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German Pages 346 Year 2015
Constance Ohms Das Fremde in mir
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2008-04-17 11-16-53 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0325176382832388|(S.
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Constance Ohms (Dr. rer. pol.) leitet ein Forschungsinstitut des gemeinnützigen Vereins Broken Rainbow e.V. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gewalt und Aggression von Frauen, Täterinnenarbeit, Hasskriminalität und Diskriminierungserfahrungen sozialer Minderheiten.
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) T00_02 seite 2 - 948.p 176382832452
Constance Ohms
Das Fremde in mir Gewaltdynamiken in Liebesbeziehungen zwischen Frauen. Soziologische Perspektiven auf ein Tabuthema
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) T00_03 titel - 948.p 176382832540
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Constance Ohms Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-948-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
Danksagung
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Glossar
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Vorwort
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Zur Gewaltdiskussion Einführung in das Thema Diskurs Aggression und Gewalt Diskurs häusliche Gewalt Diskurs Gewalt in Liebesbeziehungen zwischen Frauen
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Zur Studie Sozialpolitischer Hintergrund Ziele Ethische Überlegungen Theoretische Grundlagen Datenerhebung Datenauswertung: Latente Sinnstruktur Auswahl und Darstellung der Interviews
73 73 74 78 79 82 84 86
Zusammenfassende Darstellung der Fallanalysen Elvira und Agnes aus Sicht von Elvira Nike und Gertrud aus Sicht von Nike Martina und Andrea aus Sicht beider Frauen Lydia und Nadine aus Sicht von Lydia
87 87 91 95 102
Ergebnisse der Untersuchung und theoretische Reflexion Lesbische Liebesbeziehungen mit Gewaltdynamiken – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Charakteristika von Gewaltdynamiken in Beziehungen und Klassifizierungstabelle
107 107 137
Zusammenfassung der Ergebnisse und Einbindung weiterer Interviewanalysen Sozialer Hintergrund und Spektrum der Gewalt Erweiterter Gewaltbegriff Modelle gewalttätiger Beziehungsdynamiken Dynamiken als interaktive Prozesse Der Blick der Täterinnen Mögliche Risikofaktoren Vergleichende Betrachtung mit Gewalt in heterosexuellen Paarbeziehungen Häusliche Gewalt und Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Fazit Selbstreflexion und weiterer Forschungsbedarf
149 149 149 150 151 153 153
159 159 161 162
Detaillierte Darstellung der ausgewählten Interviews – Rekonstruktion von Beziehungsdynamiken Elvira und Agnes aus Sicht Elviras Nike und Gertrud aus Sicht von Nike Martina und Andrea aus Sicht beider Frauen Lydia und Nadine aus Sicht von Lydia
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Literatur
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DANKSAGUNG
In Anlehnung an Geertz (1987) betrachte ich die vorliegende Arbeit als einen Beitrag zur Präzisierung des Diskurses zu häuslicher Gewalt: »Ethnologie, zumindest die deutende Ethnologie, ist eine Wissenschaft, deren Fortschritt sich weniger in einem größeren Konsens als in immer ausgefeilteren Debatten zeigt. Was sich entwickelt, ist die Präzision, mit der wir einander ärgern.« Zuvorderst gilt mein Dank denjenigen Frauen, die sich an den Interviews beteiligt haben und deren Erzählungen die Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse geschaffen haben. Mein besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Prof. Karin Flaake, die mit wertvollen Hinweisen und Hilfestellungen zur Qualität dieser Arbeit wesentlich beigetragen hat. Auch möchte ich mich bei meinen Kolleginnen Karin Müller und Martina Frenznick für ihre fachliche Hilfestellung und bei Christian Schenk für seine Fürsprache, endlich diese Arbeit zu schreiben, ganz herzlich bedanken. Schließlich möchte ich auch meinen Eltern danken, die mich in dieser Zeit sehr unterstützt haben.
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GLOSSAR
BMFSFJ:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
CTS:
Conflict Tactics Scale
DSMR III:
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 3. Überarbeitung
FIRO-B:
Fundamental Interpersonal Relations Orientation – Behaviour
ICD:
International Classification of Diseases and Related Health Problems
Transgender:
Unter dem Begriff Transgender werden Menschen gefasst, deren körperliches Äußeres nicht mit der Selbstwahrnehmung übereinstimmt und/oder die Grenzen der geschlechtlichen Eindeutigkeit überwindet. Eine bedeutende Gruppe sind transsexuelle Menschen.
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VORWORT
Gewalt in Liebesbeziehungen zwischen Frauen ist ein tabuisiertes Thema. Es wird weder in den lesbischen Subkulturen thematisiert noch hat es Eingang gefunden in die allgemeinen Debatten um häusliche Gewalt. Traditionelle Geschlechtsrollenstereotype beschreiben Frauen als gewaltlos, fürsorglich und aufopfernd (Gilbert 2002, Girshik 2002). Auch wird das Verhältnis der Geschlechter zueinander durch die Normsetzung von Heterosexualität bestimmt (Hackmann 2003). Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Frauen als gewaltlose Wesen und die Zuordnung von Frauen zu Männern mittels Heterosexualität als einzig ›richtige‹ und gesellschaftlich akzeptierte sexuelle Ausrichtung hat bedeutsame Auswirkungen auf Frauen, die weder dem Geschlechtsrollenstereotyp entsprechen noch sich kongruent zur Normsetzung der Heterosexualität verhalten – Frauen, die gewalttätig sind und Frauen, die mit anderen Frauen in Liebesbeziehungen leben. Geschlechtsrollenstereotype und ›Heteronormativität‹ bei gleichzeitiger Ablehnung ›abweichender‹ Lebensentwürfe marginalisieren lesbische Frauen, die Gewalt in ihren Partnerschaften erfahren haben, indem sie deren Erfahrungen ignorieren und stigmatisieren. Lesbische Opfer häuslicher Gewalt können sich daher im Regelfall nicht an Opferhilfeeinrichtungen wenden, ohne das Risiko einer Reviktimisierung einzugehen (Ohms/Müller 2001). Desgleichen gilt für lesbische Frauen, die Gewalt verüben; sie brechen nicht nur mit dem Stereotyp der Gewaltlosigkeit von Frauen, sondern widersprechen noch dazu der Maxime der Heterosexualität. Zugleich hat sich ein Erklärungsmodell durchgesetzt, das häusliche Gewalt als ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ beschreibt, wobei sowohl Opfer als auch Täter geschlechtsmarkiert sind. Das gewalttätige Verhalten des Mannes ist in diesem Erklärungsmodell vor allem in den männli11
DAS FREMDE IN MIR
