden konnte, das sich nicht mehr entzieht. So muss der Fremde immer das noch-nicht-fassbare sein, der Noch-Unentschlossene bleiben, als Denkfigur unbestimmt sein. Womit der Fremde als soziologische Figur auch Komplexität einbindet, indem Komplexität durch die Sozialfigur des Fremden bearbeitet werden kann, zumindest benennbar als etwas wird, das nicht weiter bestimmt werden kann. Das Gegenstück des Fremden ist in dem Sinne nicht das Eigene. Fremdes und Eigenes sind kein Gegensatzpaar wie innen/außen, oben/unten oder schwarz/weiß. Fremdes

3 Der Fremde und die Soziologie

und Eigenes hängen dennoch zusammen, denn in Konfrontation mit dem Fremden wird das Eigene sichtbar und damit greifbar und soziologisch erfassbar: untersuchbar. Mit Zygmunt Baumans Untersuchungen zum Umgang mit dem Fremden in ›modernen‹ Gesellschaften haben wir in diesem Kapitel ein Beispiel dafür gesehen, wie mit einer Orientierung auf das Fremde eine soziologische Wendung zu einer Untersuchung des Eigenen vorgenommen werden kann (siehe Kapitel 3.1.3). Der Fremde ist vor diesem Hintergrund also eigentlich kein unterbesprochenes Thema der Soziologie: als theoretische Figur und Heuristik ist Fremde ein ständiger Begleiter soziologischer Unternehmungen und damit theoretisches Werkzeug und Alliierter soziologischer Analyse.

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4 Vom Anderen her das Subjekt beunruhigen

Im zweiten Teil des vorausgegangenen Kapitels wurden drei bekannte soziologische Figuren des Fremden besprochen: der Fremde von Simmel, Parks Marginal Man und Schütz’ Fremder. Neben den drei prominenten Fremdentexten taucht die Figur des Fremden auch in den Arbeiten des amerikanischen Sozialpsychologen Georg H. Mead auf. In Meads Analysen geht es allerdings weniger um eine Untersuchung des Fremden an sich. Der Fremde erscheint bei Mead als eine begleitende Bedingung für das, was eigentlich im Fokus seiner Analysen stand: Mead beschäftigte sich vorranging mit der Frage von Identitätsentwicklung. Meads Arbeiten waren stark von Sigmund Freuds Werk beeinflusst. So begreift Mead das Bewusstsein als etwas, das nur dem Einzelnen allein zugänglich ist, während Identität etwas ist, das sich als Konsequenz aus der wechselseitigen Auseinandersetzung des eigenen Bewusstseins mit der Umwelt und insbesondere anderen Entitäten innerhalb dieser Umwelt ergibt. Die eigene Identität ist also das Produkt einer Verschränkung und Verflechtung des Eigenen (Bewusstseins) und des Fremden (vgl. Reuter 2010: 113). Der Fremde tritt bei Mead als signifikanter, generalisierter Anderer auf. Er ist eine wichtige Bedingung für die Entwicklung der Identität, allerdings geht Meads Analyse nicht weiter darüber hinaus. Die Fremdheit des Anderen wird als gegeben angenommen und nicht weiter hinterfragt. Sie ist nur insofern relevant, als dass sie als anders gegenüber dem Eigenen erkennbar ist. Wie im vorausgegangenen Kapitel gezeigt werden konnte, besitzt die Figur des Fremden viele Gesichter und es geht selten um den Fremden an sich: der Fremde ist nicht Gegenstand der Betrachtung. Häufiger nimmt der Fremde eine Position ein, die zunächst als Leerstelle unterdefiniert und unbestimmt ist und dies gegebenenfalls auch im Laufe der Untersuchungen bleibt. Gleichzeitig markiert der Fremde immer auch eine Grenze oder weist auf eine Limitation hin. Er deutet auf etwas hin, das (noch) nicht im Eigenen eingefasst werden kann: auf eine Form von Komplexität, die noch nicht beherrschbar ist, noch nicht eingehegt werden konnte (siehe Kapitel 1.3). Obgleich das, was als ›das oder der Fremde‹ aus Perspektive des Eigenen erkannt wird, als etwas erscheint, das außerhalb des Eigenen steht, so ermöglicht es uns Simmels Figur des Fremden, den Fremden dennoch als etwas zu erfassen, dass eigentlich immer schon Teil des Eigenen ist. Das Fremde wird in einem Entfremdungsprozess vom Eigenen ausgeschlossen, durch diese Bewegung des Ausschlusses aber als das nun Fremde in

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Bezug zum Eigenen wieder mit hereingeholt in die Betrachtung. Diese Denkbewegung des ausschließenden Einschlusses hat Giorgio Agamben in seinem Werk zum Homo Sacer und Ausnahmezustand (Agamben 2002, 2004 und siehe Kapitel 5) detaillierter beleuchtet. Soziologische Untersuchungen zum Fremden betrachten den Fremden dennoch oftmals als etwas, das außerhalb steht oder von außen kommt und Wirkung entfaltet: etwas im Eigenen auslöst oder durch das Herantreten eine Reaktion provoziert. Dem Fremden wohnt ein Moment des Unheimlichen inne. Das Fremde entzieht sich auf eine Weise, es ist nicht greifbar, lässt sich nicht in die gegebenen Ordnung einfügen. Der Fremde erscheint als der Unentschlossene, der sich weder als Freund noch als Feind offenbart (vgl. Bauman 1991, siehe Kapitel 3.1.3). Dieses Moment des Unheimlichen, das Zygmunt Bauman in seinen Untersuchungen zum Umgang mit dem Fremden modernen Gesellschaften untersuchte (vgl. Bauman 1991), lässt sich auch in nicht-soziologischen, literarischen Werken, wie Albert Camus’ L’Étranger oder E.T.A. Hoffmans Sandman nachzeichnen. Hoffmans Sandman wiederum wurde für Freud zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen zum Unheimlichen. Und Freunds Text über das Unheimliche wieder wiederum durch Jaques Lacan und Julia Kristeva aufgegriffen und weiterentwickelt. Der Fremde, der Andere und das Unheimliche liegen als Querschnittthemen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Disziplinen regelrecht quer: von Philosophie und Soziologie, über Politikwissenschaften bis in die Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Von Karl Marx Untersuchungen zu Prozessen der Ent-Fremdung über Rudolf Stichwehs Indifferenz gegenüber dem alltäglichen Fremden, zu den drei klassischen Figuren des Fremden in der Soziologie. Dem Fremden werden viele Gesichter zugeschrieben: er ist das Unbekannte, er ist der Andere, der Feind und der Richter. Er ist der Außenseiter, der Ausländer und Immigrant und der Randgänger, der die Grenze markiert. Der Fremde bringt gleichermaßen etwas Faszinierendes mit sich, ebenso wie etwas Unheimliches, das gar als bedrohlich eingestuft wird. Der Fremde und Fremdheit werden in der modernisierten Gesellschaft gleichzeitig zum Allgemeinen, zur Norm und zur Regel und zum Problem, das durch Integration überwunden werden soll. Einigkeit besteht in Bezug zum Fremden scheinbar lediglich in dem Punkt, dass der Fremde nicht das Eigene sein kann. Der Fremde dient vielmehr als Kontrastfolie zum Eigenen. Der Fremde wird einem Ich, Selbst oder einem Wir und Uns gegenübergestellt, als ob der Fremde nicht dazu gehörte: was er aus der egologischen Perspektive des Eigenen auch nicht tut. Fremdheit wiederum ist und kann keine Identität des Fremden sein: die Fremdheit liegt nicht in dem Fremden selbst, der nur aus der Perspektive des Eigenen als der Fremde erkennbar ist und nur in Bezug zum Eigenen und im Kontrast dazu denkbar ist. Fremdheit beschreibt also immer schon eine Relation. Die Figur des Fremden verbindet verschiedene Dimensionen und Extreme in sich: Sie berührt eine räumliche, eine zeitliche und eine soziale Dimension. Der Fremde muss immer ›hier‹ vor Ort sein um als Fremder erkennbar zu sein, sodass seine Fremdheit überhaupt Relevanz erhalten kann. Der Fremde ist in den Bewegungen von Kommen und Gehen begriffen und hat die Gelöstheit im Raum noch nicht gänzlich überwunden: er ist der noch Unentschlossene, der sich den Ordnungen, die ihn einzuordnen versuchten, noch entzieht. Zum Fremden ist (noch) nichts bekannt. Er markiert einen Mangel an Wissen. Genauso ist der Fremde noch nicht im gleichen Maße eingebunden in die sozialen Geflechte vor Ort, in dem

4 Vom Anderen her das Subjekt beunruhigen

Raum, den die Gruppe bereits eingenommen hat. Aus der Perspektive Gabriel Tardes, der die Seins-Philosophie (Ontologie) durch eine Philosophie des Habens ersetzt, ergibt sich, dass Fremdheit im Sinne einer adjektiven Zuschreibung verstanden werden kann: als Adjektiv fremd (siehe Kapitel 1.1.1). Es ist nun nicht mehr ›der Fremde‹, der sich ins Zentrum der Untersuchung schiebt. Es treten die Aspekte in den Vordergrund, die Fremdheit ausmachen, die Personen und Gruppen mehr-oder-weniger fremd auf einem Spektrum von Fremdheit erscheinen lassen. Damit ist in dieser Lesart eine differenziertere Betrachtung von Fremdheit möglich, nämlich eine, die nicht zwischen einem vollständigen Fremden und Nicht-Fremden entscheiden muss, also keine entweder-oderUnterscheidung vornehmen muss. Ein zweiter Aspekt, der durch Tardes besondere Perspektive ausgebaut werden kann ist, dass ein Denken in angenommenen Einheiten auflösen lässt und somit ein differenziertes Bild eröffnet wird, durch das auch das ›Eigene‹ nicht als homogen in sich geschlossene Einheit begriffen werden muss, sondern als etwas, das durch sich ständig vollziehende Prozesse des Differierens immerzu neu hervorgebracht wird: »Existieren heißt differieren; die Differenz ist in gewissem Sinn da Wesen der Dinge, was ihnen zugleich völlig eigen und gemeinsam ist« (Tarde 2015: 71f). Im folgenden Kapitel wird dieser Ansatz zur Überwindung dualistischer Denkmodelle, die das Fremde in Kontrast zum Eigenen erfassen, mithilfe von drei Dekonstruktionen entworfen. Die Frage der Perspektive, die bei Schütz’ Fremden besonders deutlich wird und als egologische Perspektive problematisiert werden kann, wird mithilfe von Emmanuel Lévinas’ Entwurf eines alterologischen Zugangs aus dem angenommenen Zentrum entrückt. Durch Jacques Lacans Arbeiten wird das Subjekt der egologischen Perspektive, welches als vorhanden angenommen wird, als Konsequenz eines ständig fortlaufenden Prozesses der eigenen Entfremdung begriffen. Und mit Kristevas Ausarbeiten zu Freuds Unheimlichen, das sie als das verdrängte Eigene wendet, wird das egologische Subjekt schlussendlich aus dem in sich ruhenden Zustand enthoben.

4.1 Von der Egologie zum Ansatz der Alterologie Der folgende Abschnitt teil sich in zwei Teile. Zunächst wird Webers Verständnis von Soziologie rekapituliert und an die Frage nach dem ›Sinn‹ angeschlossen, die auch Schütz an Weber anschließend bereits problematisierte (siehe Kapitel 3.2.3). Während Schütz Webers ›Sinn‹-Problem durch Husserls Phänomenologie ergänzte und dadurch eine egologische Perspektive innerhalb der Soziologie verstärkte, wird diese im zweiten Abschnitt des Kapitels dekonstruiert und durch Emmanuel Lévinas’ Zugang über eine astrologische Perspektive wieder eingebunden.

4.1.1

Das Problem des Verstehens bei Max Weber

Im Vorausgegangenen Abschnitt wurde bereits auf die egozentrische Perspektive aufmerksam gemacht, die besonders bei Schütz’ Fremden auffällt. Deutlich wird diese Perspektive, wenn Schütz erklärt, dass davon auszugehen ist, dass alle Menschen ihre Umwelt aus ihrer subjektiven Perspektive heraus betrachten. Wir orientieren uns in unserer eigenen Lebenswelt ähnlich wie wir uns auf einem Stadtplan orientieren würden: von

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unserem Standpunkt aus (vgl. Schütz 2002 [1944]: 83). Schütz’ soziologisches Vorgehen ist stark von Webers und Husserls Arbeiten beeinflusst. Schütz versuchte die verstehende Soziologie »durch eine phänomenologisch orientierte Analyse des Handlungssinnzusammenhangs zu fundieren« (Srubar 2007: 89). Weber legte mit seiner Definition des sozialen Handelns einen wichtigen Grundbaustein für die von ihm begründete verstehende Soziologie. Aufbauend darauf entwickelte Weber seine methodologische Vorgehensweise (siehe Kapitel 1.2.2). Laut Weber ist die Soziologie die Wissenschaft, die im Kern versucht Soziales Handeln zu verstehen: »§ 1. Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« (Weber 1922: 15) Die Soziologie befasst sich also mit dem sozialen Handeln, das von anderem Handeln (zielgerichtet) oder bloßem menschlichen Verhalten (z.B. körperliche Reflexe) zu unterscheiden ist. Handeln zeichnet sich Unterschied zu Verhalten darüber aus, dass es bewusst und zielgerichtet ist. Alles menschliche Tun, das beobachtbar ist, das nicht direkt mit einem Ziel verbunden ist, fällt unter die Kategorie des Verhaltens: dazu gehören z.B. Blinzeln, Atmen, Husten oder andere reflexhafte und unbewusste Tätigkeiten. Auch das Nutzen eines Regenschirms wäre laut Webers Definition noch kein soziales Handeln, da es nicht auf andere bezogen ist: es wäre nur Handeln, da es mit einem konkreten Ziel – nicht nass zu werden – verbunden ist. Nur menschliche Tätigkeiten, die in ihrem Ablauf am Handeln anderer orientiert sind, fällt nach Webers Definition in den Gegenstandsbereich der Soziologie. Mit dem ›subjektiven Sinn‹ (vgl. Weber 1922: 16f) meint Weber keinen richtige, wahren oder objektiven Sinn. Er meint den subjektiven Sinn, den einzelne Handelnde mit ihren Handlungen verbinden und den Menschen im Handeln anderer wiederum, an dem sie sich ebenso für ihr Handeln orientieren, erkennen glauben. Wie dieser ›Sinn‹ intersubjektiv verstanden wird, ist einer der Gegenstände soziologischer Untersuchung. Um diesen ›subjektiv gemeinten Sinn‹ im Handeln einer Person verstehen zu können, muss der Beobachtete die Handlung nicht selbst durchgeführt haben: »man braucht nicht Cäsar sein, um Cäsar zu verstehen« (ebd.: 16). Es ist also möglich den Sinn einer Handlung zu verstehen, ohne die Handlung selbst schon einmal durchgeführt zu haben. Weber geht davon aus, dass ein Sinnverstehen auch ohne die Nacherlebbarkeit möglich ist: »Die volle ›Nacherlebbarkeit‹ ist für die Evidenz des Verstehens wichtig, aber nicht absolute Bedingung der Sinndeutung« (ebd.). Weber zeigt an der Stelle unterschiedliche Wege des Verstehens auf: Verstehen kann »rationalen (und alsdann entweder: logischen oder mathematischen) oder: einfühlend nacherlebenden: emotionalen, künstlerisch-rezeptiven Charakters sein« (ebd.).

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»Rational evident ist auf dem Gebiet des Handelns vor allem das in seinem gemeinten Sinnzusammenhang restlos und durchsichtig intellektuell Verstandene. Einfühlend evident ist am Handeln das in seinem erlebten Gefühlszusammenhang voll Nacherlebte.« (Ebd.) Ist ein beobachtetes Handeln also gemäß mathematischer Regeln oder nach bekannten Regeln der Logik nachvollziehbar, kann es verstanden werden. Ebenso, wenn sich eine bestimmte Handlung an allgemein gültigen Werten orientiert, die Beobachtender und Handelnder teilen: Werte, die beispielsweise als erstrebenswert und wichtig erachtet werden. Wenn ein Handeln sich beispielsweise an Werten orientiert, die von unseren eigenen Werten abweichen, gilt »je radikaler sie von unseren eigenen letzten Werten abweichen, desto schwieriger [wird es für] uns durch die einfühlende Phantasie nacherlebend verständlich zu machen« (ebd.), was ›Sinn‹ und Ziel der Handlung gewesen sein könnte. Zwar besteht die Möglichkeit, dass diese Handlungen intellektuell gedeutet, gegebenenfalls aber nicht nacherlebend verstanden werden können. Dies trifft beispielsweise auf religiös motivierte Handlungen zu: auch wenn nicht die gleichen religiösen Werte geteilt werden, so kann auf einer abstrakteren Ebene ein religiös motiviertes Handeln dennoch verstanden werden, auch wenn die religiösen Überzeugungen nicht geteilt werden oder die genauen religiösen Orientierungswerte nicht inhaltlich bekannt sind. »Aktuelle Affekte […] und die […] irrationalen aus ihren folgenden Reaktionen vermögen wir, je mehr wir ihnen selbst zugänglich sind, desto evidenter emotional nachzuerleben, in jedem Fall aber, auch wenn sie ihrem Grade nach unsre eigenen Möglichkeiten absolut übersteigen, sinnhaft einfühlend zu verstehen und in ihrer Einwirkung auf die Richtung und Mittel des Handelns intellektuell in Rechnung zu stellen.« (Ebd.) Weber unterscheidet zwischen einem intellektuellen Vermögen, das vor allem durch nachvollziehbare Rationalität charakterisiert ist und einem emotionalen Nachempfinden: Handlungen, die durch Affekte motiviert werden und zu irrational (erscheinenden) Reaktionen führen, die nicht rein rational erfasst werden können und nur emotional nachempfunden werden können, sofern Deutende und Beobachtende Zugang zu ähnlichen emotionalen Empfindungen haben. Diese Reaktionen, die durch Emotionen oder Affekte ausgelöst werden, können nur nachempfunden, aber laut Weber nicht rational verstanden werden. Um soziales Handeln differenzierter betrachten zu können, entwickelte Weber vier Idealtypen sozialen Handelns. Er unterscheidet zweckrationales, wertrationales, traditionelles und affektuelles Handeln (vgl. ebd.: 25). Das Handeln Einzelner ist an bestimmten Zielen und Zwecken und am Handeln anderer orientiert. Handlungen werden in einen Sinnzusammenhang eingebunden und sind immer motiviert. Als Beobachtende sind wir in der Lage den Sinnzusammenhang einer Handlung durch Nachvollziehen des Motivationszusammenhangs zu verstehen (vgl. ebd.: 17f).1 Abhängig also in welchem 1

Weber nutzt das Beispiel des Holzfällers, um seine Ausführungen zu veranschaulichen. Beobachten wir jemanden der Holzhackt, kann das in unterschiedliche Sinnzusammenhänge (für den Holzhackenden) eingebunden sein: die Person könnte für das Holzhacken entlohnt werden, Geld erhalten. Es könnte sich um eine sportliche Aktivität zur Erholung (rational) handeln oder eine Abreaktion von Erregung (irrational) – Zorn kann in dem Fall beispielsweise motivational, emotional

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Sinn- und Motivationszusammenhang eine Handlung eingebettet wird, lässt sich die beobachtete Handlung als eher zweckrational oder eher wertrational, womöglich traditionell oder mehr affektuell klassifizieren. Dabei finden die Idealtypen in der Regel keine exakte Entsprechung in der empirischen Wirklichkeit. Beobachtet werden meist Mischtypen bzw. Realtypen, in denen charakteristische Merkmale des einen oder anderen Idealtypus besonders deutlich erkennbar sind.2 Betreibt man Soziologie nach Webers Vorbild, steht die Frage im Mittelpunkt, warum Menschen tun, was sie tun: welche Motivationen treiben bestimmte Handlungen an und welche Motivationen führen dazu, dass andere Handlungen unterlassen werden. »Entscheidend für soziologische Erklärungen sind für Weber letztlich die Motive des Handelns. Methodisch ist für ihn dabei das Verstehen des subjektiven Sinnes einer Handlung die wesentliche Interpretationsleistung, die von SoziologInnen erbracht werden muss« (Rosa et al. 2013: 55). An Webers Arbeiten zum ›subjektiv gemeinten Sinn‹ setzt Alfred Schütz später an. Ebenso wie Weber geht auch Schütz davon aus, »dass der sozialen Wirklichkeit eine Bedeutsamkeit innewohnt, die aus dem Bezug des Handelns einzelner aufeinander und zur Welt resultiert« (Srubar 2007: 90). Wenn wir als Soziolg:innen etwas als bedeutsam betrachten, dann bezieh sich diese Bedeutsamkeit darauf, dass »die soziale Wirklichkeit für den Handelnden schon immer eine konstruierte ist« (ebd.). Das heißt, dass die soziale Wirklichkeit in der wir uns bewegen, immer schon von Bedeutungszusammenhängen durchzogen ist: eben diese Zusammenhänge und Bedeutungen können wir als Teilnehmer:innen von Gesellschaft erkennen. Nicht die Ausbildung zu Soziolog:innen befähigt uns erst dazu: wir sind immer schon Teil dieser Lebenswelten. Wir wurden in diese Gesellschaften hinein geboren und sind in ihnen aufgewachsen. Als Teilnehmer:innen – nicht als Soziolog:innen – können wir die Sinnzusammenhänge und Bedeutungen erkennen, interpretieren und verstehen. Bedeutung kann »als das Resultat subjektiver Sinnkonstruktionen« (Srubar 2007: 91) betrachtet werden, deutet allerdings auch »auf die Signifikanz der diese Konstruktion mittragenden außersubjektiven Momente der sozialen Wirklichkeit« (ebd.: 90) hin: »Diese Bedeutsamkeit zu erfassen, ist für die adäquate wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der sozialen Wirklichkeit wesentlich. Sie kann nur durch Verstehen – also Deutung – erfasst werden« (ebd.: 91). Als Teilnehmer:innen einer Gesellschaft

2

nachvollzogen werden, mehr oder weniger, wenn z.B. Auslöser des Zorns bekannt sind (Eifersucht, Kränkung usw.). Somit ist das Handeln (z.B. Holzhacken) affektuell bedingt und irrational, kann aber motivationsmäßig nachvollzogen werden und der ›subjektiv gemeinte Sinn‹ erkannt, also die Einbettung des Handlungskomplexes in einen Sinnzusammenhang gesetzt werden (vgl. Weber 1922: 17f). Die Kategorisierungen in die vier Handlungstypen nutzt Weber darüber hinaus, um bestimmte Gesellschaften voneinander zu unterscheiden. Laut Weber sind vorindustrialisierte Gemeinschaften vor allem durch traditionelles und affektuelles Handeln geprägt. D.h. dass wir hauptsächlich Realisierungen dieser Handlungstypen beobachten können. Zwar kommt auch zweck- und wertrationales Handeln in vorindustrialisierten Gemeinschaften vor: diese Handlungstypen werden quantitativ weniger beobachtet. Die industrialisierten Gesellschaften hingegen sind vor allem durch zweck- und wertrationales Handeln geprägt (vgl. ebd.: 40f).

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erkennen, interpretieren und verarbeiten wir unsere Beobachtungen und Handlungen anderer, sowie unsere eigenen, ständig. Ebenso realisieren wir Handlung konstant in unserem alltäglichen Leben. Schütz versuchte die Strukturiertheit, die sich aus ständigen Prozessen des aufeinander-Bezugnehmens ergeben, wissenschaftlich zu untersuchen. Im Zuge zunehmender funktionaler Differenzierung, die sich durch Prozesse der Modernisierung ergeben und ständig verstärkt werden, wurden verschiedene Sinnzusammenhänge stärker institutionalisiert und zu einer Art »Kochbuchwissen [verfestigt, welches] aus anonymen Ablauf- und Personaltypen besteht« (Srubar 2007: 95). Unsere Handlungsstrukturen wurden aus persönlichen und familiären Zusammenhängen herausgelöst und stärker entpersonalisiert, abstrahiert und formalisiert. Schütz erkannte eine zunehmende Verschiebung vom direkten Sinnverstehen zwischen konkreten Personen hin zu einem gesellschaftlich sedimentierten, institutionalisierten, weitgehend entpersonalisierten Sinnverstehen. Sinnverstehen funktioniert nun in erster Linie nicht mehr darüber, dass Bekanntheitsgrade von Personen und Situationen uns helfen unsere Lebenswelten zu navigieren: wir orientieren uns also nicht mehr so stark an tatsächlichen, persönlichen Bekanntschaften und eigens gemachten Erfahrungen. Diese Wissensbestände werden durch allgemeine, generalisierbare und abstraktere ersetzt: wir arbeiten nun mit Idealtypen und verallgemeinerbaren Handlungsabläufen, Bedeutungszusammenhängen und Bewertungshandreichungen, die sich als sehr generische ›Quasi-Rezepte‹ auf eine Vielzahl konkreter Situationen anwenden lassen. In einer Gesellschaft unter Fremden, in der persönliche Orientierungen nicht mehr funktionieren, helfen abstraktere und generalisierbarere Orientierungsrahmen bei der Navigation des Alltags. Welche Handlungsschritte zum Einkaufen von Produkten dazu gehören, sind bekannt. Es ist nicht nötig genauer zu definieren um welche Produkte es sich handelt oder die Verkäufer:innen persönlich zu kennen um die Handlungen erfolgreich durchzuführen. Die institutionalisierten Wissensbestände müssen nicht logisch kohärent, konsistent oder in sich widerspruchsfrei sein. Ebenso müssen sie nicht widerspruchsfrei zu anderen Wissensbeständen stehen. Solange die bezweckten Funktionen der Wissensbestände erfüllt werden, können auch Brüche, Irritationen und Inkonsistenzen ausgeblendet werden. Erst wenn die ›Rezepte‹ nicht mehr funktionieren, werden Widersprüche, Inkonsistenzen und Inkohärenzen bemerkt. Während Weber noch davon ausging, dass fortschreitende Modernisierung durch eine ständig stärker werdende Rationalisierung im Denken begleitet werden, erkannte Schütz, dass sich diese Annahme empirisch nicht bestätigen ließ. Entsprechend entwickelte Schütz Webers Ansatz weiter, indem er bei den Wissensbeständen und den Sinnund Bedeutungszusammenhängen ansetzte (vgl. ebd.: 97f). Um das Verstehen von Handlungen und den ›subjektiv gemeinten Sinn‹ besser betrachten zu können, nutzte Schütz Edmund Husserls Phänomenologie. Um den Prozess des Verstehens zu erfassen und sich dem ›Sinn‹ anzunähern, benötigte es eine »phänomenologischen Reduktion« (Mikl-Horke 2001: 147). Eine phänomenologische Reduktion bedeutet, eine Loslösung des Bewusstseins von den Dingen der Außenwelt (Einklammerung) und eine Hinwendung zum »inneren Bewusstseinssturm« (ebd.). Beim Verstehen gehe es nämlich nicht um eine Erklärung der Außenwelt, »sondern um die ›Konstitution‹ des Sinns der Außenwelt im Bewusstsein« (ebd.):

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»Der subjektive Sinnzusammenhang der Deutung fremden Handelns setzt den Entwurf des Handlungsziels als Ziel des eigenen Handelns voraus, auf Grund dessen wir uns den Hergang des Handelns vorstellen: wir (re-)konstituieren die Handlung in unserem Bewusstsein.« (Ebd.) Von »Fremdverstehen« (ebd.: 148) zu sprechen setzt eine Trennung zwischen einem handelnden Ich und einem deutenden Ego, dem die Eigenschaft des Verstehen-Könnens zugeschrieben wird, voraus. Die »Objektivierung subjektiver Sinnzusammenhänge, wobei die Objektivationen sowohl kausal- wie sinnadäquat sein müssen« (ebd.) ist, laut Schütz, Aufgabe der Sozialwissenschaft. Denn eine Wissenschaft, die nach Webers Definition, das Handeln von Menschen, deutend verstehen und erklären will, müsse mit einer »Beschreibung der Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen […] für den Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen« (ebd.). Wenn wir Schütz’ Verständnis von Soziologie folgen, müssen wir von einer objektiv geteilten Lebenswelt ausgehen: d.h., dass wir bis zu einem gewissen Grad davon ausgehen müssen, dass Teile unserer Lebenswelt auch Bestandteil der Lebenswelt anderer sind. Sprache, Gesten, Ausdrucksweisen und Handlungsabläufe, sowie unser Verständnis von Rollen und das Wissen darüber, welche Erwartungen an bestimmte Rollen geknüpft werden, sind für Schütz Beispiele dieser gemeinsam geteilten und damit objektiven Bestandteile der Lebenswelten. Es handelt sich also um unterschiedliche Formen von geteilten Wissensbeständen, auf die sich alle Teilnehmer einer Gesellschaft beziehen (können). Die Einbettung der geteilten Wissensbestände und ihre Zusammenhänge und die Art und Weise wie sie sich innerhalb der Lebenswelten manifestieren und durch z.B. Handeln realisiert werden, ergeben ›Sinn‹ innerhalb dieser Lebenswelten. Zeichensysteme beispielsweise ergeben in bestimmten Situationen ähnlichen Typus ›Sinn‹: sie sind objektiv, weil sie von vielen geteilt werden und ihr ›Sinn‹ von anderen verstanden, werden kann. Sie erscheinen uns objektiv gegeben, weil sie in dieser Perspektive ›außerhalb‹ unserer selbst existieren: Sie entspringen nicht allein unserer eigenen Geisteshaltungen. In diesem Kontext erscheint der Fremde als besondere Figur, die als soziologische Heuristik dann nutzbar gemacht werden kann, wenn durch die Konfrontation des Fremden dieses altbekannte, gewohnte Denken-wie-üblich, die habitualisierten Denkweisen und das Rezepte-Wissen und der Common Sense mit all den inhärenten Inkonsistenzen und Widersprüchen sichtbar gemacht werden kann (vgl. Schütz 2002 [1944]).3 Wie wir bereits bei Schütz’ Fremden (siehe Kapitel 3.2.3) sehen konnten, gelingt es dieser Perspektive nicht, Fremdheit jenseits des Erkennens durch die Perspektive des Egos zu betrachten. Das (wissenschaftliche) Ego bleibt Fixpunkt innerhalb der phänomenologisch rückgebundenen Perspektive. Eine Betrachtung von Fremdheit mitsamt ihrer krisenhaften Effekte wird von Schütz zwar wechselseitig betrachtet: er beleuchtet die Erfahrung des Fremden aus seiner egologischen Perspektive heraus und nimmt dann einen Perspektivenwechsel vor und betrachtet die Begegnung mit dem Fremden aus der Perspek3

Eine intensive(re) Bearbeitung und Untersuchung der phänomenologischen Nutzbarkeit und Bedeutung des Fremden hat der der Phänomenologe Bernhard Waldenfels in mehreren Arbeiten unternommen (vgl. Waldenfels 1997a, 1997b). Die Begegnung mit dem Fremden, mit Fremdheit, wird bei Waldenfels in erster Linie als eine Begegnung, ein Denken an und mit Grenzen (Abgrenzung, Eingrenzung usw.) verstanden.

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tive der in-group. Doch auch mit dem Perspektivenwechsel bleibt die Betrachtung immer an eine egologische Perspektive gebunden. Das Ego, dem die Eigenschaft zugeschrieben wird, die soziale Welt zu erfassen und zu interpretieren, d.h. sie ihrem ›Sinn‹ nachzu-verstehen, ist unabdingbar für eine Soziologie, die sich hauptsächlich mit der sinnhaften Konstruktion der sozialen Wirklichkeit befasst und sich besonders für die Sinnzusammenhänge, die aufgebaut, reproduziert, stabilisiert und weitergegeben werden, interessiert. Ein wesentliches Problem ergibt sich dann an der Stelle, wenn phänomenologische Ansätze nicht über die Generalisierung ihrer eigenen Erfahrungen hinausgehen können: insofern lässt sich wenig über das ›Wesen der Dinge selbst‹ aussagen, es wird hingegen sichtbar, wie die Forschenden ihre Gegenstände erfasse und verstehen möchten. »Nun sind Phänomenologen stets von der Erfahrung ihrer eigenen individuellen Lebenswelt ausgegangen, um durch Abstraktion und Generalisierung zu den Leistungen der sinnstiften- den Subjektivität zu gelangen. Auf diesem Wege mag die Konstitution der Lebenswelt in ihrer abstrakten Allgemeinheit untersucht werden. Aber so stoßen wir nicht auf eine einzige geschichtlich konkrete Lebenswelt, es sei denn auf die der Phänomenologen selber.« (Habermas 1970: 214f) Nun bedeutet dies nicht, dass eine phänomenologisch orientierte Untersuchung, die besonders die egozentrische Perspektive betont, keine Erkenntnisse und Aussagen liefern könnte. Durch dieses Vorgehen können sich Dinge offenbaren: sie deuten beispielsweise darauf hin, wie der wissenschaftliche Blick auf die Dinge diese mitgestaltet und Zusammenhänge durch die wissenschaftlichen Untersuchungen aufgebaut, erkannt, interpretiert und weiterbearbeitet werden. Problematisch wird ein solches Vorgehen dann, wenn der Anspruch erhoben wird, durch eine phänomenologisch und egozentrisch unternommene Untersuchung mehr über die Dinge selbst zum Vorschein zu bringen. Problematisch ist, wenn die geistigen Verarbeitungen, Interpretationen und Sinn- und Bedeutungszusammenhänge, die durch ein Ego vermeintlich objektiv eingeordnet werden können, überbetont werden und in der Folge angenommen und für die Forschung akzeptiert werden muss, dass das (forschende) Ego eben diese Eigenschaft und Fähigkeit besitzt: dass es zu einem intellektuell-rationalem oder emotionaleinfühlendem inneren Verstehen fähig ist. Bei vornehmlich egozentrischen Ansätzen steht das wahrnehmende, denkende, interpretierende und des Verstehens fähige Subjekt nicht immer offensichtlich im Mittelpunk: es wird aber als grundlegende Bedingung vorausgesetzt. Verstehen kann nur möglich sein, wenn jene Entität, die verstehen soll, dies auch tatsächlich kann: das verstehende Ego also über ein »intentionales Bewusstsein« (Gondek/Tengley 2011: 23) verfügt. Wenn wir das zum Verstehen fähige Ego fortstreichen würden, wäre eine verstehende Soziologie nicht mehr möglich. Das Ego denkt immer von sich aus. Eine Voraussetzung, die Schütz’ für seine Untersuchung zum Fremden unhinterfragt übernimmt (vgl. Schütz 2002 [1944]). Um eine verstehende Soziologie konsequent durchzuführen, müssen wir davon ausgehen, dass a) alle menschlichen Entitäten ihre Welt egozentrisch von sich selbst aus erfassen und überlagern b) diese Perspektive gleichzeitig mit unserer eigenen egozentrischen Forscher:innenperspektive, indem wir weitreichendere Sinn- und Bedeutungszu-

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sammenhänge versuchen zu ergründen und offen zu legen. Woraus sich eine Ego-Logie ergibt: mit dem Ego im Zentrum soll sein Handeln systematisiert, eingebettet in Sinnund Bedeutungszusammenhänge in einen Logos überführt werden. Ansätze, denen es um das nachvollziehbare Verstehen geht, bleiben im Kern abhängig von Entitäten, die diese Fähigkeit auch besitzen: die Fähigkeit Dinge, wie Erlebnisse, Beobachtungen, eigenes Handeln und das Handeln anderer in Sinn- und Bedeutungszusammenhänge zu setzen und diese wiederum zu verstehen. Es muss angenommen werden, dass diese Eigenschaft des Verstehen-Könnens den Entitäten ein gesonderter Zugang zu Motivationen, Intentionen und anderen psychologische Bewusstseinsvorgängen, die äußerlich nicht sichtbar, aber trotzdem – so die Annahme – im ›Hintergrund‹ des Handelns vollzogen werden, möglich ist. Es handelt sich nicht um wechselseitiges Verstehen untereinander. Die Verbindungen erfolgen nicht direkt und unmittelbar intersubjektiv. Das Verstehen wird möglich, weil angenommen wird, dass sich alle Handelnden auf die gleichen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge beziehen, die außerhalb ihrer selbst als quasi-objektiv exzitieren. Unter diesen Bedingungen, dass alle sich auf die gleiche Basis beziehen, wird das wechselseitige Verstehen möglich. Fremdheit wird in dem Falle als besondere Form der Andersheit feststellbar: es zeigt die Limitation des eignen Verstehen-Könnens auf. Wenn die Sinn- und Bedeutungszusammenhänge des Anderen sich so stark unterscheiden, dass uns kein Zugang mehr möglich ist und entsprechend kein nachvollziehendes Verstehen erfolgen kann. Das Fremde ist in dem Falle so radikal Anders, dass es sich uns konstant entzieht. Aus Perspektive der ANT hat die Phänomenologie den fundamentalen Fehler gemacht davon auszugehen, dass eine zur Wahrnehmung fähige Entität (ein Subjekt) eine andere Entität (ein Objekt) wahrnehmen kann und die Wahrnehmung des einen durch das andere keinerlei Einfluss auf das andere hat. Dabei übersieht die Phänomenologie, dass die Wechselwirkung des Wahrnehmens bereits einen Unterscheid gemacht hat, indem Subjekte und Objekte kreiert werden: wechselseitig einander bedingen und bereits verändern (vgl. van Loon 2019: 51). Wahrnehmung impliziert keine Gleichheit. Die Wahrnehmung des Anderen durch das Eine und die Wahrnehmung des Einen durch das Andere stehen immer schon asymmetrisch und wechselseitig einander gegenüber, wenn sie sich konstant zu Objekten der Betrachtung des jeweils anderen machen, d.h. gleichzeitig (aktiv) subjektivieren und (passiv) objektiviert werden, was wiederum immer schon antizipiert wird. Eine Perspektive, die verschiedene Bewusstseine, Egos, Subjekte und Objekte als stabil und unveränderlich annimmt, sie nicht in Wechselwirkungen zu und voneinander immer schon als kontinuierlich werdend betrachtet, vollzieht mit der Annahme von in-sichruhenden, aus sich selbst heraus existierenden Entitäten schon eine Reduktion. Bei phänomenologischen Ansätzen, die die egozentrische Perspektive betonen, erscheinen der Fremde und der Andere lediglich als Grenzmarkierungen, die die Limitationen von Perspektiven anzeigen (vgl. Waldenfels 1997f, Schütz 2002 [1944]). Emmanuel Lévinas’ Kritik setzt an dieser Überbetonung einer egozentrischen Perspektive an. Er skizziert entsprechend seiner Kritik einen Gegenentwurf zur egologischen Perspektive: einen alterologischen Zugang, der vom Anderen ausgehend funktioniert. Im Gegensatz zu radikaleren Strukturalisten, die den »Tod des Subjekts« (Gondek/Tengley 2011: 30) verkündeten, geht für Lévinas nicht darum das »selbstmächtige

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Subjekt« (ebd.) aus der Betrachtung rauszukürzen. Das Subjekt soll nach einer poststrukturalistischen Destabilisierung nicht wieder ›neu‹ eingesetzt werden. Besonders in zeitgenössischeren, phänomenologischen Ansätzen geht es oftmals darum, über Themen wie Passivität und Affektivität ein Subjekt zu beschreiben, »dem immer schon pathische Ereignisse widerfahren, bevor es dazu kommen kann, sich auf sich zu besinne und selbstmächtig in die Welt einzuwirken« (ebd.). Mit dem alterologischen Gegenentwurf zur egologischen Überbetonung, versucht Lévinas dagegen den Verstehensprozess durch den Anderen erfassbar zu machen, d.h. ohne die Vorannehme eines Egos oder Subjekts auszukommen.