chen Geschlechtsrollenerwartungen und der männlichen Sozialisation begründet. Infolgedessen sind die Interventionsnetzwerke auf einen gewalttätigen Mann und eine sich passiv verhaltende, gewaltlose Frau ausgerichtet. Aber auch die politische Lesbenbewegung hat das Bild des gewalttätigen Mannes bestärkt, indem sie Liebesbeziehungen zwischen Frauen romantisierte. Die Romantisierung und Idealisierung lesbischer Beziehungen ist der Versuch, der gesellschaftlichen Stigmatisierung etwas entgegenzusetzen. Die hier vorliegende Untersuchung bricht mit der Tabuisierung in zweierlei Hinsicht: Sie befasst sich mit gewalttätigen Dynamiken in Liebesbeziehungen zwischen Frauen und spiegelt zudem den Blick der Gewalt ausübenden Frau wider. Sie ist die erste dieser Art in Europa. Die Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass das soziale Geschlecht vor allem hinsichtlich der psychosozialen Versorgung lesbischer Frauen, gleich ob sie Gewalt erfahren oder ausüben, eine bedeutende Rolle spielt, da die Unterstützungsangebote geschlechtsspezifisch ausgerichtet sind. Zur Beschreibung gewalttätiger Beziehungsdynamiken greift die Kategorie ›Geschlecht‹ als vorrangiger Faktor allerdings zu kurz. Vielmehr scheint die Etablierung einer hierarchischen Struktur in der Partnerschaft das tragende Moment zu sein; dabei werden Ungleichheiten wie ein unterschiedlicher ökonomischer Status, unterschiedliche Bildung usw. hierarchisiert. Stehen dem Paar gesellschaftlich vorgegebene Ungleichheiten nicht zur Verfügung, weil beide beispielsweise den gleichen sozialen Status haben, werden andere, beziehungsinterne, Ungleichheiten hierarchisiert, so etwa ein unterschiedlicher Umgang mit erlebtem sexuellem Missbrauch. Gewalt setzt dort ein, wo die beziehungsinterne hierarchische Ordnung durch eine der Partnerinnen – vermeintlich oder tatsächlich – in Frage gestellt wird. In der Studie wird weiterhin deutlich, dass verschiedene Faktoren ein gewalttätiges Verhalten begünstigen können, so lebensgeschichtliche Aspekte, die gesellschaftliche Ablehnung der lesbischen Lebensweise und schließlich die subkulturelle Tabuisierung, da hier keine Wertsetzung erfolgt, die der Gewaltausübung ablehnend gegenüber steht. Schließlich zeigt sich, dass nicht alle gewalttätigen Dynamiken mittels einer Täterin-Opfer-Relation beschrieben werden können. Vielmehr wird bei Betrachtung des Zeitraums der Partnerschaft deutlich, dass in einigen Fällen beide Frauen gewalttätig geworden sind. Diese Dynamik lässt sich nicht als ›wechselseitige‹ Gewalt beschreiben, sondern vielmehr als eine bidirektionale Ausrichtung: Die Gewalt findet im Regelfall nicht gleichzeitig statt. Eine der Partnerinnen greift dann zu diesem Mittel, wenn sie ihre Position in der Beziehung gefährdet sieht. Auch 12
VORWORT
kann es in der Partnerschaft zu einem komplementären Wiederbeleben lebensgeschichtlicher Traumata kommen, wobei eine Partnerin mit ihrem Trauma dahingehend umgeht, dass sie die Position des Täters einnimmt, während die andere Partnerin in der Position des Opfers verbleibt. Aber auch die Täterin-Opfer-Relation lässt sich nicht alleine durch den Typus einer Misshandlungsbeziehung beschreiben. Vielmehr wird deutlich, dass auch einmalige, affektakzentuierte körperliche Übergriffe ein Täterin-Opfer-Verhältnis begründen können, da die daraus folgende Angst des Opfers die Beziehung prägt. Kern der vorliegenden Studie ist daher die Ausdifferenzierung und Klassifizierung der gewalttätigen Beziehungsdynamiken. Anschließend wird eine Übertragbarkeit auf heterosexuelle Paardynamiken diskutiert. Es ist davon auszugehen, dass die Vielfalt gewalttätiger Dynamiken, die sich bei Liebesbeziehungen zwischen Frauen zeigt, auch in Partnerschaften zwischen Mann und Frau zu finden ist. Daher ist auch hier das Primat von ›Geschlecht‹ als Erklärungsmodell zu hinterfragen. Vieles spricht für einen Analyseansatz, der die Multidimensionalität gewalttätiger Beziehungsdynamiken fasst. Ich hoffe, mit dieser Untersuchung einen Beitrag dazu geleistet zu haben, diese Tür weiter zu öffnen. Im abschließenden Kapitel werden die ausgewählten Interviews detailliert dargestellt, so dass die Leserin bzw. der Leser einen Eindruck von der Sichtweise gewalttätiger, lesbischer Frauen gewinnen kann.
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ZUR GEWALTDISKUSSION
Einführung in das Thema Das Phänomen der häuslichen Gewalt ist besonders durch die Bemühungen der feministisch orientierten Frauenbewegung verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. In der Praxis haben sich so genannte »Interventionsprojekte« etabliert. Diese sind in der Regel interdisziplinär und interinstitutionell arbeitende Kooperationsbündnisse von Justiz, Polizei, Beratungs- und Schutzeinrichtungen, die durch ein koordiniertes Vorgehen dem Opfer sofort und wirkungsvoll helfen können. Mit der Bildung dieser Kooperationsbündnisse geht ein politischer Paradigmenwechsel einher, der sich in der Beteiligung staatlicher Institutionen an den Interventionsprojekten zeigt: Auch wenn häusliche Gewalt ein Phänomen im privaten Raum darstellt, ist wegen ihrer gesellschaftlichen Einbettung und ihrer hohen Prävalenz eine staatliche Intervention geboten. Zudem hat die Bundesregierung in 1999 einen ersten ›Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung häuslicher Gewalt‹ beschlossen und staatliche Institutionen verstärkt in die Pflicht genommen. Inzwischen wurde im November 2007 der 2. Nationale Aktionsplan verabschiedet.1 1
Nach Aussage des Bundesfrauenministeriums thematisiert der 2. Nationale Aktionsplan zur Bekämpfung häuslicher Gewalt »alle Formen von Gewalt und setzt da an, wo nach Umsetzung des ersten Aktionsplans besondere Handlungsnotwendigkeiten offensichtlich wurden wie bei der Berücksichtigung von Frauen mit Migrationshintergrund, Frauen mit Behinderungen oder im Bereich der medizinischen Versorgung. Ein weiterer Schwerpunkt ist, eine möglichst früh ansetzende Prävention zu verstärken und Maßnahmen des Kinder-, Jugend- und Frauenschutzes, beispielsweise im Bundesprogramm »Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme«, effektiv miteinander zu verbinden.« 15
DAS FREMDE IN MIR
Auch auf rechtlicher Ebene wurde der Schutz des Opfers bei häuslicher Gewalt durch das 2001 in Kraft getretene zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz2 gestärkt. Mit dem besonderen Augenmerk auf den Opferschutz ist zugleich der Blick auf den Täter, seine Motive und Gründe für die Gewaltausübung in den Hintergrund getreten. In der Analyse häuslicher Gewalt zeigen sich unterschiedliche Erklärungsmodelle, die sich einerseits mit dem individuellen Verhalten und den damit einhergehenden möglichen Auffälligkeiten oder Störungen in der Persönlichkeit des Täters und andererseits mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren Auswirkungen auf das individuelle Handeln befassen. Dabei hat sich ein spezifischer Analyseansatz durchgesetzt, die ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹. Dieser bettet das individuelle gewalttätige Handeln in einen gesellschaftlichen Kontext ein, in dem vor allem das hierarchische Verhältnis der Geschlechter zueinander als Gewalt befördernd betrachtet wird und seine Ausübung als Normverlängerung verstanden wird. Mit diesem Ansatz findet sich auch eine Erklärung für die Tatsache, dass im Bereich der häuslichen Gewalt die überwiegende Mehrzahl der Täter männlich und die der Opfer weiblich ist.3 Die Ausübung von Gewalt weist hier einen funktionalen Charakter auf und dient der Verfestigung von – männlicher – Macht, Herrschaft und Kontrolle. Ein weiterer Analyseansatz, der die Interaktion der Partner und Partnerinnen und die daraus resultierende gewalttätige Dynamik näher betrachtet, findet sich vor allem im systemorientierten psychotherapeutischen Bereich, zu dem auch die Paar- und Familientherapie gehört. In den Sozialwissenschaften finden sich demgegenüber nur wenige Autoren und Autorinnen, die häusliche Gewalt als Interaktion zweier Menschen betrachten.4 Dieser Ansatz 2
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Das zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz bietet einen gerichtlichen Schutz vor Gewalt und Nachstellungen durch ein Kontakt- und Näherungsverbot und regelt die Überlassung der gemeinsam genutzten Wohnung bei Trennung. Eine Besonderheit stellt der Übergang vom Zivilrecht zum Strafrecht bei Verstoß gegen eine Schutzanordnung dar, d.h. der Täter muss in diesem Fall mit einem Bußgeld oder sogar einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr rechnen. So haben nur 0,6 % der befragten Frauen eine Beziehungspartnerin angegeben. 4 % wiederum haben keine Angaben zu dem Geschlecht des Partners gemacht. Zu 95 % hat es sich folglich um heterosexuelle Paarbeziehungen gehandelt. Allerdings wird in der Studie nicht näher erläutert, was unter einer heterosexuellen Paarbeziehung subsumiert wurde. So kann es durchaus möglich sein, dass darunter auch transsexuelle Partnerschaften gefasst werden, die sich – trotz eines möglichen gleichen biologischen Phänotyps – als heterosexuell begreifen. Ein systemischer Ansatz findet sich beispielsweise im Wiener AntiGewalt-Programm, bei dem mit dem Anti-Gewalt-Training für Männer ein