4.1.2 Emmanuel Lévinas und der Entwurf einer Alterologie »Die abendländische Philosophie fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit. Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen, […] Die Philosophie, die uns übermittelt ist, reduziert nicht nur das theoretische Denken, sondern jene spontane Bewegung des Bewusstseins auf die Rückkehr zu sich selbst« (Lévinas 2017: 211). Emmanuel Lévinas formulierte seine Theorie als eine (kritische) Wendung: als ein ›vom Anderen her Denken‹. Er positionierte sich unter anderem gegen andere ethische und humanistische Theorien, die er als nicht human genug kritisierte. Sie ließen dem ›Ich‹ eine zu zentrale Stellung zukommen. Das ›Ich‹ begriffen als das ›Subjekt‹, das ethische Urteile aus sich heraus oder in Bezug zu ideellen Normen, moralischen Wahrheiten und Werten fällen kann. Wodurch diese Fähigkeit als schon gegebene Eigenschaft des ›Egos‹ oder ›menschlichen Ichs‹ angenommen werden muss. Das menschliche Subjekt werde also zum Maßstab des Angemessen und Unangemessenen, des Gerechten und Ungerechten. Diesem zentralen ›Ich‹ stellt Lévinas den Anspruch des anderen gegenüber, dessen Forderung gegenüber dem Ego des Ichs unendlich sein könne. Diese potenziell unendliche Anspruch des Anderen gegenüber dem Ich könne insofern unendlich sein, da das Ich als ein endliches Subjekt gefasst werden muss: es ist beschränkt durch seine Mittel, Möglichkeiten und seine begrenzte Zeit, die durch den unausweichlichen Tod immer schon beschränkt ist. Das endliche Ich ist kann dem potenziell unendlichen Anspruch des Anderen also unmöglich jemals gerecht werden. Bei Lévinas ist es dann nicht mehr das Ego das zum bestimmenden Faktor wird. Es ist nicht mehr die Bedingung von der aus gedacht werden und Ableitungen vorgenommen werden können. Lévinas vollzieht in seinem Denken eine Wende hin zum Anderen und stellt jenen Anderen als grundlegend bedingend ins Zentrum seiner Betrachtung: die egozentrische Perspektive wird in der Folge durch eine alterozentrische Perspektiv abgelöst (vgl. Kretzschmar 2002: 46). Das Ego kann nun nicht mehr als »in-sich-ruhend« (Hermes 1998: 83) begriffen werden: es wird durch einen Moment der Beunruhigung durch den Anderen aus seiner »Substantialität« (ebd.) verjagt. Auch wenn das Ich dem potenziell unendlichen Anspruch des Anderen unmöglich gerecht werden kann, kann es sich dieser Aufforderung durch den Anderen doch nie entziehen. Das Ich ist dieser Aufforderung beständig unterworfen, kann ihr aber nie vollständig gerecht werden. Nur in der Begegnung mit dem Anderen und

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dadurch, dass das Ich sich der potenziell unendlichen Aufforderung durch den Anderen nicht entziehen kann, formiert sich schließlich das Subjekt. Das Subjekt ist also immer schon als unterworfen (sub-iactum) zu betrachten. Die Fragen von Abwägungen in Bezug dieser Verpflichtung gegenüber dem Anderen ergeben sich in dem Moment, da mehrere Andere, potenziell unendliche Andere, die Lévinas als das man zusammenfasst, dem Ich gegenübertreten. In diesem Moment erst, in der Begegnung mit potenziell unendlichen Anderen, die potenziell unendliche Ansprüche stellen, kommen ethische Fragen, Abwägungen und Urteile ins Spiel: es geht um die Frage der Ver-Antwortung und Ver-Pflichtung gegenüber den potenziell vielen Anderen. Fragen von ethischem Handeln ergeben sich bei Lévinas also nicht aus dem Ego selbst heraus: sie entstehen erst durch die Begegnung mit potenziell vielen Anderen. Mit den Anderen meint Lévinas kein symmetrisches Du, das dem Ich gegenübergestellt werden könne. Der Andere erscheint immer in einer ausweitenden Asymmetrie und entzieht sich beständig, da der Andere in seinem Wesen (und seiner Würde) sowieso immer schon uneinholbar ist. Der Andere bei Lévinas ist absolut anders: er ist nicht (immer) personifizier(bar) und erscheint nicht zwingend in der Gestalt eines anderen Menschen. So begreift Lévinas beispielsweise den Tod als den absoluten Anderen, vor dem gleichzeitig kein Ausweichen möglich ist. Diese Begegnung mit dem absolut Anderem, dem Tod, ist für alle unausweichlich. Es ist der Moment des Todes, der das Leben schlussendlich absolut begrenzt. Jede Potentialität (der Gestaltung und von möglichen Handlungen) wird durch den Tod nivelliert, womit er die schlussendliche »Unmöglichkeit meines Könnens« (Wenzler 2003: 73) markiert. Der Tod ist die sichere Zukunft, die jedem droht, aber noch nicht eingetreten ist. Er ist nicht kontrollierbar, er tritt von außen auf uns zu und ist unausweichlich. Es ist die noch vorhandene Möglichkeit des Vermögens, wenn die Unmöglichkeit des Könnens, des Vermögens gerade noch nicht eingetroffen ist, wodurch die Passivität des (eigenen) Daseins, das sich noch selbst verwirklichen kann, gar muss oder vielmehr darf, zum Vorschein kommt (vgl. Casper 2009: 23f). »Die Tatsache, dass er [der Tod] jede Gegenwart flieht, rührt nicht von unserer Flucht vor dem Tode und von einer unverzeihlichen Ablenkung in letzter Stunde her, sondern von der Tatsache, dass der Tod ungreifbar ist, dass er das Ende der Mannhaftigkeit und des Heroismus des Subjekts markiert.« (Lévinas 2003: 44, Herv. dort) Der Andere, in dem Fall der absolute Andere, der Tod, zeigt sich – es ist das Antlitz des Anderen, das ich sehen kann, nicht aus mir selbst und meiner Fähigkeiten heraus, sondern weil er sich sehen lässt, weil er sich präsentiert und in dem Moment gleichzeitig auch in Frage stellt. Das Antlitz des Anderen beunruhigt, hebt mich aus meiner bisher vollständigen Ordnung meines Seins und fordert heraus (vgl. Lévinas 2012: 223). Der Moment der Passivität des Eigenen zeigt sich in dem Moment, da der Andere sich zeigt, mir gegenübertritt und mich konfrontiert. Er kommt vom »unbedingt Abwesenden« (ebd.: 227). Doch seine »Verbindung mit dem absolut Abwesenden, von dem er herkommt, bezeichnet dieses Abwesende nicht, enthüllt es nicht« (ebd.: 227, Herv. dort). Gleichzeitig ruft der Andere mich an, präsentiert sich, fordert zur Antwort auf, stellt in Frage und sucht heim. Das Antlitz des Anderen entwaffnet und reißt das in sich ruhend gedachte Bewusstsein aus seiner Stabilität heraus: »das ich verliert die unumschränkte

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Koinzidenz mit sich, seine Identifikation, durch die das Bewusstsein siegreich auf sich zurückkommt, um in sich selbst zu ruhen« (ebd.: 224). In dem Moment, da der Andere mir gegenübertritt, stellt sich schon die Frage: was ich nun tun würde? Wie ich re-agieren würde. Aus meiner Passivität heraus werde ich allein in der Angesicht-zu-Angesicht-Präsenz zur Antwort aufgefordert: dazu aufgefordert mich zu ver-antworten. Lévinas’ Beispiel des geteilten Brotes, konkretisiert die Frage, die sich durch die Konfrontation des Anderen ergibt, die nur potenziell gestellt werden könnte, bereits aber antizipiert wird: Kann ich ein Stück von deinem Brot haben? In Lévinas Beispiel geht es nicht darum, ob die Frage des Teilens gestellt wird. Sie könnte potenziell gestellt werden und allein daher bin ich schon dazu aufgefordert zu antworten und zu entscheiden, ob der eigene Hunger womöglich in Kauf genommen werden kann, könnte, sollte oder möchte. Lévinas spitz das Gedankenexperiment ins Extreme zu: so geht es letztlich nicht nur um ein Stück Brot. Es geht um Leben und Tod: »Angesichts des Anderen eröffnet sich für das ›vitale Interesse‹ des Subjekts nach Selbsterhaltung – ad extremum – die Alternative, den Anderen zu töten oder sich für den anderen zu opfern, den anderen oder sich selbst zu negieren.« (Hermes 1998: 83). Der Andere tritt von außen auf mich zu und erschüttert die egologische Ordnung (vgl. Pepererzak 1993: 19). Nicht das Ich hat Zugriff auf die Welt in deren Zentrum es glaubte bislang zu stehen, von sich im Zentrum es die Welt rund herum bisher (aktiv) erfasste: die Welt selbst hat Zugriff auf das Ich, auf mich: Das Ich steht der Welt zur Verfügung (vgl. ebd.: 25). Die Relation des Ich und des Anderen ist demnach nie völlig neutral. Heidegger folgend ist dieses Verhältnis immer schon räumlich Vorhanden und Eingebunden, geht gleichzeitig aber bereits über Heideggers Mitdasein hinaus (vgl. Hermes 1993: 84 und Heidegger 1977: 157f). Auf die potenzielle und implizierte Frage des Anderen nicht zu antworten, bleibt bei Lévinas keine Option, denn die Indifferenz und das Nicht-handeln macht das Ich schon zum potenziellen Komplizen des Todes (vgl. Hermes 1998: 84). Die Aufforderung zur Antwort im Moment der Not des Anderen, macht mich verantwortlich: das Antlitz des Anderen fordert zur Ver-Antwortung auf. Dies macht mich in dem Moment in jener Verantwortung gegenüber dem Anderen schon solidarisch ihm gegenüber (vgl. Lévinas 2012: 224f). Und nicht nur dem einen Anderen, sondern auch dem Nächsten, denn: »Dem Anderen bin ich ganz und gar verantwortlich, zugleich mit dem Anderen ist jedoch immer schon der Dritte, sind nämlich alle Anderen im Spiel.« (Hermes 1998: 90, Herv. dort). Denn neben dem ›ersten‹ Anderen, steht der Nächste, der Dritte nach ihm, dem gegenüber ich mich nicht weniger verantworten muss, der nicht weniger eine Antwort fordert, sich potenziell präsentiert und erneut das Ich aus dem in-sich-ruhen reißt (vgl. Peperzak 1993: 31). Indem ich mich der Verantwortung gegenüber dem Anderen unterwerfe, wird das Ich zum Subjekt: »As such, in the confrontation with death, both time and subjectivity begin […] It is as such that the presence of the face is ethical, and it is as such that the intervention of the other is the founding not only of a subject, but also an ethical subject« (Fryer 2004: 38f). Mit der Wendung vom Anderen auszugehen, formuliert Lévinas seine Kritik an der egozentrischen Perspektive, die stets zuerst vom vorhandenen Subjekt aus denkt und ihre Welt aus der Wahrnehmbarkeit eben jenes Subjekts heraus erfasst. Erst durch die potenziell unendliche Anforderung durch den Anderen, die erst in dem Moment der Begegnung erfolgt und in diesem gleichzeitig die eigene Begrenztheit deutlich und erfahrbar

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macht, leitet sich die Unterwerfung des Subjekts ab: es kann sich dieser überwältigenden Aufforderung durch die Anderen nicht entziehen, ihr gleichzeitig aber auch unmöglich jemals gerecht werden. Dies erlebt das Ich kontinuierlich fort, bis zu dem Moment in dem der Tod die schlussendliche »Unmöglichkeit des eigenen Könnens« (Wenzler 2003: 73) mit sich bringt. Das Ich ist also in einem Prozess des ständigen Werdens begriffen und wandelt sich fortwährend: es ist nie dasselbe Ich wie zuvor und nicht dasselbe wie danach. Gleichzeitig wird man aber auch kein Anderer: man bleibt immer ›man selbst‹, das ›eigenes Selbst‹ und ›ich selbst‹ – das Selbst des Eigenen ist also auch in der ständigen Wandlung mit einbegriffen (vgl. Gondek/Tengely 2011: 126): »Das Ich ist identisch bis in die Veränderung hinein« (Lévinas: 2016: 25, 40). Das Ich ist nie aus sich heraus, nie in sich ruhend gegeben: Es existiert nicht aus einer eigenen inneren Quelle heraus: »Das Ich ist nicht ein Wesen, das immer dasselbe bleibt, sondern dasjenige Seiende, dessen Existieren darin besteht, sich zu identifizieren, seine Identität durch alle Begegnisse hindurch wiederzufinden« (Lévinas, 2016: 40). Das Ich, das Selbe des Eigenen, das sich ständig wandelt, kommt nicht von sich heraus, ist nicht in sich ruhend, sondern wird ständig über den Gegensatz des Anderen generiert, geformt und geschöpft: es wird beständig neu in der Asymmetrie mit dem Anderen hervorgebracht, sieht sich immer dem Gegenüber ausgesetzt und begreift sich in der Differenz von dem Anderen als Selbst: »existieren heißt differieren« (Tarde 2015: 71). Nicht nur gegenübereinander, vieler Anderer, sondern ebenso gegenüber dem ›Selben wie zuvor‹, dem vergangenen Ich ist das Ich zur Ver-Antwortung aufgefordert. Es geht also nicht um eine einmalige Subjektivierung des Eigenen Ichs, das durch die (Auf-)Forderung des Anderen einmal hervorgebracht würde: Der Prozess ist nie abgeschlossen und endet erst in der Begegnung mit dem absoluten Anderen, dem Tod, der jede Potenzialität des eigenen Vermögens und der eigenen Möglichkeiten nivelliert. Die Affektivität des Eigenen, durch den Einbruch des Anderen, der durch sein Erscheinen, die Konfrontation, das Zeigen des Antlitzes, überhaupt erst zu Aktion, zur Re-Aktion auffordert, ist bei Lévinas immer durch die eigene Passivität gekennzeichnet. Dabei handelt es sich »um eine Passivität, die ursprünglicher ist als die Passivität einer passio im Sinne des Erleidens einer Einwirkung oder auch im Sinne einer Leidenschaft« (Gondek/Tengely 2011: 116). Es ist eine Passivität, die passiver ist als die Passivität des Erleidens (vgl. ebd.: 130). Dabei umfasst eben jene Affektivität des Eigenen, das Erleidens in Passivität, eine Reihe von affektiven Zuständen und Grundhaltungen: »vom ›…wider Willen‹ an über die Müdigkeit, die Geduld und das Aushalten des Alterns hinweg bis zur Verwundbarkeit als einer Verletzbarkeit im Genuss« (ebd.). Diese Gefühle und affektiven Grundhaltungen sind bei Lévinas »Zeugnisse eines unvordenklichen Einbruchs der Andersheit in die Selbstheit« (ebd.). Der Einbruch des Anderen in die Ordnung des Selbst, wird bei Lévinas zu einem »der-Andere-in-mir« (Lévinas 2011: 278) gewendet: »Als an-archische Befreiung tritt sie hervor, schon unter Anklage – ohne sich zu tragen, ohne in einem Anfang umzuschlagen – in der Nicht-Übereinstimmung mit sich selbst; sie tritt hervor, ohne sich zu tragen, das heißt im Ertragen der Sensibilität über ihre Fähigkeit zu ertragen hinaus – womit das Leiden und die Verwundbarkeit des Sinnlichen beschrieben ist als der-Andere-in-mir. Der-Andere-in-mir und in dem genau, worin ich meine Identität habe – als Selbstheit, die in ihrer Rückkehr zu sich selbst nicht mehr zu

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sich selbst paßt: die Selbstanklage des Gewissensbisses wäre das, was am geschlossenen und harten Kern des Bewußtseins nagte – du zwar bis zur Öffnung, bis zur Spaltung – an jenem Kern des Bewußtseins, in dem sich stets die Gleichheit und Ausgewogenheit zwischen dem Trauma und dem Akt wieder einstellt […].« (Lévinas 2011: 278, Herv. dort) Durch den Moment des Anderen-in-Mir entsteht besonders im Moment größter Not ein Für-Den-Anderen und in dem Leid ein Mit-Er-Leiden Durch-den-Anderen: wodurch die Ver-Antwortung unausweichlich wird: »Im Leiden durch die Schuld des Anderen ragt schon das Leiden für die Schuld des Anderen – das Er-tragen – empor: das Für-den-Anderen wahrt so völlig die durch den Anderen auferlegte Geduld des Erduldens« (ebd., Herv. dort). Dies ist bei Lévinas dann der Moment, wenn die Sorge um sich selbst hinter der Sorge um und für den Anderen zurücktritt, indem er einen Moment der Heiligkeit erkennt (vgl. Lévinas 2006: 173): »Unsere Menschlichkeit besteht darin, dass wir den Vorrang des Anderen anerkennen können« (ebd.). Denn schon »die Sprache wendet sich immer dem Anderen zu, so als ob man nicht denken könnte, ohne sich bereits um den Anderen zu sorgen« (ebd.). Dass ich mich selbst im ständigen Wandeln meiner Selbst und Identität immerzu doch wieder selbst erkennen kann, liegt für Lévinas nicht darin begründet, dass ich ein ›selbst‹ besäße, das sich immer wieder aus sich selbst heraus erneuerte oder realisierte: mir wohnt keine in sich ruhende Kraft inne, die mich zu mir selbst zurück finden ließe. Es ist die ständige Begegnung und das Antlitz des Anderen, wodurch ich zur ständigen Selbst-Ver-Antwortung aufgefordert werden: einer Anrufung, der ich mich nicht entziehen kann, die folglich immer wieder die Unterwerfung und mein Subjektwerden nach sich zieht. Dass ich mich selbst in mir wiedererkennen kann, liegt daran, dass auch das vergangene Ich mir als Anderes gegenübertritt, gegenüber dem ich mich auch zur VerAntwortung aufgefordert sehe. Es ist das Mit-Leidens, des Für-Leidens, des Er-Leidens aus dem sich das Subjekt heraus bildet, wodurch sich, wenn wir an der Stelle Lévinas mit Lacan ergänzen, ein Moment des Traumas, der Verletzung ergibt, aus dem heraus sich das Subjekt bildet.

4.2 Die Entrückung des Subjekts Ein Kernproblem der egologischen Perspektive ist die Annahme eines bereits vorhandenen, in sich ruhenden Subjekts, das die Fähigkeit besitzt Dinge ›verstehen‹ zu können. Schon in den vorausgegangenen Erläuterungen wird diese Annahme als besonders voraussetzungsvoll kritisiert: damit Webers Soziologie funktionieren kann, muss schon davon ausgegangen werden, dass ein jedes (menschliches) Wesen potenziell fähig ist ein anderes zu verstehen. Nur so kann eine intersubjektive Soziologie Erklärungen für soziale Phänomene liefern. Durch die folgenden drei Ansätze wird diese Annahme und der Anspruch des denkenden Subjekts dekonstruiert. Durch Jaques Lacans Arbeit zum Spiegelstadium wird das Subjekt nicht als Gegebenheit, sondern Gewordenheit begreifbar und durch Sigmund Freuds Arbeit zum Unheimlichen und Julia Kristevas Anschluss dar-

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an, das Subjekt aus der Position des ›in sich Ruhens‹ entrückt und in der Folge verunsichert.

4.2.1 Jaques Lacan über das fragmentierte Subjekt Im Spiegelstadium erläutert Lacan die Entstehung eines Sinns für das eigene Selbst (vgl. Fryer 2004: 49f). In jenem Stadium erkennt das Kind sich im Spiegel, wird konfrontiert, durch das Spiegelbild, mit der Idee seiner körperlichen Einheit, was zunächst Freude hervorruft, im gleichen Atemzug das Kind aber die eigene Uneinheit erfahren lässt und es den eigenen zerstückelten Körper (fragmented body) erkennt (vgl. ebd.: 56f). Bevor das Kind in das Spiegelstadium eintritt, ein Bild von Einheit im Spiegel erkennt, erscheint die Welt für das Kind wie lediglich eine Unmenge verschiedenster Impulse, Eindrücke. Es kennt keine Ideen, keine Konzepte und kann nicht zwischen sich selbst und seiner Umwelt unterschieden, es kennt keine Dualismen, kein Subjekt oder Objekt. Lacan nennt dies das Reale und meint damit weder Realität noch Wirklichkeit. Realität wird über Sprache (Symbolisches), die bereits nicht mehr Teil des Realen ist, konstruiert. Daher ist Realität vom Realen zu trennen bei Lacan. Das Reale ist der Sprache vorangestellt. Das Reale erfasst den Moment, noch ehe das Kind gelernt hat zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden, noch ehe es zwischen einem Innen und Außen differenzieren kann, noch ehe es eine Trennung von Subjekt und Objekt kennen lernt (vgl. ebd.: 52). Auf das Reale folgt das Imaginäre. Hier verortet Lacan das Spiegelstadium. Auf das Imaginäre Stadium folgt das Symbolische, wenn das Kind die soziale Ordnung und Strukturen erlernt (vgl. ebd.: 52f). Von der Geburt bis zum Spiegelstadium nimmt das Kind sich selbst mit der Mutter als ›eine Einheit‹ wahr. Es kann nicht zwischen sich – einem eigenen Selbst – und der Mutter als anderer Entität unterscheiden (vgl. Sarup 1993: 22). Im Spiegelstadium erkennt das Kind noch die Einheit mit der Mutter, die fortan als ›Soll‹-Zustand erinnert wird. Während des Spiegelstadiums erfährt das Kind den Bruch dieser Einheit: Das Subjekt bei Lacan ist das Ergebnis dieses Bruchs. Das Subjekt entsteht in der Reaktion auf die Erfahrung des Bruchs, der als Verletzung erfahren wird. Durch die Konfrontation mit dem Anderen – in Figur des Vaters – erlebt das Kind den Bruch der bis dato angenommenen Mutter-Kind-Einheit. Das Subjekt wird in dem Moment in der Zuschreibung durch den Anderen (in dem Erkennen der Differenz zwischen sich selbst und den Anderen, Dritten, dem Bruch zwischen sich und der Mutter) herausgebildet und ist eine notwendige Konsequenz aus der Verletzung (vgl. ebd.: 13f). Ebenso wie wir bereits bei Lévinas gesehen haben, entsteht das Subjekt auch bei Lacan erst in der Begegnung mit dem Anderen. Das Selbst oder Ich ist doch nicht von vornherein gegeben. Vor der Begegnung mit dem Anderen ist das Subjekt noch nicht vorhanden.4 In dieser Begegnung mit dem Anderen, die das Subjekt erst entstehen lässt, ist schon eine Verbindung eingebettet: es besteht bereits eine Wechselwirkung und Relation, in der das Subjekt als Reaktion auf den Anderen begriffen wird. Das Subjekt ist dem Anderen immer schon zugewendet (vgl. Fryer 2004: 32ff). 4

Bei Lévinas ist der der Andere, der sein Antlitz zeigt oder der Tod, der als absoluter Anderer unausweichlich ist. Bei Lacan erscheint der Andere in der Figur des Vaters.

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Während bei Lévinas die Einheit des Ichs erhalten bleibt und das Subjekt durch die Begegnung hervorgebracht wird, entsteht bei Lacan das Subjekt erst durch eine Trennung: durch den Bruch der imaginierten Einheit. Bei Lacan erfährt sich das Subjekt also als immer schon unvollständig, woraus sich wiederum der inhärente Wunsch nach Vervollständigung ableiten lässt (vgl. ebd.: 43f). In dieser Konstellation erzeugt die Verletzung durch den Bruch und die erfahrene Unvollständigkeit ein Begehren (desire), das das Subjekt dazu antreibt in Bezug zu anderen zu treten: die Unvollständigkeit wieder aufzuheben, abzumildern. Der Wunsch zur Wieder-Vervollständigung wird zum Antrieb. Das Trauma bei Lacan, das das Subjekt hervorbringt, wird durch die freud’sche Perspektive sexualisiert gelesen. In einem übertragenen Sinne kann dieser Verlust der Einheit und Vollständigkeit auch als eine erste Differenzerfahrung interpretiert werden. Das Trauma wird auf etwas (nun) Fehlendes bezogen und das Fehlende bezieht sich nicht etwa auf etwas, das zuvor vorhanden gewesen wäre (eine Einheit, die in die Brüche gegangen ist), sondern auf das Erkennen einer Differenz zwischen mir und dem Anderen: eine Differenz, die zunächst nicht näher bestimmt werden muss, durch die Ich den Anderen von mir selbst unterscheiden kann. Die Differenz als das Trennende bringt mit sich auch die Möglichkeit der Verbindung: nur etwas, das getrennt ist, kann (wieder) verbunden werden, woraus sich Motivation, Begierde und Begehren ableiten lässt. Lacan und Lévinas ermöglichen also eine Motivation zum Handeln herzuleiten, die nicht auf eine Motivationsquellen angewiesen ist, die von vornherein angelegt wäre. Nicht etwas, das den Entitäten eingeschrieben sein muss und nicht aus sich selbst heraus wird Motivation zum Handeln damit erklärbar: durch die Verschiebung der Perspektive fort vom Ego und hin zur Differenz, wird die Differenz zum Anderen die Motivation zur Bedingung.

4.2.2 Sigmund Freud über das Unheimliche Das Fremde ist das Andere, ist gleichzeitig auch das Bedrohliche und das Angsteinflößende, das beunruhigt und das Ego aus dem Zustand des ›in-sich-Ruhens‹ herausdrängt: das Fremde erscheint uns scheinbar stets in Begleitung eines Unheimlichen. Mittels Sigmund Freuds Arbeit zum Unheimlichen lässt sich dieser Zusammenhang ausarbeiten und die enge Verzahnung zwischen dem Fremde und dem Eigenen stärker herausstellen. In seinen Ausführungen über das Unheimliche von 1919 bezieht sich Sigmund Freud auf E.T.A. Hoffmans Schauerroman Der Sandmann von 1816 und E. Jentsch Studien zur Psychologie des Unheimlichen (1906). Das Werk Hoffmans wird analysiert und interpretiert: Freud erkennt in der literarischen Verarbeitung wiederkehrende Motive, die auf eine künstlerische Übersetzung des Unheimlichen hindeuten. Freud beginnt seine Ausführungen mit einer Klärung des Unheimlichen: Das Unheimliche bei Freud gehört »zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden« (Freud 1919: 1). Obgleich das Angsterregende im allgemeinen Sprachgebrauch oft mit dem Unheimlichen synonymisch verwendet wird, betont Freud die Wichtigkeit einer genauen Unterscheidung beider Begriffe: »das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.« (Ebd.). Das Unheimliche kann zwar angsterregend sein, aber nicht alles Angsterregende ist direkt unheimlich. Nur das

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Angsterregende, das auf das Schreckhafte im Altbekannten und auf etwas Längstvertrautes zurückverweise, könne als das Unheimliche bezeichnet werden. Freud verweist in dem Zuge auf die etymologische Wurzel des Begriffs: im Unheimlichen steckte bereits sein eigener Gegensatz des Heimischen (vgl. ebd.). Es ist »heimlich, heimisch, vertraut« (ebd.). Es sei ein Trugschluss, wenn das Unheimliche mit dem Unbekannten und Unvertrauten assoziiert werden, vielmehr sei es gerade das Altbekannte und Vertraute, das das Unheimliche so unheimlich erscheinen ließe. Ebenso wie nicht alles Neues und Unbekanntes direkt angsterregend und erschreckend sein müsste, muss nicht alles Anvertraute und Bekannte unheimlich sein. Die einzelnen Elemente gehen nicht zwingend Hand in Hand, sie bedingen einander nicht unbedingt, sie schließen einander allerdings auch nicht aus. So stehen das Heimliche und das Unheimliche einander nicht etwa als Gegensätze gegenüber, die Beziehung sei vielmehr als eine zu beschreiben, die von besonderer Ambivalenz geprägt ist: »Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich« (ebd.: 2). Das Unheimliche ist das, was als Geheimnis hätte im Verborgenen bleiben sollen und nun doch hervorgetreten ist: sichtbar wurde (vgl. ebd.). In seinen weiteren Ausführungen befasst sich Freud mit den ästhetischen Übersetzungen des Unheimlichen und arbeitet unterschiedliche Motive hervor, die u.a. E.T.A. Hoffmann zur Darstellung des Unheimlichen nutzte. Diese verbindet Freud wiederum mit seiner Psychoanalyse. Das Motiv der Erblindung bei E.T.A. Hoffmanns Sandmann verbindet Freud mit der Kastrationsangst. In der Traumdeutung steht die Angst vor dem Erblinden, also das Zerstören des Augenlichts als Ersatz für die eigentlich erlebte Kastrationsangst (vgl. ebd.: 3). Das Erblinden bedeutet in dem Kontext die Unfähigkeit die (Um-)Welt zu erfassen, sie wahrzunehmen, sich mit ihr auseinanderzusetzen und auf sie einzuwirken. Der Verlust des Augenlichts kann auch mit dem Gedanken der »Unmöglichkeit des eigenen Könnens« (Wenzler 2003: 73) und damit dem absolut Anderen, der Figur des Todes bei Lévinas in Verbindung gebracht werden: das eigene Unvermögen wird verdeutlicht. Freud selbst verweist in dem Zuge auf die Selbstblendung des Ödipus als Ermäßigung für dessen Strafe der Kastration. Andere Motive, denen eine Element des Unheimlichen innewohnt, erkennt Freud u.a. im Werk von O. Ranks Doppelgänger von 1914. Die Figur des Doppelgängers soll »eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs« (Freud 1919: 5) darstellen. Dem Doppelgänger liegt also ein Element des Narzissmus inne, das sich gegen das eigene Ich wendet, indem es »der Selbstbeobachtung und Selbstkritik« (ebd.: 6) dient und in der Folge unheimlich erscheint: Der Doppelgänger tritt dem Ich als Altbekanntes und Längstvertrautes gegenüber und eröffnet in dem Zuge einen Zugang zum Heimlichen (des Ichs): auch das Heimliche wird nun offengelegt. Ein drittes Motiv der literarischen Übersetzung des Unheimlichen findet Freud in den (unbeabsichtigten, zufälligen) Wiederholungen und der Neigung des menschlichen Geistes Muster zu suchen und vermeintlich zu erkennen, denen dann Bedeutung eingeschrieben wird (vgl. ebd.: 6f). Er verdeutlicht dies am Beispiel der zunächst zufälligen Zahl 62 des Kleiderscheins der Garderobe. Nun stelle man sich vor, diese Zahl begegnete einem wiederholt im Laufe des Tages in unterschiedlichen Situationen, wie dem zugewiesenen Hotelzimmer oder im Zusatz von Adressen. Die ständige Wiederholung der immerzu gleichen Zahl, führte unweigerlich dazu, dass ihr eine (geheime) Bedeutung

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zugeschrieben werde (insbesondere, wenn man nicht gänzlich gegen Aberglauben gefeit sei): so könnte die Wiederkehrende Zahl als »ein Hinweis auf das […] bestimmte Lebensalter« (ebd.: 6) interpretiert werden. Dem Unheimlichen liegt immer schon etwas Bekanntes inne, etwas, das uns vertraut erscheint: das Altbekannte wird in Freuds Analysen gar zu einer Bedingung des Unheimlichen, wie am Beispiel der Puppe Olimpia aus dem Schauerroman Hoffmanns deutlich wird. Die Puppe erscheint nur deswegen unheimlich, weil sie lebensecht wirkt, weil sie scheinbar lebendig ist, den Anschein von echter Menschlichkeit erweckt, obgleich sie das nicht ist: nicht lebendig, nicht menschlich (vgl. ebd.: 8). Auch dem Wahnsinn des Protagonisten Nathanael, der als Entfremdung vom Selbst als irgendwie anders erscheint, wohnt das Altvertraute, das Längstbekannte inne, das in dem Prozess einer Veränderung eine Verschiebung erfährt und den Charakter plötzlich nicht mehr derselbe sein lässt: Es ist das Altbekannte, das Anvertraute, das trotz allem vermeintlich noch in der Person gesehen wird, das diesen Wahn zu etwas Unheimlichen werden lässt. Das »Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdens, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist. […] Das Unheimliche [ist] etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.« (Ebd.). Das Unheimliche finden wir also dort, wo genug Bezüge zum Eigenen erkennbar sind, wo noch genug Ähnlichkeit und genug des Gewohnten erkannt werden können. Es sind diese Ähnlichkeiten und diese Spuren des Bekannten, das, was verdrängt und durch Veränderungsprozesse entfremdet wurde, die im Motiv der Wiederkehrung, einer Wiederholung, zurückkommen und sich in der Gestalt des Unheimlichen und Angsterregenden präsentieren. Ein Beispiel hierfür ist für Freud die Idee der Wiederkehr der Toten. Die Angst vor der Wiederkehr der Toten und der Konfrontation mit dem absolut Anderen durch viele Religionen moderiert, indem dieser Moment des absolut Unheimlichen mit einer Idee des ewigen Lebens nach dem Tode abgeschwächt wird: Es kommt etwas danach, es geht danach weiter, nur nicht mehr hier im Diesseits, sondern anderswo. Anschließend an diese Überlegungen verweist Freud auf die Angst davor lebendig begrabe zu werden: »manche Menschen würden die Krone der Unheimlichkeit der Vorstellung zuweisen, scheintot begraben zu werden« (ebd.: 10). Auch hier sieht Freud ein Motiv der Wiederholung und Wiederkehr. In der Idee des lebendigen Begrabenwerdens erkennt Freud die Wiederkehr etwas Altbekannten: »nämlich die Fantasie vom Leben im Mutterleib« (ebd.). Das Unheimliche ist für Freud etwas, das wiederkehrt: etwas, das heimisch und altbekannt ist, das verdrängt und versteckt wurde, zu einem Geheimnis wurde, das in irgendeiner Weise (verändert) zurückkehrt und in dem noch genug des Altbekannten erkennbar ist, dass es unheimlich erscheint. Das Unheimliche muss für Freud nicht zwingend etwas Verdrängtes sein. Auch etwas, das ver- und bearbeitet wurde und eigentlich überwunden wurde, kann als etwas Unheimliches zurückkehren. Als Beispiel hierfür führt Freud alte, überholte Denkweisen und abgelegte Überzeugungen an, die eigentlich längst durch neuere ersetzt wurden, die jederzeit aber wiederkehren können und uns verunsichern, besonders wenn wir uns in den neuen Denkweisen noch nicht ganz sicher fühlen (vgl. ebd.: 12). Für Freud bedeutet ein Überwinden alter Denkweisen nicht ihr völliges ablegen: Elemente aus ihnen

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überdauern, »leben noch in uns fort und lauern auf Bestätigung« (ebd.) und können uns immer wieder in unheimlicher Weise wieder einholen. Freud unterscheidet in seinen Untersuchungen die Fiktion des Unheimlichen vom tatsächlichen Erleben des Unheimlichen. In der Fiktion können die Motive, denen das Potenzial des Unheimlichen innewohnt, wie dem Scheintod, dem Doppelgänger oder Animismus, in einer Weise kontextualisiert und eingebunden werden, die ihnen das Potenzial des Unheimlichen nimmt, indem sie beispielsweise in komischer, amüsanter, belustigender Weise eingebunden werden. Damit die Motive des Unheimlichen auch wirklich als unheimlich erlebt werden, ist eine stärkere Einbindung des verdrängten Altbekannten notwendig: »Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen« (ebd.). An Freuds Arbeiten zum Unheimlichen setzt die Philosophin Julia Kristeva an und arbeitet die Verschränkungen des Unheimlichen, des Heimlichen, des Eigenen und Fremden intensiver heraus. Der Bogen zwischen dem Unheimlichen und Fremden kann im deutschen Sprachgebrauch über innenliegende Bedeutungszusammenhänge untermauert werden: dem Unheimlichen wohnt der Begriff des Heimlichen inne. Und das Heimliche beinhaltet bereits den Begriff des Heims.

4.2.3 Albert Camus und Julia Kristeva über das Fremde im Eigenen Wenn Kristeva davon spricht, dass Fremde wir uns selbst sind, spricht sie von einem Teil des Ichs, der abgespalten, verdrängt und ins Unterbewusste verbannt worden ist. Ein Teil, der uns, wenn er an die Oberfläche tritt, fremd und unheimlich erscheint, obwohl dieser Teil schon immer ein Teil unserer Selbst war. Kristeva schließt sich an Freuds Verständnis des ›Unheimlichen‹ an: das, was uns unheimlich erscheint, ist deswegen unheimlich, weil etwas Vertrautes mitschwingt. Das Heimliche, das im Unheimlichen steckt, enthält etwas Vertrautes, etwas gar Intimes (vgl. Kristeva 1990: 199): »Was unheimlich ist, wäre also das, was vertraut gewesen ist (man beachte die Vergangenheit) und unter bestimmten Bedingungen […] hervortritt« (ebd.). Dieser verdeckte, versteckte und verdrängte Teil des Eigenen wird auf den Anderen, einen Gegenüber projiziert, in dem wir etwas Fremdes erkennen. Dieses Antlitz ist bei Kristeva also nur ein »verzerrtes Abbild des verdeckten Eigenen und ist demnach das Ergebnis der entstellenden Arbeit der Projektion, die ihre Ursache in unserer eigenen Gespaltenheit hat« (MüllerFunk 2016: 89). Ein weiteres Beispiel für die enge Verzahnung des Fremden und Eigenen lässt sich im Erstlingswerk des Philosophen und Schriftsteller Albert Camus zeigen: L’Étranger wurde 1924 veröffentlicht. Im Roman begegnet uns der Algerienfranzose Meursault als Protagonist, der die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt. Im Verlauft der Geschichte tötet Meursault einen Araber, wird verhaftet, verhört und wegen Mordes verurteilt. Charakteristisch für den Protagonisten ist die emotionslose, gleichgültige Erzählweise, mit der wir Lesenden durch die Ereignisse geführt werden. Unaufgeregt, teils teilnahmslos und gleichgültig beschreibt Meursault die Geschehnisse. Motive für seine Handlungen erfahren wir nicht. Er wirkt phlegmatisch, antriebslos und indifferent gegenüber sich selbst, der Welt, den anderen Menschen darin und dem, was passiert. Das, was passiert, nimmt

4 Vom Anderen her das Subjekt beunruhigen

er als gegeben hin, akzeptiert es ohne Wertung oder Widerstand. Eine Reihenfolge von Ereignissen führt schließlich dazu, dass Meursault einen Menschen erschießt: »Ich war ganz und gar angespannt, und meine Hand umkrallte den Revolver. Der Hahn löste sich, ich berührte den Kolben, und mit hartem, betäubendem Krachen nahm alles seinen Anfang. Ich schüttelte Schweiß und Sonne ab. Ich begriff, daß ich das Gleichgewicht des Tages, das ungewöhnliche Schweigen eines Strandes zerstört hatte, an dem ich glücklich gewesen war. Dann schoß ich noch viermal auf einen leblosen Körper, in den die Kugeln eindrangen, ohne daß man es sah. Und es waren gleichsam vier kurze Schläge an das Tor des Unheils.« (Camus 1983: 48) In einem späteren Verhör fragt ein Richter Meursault, warum er nach dem ersten Schuss noch vier weitere Male geschossen hätte. Meursault beantwortet die Frage nicht. Als der Richter von Meursault keine Antwort erhält, wird er zunehmend aufgeregt, unruhig und reagiert aufgebracht: »Der Richter strich sich mit den Händen über die Stirn und wiederholte seine Frage etwas lauter. ›Warum? Das müssen Sie mir sagen! Warum?‹ Ich schwieg immer noch.« (Camus 1983: 52) Im Gespräch zeigt der Richter deutliche Emotion und Erregtheit, während Meursault im Kontrast gleichmütig bleibt: in seiner Erzählweise des Geschehens behält er immerzu die gleiche sachliche Ruhe, Kontinuität und unberührte Gleichmütigkeit. »Er [der Richter] murmelte: ›Noch nie habe ich einen so verstockten Menschen erlebt wie Sie. Die Verbrecher, die hier vor mir gestanden haben, sind vor diesem Bild des Schmerzes immer in Tränen ausgebrochen.‹ Ich wollte antworten: eben weil es sich um Verbrecher gehandelt habe. Aber mir fiel ein, daß ich ja auch einer war. Mit diesem Gedanken konnte ich nicht fertig werden. Dann stand der Richter auf, als wollte er mir zu verstehen geben, daß das Verhör beendet sei. Er fragte mich nur noch mit demselben etwas müden Gesicht, ob ich meine Tat bereue. Ich überlegte und sagte, daß ich eher als echte Reue eine gewisse Langeweile empfände. Ich hatte den Eindruck, daß er mich nicht verstand.« (Camus 1983: 53) Der Mord an dem Araber, über den wir als Lesende nicht mehr erfahren, bildet den Wendepunkt im zweitgeteilten Werk L’Étranger. Während im ersten Teil die Ereignisse bis hin zum Mord erzählt werden, setzt der zweite Teil mit dem Verhör an und endet mit einem Wutanfall Meursaults im Gefängnis. Der Ausbruch führt zur Akzeptanz des nahenden Endes – Todes – dem Meursault nun gelassen und in Ruhe begegnet: »Als hätte dieser große Zorn mich von allem Übel gereinigt und mir alle Hoffnung genommen, wurde ich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt. Als ich empfand, wie ähnlich sie mir war, wie brüderlich, da fühlte ich, daß ich glücklich gewesen war und immer noch glücklich bin.« (Camus 1983: 93f) Der Mord am Araber in der Mitte der Erzählung steht »für ein Absterben von Identität und Identifikation« (Reuter 2010: 162), das lange vor der Tat aber schon stattgefunden hat. Diese (innere) Fremdheit des Protagonisten wird zum Spiegel der (äußeren) Fremd-

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heit seiner Umwelt, wird dabei aber weder als Ausweglosigkeit oder Verzweiflung konnotiert, sondern in gleichmütiger Akzeptanz und der Gegebenheiten hingenommen. Befreit von emotionaler Regung, erscheint der Protagonist ent-fremdet, distanziert und selbst in Momenten unmittelbarer Ko-Präsenz, irgendwie fern. Erst der Wutanfall am Ende lässt ihn (wieder) »empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt« (Camus 1983: 94) werden. Was Meursault erlebt, beschreibt die Psychoanalytikerin und Philosophin Julia Kristeva als eine, durch ein inneres Exil bedingte Fremdheit (vgl. Kristeva 1990: 35). Etwas, das sich in Gleichgültigkeit äußert, die den Protagonisten von seinem Umfeld trennt und Beziehung und Bezugnahme ver- und behindert. Wir sehen die Darstellung einer inneren wie äußeren Fremdheit, die, in Kristevas Interpretation, nur zur Vereinzelung von Fremden führen kann, die (Be-)Gründung von etwas Neuem gleichzeitig, aber auch unmöglich macht (vgl. Kristeva 1990: 38). Weder den Lesenden noch den anderen Charakteren in der Erzählung werden Meursaults Motive für seine Handlungen jemals offenbart. Etwas, das bei dem Richter während des Verhörs zu Beginn des zweiten Teils der Erzählung zu offenkundig zunehmender Frustration führt. Meursault scheint nicht nur (sozialen) Erwartungen Anderer in seinem Umfeld nicht entgegenzukommen, er verwehrt ihnen auch das Verstehen seiner Handlungen: Er nennt keine Motive oder Beweggründe, die im Schema sozialer Erwartungssysteme eingeordnet hätten werden können. Hier wird in Camus’ Werk ein essenzielles Element des Fremden deutlich sichtbar: Der Fremde entzieht sich kontinuierlich jeder Form des Erfassens oder Greifbarmachens und Verstehens. Wie viele Wissenschaftler:innen, die sich mit Fremdheit und Figuren des Fremden beschäftigen, bezieht sich auch die Soziologin Julia Reuter in ihren Arbeiten über den Fremden auf Camus’ Werk. Für Reuter handelt es sich bei der Gestalt des Meursaults nicht um einen Sonder- oder Einzelfall. Diese sonderbare Fremdheit müsse vielmehr als alltäglicher, ständiger Normalfall betrachtet werden (vgl. Reuter 2010: 162). Wenn moderne Gesellschaften etwas hervorbringen, dann sind es Fremde. Bei Freud, bei Kristeva und Camus begegnet uns das Eigene als etwas Fremdes, das Fremde wird im Eigenen erkannt, es ist ein (einstiger) Teil des Eigenen. Das Werk Camus’ zeigt eine Fremdheit, die eine Person gegenüber sich selbst erlebt: es zeigt den Verlust von Identität, von einem Ich, einem Sinn, der Bedeutung mit sich bringen könnte. Und es zeigt auch die Verzweiflung, die mit dem Nicht-Verstehen und nicht genannten Motiven einhergeht, die Überforderung, die der Richter erfährt, weil sich das Geschehene seinem Zugriff und Verständnis entzieht. Das Problem ist nicht die Fremdheit, die erst erzeugt und hervorgebracht wird. Das Problem ist nicht der Fremde, in dem sich ein Teil unserer Selbst zeigt: indem wir etwas erkennen, das mehr zu unserem Eigenen gehört, als dass wir etwas bemerkten, das zur Essenz des Fremden, des Anderen gehörte. Der Fremde tritt uns entgegen, er bringt einen verdrängten Teil des Eigenen mit sich, zeigt uns diesen, fordert zum Antworten, zum ver-antworten auf. Der Fremde zeigt uns auch die Grenzen auf: die Grenzen des Eigenen, unsere Grenzen des Verstehens und Verstehen-Könnens: Der Fremde entzieht sich diesem Zugriff, ordnet sich nicht ein oder unter. Er offenbart seine Motive nicht und es ist eine Obsession, der auch die verstehende Soziologie zum Opfer gefallen ist, dass sie ohne diese Motivationen, Bedeutungszusammenhänge hinter dem Handeln nicht mehr weiterkommt, wenn das Verstehen des sozialen Handelns zur Kernaufgabe verstehender Soziologie erklärt wurde. Wenn es darum geht

4 Vom Anderen her das Subjekt beunruhigen

den subjektiv gemeinten Sinn einer Handlung rational-logisch nachzuvollziehen oder zumindest emotional nachzuempfinden und sich das Fremde eben diesem Zugriff entzieht, dann beunruhigt dies.