ZUR GEWALTDISKUSSION
spielt in der gesellschaftlichen Debatte um häusliche Gewalt derzeit nur eine marginale Rolle. Die Analyse- und Erklärungsansätze von häuslicher Gewalt, so auch der Ansatz ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹, beziehen sich generell auf heterosexuelle Intimpartnerschaften. Das hat zur Folge, dass andere Beziehungszusammenhänge, beispielsweise Mehrfachpartnerschaften und gleichgeschlechtliche Lebensbezüge, ausgeklammert werden oder aber stillschweigend davon ausgegangen wird, dass diese Ansätze auch die Gewalt in solchen Beziehungsbezügen hinreichend beschreiben können. So konnte beispielsweise eine quantitative repräsentative Studie des Bundesfamilienministeriums (2004) zur Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland gleichgeschlechtliche Lebensbezüge nicht hinreichend erfassen, um hier valide Daten zu erhalten.5 Auf eine ergänzende Erhebung wurde – im Gegensatz zu anderen Teilpopulationen – jedoch verzichtet. Daher liegt die Vermutung nahe, dass das Forschungsteam davon ausgegangen ist, die Beschreibung der Lebenssituation heterosexueller Frauen treffe, anders als bei anderen Teilpopulationen, auch auf lesbische Frauen zu. Da es sich bei diesen jedoch um einen Bevölkerungsanteil von schätzungsweise 5 % bis 10 %6 handelt, der spezifische Lebensbedingungen aufweist, stellt die Gruppe der lesbischen Frauen eine nicht zu vernachlässigende Größe dar, die einen subsidiären Effekt auf die Repräsentativität der Studie hätte haben können. Der Analyse von häuslicher Gewalt geht ein Diskurs voraus, der sich mit der Gewalt an sich befasst. In der Gewaltforschung haben sich zwei Strömungen herauskristallisiert: die Erforschung der Gründe und Ursachen für die Ausübung von Gewalt, die Ätiologie von Gewalt, und die ›genuine Gewaltforschung‹, die ihr Augenmerk auf das Phänomen an sich sowie dessen Verläufe legt. In beiden Strömungen findet sich eine Auseinandersetzung über die Definition von Gewalt. Diese entscheidet letztlich darüber, wer Opfer und wer Täter ist. Ein enger Gewaltbegriff,
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Unterstützungsprogramm für die Partnerin einhergeht. Dieser Ansatz folgt Gondolf (2002), der betont, dass es in der Täterarbeit besonders darauf ankäme, in welches Interventionssystem das Täterprogramm eingebunden sei und inwiefern die Partnerin einbezogen werde. Etwa 1 % aller Betroffenen hat angegeben, sexuelle oder physische Gewalt durch eine Beziehungspartnerin erfahren zu haben bei einer angegebenen Quote von 0,6 %. Das lässt die Vermutung zu, dass einige Frauen zum Zeitpunkt der Erhebung wieder in heterosexuellen Bezügen lebten und zuvor mit einer Frau zusammen waren. Der hier angegebene Anteil gleichgeschlechtlicher Partnerschaften an der Gesamtpopulation hat sich zwar etabliert, ist jedoch höchst spekulativ, da seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kein Mikrozensus erhoben wurde, der die sexuelle Orientierung beinhaltet. 17
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der nur Attacken auf den Körper eines Menschen als Gewalt definiert, grenzt den Kreis potentieller Täter und Opfer gegenüber einem erweiterten Gewaltbegriff, der auch immaterielle Ausdrucksformen von Gewalt kennt, erheblich ein. Die Definition von Gewalt spiegelt einen gesellschaftlichen Konsens wider, der sich im Laufe der Zeit verändern kann. Gewalt ist daher auch ein soziokulturelles Konstrukt, das in den unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich ausfallen kann. So können immaterielle Formen von Gewalt in westeuropäischen Ländern eine größere Rolle spielen als in Ländern, die von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt sind. Die Nichtbeachtung gleichgeschlechtlicher Lebensentwürfe in den dominierenden Analysen zu häuslicher Gewalt führte seit Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – vor allem im anglo-amerikanischen Raum – dazu, dass sich ein paralleler Diskurs zu Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen etabliert hat. Es ist ein Diskurs der Differenz, stehen in seinem Zentrum doch mögliche Unterschiede zu vorherrschenden Theorien, der sowohl in individual-psychologische als auch gesellschaftsanalytische Erklärungsmodelle hineinwirkt. Allerdings weist auch dieser Diskurs die gleichen Einschränkungen auf, wie sie im dominierenden Diskurs zu häuslicher Gewalt anzutreffen sind: Sowohl in den Analysen zu häuslicher Gewalt in heterosexuellen Partnerschaften als auch in den Untersuchungen zu Gewalt in lesbischen Beziehungen wird häufig nicht trennscharf zwischen aggressivem Konfliktverhalten einerseits und einer systematischen Misshandlung andererseits unterschieden. Theorien zu entweder einer gleich hohen Prävalenz weiblicher und männlicher Täterschaft in heterosexuellen Partnerschaften oder aber wechselseitiger Gewalt in lesbischen Beziehungen haben hier ihren Nährboden. Da in den bestehenden Analyseansätzen nicht hinreichend zwischen den verschiedenen Gewaltdynamiken unterschieden wird, scheint es mir geboten, anhand des Beispiels gewalttätiger Dynamiken von Intimpartnerschaften zwischen Frauen die darin vorkommenden Gewaltdynamiken trennscharf herauszuarbeiten und von konflikthaften Partnerschaften abzugrenzen. Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf Intimpartnerschaften zwischen Frauen und ist die erste ihrer Art in Deutschland. Sie weist zudem ein besonderes Merkmal auf, da sie die Sichtweise der Gewalt ausübenden Frauen reflektiert. Diese Perspektive bricht ein Tabu und trägt dazu bei, die Wahrnehmung von Frauen als alleinige Opfer häuslicher Gewalt in Frage zu stellen.
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ZUR GEWALTDISKUSSION
Diskurs Aggression und Gewalt Aggression Definitionen und Erklärungen von Aggression sind vor allem in der Psychologie und Sozialpsychologie zu finden. In den Aggressionstheorien werden vorrangig das individuelle Verhalten und seine Einflussfaktoren analysiert. Demgegenüber ist die Gewaltforschung primär in der Soziologie verortet. Ihr Fokus liegt vor allem auf dem gesellschaftspolitischen Kontext der Gewalthandlung beziehungsweise auf der Gewalthandlung an sich. Es gibt im Schrifttum keine einheitliche Definition von Aggression; Übereinstimmung besteht lediglich dahingehend, diese als ein gegen einen Organismus gerichtetes, schädigendes Verhalten zu betrachten. Unter Aggressivität wird hingegen die habituell gewordene aggressive Haltung verstanden (Häcker/Stapf 2004). Aggressivität ist demnach ein Persönlichkeits- bzw. Charaktermerkmal (Micus 2002:19). Aggressionstheorien konzentrieren sich auf die Ursachen aggressiven Verhaltens und lassen sich in vier Kategorien einteilen: intraindividuelle, interpersonale, intergruppale und schließlich ideologische Erklärungen (Bierhoff/Wagner 1998:4). Der zuerst genannte Ansatz sieht die Ursachen aggressiven Verhaltens in intrapsychischen Dispositionen verortet, beispielsweise in einem besonderes Maß an Ärger, während der zweite Aggression als Ausdruck von Kommunikationsproblemen und Konflikten zwischen Individuen begreift. Eine Brücke zwischen individualpsychologischen und soziologischen Ansätzen bildet der Blick auf die Dynamiken intergruppaler Aggression. Diese dient der Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, was u.a. identitätsstiftend wirken kann. In der Sozialpsychologie kommt schließlich auch die zuletzt genannte Kategorie zum Tragen, die ideologischen Begründungen. Sie betrachten das individuelle Verhalten als eingebettet in einen bestimmten gesellschaftlichen Kontext und begünstigen oder legitimieren gar durch Wertsetzung bestimmte (aggressive) Verhaltensweisen.