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5 Eine theoretische Entfremdung von Ausnahmezustand und Homo Sacer

Der Rechtsphilosoph Giorgio Agamben liefert mit seinen Arbeiten eine Reihe von Figuren, Analysen und theoretischen Bearbeitungen, die über die Grenzen der Rechtsphilosophie hinaus Anwendung finden. Die prominente Figur des Homo Sacer bei Agamben ist als die Konsequenz der zunehmenden Verrechtlichung und Produkt der abendländischen Politik zu verstehen (vgl. Agamben 2016: 17). Der Homo Sacer ist eine Figur, deren Spuren bis in die Antike zurückverfolgt werden können. Das Besondere, dem sich Agamben widmet, ist, dass die abendländische Politik neue Homo Sacer produziert und der Ausnahmezustand, in dem der Homo Sacer hervorkommt, nicht etwa Ausnahmeerscheinungen moderner Staatsgewaltpraktiken ist, sondern konstituierend für die Idee einer Souveränität, die in moderne Nationalstaatlichkeit eingebettet wird, ist. Die zunehmende Verrechtlichung des Lebens lässt aus der Ausnahme Normalität werden: Die Figur des Homo Sacer und realpolitische Ausnahmezustände sind keine Extrembeispiele, sondern, ähnlich wie Fremdheit (siehe Kapitel 3.1), allgegenwärtig. Im folgenden Kapitel wird eine Soziologisierung von Agambens Theorien zum Ausnahmezustand und der Figur des Homo Sacer vorgenommen. Zwar werden beispielsweise von FluchtMigrationsforschung Agambens Arbeiten als thematisch verbunden aufgegriffen, doch werden die Inhalte selten über eine reine Aufzählung hinaus in wissenschaftliche Untersuchungen einbezogen. Durch die im Folgenden beispielhaft skizzierte Theoretisierungen, wird das Potenzial der Arbeiten aufgezeigt, das Agambens Werk über disziplinäre Grenzen hinweg mit sich bringt. Orientierungsrahmen für diese Soziologisierung bildet der zu Beginn vorgenommene Entwurf einer Denkweise (siehe Kapitel 1), die den Anspruch hat reduktionistisches Denken zu überwinden. Die Ausarbeitungen zum Fremden und Subjekt aus den Kapiteln 3 und 4 dienen in der Übersetzung und Soziologisierung der ausgewählten theoretischen Figuren Ausnahmezustand und Homo Sacer eine Fokusorientierung. Fremdheit und Subjekt sind prozessual zu denken: d.h. es wird eine Verschiebung im Denken vorgenommen. Statt von dem Fremden oder Fremdheit, wird Entfremung als fortlaufender und konstituierender Prozess betrachtet: Prozesse der Entfremdung bringen Ideen (des Eigenen) überhaupt erst hervor. Auch werden Subjekte nicht als in-sich-ruhend betrachtet. Sub-

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jekte sind nicht aus sich heraus: Sie sind nicht immer schon gegeben. Das, was sich als Subjekt, als Akteur, als scheinbar fixierte Entität zeigt, ist Konsequenz eines Prozesses von Entfremdung: es handelt sich um eine Reaktion (Antwort) auf eine Beunruhigung. Gleichzeitig handelt es sich auch immer historisch betrachtet um eine Entrückung vom vorherigen, ebenso historisch gewordenen, Selbst. In der folgenden Soziologisierung handelt es sich nicht um eine vollständige, ausschöpfende Soziologisierung von Agambens Ausnahmezustand und Homo Sacer. Anhand einzelner Schlaglichter wird die praktische Umsetzung und Nützlichkeit einer an Morins Komplexität und Latours Akteur-Netzwerk-Theorie Vorgehensweise demonstriert. Es wird gezeigt, wie praktisches Theoretisieren und Soziologisieren aussehen könnte. Dabei wird der Fokus auf eine mögliche Vorgehensweise gelegt: andere Vorgehensweisen sind daneben natürlich ebenso denkbar.

5.1 Die deutschsprachige FluchtMigrationsforschung und Giorgio Agamben Agambens Homo Sacer Projekt findet über die Grenzen der Rechtsphilosophie hinaus Anerkennung. Die deutschsprachige FluchtMigrationsforschung bildet an der Stelle keine Ausnahme. Agambens Arbeiten zum Lager, das er als Nomos der Moderne erkennt und insbesondere die Arbeiten zur Figur des Homo Sacer werden durch die deutschsprachige FluchtMigrationsforschung aufgenommen, besprochen und genutzt. Agamben selbst bezeichnet die Figur des Flüchtlings und das Realphänomen Flüchtender als konkrete Realisierungen des Homo Sacer (vgl. Agamben 2001): einer Existenz, die auf das nackte, bloße Leben reduziert wurde und im scheinbar rechtfreien Raum des geltenden Ausnahmezustands eingeschlossen bzw. aus der Rechtsordnung ausgeschlossen ist.

5.1.1

Anwendungen von Homo Sacer und Ausnahmezustand

Das Homo Sacer Projekt, gilt als Hauptwerk des italienischen Philosophen Giorgio Agamben. Das Projekt umfasst insgesamt neun Bücher. Das erste wurde 1995 zuerst publiziert und 2000 unter dem Titel Homo Sacer: die Souveränität der Macht und das nackte Überleben ins Deutsche übersetzt. Es ist Auftakt und gleichzeitig Namensgeber der Reihe. Den Abschluss bildet das Buch Der Gebrauch der Körper, das 2020 in deutscher Übersetzung erschien. In den folgenden Ausführungen liegt der Fokus auf den ersten beiden Veröffentlichungen aus der Reihe: Homo Sacer (2002) und Ausnahmezustand (2004). Agamben ist ausgebildeter Jurist, Philologe und Philosoph (vgl. Geulen 2005: 18). Seine Arbeiten im Homo Sacer Projekt zeichnen sich insbesondere durch ein »untrügliche[s] Gespür für Paradoxa und strukturelle Widersprüche« (Geulen 2005: 17) aus. Agamben liest abendländische Klassiker »gegen den Strich« (ebd.), untersucht in seinen Arbeiten Brüche, Verschiebungen und ist Widersprüchen auf der Spur. Dabei gelingt es ihm gegensätzliche Dynamiken und widersprüchliche Bewegungen aufzunehmen, wodurch sich wiederholt Paradoxe hervorschälen lassen, wenn sich einander eigentlich widersprechende Entwicklungen gerade nicht aufheben oder nivellieren, begradigen oder in

5 Eine theoretische Entfremdung von Ausnahmezustand und Homo Sacer

Konsens auflösen, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit bestehen bleiben und Wirkung entfalten. Agamben lässt Widersprüche, Paradoxe und Brüche in ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit stehen und macht sich nicht auf die Suche einen Weg zu finden diese Widersprüche aufzulösen oder zu beheben: der Fokus seiner Arbeit liegt auf der Untersuchung der Wirkungen und Konsequenzen von Ambivalenzen, Widersprüchen und Paradoxen. In seinen archäologischen Untersuchungen und Dekonstruktionen geht es um die Politisierung des Lebens und die Verschiebung des Lebens zwischen den (imaginierten) Sphären des Politischen, des Philosophischen, des Theologischen und des Rechtlichen. Agambens Denkweise ist von Heidegger, Deleuze, Derrida, Arendt, Foucault, Kafka und Benjamin geprägt (vgl. Geulen 2005: 17f und Agamben 2002, 2004 und 2016). In seinem Werk über den Ausnahmezustand (2004) setzte sich Agamben zudem intensiv und kritisch mit Carl Schmitts Politischer Theologie und Schmitts Verständnis des Souveräns und Ausnahmezustands auseinander. Anschließend an Foucaults Machtanalysen orientiert sich Agamben an den Schwellen der Ordnungen. Agamben verfolgt die Spuren der Politisierung des Lebens und nimmt die Verschiebungen des Lebens innerhalb, durch und vor allem zwischen den (imaginierten) Sphären des Politischen, Philosophischen, Öffentlichen und Privaten und Ontologischen in den Blick. Er konzentriert sich auf das, was an den Grenzen und an der Schwelle zum Vorschein kommt und betrachtet das, was dazwischen passiert: was zwischen Demokratie und Absolutismus, was zwischen und an den Grenzen der Ordnungen passiert, die im Zuge der Nationalstaatsbildung der letzten Jahrhunderte verfassungsrechtlich zunehmend stabilisiert werden sollten. Es geht bei Agamben immer auch um eine »zunehmende Verrechtlichung menschlichen Lebens, [der] die zunehmende Entrechtung von Menschen gegenüber« (Geulen 2005: 11, Herv. hier) steht. In dieser Verrechtlichung des Lebens erkennt Agamben eine Ortlosigkeit des Menschen: »es gibt keinen autonomen Ort für so etwas wie den ›Menschen an sich‹ in der politischen Ordnung des Nationalstaates« (Agamben 2001: 4). Was am Beispiel des Flüchtlings besonders deutlich wird. Der Status des Flüchtlings ist aus Perspektive des Nationalstaates bestenfalls ein vorübergehender: ein Zustand, der Überwunden werden muss. Flüchtlinge setzen sich über die rechtliche Ver-Ortung als Person, die einem Staat zugeordnet werden kann, hinweg. Sie sind vorübergehend staatenlos, d.h. gemäß der nationalstaatlichen Zuordnungslogiken nicht zu-ortbar: Sie entziehen sich der Staatsbürgerschaftssystematik, womit sie die Grenze der Ordnung markieren: Sie existieren, sie sind körperlich ›da‹, entziehen sich aber der Erfassung durch bestehende gesetzliche und rechtliche Ordnung(en), sie entziehen sich der (modernen) Nationalstaatsordnung, die sich rechtlich begründet. Sie stehen außerhalb der Ordnungen, die besonders darauf konzentriert sind, durch ständig stärker werdende Verrechtlichung ›das Leben‹ hereinzuholen: es greifbar und kontrollierbar zu machen. Das nackte, bloße Leben, das außerhalb dieser Ordnungen steht, beunruhigt die Ordnung dann besonders, wenn die Ordnung einen absoluten Anspruch erhebt, dass nichts außerhalb stehen kann: sich ihr nichts entziehen darf. »Wenn Flüchtlinge ein solch beunruhigendes Moment in der Ordnung des Nationalstaats darstellen, so in erster Linie deshalb, weil sie, indem sie die Identität von

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Das Fremde als Entfremdung des Eigenen

Mensch und Bürger und damit von Abstammung und Nationalität beschädigen, den Ursprungsmythos der Souveränität in Frage stellen. Einzelne Ausnahmen dieses Prinzips kannte man freilich immer. Neu in der heutigen Zeit, und damit eine Bedrohung des Nationalstaats in seinen Grundfesten, ist es hingegen, dass eine größer werdende Zahl Menschen nicht länger in der Nation repräsentiert (und repräsentierbar) ist. Da und insofern dies die alte Dreieinigkeit Staat-Nation-Territorium aus den Angeln hebt, muss der Flüchtling, jene scheinbar marginale Gestalt, als zentrale Figur unserer politischen Geschichte erachtet werde.« (Ebd.: 5) Durch stärker sichtbar und präsenter werdende Fluchtbewegungen, kann der »Abstand zwischen Geburt und Nation« (Agamben 2002: 140) nicht mehr als Ausnahme, Seltenheit oder Extremfall bezeichnet werden. Das Erscheinen des Flüchtlings, in dessen Gestalt sich Geburt und Nation trennen, Leben und Zugehörigkeit auseinanderfällt, kann dann nicht mehr als etwas erklärt werden, das nur unter bestimmten Umständen erscheint. Und wenn die Gestalt des Flüchtlings nicht mehr als Ausnahmeerscheinung ausgeklammert werden kann und wenn Geburt und Nation, d.h. Leben (Dasein) und Zugehörigkeit nicht mehr als untrennbar verbundene Selbstverständlichkeit betrachtet werden kann, dann gerät das begründende Element der (modernen) Nation, eben diese als selbstverständlich angenommene Einheit, in eine Krise (vgl. ebd.: 140f). In seinen Analysen stellt Agamben fest, dass diese selbstverständlich erachtete Verschränkung von Geburt und Nation spätestens seit dem ersten Weltkrieg zunehmend Bedeutungskraft verloren hat. Wiederholt werden die europäischen Nationalstaaten damit konfrontiert, dass Fluchtbewegungen, die seit dem ersten Weltkrieg stetig an Intensität zunahmen, sich nicht durch die territorialen Grenzen (moderner) Nationalstaaten verhindern lassen: menschliche Mobilität setzt sich beständig über die Grundelemente moderner Nationalstaatlichkeit (Territorium, Volk, Staatsgewalt) hinweg. Anhand unterschiedlicher Beispiele zeigt Agamben auf, wie europäische Staaten versuchen mit Gesetzgebungen Nationalitäten zuzuweisen und gleichzeitig zu entziehen. Wodurch versucht wurde, »Bürgerschaft [zu etwas zu machen], dessen man sich würdig erweisen mußte« (ebd.: 141). Agamben beobachtet eine »Trennung zwischen Humanitärem und Politischem« (ebd.: 142), die mit der Erklärung der Menschenrechte wiederum Eingang in die Logiken europäischer Nationalstaaten erhielt: »Auf der einen Seite betreiben die Nationalstaaten eine massive Neueinsetzung das natürlichen Lebens, indem sie in dessen Innerem ein sozusagen authentisches Leben und ein nacktes Leben ohne jeden politischen Wert unterscheiden […]; auf der anderen Seite werden die Menschenrechte zunehmend von den Bürgerrechten, als deren Voraussetzung sie allein Sinn ergaben, abgetrennt und außerhalb des Kontextes der Bürgerschaft verwendet, mit dem angeblichen Zweck, ein nacktes Leben zu repräsentieren und zu schützen, das in wachsendem Maß an den Rändern der Nationalstaaten anfällt, um dann wieder in einer neuen nationalen Identität rekodifiziert zu werden.« (Ebd.: 142) Es lässt sich also eine Trennung und gleichzeitiges Wiederhereinholen in die Ordnungen feststellen. Diese vorgenommene Bewegung eines ausschließenden Einschlusses

5 Eine theoretische Entfremdung von Ausnahmezustand und Homo Sacer

bezeichnet Agamben auch als die Logik der Ausnahme (vgl. Agamben 2016: 27 und siehe Kapitel 5.1.2). Was Agamben beschreibt ist eine zunehmende Verrechtlichung des Lebens und den Einfall der nationalstaatlichen und verfassungsrechtlichen Erfassung in das Leben. Das Leben wird rechtlich durchdrungen und Verantwortungen für das Leben, wird durch Verschiebungen von Zuständigkeiten und Nicht-Zuständigkeiten fragmentiert. Das Leben wird durchdrungen, eingebunden, zerrissen und in ein ›Außerhalb‹ verschoben, gleichzeitig aber nie völlig entlassen: es bleibt in dem Raum und an der Schwelle dazwischen eingebunden. Agamben betrachtet dies nicht als vorübergehenden Zustand: es handelt sich hier vielmehr um den Ort, an dem moderne Staatsgewalt ausgehandelt, ausgetragen und überhaupt erst begründet wird. In diesem Moment offenbart sich die Trennung zwischen dem Humanitären und Politischen. Agamben bezeichnet dies auch als eine »Entfernung zwischen den Menschenrechten und den Bürgerrechten« (ebd.: 142). Die Idee von Menschenrechten ist dem Verständnis moderner Nationalstaaten eigentlich eingeschrieben und gleichzeitig besteht diese Distanz: beide Seiten fallen nicht ineinander, sind nicht untrennbar verknüpft. Agambens Untersuchungen zeigen, dass es Orte des Ausnahmezustands gibt: Orte, an denen der Ausnahmezustand räumlichen Charakter annimmt, Orte, wo die Rechtskraft und Rechtsnorm auseinanderfallen, wo die Norm zwar bestehen bleibt, aber keine Kraft mehr entfaltet, wo sie nicht mehr durchgesetzt wird. Am Beispiel der Situation Flüchtender, die in Flüchtlingslagern an den Grenzen Europas festgehalten werden und am Beispiel Geflüchteter, die in Aufnahmeunterkünften innerhalb Europas zentral untergebracht werden, erarbeitet Agamben seine Überlegungen zum Lager, Ausnahmezustand und Homo Sacer. In Zeiten multipler Krisen, die fortlaufend bestehende Ordnungen bedrohen, wird das Regieren im Modus von sich aneinanderreihenden Ausnahmezuständen zur langsam gewohnten Normalität: womit nicht der Ausnahmezustand an sich Normalität wird, sondern im Zuge einer Phase von Ausnahmezuständen eine neue Normalität entsteht. Der Ausnahmezustand wird nicht zum dauerhaften Ausnahmezustand. Doch wird das, was im Ausnahmezustand hervorgebracht wird, in eine neue Normalität übergeführt und zur neuen Ordnung. Ein Regieren im Modus des Ausnahmezustands ist aus der Perspektive keine Ausnahme mehr: im Ausnahmezustand zu regieren wird zur Normalität des Regierens (vgl. Kretschmann/ Legnaro 2017 und Santer/Wriedt 2017: 145). Die Kultursoziologin Andrea Kretschmann und der Sozialwissenschaftler Aldo Legnaro unterschieden an Agamben anschließend zwischen Ausnahmezuständen erster und zweiter Ordnung (vgl. Kretschmann/Legnaro 2017: 472). Mit Ausnahmezuständen erster Ordnung sollen »formelle Ausnahmezustände politisch-rechtlicher Art […] (gewissermaßen echte) Ausnahmezustände« (ebd.) gemeint sein. Während »Ausnahmezustände der Alltäglichkeit hingegen als solche zweiter Ordnung zu bezeichnen« (ebd.) sind. Die Ausnahmezustände politisch-rechtlicher Fassung »legitimieren extensive ProAktivität von Ermittlungsbehörden und Geheimdiensten« (ebd.: 473). Sie stellen »eine Form des rite de passage dar, als Übergang von ›normalen‹ Zeiten zu ›normalen‹ Zeiten« (ebd.). Ein zur bestandener Status Quo soll im Zuge eines Ausnahmezustands wieder hergestellt werden. Der Ausnahmezustand dient also nur vorübergehend dazu eine Si-

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tuation zu schaffen, während der Maßnahmen ergriffen werdende können mit dem Ziel den alten Status Quo wieder herzustellen. In den Ausnahmezuständen zweiter Ordnung sehen die Autor:innen »soziale Tatsachen« (ebd.: 478), die nicht explizit ausgerufen werden. Sie sind »im eigentlichen Sinne ohne Anfang, auch nicht befristet, sondern etablieren in Permanenz eine alltägliche Exeptionalität, ohne im formellen Sinne tatsächlich ein Ausnahmezustand zu sein« (ebd.). Sie werden nicht unbedingt immer als Ausnahmezustand benannt, sondern erscheinen auch unter anderem Namen, wie beispielsweise als Notfall, Notsituation, Ausnahmesituation oder Emergency (vgl. ebd.). Wer sich in einer solchen Situation wiederfindet, dem wird ein besonderes Maß von Aufmerksamkeit abverlangt. Es geht dabei auch – wie in Ausnahmezuständen erster Ordnung – um die Wiederherstellung von Sicherheit und das Abwenden einer Bedrohung für die bestehende Ordnung. Somit erklären die Autor:innen, dass beide Formen des Ausnahmezustandes durchaus in Zusammenhang zueinander stehen und ineinandergreifen können. Die Nutzbarkeit von Agambens Arbeiten wird im deutschsprachigen Raum von FluchtMigrationsforschung durchaus erkannt. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass Agambens Ansätze weitgehend unterbesprochen bleiben. Agambens Arbeiten werden zwar genannt, doch in tatsächlichen Untersuchungen andere Theorien und Heuristiken angewendet, wie beispielsweise Erving Goffmans Totale Institution (vgl. Engler 2021, Bochmann 2017, Brandmaier 2019). Agamben erscheint als zusätzliche Referenz in Fußnoten (vgl. Hartmann 2017) oder wird im Zuge der Lagerthematik miterwähnt (vgl. Schmalz 2017: 20). Zwar wird der Flüchtling als Prototype des Homo Sacer erkannt (vgl. Schulze Wessel 2017: 61), doch diese Feststellung wiederum eingeschränkt, wenn hervorgehoben wird, dass sich die Situation Geflüchteter in den Unterbringungen »keineswegs durch eine Abwesenheit von Recht« (Schmalz 2017: 24) kennzeichnet, sondern im Gegenteil von komplexen, vielschichtigen, rechtlichen Vereinbarungen und Abhängigkeiten durchzogen und gestaltet wird (vgl. Engler 2021: 41f). Es wird eine Unterscheidung zwischen einem de jure und de facto verdeutlicht: Geflüchtete besäßen zwar Menschenrechte, sie sind de jure also nicht rechtlos, de facto aber haben sie keine Möglichkeiten diese Rechte– in ihrem Sinne – geltend zu machen: Die Norm behält zwar Gültigkeit, sie kann aber nicht durchgesetzt werden. Untersuchungen, die sich mit der Unterbringung Geflüchteter in Aufnahmeeinrichtung und Gruppenunterkünften befassen, stellen fest, dass diese Orte der Lagerkonzeption Agambens entsprechen und somit Unterbringungen von Geflüchteten auch als Orte des Ausnahmezustands betrachtet werden können (vgl. Hartmann 2017, Schmalz 2017). Es bleibt dann bei einer reinen Feststellung, dass Merkmale erkannt werden können. In tatsächlichen Untersuchungen wird Agambens Lagerkonzeption durch Goffmans Totale Institution abgelöst: Unterbringungen Geflüchteter seien keine rechtsfreien Räume, sie seien vielmehr gekennzeichnet durch eine »Masse der rechtlichen Regelungen statt [ihrem] Fehlen« (Engler 2021: 33), womit Goffmans Totale Institution geeigneter für eine Analyse sei, da sich Totale Institutionen durch starke Durchregulierung und eine bürokratische Durchdringung aller Lebensbereiche kennzeichnen (vgl. ebd.). Es ist diese Überregulierung und die »Verdichtung von Herrschaftsverhältnissen in den Flüchtlingslagern aufgrund souveräner Politiken der Migrationssteuerung« (ebd.: 41), die zur Prekarisierung

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des rechtlichen Status Geflüchteter führt. Es handelt sich um eine Prekarisierung und nicht um eine vollständige Rechtslosigkeit (vgl. ebd.). Agambens Arbeit zum Lager wird als ein Ansatz neben anderen, wie z.B. Michel Foucaults Überwachen und Strafen (1993) und Hannah Arendts Überlegungen zur Totalen Herrschaft (1991) genannt. Ihre Nennung dient einem Überblick, doch Anwendung finden die Ansätze nicht: »Arendt’s Überlegungen zur Totalen Herrschaft und zu Konzentrationslagern als auch die Diskussion um Agamben’s Lager als Ausnahmezustand und gleichzeitig als Nomos der Moderne zählen zu jedem vollständigen Überblick zu Lagertheorien, sind jedoch für einen soziologisch-analytischen Blick auf Lagerstrukturen und deren empirischer Erforschung weniger bzw. nur teilweise erfolgversprechend.« (Bochmann 2017: 2) Anette Bochman legt in ihren Ausführungen zu Untersuchungen der Situation in Geflüchtetenunterkünften die hohe Komplexität der ineinander verflochtenen Strukturen in den Unterkünften dar: Sie kritisiert die Überbetonung der Wirkmächtigkeit von politischen und administrativen Makrostrukturen gegenüber jenen die Mikrostrukturen als ohnmächtig und ausgeliefert re-konstruiert und re-produziert werden. Die Geflüchteten, die in den Unterkünften leben, werden aus dieser Perspektive ihrer Agency beraubt: »Die Figur des Homo Sacer steht […] paradigmatisch für die Ohnmacht und Sprachlosigkeit, denen der Mensch in modernen westlichen Gesellschaften ausgeliefert ist. Sie ist geprägt durch den absoluten Verlust von Handlungsmacht gegenüber einem Souverän, der die Menschen durch die permanente Ausnahme vom Recht in seinem Bann hält. […] Die Ohnmacht des homo sacer offenbart Agambens Rechtsbegriff, bei dem Recht als rein repressives Instrument der Souveränität gedacht wird und der die gesellschaftlichen Kämpfe um und mit Hilfe des Rechts unsichtbar macht.« (Engler 2021: 31) Eine theoretische Grundlegung von Untersuchungen durch Agambens Homo Sacer ließen dann keinen Raum die politische Agency der untergebrachten Geflüchteten zu erfassen, denn »that camp residents‹ practices‹ must be understood as a form of political agency, not the silent expression of ›bare life‹« (Bochmann 2019: 66). Zwar erkennt Bochmann, dass Agambens Arbeiten verdeutlichten, »how refugee camps are a product of states and the nation state order« (ebd.), schließt sich allerdings einigen zentralen Kritikpunkten an Agambens Werk an: Die vielfältigen und komplexen Souveränitäten und »governing actors« (ebd.) gerieten in Agambens Untersuchungen in den Hintergrund. Agambens Blick übersähen sowohl die Kreativität und Agency der Bewohner, die ihre Situation in den Unterkünften mithilfe verschiedenster Strategien durchaus bewusst und nach eigenen Wünschen aktiv manövrieren könnten (vgl. u.a. Schwarz 2015). Agambens Perspektive sei (zu) staatszentriert, »and not focused on how the state of exception is put into action through actors beyond the state« (Bochmann 2019: 66). Lagerähnliche Unterbringungen von Geflüchteten sind, wie Bochmann mit einem Verweis auf empirische Studien betont, nicht bestimmt durch eine einzelne Lager-Logik: die Unterkünfte müssten vielmehr in ihren »poly-hierarchical bureaucratic structures« (ebd.) erfasst werden. Bochmann begreift lagerähnliche Unterbringungen als Orte, in dem institutionelle und strukturelle Zwänge mit menschlicher Kreativität und Mikroprozessen zusammentref-

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fen, sich überschneiden und einander durchdringen: »in particular, the power of individual refugees within the community has been identified as considerable« (ebd.). Bochman kritisiert bei Agamben vorranging seinen scheinbar makroperspektivisch orientierten Blick, der zwar die humanitäre Industrie, die Regierungsweisen, die über das (nackte, bloße) Leben bestimmen aufzeigen kann und die Ordnung der Welt in und durch (moderne) Nationalstaaten und ihrer (Abfall-)Produkte in den Blick nehmen kann, durch diesen Fokus auf Makrophänomene Mikrophänomene allerdings übersehen habe. Im Anschluss an empirische Studien, die sich auf intersubjektive und interaktionale Mikrostrukturen konzentrierten, könne gezeigt werden, dass die Lagerbewohner:innen ihre Situationen durchaus mit-gestalteten. Macht werde bei Agamben hauptsächlich binär und repressiv verstanden. Da gäbe es auf der einen Seite eine dominierende, staatliche und institutionelle Macht und auf der anderen Seite nur die Subjekte/Objekte jener Macht (vgl. ebd.: 67): »whilst this makes sense from a macro perspective, from a micro and local perspective, empirical research has demonstrated that sovereignty and power relations in refugee camps are in fact much more complex« (ebd.). Tobias Pieper hob dies bereits 2008 in seiner Bearbeitung der Arbeiten Agambens hervor: »Agamben hat zwar die politische Bedeutung des Lagers und der Internierung von Menschen in Lagern durch seine rechts-philosophischen Studien vehement in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht, seine Analysen zeichnen sich jedoch durch abstrakte Verallgemeinerungen aus, die sowohl die empirische Diversität als auch die politische Bedeutung der Lager nivellieren.« (Pieper 2008: 531) Ähnlich wie Engler, arbeitet Pieper in seinen empirischen Untersuchungen dann mit Goffmans Totaler Institution (vgl. Pieper 2008: 533f). In diesen Lesarten von Agambens Ausnahmezustand und Homo Sacer wird die Gestalt des Souveräns auf einen staatlichen oder staatsähnlichen Akteur reduziert. Der Homo Sacer wird in dieser Perspektive in der Gestalt des Flüchtlings identifiziert. Die Rollen von Souverän und Homo Sacer werden also in den empirischen Untersuchungen zugeordnet und fixiert. Beide Figuren werden an konkrete Personengruppen bzw. Akteure bezogen. Von dieser Zuordnung aus wird dann festgestellt, dass sich die Situation Geflüchteter nicht ganz mit Agambens Figur des Homo Sacer deckt. Woraus sich forschungspragmatisch die Schlussfolgerung ergibt, dass andere Ansätze hinzuzuziehen sind bzw. Agambens Theorien nur im Sinne einer vollständigen Erwähnung genannt werden, da sie »für einen soziologisch-analytischen Blick« (Bochman 2017: 2) nicht geeignet erscheinen: Andere Ansätze, wie Goffmans Totale Institution, erscheinen für empirische Forschung nützlicher (vgl. ebd.). Eine Soziologisierung von Agambens Theorien, die Ausnahmezustand, Souverän, Lager und Homo Sacer nützlicher machen könnten, wird allerdings nicht vorgenommen.

5.1.2 Giorgio Agamben: Ausnahmezustand und Homo Sacer Mit dem Homo Sacer Projekt prägte Agamben seit der Jahrtausendwende Begriffe wie Ausnahmezustand und Souveränität. Vor allem wird die Figur des Homo Sacer seither eng mit Agambens Werk verbunden. Die Figur des Homo Sacer beschreibt das nackte,

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bloße Leben: bare life. Agamben untersuchte Spannungsverhältnisse von Ausnahme und Ordnung und prägte den Begriff der destituierenden (ent-setzenden) Kraft, die er im dialektischen Bezug zur konstituierenden und konstituierten Gewalt betrachtete (vgl. Kirschner 2020 und Zeillinger 2020). Und in seinen Untersuchungen zur Verfasstheit moderner Staatlichkeit, erklärt er das Lager als neuen, politischen nómos des Planeten (vgl. Agamben 2002: 186). Wenn Agamben vom Lager als Nomos der Welt spricht, baut er eine Verbindung zu Carl Schmitts Werk auf. Auch Schmitt beschäftigte sich mit Fragen der Verfasstheit moderner (National-)Staaten. In der Verschiebung der ›Moderne‹ wird die göttliche und religiöse Macht aus ihrer Bestimmungsfunktion abgelöst und säkularisiert: Sie wird in eine nun separate, andere Sphäre verschoben und aus dem Politischen scheinbar ausgegrenzt. Abgelöst wird die göttliche Ordnung durch eine nun rechtlich verfasste, eine gesetzlich definierte Ordnung. Das, was die Idee eines Gottes nun als omnipräsenter Gesetzgeber ablöste, müsse, damit diese Ablösung überhaupt funktioniert, mindestens eine ebenso starke omnipräsente Kraft besitzen (vgl. Geulen 2005: 134). Das, was an die Stelle Gottes tritt, soll nun der Souverän sein, der bei Schmitt eine zentrale Rolle spielt. Bei Schmitt heißt es: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« (Schmitt 2015 [1922]: 13). Das heißt, Souverän ist, wer darüber entscheidet, wann Recht gilt und wann nicht, wann Recht auch angewendet wird und wann nicht. Womit der Souverän bei Schmitt bereits außerhalb der durch Rechtsnomen geschöpften Ordnung positioniert wird. Er muss außerhalb der Rechtsnorm und -ordnung stehen, denn nur wenn er außerhalb steht, kann er von dort über sie bestimmen: wann sie gilt und wann nicht (vgl. Agamben 2002: 25f). Stünde der Souverän innerhalb der Ordnung und setzte er diese im Ausnahmezustand aus, setzte er sich selbst aus. Worin sich ein Paradox im absoluten Anspruch der Ordnung offenbart, wenn es heißt: »Ich, der Souverän, der ich außerhalb des Rechts stehe, erkläre, daß es kein Außerhalb es Rechts gibt« (ebd.: 25). In der bestehenden Ordnung gilt das Recht und das Recht gilt allgemein und universal und es begründet gleichzeitig auch (seine eigene) Ordnung: das Recht gilt in der Ordnung (allein), die es selbst begründet. Außerhalb dieser Ordnung gilt das Recht nicht: es kann keine Kraft entfalten, denn dort gilt es nicht. Bei Agamben ergibt sich dann ein Moment der Ununterscheidbarkeit (vgl. ebd.) von Recht und Souverän. Recht und Souverän fallen insofern zusammen, als dass sie beide außerhalb der Ordnung stehen (müssen) – gleichzeitig begründen sie sich erst durch die Ordnung, die sie selbst schaffen: wodurch sie wieder miteingeschlossen werden. Sie werden als Ausnahmen von der Ordnung in die Ordnung mit hereingenommen. Agamben stellt also eine paradoxe Gleichzeitigkeit fest: sie fallen zusammen, überlagern einander, gehen dann aber gleichzeitig im Widerspruch auseinander. Sie schließen einander auf eine Weise aus, heben sich aber nicht auf. Bei Schmitt ist der Nomos der Moderne bereits eine Raumordnung: diese wird bei Agamben im Lager räumlich konkret. Die göttliche Ordnung wird durch eine rechtliche Ordnung, also eine (moderne) Verfassung abgelöst. Daraus ergibt sich eine neue Fassung räumlich-geografischer Verortungen, Teilungen, Abgrenzungen und Ordnungen. Bei Schmitt manifestiert sich dies in Form von Grund- und Bodenbesitz. Er leitet eine Verwendung des Begriff nómos aus seiner antiken Verwendung ab: Nomos ist »das griechische Wort für die erste, alle folgenden Maßstäbe begründende Messung, für die erste

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Landnahme als die erste Raum-Teilung und -Einteilung, für die Ur-teilung und Ur-Verteilung« (Schmitt 1974 [1950]: 36). Aus der Landnahme und dem Bodenbesitz leitet sich potenzielle Macht (d.h. Einflussnahme) ab. Dadurch wird das Recht auf politische Mitwirkung begründet: »Nomos ist das den Grund und Boden der Erde in einer bestimmten Ordnung einteilende und verortende Maß und die damit gegebene Gestalt der politischen, sozialen und religiösen Ordnung. Maß, Ordnung und Gestalt bilden hier eine raumhaft konkrete Einheit. In der Landnahme, in der Gründung einer Stadt oder einer Kolonie wird der Nomos sichtbar, mit dem ein Stamm oder eine Gefolgschaft oder ein Volk seßhaft wird, d.h. sich geschichtlich verortet und ein Stück Erde zum Kraftfeld einer Ordnung erhebt.« (Ebd.: 40) Aus einer Raum-Ver-Ortung, ergeben sich geltende Ordnungen und damit eine rechtliche Verfassung, die wiederum eine politische Ordnung begründen soll. Die (ursprüngliche) Raumordnung bildet die Basis für die Verfassung staatlicher Territorien. Als eine der drei Säulen (moderner) Staatlichkeit, wird das so verfasste Territorium auch gleichzeitig unabdingbar, nicht trennbar und nicht verzichtbar mit der Begründung nationalstaatlicher Ordnungen verbunden. An dieser Stelle setzt Giorgio Agamben an, wenn er davon ausgeht, dass das »politische System des modernen Nationalstaates, […] auf dem funktionalen Nexus zwischen einer bestimmten Lokalisierung (dem Territorium) und einer bestimmten Rechtsordnung (dem Staat) gründete [welches wiederum] von automatischen Regeln der Einschreibung des Lebens (der Nativität oder Nationalität) gesteuert [wird].« (Agamben 2002: 184) Schmitt bietet in seinen Ausführungen eine Lesart seiner Schriften an, die in Zusammenhang mit seiner Freund-Feind-Unterscheidung in Bezug zum Fremden, eine Interpretation zulässt, die von einer nach innen gerichteten, weitgehend homogenen Gemeinschaft und einer verteidigungsnotwendigen (territorialen) Grenze gegenüber Feinden ausgehen kann. Damit vollzieht Schmitt eine Verquickung territorialer Grenzen, (national-)staatlicher Grenzen und sozialen Gemeinschaften (gedacht als homogene Einheiten). Das radikal Andere und Fremde wird bei Schmitt immer schon als Bedrohung des Eigenen konstruiert: »Das geopolitische Denken in Deutschland fasst von Anfang an Freund oder Feind mit gleicher theoretischer Emphase. In dem Maße, wie die Grenze nach innen eine möglichst homogene, organische Gemeinschaft umschließt, schließt sie diese nach außen gegen einen als radikal Anderen definierten Feind ab. Schon Friedrich Ratzel, der Begründer der politischen Geographie in Deutschland, verknüpft seine Theorie der Grenze mit einem Modell des Staates als Organismus. Die Grenze ist dessen Außenhaut, an der Stoffwechsel stattfindet, die peinlichst gegen Verletzung geschützt werden, muss und die sich mit dem Wachsen des Staats- und Volkskörpers natürlicherweise ausdehnt. Grenzkriege sind damit die natürliche Folge staatlicher Entwicklung, Expansion ein Zeichen der Lebenskraft.« (Horn 2006: 240f)

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Politisches Handeln ist bei Schmitt die Unterscheidung zwischen Freund und Feind vorzunehmen (vgl. Schmitt 1996 [1963]: 26). Aus dem Gedanken heraus, dass sich der Volkskörper kontinuierlich vergrößern müsse und folglich das Territorium auszudehnen sei, ergibt sich automatisch eine nur potenziell konflikthafte Beziehung mit dem Nachbarn, der in dem Falle als Feind betrachtet werden muss. Feind dabei nicht im Sinne einer persönlichen Antipathie, die auf persönlicher Ebene gehegt werde (vgl. ebd.: 29): als Feind qualifiziert ist derjenige, dem die Potenzialität der vollständigen Auslöschung des Seins inne liegt: »Denn zum Begriff des Feindes gehört die im Bereich des Realen liegende Eventualität eines Kampfes. Bei diesem Wort ist von allen zufälligen, der geschichtlichen Entwicklung unterworfenen Änderungen der Kriegs- und Waffentechnik abzusehen. Krieg ist bewaffneter Kampf zwischen organisierten politischen Einheiten, Bürgerkrieg bewaffneter Kampf innerhalb einer (dadurch aber problematisch werdenden) organisierten Einheit. Das Wesentliche an dem Begriff der Waffe ist, dass es sich um ein Mittel physischer Tötung von Menschen handelt. Ebenso wie das Wort Feind, ist hier das Wort Kampf im Sinne seiner seinsmäßigen Ursprünglichkeit zu verstehen. Es bedeutet nicht Konkurrenz, nicht den ›rein geistigen‹ Kampf der Diskussion, nicht das symbolische ›Ringen‹, das schließlich jeder Mensch irgendwie immer vollführt, weil nun einmal das ganze menschliche Leben ein ›Kampf‹ und jeder Mensch ein ›Kämpfer‹ ist. Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins. Krieg ist nur die äußerste Realisierung der Feindschaft. Es braucht nicht Alltägliches, nichts Normales zu sein, auch nicht als etwas Ideales oder Wünschenswertes empfunden zu werden, wohl aber muss er als reale Möglichkeit vorhanden bleiben, solange der Begriff des Feindes seinen Sinn hat.« (Ebd.: 33) Schmitts Konzeption des Feindes, der Bedrohung der eigenen Existenz und des Kampfes findet an den Grenzen, genau genommen hinter der Grenze – außerhalb – statt: Der Austragungsort ist die Grenze. In Schmitts Logik geht es beständig um (mögliche) Eroberung und (notwendige) Verteidigung. Es geht um die Ausweitung des Eigenen (Territoriums), das aufgrund von schon besetzten Raumordnungen immer mit einem vernichtenden Kampf einhergeht (gehen muss). Es geht um die Mehrung von Boden und Besitz und damit um die Mehrung von Einfluss und Staatskraft. Agamben wendet Schmitts Konzeption insofern, als dass er den Ort des Ausnahmezustandes nicht mehr außerhalb der (territorialen) Ordnung verortet sieht. In seinen Untersuchungen zum Lager, speziell am Beispiel der Konzentrationslager während des Dritten Reichs erkennt Agamben einen anderen, neuen Nomos der Moderne: das Lager. Der Austragungsort der Macht des Souveräns findet nicht mehr außerhalb der Ordnung statt: der Ort wurde in die Ordnung hineingeholt, bleibt aber in ihr ausgeschlossen: »Die Geburt des Lagers in unserer Zeit erscheint aus dieser Sicht wie ein Ereignis, das den politischen Raum der Moderne als solchen in entscheidender Weise prägt. Es taucht zu einem Zeitpunkt auf, da das politische System des modernen Nationalstaates, das auf dem funktionalen Nexus zwischen einer bestimmten Lokalisierung (dem

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Territorium) und einer bestimmten Rechtsordnung (dem Staat) gründete und von automatischen Regeln der Einschreibung des Lebens (der Nativität und Nationalität) gesteuert wurde, in eine fortlaufende Krise gerät und der Staat beschließt, die Sorge um das biologische Leben zu einer seiner direkten Aufgaben zu machen.« (Agamben 2002: 184) Der Bruch mit der alten Ordnung erfolgt bei Agamben nicht am Territorium oder dem Staat, sondern in eben jener Einschreibung der Nativität und Nationalität in das bloße, nackte Leben (vgl. ebd.): »Einer Ordnung ohne Ortung (der Ausnahmezustand, in dem das Gesetz aufgehoben ist) entspricht nun einer Ortung ohne Ordnung (das Lager als dauerhafter Ausnahmezustand)« (ebd.: 185). Das Lager ist der Ort, »in dem die normale Ordnung de facto aufgehoben ist, in dem es nicht vom Recht abhängt, ob mehr oder weniger Grausamkeit begangen werden, sondern von der Zivilität und dem ethnischen Sinn [derjenigen], die da vorübergehend als Souverän [agieren]« (ebd.: 183f). Das Lager als Ort des Ausnahmezustandes wird zu einem Gegenentwurf, einer Antithese der globalisierten Moderne, der freizügigen Mobilität, deren Gegenstück die Immobilität im Lager darstellt. Agamben verweist in dem Zuge auf die Unterscheidung von de jure und de facto. Ein Auseinanderfallen von (Gesetzes-)Norm und (Gesetzes-)Kraft: »Der Ausnahmezustand definiert einen Zustand des Gesetzes, in dem die Norm zwar gilt, aber nicht angewandt wird (weil sie keine ›Kraft‹ hat), und auf der anderen Seite Handlungen, die nicht den Stellenwert von Gesetzen haben, deren ›Kraft‹ gewinnen.« (Ebd.: 49) So besitzen Lagerinsassen (theoretisch) Rechte (wie z.B. Menschenrechte), können diese aber nicht mehr für sich selbst beanspruchen, auf deren Durchsetzung und Einhaltung und deren Wahrung vertrauen und bauen. De facto verlieren (Gesetzes-)Normen im Ausnahmezustand, der bei Agamben im Lager realisiert und damit verortbar, dauerhaft und materiell fassbar wird, ihre Kraft: Sie werden nicht mehr angewendet und nicht mehr durchgesetzt. Dennoch sollen sie gelten. Es entsteht ein ambivalenter Widerspruch, eine Irritation darüber, dass (Gesetzes-)Norm gelten soll, aber gleichzeitig nicht durchgesetzt wird. Es kommt nicht zu einer Auflösung dieses Widerspruchs: de jure und de facto bestehen gleichzeitig, entfalten Wirkung, heben einander nicht auf, ebenso wie es nicht zu einer Entscheidung darüber kommt, was nun besteht. In seinem zweiten Buch über den Ausnahmezustand (Homo Sacer II) (2004) verdeutlicht Agamben die Schwierigkeit der Bestimmung des Ausnahmezustandes (vgl. Agamben 2004: 7). Der Ausnahmezustand ist das im ersten Moment diffuse »Niemandsland zwischen Öffentlichem Recht und politischer Faktizität, zwischen Rechtsordnung und Leben« (ebd.: 8). Fest steht, dass ein realer Ausnahmezustand auch bei Agamben außerhalb des Normalzustands betrachtet wird: Phänomene, wie beispielsweise Bürgerkrieg, werden als reale Ausnahmezustande erfasst (vgl. ebd.). Es geht speziell um den Bürgerkrieg und nicht Krieg zwischen Staaten, da im letzteren Fall idealtypisch davon ausgegangen werden würde, dass die innere Normalität, die gegebene Ordnung innerhalb der Staatsverfassungen weiterhin, auch im Falle einer kriegerischen, nach außen gerichteten, Aktion, bestehen bliebe. Bürgerkrieg, im Sinne eines Aufstandes oder Wi-

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derstandes gegen die eigene Staatsgewalt, sei ein Beispiel für einen Ausnahmezustand. Zum Ausnahmezustand gehört bei Agamben außerdem, »eine vorübergehende Abschaffung der Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion« (ebd.: 14). Im Ausnahmezustand werden Recht und Ordnung mit dem Ziel suspendiert jenen Zustand der Ordnung (wieder-)herzustellen (vgl. Agamben 2004: 41 und Scheu 2011: 443). Agamben spricht auch von einer Scheinlücke im Gesetz: Er meint eine scheinbare Leerstelle, die rein rechtlich betrachtet, geschlossen werden könnte, indem der Ausnahmezustand als Zustand rechtlich definiert wird. Aber eben gerade darum geht es bei dem Ausnahmezustand, den Agamben meint, nicht. Den Ausnahmezustand in das geschriebene Gesetz hereinzuholen, würde aber den eigentlichen Ausnahmezustand nicht erfassen: der Ausnahmezustand ist bei Agamben immer so definiert, dass er außerhalb der Ordnung steht. Wird ein spezifischer Zustand rechtlich bestimmt und Ausnahmezustand genannt, handelte es sich nicht um den Ausnahmezustand von dem Agamben spricht. Eine Situation, die als Ausnahmezustand erfahren und erlebt wird, die rechtlich eingefasst wird, bedeutete also keine Einhegung des Ausnahmezustandes. Der Ausnahmezustand, den Agamben meint, ist immer schon dadurch definiert, dass er außerhalb steht und eingeschrieben ist. Dieser Ausnahmezustand kann unterschiedliche reale Formen annehmen. In dieser Lesart also zeichnet sich Agambens Ausnahmezustand durch ein ähnliches Merkmal der Nicht-Greifbarkeit und Unterbestimmtheit aus, wie der Fremde (siehe Kapitel 3): Wird der Fremde erfasst und bestimmt, verliert er das Merkmal der Fremdheit und ist nicht mehr fremd. Wird die Ausnahme eingefasst und reindefiniert in die rechtliche Ordnung, verliert sie die Qualität der Ausnahme. Es handelt sich zwar um eine Leerstelle, aber nicht um eine Gesetzeslücke, die potenziell geschlossen werden könnte. »[Im Ausnahmezustand] geht [es] vielmehr um die Suspendierung der gültigen Ordnung, damit ihr Bestehen gesichert wird. Weit davon entfernt, auf eine normative Lücke zu reagieren, erweist sich der Ausnahmezustand vielmehr als die Eröffnung einer Scheinlücke in der Ordnung mit dem Ziel, die Existenz der Norm und ihre Anwendbarkeit in Normalsituation zu retten. Die Lücke besteht nicht im Inneren des Gesetzes, sondern betrifft sein Verhältnis zur Wirklichkeit, die Möglichkeit seiner Anwendung selbst.« (Ebd.: 41) Der Ausnahmezustand steht nicht vollständig außerhalb der (Rechs-)Ordnung: er ist ihr immer schon immanent eingeschrieben. Der Ausnahmezustand beschreibt eine »Zone der Unbestimmtheit, in der innen und außen einander nicht ausschließen, sondern sich un-bestimmen« (Agamben 2004: 33). Diese Gleichzeitigkeit im Widerspruch konzeptualisiert Agamben als Logik der Ausnahme: »Die Ausnahme ist eine Art der Ausschließung. Sie ist ein Einzelfall, der aus der generellen Norm ausgeschlossen ist. Doch was die Ausnahme eigentlich kennzeichnet, ist der Umstand, daß das, was ausgeschlossen wird, deswegen nicht völlig ohne Beziehung zur Norm ist; sie bleibt im Gegenteil mit ihr in der Form der Aufhebung verbunden. Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr zurückzieht. Der Ausnahmezustand ist also nicht der Ordnung vorausgehendes Chaos,

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sondern die Situation, die aus ihrer Aufhebung hervorgeht.« (Agamben 2002: 27, Herv. dort) Womit die Ausnahme ihrem etymologischen Sinn gemäß als heraus-nahme, herausnehmen, aus-nehmen, begriffen wird. »Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahmezustands, und insofern der Souverän, der über die Ausnahme entscheidet« (Agamben 2004: 45, Herv. dort). Die Ausnahme bildet damit eine symmetrische Umkehrung des Beispiels: »Ausnahme und Beispiel sind die beiden Modi, mittels derer eine Menge die eigene Kohärenz herzustellen und zu erhalten sucht. Doch während der Ausnahme […] eine einschließende Ausschließung ist (also dazu dient, das einzuschließen, was ausgestoßen wird), funktioniert das Beispiel als ausschließende Einschließung. […] Während das Beispiel von der Menge insofern ausgeschlossen wird, als es dazugehört, ist die Ausnahme gerade deswegen in dem Normalfall eingeschlossen, weil sie nicht dazu gehört.« (Agamben 2002: 31, Herv. dort) Agamben konzipiert den Ausnahmezustand auch als eine spezifische Beziehungsform: (Gesetzes-)Norm und ihre Durchsetzung, die Ahndung von Gesetzesverstößen im Ausnahmezustand, ist in ihrer negativen Beziehung dennoch als Beziehung zu verstehen. Norm und Kraft fallen auseinander, aber eine Trennung vollzieht sich nicht: sie stehen weiterhin in einer besonderen Beziehung zueinander. Im Ausnahmezustand behält die Norm ihre Gültigkeit und verliert lediglich ihre Durchsetzungskraft. Diesen Zustand beschreibt Agamben als Bann. Die Geste des Banns ist eine, die den Ausnahmezustand beschreibt. »Das alte germanische Wort [Bann] bezeichnet sowohl den Ausschluß aus der Gemeinschaft als auch den Befehl und des Banner des Souveräns. Die Ausnahmebeziehung ist eine Beziehung des Banns. Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet gelassen, sondern von ihm verlassen […], das heißt ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen.« (Ebd.: 39, Herv. dort) Der Ausnahmezustand ist gekennzeichnet durch eine Geste des Abwendens von sowohl weltlicher als auch göttlicher (Schutz-)Mächte. Eine Straftat ist noch Straftat, wird aber nicht mehr geahndet: potenzielle Opfer werden nicht mehr geschützt. Sie sind ausgeliefert. Womit der Ausnahmezustand sich als »eine Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus« (Agamben 2004: 9) herausstellt. Ein Raum aller Möglichkeiten und mehr Ungewissheiten. Es ist der Raum, in dem die Vorstellung von dem Wesen der Dinge zwar nicht gänzlich verloren geht, sich dieses Wesen allerdings nur in seiner historischen Materialität als widerständig erweist und nicht aus seinem imaginierten Sein heraus Wirkung entfalten kann. Der Raum, in dem die (Gesetzes-)Norm noch gilt, allerdings keine Durchsetzung mehr erfährt. Und es ist diese Geste der Abwendung im Ausnahmezustand, das Zurücktreten und In-Aktiv werden und der Moment der Deaktivierung (vgl. Geulen 2005: 77), in dem die Figur des Homo Sacer hervortritt. Der Homo Sacer, vielmehr das Leben des Homo Sacer, das nackte, bloße Leben, ist die theoretische Denkfigur, die Agamben im ersten Buch

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seines neunbändigen Projekts vorstellt. Das nackte, bloße Leben ist das Leben des Homo Sacer, welches »getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf « (Agamben 2002: 18, Herv. dort). Der biopolitische Körper ist ein Produkt der Leistung des (modernen) Staates (vgl. Agamben 2002: 16). Die Teilung des Lebens in Zonen von Einschluss und Ausschluss ist eines der Prinzipien, nach denen der (moderne) Staat operiert. Es gehört zum Kern der souveränen Praxis dazu über das Leben zu bestimmen. In Homo Sacer und das nackte Leben (2016), untersucht Agamben den »verborgenen Kreuzpunkt zwischen dem juridischinstitutionellen Modell und dem biopolitischen Modell der Macht« (Agamben 2016: 16). Das nackte, bloße Leben ist nicht von vornherein: es wird erst hervorgebracht und produziert. Das bloße Leben »ist ein Produkt der Maschine und nicht etwas, das vor ihr existiert, so wie das Recht keinerlei Gerichtshof in der Natur oder in einem göttlichen Verstand ist« (Agamben 2004: 103). Die Idee davon Rechte zu besitzen und deren Anerkennung und Zuschreibung, ist unabdingbar für die Produktion des bloßen Lebens, dem diese Rechte entzogen sind: das Leben, das auf eine bloße Existenz, das nackte Leben zurückgeworfen wird. Das Leben des Homo Sacer ist das politisch nicht mehr qualifizierte Leben. Agamben baut seine Figur der Homo Sacer auf die antike Unterscheidung zwischen zoe und bios auf. Die Griechen besaßen kein einzelnes Wort für das Leben. Es wurde zwischen dem natürlichen, biologischen und tatsächlichen Leben, welches zoe genannt wurde und dem politisch qualifizierten Leben, welches als bios bezeichnet wurde, unterschieden (vgl. Agamben 2002: 11). Die Vorstellung von einer Trennung des Lebens existierte also schon. Bei Aristoteles wird zwischen dem oikos und der polis getrennt: »In der antiken Welt ist das einfache natürliche Leben […] aus der polis im eigentlichen Sinn ausgeschlossen und als rein reproduktives Leben strick auf den Bereich des oikos eingeschränkt« (ebd.: 12). Die Vorstellung einer Trennung des Lebens, die Agamben auch bei Hannah Arendts Unterscheidung zwischen den Bereichen des Privaten und des Öffentlichen wiedererkennt. Ausgehend von dieser Vorstellung einer Trennung, folgt Agamben Arendt und Foucault in seiner Analyse: Vor dem Hintergrund einer Trennung zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich (dem Politischen) gehört es zur Leistung des (modernen) Staates das aus dem Politischen ausgeschlossene nackte Leben wieder in die Sphäre des Politischen hereinzuholen. Dies geschieht allerding nicht, indem dem nackten Leben wieder politisch qualifizierte Rechte gegeben würden: es wird als bloßes Leben hereingeholt, d.h. als zoe. Zoe wird wieder in die Sphäre des Politischen zurückgeholt, wird für (moderne) Formen des Regierens sogar zum zentralen Ansatzpunkt, was Foucault mit seinen Arbeiten über und zur Biopolitik, Disziplinarmacht und Pastoralmacht ausbreitet (vgl. ebd.: 13f). Agamben geht so weit, dass er sagt, dass das Einbeziehen des einst ausgeschlossenen nackten Lebens in den Bereich des Politischen den »Kern der souveränen Macht bilden […], dass die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht [sogar] ist« (ebd.: 16). An Foucaults Werke anschließend geht auch Agamben davon aus, dass »das Eintreten der zoe in die Sphäre der polis, die Politisierung des nackten Lebens als solches […] auf jeden Fall das entscheidende Ereignis der Moderne [bildet] und […] eine

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radikale Transformation der klassischen politisch-philosophischen Kategorien [markiert].« (Ebd.: 14) Agamben nimmt in der Folge eine Korrektur – Verschiebung – der Foucaultschen These vor: »Was die moderne Politik auszeichnet, ist nicht so sehr die an sich uralte Einschließung der zoe in die polis noch einfach die Tatsache, daß das Leben als solches zu einem vorrangigen Gegenstand der Berechnungen und Voraussicht der staatlichen Macht wird, entscheidend ist vielmehr, daß das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozeß, durch den die Annahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluß und Einschluß, Außen und Innen, zoe und bios, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten.« (Ebd.: 19) Der potenzielle Ausnahmezustand, der jeder Ordnung eingeschrieben ist und mit ihm das nackte Leben, das im Ausnahmezustand in einer Zone der Ununterscheidbarkeit, an der Schwelle zwischen Absolutismus und Demokratie, hervortritt, bilden bei Agamben »das verborgene Fundament, auf dem das ganze politische System [ruht]« (Agamben 2002: 19). Und wenn nun diese Grenzen des politischen Systems »bis ins Unbestimmte verschwimmen, dann setz sich das nackte Leben, das [den Staat] bewohnte […] frei und wird zum Subjekt und Objekt der Konflikte politischer Ordnung, dem einzigen Ort sowohl der Organisation der staatlichen Macht als auch der Emanzipation von ihr.« (Ebd.) »Das nackte Leben des Staatsbürgers, der neue biopolitische Körper der Menschheit« (ebd.) bildet den Moment und wird zum zentaralen Knotenpunkt, in dem der »Prozeß der Disziplinierung, durch den die Staatsmacht den Menschen als Lebewesen zu seinem eigenen spezifischen Objekt erhebt« (ebd.). Das beinhaltet gleichzeitig den scheinbar gegenläufigen Prozess, durch den der Mensch sich nicht mehr nur als Objekt der politischen Macht begreift, sondern sich vielmehr als »Subjekt der politischen Macht präsentiert« (ebd.). Disziplinierung und Emanzipation und Unterwerfung und Ermächtigung, in einer Form der Eroberung von Agency, Identität und Positionierung, als augenscheinlich gegensätzliche, einander widersprechende und nicht gleichzeitig denkbare Prozesse werden nicht aufgelöst oder überwunden, sondern bleiben in einer Beziehung von maximaler Spannung zueinander bestehen (siehe Kapitel 1.3). Der Homo Sacer, als das Leben, das getötet aber nicht geopfert werden kann (vgl. ebd.: 18), ist in doppelter Hinsicht ent-rechtet. Er ist sowohl aus der weltlichen (Rechts-)Ordnung als auch der göttlichen (Rechts-)Ordnung ausgeschlossen. Wer das Leben des Homo Sacer tötet, der muss keine strafrechtliche Verfolgung befürchten. Der Homo Sacer kann nicht ermordet oder hingerichtet werden. Es ist das Leben, das keinen Schutz genießt, das sich auf keine schützende Macht berufen kann: Es besitzt keine Schutzrechte, wie sie einem Bürger moderner Nationalstaaten zugestanden werden. Es ist kein Staat für das (körperliches) Wohlergehen verantwortlich, kein Staat gewährleistet die (körperliche) Unversehrtheit. Und kein Staat ist demnach in der Position und Ver-

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Antwortung den Schaden an dem Leben des Homo Sacer zu sühnen oder zu bestrafen und jene zur Rechenschaft zu ziehen, die sich an dem nackten Leben des Homo Sacer vergehen. Er ist von der weltlichen Ordnung ebenso wie von der göttlichen Ordnung ausgeschlossen (vgl. ebd.: 81f, 91f). »Was die Verfassung des homo sacer bestimmt ist also nicht so sehr die vermeintlich ursprüngliche Doppeldeutigkeit der Heiligkeit als vielmehr die Eigentümlichkeit der doppelten Einschließung, in der er sich von der Gewalt, der er ausgesetzt ist, versetzt findet. Diese Gewalt – die nicht sanktionierbare Tötung, die jeder ihm gegenüber verüben kann – ist weder als Opfer noch als Mord noch als Vollstreckung eines Urteils noch als Sakrileg einzustufen.« (Ebd.: 92, Herv. dort) Sowohl souveräne Macht als auch die Figur des Homo Sacer stehen beidseitig außerhalb der Ordnung: »Hier entfaltet die strukturelle Analogie zwischen souveräner Ausnahme und sacratio ihre volle Bedeutung. An den beiden äußersten Grenzen der Ordnung stellen der Souverän und der homo sacer zwei symmetrische Figuren dar, die dieselbe Struktur haben und korreliert sind: Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln.« (Ebd.: 94, Herv. dort) Im Ausnahmezustand ist somit jedes Leben potenziell homo sacer im Angesichte souveräner Macht: »Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in dieser Sphäre eingebunden ist« (ebd.: 93). In einer Lesart Agambens, die Schmitts Verständnis des Souveräns betont, würde eben jene souveräne Macht als von sich aus herausgehend angenommen werden: sie begegnete uns in Form von Regierenden oder entscheidenden Akteuren, die über den Ausnahmezustand bestimmen und damit über das (bloße, nackte) Leben entscheiden. Bei Schmitt ist der Souverän der, der über den Ausnahmezustand entscheidet (vgl. Schmitt 2015 [1922]: 13). Wenden wir uns von einer substanziellen Fassung des Souveräns und einer gedachten Einmaligkeit und damit implizierten Schlussendlichkeit und Dauerhaftigkeit eines Entscheidungsaktes ab, lassen sich souveräne Macht, Ausnahmezustand und Homo Sacer im trad’schen Sinne als Variablen begreifen: dem Verständnis einer Philosophie des Habens folgend (vgl. Tarde 2015). Homo Sacher, Ausnahmezustand und souveräne Macht könnte als besondere Beziehungsformen und -konstellationen zu und miteinander, sowie gegenübereinander und einander bedingend betrachtet werden. Agambens Arbeit zeigt uns die Fragilität der angenommenen Ordnung, die sich schon darüber ergibt, dass ihr konstitutives Moment außerhalb ihres totalen Souveränitätsanspruchs liegt. Dies zeigt die historische Materialität von Ideen und Normen, eines Vorheringen, dass in die Aktualität hineinwirkt und widerständig ist: Die Norm gilt eigentlich noch – doch ihre Kraft ist gemindert, sie entfaltet keine Durchsetzungskraft mehr. Sie wirkt nicht mehr wie gewohnt und so müssen die Leerstellen neu ausgehandelt werden: Räume aus- und verhandelt werden. Agambens Denken findet in den Zonen des Unbestimmten statt: dort wo die Dinge noch ausgehandelt werden müssen,

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Kräfte aber wirken und einwirken und obgleich womöglich widersprechend einander nicht zwingend aufheben müssen und im paradoxen Verhältnis zueinanderstehen. Wird Agambens Homo Sacer und Ausnahmezustand nicht mehr personal gedacht, gilt es nicht mehr den Homo Sacer oder den Souverän zu identifizieren. Wenn Souverän und Homo Sacer eben gerade nicht als Personen(-gruppen), als personale Akteure gefasst werden, sondern als Verfassungen von Beziehungsformen, als mögliche Zuschreibungen, als Zustand eines Sich-(Wieder-)Findens. Womit nicht die Figuren betont, sondern ihre Verfasstheit als mehr-oder-weniger schutzlos ausgeliefert, mehr-oder-weniger gebannt, mehroder-weniger abgewendet, mehr-oder-weniger und gleichzeitig als Ausnahme innerhalb-undaußerhalb einer konstituierten (gewordenen) Ordnung eben gerade in einer Zone der (noch) Unbestimmtheit begriffen. Agembens Ausnahmezustand und Homo Sacer können soziologisch übersetzt mehr sein als ihre realen Entsprechungen. Agambens Analyse des Ausnahmezustands beginnt mit der Suche und Untersuchung seiner realen Formen: der Verortung des Ausnahmezustands im Lager. Die Analyse des Ausnahmezustands geht über eine Beschreibung der besonderen Ausnahmesituation hinaus, indem Agamben daraufhin die Logik der Ausnahme, als etwas, das in einer Geste des ausschließenden Einschlusses gleichzeitig aus einer Ordnung ausgeklammert und in sie einbezogen wird, ausbuchstabiert. Mit dieser Denkfigur einer Geste des ausschließenden Einschlusses ermöglicht Agamben eine Betrachtung in der Zone der Ununterscheidbarkeit: dort, wo ordnungsschöpfende und -erhaltende Strukturen, wie beispielsweise Gesetze und Institutionen, noch bestehen, ihre Funktion aber nicht mehr ausreichend erfüllen. Situationen des Ausnahmezustands sind durch Gesten der Abwendung markiert. Agamben spricht von der Abkehr göttlicher und weltlicher Mächte, die versprochenen Schutz zurückziehen und das nackte, bloße Leben sich selbst überlassen. In realen Ausnahmezuständen, wie beispielsweise nach Umweltkatastrophen oder anderen katastrophalen Ereignissen, die gesamtgesellschaftliche Ordnungen erschüttern und bestehende Systeme erschüttern und sogar zu ihrem Zusammenbruch führen, finden sich wiederholend Realisierungen von Momenten und Situationen des Ausnahmezustands, der bei Agamben noch, an Carl Schmitt anknüpfend, stark mit realpolitischer Regierungspraxis verbunden ist: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« (Schmitt 2015 [1922]: 13). In einer Widerlesung ist es nicht der Souverän, der den Ausnahmezustand bestimmt, sondern im Ausnahmezustand wird die souveräne Kraft erzeugt. Der Ausnahmezustand wird zu dem Moment und dem Ort, wann und wo die souveräne Kraft sich als Souverän konstituiert. Wer die Ordnung begründet und den Ausnahmezustand überwindet, steht außerhalb der Ordnung und ist damit gleichzeitig die Ausnahme selbst, die jeder Ordnung immer schon im Moment ihrer Begründung inne liegt. Agambens Fassung des Ausnahmezustands in seinem besonderen Spannungsverhältnis zur Ordnung ermöglicht die Betrachtung dessen, was in den Zwischenmomenten passiert. Agamben bietet Ideen, Denkfiguren und Begrifflichkeiten an, die diese Räume des Ununterscheidbaren beschreiben können. In Verbindung mit Edgar Morins Konzeption von Komplexität (siehe Kapitel 1) wird der ambivalente Widerspruch, der Agambens Denkfiguren innewohnt, nicht auflösbarer, aber erträglich denkbar. Die ständige Überwindung und Neu-Ordnung dessen, was außerhalb der Ordnung steht, kann als menschliches Tun betrachtet werden: als Organisieren. Dem menschengemachten Recht liegt entsprechend eine ähnliche, unauflösbare,

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doppelte Ambivalenz inne: von Menschen gemacht, wird das Wirkverhältnis gleichzeitig in die Unterwerfung des menschlichen Lebens unter das Recht gedreht. Das organisierende, sortierende und ordnende menschliche Tun, das außerhalb der Ordnung im Ausnahmezustand besonders sichtbar wird, wird gleichzeitig aber in die rechtliche Ordnung eingefasst und von ihr begrenzt, beschränkt, reguliert und moderiert.

5.2 Übersetzung: Flucht als Ausnahme Wie wir im vorausgegangenen Kapitel sehen konnten, wird die Nützlichkeit von Agambens Arbeiten von der deutschsprachigen FluchtMigrationsforschung zwar erkannt und aufgenommen, doch finden Agambens Ausnahmezustand, Lageranalyse und die Figur des Homo Sacer nur reduziert Anwendung. Agambens Arbeiten dienen einer deskriptiven Beschreibung der Fluchtsituation und Situation Geflüchteter, die sich beispielsweise in Flüchtlingslagern und Gruppenunterkünften wiederfinden. Agamben selbst betrachtet die Realfigur der Flüchtenden als Realisierungen der theoretischen Figur des Homo Sacer und betrachtet Flüchtlinge als ein »beunruhigendes Moment in der Ordnung des Nationalstaats« (Agamben 2001: 5). »[Wenn] Flüchtlinge ein solch beunruhigendes Moment in der Ordnung des Nationalstaats darstellen, so in erster Linie deshalb, weil sie, indem sie die Identität von Mensch und Bürger und damit von Abstammung und Nationalität beschädigen, den Ursprungsmythos der Souveränität in Frage stellen. Einzelne Ausnahmen dieses Prinzips kannte man freilich immer. Neu in der heutigen Zeit, und damit eine Bedrohung des Nationalstaats in seinen Grundfesten, ist es hingegen, dass eine größer werdende Zahl Menschen nicht länger in der Nation repräsentiert (und repräsentierbar) ist. Da und insofern dies die alte Dreieinigkeit Staat-Nation-Territorium aus den Angeln hebt, muss der Flüchtling, jene scheinbar marginale Gestalt, als zentrale Figur unserer politischen Geschichte erachtet werden.« (Ebd.) Agamben folgend wird auch in der FluchtMigrationsforschung eine quasi-Gleichsetzung von Flüchtling und Homo Sacer vorgenommen. Der Flüchtling als die Person, die auf das nackte, bloße Leben reduziert wurde, die als staatenlos, als bürgerrechtslos keinem Territorium zugeordnet werden kann, die sich nicht auf den Schutz eines Souveräns zurückberufen kann und daher anderswo Asyl – Schutz – ersucht. Die folgenden Ausführungen nehmen nicht die Figur des Homo Sacer und die Realfigur des Flüchtlings in den Blick, auch wenn beide Elemente nicht ausgeklammert werden. Im Folgenden liegt der Fokus auf der Flucht selbst, die vor dem Hintergrund von Agambens Werk als Ausnahme betrachtet wird, die der Ordnung immer schon eingeschrieben ist und in dieser Wendung nicht einer Ausnahme im allgemeinen Sprachgebraucht der Ausnahme entspricht, sondern gleichzeitig konstituierende Bedingung für die Ordnung ist und die Möglichkeit ihres Unvermögens als Ordnung demonstriert. Wenn Flucht im Folgenden nun als eine Ausnahme im Sinne von Agambens Logik der Ausnahme betrachtet werden soll, so folgt daraus, dass auch Flucht, ähnlich wie Fremdheit (siehe Kapitel 3) und die Ausnahme (siehe Kapitel 5.1) undefiniert bleiben muss, um sich als Ausnahme im Sinne der Logik der Ausnahme zu qualifizieren. Im Folgenden wird

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gezeigt, wie sich durch diese Unterbestimmtheit von Flucht eine besondere Komplexität für Forschung ergibt und Versuche wissenschaftlicher Akteure aufgegriffen, diese Komplexität zu bewältigen, einzuhegen und zumindest einen Umgang für und innerhalb der Forschung damit zu finden. Im Anschluss daran wird durch eine Verschiebung der Perspektive von Wissenschaft zu Politik einerseits die Verschränkung beider als getrennt gedachter Sphären verdeutlicht und andererseits eine Wende der Betrachtung vorgenommen, die Flucht als immer schon eingeschriebene Ausnahme innerhalb der Logik der Nationalstaatsordnung betrachtet.

5.2.1 Unbestimmbarkeit von Flucht Der Gegenstand des Forschungsfeldes, das sich um Phänomene der Flucht gebildet hat, ist »nicht definiert […], sondern selbst zentrales Thema in theoretischen und methodologischen Auseinandersetzungen« (Kleist et al. 2019: 10). Schon im zweiten Kapitel dieser Arbeit wurde die Schwierigkeit der genauen Definition von Flucht als Phänomen und Begriff deutlich (siehe Kapitel 2.3). Nicht nur das Feld der deutschsprachigen FluchtMigrationsforschung steht vor der Herausforderung. So heißt es im Oxford Handbook of Refugee and Forced Migration: »There is no definitive consensus among researchers about where the boundaries of refugee and forced migration studies should be drawn« (Fiddian-Quasmiyeh et al. 2014). Nicht einmal auf einen Minimalkonsens scheint man sich – im Sinne pragmatischer Forschungsrealisierung – einigen zu können (vgl. Scherr 2021: 10). Das Fehlen einer Definition stellt die Forschung immer wieder vor Herausforderungen und sei es die Schwierigkeit die zum Thema Forschenden zusammen zu bringen und einen interdisziplinären Austausch zu ermöglichen (siehe Kapitel 2.3). Mit der Namensgebung des Forschungsfeldes – FluchtMigration – werden bereits zwei Aspekte deutlich: einerseits ist Flucht von Migration zu unterscheiden und andererseits gehören Flucht und Migration dennoch zusammen, können also nicht separat voneinander betrachtet werden (vgl. Fischer et al. 2018: 4f. und Berlinghoff et al. 2019). Die Versuche einer konsensfähigen Definition von Flucht sind immerzu auf ihre Abgrenzung von und Bezugnahme auf andere Formen von Migration angewiesen. Unter Zuhilfenahme der Unterscheidung zwischen erzwungener und freiwilliger Migration wird Flucht in Abgrenzung zu anderen Migrationsformen als unfreiwillig und erzwungen klassifiziert. Flucht könne auch als Zwangs-, Krisen- oder Überlebensmigration (vgl. Kleist 2019: 12) verstanden werden oder könnte unter die Kategorie »irregulärer Migration« (Kleist 2015) gefasst werden. Bei genauerer Betrachtung von Flucht als realem Phänomen, wird die Unterscheidung von freiwilliger und unfreiwilliger Migration unpraktikabel, da die Motive für oder gegen Migration nicht immer singulär oder linear-kausal angenommen werden können, denn »meist sind wirtschaftliche, soziale, politische, religiöse und persönliche Motive in unterschiedlichen Konstellationen mit je verschiedenem Gewicht eng miteinander verflogen« (Oltmer 2020: 4). Ebenso können sich Motivlagen im Verlauf des Flüchtens mehrmals verändern und sind oftmals individuell und subjektiv. Zu den subjektiven Faktoren gehören beispielsweise die Einschätzung und Bewertung der Situation im Herkunftsland durch die Einzelnen: was wurde zurückgelassen, wovor genau wurde geflüchtet, was wiederum wurde erwartet im Ankunftsland zu finden, worauf wurde gehofft? Hoffnungen, Erwartungen, Sorgen und Ängste Einzelner können nicht allgemein

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und nicht als unveränderbar betrachtet werden: Sie können sich im Fluchtverlauf ständig ändern. Aus Retrospektive, durch den Gewinn neuerer Informationen, durch entstandene räumliche und zeitliche Distanz werden Situationen und vergangene Ereignisse womöglich anders bewertet, umgedeutet und überformt. Die Motivation zur Wanderung als ein Kriterium zur Klassifikation von Migrationsformen anzulegen, geht bis auf früheste Migrationsforschung, wie beispielsweise Ernest Ravensteins Gesetze der Migration (vgl. Ravenstein 1889) zurück. Neben der Motivation als Unterscheidungskriterium, etablierten sich im Zuge der Migrationsforschung seit Ravensteins Gesetzen der Migration weitere Merkmale, die sich als nützlich zur Bemessung und Unterscheidung unterschiedlicher Migrationsformen erwiesen haben. Dazu gehört die räumlich zurückgelegte Distanz. Mithilfe dieses Merkmals lassen sich lokal Wandernde, Fernwandernde oder Etappenwandernde voneinander differenzieren. Ein weiteres Merkmal bildet die Zeit, wodurch sich saisonal Wandernde von dauerhaft Wandernden oder auch Nachwandernden unterscheiden lassen. Ein drittes Merkmal ist die Menge der Migrierenden: handelt es sich um Einzelpersonen, Gruppen oder so große Gruppen, dass von einer Massenwanderung gesprochen werden kann? Neben den drei Merkmalen werden, je nach Forschungsinteresse, weitere soziodemografische Merkmale Migrierender, wie z.B. Geschlecht, Alter oder Familienstand mit einbezogen (vgl. Ravenstein 1889, Han 2016). Es geht um die Fragen: Wer wandert? Wie lange und wie weit wird gewandert? Wo startet die Wanderung? Wo endet das Wandern? Warum wird gewandert und was löst die Wanderung aus? Welche Konsequenzen hat das Wandern für Herkunfts- aber auch Ankunftsregionen? (vgl. Ravenstein 1889, Petersen 1958, Grigg 1977, Han 2016). Gemäß dieser Kriterien werden unterschiedliche Typen und Formen von Migration voneinander abgegrenzt, Klassifikationen gefunden, empirische Beobachtungen in die abgeleitete und angebotene Systematik eingeordnet und bestimmte Formen von Migration entsprechend benannt. So ordnete William Petersen Mitte des 20. Jahrhunderts Migrationsbewegungen gemäß der Art und Weise der Wanderung in einem Spektrum zwischen aggressiv und friedlich ein um zwischen Kolonialisierung, Invasion, Eroberung und Immigration unterscheiden zu können (vgl. Petersen 1958). Wird eine Migration durch äußere Umstände ausgelöst, wird sie als erzwungen oder unfreiwillig klassifiziert. Diese äußeren Umstände bezeichnen Situationen oder Ereignisse, die außerhalb des Einflussbereiches der Migrierenden liegen: beispielsweise Krieg, Naturkatastrophen und andere Formen von Krisen. Und inwiefern diese Zwangsmigration dann eher als forced oder impelled bezeichnet wird, wird von der (noch) vorhandenen Agency der Migrierenden abhängig gemacht: »It is useful to divide this class into impelled migration, when the migrants retain some power to decide whether or not to leave, and forced migration, when they do not have this power.« (ebd.: 261). Auch wenn frühere Ansätze zur Erfassung und Beforschung von Migration, wie Ravensteins Gesetze oder Petersens Typisierungen heute durch reflexive Ansätze abgelöst werden, die Migrationsformen in ihrer Komplexität versuchen zu erfassen, verweisen frühere Theorien und Modelle bereits darauf, dass Migration nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten ist: Migration steht nicht für sich selbst. Migration muss immer auch in Bezug zu anderem, wie beispielsweise der unmittelbaren Umwelt, betrachtet werden. Schon Petersens Modell unterscheidet drei Beziehungslinien: Migration kann (a) in Bezug zu Ereignissen in der natürlich gegebenen Umwelt stehen. Beispielsweise

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wenn Migration durch Naturkatastrophen ausgelöst wird, wenn beispielsweise Lebensräume zerstört werden. Demgegenüber werde bei Formen der Zwangsmigration (b) eine Beziehung zwischen den Migrierenden und staatlichen oder zumindest staatsähnlichen Akteuren betont und (c) würden in anderen Formen der Migration vor allem eine soziale Ebene – zu anderen Menschen und/oder ihren Normen – angesprochen werden (vgl. ebd.: 266). Die drei Bezugsmomente stehen nicht separat voneinander: Naturereignisse, politische und gesellschaftliche Dimensionen sind immer auch ineinander verflochten, überlagern einander und stehen in Wechselwirkung zueinander. Migration in Isolation zu betrachten, führt also unweigerlich zu einer Reduktion und Verkürzung und sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Akteure und Entitäten entfalten Wirkung und sind gleichzeitig durch Migrationsbewegungen betroffen. Jochen Oltmer betont in seinem Definitionsversuch von Flucht die besondere Passivität (bald) Migrierender. Er betont, dass das Besondere von Flucht sei, dass Flucht nicht aus sich heraus entstehe, sondern Flucht immer auf eine Weise auch »ein Ausweichen vor einer lebensbedrohlichen Zwangslage aufgrund von Gewalt« (Oltmer 2013: 43) darstellt. Menschen werden zum Flüchten gebracht, sie werden überhaupt erst durch Einwirkung aus ihrer Passivität, aus der erlebten Normalität heraus verdrängt und im latour’schen Sinne zum Handeln gebracht (vgl. Latour 2014: 79). Auch beinhaltet dieses Definitionsangebot ein Element von Lévinas absolutem Anderen: der drohende Tod, der im Moment einer lebensbedrohlichen Zwangslage herantritt, sich nähert, erzeugt den Zwang zur Re-Aktion (vgl. Lévinas 2003 und 2012). Die Begegnung mit dem Anderen wird in dem Fall die Konfrontation mit lebensbedrohlicher Gewalt, die durch Akteure vor Ort realisiert wird, die wie ein Fremder räumlich nah und gleichzeitig der eigenen Normalität fern ist. Nicht zu reagieren, bedeutet dann die Negierung des eigenen Seins und die schlussendliche Unmöglichkeit des eigenen Könnens. Dabei entfaltet schon die Drohung von Gewalt eine Wirkung: die Bedrohung ist noch virtuell, etwas das noch nicht realisiert wurde. Als ein Risiko ist die Bedrohung bereits präsent und entfaltet Wirkung: sie wird in die Entscheidung mit einbezogen. Die Definition von Flucht ist nicht nur eine rein wissenschaftliche (wissenschaftsinterne) Herausforderung: Eine Einigung, Ab- und Eingrenzung was Flucht ist und was es nicht ist, hätte wiederum Konsequenzen, wäre eine Einigung und Entscheidung, die gar überlebenswichtige Relevanz in Bezug zum Asyl entfalten könnte. In Bezug zum Asyl erscheint es weniger wichtig eine Bestimmung darüber vorzunehmen was Flucht an sich ist: relevanter erscheint die Festlegung darüber, was als solche anerkannt wird. Die (verbindliche) Anerkennung von Merkmalen hätte wiederum reale Konsequenzen zur Folge. Wodurch, wenn wir an der Stelle die Asylpraxis mit einbeziehen, deutlich wird, dass Flucht immer auch in Bezug zu staatlichen oder staatsähnlichen Akteuren zu betrachten ist. Wird Flucht durch bestimmte Merkmale definiert und festgelegt, ergibt sich, dass jene, die diese Erfahrung der Flucht in dem Falle machten, auch als Flüchtlinge gelten müssten, wodurch sich wiederum »in besonderer Weise ein Anspruch auf Aufnahme und Schutz« (Scherr 2021: 8) ableiten ließe. Auch wenn durch die Genfer Flüchtlingskonvention zumindest eine rechtliche Definition vorgibt, macht schon die Ergänzung der Definition von 1967 deutlich, dass diese rechtliche Definition auch – auf Basis neuerer Erkenntnisse und Entwicklungen – änderbar ist. Wodurch an der Stelle die enge Verflechtung und die Wechselwirkungen zwischen isoliert gedachter Sphären, wie beispielswei-

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se Wissenschaft, Recht und Realpolitik, deutlich werden: Wissenschaft operiert nicht losgelöst und unabhängig von anderen gesellschaftlichen Bereichen. Handlungen und Entscheidungen darüber, was gefördert und was erforscht wird, welche Fragen als besonders interessant erscheinen und auch Entscheidungen über den Einbezug oder Ausschluss von Bereichen, Sphären, Akteuren und Elementen, sind immer auch durch eine komplexe Vielheit von Interessen beeinflusst, die nicht isoliert für sich alleinstehen, sondern immer auch eingebunden in weitere Netze sind: immer schon Produkte der Arbeit verschiedener Akteur-Netzwerke.