Gewalt Grundsätzlich wird angenommen, dass dieselben Kausalfaktoren, die ein aggressives Verhalten aktivieren, auch zu Gewalthandlungen führen. Es gibt verschiedene Ansätze zwischen Aggression und Gewalt zu differenzieren: so unterscheiden beispielsweise einige Vertreter der sozialen Interaktionstheorie dahingehend, dass Aggression den emotionalen, und 19
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Gewalt den funktionalen/instrumentellen Aspekt umschreibt (Bornewasser 1998:48f). In der Literatur werden beide Begriffe aber inzwischen oftmals synonym verwendet. Im Gegensatz zur Definition von Aggression unterliegt die Begrifflichkeit von Gewalt verstärkt einem historischen Wandel und ist werteund kulturabhängig. Sie reicht von der alleinigen physischen Zwangseinwirkung auf den Körper durch eine Person bis hin zu dem von Johan Galtung (1975) geprägten Begriff der strukturellen Gewalt. Dieser beschreibt gesellschaftliche Verhältnisse als gewaltförmig, die die somatische und geistige Verwirklichung im Verhältnis zum potentiell Möglichen einschränken. Folglich wären strukturelle Benachteiligungen, d.h. mittelbare und unmittelbare Diskriminierungen, als Ausdruck (struktureller) Gewalt zu betrachten. Demgegenüber orientierte sich beispielsweise die von der Bundesregierung 1987 eingesetzte Gewaltkommission7 an einem restriktiven Gewaltbegriff, bei dem es »primär um Formen physischen Zwanges als nötigender Gewalt sowie Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen unabhängig von Nötigungsintentionen« geht (Endgutachten Gewaltkommission, zitiert in Krey 1991:6). Die Definition von Gewalt führte zu einer Debatte darüber, ob mit einem restriktiven Gewaltbegriff die Dynamik häuslicher Gewalt und vor allem die Dynamik einer Misshandlungsbeziehung, in der Zwang und kontrollierende Verhaltensweisen eine ebenso bedeutsame Rolle spielen wie körperliche Übergriffe, umfassend beschrieben werden könne. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob ein restriktiver Gewaltbegriff die gegenwärtigen soziokulturellen Entwicklungen angemessen reflektiert. So plädieren beispielsweise Faulseit et al. (2001) für eine Erweiterung des Gewaltbegriffs, um der historischen Entwicklung hin zu einer stärker auftretenden immateriellen Seite der Gewalt in westlichen Kulturen angemessen Rechnung zu tragen.
Forschungsansätze im Gewaltdiskurs Neben der Diskussion darüber, was unter Gewalt zu verstehen ist, wird eine weitere kontroverse Debatte um den Forschungsansatz geführt: Während sich ein breites Spektrum der Forschung primär auf die Ätiologie der Gewalt konzentriert und meist von einem erweiterten Gewaltbegriff ausgeht, entwickelt sich seit den 80er Jahren des vergangenen 7
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Die Gewaltkommission wurde,ähnlich wie in den Vereinigten Staaten in den 60er und in Frankreich in den 70er Jahren, aufgrund einer vermuteten Eskalation von Gewalt von der damaligen Bundesregierung eingesetzt und hatte die Aufgabe, in einer Sekundäranalyse die Ursachen u a. von Gewalt in der Familie zu untersuchen.
ZUR GEWALTDISKUSSION
Jahrhunderts eine »genuine Soziologie der Gewalt […], die sich mit der Gewalt selbst befasst und diese in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung rückt […].« (Imbusch 2004:126). Nach Trutz von Trotha versperrt die Suche nach den Ursachen von Gewalt »den Zugang zur Analyse und Theorie der Sache selbst, nämlich Gewalt« (von Trotha 2002:27). Situative Analysen widersprächen der Anlasslosigkeit und Situationsoffenheit der Gewalt. Von Trotha rekurriert dabei auf die Popitz’sche These der Entgrenzung menschlicher Gewalt: »Der Mensch muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muß nie, kann aber immer töten – einzeln oder kollektiv – gemeinsam oder arbeitsteilig – in allen Situationen, kämpfend und Feste feiernd – in verschiedenen Gemütszuständen, im Zorn, ohne Zorn, mit Lust, ohne Lust, schreiend oder schweigend … – für alle denkbaren Zwecke – jedermann.« (Popitz 1992, zitiert in von Trotha 2002:28). Wesentliche Aspekte der Gewalt sind nach Popitz ihre Anlasslosigkeit, ihre Situationsoffenheit, ihre Entgrenzung und ihre Verfügbarkeit für jeden Menschen. Diese Beschreibung von Gewalt geht von einem hohen Maß an Unvorhersehbarkeit und Individualität aus. Ein generalisiertes Verständnis von Gewalt und auch Gewaltprävention erscheinen daher nicht möglich. Ähnlich argumentiert Sofsky, indem er feststellt, dass Menschen aus demselben Motiv unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag legen oder umgekehrt, aus verschiedenen Motiven das Gleiche tun (Sofsky 2002:174). Die Umstände einer Handlung stellten keine Kausalfaktoren dar und seien weder notwendige noch hinreichende Bedingungen für gewalttätiges Handeln. Zwar räumt er ein, dass sie Gewalthandeln behindern oder befördern könnten, jedoch böten sie keine kausalen Erklärungen (ebenda 2002:176). Die von Popitz, Sofky, von Trotha und anderen Vertretern und Vertreterinnen der »genuinen Gewaltforschung« geäußerte Kritik an dem ätiologischen Forschungsansatz steht in deutlichem Gegensatz zum Anspruch der ätiologisch orientierten Forschung, nicht nur die Bedingungen von Gewalt zu beschreiben, sondern auch deren Ursachen zu verorten.
Physische und psychische Gewalt Ein weiterer bedeutender Unterschied zwischen dem Ansatz der Ätiologie der Gewalt und dem der so genannten ›genuinen Gewaltforschung‹ liegt in der Eingrenzung auf die Körperlichkeit: Nach von Trotha sollten im Mittelpunkt der Gewaltanalyse die »folgenreichsten (und furchtbarsten) Erscheinungen« stehen, »die Gewalt als körperliche Verletzung und vor allem als Töten von anderen Menschen« (von Trotha 1997:14). Die Verknüpfung mit der Körperlichkeit der Gewalt sieht von Trotha (2002:34) u.a. in den »allgemeinen sozialen und kulturellen Verände21
DAS FREMDE IN MIR
rungen in der westlichen Gesellschaft begründet, die unter dem Stichwort ›die Wiederkehr des Körpers‹ zusammengefasst werden können«. Exemplarisch führt er die Debatten in der Genforschung und eine wiedererstarkte Körperkultur an, die sich im »Siegeszug« der Fitnesscenter manifestiert. Gewalt stellt für von Trotha wegen ihrer Körperbezogenheit auch eine sinnliche Erfahrung dar, da sie körperliches Leid erzeugt. Demgegenüber enthalte ein entgrenzter Gewaltbegriff Untiefen und sei besonders für soziale Bewegungen derart »gewinnträchtig«, dass jegliche »theoretischen, methodischen und politischen Mahnungen« scheiterten (von Trotha 2002:33). Auch Sofsky sieht die Gewalt auf den Körper beschränkt: »Der Körper dient als Werkzeug der Gewalt. Doch umgekehrt ist er es, dem die Gewalt angetan wird. […] Weil er Leib ist, ist der Mensch Opfer von Gewalt. Und weil er einen Körper hat, kann er den anderen zum Opfer machen. Seine physische Doppelexistenz bestimmt sein Verhältnis zur Gewalt.« (Sofsky 2001:31). Demgegenüber werden von Faulseit et al. (2001:14) individuelle aggressive Verhaltensweisen in einen gesellschaftlichen Strukturzusammenhang gestellt, d.h. »in ein historisch gewachsenes Netz körperlicher, verbaler, psychischer und struktureller Benachteiligungen«. Faulseit et al. betrachten Gewalt als ordnungspolitisches Moment eines Herrschaftsdiskurses, wobei nur der erweiterte Gewaltbegriff, der neben der Körperlichkeit auch immaterielle Aspekte beinhaltet, die komplexe ordnungspolitische Funktion der Gewalt aufdecken kann. Bliebe die Gewalt auf Körperlichkeit beschränkt, würde letztlich der Macht- und Herrschaftsdiskurs einschließlich seiner Normalisierungstechniken ausgeklammert werden (Faulseit et al. 2001:15). Die Autorinnen rekurrieren auf Foucault, der das Spezifikum moderner Macht nicht alleine in der Repression sieht, sondern in einem Normalitätsdiskurs, der eine Trennung zwischen dem Normalen und dem Abnormalen schafft (Foucault 1977/2003). Normalität wird nicht nur durch Zwang hergestellt, sondern vor allem durch zahlreiche Sanktionierungs- und Disziplinierungstechniken, »mit der die Individuen über die Produktion binärer Oppositionen, Grenzziehungen und subtiler Verwerfung in ein komplexes Feld gesellschaftlicher Regulierungsverfahren eingespannt werden und mit deren Hilfe eine kontrollierte Anordnung und Überwachung der Individuen, ihrer Fähigkeiten und Verhaltensweisen möglich ist« (Faulseit et al. 2001:23). Mit der Entdeckung der Psyche des Menschen und deren Einbeziehung in die Disziplinierungstechniken im Rahmen eines Machtund Herrschaftsdiskurses blieb auch die Gewalt selbst nicht auf den Körper beschränkt, sondern zielte verstärkt auf die Psyche ab (vgl. Foucault 1977): Daher ist zumindest in westlichen Kulturen eine historische 22
ZUR GEWALTDISKUSSION
Entwicklung weg von der Körperlichkeit hin zur Psyche und Immaterialität zu verzeichnen. Dieser Entwicklung müsse nach Faulseit et al. auch in der Gewaltforschung Rechnung getragen werden. Die Ansätze der Ätiologie der Gewalt und der ›genuinen Gewaltforschung‹ nähern sich allerdings am Punkt der Macht einander an: Auch nach Popitz ist die Gewalt eine Durchsetzungsform der Macht. Damit wird die Trennung von Macht und Gewalt aufgehoben und der Diskurs zu Gewalt wird zu einem Diskurs über Herrschaft. Die Debatte über die Immaterialität der Gewalt bezieht sich auf zwei strukturelle Aspekte, nämlich erstens die Frage, welche Handlungen (oder Unterlassungen) als Gewalt definiert werden, und zweitens, wogegen diese sich richten. So können beispielsweise verbale Aggressionen eine immaterielle Form der Gewalt darstellen, die sich nicht gegen den Körper richtet, sondern eine psychische Schädigung des Opfers beabsichtigt. Demnach wären sowohl Ausdruck als auch Ziel der Gewalt immaterieller Art. Die Erweiterung des Gewaltbegriffs wird von vielen Autoren kritisch betrachtet. So wird – wie bereits dargestellt – argumentiert, dass durch eine Erweiterung der Gewaltbegriff seine Unterscheidungs- und Ordnungsfunktion verliere und zudem nicht mehr justiziabel sei. Einige Autoren empfehlen daher sogar eine völlige Abkehr vom Gewaltbegriff, da dieser zu einem »Skandalisierungsvokabular« verkommen sei (Cremer-Schäfer, zitiert in Nunner-Winkler 2004:26). Andere wiederum treten für eine radikale Einengung des Gewaltbegriffs auf das Erleiden extremer physischer Verletzung ein (von Trotha 1997; Sofsky 2001). Im Vordergrund der Gewaltforschung solle das »wie« und »mit welchen Folgen« stehen, nicht das »wer«, »warum« und »wozu«. Nach Trutz von Trotha befasst sich die Ätiologie der Gewalt nicht mit der Gewalt an sich, sondern »ist ein Diskurs über die ›Unordentlichkeit‹ von Gesellschaften und Kulturen« (von Trotha 1997:20). Sie sei von der Gewalt so weit entfernt wie die vermeintlich Gewalt hervorrufenden Ursachen. Gewalt selbst sei eine Form sozialer Ordnung und Kern des Ordnungsproblems einer jeden Gesellschaft und Kultur (von Trotha 1997:20). Eine Gewaltanalyse, die letztlich an den Aggressionstheorien anknüpft, verfehle und verharmlose demnach ihren Gegenstand. Ein Begreifen von Gewalt ist nicht durch irgendwelche Ursachen möglich, sondern »[der] Schlüssel zur Gewalt ist in den Formen der Gewalt selbst zu finden« (von Trotha 1997:20). Das bedeutet, dass Vertreter der ›genuinen Soziologie der Gewalt‹ ihren Blick verstärkt auf die Gewalthandlung selbst richten und beobachten, wie eine Verletzung entsteht und wie das Opfer leidet.
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DAS FREMDE IN MIR
Demgegenüber argumentiert beispielsweise Thürmer-Rohr (2003), dass in der Ausweitung des Gewaltbegriffs eine Verschärfung liege, denn dadurch würden »Einschränkungen von Lebens- und Freiheitsrechten« erst sichtbar gemacht, an denen sich die Gesellschaft dann auch messen lassen müsse.
Gewalt, Macht und Geschlechtsspezifik So unterschiedlich die verschiedenen Definitionen von Gewalt und die unterschiedlichen Forschungsansätze auch sind, stimmen sie doch dahingehend überein, dass sie zum einen die Verknüpfung von Macht und Gewalt und zum anderen die Zweckhaftigkeit der Gewalt anerkennen: »Gewalt ist vor allem eine Machtform, um […] soziale Gruppen von gesellschaftlicher Teilhabe auszuschließen, an den Rand zu drängen, ihnen die Mitgliedschaft vorzuenthalten, sie auszugrenzen oder gar zu vernichten.« (von Trotha 2002:168). Auch gibt es einen Konsens über den Zusammenhang von Gewalt und Gesellschaftsprozessen und schließlich, im Rahmen des Herrschaftsdiskurses, über die Geschlechtsspezifik der Gewalt: »Gewalt ist eine Sache der männlichen Jugend, die Antithese der Weiblichkeit, Kindheit und Alter. Der Raum der Gewalt ist der Raum der jungen Männer. […] Was also ist die Lust an der Gewalt? Es ist die Lust der Emotion und Sinnlichkeit, der Erregung und Körpererfahrung, der Unmittelbarkeit des Jetzt, des Ausbruchs aus dem Alltag, vor allem aber die Lust der Freiheit der Macht und des Jetzt, die Lust der jugendlichen Männlichkeit und des Handelns.« (von Trotha 2002:171).
Plädoyer für einen erweiterten Gewaltbegriff Anhand der Auseinandersetzung mit der Autorin Nunner-Winkler, die einen engen Gewaltbegriff favorisiert, möchte ich darlegen, warum mir für die vorliegende Arbeit ein erweiterter Gewaltbegriff notwendig erscheint: Nach Nunner-Winkler (2004:39) kann der Akt der physischen Gewalt alleine von einem Akteur vollzogen werden (A schlägt B), während psychische Gewalt dagegen auf einem interaktiven Prozess beruht, d.h. eine psychische Verletzung nur unter Mitwirkung des Rezipienten bzw. der Rezipientin erfolgen kann. Das bedeutet keinesfalls, dass der Rezipient/die Rezipientin sich verletzen lassen will oder die psychische Verletzung von ihm/ihr als vermeidbar angesehen wird. Dennoch entsteht die Verletzung erst durch ihr »Annehmen«. Daraus ergibt sich das Dilemma einer stark kontextuellen Abhängigkeit der situativen Bewertung psychischer Verletzung. Nunner-Winkler ist insofern zuzustimmen, als 24
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die Folgen physischer Gewalt generalisierbar sind – die Folge eines Einstichs mit einem Messer ist eine Schnittwunde – während psychische Verletzungen immer auf einem individuellen Verarbeitungsprozess beruhen. An der Argumentation von Nunner-Winkler kann jedoch kritisiert werden, dass der Vollzug physischer Gewalt nicht so monologisch ist, wie sie ihn beschreibt. Auch dieser kann durch Interaktion beeinflusst oder verhindert werden, beispielsweise durch körperliche oder verbale Abwehr. Die gewalttätige Dynamik einer Partnerschaft lässt sich zudem meines Erachtens weder anhand eines singulären physischen Gewaltaktes noch durch die Summe zahlreicher singulärer physischer Gewaltakte beschreiben. Vielmehr handelt es sich um einen sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden interaktiven Prozess, der eine Eskalation erfahren kann und in dem die Ausübung physischer Gewalt die Manifestation dieser Dynamik darstellt. Der Gewaltakt alleine besagt jedoch nichts über den Entstehungsprozess. So können beispielsweise verbale Beschwichtigungsversuche ein Gestaltungselement der Gewaltdynamik bilden, ebenso wie immaterielle Ausdrucksformen der Gewalt wie Beleidigungen, Herabsetzungen oder Drohungen. Auch gibt es zahlreiche externe Einflussfaktoren, die die gewalttätige Dynamik ebenfalls modulieren können, wie die Kenntnis über Hilfsangebote oder sich verändernde Vorstellungen von Geschlechtsrollen. Auch die Annahme, bei