5.2.2 Politisierung von Flucht Das Verhältnis des modernen Nationalstaats zu Flucht kann als eine reale Übersetzung der Ausnahmebeziehung betrachtet werden, die sich aus Agambens Werk ableiten lässt. Kennzeichnend für das (moderne) Verständnis des (europäischen) Nationalstaats ist ein Zusammenfallen von Ideen wie Ethnie (Staatsvolk), kultureller Homogenität und Einheit im Territorium (Land). Die Idee einer ethnisch-kulturell konnotierten Einheit, die sich in der Idee der Nation zusammenfassen lässt, findet ihre politische und gesellschaftliche Realisierung im (modernen) Nationalstaat. Die Idee einer Nation und die Entstehung moderner Nationalstaaten gehen Hand in Hand. Nationalismus wird in dem Zuge zu einem politischen Prinzip, das besagt, dass politische und nationale Einheiten deckungsgleich sind (vgl. Gellner 1991: 8) und erfüllt zudem die Aufgabe eine Integrationsideologie anzubieten (vgl. Langewiesche 2000: 54). Durch verschiedene Naturalisierungsprozesse und -bemühungen wird der Anschein gefestigt, dass es sich bei Nationen und Nationalstaaten um vermeintlich natürliche Gegebenheiten handelte bzw. sie zumindest logisch-kausale Ergebnisse fortschreitender Entwicklungsprozesse sind. Auf folgenreiche Verquickung von Territorium, Volk, Staatsmacht mit Gesellschaft, machte unter anderem Ulrich Beck um die Jahrtausendwende mit seiner Kritik am methodologischen Nationalismus aufmerksam (vgl. Beck 2000, Beck/Grande 2010). Anzunehmen, dass Territorium, Volk und Staats macht eines Nationalstaats mit einer Vorstellung einer geschlossenen, abgrenzbaren Gesellschaft, die sich innerhalb dieses Territoriums, unterhalb der Staatsmacht und durch das Staatsvolk entfalte, führte innerhalb sozialwissenschaftlicher Untersuchungen von Gesellschaften zu beengten, reduktionistischen und verzerrten Perspektiven, wie beispielsweise einer Überbetonung von staatlicher Gestaltungspotenziale durch einen Import politischer Souveränitätskonzepte in sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Eine ähnliche Kritik wurde im vorausgegangenen Abschnitt bereits von Bochmann in Bezug zu Agambens Figur des Homo Sacer formuliert: Agambens Arbeiten seien zu staatszentriert und übersähen die Mitgestaltungspotenziale auf der Individualebene jener, die als Realisierungen des Homo Sacer betrachtet werden (vgl. Bochmann 2019). Das Problem der Zuordnung theoretischer Figuren zu konkret-realen Begebenheiten ist das Problem, das in diesem Kapitel gesonderte Beachtung findet. Agamben selbst sieht in der Figur des Flüchtlings eine Realisierung des Homo Sacer (vgl. Agamben 2001). Die Figur des Souveräns bei Schmitt und Agamben wird der Staatsgewalt entsprechend zugeordnet, die allein über den Ausnahmezustand bestimmen kann. Der Ausnahmezustand wird aus dieser Perspektive zu einem Modus des Regierens, was

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sich an fortlaufenden Ausnahmezuständen in Frankreich und de facto krisenhaften Zuständen, die besondere Maßnahmen erfordern, wie während der ›Flüchtlingskrise‹ und Pandemielage. Durch die Zuordnung der Figuren entsprechend ihrer vermeintlich erkannten Realisierungen, ergeben sich vor dem Hintergrund der ausformulierten Theorien Agambens entsprechende Rückschlüsse, die durch empirische Forschung entweder bestätigt oder widerlegt werden können. Etwas, das durch deutschsprachige FluchtMigrationsforschung im Hinblick auf Agambens Arbeiten unternommen und besprochen wurde (siehe Kapitel 5.1.1). Wie im vorausgegangenen Abschnitt gezeigt wurde, gelingt es Agamben das Problem des Souveräns und der souveränen Macht aus der reinen Sphäre des politisch-abstrakten heraus zu lösen und die Spuren ihrer Verortung im materiellen Raum – im Lager – nachzuziehen, doch zeigt die Rezeption Agambens auch die Notwendigkeit einer stärkeren theoretischen Übersetzung des Werkes an, wenn Agambens Ansätze zugunsten bereits umfassend soziologisierter Theorien und Konzepte, wie Goffmans Totaler Institution, weichen müssen (siehe Kapitel 5.1.1). Eine Kritik in der Vorgehensweise einer Suche, Identifizierung und Zuordnung von vermeintlich realen Entsprechungen zu theoretischen Elementen, wird in den folgenden Ausführungen in den Blick genommen. Dieses Vorgehen für zu einer Verengung der Perspektive und einem vorschnellen Verwerfen potenziell nützlicher Theorien und Ansätze. Vor dem Hintergrund der Denkweise und ANT-geleiteten Perspektive, die zu Beginn dieser Arbeit ausgeführt wurden (siehe Kapitel 1 und 2.1) lässt sich erkennen, dass der Realakteur des Nationalstaats Migration und Flucht als zu lösende Probleme anzeigt und Arbeit daraufhin wendet, die identifizierten Herausforderungen zu bewältigen. Aus der Perspektive kann auch erkannt werden, dass Migration nicht etwa – ähnlich wie Fremdheit und der Fremde (siehe Kapitel 3) nicht aus sich selbst heraus problematisch sind, sondern erst in Bezug zur Verfasstheit des modernen Nationalstaats zu einem Problem gemacht wird.

5.2.3 Verrechtlichung von Flucht Im Folgenden wird diese Problematisierung von Migration in Bezug zur spezifischen Verfassung des modernen Nationalstaats ausgeführt. Bei der Verfassung moderner Nationalstaaten handelt es sich um eine komplizierte Verflechtung unterschiedlicher Elemente, die wiederholt durch performative Akte verbunden und als falsche Einheit stabilisiert werden: die Idee der Einheit einer Nation im Territorium und eingebunden durch die dort herrschende Staatsgewalt ist eine Fiktion, die eine simplifizierte Unterscheidung zwischen einem Innen und Außen, zwischen einem Wir und den Anderen, ermöglicht und über die innere Heterogenität und Diversität hinwegtäuscht. Erst vor dem Hintergrund dieser Verfasstheit der modernen Nationalstaaten wir menschliche Mobilität im geophysischen Raum, d.h. über territoriale Grenzen hinweg, zu einem Problem. Die Verortung der Idee einer souveränen Macht und die Sesshaftigkeit von Menschen ist etwas, das im Rückblick auf die (bekannte) Geschichte der Menschheit, erst in den letzten Jahrhunderten zunehmend zu einer neuen Normalität geworden ist (vgl. Oltmer 2013 und 2020, Oswald 2007, Lucassen/Lucassen 2020). Migration an sich ist keine Erfindung der Neuzeit. Migration war lange Zeit Antrieb von Wandel, Entwicklung und Anpassungsstrategie. Erst als Menschen begannen zunehmend sesshaft zu werden, be-

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ginnen sich die Verhältnisse der beiden Modi der Bewegung im Raum (vgl. Simmel 1992 [1908]) zugunsten von Sesshaftigkeit zu verschieben (vgl. Lucassen/Lucassen 2020). Nur unter der Bedingung, dass Sesshaftigkeit als Normalität betrachtet wird, erscheint Migration als Abweichung davon. Die jüngere Menschheitsgeschichte ist im Hinblick auf Migration von einer stetigen Intensivierung geprägt: technologische Fortschritte, die Reisen auf längere Distanzen in kürzerer Zeit ermöglichten und starke kriegerische Auseinandersetzungen, die Europa in den letzten Jahrhunderten zeichneten, führten neben einem Umbau der territorialen Raumordnung auch zu starken Bevölkerungsverschiebungen innerhalb von Europa und über Europas Grenzen hinaus (vgl. Oswald 2007: 64f).1 Mit dem Zusammenbruch der alten Imperien (dem Großreich Österreich-Ungarn, dem russischen Zarenreich und osmanischen Reich), der territorialen Neuverteilung Europas und im Zuge der Großen Transformation, die religiösen, politischen und gesellschaftlichen Wandel mit sich brachte (siehe Kapitel 3.1), begann sich das Nationalstaatsprinzip als zunehmend dominierendes Modell in Europa durchzusetzen. Damit ging erstmals die Idee von ethnisch-kultureller Homogenisierung einher (vgl. Oswald 2007: 55) und die zunehmende Übernahme der Idee einer Nation (vgl. Anderson 2005) einher. Einer der Faktoren, die die territoriale Neuaufteilung mitbestimmten, war die angenommen kulturelle und ethnische Einheit der Bevölkerung innerhalb des neu abzugrenzenden Territoriums. Verstärkt wurde dieses Denken durch die Namensgebung: »Frankreich als Land der Franzosen« (ebd.: 56) wie ähnlich im Falle von Spanien, Italien und Deutschland. Die Zugehörigkeit wurde nun gemäß dem Recht des Bodens (ius soli) oder Recht des Blutes (ius sanguinis) geregelt. Die Idee einer gemeinsam geteilten Kultur, die durch soziale Vererbung von Eltern an Kinder weitergegeben werden sollte, festigte sich (vgl. ebd.: 58f). Man fand sich in der imaginierten Idee einer Nation als vermeintlich kulturell und ethnisch homogene Einheit zusammen: Bei Nationen handelt es sich in erster Linie um imaginierte Gemeinschaften (vgl. Anderson 2005). Eine Nation ist eine vorgestellte Entität, die gleichzeitig eine Lösung für das Problem von Fremdheit anbietet (vgl. Oswald 2007: 59). Die meisten Menschen innerhalb einer Nation kennen einander nicht persönlich. Die Gruppe, die unter der Entität Nation zusammenkommt, ist stark heterogen und durch etliche Unterschiede gekennzeichnet. Die Idee der Nation, in der man sich zusammenfindet, vermittelt ein Gefühl von Einheit(-lichkeit) und Zusammengehörigkeit und soll die innere Diversität überdecken. Die imaginierte Gemeinschaft ermöglicht eine (abstrakte) Identifikation auf der Basis von bestimmten Normen und Werten, über die Zusammengehörigkeit gestaltet und stabilisiert werden kann (vgl. Anderson 1996). Und Nationen sind gleichzeitig immer als gedachte Einheiten nach außen begrenzt. Es gibt also ein außerhalb der Gruppe: die eigene Nation lässt sich von anderen Nationen unterscheiden (vgl. Cornelisse 2010: 107). Auch das Verständnis moderner

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Das 15. Jahrhundert war die Kolonialzeit, die mit einer Expansion Europas einherging, geprägt. Der Zusammenbruch alter Imperien in den kommenden Jahrhunderten führte zu wiederholter Destabilisierung und wiederholten gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die nicht selten kriegerisch ausgefochten wurden, was neben Soldatenmigration auch starke Fluchtbewegungen hervorrief. Das 20. Jahrhundert bekam im Zuge der beiden Weltkriege und der damit verbundenen Flucht aus Europa heraus den Beinamen des Jahrhunderts der Flüchtlinge

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Staatsbürgerschaft ist eng mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten Europas verbunden. Nicht nur Territorien und Bevölkerungen mussten im Zuge des Zusammenbrechens vergangener Ordnungen und der Herausbildung neuer Ordnungen neu entschieden und organisiert werden. Die De-Legitimation alter Herrschaftsformen brachte die Notwendigkeit mit sich, neue Begründung der Legitimation neuer Herrschaftsformen und -ordnungen zu schöpfen (vgl. Lepsius 1990: 230). Die Idee der Nation und die politische und gesellschaftliche Realisierung im Nationalstaat wurde gleichzeitig zum Symbol der Befreiung vom Gottesgnadentum und damit der Befreiung vom Souverän der ›alten Welt‹, dem König oder Kaiser, also einem personalen Herrscher. Der moderne Nationalstaat symbolisiert(e) nun diese Freiheit und eine abstrakte Idee von Souveränität war notwendig für die Realisierung eines neuen politischen Körpers, der losgelöst von Gott, dem Papst oder Monarchen und trotz dieser Loslösung als ausreichend mächtig angenommen werden konnte, um Ordnung, Stabilität, Sicherheit und gewonnene Freiheit(en) nach innen wie außen zu gewährleisten (vgl. Cornelisse 2010: 106f). Die Konstruktion von staatlicher Souveränität nach außen – gegenüber anderen – korrespondiert mit einem Unterscheidungsprinzip, das auch nach innen gerichtet, schließlich vor dem Hintergrund der ethnischen Konnotation und gedachten kulturellen Homogenität einer Nation zwischen einem ›wir‹ und ›anderen‹ zu unterscheiden beginnt (vgl. Cornelisse 2010: 107). Der Nationalstaat wird also souveräner Staat konstituiert und muss als solcher auch gestaltet werden, nachdem das, was er ablöst als Souverän gegenüber anderen gedacht wurde: die Elemente der neuen Ordnungen mussten also mindestens genauso souverän wie die vorherigen gedacht werden. Nation und Staat bedingen sich wechselseitig. Die Idee der Nation »bezieht sich auf den Staat und auf die Verwirklichung der Selbstbestimmung« (Bielefeld 2008: 319). Die Realisierung im Nationalstaat ist Teil der Idee einer Nation: »Die Nation ist nicht der Staat, aber sie muss sich dennoch auf ihn beziehen, um sich verwirklichen zu können. Das Volk konstituiert sich rechtlich, aber um sich gegen die Formen der natürlichen Herrschaft zu behaupten, muss es sich selbst voraussetzen, um sich immer wieder auf sich selbst beziehen zu können: ›Wir sind das Volk‹.« (Bielefeld 2008: 319) Wiederholt muss – und wird – durch performative Akte diese Selbstverwirklichung vollzogen und beispielsweise das ansonsten unauffindbare Volk durch große Erzählungen zu bestimmten historischen Gelegenheiten wiederholend sichtbar gemacht (vgl. Bielefeld 2008: 319). Wenn Angela Merkel also ›Wir schaffen das!‹ proklamiert und vom zweiten Sommermärchen oder dem Wunder von München (vgl. Eckardt 2017: 34) die Rede ist, dann wird auf diese großen Erzählungen des ansonsten unsichtbaren Volkes Bezug genommen. Die Erzählung von Deutschland wird wiederholt performativ verstärkt: »Wir waren plötzlich Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Menschenliebe« (Karin GöringEckhardt 2015). Migration wird erst vor dem Hintergrund der Einheit von Staatsmacht, Ethnie und Territorium zu einer Bedrohung der (neuen) Ordnung. Der Akt der Migration, besonders der Moment des Grenzübertritts, durchbricht die Illusion der Nation und erschüttert das Gewaltmonopol des Nationalstaats. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, wird die

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Praxis von Abschiebungen und Deportationen zu einer Demonstration staatlicher Macht und Souveränität, die aufgrund der Einreise in das Territorium eine Verletzung erfährt und wiederhergestellt werden muss: »Within the discourse of international law, the practise of deportation can be derived from the sovereign right of states to control their territories and the discretion they have regarding the admittance and residence of aliens.« (Walters 2010: 83) An dieser Stelle offenbart sich eine gewisse Fragilität der komplizierten Konstruktion moderner Nationalstaaten und Nationen, die nur durch Gewalt am Leben selbst ihre Machtpotenz wieder herstellen kann (vgl. u.a. Agamben 2002, 2004, 2015). Migration wird zum Problem für den Nationalstaat: »Migratory movements across space are centra to inquires into the problem of sovereign (state) power« (Peutz/de Genova 2010: 9). Staatliche und behördliche Praktiken sind konstitutive Elemente für die Konstruktion von Migration als Problem (vgl. Nieswand/Drotbohm 2014: 2). Um Migration sichtbar zu machen, um sie zu dokumentieren und beherrschbar zu machen, werden eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure mobilisiert und in ein komplexes Bündel von Zusammenhängen, Wechselwirkungen und Interdependenzen eingebunden. Es ist ein umfangreiches Akteur-Netzwerk aktiv, in dem eine Vielzahl weiterer Akteur-Netzwerke eingebunden werden, die Migration sowohl innerhalb als auch außerhalb der territorialen Grenzen gestalten. Es wurden Systeme der Kontrolle von Zuwanderung etabliert und durch Gesetze, Verfahren und Aufbau von Bürokratie stabilisiert. Während potenzielle Arbeitskraft im Wohlfahrtsstaat erwünscht erscheint, sind andere Formen von Migration stärkeren Restriktionen unterworfen (vgl. Walters 2010: 86f). Es wird zwischen regulärer (gesetzlich regulierter) und irregulärer Migration unterschieden (vgl. Oltmer 2013: 42). Das Vorhandensein (staatlicher) Regulatorien, die Ein-/Ausreise aus einem Land oder auch den Aufenthalt in einem solchen regeln, ist die bedingende Grundlage für die Unterscheidung zwischen irregulärer oder regulärer Migration (bzw. Aufenthalt). Über ein solches System an Regulatorien und damit zusammenhängende Institutionen, (bürokratische) Prozesse, werden zudem asymmetrische Machtverhältnisse und Abhängigkeiten geschaffen. Eingebettet in rechtsähnliche Systeme und gefestigt in Gesetzen, wird in dem Zuge eine Unterscheidung zwischen legaler und illegaler Ein- und Auswanderung möglich. Irreguläre, d.h. nicht den Regeln entsprechende Migration, kann somit als illegale Migration eingeordnet werden, wodurch eine Kriminalisierung von bestimmten Migrationsformen und damit zusammenhängend auch eine Kriminalisierung der migrierenden Personen ermöglicht wird. Es gibt keine positive Bestimmung irregulärer Migration. Es handelt sich um Einreisewege, die negativ bestimmt werden: Sie folgen nicht den Vorgaben und Regeln, die vom Einreiseland bestimmt werden. Aus der irregulären Einreise folgt ein illegaler Aufenthalt im Einreiseland. Illegalität und Irregularität entstehen also nicht aus sich selbst heraus: Sie wird als etwas Anderes in einer Bestimmung eines Eigenen erst sichtbar. Die Bestimmung darüber, dass Menschen sich berechtigt in einem Territorium aufhalten, ermöglicht die Abgrenzung zu Menschen, die sich ohne Aufenthaltstitel im selben Territorium aufhalten. Der Begriff irregulärer Migration verweist auf eine Gruppe von Menschen, die »nach geltendem Recht keinen Aufenthaltstitel in Deutschland besitzen und im Prinzip ausrei-

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sepflichtig sind« (Alt/Cyrus 2002: 142). Sie sind Staatenlose, Undokumentierte und illegale Migrant:innen. »Aufenthaltsrechtliche Illegalität kann entstehen durch die irreguläre Einreise, durch den irregulären Aufenthalt […] oder irreguläre Beschäftigung« (Oswald 2007: 170). Als besonders gefährdet gelten Geflüchtete, deren Asylantrag abgewiesen wurde oder deren Aufenthaltstitel erloschen ist, für die eine Rückkehr in ihre Heimat allerdings keine Option darstellt, wodurch das Risiko in die Irregularität abzutauchen in diesen Fällen besonders hoch ist (vgl. ebd.). Aus den Migrationsberichten des Bundesministeriums für Migration, Arbeit und Familie (BAMF) geht gleichfalls hervor, dass jede deutsche Behörde dazu aufgefordert ist Personen zu melden, die keine Aufenthaltserlaubnis besitzen. Lediglich Mitarbeitende in schulischen – oder schulähnlichen – Einrichtungen sind von dieser Pflicht befreit (vgl. BAMF 2019: 151). Der Einbezug verschiedener Institutionen und die formale Verpflichtung zur Kooperation zur Aufrechterhaltung der Migrationsregime, bildet eine weitere Stütze im umfangreichen Akteur-Netzwerk der Migrationskontrollen. Es erfordert einen großen Staats-, Rechts- und Kontrollapparat, der die Einhaltung der Regulatorien auch realisiert, umsetzt und durchsetzt (vgl. Oswald 2007: 170). Die nationalstaatliche Kontrolle von Migration ist nicht nur ins Inland gewendet: nationalstaatliche Einflussnahme auf Migrationsprozesse dehnt sich über die eigenetlichen territorialen Grenzen der Nationalstaaten hinaus aus: ausländische Städte, substaatliche Akteure, suprastaatliche Organisationen wie die Europäische Union, sowie transnationale Akteure, wie der UNHCR und nicht-staatliche Akteure wie Amnesty International kommen auf unterschiedliche Weise, mit verschiedenen Interessen und Anliegen im europäischen Grenzregime zusammen und entfalten in unterschiedlicher Intensität Wirkung und Gestalten Migration an den Außengrenzen der EU mit. Durch die Einrichtung der Grenzschutzagentur FRONTEX wird das de facto Ausüben von Grenzschutz und -kontrollen aus den inneren europäischen Nationalstaaten an die Ränder verschoben – während innerhalb von Europa die tatsächlichen territorialen Grenzen mehr und mehr unsichtbar gemacht werden, verschwinden, indem z.B. im Zuge europäischer Freizügigkeit Grenzkontrollen abgebaut wurden, nunmehr beispielsweise nur noch Schilder am Straßenrand den Grenzübertritt anzeigen. Diese Freizügigkeit, die es EU-Bürgern ermöglicht sich über Grenzen hinweg frei zu bewegen, zu arbeiten und niederzulassen, verstärkt innereuropäisch den Anschein von Freiheit der Bewegung (vgl. Pries 2021: 151). Während Grenzkontrollen und -regime bis in Herkunftsländer hinein ausgeweitet werden. Beispielweise mittels Rückführungsverträgen, die garantieren sollen, dass Migrierende – nach z.B. Ablauf ihres Visums – wieder in ihre Herkunftsstaaten zurückgeführt werden können. Vor dem Hintergrund komplizierter Verflechtungen und Wirkungsweisen, erscheint die binäre Unterscheidung von Staatszugehörigkeit vermeintlich simpel. Doch auch bei näherer Betrachtung, ist die Unterscheidung zwischen Staatsbürger:innen und Nicht-Staatsbürger:innen von komplizierten, verflochtenen Regulatorien geprägt, wenn Migrant:innen gemäß ihres Aufenthaltsstatus nur bedingt und uneinheitlich Zugang zu bestimmten wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, politischer Partizipation und Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Während beispielsweise Gastarbeiter:innen, Nachkommen von Migrant:innen und Spätaussiedler:innen, einen ähnlichen Zugang wie Nichtmigrant:innen gewährt wird, sind Saisonarbeiter:innen, Asylbewerber:innen

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und Menschen mit Duldungsstatus in vielen Bereichen nicht gleichgestellt. Womit sich unterschiedliche Migrationsprozesse und -situationen auch »immer im Spannungsfeld von staatlicher Regulierung, Nichtregulierung und Deregulierung, von staatlicher Macht und Ohnmacht konstituieren« (Nieswand/Drotbohm 2014: 8). Migration ist unter den Bedingungen des modernen Nationalstaats durch eine starke Verrechtlichung einerseits und gleichzeitiger Entrechtlichung andererseits geprägt. Die Beurteilung über die Irregularität und Illegalität einer Migrationsbewegung wird vom aufnehmenden Land vorgenommen, wodurch Migrierende und besonders Flüchtende stärkere Verunsicherung erfahren und einer Schutzlosigkeit gegenüber den (unbekannten) Verfahren ausgeliefert sind: »im Vergleich zu ›freiwilliger‹ und staatlich gesteuerter Arbeitsmigration ist die irreguläre Zwangsmigration von Flüchtlingen zudem im besonderen Maße durch Gewalt geprägt« (Kleist 2015: 160). Für irregulär Einreisende und dazu gehören Flüchtende und jene, die keinen geltenden Aufenthaltstitel besitzen, haben staatliche Regulatorien eigentlich eine erzwungene Ausreise vorgesehen. Flüchtlinge aber erfahren eine gesonderte Ausnahmebehandlung insofern, als dass unter wiederum gesonderten Kriterien, die gleichzeitig innerhalb (Asylrecht) und außerhalb (Genfer Flüchtlingskonvention) staatlicher Ordnungen stehen, ein besonderer Anspruch auf Schutz und Aufnahme zugestanden wird. Vor diesem Hintergrund wird Flucht zu einem Sonderfall und zu einer Ausnahme und damit einmal mehr wieder zu einem Problem aus Perspektive des (modernen) Nationalstaats: »[Wenn] Flüchtlinge ein solch beunruhigendes Moment in der Ordnung des Nationalstaats darstellen, so in erster Linie deshalb, weil sie, indem sie die Identität von Mensch und Bürger und damit von Abstammung und Nationalität beschädigen, den Ursprungsmythos der Souveränität in Frage stellen. Einzelne Ausnahmen dieses Prinzips kannte man freilich immer. Neu in der heutigen Zeit, und damit eine Bedrohung des Nationalstaats in seinen Grundfesten, ist es hingegen, dass eine größer werdende Zahl Menschen nicht länger in der Nation repräsentiert (und repräsentierbar) ist. Da und insofern dies die alte Dreieinigkeit Staat-Nation-Territorium aus den Angeln hebt, muss der Flüchtling, jene scheinbar marginale Gestalt, als zentrale Figur unserer politischen Geschichte erachtet werden.« (Agamben 2001: 5) Hinzu kommt: »Von Flüchtlingen […] zu sprechen, impliziert die Annahme, dass es sich um Menschen handelt, die gezwungen sind, ihr Herkunftsland zu verlassen […] und die deshalb in besonderer Weise einen Anspruch auf Aufnahme und Schutz haben,« (Scherr 2021: 8). Woraus sich ein moralisches Dilemma ergibt: der Nationalstaat, aber auch die Nation, also die imaginierte Gemeinschaft auf die beständig Bezug genommen wird, durch welche wiederum Zusammengehörigkeit, Solidarität usw. geschöpft werden soll, gewissermaßen in Konfrontation mit dem Fremden auf sich selbst zurückgeworfen wird. Allein durch das Erscheinen des Anderen, indem der Andere sich mir – uns – zeigt, sein Antlitz präsentiert, sind wir gleichfalls zur Ver-Antwortung aufgerufen: nicht nur gegenüber dem Anderen, seiner Not und seinem Leid, sondern auch gegenüber uns selbst. Vielmehr dem gestrigen, vergangenen Eigenen, der Idee unserer imaginierten Gemeinschaft, durch die wir zugehörig in eben jener werden, uns selbst und andere ver-gesellschaften, also zu Teilen miteinander werden. Aus einem

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Nebeneinander von Fremden ein Mit- und vor allem Für-Einander (vgl. Simmel 1992 [1908]) wird – wurde. Welches nun, durch den Anderen beunruhigt wird, sich wieder neu-verantworten muss, das Bild bestätigt, verschoben, transformiert, gewandelt – oder nicht wird. Und in eben der Re-Aktion wird einmal mehr die Illusion der Einheit deutlich, wenn eine Vielzahl unterschiedlichster, ständig ändernder und wechselnder Re-Aktionen erfolgen und beobachtet werden können. Von extremer Ablehnung (z.B. Asylgegner, Pegida, Forderungen nach Abschiebungen und Grenzschließungen usw.) bis zur willkommen-heißenden Aufnahme (#refugeeswelcome) und auch innerhalb der Bewegungen wiederum sich eine ständig mehr werdende Vielfalt offenbart (siehe Kapitel 6). Womit sich dieses Kapitel mit Hannah Arendts Worten zu einer anderen, aber nicht weniger großen Erzählung einer Nation schließt: »Und die Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach, als – und weil – sie den Ausschluss und die Verfolgung seines schwächsten Mitglieds zuließ« (Arendt 2016: 36).

6 Konfrontation mit dem Eigenen

Das Jahr 2015 war in vielerlei Hinsicht ein besonderes Jahr: ein Ausnahmejahr, ein Krisenjahr. Das Jahr in das Jahr, in dem die ›Flüchtlingskrise‹ ihren vorläufigen Zenit erreichte. Und als die lang ankündigende ›Krise‹ Deutschland erreichte, reagierte die Bevölkerung auf die ›Welle der Flüchtenden‹ mit einer ›Welle des Willkommens‹ und nahm sich der Herausforderung an. Berichtet, geschrieben und geforscht wird zu jenem Phänomen der ›Willkommenskultur‹, einer gesamtgesellschaftlich gefühlten Stimmung, die wie ein Mainstream weite Teile des Landes zu erfassen schien. Während Spontanhilfe und Nothilfe durchaus schon in anderen Momenten erlebt wurde, zuletzt auch während der Flutkatastrophe 2021 in Westdeutschland, als Menschen aus ihrem Alltag herausgerissen wurden und völlig Fremden zur Hilfe zu eilten, erscheint die 2015 erlebte ›Willkommenskultur‹ deswegen mehr besonders, weil sie nicht lokal und regional blieb, sondern für einige Zeit Medien, Politik und gesellschaftliche Öffentlichkeit bestimmte und Aufmerksamkeit band. Was sich ereignete hatte für einige Wochen – gar Monate – nach dem September 2015 noch starke Wirkung: eine regelrechte gesamtgesellschaftliche Hyperfixierung, eine ›Willkommens-Euphorie‹ wurde erlebt. Und im Gegensatz zur Finanzkrise, Eurokrise, Fukushima-Reaktorkrise war das, was sich ereignete nicht etwas, das irgendwo sonstwo passierte: es ereignete sich hier, in unmittelbarer Nähe. Nicht nur geografisch-räumlich. Das Phänomen blieb nicht auf bestimmte Bereiche oder Gruppen innerhalb der europäischen Gesellschaften beschränkt: alle schienen betroffen und für einige Monate halfen auch zumindest dem Anschein nach alle mit. Bis eben das aufhörte.

6.1 Über Grenzen des Helfens 2013 begann sich das Feld FluchtMigrationsforschung neu aufzustellen und mit den Ereignissen von 2015 erfuhr die deutschsprachige Fluchtforschung einen regelrechten Forschungsboom (vgl. Kleist 2019). Wie in Kapitel 2.3 bereits gezeigt werden konnte, steht die Situation Geflüchteter im deutschsprachigen Raum und Flucht selbst im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Versuche, den Fokus zu verschieben, wie es Silke Betscher unternahm (vgl. Betscher 2020 und siehe Kapitel 2.3.2) bleiben Einzelfäl-

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le im Gesamtbild. Lediglich in Bezug zu Fragestellungen, die sich auf die »Bewältigung der Flüchtlingskrise« (Karakayali 2018: 13) beziehen, rückt eine weitere Akteursgruppe in den wissenschaftlichen Blick. Während sich der Großteil der Forschung, wie in Kapitel 2.3 gesehen, auf die Gruppe der Geflüchteten konzentriert oder staatliche und behördliche Strukturen untersucht, erscheint die Akteursgruppe der Helfenden, die Zivilgesellschaft, in gewisser Weise nachgestellt: lange Zeit übersehen. Die Gruppe der Helfenden, die Zivilgesellschaft vor Ort, scheint wie selbstverständlich angenommen, beinahe übersehen, als das Bekannte und Gewohnte im Unterschied zur Neuheit und Andersartigkeit des Fremden, der Ausnahmesituation. Erst mit Verzögerung und in den Momenten drohenden Scheiterns wendet sich der wissenschaftliche Blick. 2015 war das Jahr der bedingungslosen Aufnahme, geprägt von einer Euphorie des Helfens, von der Gewissheit: ›Wir schaffen das!‹ (vgl. Detjen 2020). Der September 2015 und das, was am Hauptbahnhof in München in den Septemberwochen passierte, wurden zum ikonischen Bild einer uneingeschränkte, bedingungslosen ›Willkommenskultur‹ (vgl. Hamann/Karakayali 2016, Karakayali 2017). Das Ende des Jahres 2015 läutete mit den Berichten der Silvesternacht dann allerdings das Ende dieser uneingeschränkten Euphorie ein: in den Tagen nach der Silvesternacht scheint die Willkommenskultur in sich »zusammenzuschrumpeln, wie ein alter Luftballon« (Eckardt 2017: 184). Während sich Helfer:innenkreise und -initativen 2015 kaum vor Hilfsbereiten retten konnten, gehen die Zahlen in den kommenden Monaten stark zurück. Die Notwendigkeit der Hilfe bleibt, die Helfenden aber bleiben zunehmend aus. Etwas, das 2017 während des Workshops Zwischen den Stühlen problematisiert wird (siehe Kapitel 2.2.1) und auch von Medien aufgegriffen und durch die Engagierten selbst thematisiert wird. Im Rückblick auf die Ereignisse wird von Mitleidsermüdung und Compassion Fatgiue gesprochen (siehe Kapitel 2.2.4). In ihren Untersuchungen stellen Rudolf Speth und Elke Becker fest, dass das veraltete Drei-Akteurs-Modell der Geflüchtetenhilfe überholt erscheint und im Hinblick auf neuere Ergebnisse zu einem Fünf-Akteurs-Modell erweitert werden müsste. Becker und Speth betrachten die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Unterbringung geflüchteter Menschen in deutschen Kommunen (vgl. Speth/Becker 2016). Sie untersuchen die beteiligten Akteure, die in einer wohlfahrtsstaatlichen Hilfebeziehung, eingebunden sind. Im veralteten Drei-Akteurs-Modell bestehen die wohlfahrtstaatlichen Beziehungen nur zwischen (1) Staat und Kommunen und (2) Zivilgesellschaft in Bezug zur den eigentlichen Objekten des Handelns: den (3) Geflüchteten, die Empfänger:innen der Hilfeleistungen sind (vgl. ebd.: 42f). 2016 formen sie ein Fünf-Akteurs-Modell, das fortan (1) Staat und (2) Kommunen und (3) Organisierte Zivilgesellschaft und (4) Spontanhelfende trennt. Die Empfänger der Hilfsleistungen, die (5) Geflüchteten, bleiben unverändert. Ergänzt wird außerdem, dass die Beziehungsformen nicht mehr nur einseitig in Richtung der empfangenden Gruppe der Geflüchteten verlaufen, sondern Wechselbeziehungen zwischen allen Akteursgruppen in das Modell integriert werden. So bleiben die Geflüchteten nichtmehr nur bloße Empfänger:innen von Leistungen, sondern entwickeln ebenso Wirkung innerhalb des Beziehungsgeflechts. Deutlich wird auf dem immer noch vereinfachten Modell, dass wechselseitige Zusammenhänge, Interdependenzen und Wirkungsweisen zwischen allen Akteursgruppen bestehen: dass keine Gruppe in der Gesamtbetrachtung ignoriert werden kann. »Keine dieser Akteursgruppen ist verzichtbar« (ebd.: 43).

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»Gelingenbedingung für den Aufnahme- und Integrationsprozess ist die aktive Partizipation der geflüchteten Menschen ebenso wie die der organisierten Zivilgesellschaft und der spontan entstandenen Helfergruppen. Die Hilfen für Geflüchtete kann nur in Form eines Zusammenwirkens von allen Akteuren erbracht werden. Auf der politischen Ebene liegt die Zuständigkeit für die Verteilung bei den staatlichen, aber nicht den kommunalen Behörden. Die Kommunen sind der wichtigste Adressat für die Organisation der Hilfs- und Integrationsmaßnahmen, für das bürgerschaftliche Engagement und für die Integration der Geflüchteten in die Gesellschaft.« (Speth/Becker 2016: 43f) Auch wenn Speth und Becker die Gruppe der Spontanhelfenden, deren tragende Rolle wir bereits in der Betrachtung der Situation am Münchner Hauptbahnhof 2015 (siehe Kapitel 2.2.3) genauer betrachten konnten, aufnehmen, bleibt auch bei Speth und Becker noch immer mindestens eine weitere Akteursgruppe unsichtbar: die Gruppe der wissenschaftlichen Akteure. Engagement für Geflüchtete wurde 2015 »beinahe über Nacht […] von einem Randzu einem Massenphänomen« (Karakayali 2018: 5). Der Soziologe Serhat Karakayali gehört zu den wenigen Wissenschaftlern im deutschsprachigen Raum, die sich nach 2015 gesondert der Gruppe der Helfenden zuwenden und die Effekte und Konsequenzen der ›Flüchtlingskrise‹ von 2015 in diesen Bereichen untersuchen. 2018 wird ein State-of-Research Papier von Karakayali zum Thema Ehrenamtliches Engagement für Geflüchtete in Deutschland im Rahmen des Verbundprojekts Flucht: Forschung und Transfer veröffentlicht. Karakayali trägt die bisher unternommene Forschung in dem Bereich zusammen und kommt zu dem Schluss, dass sich ein eher überschaubares Bild dabei ergibt (vgl. Karakayali 2018: 4). Versammelt werden im Bericht hauptsächlich deutschsprachige Untersuchungen. Internationale Veröffentlichungen werden dann mit einbezogen, wenn diese Aspekte beleuchten, die in den deutschsprachigen Forschungen bislang noch unterbeleuchtet blieben. Ein Überblick über die bisherige Forschung in dem Bereich ergibt vier thematische Schwerpunkte: In der Forschung geht es hauptsächlich um (1) die Aufnahme der Geflüchteten und Bewältigung der ›Flüchtlingskrise‹ und (2) die kommunale Unterbringung von Geflüchteten oder um (3) eine Bestandsaufnahme und die aktuelle Situation im Ehrenamt und darum (4) die Potentiale zu erkennen, die Geflüchtete ihrerseits mitbringen (vgl. Gesemann/Roth 2017, Stiehr/Stiehr 2016 und Karakayali 2018). Der Hauptfokus liegt dabei auf der Frage, wie soziale Integration durch ehrenamtliches Engagement gefördert werden kann (vgl. Karakayali 2018: 13f). Zwei unterschiedliche Perspektiven lassen sich unterscheiden: Auf der einen Seite befinden sich Studien, die sich besonders mit der Unterbringung von Geflüchteten befassen und hierbei administrative, organisatorische und politische Strukturen und Bedingungen in den Blick nehmen und diese kommunal, regional oder überregional und bundesweit untersuchen (vgl. Aumüller et al. 2015, Bauer 2017, Hamann et al. 2016 und Schammann/Kühn 2016). Auf der anderen Seite sammelt Karakayali Studien zusammen, die ihr Augenmerk mehr auf die Situation im Ehrenamt richten und versuchen die aktuelle Situation wissenschaftlich aufzuarbeiten. Hierzu werden v.a. soziodemografische Erhebungen vorgenommen: Wer engagiert sich genau? Wie lässt sich diese Gruppe der Engagierten anhand klassischer soziodemografischer Merkmale, wie Geschlecht,

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Alter, Bildungsstand, Religiosität oder Migrationshintergrund deskriptiv beschreiben (vgl. Karakayali/Kleist 2015 und 2016).