physischer Gewalt sei – im Gegensatz zur psychischen Gewalt – die Schädigung irreversibel, kann ich nicht folgen. Nach Nunner-Winkler besteht die Folge psychischer Gewalt in der Kränkung: »Physische Gewalt inhäriert das Risiko, dass es beim Opfer gravierende und vor allem irreversible Schädigungen bewirkt. Im Falle verbaler Aggression kann das Opfer den Angriff ignorieren oder gar kontern, […]. Reue kann einen Toten nicht wieder auferwecken, wohl aber mag sie den Gekränkten versöhnen« (ebenda 2004:42). Diese Äußerung suggeriert, dass psychische Schädigungen grundsätzlich reversibel seien. Zwischen Tod und Kränkung gibt es jedoch ein breites Spektrum von Schädigungen, die in unterschiedlichem Maß reversibel bzw. irreversibel sind. So weist beispielsweise Stalking eine breite Palette immaterieller Handlungsmöglichkeiten auf, die bei den Opfern zu weit mehr als einer Kränkung führen können. Diese können schwere psychische Störungen und Traumatisierungen aufweisen, sie haben Angstzustände, Depressionen, verlassen die Stadt oder wagen sich nicht mehr aus ihrer Wohnung. Die Annahme, nur physische Gewalt könne zu einer irreversiblen Schädigung führen und sei Gewalt im eigentlichen Sinne, ist fragwürdig. Dies lässt sich auch am Beispiel von im Krieg traumatisierten Soldaten exemplarisch darstellen. Viele Soldaten leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen, die sie lebenslang begleiten können. Eine weitere Differenzie25
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rung von physischer Gewalt und psychischer Aggression ist nach Nunner-Winkler die Möglichkeit, physische Gewalt zu unterbinden, während das nicht für psychische Gewalt gelte. Auch wenn ich ihr insofern zustimme, dass »das Zufügen und Erleiden seelischer Schmerzen und Kränkungen […] letztlich unaufhebbarer Bestandteil der menschlichen Lebensform [ist]« (ebenda: 2004:43), bedeutet das jedoch nicht, dass sie nicht unterbunden werden kann, z.B. durch ein Kontakt- und Näherungsverbot, wie es das deutsche zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz vorsieht. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die Einwirkung physischer Gewalt in der Regel nur unter körperlicher Anwesenheit des Akteurs bzw. der Akteurin erfolgen kann, während psychische Gewalt ihre Wirkung auch ohne die physische Anwesenheit des Akteurs, resp. der Akteurin entfalten kann. Durch ein Näherungs- und Kontaktverbot wird folglich versucht, beiden Facetten der Gewalt gerecht zu werden. Grundsätzlich ist jedoch anzumerken, dass tatsächlich nicht jede psychische Gewalt unterbunden werden kann – ebenso wenig wie jeder physische Gewaltakt. Gerade hinsichtlich der Analyse der Dynamik von Gewalt in Intimpartnerschaften ist die Korrelation zwischen möglichen hindernden oder fördernden Bedingungen und der Interpretation der kontextuellen Bedingungen und Handlungen durch die beteiligten Personen von großer Bedeutung. Diese kontextuellen Bedingungen und Handlungen stellen Risikofaktoren dar, die jedoch nicht erklären können, warum ein Mensch in derselben Situation einmal Gewalt ausübt und ein anderes Mal nicht; sie können nur schwerlich den letzten Schritt, die Freiheit, sich für oder gegen die Ausübung von Gewalt zu entscheiden, fassen. Allerdings können sie determinieren, ob überhaupt eine Entscheidungsfreiheit vorgelegen hat, d.h. ob die handelnde Person zwischen mehreren für sie gleichwertigen Alternativen wählen konnte. So mag beispielsweise subjektiv aus der Sicht einer Frau, die nach langen Jahren des Martyriums ihren Ehepartner getötet hat, keine Entscheidungsfreiheit vorgelegen haben, da die zahlreichen Opferschutzmöglichkeiten sie nicht von ihrer Todesangst hätten befreien können. Die Multidimensionalität und hohe Komplexität der Dynamik lässt sich meines Erachtens daher nur mittels eines erweiterten Gewaltbegriffs erfassen. Auch ermöglicht es erst der Einbezug von kontrollierenden Verhaltensweisen und von Zwang als Formen von Gewalt, den Prozess der Gewalt näher zu beleuchten, etwa die einzelnen Eskalationsstufen oder die Interaktion und Verstrickungen der daran beteiligten Personen.
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Fazit Gewalt hat meist funktionalen Charakter und dient der Durchsetzung von Interessen. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass Gewalt in einigen Fällen sich selbst genügt, d.h. keine weitere Intention als die bloße Ausübung, also die Lust an der Gewalt, vorhanden ist. Ausgehend von dem Regelfall und unter Einbezug der Intention oder Motivation des Akteurs bzw. der Akteurin kann Gewalt als die zielgerichtete physische oder psychische Schädigung eines Menschen verstanden werden. Gewalt kann sich dementsprechend auch durch Unterlassung, also durch Nicht-Handeln manifestieren, indem beispielsweise einer an Aids erkrankten Person lebensnotwendige Medikamente vorenthalten werden. Die skizzierte Debatte um den adäquaten Forschungsansatz, d.h. der Versuch, Gewalt besser zu verstehen, indem man ihre Ursachen und Bedingungen erforscht, versus einer ›genuinen Soziologie der Gewalt‹, die auf die Beschreibung der eigentlichen Gewalthandlung und deren Auswirkung auf das Opfer fokussiert, führt meines Erachtens zu dem Schluss, dass ein rein deskriptiver Ansatz zur Analyse einer Gewaltdynamik nicht hinreichend ist. Da sich die der Arbeit zugrunde liegende Problemstellung der Gewalt in Intimpartnerschaften zwischen Frauen zudem auf eine spezifische gesellschaftliche Gruppe bezieht, müssen neben der Beschreibung der dyadischen Beziehungsdynamik weitere potentielle Einflussfaktoren einbezogen werden, die auf der gesellschaftlichen Situation lesbischer Frauen beruhen. Unter psychischer und/oder verbaler Gewalt können Drohungen, Bedrohung mit einer Waffe, die Androhung physischer Gewalt, Bedrängen, Verfolgen, Telefonterror, Zwang, Einschüchterungen, Erniedrigungen, Demütigungen, Herabsetzungen, Spott, Isolation oder beispielsweise die Bezichtigung der Untreue, das Eindringen in die Privatsphäre (Lesen des Tagebuchs, Lesen von privaten E-Mails usw.), die Androhung, die gleichgeschlechtliche Lebensweise zu offenbaren, das Aufrechterhalten von Suchtstrukturen, beispielsweise bei einer Medikamentenabhängigkeit, das Ausnutzen beeinträchtigender Lebenserfahrungen, einer Behinderung oder chronischen Krankheit oder das Ausnutzen einer Angststörung (z.B. Agoraphobie, Klaustrophobie) gefasst werden. Unter physischer Gewalt können sowohl Körperverletzungen in Form von Tritten, Schlägen, Würgen, an den Haaren ziehen, Schlagen mit einem Gegenstand (z.B. Baseballschläger, Haushaltsgegenstände) die Treppe hinunterstoßen, das Vorenthalten von Medikamenten, aber auch Freiheitsberaubung, Sachbeschädigung, versuchte oder vollendete
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Tötung oder auch der Zwang zu essen bzw. zu trinken oder der Entzug von Essen/Trinken subsumiert werden. Unter sexualisierter Gewalt werden Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, der Zwang zu ungeschütztem Sex, der Zwang zur Prostitution, aber unter bestimmten Bedingungen auch das Vorenthalten von Sex und das unangemessene Kritisieren sexueller Praktiken gefasst. Unter wirtschaftlicher Kontrolle werden Verhaltensweisen gefasst, die sich auf die ökonomische Lebenssituation des Partners oder der Partnerin beziehen, so beispielsweise die Zuteilung von ›Haushaltsgeld‹, die Kontrolle über die Haushaltsausgaben oder die Kontrolle über das Eigentum/Vermögen. Wirtschaftliche Kontrolle ermöglicht dem/der Täter/in, seine/ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, ist also Aspekt der Gewaltverhältnisse bzw. eine Rahmenbedingung zur Ausübung von Gewalt.