6.1.1

Geflüchtetenhilfe

Karakayalis Kartographie der Forschungsunternehmungen im Bereich ehrenamtlicher Geflüchtetenhilfe ergibt, dass zwar empirische Publikationen vorliegen, die Auskunft über die typischen Aktivitäten und Handlungsfelder geben und eine deskriptive Erfassung der Gruppe der Helfenden gemäß den gängigen soziodemografischen Merkmalen ergeben, »komplexere Zusammenhänge – wie der Einfluss ehrenamtlicher Arbeit auf die Integrationserfolge Geflüchteter – noch weitgehend unerforscht« (ebd.: 23) geblieben ist. Gemeinhin scheint Einigkeit – auch bei den Helfenden selbst und politischen und medialen Sprecher:innen (siehe Kapitel 2.2) zu bestehen, dass die Arbeit der Helfenden während der ›Flüchtlingskrise‹ maßgeblich zu ihrer ›Bewältigung‹ beigetragen hat: ohne die außerordentliche Hilfsbereitschaft aus der Zivilgesellschaft, hätte man die Situation 2015 nicht bewältigen können (vgl. Bursee/von Billerbeck 2015, Karakayali 2018, Speth/ Becker 2016) und auch in den Monaten danach waren es die Leistung der Helfenden, die Aufnahme, Ankunft, Integration und bei der Orientierung im Alltag und beispielsweise Behördengängen (siehe Kapitel 2.2) maßgeblich engagiert waren. Auch wenn Ergebnisse von langfristig angelegten Studien noch fehlen, erscheint es als plausibel, dass der enge Kontakt zwischen Helfenden und Geflüchteten positive Integrationseffekte nach sich ziehen könne, da beispielsweis dieser »Zugang zu informellen Netzwerken« (Karakayali 2018: 23) dabei helfen, die »Chancen bei der Arbeitsplatzsuche [zu] verbessern« (ebd.). Der wissenschaftliche Blick die Gruppe der Helfenden konzentriert sich also primär auf »integrative Funktionen« (ebd.: 24) des Engagements. Aus zwei Studien, die von im Rahmen des BIM (Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung) von Karakayali und Kleist vorgenommen werden, ergibt sich eine starke Zunahme des Engagements im Bereich der Geflüchtetenhilfe im Zuge des langen Sommers der Migration. Während bei der ersten Befragung 2014 466 Fragebögen ausgefüllt wurden, beteiligten sich 2015 bei der zweiten Befragung 2.291 Personen (vgl. Karakayali/Kleist 2016: 9). Die Befragung richtete sich sowohl an Organisationen, die im Bereich der Flüchtlingsarbeit aktiv waren und sind, wie auch an die Helfenden selbst (vgl. Karakayali/Kleist 2015: 12). Bei der zweiten Befragung gaben zwei Drittel der Befragten an, dass sie ihr Engagement erst 2015 aufgenommen haben. Dies deutet auf den besonders spontanen Charakter des Engagements im Bereich der Geflüchtetenhilfe hin, der durch die Helfenden selbst, wie in Kapitel 2.2, ebenso erkannt wird, indem die Helfenden versuchen eine Abgrenzung zwischen institutionalisiertem Ehrenamt und Spontanhilfe vorzunehmen (vgl. Lessig et al. 2019 und siehe Kapitel 2.2). Anhand der sozialdemografischen Merkmale, die während den Erhebungen abgefragt wurden, ergibt sich, dass der Großteil derjenigen, die im Bereich der Geflüchtetenhilfe zu dem Zeitpunkt der Erhebungen tätig waren laut eigenen Angaben weiblich, gut gebildet, wirtschaftlich relativ abgesichert und wenig religiös sind. Der angegebene Migrationshintergrund unter den Befragten ist im Vergleich zur Gesamtgesellschaft

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etwas höher und jüngere Personengruppen, wie beispielsweise Studierende, sind überrepräsentiert (vgl. Karakayali/Kleist 2015: 4). Im Vergleich zu anderen Bereichen des zivilgesellschaftlichen Engagements, geben die meisten an, keinen praktischen Nutzen aus ihrer Tätigkeit zu ziehen (vgl. Karakayali/Kleist 2015). Im Vergleich zu anderen Bereichen des Engagements, steht in der Geflüchtetenhilfe der Erwerb bestimmter Qualifikationen durch das Engagement nicht im Vordergrund der Tätigkeit und ist kein (stark) motivierender Faktor (vgl. ebd.: 30). Bei der Betrachtung der Tätigkeitsbereiche, lassen sich vier Themenschwerpunkte bilden. Tätig seien die Helfer:innen vor allem in den Bereichen: (1) Unterkunft, (2) Mobilität, (3) Kleidung und (4) Kommunikation mit Behörden. Der Umstand, dass so viele Helfer:innen zwischen Geflüchteten und Behörden vermitteln müssten, weise zudem darauf hin, »dass es den Behörden nicht gelungen ist, ihre Dienstleistungen für die Betroffenen angemessen bereit zu stellen« (ebd.: 5). Gerade aber weil Behörden oftmals wichtige Entscheidungen für Geflüchtete treffen, wird an der Stelle das Versagen der behördlichen Strukturen besonders deutlich. Für die Ehrenamtlichen entstünde dann der Eindruck, dass sie staatliche Defizite ausgleichen müssten (vgl. ebd.: 7). Aufgrund der Ergebnisse der Studien betonen die Forschenden, dass die staatlichen Behörden sich stärker auf die vielfältigen, vielsprachigen und vor allem das »traumatisierte Klientel« (ebd.) einstellen müssen. Mittels Sensibilisierungsprogrammen und einer Überarbeitung von Prozessen und Strukturen und bundesweit organisierten Übersetzungsservices könnte dieser Herausforderung begegnet werden (vgl. ebd.). Die Selbstorganisation wird als fünfter Themenbereich in den Studien genannt und bildet einen Themenbereich, der nicht unmittelbar auf die »Objekte des Handelns« (Speth/Becker 2016: 42) gerichtet ist. Laut Karakayali und Kleist steht der hohe Aufwand, der in die Organisation des Engagements investiert werden muss in Zusammenhang mit dem vorwiegend spontanen und lokal entstandenen Engagement, das »auf keine bestehenden Organisationen zurückgreifen konnte« (Karakayali/Kleist 2015: 5). Diese »spontan entstanden Organisationsstrukturen« (ebd.: 4) und der hohe Anstieg der Helfer:innenzahlen deute besonders darauf hin, dass Engagement im Bereich der Geflüchtetenhilfe sich durch einen Charakter der Notwendigkeit und Dringlichkeit auszeichnete (vgl. ebd.). Daraus ergibt sich für die Forschenden ein weiterer Hinweis, der auf das Versagen von Behörden und staatlichen Strukturen während des langen Sommers der Migration 2015 hindeutet. Dies Bild spiegelt sich auch im Selbstverständnis der Ehrenamtlichen wider, die ihrem eigenen Verständnis nach neben zivilgesellschaftlichen Aufgaben auch eigentliche Tätigkeiten des Staats übernehmen. Der Großteil der Befragten (97 %) gibt an, Gesellschaft zumindest im Kleinen dadurch mitgestalten und mit dem eigenen Engagement ein politisches Zeichen gegen Rassismus setzen zu wollen (vgl. Karakayali/Kleist 2015: 33 und Karakayali/Kleist 2016: 33). Das eigene Engagement stehe ebenso symbolisch für eine Zustimmung zum Bleibereicht und sei als Widerstand gegen eine Politik der Abschiebung zu verstehen (vgl. ebd.). In der Befragung bezüglich der Faktoren, die die Helfer:innen überhaupt zum Engagement motiviert hätten, konnten die Forschenden feststellen, dass humanitäre Aspekte sowie gesellschaftspolitische Orientierung von dem Großteil der Befragten als ihre hauptsächlichen Gründe für ihr Engagement angegeben wurden (vgl. Karakayali/Kleist

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2015: 5). Im Vordergrund stand der Wunsch die Situation der Geflüchteten zu verbessern und »Gesellschaft zu gestalten« (vgl. ebd.: 6). Religiosität oder der Wunsch über das Engagement neue Qualifikationen zu erlangen, waren hingegen keine starken Motivationsfaktoren (vgl. ebd.: 30). Demnach spielten weniger utilitaristische, dafür aber stärker altruistische Beweggründe eine Rolle, woraus die Forschenden ableiteten, dass »ein altruistisches Bestreben, anderen zu helfen, weitaus wichtiger für das Selbstbild der Ehrenamtlichen in der Arbeit mit Flüchtlingen« (Karakayali/Kleist 2016: 30f) sei. Besonders bei den älteren Befragten (50 oder älter), bestehe zudem ein »überdurchschnittliches Verständnis für Krieg als Fluchtursache« (Karakayali/Kleist 2015: 31). »All Grund für das Engagement geben Ältere häufiger an, dass man ›Schwächeren helfen‹ müsse bzw. dass eben jemand sich um die Flüchtlinge ›kümmern‹ müsse« (ebd.). Interessant erschien den Forschenden, dass Helfende verschiedene Gründe als Fluchtursachen betrachteten, die vom Asylrecht an sich gar nicht als solche definiert werden (vgl. ebd.: 32): »Auf die Frage, welche Fluchtursachen anerkannt werden sollten, waren drei Antwortkategorien am häufigsten vertreten: Menschen, die zur Flucht gezwungen wurden, Opfer von Menschenrechtsverletzungen und die Haltung, dass Grenzen prinzipiell offen sein sollten. Nur eine kleine Minderheit gab an, dass ›politisch Engagierte‹ Schutz genießen sollten.« (Ebd.) Als weiterer Faktor wurde das soziale Umfeld der Helfenden betrachtet und der Frage nachgegangen, inwiefern Engagement im Bereich der Geflüchtetenhilfe, das bereits im sozialen Umfeld bestand, einen Einfluss auf das Engagement der Befragten habe. Die Ergebnisse zeigten, dass zwar ein bereits vorhandenes Engagement im direkten sozialen Umfeld keinen Einfluss auf das eigene Engagement habe, allerdings das »Gemeinschaftsgefühl mit anderen Ehrenamtlichen, das im Zuge des Engagements entsteht, [als] wichtiger Motivationsfaktor« (ebd.: 31) betrachtet werden könne. Das Engagement im Bereich der Geflüchtetenhilfe sei außerdem kein reiner Selbstzweck: »Das Interesse der Ehrenamtlichen ist durchaus auf die Flüchtlinge gerichtet« (Karakayali/Kleist 2016: 32). Etwa zwei Drittel der Befragten geben beispielsweise an, dass ihnen der interkulturelle Austausch, der Kontakt mit anderen Kulturen und »neues über die Welt und andere Kulturen zu lernen« (ebd.) wichtig sei. Etwas, das nicht in allen anderen Engagementfeldern gleichermaßen möglich sei. Auch Michaele Pfundmair, Eva Lermer und Dieter Frey untersuchten in einer psychologischen Studie die Motivationen und Gründe für die überwältigende Hilfsbereitschaft und das scheinbar bedingungslose Willkommenheißen während der Septemberwochen im Jahr 2015 (vgl. Pfundmair et al. 2017). Ausgangsthese für die Untersuchung war die Annahme, dass durch die Hilfsbereitschaft eine Art Ungleichheitsausgleich stattfand: die Hilfsbereitschaft sollte womöglich politisch umstrittene Entscheidungen – wie jene während der Griechenlandkrise – und Ereignisse in anderen Teilen des Landes – Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte (siehe Kapitel 2.2.3) – kompensieren. Die Ausgangsthese ließ sich in der Untersuchung allerdings nicht bestätigen. Dafür fanden die Forschenden heraus, dass weder »eigennützige Motive wie angenehme Gefühle durch das Helfen, der Wunsch andere Ungerechtigkeit auszugleichen oder persönliche Kontakte mit anderen Helfenden oder Geflüchteten [eine] Rolle beim Hilfeverhalten« (Pfundmair

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et al. 2017: 1) spielten. Weder der »Rausch des Helfens« (ebd.), noch die positive Stimmung hätten das Engagement motiviert und die Helfer:innen zeichneten sich auch nicht über ein stärker ausgeprägtes Maß an »Empathie mit den Geflüchteten« (ebd.) gegenüber der Kontrollgruppe aus. Nur in einem abgefragten Merkmal unterschied sich die Gruppe der Helfenden von der Kontrollgruppe derjenigen, die 2015 nicht im Bereich der Geflüchtetenhilfe engagiert waren: die Helfer:innen sahen sich in besonderem Maße »moralisch verpflichtet« (ebd.). Die Hilfe war für die Helfer:innen also »kein Mittel zum Zweck, sondern entsprang [womöglich eher] dem Bedürfnis ›zum Schutz der Spezies‹« (ebd.) zu handeln. Die Forscher:innen vermuteten zudem, dass die besonderen Umstände im Herbst 2015 diese Entwicklung zusätzlich verstärkten: »Zum einen kamen nicht nur einzelne Geflüchtete, sondern Menschenmassen am Hauptbahnhof München an [und] zum anderen schienen die staatlichen Institutionen überfordert« (ebd.). Vor dem Hintergrund schlossen die Forscher:innen darauf, dass es nicht nur um die direkte Hilfeleistung für Geflüchtete ging, sondern auch um das »Aufrechterhalten von Demokratie, Menschenwürde und Respekt« (ebd.): moralische Normen, die, nachdem sich abzeichnete, dass staatliche Institutionen und Behörden überfordert schienen, durch die eigene Leistung – Arbeit – gewährleistet werden. Ein Zusammenspiel aus intrinsischen (moralische Verpflichtung) und extrinsischen (Fürsprache und Aufforderung durch Prominente in den Medien) haben zudem vorübergehend zu einer höheren Compliance mit der Willkommenskultur geführt, auch wenn diese nur oberflächlich blieb und sich nicht nachhaltig stabilisierte (vgl. ebd.). Die besonderen Umstände hätten zudem dazu geführt, dass sich keine Verantwortungsdiffusion oder Effekte pluralistischer Ignoranz ergeben habe.1 Die Helfer:innen »nahmen die Notlage der Geflüchteten wahr und fühlten sich trotz der großen Anzahl an Helfenden verantwortlich und fähig zur Hilfeleistung« (ebd.). Anstatt, dass Aktion und Reaktion durch Verantwortungsdiffusion oder pluralistische Ignoranz gehemmt wurde, kam es im Herbst 2015 zu einer gegenteiligen Entwicklung. Nicht etwa hielt sich die Hilfsbereitschaft in überschaubaren Grenzen: wie die Berichte aus den Kreisen der Spontanhelfenden und Initiativen (siehe Kapitel 2.2) zeigten, konnten sich die Initiativen »kaum retten vor Menschen, die helfen wollten« (Klein 2017). Motivierte Helfende mussten sogar abgewiesen und vertröstet werden: »Ihr seid großartig! Wir fragten nach 30 Helferinnen und Helfern und 120 sind gekommen. Bitte habt Verständnis, dass es keinen Sinn macht, jetzt mit Euch allen zu arbeiten. Aber auch wenn wir Euch jetzt nicht mehr brauchen, schaut weiterhin auf unseren Twitter, vielleicht brauchen wir jeden einzelnen von Euch morgen für eine neue Aufgabe dringend!« (Lessig et al. 2019: 45) 1

Effekte pluralistischer Ignoranz hätten eher dazu führen müssen, dass es zu einer allgemeinen Fehleinschätzung einer eigentlich ernsten Situation kommt, weil der Großteil der Beteiligten nicht der Notlage angemessen reagierte. Der Ernst der Lage wird in diesen Fällen kollektiv nicht begriffen, was selbst bei jenen, die die Not als solche erkennen, zur Verunsicherung bei der eigenen Beurteilung der Situation führte (vgl. Schilder 2013). Beim Effekt der Verantwortungsdiffusion oder dem Bystandereffekt, wird ein Eingreifen dadurch gehemmt, dass die Verantwortung zur Aktion kollektiv aufgeweicht und verteilt wird: Andere könnten schließlich auch eingreifen und helfen.

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Was 2015 unter den zur Hilfe Eilenden passierte, kann auch als kollektiver Nachahmungseffekt betrachtet werden. Ungeachtet der tatsächlich (später abgefragten) Motivation, taten viele Menschen wurde eine große Zahl von Menschen zum gleichen Zeitpunkt aktiv: sie reagierten auf etwas, das passierte, wurden aus ihrem Alltag herausgerissen und zur Re-Aktion aufgefordert. Die Reaktionen waren in dem Fall nicht chaotisch, zufällig oder ungerichtet: Eingebunden in ein Verständnis dessen, was als weitgehend geteilte Werte und Normen angenommen werden kann, war die Form, die die Reaktion annahm, immer schon historisch bedingt und auf Basis dessen, was als moralisches Fundament der eigenen Eingebundenheit in die Idee einer Gemeinschaft angesehen werden kann, vorstrukturiert und gelenkt. Die Reaktionen waren nicht chaotisch, sondern sehr konkret: es wurde geholfen. Deutlich wird das Zusammenkommen verschiedener Faktoren: eine Situation, die in besonderem Ausmaß als Ausnahmesituation erkannt wird. Das drohende Versagen behördlicher Strukturen und staatlicher Institutionen, was als Auslöser bzw. Verstärk betrachtet werden kann: die besondere Situation des Ausnahmezustands ist auch darüber gekennzeichnet, dass weltliche (und nicht-weltliche) Schutzmächte ihre Schutzfunktion nicht mehr wahrnehmen (können) (vgl. Agamben 2002 und siehe Kapitel 5.1.2). In Verbindung mit einem Verständnis des Risikos, als etwas, das möglich ist, aber noch nicht eingetreten ist, das als virtuelle Wahrscheinlichkeit aber potenziell real werden kann, fordert schon das Risiko der vollständigen Abkehr (des vollen Zusammenbruchs), zur Reaktion auf. Die Konfrontation des Eigenen – in dem Fall vermeintlich stabilisierte, formalisierte Behördenstruktur – mit ihrem möglichen Versagen – das Unheimliche, das dem Eigenen als fremd begegnet, ist auch Teil des Eigenen, das verdrängt und entfremdet wurde: die immanente Möglichkeit des eigenen Unvermögens, dem gleichzeitig – ähnlich wie dem absoluten Anderen, dem Tod – nie vollständig ausgewichen werden kann – ruft zur Ver-Antwortung auf und fordert eine Re-Aktion.

6.1.2 zwischen Verrechtlichung und Ausnahme Ehrenamtliches Engagement ist als eine besondere Form des Tätigseins aus der kapitalistischen Lohnarbeitslogik ausgeklammert und wird gleichzeitig auch nicht staatlicher, öffentlicher Arbeitsbereiche zugeordnet. Das zivilgesellschaftliche Engagement steht außerhalb und gehört gleichzeitig mit dazu. Es wird insbesondere durch spezifische rechtliche Fassungen wieder hereingeholt und gleichzeitig doch wieder ausgeklammert, wenn, wie wir in Kapitel 2.2 bereits gesehen haben, zwischen institutionalisiertem (hereingeholtem) Ehrenamt und Spontanhilfe (außerhalb der Rechtslogik stehend) unterschieden werden muss und die helfenden Akteure selbst Selbstorganisierende Arbeit daraufhin verwenden, dass das eigene Tun doch wieder in die bestehende (rechtliche) Ordnung eingebunden werden kann, indem in Retrospektive Versuche von EinOrdnung unternommen werden (vgl. Lessig et al. 2019). Nicht erst seit 2015 wird Ehrenamt in Deutschland erforscht und nicht erst im Zuge der Bewältigung der ›Flüchtlingskrise‹ ist zivilgesellschaftliches Engagement auch

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von politischem Interesse.2 Das Bundesamt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) lässt seit 1999 alle fünf Jahre den Freiwilligensurvey (FWS) durchführen und seit 2009 ist jede Bundesregierung dazu angehalten in jeder Legislaturperiode einen unabhängigen, wissenschaftlichen Bericht über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements vorzulegen (vgl. BMFSFJ 2020).3 2019 wurde der letzte Freiwilligensurvey unternommen und 2020 der dritte Engagementbericht veröffentlicht. Vor über zehn Jahren – 2011 – wurde in dem Zuge der Bundesfreiwilligendienst eingeführt und seit 2013 gibt es das Ehrenamtsstärkungsgesetz (vgl. van Dyk 2020: 34). Diese Entwicklungen machen deutlich, dass sich das politische Interesse in den letzten zwanzig Jahren zunehmend auch dem zivilgesellschaftlichen Engagement zugewendet hat (vgl. Krumbruck et al. 2020: 27). Und 2015 schließlich kam es dann zu einem »ein regelrechte[n] Schub des Engagements in der Flüchtlingshilfe« (ebd.). Mit der Ankunft der Geflüchteten 2015 stiegen die Zahlen der Engagierten im Bereich der Geflüchtetenhilfe stark an, begannen dann aber 2017 auch zunehmend wieder rückläufig zu werden (vgl. ebd.). Bei genauerer Betrachtung erkennen Kumbruck, Dulle und Vogt, dass sich das Engagement in den Jahren nach 2015 zunehmend verlagerte: während Anfangs die Erst- und Notversorgung der Geflüchteten im Fokus stand, ging es in den späteren Monaten vorranging um die Unterstützung in (Gruppen-)Unterkünften, Sprachkurse und Begleitung bei Behördengängen und Orientierungshilfe im Alltag. Zurückgegangen sei die Form von Hilfe, die als »Ersthilfe« (Kumbruck et al. 2020) oder »Nothilfe« (van Dyk 2020) und von den Helfenden selbst als »Spontanhilfe« (Lessig et al. 2019) bezeichnet werden könne. Mit den drei verschiedenen Begriffen werden besondere Aspekte dieser (oft nicht-institutionalisierten) Hilfsform betont. In der wissenschaftlichen Literatur wird das helfende Tun unterschiedlich benannt: die verschiedenen Begriffe werden teilweise synonymisch und austauschbar verwendet (vgl. u.a. Karakayali/Kleist 2015) oder aber betont voneinander abgegrenzt (vgl. Kausmann et al. 2019: 55f). Verwendet werden die Begriffe des Ehrenamts, der Freiwilligenarbeit, des ehrenamtlichen oder freiwilligen Engagements oder der Freiwilligenarbeit. Als Oberbegriff wird im Regelfall von »zivilgesellschaftlichem Engagement« (ebd.: 56) gesprochen. Gemeint ist die freiwillige, unbezahlte und uneigennützige Tätigkeit, deren ›Lohn‹ die ›Ehre‹ allein sein soll (vgl. Weber 2020: 3). Wird vom ›Amt‹ gesprochen, unterstreicht

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In seiner Rezession zu Bettina Hollsteins Ehrenamt verstehen. Eine handlungstheoretische Analyse (2015) beschreibt Peter Graeff ehrenamtliches Engagement als ein »schillerndes gesellschaftliches Phänomen« (Graeff 2017: 1) und verweist auf die »nahezu unüberschaubare Fülle an Literatur, Studien und Forschungsergebnissen zu freiwilligem Engagement und ehrenamtlichen Tätigkeiten« (ebd.). Problematisch werde eine Konsolidierung der Ansätze bzw. Einordnung usw. durch große Unterschiede schon auf theoretisch-begrifflicher Ebene. Es liegt im Phänomen selbst, das so »schillernd« (ebd.) vielfältige Formen einnehmen kann, wodurch sich auch eine Vielfältige Forschungslandschaft rings herum gebildet hat. 1999 wurde durch den Deutschen Bundestag die Enquete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements eingesetzt. Ihr Auftrag: »konkrete politische Strategien und Maßnahmen zur Förderung des freiwilligen, gemeinwohlorientierten, nicht auf materiellen Gewinn ausgerichteten bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland zu erarbeiten« (Deutscher Bundestag 2002: 2).

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dies die institutionelle Einbettung der Tätigkeit in festere Strukturen. Durch neuere Begriffe hingegen wird die bürgerliche, d.h. politisch engagierte Dimension der Tätigkeit hervorgehoben (vgl. Kumbruck et al. 2020: 31 und Weber 2020: 3). Es wird dann vom bürgerschaftlichen Engagement gesprochen, das Aspekte der »demokratischen Partizipation und der Individualisierung« (Weber 2020: 3) in der Tätigkeit besonders hervorhebt. Dem traditionellen Ehrenamt wird der Begriff des freiwilligen Engagements oft gegenübergestellt, um die starke Institutionalisierung der Tätigkeiten gegenüber der besonderen Freiwilligkeit und dem Umfang des kreativen Mitgestaltens beim freiwilligen Engagement zu betonen. Dem Ehrenamt wohnen Momente des »angefragt, gebeten, berufen oder gewählt« (Weber 2020: 5) inne. Es zeichnete sich auch durch »altruistische Motivation und ein hohes Pflichtgefühl« (ebd.) aus. Die »Bereitschaft, sich in hierarchische und komplexe Strukturen einzufinden« (ebd.) sei tendenziell höher als beim freiwilligen Engagement. Freiwilliges Engagement wird eher mit Spontanität und lockeren Strukturen verbunden: gemeint sind dann im Regelfall Initiativen, die themenbezogen gegründet werden und ein Engagement, das sich her in Projekten organisiert. Das Engagement werde durch einen »eigenen Entschluss« (ebd.) initiiert und durch »breitgefächerte Motivationen« (ebd.), wie Spaß an der Tätigkeit, eigene Interessen und Geselligkeit untereinander geleitet. Es gebe im Gegensatz zum Ehrenamt stärker den »Wunsch nach Transparenz der Strukturen sowie Möglichkeiten der Teilhabe und Mitbestimmung« (ebd.). Dabei stehen beide Engagementformen einander nicht ausschließend gegenüber: »alle ehrenamtlich Engagierten sind bürgerschaftlich engagiert, aber nicht alle bürgerschaftlich engagierten Personen sind im Rahmen eines Ehrenamts tätig« (Kausmann et al. 2019: 56). Ein anderer auftauchender Begriff ist der der freiwilligen Arbeit oder Freiwilligenarbeit. Mit diesem Begriff wird insbesondere die Unentgeltlichkeit der Tätigkeit betont. Im Gegensatz zur Erwerbs-Arbeit ist freiwillige Arbeit nicht bezahlt. Zu dem Bereich der Freiwilligenarbeit können auch Tätigkeiten aus dem familiären und privaten Bereich gezählt werden, d.h. nicht unbedingt immer Engagement, welches im öffentlichen Raum stattfindet. Im allgemeinen Sprachgebrauch überlappen sich die Felder von Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement allerdings oftmals (vgl. ebd.: 56). Durch die verschiedenen Begriffe wird das freiwillige, unentgeltliche und uneigennützige Tun also in seinen unterschiedlichen Dimensionen und Ausprägungsformen erfassbar. Gemeinsam ist ihnen, dass im Regelfall ein immaterieller Austausch stattfindet: es erfolgt ein Geben oder Schenken (von Zeit und Arbeitskraft) und Entgegen-Nehmen (von Ehre, Prestige und Dank). Obgleich also keine materiellen Werte geteilt sind, besteht eine reziproke, wechselseitige Beziehung – insbesondere dann, wenn die ehrenamtliche und freiwillige Tätigkeit sich in helfender Manier auf andere Personen (in Notlagen) hinrichtet. Die Helfenden erwarten Dankbarkeit und Wertschätzung (vgl. Breithecker/Stöcking 2020: 85f). Im Falle der Geflüchtetenhilfe wird zudem besonders deutlich, dass der Erfolg der eigenen Tätigkeit auch daran gemessen wird, dass sich die Situation derjenigen, an die die Hilfe gerichtet war, bessert: das Verbessern von Sprachkenntnissen, das Finden einer Ausbildungs- oder Arbeitsstell, sowie die Übernahme von Ratschlägen im Alltag ist auch als Teil dieser reziproken Hilfsbeziehung zwischen Helfenden und Geflüchteten (vgl. Eckardt 2017). Diese wechselseitigen Beziehungsgeflechte sind gerade zwischen Helfenden und Geflüchteten nicht symmetrisch: Sie sind immer

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auch von einem Abhängigkeits- und Machtverhältnis geprägt, was gleichzeitig immer auch das Potenzial für (stärkere) Konflikte mit sich bringt (vgl. Breithecker/Stöckinger 2020). Mit Begriffen von Bürgerschaftlichkeit und zivilgesellschaftlichem Engagement wird darüber hinaus die gesellschaftliche und politische Orientierung der Tätigkeit vorgenommen. Die Idee des Bürgers ist zudem mit Rechten und Pflichten verbunden, womit in dieser Wendung das eigentlich freiwillige Engagement wiederum in einem Moment der Ver-Pflichtung eingebunden wird: das Rech auf Mit-Gestaltung geht gleichzeitig mit einer Ver-Pflichtung einher.4 Mit der französischen Übersetzung des engagierten Tuns wird der Moment der implizierten Verpflichtung besonders deutlich: s’engager, welches schon das sich engagieren beinhaltet. Man wird nicht verpflichtet, man verpflichtet sich selbst: unterwirft sich gewissermaßen selbst. Dies geschieht in Bezug zu etwas anderem: Engagement in Bezug zu einer Idee von Gesellschaft, zu einer Idee von Mit-Gestaltung des Gemeinwesens und in Bezug zu einem konkreten Gegenüber, wie im Beispiel der Geflüchtetenhilfe. Dabei schließen sich die Bezüge nicht aus, wie wir im vorausgegangenen Teil bereits sehen konnten, orientierten sich Engagierte sowohl auf die Notlage der Geflüchteten, wollten mit ihrem Engagement gleichzeitig aber auch ein politisches Zeichen setzen und Gesellschaft mitgestalten (vgl. Karakayali/Kleist 2016). Engagement meint also: sich für jemanden (oder etwas) einsetzen. Das institutionalisierte Ehrenamt und das informellere freiwillige Engagement unterscheiden sich noch in einem weiteren wichtigen Aspekt: dem der rechtlichen Absicherung. »Für die rechtliche Behandlung der Tätigkeiten vom Ehrenamt bis zur Freiwilligkeit ergibt sich, dass das formelle Ehrenamt in der Regel über einen rechtlich gefestigten Status verfügt, während die informelle Freiwilligkeit sich mit den allgemeinen, für alle in allgemeiner Weise geltenden Rechtsvorschriften abfinden muss. Genau darin besteht aber die grundlegende Schwierigkeit bei der Beschreibung der rechtlichen Situation des bürgerschaftlichen Engagements.« (Igl et al. 2002: 31) Besonders relevant wird die Frage der rechtlichen Einbettung in den Momenten notwendiger Absicherung der Arbeit. Etwas, das auch die Verfasser:innen des Spontanhilfehandbuchs besonders intensiv bearbeitet haben (siehe Kapitel 2.2.3). Im Gegensatz zum rechtlich definierten und eingegrenzten institutionalisierten Ehrenamt, gibt es für das spontan erfolgende freiwillige Engagement keine staatlich gewährte Absicherung und Versicherungsschutz. Dies bezieht sich nicht nur direkt auf Folgen der Tätigkeit. Im institutionalisierten Ehrenamt sind beispielsweise Förderungsstrukturen eingebettet, das ehrenamtliche Engagement kann auch im System der Rentenversicherung Anerkennung erfahren und ehrenamtlich Tätige erhalten Steuervergünstigungen und Anspruch auf Nachteilsausgleich (vgl. Igl et al. 2002: 38f). Zuletzt, aber damit nicht weniger wichtig,

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Silke van Dyk spricht an dieser Stelle vor dem Hintergrund der Ökonomie des Helfens auch von einem »Wandel der sozialstaatlichen Steuerungslogik, die darauf zielt, stärkere Eigenverantwortung der (potenziellen) Leistungsträger*innen zu fördern und zu fordern« (van Dyk 2020: 33).

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ist der Schutz der Engagierten, d.h. die direkte Absicherung der Tätigkeit, eine der wichtigen Funktionen dieser rechtlichen Regelung (vgl. ebd.). Es zeigt sich an der Stelle also ein weiteres Beispiel der zunehmenden Verrechtlichung des Alltags und des Lebens, sowie jeden Menschlichen Tuns, die in diesem Falle auch eine besondere Schutzfunktion erfüllen soll. Gleichzeitig mit dem Hereinholen der unentgeltlichen, freiwilligen, uneigennützigen Tätigkeit in die rechtliche Ordnung, offenbart sich die Ausnahme dieser in den Formen des helfenden Tuns, das sich aufgrund des hohen Grads an Spontanität wiederum nicht erst in eine (langsame) rechtliche Ordnung einsortieren lässt.

6.1.3 Verschiebung von Verantwortung Eine andere Perspektive nehmen Silke van Dyk und Elène Misbach in ihrer Analyse der politischen Ökonomie des Helfens ein (van Dyk/Miesbach 2016, van Dyk 2020). Es geht dabei um »die politische und sozio-ökonomische Einbettung der Freiwilligenarbeit« (van Dyk 2020: 32). Eine »Analyse der politischen Ökonomie des Helfens strebt die Einbettung der Flüchtlingshilfe in Prozesse wohlfahrtstaatlichen Wandels an, um auszuloten, inwiefern freiwillige Hilfe zu einer neuen Säule der Sozialpolitik wird« (ebd.). Im Ausnahmezustand, der 2015 erlebt wurde, erkennt van Dyk einen Diskurs »wohlfahrtstaatlicher Erschöpfung« (ebd.: 33). Beobachtet wird dabei eine Verschiebung von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, die vermehrt zunehmend privatisiert und individualisiert werden. Sicherheit, Verantwortung, Risikomanagement waren einst wohlfahrtsstaatlich abgesichert, organisiert, geregelt und gewährleistet. Diese Aufgaben obliegen heute zunehmend der Verantwortung einzelner: sie wurden privatisiert, womit kapitalistische Profitkalküle und kapitalistische Logiken verstärkt Eingang in diese Bereiche finden. Van Dyk sieht darin aber keinen »Rückzug des Staates, sondern ein Wandel der sozialstaatlichen Steuerungslogik, die darauf zielt, stärkere Eigenverantwortung der (potenziellen) Leistungsträger*innen zu fördern und zu fordern« (ebd.). Im Zuge sich wandelnder Geschlechterbilder, durch die Erwerbstätigkeit immer mehr Frauen fällt zunehmend die unbezahlte Care-Arbeit, die vormals vor allem durch Frauen geleistet wurde, weg – es offenbart sich eine Versorgungslücke, nachdem die Bedarfe nach wie vor bestehen, nun aber nicht mehr begegnet werden. Es sind eben jene Lücken, die im Notfall von freiwilligen Helfer:innen und Engagierten bedient werden. Was in dem Moment problematisch wird, »wo karitative Hilfe und freiwilliges Engagement entscheidend für die Gewährleistung grundlegender sozialer Leistungen und Infrastrukturen werden« (ebd.: 37). Mit einer Analyse der politischen Ökonomie des Helfens kann die prekäre Situation überlasteter Helfer:innen betrachtet werden. In einem nicht institutionalisierten, nicht formalisierten, nicht strukturell gefestigten und nicht abgesicherten Bereich freiwilligen Engagements oder gar im Bereich der Notund Spontanhilfe, die noch einmal weniger institutionell eingebettet ist, als das eher klassische Ehrenamt, sind die Helfer:innen schutzlos auf sich selbst zurück geworfen. Dabei geraten nicht nur die Helfer:innen in einer zunehmend prekären Situation, die Abwesenheit staatlicher Strukturen und Regelungen begünstigt auch die Prekarisierung der Beziehung zwischen Helfenden und Hilfsempfangenden. Gewisse Machtgefälle in den Beziehungen sind immanentes Element in der Beziehung zwischen Helfenden und Hilfsempfangenden: »Die Form [Humanitärer Hilfe] ist […] konstitutiv auf Ungleichheit

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angewiesen, da diese die entscheidende Bedingung ist, die die vertikale Hilfsbeziehung erst ermöglicht« (van Dyk 2020: 38). Dabei eröffnet sich einmal mehr die wesentliche Unterscheidung zwischen einem institutionalisierten und strukturell gesicherten und stabilisierten Ehrenamt und der eher projektorientierten Spontanhilfe, dem freiwilligen Engagement, das eben gerade nicht auf derartige Einbettung auf wohlfahrtsstaatliche Strukturen und Institutionen zurückgreift. Im Bereich freiwilligen Engagements, insbesondere im Kontext humanitärer Hilfe, steigt das Risiko für Selektivität (im Vergleich zum institutionalisierten Ehrenamt). Fragen, nach dem Leid, der Notlage, dem Risiko und sozialen Rechten werden wiederholt offen ausgehandelt: »Das, was zunächst schön klingt – neues Miteinander, Kultur des Helfens, nachbarschaftliche Sozialpolitik – basiert tatsächlich auf dem Abbau oder der Verweigerung sozialer Rechte und revitalisiert Formendes Helfens, die durch persönliche Abhängigkeit und große Ungewissheit für die Hilfsbedürftigen geprägt sind. Die rechtlich nicht garantierte freiwillige Hilfe kann jederzeit ohne Angabe von Gründen verweigert oder eingestellt werden, sie ist hochgradig abhängig von Stimmungen, Emotionen und Sympathien.« (Ebd.: 38f) Die Entwicklung, die nachgezeichnet wird, entspricht also einer doppelten Prekarisierung. Der Rückzug des Sozialstaates kann als neue Steuerungslogik verstanden werden. Es handelt sich um eine Abgabe und gleichzeitig Übernahme von Verantwortung, die zwischen staatlichen Institutionen und bürgerschaftlichem Engagement vollzogen wird. »[Die] politische Ökonomie des Helfens verweist […] auf strukturelle Bedingungen der Indienstnahme freiwilligen Engagements, die weit über eine akute Überforderung staatlicher Institutionen hinausgeht« (van Dyk/Miesbach 2016: 222). Van Dyk und Miesbach beziehen insbesondere kritische Position zur unbezahlten oder nur schlecht bezahlten Arbeit, die gewissermaßen als »Lebenselexir des Kapitalismus« (ebd.) betrachtet werden kann. Diese »polirische Ökonomie des Helfens« (ebd.) wird moralisch aufgeladen, gewissermaßen in eine »moralische Ökonomie des Helfens« (ebd.) transformiert – übersetzt: »an die Stelle sozialer Rechte tritt eine Kultur des karitativen Helfens« (ebd.), die nicht nur mit Selbstausbeutung, sondern sogar Selbstüberausbeutung einhergeht. Van Dyk und Miesbach folgend ist es die »umfassende moralische Aufwertung von Engagements« (ebd.), die eben jenes selbstaufopferungsvolle Helfen stilisiert, bis hin zu dem Moment, in dem die Helfenden als »nahezu heilige Figur« (van Dyk/Miesbach 2016: 223, nach Eliasoph 2013: 2) betrachtet – in gewisser Weise damit selbst homo sacer werden.

6.2 Über Mitleidsermüdung Im Bereich der Geflüchtetenhilfe ergeben sich kontinuierlich Beziehungen zwischen Helfenden und Geflüchteten, die in besonderer Weise durch Asymmetrien und Abhängigkeits- und Machtverhältnisse geprägt sind, obgleich die Beziehungen durch die helfenden Tätigkeiten positiv gerahmt werden. Die Berichte der Journalistin AnnKathrin Eckardt (siehe Kapitel 2.2.4) zeigen deutlich, dass nicht nur ein gesamtge-

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sellschaftlicher Umbruch in der Stimmung, der im Jahreswechsel von 2015 auf 2016 beobachtet werden konnte, zu einem scheinbaren Rückgang des Engagements im Bereich der Geflüchtetenhilfe geführt hat: auch Enttäuschungen und nicht erfüllte Erwartungen spielten eine Rolle bei der Ernüchterung unter Helfenden (vgl. Eckardt 2017: 71f und Breithecker/Stöckinger 2020). Das Patenmodell wurde an mehreren Stellen dieser Arbeit schon als ein Erfolgsgarant und wichtiges Element der Geflüchtetenhilfe genannt (siehe Kapitel 2.2.1). Die Paten von Geflüchteten begleiten ihre ›Schützlinge‹ durch den Alltag und helfen flexibel dort, wo Hilfe gebraucht wird (vgl. Breithecker/Schöckinger 2020). Manche dieser Patenschaften bestehen sogar Jahre später noch (vgl. Eckardt 2017 und Merkel bei Teilmann/Hoffmann 2021). Die besondere Beziehung zwischen den Paten und Geflüchteten lässt sich auch darin erkennen, dass Helfende immer wieder Familienmetaphern nutzen, um die besonderen Beziehungen zu ihren ›Schützlingen‹ zu beschreiben: »German volunteers descibe refugees as ›children‹« (Karakayali 2017b.: 11). Wird von einer Aufgabe der Hilfe, von einem Rückgang der Helfer:innenzahlen im Bereich der Geflüchtetenhilfe gesprochen, wird dies versucht über ein Phänomen von Mitleidsermüdung zu erklären. Die folgenden Ausführungen geben drei Schlaglichter auf das Postulat der Mitleidsermüdung. Dabei geht es nicht um eine Erfassung von Mitleidsermüdung an sich. Das Phänomen von erfahrener Mitleidsermüdung wird nicht untersucht. Es geht darum, dass ›Mitleidsermüdung‹ als legitime Begründung dafür angenommen wird, warum Hilfe eingestellt wird. Die nächsten Ausführungen folgen also der These, dass unter der Bedingung, dass das helfende Tun als hauptsächlich emotional begründet begriffen wird, eine Ermüdung der motivierenden (aktivierenden) Emotion (Mitgefühl) als scheinbar rationale Erklärung für die Aufgabe des helfenden Tuns geltend gemacht werden kann. Geflüchtetenhilfe ist insofern besonders interessant zu betrachten, als dass – wie wir im vorausgegangenen Abschnitt schon gesehen haben – die Motivationen zur Hilfe auch an bestimmte Selbstverständnisse zurückgebunden werden: an ein Selbstverständnis als Bürger:in, als Mitglied einer Sozialgemeinschaft bzw. Mitglied einer Idee von Gesellschaft und darüber hinaus im besonderen Maße, als Teil der Menschheit und damit in besonderem Maße auch gegenüber anderen Menschen (solidarisch) verpflichtet.

6.2.1 Über die Rolle von Emotionen Neben den Hilfsbeziehungen ist auch der Diskurs um den Umgang mit der ›Flüchtlingskrise‹ von 2015 und die mediale Berichterstattung während des langen Sommers der Migration ist von einer besonderen Emotionalisierung geprägt. Die Erzählungen vom zweiten Sommermärchen, die Berichte einer überwältigenden Willkommens-Euphorie und den Weltmeistern der Hilfsbereitschaft verweisen gemeinsam mit Merkels ikonischem Satz – ›Wir schaffen das!‹ – auf eine gemeinsam geteilte Erzählung des Eigenen (einer Idee von Nation) (siehe Kapitel 2.2.3, 3.1.3 und 5.2.3 und vgl. Anderson 2005). Serhat Karakayali untersucht in Feeling the Scope of Solidarity die Rolle von Emotionen im Bereich der Geflüchtetenhilfe in Deutschland während der Bewältigung der ›Flüchtlingskrise‹.