Diskurs häusliche Gewalt Begriffsbestimmungen und Ansätze Gewalt im sozialen Nahraum ist durch den Einfluss der Frauenbewegung seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt. Dabei haben sich sehr unterschiedliche theoretische Ansätze und Präventions- und Interventionskonzepte entwickelt. Gewalt im sozialen Nahraum umfasst sowohl die Gewalt gegenüber Kindern als auch die zwischen Beziehungspartner/innen und in einigen Quellen auch die gegen ältere Menschen. Daher wird sie auch als »familiale Gewalt« oder »häusliche Gewalt« bezeichnet. Beide Begriffe gehen auf unterschiedliche Forschungsansätze zurück, werden jedoch größtenteils synonym verwendet (Godenzi 1996:27). Demgegenüber differenzieren Lamnek/Ottermann die Beziehungsverhältnisse insofern aus, als sie den Begriff der häuslichen Gewalt alleine auf »(erwachsene) Personen […], die ständig oder zyklisch zusammenleben« beziehen und deren Beziehungsverhältnis gesellschaftlichen Erwartungen an Sorge und Unterstützung zuwiderläuft (Lamnek/Ottermann 2003:8). Die Begriffe der ›familialen Gewalt‹ und der ›häuslichen Gewalt‹ wurden bereits in den 80er Jahren von patriarchatskritischen Forscherinnen und Forschern dahingehend kritisiert, dass mit diesen Terminologien die Geschlechtsspezifik der Gewalt verdeckt werde, d.h. der Mann als Akteur unsichtbar bliebe und auch verschiedenartige Handlungsweisen darunter subsumiert und sogar miteinander vermengt würden (Godenzi 1996:21). 28
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Auch wirft der Begriff der ›familialen Gewalt‹ heutzutage ein weiteres definitorisches Problem auf, denn das Familienbild hat sich in den vergangenen 30 Jahren eklatant verändert: Familie wird primär über das Vorhandensein von Kindern und der damit einhergehenden Reproduktions- und Sozialisationsfunktion definiert sowie über die sich daraus ergebende Generationsdifferenzierung und schließlich durch die besondere Nähe zwischen den Familienmitgliedern. Im Regelfall wird in dem den Studien zugrunde liegenden Familienbegriff von einer heterosexuellen Paarkonstellation mit Kindern ausgegangen, wobei die Ehe als dominierendes Partnerschaftsmodell angesehen wird (z.B. Benard/Schlaffer 1979/1990). Inzwischen hat die Ehe jedoch aufgrund der zunehmenden Individualisierung an Bedeutung verloren und die Lebens- und Beziehungsformen haben sich stark ausdifferenziert (Beck 1986). Des Weiteren werden gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Forschungskontext der ›familialen Gewalt‹ nicht unter den Familienbegriff gefasst, obgleich einige lesbische und schwule Paare wenigstens das Kriterium des Zusammenlebens mit Kindern erfüllen: Kinder werden aus heterosexuellen Partnerschaften in die neue gleichgeschlechtliche Beziehung eingebracht, Pflegschaften übernommen, Kinder durch eine Samenspende in der Partnerschaft erzeugt oder aber adoptiert. Letzteres ist in einigen europäischen Ländern wie beispielsweise Schweden und Spanien für lesbische und schwule Paare auch über die Stiefelternadoption hinaus möglich. Zudem gibt es immer mehr heterosexuelle Intimpartnerschaften ohne Kinder, die qua definitionem nicht unter den traditionellen Familienbegriff fallen. Die Folge wäre, dass Gewalt in einer Intimpartnerschaft ohne Kinder nicht notwendigerweise unter einem familienpolitischen Aspekt erforscht und thematisiert werden würde. Um diesem Dilemma zu entgehen, wurde die Begrifflichkeit der ›häuslichen Gewalt‹ etabliert, dem die Annahme zugrunde liegt, dass die meisten Familien und/oder Partnerschaften einen Wohnraum teilen, quasi in einem ›Haus‹ leben. Allerdings zeichnet sich auch im Zusammenleben der Partner/innen eine weitergehende Ausdifferenzierung in der Vielfalt der Lebens- und Beziehungsformen ab. So kann nicht länger als selbstverständlich angenommen werden, dass Intimpartner einen Haushalt teilen. Gerade im urbanen Raum hat die Zahl der Einpersonenhaushalte zugenommen,8 ohne dass jedoch davon ausgegangen werden kann, dass ihre Bewohner alleinstehend sind. 8
In 2005 waren in Hessen 36,3 % der Haushalte Einpersonenhaushalte, 1995 lag der Anteil bei 34,2 %. In den Städten ist er signifikant höher, vgl. Frankfurter Rundschau vom 31.5.2005: »Deutsche zieht es in die Städte«. www.statistik-hessen.de/themenauswahl/haushalte-familien/landesdaten/ haushalte/privathaushalte-in-hessen-nach-der-haushaltsgroesse/index.html. 29
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Prävalenz Gewalt gegen Frauen findet am häufigsten im sozialen Nahraum statt. In einer repräsentativen Untersuchung zur Viktimisierung von Frauen in Deutschland wurde festgestellt, dass Gewalt gegen Frauen überwiegend durch den Partner oder Ex-Partner verübt wird (BMFSFJ 2004:13). Nach dieser Studie ist in Deutschland mindestens jede vierte Frau, die in einer Intimpartnerschaft lebt, körperlichen und/oder sexuellen Übergriffen durch einen Beziehungspartner ausgesetzt (BMFSFJ 2004:10).
Theorie der Gewalt im Geschlechterverhältnis Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich auch in Deutschland ein Erklärungsmodell für die Gewalt in Intimpartnerschaften durchgesetzt, das die Gewalt in Beziehungen in einen gesellschaftspolitischen Kontext einbettet, der das hierarchische Geschlechterverhältnis zwischen Männern und Frauen beschreibt als ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ (Hagemann-White 1997; Schröttle 1999; Schweikert 2000; Brückner 2002). Täter und Opfer sind in diesem Erklärungsmodell geschlechtsmarkiert: »Bei häuslicher Gewalt geht es um Handlungen, die mit der Geschlechtlichkeit von Opfer und Täter zusammenhängen; es geht um männliche Gewalt gegen Frauen im sozialen Nahraum« (Definition der (feministischen) Frauenhausbewegung, zitiert in Schweikert 2000:40). Der Zusammenhang von Geschlecht und Macht ist dabei wesentlicher Bestandteil der Definition von ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ (Brückner 2002:9). Demnach liegt ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ dort vor, wo es um die »Verletzung der körperlichen und seelische Integrität einer Person« geht, einer Verletzung, die im Zusammenhang steht »mit der Geschlechtlichkeit des Opfers und des Täters« und die »unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses durch die strukturell stärkere Person zugefügt wird« (Hagemann-White 1997:29). Die Gewalt in der Partnerschaft erfährt demnach eine soziokulturelle Einbettung, die gewalttätiges Verhalten in Partnerschaften mit Geschlechtlichkeit verknüpft, wobei die von Männern verübte Gewalt als normgerecht gilt; Gewalt von Männern an Frauen stellt folglich keine Normverletzung, sondern eine Normverlängerung dar (Hagemann-White 1997:19); Männer haben daher das »gesellschaftlich abgesicherte« Vorrecht, sich gegenüber Frauen und Mädchen gewalttätig zu verhalten (Brückner 2002a:11). Auch offenbart die Systematik der Gewalt gegen Frauen diese als eine systemimmanente Ordnungs- und Normierungsstrategie, die der Festigung einer hegemonialen Gesellschaftsordnung dient (Soine 2002). Infolgedessen würde sich eine Sanktionierung von 30
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(häuslicher) Gewalt gegen Frauen erübrigen bzw. diese sich auf Gewaltexzesse beschränken, da häusliche Gewalt einen Normalisierungsmechanismus darstellt. Das mögliche Interesse von Frauen an der Aufrechterhaltung der gewalttätigen Strukturen oder gar ihre aktive Beteiligung werden nur selten thematisiert, und wenn doch, dann vorrangig innerhalb der Feminismusdebatte um die Frau als Kollektivsubjekt Opfer (Thürmer-Rohr 1987, 1989, 1993). In dem Diskurs zu häuslicher Gewalt wiederum werden eher – wenn überhaupt – komplementäre Beziehungsstrukturen betont, in denen »sich das grenzüberschreitende, unkontrollierte und gleichzeitig kontrollierende Verhalten des Mannes und das hinnehmende, paralysierte Verhalten der Frau gegenseitig verstärken« (Brückner 2002a:25f). Während also in den feministisch geprägten Debatten eine historische Entwicklung aufgezeigt werden kann, die von der Frau als Kollektivsubjekt und Opfer hin zur Frau als individuell agierendes Subjekt und als Mittäterin/Täterin in bestehenden Gewaltverhältnissen reicht (Thürmer-Rohr 2003), wurde im Diskurs zu häuslicher Gewalt das Opfersein von Frauen insofern festgeschrieben, als spezifische Opfermerkmale wie das »hinnehmende, paralysierte Verhalten« komplementär zum männlichen, aggressiven Verhalten seien. Erst diese Komplementarität würde die gewalttätigen Strukturen aufrechterhalten. Die beschriebene Passivität des Opfers verunmöglicht die Betrachtung der Frau als aktiv handelndes Subjekt, das ein Eigeninteresse am Gewaltverhältnis, beispielsweise das Erlangen gesellschaftlicher Anerkennung durch die Opferrolle, haben könnte. Nur in wenigen Publikationen wird dem weiblichen Opfer diese Subjektivität zugestanden und sein mögliches Eigeninteresse diskutiert (Gräßel 2003). Einigen Beratungsangeboten liegt daher auch die Wahrnehmung der Frau als Objekt zugrunde, was sich beispielsweise darin zeigt, dass sie deren Handlungsfähigkeit »wiederherstellen« und nicht das Spektrum vorhandener Handlungsmöglichkeiten erweitern wollen.