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Die Arbeit beginnt mit einer grundlegenden Problematisierung von Emotionen und Emotionalität. Etwas, das aus der Gruppe der Helfenden selbst heraus kritisch reflektiert und problematisch benannt werde (vgl. Karakayali 2017b). Den »inherently irrational« (ebd.: 8) Emotionen wird eine vernunftorientierte Rationalität gegenübergestellt, die in Bereichen politischer Entscheidungen zu präferieren sei. Es stehen sich zwei scheinbar unvereinbare Positionen im Diskurs gegenüber: die besondere Emotionalisierung, die zur Hilfe in der Not aufruft und im Kontrast dazu wird darauf verwiesen, dass das Geschehen gemäß ordnungsrechtlichen Prinzipien zu organisieren sei. Einem rule of law wird also ein rule of emotions gegenübergestellt. Dabei werden verfassungsrechtlichen Regelungen und Gesetzetsordungen ein stärkerer rationaler Charakter zugeschrieben, während die Emotionalisierung als affektiv und irrational charakterisiert werden. Zentral für Karakayalis Untersuchungen ist »the role of emotions in the forging of social bonds and in the formation of collectives« (ebd.). Ähnlich wie Erving Goffmann und Thomas Scheff begreift auch Karakayali Gefühle wie Stolz und Scham als »essentially social« (ebd.). Gefühle wie Scham und Stolz regulieren und moderieren »the attachement of individuals to each other, where pride connects and shame disconnects« (ebd.). Emotionen und emotional konnotierte Beziehungstypen, wie Liebe und Freundschaft, sind das, was soziale Kollektive überhaupt erst entstehen lassen: »that make collectives« (ebd., Herv. dort). Auch das Empfinden von Solidarität zu- und miteinander gehört dazu. Solidarität ermöglicht es, dass Menschen, die ansonsten keine Berührungspunkte haben, »feel that they belong together or should form a collective« (ebd.: 10). Ausgangspunkt für Karakayalis Untersuchungen ist die Kritik, die sich gegen die überwältigend positive Aufnahme der Geflüchteten formiert hat. Das Besondere, was Karakayali hervorhebt, dabei ist, dass die Kritik nicht (nur) von Asylkritikern formuliert wurde, sondern diejenigen, die selbst Teil des emotional aufgeladenen Diskurses und als Helfende selbst davon betroffen waren, Kritik gegen die Emotionalisierung äußerten. Kern der Kritik war, dass die emotionale Aufladung des Diskurses ein fast hypnotisches Moment erzeugt habe: die Persönlichkeit Einzelner seid dabei völlig im Kollektiv verloren gegangen und die eigene Individualität regelrecht überwältigt worden (vgl. ebd.: 9). Dies wird als problematisch betrachtet: Die Stimmung 2015 sei ›zu‹ emotional geworden. Warum eine Emotionalisierung als besonders besorgniserregend und problematisch erachtet wird, ließe sich, so Karakayali, darauf zurückführen, dass sich seit den 1970er Jahre eine verstärkte Wendung hin zu mehr Rationalität im öffentlichen Diskurs beobachten ließe. Politische Akteure betonten zunehmend die Rationalität von Entscheidungen und Maßnahmen. Auch Sozialwissenschaftler:innen versuchten wiederholt in augenscheinlich spontanen Zusammenkünftigen und schlagartigen und plötzlichen (Stimmungs-)Umbrüchen rationale Elemente zur Erklärung der Ereignisse zu finden. Im augenscheinlichen Chaos und der Ungeordnetheit von Ereignissen wurde immerzu nach einem rationalen, einem erklärbaren Kern gesucht. Unordnung und Chaos müsse beherrschbar und regulierbar werden. Ähnliche Tendenzen von Versuchen der Komplexitätsregulierung und einem ordnenden, trennenden und damit vereinfachenden Denken wurde im ersten Kapitel mithilfe Bruno Latours Kritik an der ›Moderne‹ und Edgar Morins Kritik an der Barbarei der Wissenschaften ausgeführt (siehe Kapitel 1.1). Und im Zuge dieser Entwicklungen wurden Emotionen das Gegenstück zur Rationalität (vgl. Karakayali 2017b). Der Dualismus von Emotionalität und Rationalität findet sich

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beispielsweise auch in Max Webers Typen des sozialen Handelns und seiner Abgrenzung zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften: entwickelte Gesellschaften zeichnen sich nach Weber besonders durch wert- und zweckrationales Handeln aus. Demgegenüber seien vorindustrialisierte Gesellschaften eher durch affektuelles und traditionales Handeln geprägt (vgl. Weber 1922). Das bemühte Ausklammern von Emotionalität aus dem öffentlichen und politischen Diskurs, hat auch dazu geführt, dass die besondere Rolle von Emotionalität wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Arlie R. Hochschilds Emotion work, feeling rules, and social structures von 1979 und The managed heart: commercialization of human feelingvon 1983 gehören noch heute zu den Schlüsselwerken der Emotionssoziologie. Die Forschung zu Emotionen ist durch zwei fundamental unterschiedliche Annahmen geprägt. Auf der einen Seite finden sich Ansätze, die davon ausgehen, dass Emotionen genetisch, biologisch im (menschlichen) Gehirn vorangelegt sind und damit als quasi natürlich gegeben betrachtet werden müssen. Auf der anderen Seite versammeln sich Ansätze, die davon ausgehen, dass Emotionen eher sozial konstruiert und sozial überformt werden (vgl. Karakayali 2017b: 9). In diesen gegensätzlichen Positionen wird der Körper-GeistDualismus reproduziert (vgl. ebd.). Karakayalis eigene Forschung ist eher der zweiten Perspektive zuzuordnen: Er begreift Emotionen als etwas, das nicht nur im Inneren von Individuen verortbar ist. Emotionen reichten über das Empfinden Einzelner hinaus und wirken in soziale Zusammenhänge hinein. Emotionen versteht Karakayali als etwas, »what escapes, exceeds, or transcends this inner life of the subject towards what ›affects‹ others« (ebd.: 10). Emotionen sind in dem Zusammenhang auch als Übersetzungen von Urteilen zu verstehen: die Art und Weise wie wir Emotionen verstehen, einordnen und (für uns) bewerten, ist sozial geprägt. Daher können Emotionen nicht ohne soziale Zusammenhänge betrachtet werden. Emotionen sind immer an Objekte gebunden: Wut und Ärger beispielsweise richten sich auf etwas oder jemanden. Außerdem sind Emotionalen sozial in Erwartungen, Status und Hierarchien eingebettet: sie sind immer schon sozial strukturiert (vgl. ebd.). Damit ist die die Art und Weise gemeint, wie wir über erlebte Emotionen reflektieren und welche Gefühle wiederum diese hervorrufen. Scham beispielsweise wird dann empfunden, wenn wir feststellen, dass wir selbst Auslöser unserer vorherigen Verärgerung waren. Sozial gerahmte Emotionen haben zudem regulierende Effekte: sie können aktivierend wirken oder hemmen. So wird beispielweise auch zwischen aktivierenden und passiven Emotionen unterschieden. Aktivierende bringen uns dazu etwas zu unternehmen, während passive Emotionen eher bremsen und uns Innehalten lassen (vgl. ebd.: 10f). Die Tendenz der Überbetonung von Rationalität und die Geringschätzung von Emotionalität im Vergleich, führt auch dazu, dass emotionale Elemente eher versucht werden, rational zu überformen. Das, was Menschen empfinden und das, was sie sagen, geht nicht immer Hand in Hand. Menschen fühlten sich eher gezwungen ihre Handlungen (rational) zu rechtfertigen. Auf Fragen, warum etwas gemacht wurde, antworteten Menschen seltener: weil sie sich danach gefühlt hätten (vgl. ebd.: 11f). Die Spannung zwischen rationalen und emotionalen Elementen, zeigt sich auch bei den Helfer:innen, die im Bereich der Geflüchtetenhilfe tätig sind. Wie eingangs bereits erwähnt, zeigen sich emotionale Momente der Beziehungen zwischen Helfenden und

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Geflüchteten in Familienmetaphern:”German volunteers descibe refugees as ›children‹« (ebd.: 11). Gleichzeitig verweist Karakayali darauf, dass Helfende versuchen Distanz zu betonten: »relationships with refugees would […] remain nontheless casual« (ebd.: 12). So erklärten Helfende beispielsweise: »we all have to move on to other places someday« (ebd.). Man betrachtete diese Beziehungen weniger als feste Freundschaften: »I already know enough people« (ebd.) – es ginge mehr darum, dass man helfe, wenn Hilfe benötigt werde: »if you need help now, or if I see you somewhere on a train and in need of assistance, I support you immediately« (ebd.). Das Helfen wird mehr zu einem Ausdruck des eigenen Selbst. Karakayali ging in seinen Untersuchungen der Frage nach, inwiefern sich im Zuge der ›Flüchtlingskrise‹ und der starken Hilfsbereitschaft eine Art internationale Solidargemeinschaft entwickelt hätte oder eine solche durch die Ereignisse 2015 verstärkt wurde. Eine Bestätigung der These konnte zumindest auf Basis der Ergebnisse nicht abgeleitet werden (vgl. Karakayali 2017b). Interessant bleibt, dass Emotionen als etwas Gegebenes angenommen wird: Emotionen wirken auf eine – irgendeine – Weise mit. Sie sind in sozialen Beziehungsgeflechten und der Gestaltung von Sozialität nicht wegdenkbar. Gleichzeitig besteht ein asymmetrisches Verhältnis zwischen einer Idee von Rationalität und Emotionalität: Rationalität erfährt eine Überbetonung und wird präferiert, wohingegen Emotionalität als etwas Diffuses, weniger greif- und benennbares unterbestimmt zu bleiben scheint. Nichtsdestotrotz aber wird jener Emotionalität ein essenzieller sozialer Moment zugeschrieben. Als etwas, das als Kontrastfolie zur Rationalität entworfen wird, entzieht sich das Emotionale – ähnlich wie das Fremde – der Erfassung durch rationale Erklärungen.

6.2.2 Von Mitleidsermüdung und politischer Re-Aktion Marie Rössel-Čunović teilt in Hilfe ohne Grenzen? Erfahrungen aus der Supervision mit Helfenden, die im Bereich der Geflüchtetenhilfe tätig sind oder waren. Rössel-Čunović betont in ihren Ausführungen die Notwendigkeit wiederholter Grenzziehung und Abgrenzung: etwas, das unabdingbar ist, wenn die Gesundheitsressourcen von Geflüchteten und Helfenden geschont oder wiederhergestellt werden sollen. Das Risiko sekundärer Traumatisierung sei im Bereich der Geflüchtetenhilfe besonders hoch, da davon ausgegangen werden kann, dass die meisten Geflüchteten wiederholte traumatische Erfahrungen im Kontext der Flucht machen mussten und unzureichende psychologische Versorgung nach der Ankunft und die Konfrontation mit aufwendigen Asylprozessen und das Erleben lange anhaltender Unsicherheiten (beispielweise, wenn mehrere Monate auf Asylentscheide gewartet werden muss) zu wiederholten Traumatisierungserfahrungen führen (vgl. Rössel-Čunović 2018: 15f). Als Traumatisierung wird eine »überwältigende Grenzverletzung« (Rössel-Čunović 2018: 18) verstanden. Erleben auch Menschen, die nicht unmittelbar durch diese Grenzverletzungen betroffen sind, traumatisierende Effekte, spricht man von »sekundärer Traumatisierung« (ebd.: 62). D.h. beispielsweise, wenn Geflüchtete über traumatisierende Erlebnisse berichten und Zuhörende dadurch emotional berührt (erschüttert) werden. Helfende erleben sekundäre Traumatisierung, wenn sie beispielsweise mit-

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erleben, »wie schwer es für Geflüchtete ist, ihre ganz persönliche Verfolgungs- und Fluchtgeschichte und die damit verbundenen Verluste emotional zu verarbeiten« (ebd.: 15). Verstärkt werden diese Traumatisierungen durch wiederholte Neu-Verletzungen von Grenzen und starker Belastung, die die Geflüchteten im Zuge des Asylprozesses »mit seiner oft willkürlich erscheinenden Anhörungs- und Anerkennungspraxis« (ebd.) erleben. Geflüchtete werden in einem Zustand ständiger Unsicherheit festgehalten: Unsicherheit bezüglich ihres eigenen Aufenthaltsstatus, ihrer möglichen Zukunftsaussichten, aber auch darüber, wie des den ggf. in den Krisengebieten zurückgelassenen Verwandten geht. Da Helfende diesen Zustand oft persönlich mit-erlebten, entstünden »auch bei ehrenamtlichen Begleitenden und bei Fachkräften oft Gefühle von Hilfslosigkeit und manchmal schwer aushaltbare Zustände des Mitleidens« (ebd.). Wie schon in den vorausgegangenen Kapiteln besprochen wurde, ist der Wunsch drohendes staatliches Versagen durch das eigene Engagement zu kompensieren, bei Helfenden im Bereich der Geflüchtetenhilfe besonders hoch und auch ausgewiesene Motivation zum Helfen, wenn sie danach gefragt werden (siehe Kapitel 2.2.3 und 6.1.1). Äußere Umstände, wie beispielsweise unzureichende Unterbringungen, ausbleibende Genehmigungen und Erlaubnisse und ein lange dauerndes Asylverfahren, verstärkt den Eindruck staatlichen Versagens: die Unterstützung wird als unzureichend und mangelhaft wahrgenommen bzw. sogar, wie während der Vollversammlung der Ehrenamtlichen (siehe Kapitel 2.2.2) deutlich wurde, entsteht unter den Helfenden teils auch ein Eindruck, die Bemühungen sollten sogar gehemmt und verhindert werden. Dies erzeugte, laut Rössel-Čunović, bei den Helfenden den Wunsch »sich aufgrund einer ›versagenden‹ Umwelt umso stärker darum zu bemühen eine zugewandte und verstehende Haltung gegenüber den Geflüchteten einzunehmen« (Rössel-Čunović 2018: 15). Nicht nur die Geflüchteten werden in ihren Handlungsmöglichkeiten stark beschränkt, auch die Helfenden machen wiederholt Erfahrungen von Begrenzung. Die Helfenden werden auf ihr eigenes Unvermögen (siehe Kapitel 4.1.2 und 4.2.2) gestoßen und damit konfrontiert. Sie machen, im Sinne Lévinas, eine Grenzerfahrung mit der Möglichkeit des Unvermögens ihres eigenen Könnens, was als fundamental persönliche Erschütterung in einem als stabil angenommenen Selbst empfunden wird. Gleichzeitig erzeugt diese doppelte Konfrontation mit dem Anderen die Notwendigkeit der Verantwortung und Reaktion. Helfende sind einmal mit der besonderen Notlage der Geflüchteten – ihrer Mitmenschen – ausgesetzt und dadurch schon in Aktion versetzt. Die zweite Entfremdung erfahren die Helfenden in der Konfrontation mit etwas, das als Teil der eigenen Gesellschaft erachtet wird: staatliche Strukturen, die sich mehr und mehr als Hemmnisse und Verhinderer zu offenbaren scheinen (siehe Kapitel 2.2.2). Die scheinbar bedingungslose Hilfsbereitschaft steht im krassen Kontrast zur Politik der Abschiebung, die in der Einrichtung der AnkER-Zentren, wenige Jahre nach dem langen Sommer der Migration 2015, einen Höhepunkt findet. Im Gegensatz zu anderen Bereichen freiwilligen Engagements, lässt sich bei den Engagierten im Bereich der Geflüchtetenhilfe eine höhere »Intensität des Mitgefühls« (Rössel-Čunović 2018: 17) und damit verbunden eine höhere Belastung bei den Betreuenden

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beobachten. Dabei machte es keinen Unterschied, ob es sich dabei um Haupt- oder Ehrenamtliche im Bereich der Geflüchtetenarbeit handle: »Eines der präsentesten Themen ist fast immer die unzureichend empfundene Hilfe und oft auch die institutionelle Ablehnung und nahezu Verweigerung von Hilfe für Menschen, die eigentlich in essenziellen Bereichen ihres Lebens Unterstützung benötigen würden, sich diese aber in einer für sie noch fremden Sprache nicht ausreichend organisieren können.« (Ebd.) Eine besondere Herausforderung ist, dass die Freiwilligen es mit einer »Personengruppe zu tun [haben], die aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse in ihrem Gegenüber Gefühle entstehen lassen, die als Reaktion auf die wahrgenommene Hilflosigkeit ›grenzenlose Hilfe‹ oft als einzige Handlungsmöglichkeit erscheinen lässt« (ebd.: 18). Rössel-Čunović verweist in dem Zuge darauf, dass Helfende, die bereits in institutionalisierten Ehrenamtsstrukturen eingebunden sind, zumindest weniger schutzlos dieser Belastung ausgesetzt sind: die etablierten Strukturen böten bereits Supervisionen an. Helfende, die nicht in institutionalisierten Strukturen eingebunden sind, also insbesondere Spontanhelfende, können dagegen nicht auf derartige Unterstützung zurückgreifen: sie sind den Risiken von Mitleidserschöpfung, emotionaler Verausgabung und sekundärer Traumatisierung im stärkeren Maße schutzloser ausgeliefert (vgl. ebd.). Unzureichende persönliche Abgrenzung und das ständige Erleben von Limitationen der eigenen Handlungsmöglichkeiten, sowie die Offenbarung des staatlichen Versagens, werden als Hauptgründe für das Erleben von Ermüdung im Bereich der Geflüchtetenhilfe angenommen: es kommt zu Einfühlungsmüdigkeit und Mitleidserschöpfung (im engl. Compassion Fatigue) (vgl. ebd.: 64). Verstärkt wird dies durch die empfundene Bedingungslosigkeit der Hilfe. Diese Unendlichkeit des Anspruchs der Anderen, die nie vollständig be-antwortet werden kann (vgl. Lévinas 2012, 2017), führt zu einem moralischen und emotionalen Dilemma der Helfenden (vgl. Maestri/Monforte 2020: 921). Sie sind beständig dazu angehalten, bzw. finden sich in Situationen wieder, in denen sie selbst darüber entscheiden müssen, wer welche Hilfe, ab wann und in welchem Ausmaß bekommt. Dadurch kommt die Frage des Verdienens (Deservingness) der Hilfe ins Spiel (vgl. ebd.: 921f). Gaja Maestri und Pierre Monforte untersuchen Strategien, die Helfende anwenden, um mit diesem moralischen und emotionalen Dilemma umzugehen: Sie weichen dem Dilemma aus. Indem sich die helfenden Akteure dem Dilemma entziehen und sich emotional distanzieren, vermeiden sie es Entscheidungen treffen zu müssen. Verantwortung wird auf unterschiedliche Weise an Andere ab- und verschoben: »shifting the responsibility to make judgment to external agencies; actively avoiding situations in which they should produce a judgment; portraying the situation of the refugees as too complex to make a judgment« (ebd.: 922). Die Entscheidung über Deservingness des Helfens steht für die Forschenden im direkten Zusammenhang mit empfundener Compassion. Auch für Maestri und Monforte sind Mitgefühl und Mitleid die Motivationen, die das helfende Tun antreiben (vgl. ebd.). Ebenso wie Luc Boltanski (2004) verstehen sie Compassion als »deeply connected to action« (Meastri/Monforte 2020: 923). Compassion meint dann eine »benevolent disposi-

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tion, which is fundamentally other-regarding – as the Latin etymology of the world, ›suffering with‹, indicates« (ebd.). Im Anschluss an Martha Nussbaum kann Compassion als besondere »feeling rule« (ebd.) untersucht werden. Compassion ist eine »ambiguous ›feeling rule‹ that can refer to a diverse range of emotions, from pity to solidarity« (ebd.). Während pity durch einen Prozess der Objektivierung des Leidenden durch den Nicht-Leidenden bedeutet, womit eine stärkere Asymmetrie der Beziehung einhergeht, impliziert solidarity ein »co-suffering« (ebd.), also ein Mitleiden unter Gleichgestellten (vgl. ebd.). Martha Nussbaum (vgl. Nussbaum 1996) folgend verweisen Maestri und Monoforte auf drei grundlegenden Prinzipien, die dem feeling rule von Compassion eingeschrieben sind: Zunächst muss die Schwere des Leidens des anderen anerkannt (acknowledgement) werden. Hinzu kommt die Überzeugung, dass der Leidende nicht verantwortlich für das eigene Leid sein bzw. gemacht werden kann. Die dritte Bedingung ist eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Leidenden und dem Empfindenden, die wahrgenommen werden müsse (vgl. Meastri/Monforte 2020: 923). Das besondere Dilemma in der feeling rule von Compassion ergibt sich aus dem zweiten Prinzip: die Helfenden sind, so Meastri und Monforte, nicht im Stande darüber zu urteilen, bis zu welchem Grade die Betroffenen ihr Leid selbst zu verantworten haben. Da diese Frage nicht geklärt werden kann, erhält die Frage der Deservingness mehr Beachtung. In Versuchen diese Fragen zu klären, werden klassische Figuren im Diskurs reproduziert: Auf der einen Seite die staatlich organisierte und regulierte Unterscheidungslogik zwischen Personen, die Unterstützung erhalten sollen und jenen, die kein Anrecht auf Hilfe haben und auf der anderen Seite die Figur des völlig ausgelieferten und vollständig auf das Leid reduzierten Flüchtlings, der als hilfloses Opfer ohne Agency stilisiert oder als »resilient agent« (ebd.: 926) reproduziert wird. In den Aushandlungen darüber, wer wie viel Hilfe verdient hat, werden diese Figuren überstilisiert und reproduziert. Diese Bilder decken sich wiederum kaum mehr mit den realen Erfahrungen der Helfenden: ihre Erwartungen sind durch die diskursiv überspitzten Bilder geprägt, doch die reale Erfahrung mit Geflüchteten entspricht dem nicht, was zu Erwartungskonflikten führt: »Volunteers are often faced with ambiguous situations in which the person they are helping suddenly appears to them as not fully deserving their support, confirming negative stereotypes such as the ›sponger‹ or ›Taliban‹. In the most extreme cases, these dilemmas have led to periods of burnout, as several volunteers in Calais and Dunkirk reported.« (Ebd.: 928) Der Anspruch der bedingungslosen Hilfsbereitschaft ist genau genommen nur gegenüber den idealisierten Figuren haltbar, lässt sich aber nicht realisieren. Die Helfenden erfahren Enttäuschungen, wenn die komplexen und individuellen Erfahrungen der Geflüchteten sich nicht auf die simplifizierten Narrativen von Helden- und Opfergeschichten reduzieren lassen. Es kommt zu wiederholten Enttäuschungen, die subjektiv als negative Erfahrungen bewertet werden, wodurch sich Helfende ständig in Widersprüchen und Spannungen wiederfinden: durch das eigene Erleben werden sie wiederholt in das Eingangsdilemma von Deservingness zurückgeworfen (vgl. ebd.).

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»Volunteers evoke a mismatch between certain expected conducts linked to their initial representations of the refugees and the actual behaviours of those who benefit from their support. In these cases, volunteers feel they have to make difficult judgement calls about who deserves their compassion and who does not. At the same time, they also experience an emotional unease (and sometimes distress) as they realise that they could reproduce negative stereotypes about ›underserving migrants‹, which would potentially undermine their compassionate acts.« (Ebd.) Das Abschieben von Verantwortung und das Umgehen des Dilemmas werden zu Strategien um mit dem Dilemma umzugehen. Helfende könnten sich somit mehr auf ihre Tätigkeiten – das Helfen an sich – konzentrieren. Dies führt auch dazu, dass Helfende Situationen vermeiden, die das Entscheidungsdilemma mit sich bringen und konzentrieren sich dann eher auf »mission specific« (ebd.: 929) Tätigkeiten, wie beispielsweise in Form von Sprachkursen, die stärker themen- bzw. problemorientiert gestaltbar sind und persönliche Bezugspunkte mit Geflüchteten darüber hinaus reduziert werden. Sprachkurs und Patenmodell könnten hier als zwei Extreme eines Spektrums betrachtet werden: während im Sprachkurs viele Menschen teilnehmen und persönliche Interaktion auf das Thema Sprache reduziert bleibt, steht im Patenmodell eher die persönlich intensive Beziehungspflege und das thematisch vielfältigere Mithelfen im Alltag im Vordergrund. Neben Abschieben von Verantwortung und Ausweichen, beobachteten Meastri und Monforte eine dritte Strategie des Umgangs mit dem Dilemma: »emotional disengagement« (ebd.: 929). Helfende orientierten sich in ihren Tätigkeiten dann zunehmend innerhalb der eigenen Gruppe und übten sich in affirmativer Neutralität (vgl. ebd.: 931). Helfende motivierten sich eher gegenseitig als durch positive Erfahrungen mit denjenigen, auf die die Hilfe gerichtet ist. Die Tätigkeit des Helfens werde dadurch zunehmend zu einem Selbstzweck und selbstreferentiell: Die Helfenden beginnen sich von denjenigen, auf die sie sich eigentlich in ihrem Tun beziehen, zu entfremden. Die initiale Identifikation mit dem Leid der Anderen, die für Compassion notwendig ist und die spätere »dis-identification« (ebd.) mit jenen ist laut Meastri und Monforte ein notwendiger Prozess, der von einem Mit-Leiden und Mit-Fühlen in Solidarität miteinander transformative Wirkung entfalten kann. Es findet eine Verschiebung von Aufmerksamkeit und Aktion statt: während zunächst das Leid der Anderen im Zentrum steht, richtet sich die Aufmerksamkeit später, in einer Idee von sozialer Gerechtigkeit, auf weitreichendere Strukturen und Bedingungen: »As the former is exclusively focused on the alleviation of material suffering, the latter combines compassion towards suffering with anger at injustice« (ebd.: 931). Eine solche Verschiebung ergab sich auch im Zuge des langen Sommers der Migration und den anschließenden Jahren: aus spontan begründeten Initiativen, deren Tätigkeiten sich in erster Linie auf die Linderung des Leids der Geflüchteten richteten und ihre Erstversorgung und Unterbringung versuchten zu gewährleisten, formierten sich ab 2017 mehr und mehr politisch motivierte Akteure, die über die individuelle Betroffenheit hinaus transformativ tätig wurden (siehe Kapitel 2.2).

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6.2.3 Über das Mit-Leiden mit dem Anderen Zu den Motiven, die dazu führten, dass Menschen sich im Bereich der Geflüchtetenhilfe engagieren, gehören auch altruistische Motive und das Bedürfnis anderen zu helfen, die aufgrund ihres erfahrenen, sichtbaren Leids als ›schwächer‹ und ›hilfsbedürftiger‹ wahrgenommen werden: so hieß es unter anderem in der Gruppe älterer Helfer:innen, dass man sich um die Geflüchteten ›kümmern müsse‹, wie wir eingangs dieses Kapitels bereits sehen konnten (vgl. Karakayali/Kleist 2015 und siehe Kapitel 6.1.1). Das, was Helfende berichten – sei es im Kontext wissenschaftlicher Untersuchungen (siehe Kapitel 6.1) oder eigenen Berichten (siehe Kapitel 2.2) – lässt sich mit Lévinas Wendung zum Anderen (siehe Kapitel 4.1.2) erfassen. Die alltäglichen Routinen werden durch die Ankunft der Fremden verunsichert und durchbrochen: durch die Begegnung mit dem Anderen wird eine Art (stumme) Aufforderung zur Re-Aktion erfahren. Diejenigen, die später helfen sollten, werden aus der Passivität der Alltäglichkeit herausgerissen (vgl. Gondek/Tengeley 2011). Aus Perspektive der Alterologie Lévinas sind wir immer schon auf den Anderen bezogen, was sich schon an der Sprache selbst zeigen lässt. So sind wir auch immer schon mit einbezogen in dem, was Andere erfahren und insbesondere im erfahrenen Leid der Anderen erkennt Lévinas einen besonderen Moment – eine Bedingung – besonderer Verbundenheit in der Ver-Antwortung gegenüber den Anderen (vgl. Lévinas 2011). Diese Wechselwirkung zwischen dem Anderen und Selbst, in der das Leid der Anderen zum prägenden Element wird, kann als grundlegend verbindender Moment betrachtet werden. Dort wo sich das Leid des Anderen in den Vordergrund drängt und stärkere oder schwächere Distinktionsmerkmale, mithilfe derer wir uns von den anderen unterscheiden, hinter der überwältigenden Präsenz des Leids zurücktreten, zeigt sich etwas, das als Kern des Sozialen betrachtet werden kann: eine Bezugnahme aufeinander. Dem Verständnis des Sozialen von Bruno Latour und Gabriel Tarde folgend, wird Sozialität überhaupt erst durch Bezugnahme performativ geschöpft. Nichts ist von vornherein und aus sich heraus ›sozial‹ und entgegen der Annahme Durkheims gibt es bei Latour keine soziale Kraft, nicht ›das Soziale‹: erst in der Arbeit, der Aktion, der Re-Aktion und der Verbindungen miteinander wird das Soziale geschöpft (siehe Kapitel 1 und 2.1). Verstanden wird das helfende Tun in seinem Ursprung als Compassionate Act: als eine Handlung, die durch Mitgefühlt und Mitleid motiviert wird. Compassion wird von Keith Tester als besondere Form des ›guten Handelns‹ betrachtet: entgegen anderer Quellen ›guter Handlungen‹ ist der Compassionate Act nicht »fundamentally inner directed« (Tester 2001: 64). Tester unterscheidet Acts of Compassion von tugendhaften Handlungen, die sich an einer übergeordneten Idee von einem ›guten Handeln‹ orientieren. Er nutzt hierfür Kants Kategorischen Imperativ als Beispiel für eine solche Handlungsorientierung. Kants Kategorischer Imperativ setzt voraus, dass die Handelnden vorab über ihr Handeln nachdenken (vgl. ebd.). Dies findet sich auch in Ideen von Tugendhaftigkeit und tugendhaftem Handeln: Menschen erschließen sich ihr Selbst als ›tugendhafte‹ Person in Bezug zu diesen abstrakten Normen und Werten von Tugendhaftigkeit und orientieren ihr Handeln entsprechend daran: »whether they are becoming the kind of person that the codes

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of virtue demand« (ebd.). Womit vorausgesetzt werden muss, dass sie beständig mehr darüber reflektieren müssten »what ought to be done« (ebd.), statt ihre Abwägungen daraufhin zu richten, »what other people might want or desire to be done, or what it might be expedient to do in [a] particular situation« (ebd.). Ihr Handeln orientiert sich also weniger an situativen Gegebenheiten: die Idee eines tugendhaften Handelns wird der aktuellen Notwendigkeit und konkreten Bedürfnissen vorangestellt. Die Idee eines tugendhaften Handelns beinhaltet zudem eine gewisse dauerhafte Kontingenz um als allgemeingültige Orientierungsnorm bestehen bleiben zu können. Compassion hingegen »does not require consistency and coherence over time and neither does it require that individual social actors engage in a turmoil of inner debate and deliberation before they do anything at all« (ebd.). Compassion ist immer schon erst am Anderen orientiert: die Gerichtetheit auf den Anderen ist Bedingung für einen Act of Compassion. Die potenzielle Bezugnahme auf den Anderen, lässt Compassion zu etwas werden, das im Gegensatz zu einer normenorientierten Handlung immer schon möglich ist und nichts weiter als den Anderen benötigt, wohingegen in einer normenorientierte Handlung, der einer Idee von Tugendhaftigkeit inne liegt, die Tugendhaftigkeit selbst zunächst geklärt werden muss. Compassion realisiert sich besonders in den Momenten des Leids, im Suffering mit den Anderen:”as soon as those others are seen to be in situations that warrant some sense of empathy and fellow-feeling« (ebd.: 65). Tester begreift Compassion als eine Art »moral sensibility« (ebd.): gemeint ist damit ein moralisches Empfinden oder moralische Sensibilität, die nicht zwingend auf eine geklärte Moral angewiesen ist, lediglich auf etwas moralisches verweist. Diese moralische Sensibilität oder »moral voice« (ebd.: 66f) begreift Tester als etwas, das nicht als natürlich gegeben angenommen werden kann: es ist den Menschen nicht an sich eingeschrieben. Mit einem Verweis auf Carol Gilligan und Grant Wiggins Untersuchungen5 von Moralverständnissen von kleinen Kindern kann Tester unterstreichen, dass diese moralische Sensibilität etwas ist, das Kinder aus der Erfahrung des Kindseins in einer Welt von Erwachsenen heraus ableiten können: Kinder machen in der Welt von Erwachsenen immer schon eine Erfahrung von Unterlegenheit und Abhängigkeit (vgl. ebd.: 67): » […] there is the dimension of inequality, ›reflected in the child’s awareness of being smaller and less capable than adults and older children, of being a baby in relation to a standard of human being‹« (ebd.). Diese Dynamik

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Gilligan und Wiggins untersuchten dies mit Kindern, die sie mit dem Heinz-Dilemma konfrontieren: Heinz befindet sich in einem Dilemma. Seine schwer krankte Frau benötigt Medizin, die sie sich nicht leisten können, weswegen Diebstahl die einzige Lösung für das Problem erscheint. Auf der einen Seite wird dieses Dilemma versucht dadurch aufzulösen, dass das Leben materiellen Gegebenheiten vorzuziehen sei, weswegen der Diebstahl nicht als unmoralisch beurteilt werden könne. Gillian und Wiggins stellen zwei verschiedene Auflösungsstrategien fest: Es wird entweder auf abstrakte Normen Bezug genommen, die besagen, dass das Leben wertvoller und schützenswerter als Eigentum und Besitz ist. Eine andere Überlegung, die die Kinder anbringen bezieht sich dahingegen auf die Beziehungsdimension in der Situation. Sie überlegen mögliche Konsequenzen der Handlung: Heinz könnte wegen des Diebstahls ins Gefängnis kommen und der Zustand seiner Frau könnten sich wieder verschlechtern. Diesmal bekäme sie dann aber keine Hilfe mehr (vgl. Tester 2001: 66f).

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ist nicht einseitig zu betrachten. Es handelt sich um einen wechselseitigen Prozess zwischen »drama of dependence and the struggle for independence« (ebd.: 68). Diese spezielle Erfahrung in früher Kindheit führt zur Bildung eines moralischen Bewusstseins in Bezug zu Anderen: »the importance of a responsibility to care for others and to attend to their feelings, needs and desires« (ebd.). Compassion ist zudem von Empathie zu unterscheiden. Empathie wird primär als die Fähigkeit verstanden, sich in die Schuhe anderer hineinzuversetzen (vgl. Bloom 2016). Während der Andere für Compassion unabdingbar ist, bezieht sich Empathie auf die Fähigkeit des Individuums, das empathisch sein kann. Der empathische Mensch und der Andere werden als separat voneinander begriffen (vgl. Tester 2001: 70). Das Leid des Anderen ist nur insofern relevant, als dass ich es empathisch nachempfinden kann: »your pain becomes my pain, your thirst becomes my thirst […] Empathy guides us to treat others as we treat ourselves and hence expands our selfish concerns to encompass other people« (Bloom 2016: 21). Empathie ist also immer auf das Selbst gerichtet, das empathisch mitfühlt und miterlebt. Compassion hingegen ist mehr als das »mirroring of other’s feelings« (ebd.: 41). Compassion »is characterized by feelings of warmth, concern and care for the other, as well as a strong motivation to improve the other’s well-being. Compassion is feeling for and not feeling with the other« (Singer/Klimecki 2014: R875). Empathie sei es auch, die das Risiko für »poor health« (ebd.) und sogar Rückzug und »non-social behavior« (ebd.) begünstigte, da die empathische Bezugnahme durch das Mit-Erleiden auch zu einer Mitleidsermüdung, zu einem emotionalen Burnout führen könne (vgl. ebd.). Während psychologische Perspektiven Compassion und Empathie als zwei verschiedene Gefühlsregungen begreift, sollen sie hier nicht getrennt, sondern gleichzeitig und in Verschränkung miteinander wirkend verstanden werden: es handelt sich um wechselseitig durchdringende Gefühlslagen. Das, was durch Tania Singer und Olga Klimecki unter Empathie verstanden wird, kann auch als Übergang oder eine Verschiebung in Richtung einer Compassion Fatigue betrachtet werden. Compassion Fatigue wiederum, oder das Mitleidsermüden und emotionale Ausbrennen, das einen (sozialen) Rückzug begleitet und dazu führt, dass das ›tugendhafte‹ Handeln eingestellt wird, kann soziologisch gewendet als ein Moment des Scheiterns im Sinne der ANT erfasst werden (siehe Kapitel 2.1). Obgleich von einem freiwilligen Engagement gesprochen wird, haben wir bereits sehen können, dass es sich nicht um ein einseitiges Geben von Zeit und Arbeit handelt, sondern soziologisch betrachtet ein sozialer Austausch im Sinne der Gabe von Marcel Mauss stattfindet (vgl. Mauss 1990 und siehe Kapitel 1.2.4). Es werden dabei weniger materielle Güter, dafür viel mehr immaterielle Güter, wie z.B. Dankbarkeit, Übernahme von Ratschlägen und stellvertretender, verlagerter Erfolg (wenn beispielsweise Geflüchtete Sprachkurse erfolgreich absolvieren) im Austausch für die Hilfe gegeben. Das Geschenk der Hilfe, das augenscheinlich freiwillig und unverbindlich gegeben wird, »only appears to be voluntary« (Tester 2001: 127, Herv. dort). In diesem wechselseitigen und zirkulierenden Austausch wird Sozialität geschöpft. Wird allerdings das angebotene Geschenk (z.B. Ratschläge) abgewiesen, die Gabe also nicht übernommen, droht ein Scheitern der Beziehung (vgl. Mauss 1990). Es kommt zu einer Zurückweisung. Nicht nur die Gabe wird zurückgewiesen, sondern auch die (angebotene) Beziehung, was die soziale Abweisung der Gemeinschaft impliziert. Die Zurückweisung erfolgt also nicht nur auf

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interpersonaler Ebene – soziologisch betrachtet bedroht sie auch die gedachte Integrität des Eigenen, das über die Einzelperson hinausgeht: die eigene Gemeinschaft. In der industrialisierten Gesellschaft, die sich als Gesellschaft von Fremden offenbart, wird die Bedeutung der interpersonalen, direkten Beziehung durch ein kompliziertes System institutioneller Verschränkungen abgelöst. Integration in die Gemeinschaft der Fremden erfolgt, wie in Kapitel 3.1.3 gesehen, über abstrakte Ideen, wie die der Nation (vgl. Andersons 2005). Die Grundlage des Sozialen, was Mauss im Gabe Theorem zusammenfasst, wird in der Gesellschaft der Fremden in der sogenannten Moderne durch einen aufwendigen Umverteilungsmechanismus verkompliziert: Geben und Nehmen wird in großen Verwaltungsapparaten, wie z.B. Steuersystemen, institutionalisiert, abstrahiert und formalisiert. In den Momenten aber, wenn die gegebenen Strukturen drohen zu Versagen (wie im September 2015) und ihre Unzulänglichkeit offenbaren, kommt das eigentliche Geben und Nehmen in der wechselseitigen Bezugnahme zueinander unter Einzelnen wieder zum Vorschein: in einem (immateriellen) Helfen und Hilfe-Annehmen: »the gift is humanity itself« (Tester 2001: 126). Humanity ist das, was die Leidenden den Helfenden in dieser sorgfältig verstrickten Geschenkbeziehung zurückgeben (vgl. ebd.). Compassion Fatigue verweist in dem Zusammenhang auf mehr als nur emotionales Ermüden oder Mitleidsermüdung, verstanden als eine gefühlsmäßige Erfahrung Einzelner. Es verweist auf eine persönliche Zurückweisung, die nicht in der Undankbarkeit des Fremden begründet liegen kann, sondern durch verzerrte Erwartungshaltungen in Bezug auf die Fremden überhaupt erst bedingt wird: die gelernten Stereotypen über ›den Fremden‹ (vgl. Schütz 1944), die nicht durch die reale Erfahrung bestätigt werden können und gleichzeitig mit verzerrten Erwartungen gegenüber den stilisierten Figuren, wie z.B. Opfer und Held, einhergehen (siehe Kapitel 6.1). Der Enttäuschung, die in Bezug auf den Fremden als Abweisung der Gabe, als Undankbarkeit gerahmt wird, liegt ein Element des unheimlichen Eigenen inne: ein Moment der Krise, wenn sich das eigene Denken-wie-üblich in der Begegnung mit dem Fremden als nicht universal und allgemeingültig offenbart (vgl. Schütz 1944). Die erfahrene Krise geht über die interpersonale Ebene und die Erschütterung im gewohnten Denken hinaus, wenn auch das helfende Tun und Engagement, wiederholt an Grenzen stößt und sogar durch die gegebenen Strukturen und Verfahren behindert wird: wenn das, was zum Eigenen gehört, nicht nur nicht ausreichend helfen kann, die anvertrauten Funktionen nicht erfüllen kann und droht an der Herausforderung zu scheitern, sondern diejenigen, die ihrem Verständnis nach in diesem Moment des Ausnahmezustands aktiv werden und teils staatliche Aufgaben übernehmen, feststellen, dass sie in einer seltsam, unheimlichen Weise sogar in ihrem Tun behindert werden. Es kommt zu einer Entfremdung vom Eigenen, das im Umgang mit dem Fremden erst deutlich wird und sich als das Unheimliche im Eigenen, das lang verdrängte, offenbart (siehe Kapitel 4.2.2). Die Rahmung des Engagements als emotional und moralisch motiviert, führt auch dazu, dass das Aufhören der helfenden Tätigkeit als eigenes Scheitern individualisiert wird: es wird als moralisches Versagen erfahren.

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Über das Verfassen von Berichten

In den zurückliegenden Seiten wurde eine Akteursgruppe, die als ›Gelingenbedingung‹ zur ›Bewältigung der Flüchtlingskrise‹ von 2015 betrachtet wurde, in den Blick genommen. Unser Fokus lag dabei weniger auf einer deskriptiven Beschreibung der Gruppe anhand sozioökonomischer Merkmale (vgl. Karakayali/Kleist 2015 und 2016 und Karakayali 2018). Die Aktionen der Gruppe standen im Mittelpunkt der Untersuchung: das helfende Tun, das unmittelbar auf die Not Anderer gerichtet wurde. Im Sinne der ANT (Latour) wurde das, was beobachtet werden konnte, als Ergebnis betrachtet. Etwas, das durch die Arbeit verschiedener Akteur-Netzwerke und durch ihr Zusammenwirken hervorgebracht wurde: Menschen wurden zum Handeln gebracht. Etwas riss sie aus der Passivität ihrer Alltagsroutinen heraus und stieß Re-Aktion an. Wir haben uns in der Betrachtung nicht von der Frage leiten lassen, welche Motivationen womöglich dem Handeln zugrunde lagen, haben aber Ergebnisse anderer Untersuchungen, die sich eben mit dem Thema befassten angesehen (vgl. Karakayali/Kleist 2015 und 2016 und Karakayali 2018). Dabei ging es uns weniger um die Ergründung der Motive an sich: anhand der Beispiele wurde die Perspektivenverschiebung soziologischer Untersuchungen auf die Motive des Handelns besprochen und in welchem Zusammenhang dies wiederum Wirkung auf die Art und Weise entfaltet, wie das Aufhören der Handlung versucht wird begreiflich zu machen. Handlungen von Akteuren sind immer situativ eingebettet: das umfasst nicht nur die aktuelle situative Gegebenheit. Auch historisch gewachsene Elemente, Erfahrungen und über lange Zeit institutionalisierte und gefestigte gesellschaftliche Strukturen, sowie erlernte Routinen und Lösungsstrategien, genauso wie vereinbarte, übergeordnete Ideen und übernommene Denkweisen spielen eine Rolle. Hinzu kommt ein Element des Virtuellen: dessen, was möglich und wahrscheinlich sein kann, aber noch nicht ist, was sich noch nicht realisiert hat. Die Potenzialität zukünftigen Werdens wirkt ebenso mit hinein in die aktuelle Situation und wird zu einer weiteren Bedingung, die durch die Akteur-Netzwerke mit einbezogen wird. 2015 war für die FluchtMigrationsforschung ein Wendepunkt. Das Feld, das sich 2013 neu aufstellte, erlebte im Zuge der ›Flüchtlingskrise‹ einen zahlenmäßigen Aufschwung. Auch Geflüchtetenhilfe wurde von einem Thema unter vielen im Bereich des ehrenamtlichen Engagements vorübergehend zu einem regelrechten Mainstream: Geflüchteten-

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hilfe und Fluchtforschung erfuhr für einige Monate und Jahre eine gesonderte Aufmerksamkeit. Doch 2017 wurden Stimmen lauter, die den Rückgang der Helfer:innenzahlen beklagten: von einer Mitleidsermüdung und Compassion Fatgiue wurde gesprochen. Aus Perspektive der ANT deutet sich in diesem Moment ein mögliches Scheitern an und von diesem Moment des Scheiterns ausgehend, wurde die hier vorgenommene theoretische Untersuchung ausgebreitet. Ausgangs- und Eingangsthese dieser Arbeit war, dass sich in der Konfrontation mit dem Fremden zunächst das Eigene zeigt: dass alle Versuche das Fremde oder Fremdheit zu erfassen zunächst nicht so viel über den Fremden und Fremdheit aussagen (können), dafür aber umso mehr über das Eigene gesagt wird. Wie Gesellschaften mit ›ihrem‹ Fremden – d.h. dem, was als fremd oder anders ausgemacht wird – umgehen, offenbart wie sich das Eigene selbst begreift und konstituieren möchte (Baumann). Die Begegnung des Anderen fordert zur Verantwortung auf (Lévinas), fordert dazu auf sich zu zeigen, zu offenbaren und bringt eine asymmetrische Beziehung mit der Aufforderung durch und Verantwortung gegenüber dem Anderen mit sich: mit der potenziell unendlichen Aufforderung sich möglicher vieler Anderer zu unterwerfen und die Begrenzung der eigenen Möglichkeiten, bringt unweigerlich moralische Fragen ins Spiel (Lévinas). Etwas, das auch in den Untersuchungen von Maestri und Monforte (2020) zum Tragen kommt: das moralische Dilemma zwischen dem Anspruch der Bedingungslosigkeit der Hilfsbereitschaft und der Schutzlosigkeit der Spontanhelfenden gegenüber potenzieller Selbstausbeutung. Maestri und Monforte (2020) zeigen, dass dieses Entscheidungsdilemma nicht etwa aufgelöst, sondern ein Umgang damit gefunden wird: Helfende reagieren mit Ausweichstrategien der Verantwortungsverschiebung und emotionalen Distanzierung auf das Dilemma. Auch Rössel-Čunović (2018) setzt an dieser Herausforderung an und verweist auf Praktiken von Abgrenzung und Selbstschutz, die durch Supervision erlernt und in institutionalisierten Ehrenamtsstrukturen und den darin bereits eingebetteten Fördermöglichkeiten eingebettet sind. Die beiden Beispiele zeigen, dass auch wenn sich das moralische Dilemma nicht auflösen lässt, ihm doch begegnet wird: Menschen reagieren und finden Umgangsweisen. Das Dilemma wird zu einem Teil der Situation, in der sich Helfende wiederfinden und die sie versuchen zu manövrieren. Die Situation, in der sich unter anderem die Helfenden 2015 wiederfanden, war durch mehr als angesprochene moralische Dilemma charakterisiert. Die Situation im Herbst 2015 wurde politisch und medial als ›Ausnahmezustand‹ bezeichnet. Auch wenn nicht-wissenschaftliche Akteure den Begriff eher deskriptiv nutzten, um die Besonderheit der Extremsituation hervorzuheben, verweist der Begriff des Ausnahmezustands auch auf die Arbeit Giorgio Agambens, der sich aus rechtsphilosophischer Perspektive mit Ausnahmezustand, Souverän und der Figur des Homo Sacer auseinandergesetzt hat. Während viele Arbeiten aus dem Bereich der deutschsprachigen FluchtMigrationsforschung Agambens Verständnis des Ausnahmezustands und seine Konzeption des Homo Sacer eng und scheinbar nah am Text erfassen und dabei feststellen, dass sich diese theoretischen Konstrukte nur bedingt in soziologische Forschung übersetzten lassen, wurde im Zuge diese Arbeit der Versuch unternommen Agambens Konzepten mehr abzugewinnen. Anhand einzelner Schlaglichter wurde eine Aufschlüsselung von Denkfiguren vorgenommen, indem das ›Erbe‹ Carl Schmitts in Agambens Ausnahmezustand nachgezeichnet und kenntlich gemacht wurde. Im Zuge einer Dekonstruktion wurde

Über das Verfassen von Berichten

gleichfalls die von Agamben vorgenommene Übersetzung der Ideen Schmitts deutlich gemacht. Bei Agambens Verständnis des Ausnahmezustands handelt es sich um eine rechtsphilosophisch und soziologisch nutzbare Übersetzung und Weiterentwicklung der Theorien Schmitts, wenn Agamben den Ausnahmezustand nun stofflich und materiell im geophysischen Raum, im Lager, verortet. In dem Zuge gelingt es Agamben im Ausnahmezustand, der unter anderem im Lager realisiert wird, die Figur des Homo Sacer zu erfassen. Während bei Schmitt die souveräne Kraft bei einem regierenden Akteur verortet wird und der Homo Sacer bei Agamben auch stark personal gedacht wird – Agamben betrachtet die Figur des Flüchtlings als eine Manifestation des Homo Sacer (vgl. Agamben 2001) – wurde die Denkfigur des Homo Sacer in der vorliegenden Arbeit nicht in der Weise (personal) gedacht: es wurde nicht nach Entsprechungen des Homo Sacer in der empirischen Realität gesucht. Der Homo Sacer zeichnet sich durch verschiedene Merkmale aus: Er erscheint im Ausnahmezustand. Der Ausnahmezustand ist unter anderem dadurch charakterisiert, dass es sich um einen Moment des Banns handelt. D.h., dass weltliche und nicht-weltliche Schutzkräfte eine Geste des Abwendens vollziehen: Sie entziehen ihren Schutz. Der Homo Sacer ist also in einem Moment von Schutzlosigkeit betroffen. Agamben konkretisiert dies, wenn er sagt, dass der Homo Sacer auf das nackte, bloß Leben zurückgeworfen wird. Gemeint, im konkreten Falle Geflüchteter, ist damit, dass Bürgerrechte verloren bzw. entzogen werden, d.h. keine (staatliche) Macht mehr für das Leben des Homo Sacer verantwortlich ist (vgl. Agamben 2002, 2004). Die Aspekte der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins wurden leitend für die hier vorliegenden Ausführungen. Auch wenn dem Homo Sacer diese Schutzlosigkeit eingeschrieben ist, bedeutet dies nicht, dass der Homo Sacer zum passiven Ertragen verdammt wäre. Eine Kritik, die gegenüber Agambens Verbindung zwischen Homo Sacer und Geflüchteten immer wieder artikuliert wird (vgl. Bochmann 2019), verweist darauf, dass aus Agambens Perspektive die Handlungspotenziale Geflüchteter durch eine staatszentrierte Perspektive überschrieben würden: während auf einer staatlichen Ebene Rechte eingeschränkt werden, ließe sich dennoch empirisch feststellen, dass Geflüchtete in beispielsweise Gruppenunterkünften durchaus Agency entfalten können und ihre Situation bis zu einem gewissen Grad dadurch mitgestalten können. Sie sind also nicht vollständig ausgeliefert (vgl. Bochmann 2019). In Verbindung beider Positionen zeigt sich, dass der Homo Sacer zwar schutzlos ist, insofern, als dass ihm der Schutz durch andere staatliche oder staatsähnliche Akteure entzogen wird, er deswegen aber nicht in einen passiven Zustand des reinen Ertragens versetzt wird. Wird die Perspektive geweitet und anhand der Merkmale, die den Homo Sacer auszeichnen, der Blick auch auf andere Akteure gerichtet, die Teil der Ereignisse von 2015 waren, zeigt sich die Handlungspotenzialität und Gestaltungspotenzialität, die nicht vorstrukturiert und gelenkt wird, besonders in der Gruppe der Spontanhelfenden. Die Spontanhelfenden zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht in institutionalisierte Ehrenamtsstrukturen eingebunden sind, d.h. ihre Tätigkeiten (noch) nicht durch Gesetze oder Verordnungen rechtlich eingefasst sind. Ihr Tun steht noch außerhalb der Ordnung. Deutlich wird diese prekäre Lage in den Bemühungen der Helfenden, die Absicherung der eigenen Tätigkeiten irgendwie zu argumentieren (vgl. Lessig et al. 2019). Obgleich in den Momenten, als geholfen wurde, nicht final geklärt werden konnte, ob die helfenden Aktionen überhaupt abgesichert seien, wurden Menschen dennoch »im Gott-

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vertrauen, schon irgendwie abgesichert zu sein« (Lessig et al. .2019: 17) tätig. Auch wenn Spontanhelfenden nicht als ebenso Manifestationen des Homo Sacer – wie Geflüchtete – betrachtet werden, lässt sich dennoch zeigen, dass die Situationen, in denen sich besonders Spontanhelfende wiederfinden, Merkmale von Ausnahmezustand enthalten und sie bis zu einem gewissen Grad auch in den Zustand von Homo Sacer versetzt werden (sich selbst hineinbegeben). Aus dieser Perspektive wird Homo Sacer weniger als Denkfigur, sondern als Variable betrachtet: eine Variable, die ein Spektrum eröffnet, zwischen einem ›mehr‹ oder ›weniger‹ im Vergleich zueinander zu differenzieren und damit eine differenzierte Betrachtung ermöglicht. Es stellt sich nicht mehr die Frage, ›ob‹ jemand quasi Homo Sacer ist: die Blickrichtung verschiebt sich. Es gilt Bedingungen für ›mehr‹ oder ›weniger‹ zu betrachten, den Blick darauf zu lenken, wodurch und wie Homo Sacri hervorgebracht werden und wie die Prekarität in einem Fall mehr Gewicht erscheint zu erhalten, als in einem anderen und wie sich dieses Verhältnis womöglich – unter welchen Bedingungen – ändert. Ein zweiter Aspekt von Agambens Arbeiten zum Ausnahmezustand und Homo Sacer, der in dieser Arbeit aufgegriffen wurde, ist die Logik der Ausnahme, die dem Ausnahmezustand innewohnt. Dabei handelt es sich um eine Denkfigur, die eine prozessuale Geste des ausschließenden Einschlusses beschreibt: etwas, das durch die Ausnahme aus der Ordnung ausgeschlossen, aber in Bezug zur Ordnung wieder eingeschlossen wird (vgl. Agamben 2002 und 2016). Die souveräne Kraft bzw. der Souverän wird bei Schmitt und Agamben noch bei einem regierenden, politischen Akteur, einem staatlichen oder staatsähnlichen Akteur verortet, wodurch eine ähnliche Zuordnung von theoretischen Figuren zu augenscheinlich identifizierbaren empirischen Akteuren vorgenommen wird. In einem Versuch der Verschiebung, haben wir staatliche Akteure aus dieser folgenreichen Rolle heraus enthoben und als ebenso beteiligte und mitwirkende, aber auch betroffene Akteure im AkteurNetzwerk betrachtet, ohne vorab bereits Eigenschaften zuzuschreiben. Durch die Nachverfolgung der Spuren von Politisierung bei den Helfer:innen und Wissenschaftler:innen zeigte sich, dass die politischen Forderungen in Richtung zu staatlichen Akteuren bzw. Repräsentanten von Staatlichkeit – als Aufforderungen – formuliert wurden. Der ›Staat‹ wird zum Adressaten. Das zivilgesellschaftliche Engagement richtet sich gegen eine Politik der Abschreckung, der Abschiebung – gegen einen ›Staat‹ in dem durch Bürokratie und Verfahren Hürden scheinbar mehr auf- als abgebaut werden: Zugang kontrolliert und beschränkt wird. Marx’ Methode einer Analyse gesellschaftlicher Phänomene unter Einbezug ihrer historischen Materialität (van Loon 2019) folgend, betrachteten wir ›den Staat‹ nicht nur als Verwaltungsapparat, sondern auch als hinterlassene Spur der Arbeit vieler AkteurNetzwerke, die ihre Tätigkeiten festigten und Routinen bildeten, Verfahren etablierten und Aushandlungen in Gesetzen und Verordnungen fixierten. Die staatlichen Institutionen als Manifestation des Eigenen, das Spuren hinterlässt, die in ihrer Weise materiell sind, als dass sie widerständig sind (vgl. van Loon 2019). So offenbart sich der adressierte ›Staat‹ aber auch als ein Element des unheimlichen Eigenen, wenn die Helfenden feststellen, dass ihr humanitäres Tun, das Helfen nicht nur kaum unterstützt, sondern gar behindert wird. Die AnkER-Zentren bilden aus der Perspektive einen besonderen Mo-

Über das Verfassen von Berichten

ment, in dem sich ein lang verdrängtes Element des Eigenen in unheimlicher Weise offenbart. Unter Einbezug der Perspektive des ›Staats‹ und seiner spezifischen Verfasstheit, wird Flucht zu einem Element entsprechend der Logik der Ausnahme: Sie wird aus der Ordnung ausgeklammert und findet als Ausnahme doch wieder Eingang. Nur unter der Bedingung des modernen Nationalstaats wird Migration zu einer potenziellen Bedrohung (der Macht). Staatliche Regulierung mit beispielsweise Gesetzen und bürokratischen Verfahren können von dieser Warte aus als Mittel des Umgangs mit der potenziellen Bedrohung betrachtet werden. Sie ermöglichen eine Unterscheidung zwischen regulärer und irregulärer Migration. Und Flucht wird in dem Moment zu einer Ausnahme, wenn sie eigentlich in die Kategorie irregulärere Migration fällt, die daraus folgenden Konsequenzen allerdings nicht folgen: keine Ausweisung stattfindet. Die besondere Schutzbedürftigkeit Flüchtender wird als Wert von Humanität, der dem Fundament der Werteordnung moderner, europäischer Nationalstaaten eingeschrieben ist, zum ausschlaggebenden Moment der Ausnahme: Einmal mehr zeigt sich das Zusammenkommen der charakteristischen Merkmale von Agambens Ausnahmezustand. Die Situation Flüchtender ist durch eine Schutzlosigkeit von besonders lebensbedrohlichem Grad charakterisiert. Sie sind als Homo Sacer auf da nackte, bloße Leben zurückgeworfen und ausgeliefert. In dem Moment, da Asyl ersucht wird, vollzieht sich eine Anrufung bzw. Aufforderung (Lévinas), die sich auf das Eigene bezieht. Damit sind keine Eigenheiten des Fremden bzw. Flüchtlings gemeint: es geht um das Eigene des Selbst und die ethische Frage der Verantwortung gegenüber dem Anderen. Die Situiertheit des Geflüchteten, der um Asyl ersucht, entzieht sich der bestehenden Ordnungen und kehrt als Ausnahme (obgleich es sich um irreguläre Migration handelt, folgt keine Ausweisung: d.h. die Norm gilt, wird aber nicht durchgesetzt) in die Ordnung zurück: Geflüchtete werden aufgenommen und beispielsweise unter subsidiären Schutz gestellt. Eine weitere Akteursgruppe, neben den Helfenden, die in dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit erfahren hat, ist die Gruppe der Forschenden, die im Bereich der FluchtMigration tätig waren und noch immer sind. Die Gruppe der Forschenden im Bereich der FluchtMigrationsforschung ist aus zweierlei Gründen für eine ANT-orientierte Analyse interessant: (1) Erstens befand und befindet sich die Gruppe in einem Wandel und war 2015 und ist bis heute mit Neufindung, Abgrenzung und Arbeit als Gruppe im Akteur-Netzwerk beschäftigt, wodurch die Spuren von Gruppenbildungen hier besonders deutlich sichtbar wurden (vgl. Latour 2014). (2) Zweitens ist die Gruppe im besonderen Maße durch eine Hybridität geprägt in der deutlich wird, dass wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Akteure nicht getrennt voneinander betrachtet werden können: Akteure immer eingebunden in Akteur-Netzwerke und immer betroffen durch Arbeit von Akteur-Netzwerken sind. Deutlich wird an der Stelle das, was Latour als die »Große Trennung« (Latour 2015a) und Morin als »Barbarei der Wissenschaft« (Morin 2010) bezeichnet. Latours Kritik an der ›Moderne‹ besagt, dass wir es weniger mit einem Epochenwechsel zu tun haben, als dass wir vielmehr eine Verschiebung im Denken im Zuge der ›Moderne‹ erleben: mit dem Aufstieg des Humanismus wurde die »Geburt des ›Menschen‹ [begrüßt und] sei es, um seinen Tod anzukündigen« (Latour 2015: 22). Und im Schatten der Geburt des Menschen wird die »gleichzeitige Geburt der ›nicht-Menschen‹« (ebd.) übersehen. Das Denken der Moderne ist gekenn-

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zeichnet durch zwei Tätigkeiten: Trennen und Verbinden. Wir sind beständig damit beschäftigt die Dinge gemäß diversen Kriterien voneinander zu unterscheiden, aufzuteilen, zu trennen. Und im Hintergrund dieser Trennung werden immer wieder aufs Neue Verbindungen hergestellt. Dabei sind diese Tätigkeiten nicht in unterschiedlichen Akteursgruppen geteilt: alle sind beständig mit beiden Modi beschäftigt, trennen und verbinden unaufhörlich. Wir haben die wissenschaftlichen Tätigkeiten der Akteure und Netzwerke im Bereich der FluchtMigrationsforschung nachgezeichnet und uns in dem Zuge auf verschiedene Plattformen wissenschaftlicher Austragungen im deutschsprachigen Raum konzentriert: Wir haben die Veröffentlichungen von zwei Journals betrachtet und über die inhaltlichen Publikationen hinaus die Tätigkeiten und Positionierungen der Forschenden in den Blick genommen. Dabei zeigten sich zwei unterschiedliche Auffassungen wissenschaftlicher Position: eine, die auf eine Idee einer unabhängigen, unpolitischen Wissenschaft Bezug nimmt und eine, die sich als »flüchtlingssolidarisch« (Scherr 2021: 16) bezeichnet. Beide Positionen schließen einander nicht aus, die Arten und Weisen, wie die forschenden Akteure diese Herausforderungen bearbeiten, verdeutlichen den angenommen Widerspruch, der sich aus der Überzeugung einer Trennung von Wissenschaft und Politik, ableiten lässt. Edgar Morins Denkweise, die nicht versucht Komplexität zu bewältigen bzw. zu überwinden und komplexe Phänomene greifbar, erfassbar, messbar und damit kontrollierbar zu machen, eröffnet an der Stelle einen Ansatz, der von einem Ziel Komplexität zu entwirren und zu bewältigen abrücken kann und damit ermöglicht Komplexität in ihre Vielheit und Widersprüchlichkeit stehen zu lassen und aufzunehmen (vgl. Morin 2010). Die ›Flüchtlingskrise‹ und der damit verstärkte Wissenschaftsboom im Bereich von FluchtMigrationsforschung hatte einen weiteren Effekt: Die intensivierte Forschung führte dazu, dass Forschende Herangehensweisen, Methodologien, Methoden und Instrumente neu reflektieren. Die besondere Situation, die erforscht werden sollte und die Betroffenheit der Personen, deren Lebensrealität von Flucht betroffen war, verstärkte die intensive Reflektion über Methoden und Vorgehensweisen. Dies brachte einerseits die verstärkte Auseinandersetzung mit partizipativen Konzepten (vgl. Aden et al. 2019) hervor und führte andererseits auch unter den Forschenden zu intensiveren ethischen Überlegungen über die Verantwortung gegenüber Forschungsgegenstand und Wissenschaftsidealen (vgl. Betscher 2020). In Konfrontation mit dem Fremden zeigte zunächst das Eigene: In diesem Falle zeigte sich die Eigenheiten soziologischer Forschungsansätze und ein bis dahin weniger hinterfragtes Selbstverständnis der Rolle von Wissenschaft und dem Selbstverständnis der Forschenden sowie ihrer eigenen Eingebundenheit in ihre Forschungsgegenstände. Die Gruppe der Forschenden war und ist beständig mit Aushandlungen über Grenzen und Möglichkeiten befasst. Zwischen dem Selbstverständnis als Forschenden, der eigenen Rolle und Herangehensweisen, spielt auch die Frage der Ver-Antwortung eine Rolle: Verantwortung gegenüber der angestrebten Erkenntnis durch die unternommene Forschung und Verantwortung bezüglich etwaiger Konsequenzen, die sich aus der Veröffentlichung ergeben könnten (vgl. Scherr 2021 und Ruzicka 2016). Es geht auch um die Ver-Antwortung gegenüber dem Gegenstand und in dem Fall um die Verantwortung gegenüber konkreten Personen, Menschen und gleichzeitig gegenüber dem Gegenstand: Flucht.

Über das Verfassen von Berichten

Und während sich Wissenschaft politisch positionierte und abgrenzte, findet in ähnlicher Form ein Aushandlungsprozess über das politische Element im Bereich Geflüchtetenhilfe statt. Auf der einen Seite liegt der Fokus auf den Bedarfen der Geflüchteten selbst: Hilfe soll unpolitisch und humanitär begriffen werden. Und auf der anderen Seite findet eine transformative Verschiebung statt. Ausgelöst durch die Konfrontation mit den Unzulänglichkeiten dessen, was wir als Ausdrücke des Eigenen umfassen können: drohendes Versagen von staatlichen und nicht-staatlichen Strukturen und Institutionen, zu deren Aufgabe die Versorgung und Unterbringung von geflüchteten Menschen gehört und die die öffentliche Ordnung wahren und schützen sollten. Es ist dieses drohende Versagen, das mit dem Umschwung der Situation in eine Ausnahmesituation einhergeht und zur Re-Aktion auffordert und die Spontanhelfenden aktiv werden ließ: »[Vor] 20 Minuten noch auf dem Sofa und nun muss man eine Großgruppe anleiten in einer eher chaotischen Lage, um dazu beizutragen die öffentliche Ordnung wiederherzustellen« (Lessig et al. 2019: 3f). Die Akteure versammeln sich, es wird verbunden und getrennt, sortiert und organisiert und gearbeitet, verändert und gewirkt. Ob explizit realpolitisch orientiert oder zivilgesellschaftlich gerichtet: die Netzwerke werden dort tätig, wo matters of concern sie verbinden: »We might be more connected to each other by our worries, our matters of concern, the issues we care for, than by any other set of values, opinions, attitudes or principles« (Latour 2004: 4). Die Konfrontation mit dem Fremden, der sich in seinem Antlitz (vgl. Lévinas 2017) zeigt, fordert zur Ver-Antwortung – zur Antwort – auf: wenn der Andere als Fremder gegenübertritt und als Anderer erfasst wird, zeigt sich in diesem Gegensatz das Eigene. Durch die Konfrontation mit dem Anderen sind wir zur Verantwortung gegenüber dem Anderen aufgefordert. Der Andere verrät uns dabei nichts über sich selbst, viel aber über uns. Es ist ein Moment des Fremden, der lediglich die Andersheit in Differenz gegenüber dem Eigenen sichtbar werden lässt, sich der Erfassung durch das Eigen aber entzieht. Diese Begrenzung, die potenzielle Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten, führt zu einem Moment der Beunruhigung des Subjekts, das sich als nicht mehr in-sich-ruhend begreifen kann und die Unsicherheit der eigenen Gewordenheit und des eigenen Werdens in Unvollständigkeit (im Kontrast zum Anderen, der sich unterscheidet, d.h. etwas hat, das ich nicht habe) begreift (Lacan, Kristeva). Das fragmentierte Subjekt, das sich erst aus dem Erkennen der eigenen Unvollständigkeit (Lacan) bildet, wird aus einem Zustand des Ruhens herausgelöst: es wird zum Antworten aufgefordert und zum Handeln gebracht (vgl. Latour 2014, Lévinas 2012). Im Anschluss an Lacans Arbeiten haben wir das Subjekt in dieser Arbeit nicht als eine in sich geschlossene Einheit begriffen. Das Subjekt existiert nicht aus sich heraus und auch seine Motivationen zur Bezugnahme entspringen nicht dem eigenen Sein, sind diesem nicht eingeschrieben: es wird nicht als aktiv und von sich selbst aus die Welt erfassend begriffen. Das Subjekt ist Ergebnis eines Prozesses und wird durch Verletzung, Konfrontation, durch das Einwirken anderer aus einer Passivität heraus verdrängt und zum Handeln gebracht. In Verbindung mit Kristeva (1990) ist es nicht unbedingt die Konfrontation mit dem Anderen – bei Lacan die Figur des Vaters, die den Namen gibt und das Kind aus der Kind+Mutter-Einheit trennt – sondern die Konfrontation mit dem unterdrückten Eigenen, dem entfremdeten Eigenen, das als eine Potentialität des eigenen Seins vom Selbst befremdet, ausgestoßen und verstoßen – bei Freud: unterdrückt – wird, das

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sich wiederum in der Begegnung mit Anderen, als das eigene Fremde wieder zurückkehrt. Es ist gleichzeitig ein Moment des Eigenen und als befremdetes Element doch irgendwie anders (soll dem Wunsch nach anders als das Selbst sein), was es zum Unheimlichen werden lässt. Bei Freud ist es das »archaische, narzißtische, noch nicht von der Außenwelt abgegrenzte Ich, das in sich als bedrohlich oder unangenehm Empfundene aus sich heraus projiziert und daraus einen fremden, unheimlichen, dämonischen Doppelgänger macht« (Kristeva 1990: 200). Es ist jener Teil, der uns wiederum im Fremden begegnet – nicht, weil er dem Fremden eigen wäre, sondern weil der Fremde zur Projektionsfläche wird: wir das in ihm sehen, was das Unheimliche, Verdrängte unseres Eigenen ist: das uns nun wieder entgegentritt: »Angesichts des Fremden, den ich ablehne und mit dem ich mich identifiziere, beides zugleich, lösen sich meine festgefügten Grenzen auf, meine Konturen zerfließen, Erinnerungen an Erlebnisse, in denen man mich fallen gelassen hat, überfluten mich, ich verliere die Haltung« (ebd.: 203). Es ist also ein Teil des Eigenen, das uns im Fremden wieder-begegnet, gegenübertritt, dass uns zur Ver-Antwortung (gegenüber uns selbst) auffordert, aufruft. »Der Fremde ist uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unterbewußtes – dieses ›Uneigene‹ unseres nicht möglichen ›Eigenen‹« (ebd.: 209). Der Fremde ist dabei mehr als nur Projektionsfläche des unheimlichen Eigenen. Eben dies Verdrängte zeigt sich in unserem Umgang mit dem Fremden, unserer Reaktion, der Antwort auf die Aufforderung des Anderen. Wir sind also in dieser Arbeit zu einem beunruhigten, fragmentierten, immer schon und immerzu unvollständigen Subjekt gelangt. Ein Subjekt, das nicht aus sich heraus ist und das nicht in-sich-ruhend die Welt von sich aus erfasst und begreift, sondern konstant im Bezug zu Anderen als Subjekt hervorgebracht wird: ein Prozess, der nie abgeschlossen ist, sondern sich ständig kontinuierlich vollzieht. Das Subjekt ist ständig im eigenen Auflösen und fortlaufenden Werden begriffen. Womit sich, aus unserer Perspektive, die Frage nach dem verstehenden Subjekt der verstehenden Soziologie stellte: inwiefern also angenommen werden könne, dass wir von jenem verstehenden, denkenden, nachvollziehenden und nacherlebenden Subjekt ausgehen könnten. Eben dieses, welches in seinem sozialen Handeln sich an einem subjektiv gemeinten Sinn orientierte (Weber, Schütz), was wiederum durch Beobachtende aufgenommen, in seinem Ablauf und in seinen Motivationen verstanden werden könne, das (soziale) Handeln also immer in Bezug zu Sinn- und Bedeutungszusammenhänge eingeordnet werden könne: nicht nur von den Handelnden selbst, auch von Beobachtenden. Indem wir dies in-sich-ruhende, zum Verstehen fähige Subjekt beunruhigten, aus einem Zustand der Fragmentierung, der Verletzung, der Unvollständigkeit gerade nicht substanziell, sondern prozessual in einem ständigen Vergehen und Werden begriffen, war es weniger ein Anliegen jenes Subjekt abzulösen oder zu ersetzen, als vielmehr in seiner Instabilität, Eingebundenheit und Bedingtheit durch den Anderen zu begreifen. Latours Prinzip generalisierter Symmetrie folgend, wurde eine methodische Gleichbehandlung insofern durch die Dekonstruktion des verstehenden Subjekts unterstützt, als dass keine Vorannahmen über (besondere) Eigenschaften von Akteuren angenommen werden sollten. Gemäß der ANT sind alle im Akteur-Netzwerk Beteiligten mit gleicher Sprache, gleichen Methoden und Instrumenten zu untersuchen. Eine angenommene Unterscheidung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure kann nur darüber

Über das Verfassen von Berichten

argumentiert werden, wenn sie alle zunächst methodisch gleichbehandelt werden. D.h. nicht, dass sie durch dies Prinzip gleich gemacht würden. Damit das menschliche Subjekt sich beweisen könne, galt es das Spielfeld zu ebnen, gleiche – einheitliche – Bedingungen herzustellen, anzulegen, und das menschliche Subjekt, dem wir unterstellen wollten, dass es verstehen könne, dass es als vernunftbegabtes, denkendes Wesen in der Lage sei bestimmte Dinge erfassen, verstehen und nachempfinden könne, entrückten wir es aus jener in-sich-ruhenden Position. Wir entzogen dem Protagonisten der verstehenden Soziologie gewissermaßen die Plot Armor1 . Im Zuge dieser Arbeit wurde zu Beginn eine Denkweise entwickelt, die sich in kritischer Auseinandersetzung mit dem, was als Denkwege bezeichnet wurde, darüber auszeichnete, dass es sich nicht um einen Plan des Vorgehens handelte, sondern eine Art und Weise soziologischen Denkens und Theoretisierens den Vorrang erhielt. Während die besprochenen Denkwege soziologisches Vorgehen durch vorab festgelegte Annahmen potenziell drohen zu beschränken, wurde die Wichtigkeit hervorgehoben, Komplexität nicht etwa als etwas zu betrachten, das gebändigt und überwältigt, das eingehegt werden müsste, sondern als etwas, das u.a. sozialen Phänomenen inhärent ist: etwas, das, wollte soziologische Forschung bei den Dingen bleiben und zum Empirismus zurückkehren, wozu sie durch Latour aufgefordert wurde, so müssten Werkzeuge – und dazu gehören auch Theorien und theoretisch Konzepte – entwickelt werden, die dem Gegenstand und seiner Verfasstheit den Vorrang gewähren können. So wurde im ersten Kapitel der Arbeit in einer Besprechung bekannter Denktraditionen beispielhaft der Vorgang eines Un-Denkens beschrieben und unter Einbindung nicht-soziologischer Ansätze, wie Edgar Morins Komplexität und soziologischer Denkfiguren, wie Simmels Wechselwirkungen oder Mauss’ Gabe-Theorem trotz des Hereinholens der Anderen und Fremden, eine Verbindung mit und Einbindung ins Eigene – ins Soziologische – vorgenommen. Aus einem Un-Denken und Nach-Denken wurde in Verbindung mit dem Werkzeugkasten der Akteur-Netzwerk-Theorie und dem grundlegenden Verständnis soziologischer Unternehmungen, die Latour unter der Soziologie der Assoziationen zusammenfasst, eine Denkweise entwickelt, die der Komplexität des potenziell noch unbekannten Entfaltungsraum geben kann. Eine Denkweise, die funktionieren kann, ohne die Komplexität des Gegenstands zu reduzieren. Eine Denkweise, deren Anliegen es nicht ist, Komplexität zu überwinden oder Widersprüchlichkeiten aufzulösen. Edgar Morins Arbeit über Komplexität ermöglicht die Abkehr von einer Denkweise und Forschungsweise, die Morin als ›Barbarei der Wissenschaft‹ und Latour als ›Große Trennung der Moderne‹ bezeichnet. Diese Perspektive ermöglicht es, die Widersprüchlichkeiten und Gleichzeitigkeit im sozialen Miteinander nicht in den Rollen als Wissenschaftler:innen zu sortieren und zu ordnen und Lösungen anzubieten: sie überlässt, im Sinne der ANT, es den Akteuren selbst, Umgang zu finden, Strategien zu entwickeln, oder Widersprüchlichkeiten gar schlichtweg auszuhalten, wie die Ehrenamtskoordinator:innen während des Workshops Zwischen den Stühlen eigens feststellen: manchmal ginge es auch darum, die Spannungen einfach auszuhalten (vgl. FB220517). Mit dem Anspruch, dem Drang zu widerstehen, Widerstände, Paradoxe, gegenläufige Entwicklungen, die sich eigentlich aufheben müssten 1

Phänomen in fiktionaler Erzählung: wenn Protagonisten auf wiederholt wundersamerweise Problemen und Konsequenzen entkommen, weil ihr Überdauern notwendig für die Geschichte ist.

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und es doch nicht tun, irgendwie aufzulösen und einzuhegen in eine Ordnung, schließt sich die hier entwickelte Denkweise an Agambens Vorgehen an, wenn er die abendländischen Klassiker »gegen den Strich« (Geulen 2005: 17) liest, in und bei den Brüchen, den Widersprüchen und in den Verschiebungen arbeitet, sie nicht überwindet oder auflöst. Ein Denken in Gleichzeitigkeit und mit Wechselseitigkeit, das Simmels Soziologie nicht fremd ist (vgl. Simmel 1992 [1908]). Die Entwicklung der Denkweise ist der Hauptbeitrag der vorliegenden Arbeit zur Allgemeinen Soziologie und soziologischen Theorie. Gezeigt wurde, wie eine theoretische Verschränkung, Ein- und Verbindung vollzogen werden kann, die nicht willkürlich, sondern angeleitet und angebunden ist, die sich reflektiert vollzieht, ohne selbstreferentiell werden zu müssen und durch die Einbindung nicht-soziologischer Ansätze zu den soziologischen Klassikern zurückkehren und (wieder) weiter nutzbar machen kann, indem Theoriensysteme nicht in sich geschlossen begriffen werden, sondern durch den Nachvollzug von gemachten Denkwege in Teile zerlegt, von Spuren gelöst und weiter entwickelt und miteinander kombiniert werden können.

Danksagung

Das vorliegende Buch ist die für die Publikation überarbeitete Version meiner Dissertation, die 2022 an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt unter dem Titel »›Compassion Fatigue‹ – Untersuchungen zur soziologischen Schlüsselfigur des Fremden am Beispiel der Mitleidsermüdung bei ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern im Zuge der ›Flüchtlingskrise‹ 2015. Eine Soziologisierung von Giorgio Agambens Theorie des Ausnahmezustands und Homo Sacer. Entwicklung einer Denkweise zur theoretischen Erfassung komplexer Phänomene« eingereicht und im Juli 2022 verteidigt wurde. Für die Möglichkeit, meinen akademischen Werdegang im Anschluss an meinen Master mit einer Promotion fortzusetzen, möchte ich mich besonders bei meinem Erstbetreuer und Gutachter Joost van Loon bedanken, der meine Arbeit seit 2016 begleitet, betreut und gefördert hat und mir bei der Ausarbeitung meiner eigenen Fragestellung viele Freiräume gegeben hat. Weiterer Dank gilt meiner zweiten Gutachterin Karin Scherschel, die sich meiner Arbeit angenommen hat und aus dem Bereich Flucht- und Migrationsforschung wertvolle Anregungen und Rückmeldung gegeben hat. Außerdem danken möchte ich Angela Treiber, die neben Martin Kirschner meine Promotionskommission vervollständigt hat. Ich hatte das Privileg sechs Jahre lang während meiner Promotion als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und soziologische Theorie meines Doktorvaters zu arbeiten und möchte mich an dieser Stelle besonders bei meinen Kolleg:innen bedanken, mit denen ich über die Jahre hinweg Arbeitsplätze und Büros geteilt habe. Vielen Dank für die vielen spannenden fachlichen und weniger fachlichen Diskussionen und Unterhaltungen über mal mehr, mal weniger soziologische Themen und viele unterhaltsame Stunden nach Feierabend in Eichstätt. Unter ihnen möchte ich besonders Rémy Bocquillon und Basil Wiesse danken. In den sechs Jahren in Eichstätt habe ich zahlreiche Lehrveranstaltungen geben und viele Studierende kennenlernen dürfen, deren Verständnis- und Rückfragen und eigene Ideen den Arbeitsalltag an der Universität immer wieder spannend und abwechslungsreich gestaltet haben. Das Anfertigen einer Dissertation ist streckenweise ein sehr einsames Unterfangen: insbesondere während einer Pandemie. Sehr großer Dank geht an dieser Stelle an meinen Mitbewohner Oliver: Dank Dir waren die Corona-Lockdowns 2020

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weit weniger unheimlich und einsam. Um die Eichstätter Runde zu vervollständigen, geht besonderer Dank an dieser Stelle an Hildegard Alberter, die in ihrer Funktion als Lehrstuhlsekretärin aber auch Büronachbarin immer ein offenes Ohr hatte. Ohne die große Unterstützung meiner Eltern hätte ich mich 2016 nicht mit einem erfolgreich abgeschlossenen Master für eine Promotion qualifizieren können. Vielen Dank dafür, dass ihr mein Bachelor- und Masterstudium finanziert und mich unterstützt habt. Vielen Dank für die Unterstützung und Hilfestellung weit über mein Studium hinaus: Angefangen vom Zuhören bei alltäglichem Gejammer bis zur Hilfe bei der Steuererklärung und Umzügen und wertvollen Tipps das Erwachsenenleben zu manövrieren. Meiner Schwester Lara gilt außerdem großer Dank für über dreißig Jahre wunderbares Schwesterleben und die Gewissheit, dass da immer jemand ist und sein wird. Bedanken möchte ich mich außerdem bei meinen Freund:innen, die die Jahre über an meiner Seite waren, mich unterstützt haben und besonders nachsichtig und geduldig waren, wenn es vorübergehend etwas herausfordern und anstrengend wurde. Besonderer Dank gilt Nina und Julia, die mich seit dem Bachelor begleiten. Vielen Dank für viel Gelächter und wunderbare Unternehmungen, gemeinsame Wochenenden und Ausflüge in andere Welten geht an Caro, Anna und Dome. Der Abschluss meiner Promotion ist insbesondere der uneingeschränkten Unterstützung meines Partners Tobias Lensch zu verdanken, der nicht nur parallel an seiner eigenen Promotion gearbeitet hat, sondern auch keine Zeit und Mühen gescheut hat, mich beim Abschluss meiner zu unterstützen und ohne dessen Hilfe meine geistige Verfassung die Strapazen der Endphase meiner Dissertation nicht so gut überstanden hätte: Dir gilt mein größter Dank!

Abkürzungsverzeichnis

FB220517

Feldbesuch vom 22.05.2017: In Kooperation mit dem bay. Flüchtlingsrat organisierter Workshop Zwischen den Stühlen für Ehrenamtskoordinator:innen, Engagierte und Interessierte in Nürnberg.

AsylG141115

Erster Asylgipfel vom 14.11.2015 in Weilheim: Pressemitteilung.

FB230417.01

Feldbesuch vom 23.04.2017: Erste Vollversammlung der Ehrenamtlichen auf dem Marienplatz in München: Flyereinladung

FB230417.02

Feldbesuch vom 23.04.2017: Erste Vollversammlung der Ehrenamtlichen auf dem Marienplatz in München: Redeskript von Schiffauer. Veröffentlicht online 2018.

FB230417.03

Feldbesuch vom 23.04.2017: Erste Vollversammlung der Ehrenamtlichen auf dem Marienplatz in München: Redeskript von Veramendi. Veröffentlicht online 2018.

FB230417.04

Feldbesuch vom 23.04.2017: Erste Vollversammlung der Ehrenamtlichen auf dem Marienplatz in München: Diskussionsrunde Rechtsstaat und Menschenrechte: Protokoll. Veröffentlich online 2018.

NFKonf16

Netzwerk Fluchtforschung (Flüchtlingsforschung), 1. Konferenz 2016: Konferenzprogramm

NFKonf18

Netzwerk Fluchtforschung, 2. Konferenz 2018: Konferenzprogramm

NFKonf2020

Netzwerk Fluchtforschung, 3. Konferenz 2020: Konferenzprogramm

Literatur

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