Zweckrationalität und freier Wille Mit der Eingrenzung des Gewaltbegriffs auf interpersonale Handlungen (Schweikert 2000:40) geht die Annahme einher, dass die (aggressive) Handlung von einem Willen geleitet wird und auf einer Entscheidung beruht: »Indem wir Gewalt als Handeln auffassen, postulieren wir, dass es unter allen Umständen Alternativen dazu gibt: Wie auch immer von Aggressionen bedrängt, trifft jeder, der Gewalt ausübt, zugleich eine Entscheidung, die auch anders möglich wäre« (Hagemann-White 31
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1997:27f). Damit wird die Gewalt ausübende Person als ein kognitives Wesen beschrieben, deren Handlungen ihrem freien Willen entsprechen. Der freie Wille und die Bewusstheit einer Handlung führen zur Verantwortlichkeit. Während die Bewusstheit einer Handlung allerdings nicht durchgängig angenommen wird, gilt dies jedoch für die Verantwortung für das gewalttätige Handeln (Brückner 2002a). Äußerungen, die Tat nicht »gewollt« zu haben, werden eher als Delegation der Verantwortung denn als Einschränkung des freien Willens interpretiert. Die von Hagemann-White formulierte Zweckrationalität gewalttätigen Handelns lässt sich jedoch nicht auf alle gewalttätigen Interaktionen einer Paarbeziehung anwenden, da beispielsweise affektiv-aggressive Handlungen nicht auf einer kognitiven Entscheidung beruhen – und somit der Wille nicht frei gewesen ist. Allerdings schließt diese Annahme nicht aus, dass auch ein affektives Handeln zweckgerichtet sein kann. Desgleichen haben die jüngeren Ergebnisse aus der Hirnforschung zu einer erneuten Belebung der Debatte um den freien Willen geführt, deren Kern die Frage ist: »Wollen wir, was wir tun oder tun wir, was wir wollen?« (Singer 2003; Bieri 2003). Einige Vertreter der Hirnforschung gehen davon aus, dass der Impuls zum Handeln schon vor der Entscheidung, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, gegeben ist, d.h. der Wille folgt dem Handeln und nicht umgekehrt. Folglich gäbe es keinen freien Willen. Diese – experimentell belegte – These würde das Prinzip der Verantwortung in Frage stellen – und damit eine Rechtsordnung, die auf der Verantwortung des Täters beruht. Singer kommt jedoch zu dem Schluss, dass sich letztlich nur die Perspektive ändern würde, denn das Prinzip der Strafe sei dann zwar hinfällig, aber eine Strafverfolgung wäre dennoch notwendig, um die Gesellschaft vor »gefährlichen Mitmenschen [zu] schützen, indem sie deren Freiraum begrenzt.« (Singer 2003:65). Bieri (2003) setzt der Annahme, es gebe keinen freien Willen, die Theorie des bedingten freien Willens entgegen. Der freie Wille sei demnach abhängig von vorhandenen Handlungsspielräumen, vorhandenen Mitteln und persönlichen Fähigkeiten. Die Willensfreiheit liegt nach Bieri darin, »dass diese auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen« (Bieri 2003:80), wie wir diese Spielräume nutzen und Entscheidungen treffen. Je umfassender die Informationen sind, die einem Menschen zur Handlungsentscheidung zur Verfügung stehen, desto größer ist seine Freiheit. Einige Aspekte dieser kurz umrissenen Diskussion hinterfragen den von Hagemann-White formulierten Zweckrationalismus einer Tat und damit das Prinzip der Wahl. Denn um zwischen mehreren Handlungsalternativen wählen zu können, bedarf es nicht nur eines hohen Informati32
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onsstandes hinsichtlich möglicher Handlungsalternativen und deren Auswirkungen und Konsequenzen, sondern auch der Einschätzung, dass die zur Wahl stehenden Handlungsalternativen zumindest gleichwertig sind oder aber eine der Handlungsalternativen einen höheren Nutzen bringt als die in Erwägung gezogene oder verwendete Strategie. Das macht die Wahl zu einem bewussten Akt der Abwägung für das Subjekt. Wenn also ein Täter oder eine Täterin behauptet, »keine Wahl« gehabt zu haben, reflektiert das seine oder ihre subjektive Realität, die zugleich einen Mangel an Information und Handlungsalternativen bestätigt. Damit wäre der Wille nicht mehr frei gewesen. Allerdings ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen, ob und inwiefern diese Diskussionen Einfluss auf die Debatten zu häuslicher Gewalt haben werden. Entgegen der angenommenen Zweckrationalität des Verhaltens wird in der vor allem kriminologisch orientierten Literatur vermehrt davon ausgegangen, dass es sich in den meisten Fällen häuslicher Gewalt um so genannte Affekttaten9 handelt (Lamnek/Ottermann 2004:68). Als Affekt wird dabei der Zustand einer außergewöhnlichen seelischen Angespanntheit und/oder heftigen Erregung verstanden. Affekttaten sind in der Regel nicht zielorientiert und gehen mit einem aggressiven Kontrollverlust und einer verminderten Steuerungsfähigkeit einher. Sie geschehen üblicherweise nach »genau aufweisbaren Deformierungen des situativen oder des individuellen Gefüges« (Saß 1993:214). Zur hinreichenden Beurteilung, ob eine Affekthandlung vorgelegen hat, müsse das Tatgeschehen selbst bewertet werden, aber auch der lebensgeschichtliche Zusammenhang des Täters oder der Täterin (Saß 1993:8). Die Annahme, dass es sich in vielen Fällen häuslicher Gewalt um so genannte Affekttaten handelt, betont stärker den emotionalen Aspekt des gewalttätigen Handelns und hinterfragt dessen angenommene Zweckrationalität.
Kritik an der angenommenen Zweckrationalität gewalttätigen Verhaltens Die postulierte Zweckrationalität des (gewalttätigen) Handelns eines Mannes wird im Rahmen der Theorie des Geschlechterverhältnisses nicht in aller Konsequenz auf Frauen angewandt. Die Beschreibung der Frau als Opfer, dessen wesentliches Charakteristikum ein »hinnehmen9
Der Begriff »Affekt« wurde im 16. Jahrhundert aus dem lateinischen »affectus«, »durch äußere Einflüsse bewirkte Verfassung, Gemütsbewegung, Leidenschaft« entlehnt und dient der Beschreibung stark impulsiver Verhaltensweisen. Siehe Brockhaus Enzyklopädie (1986) 19. Aufl., Bd. 1, S. 164. 33
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des paralysiertes« Verhalten sei, lässt diese nicht als Subjekt erscheinen, das zweckrational handelt. Vielmehr werden Frauen äußere Zwänge wie ökonomische Abhängigkeit oder das Vorhandensein von Kindern zugebilligt, die ihre subjektive Entscheidungsfähigkeiten und -möglichkeiten einschränken oder begrenzen. So gibt es viele Frauen, die bei dem sie misshandelnden Partner bleiben oder aber zu ihm zurückkehren. Diese Verhaltensweise wird als Überlebens- und Anpassungsversuch begriffen, »in denen die Prozesse des Bleibens, Verlassens und Zurückkehrens als interdependent zu interpretieren sind« (Godenzi 1996:257). Besonders bei der Tötung des männlichen Misshandlers durch die (Ehe-)Frau, wird die von ihr wahrgenommene Ausweglosigkeit und Alternativlosigkeit der Handlung in den Vordergrund gerückt: Das ›Syndrom misshandelter Frauen‹ gilt als Ausdruck der posttraumatischen Belastungsstörung und wird in einigen Staaten der USA in einem Gerichtsverfahren als erweiterte Form der Notwehr angesehen (Walker 1984; Mark 2001:19). Argumentiert wird, dass die Frau ein Opfer ist, dessen freier Wille durch äußere Zwänge soweit eingeschränkt ist, dass dieser letztlich nicht mehr frei ist. Während dem Opfer vor dem Hintergrund des hierarchischen Geschlechterverhältnisses und seines damit einhergehenden untergeordneten Status’ Einschränkungen der Willens- und Entscheidungsfreiheit zugebilligt werden, werden gleichzeitig mögliche Eigeninteressen an der Aufrechterhaltung des Gewaltverhältnisses vernachlässigt. Daher wird die Frau bereits im Diskurs nicht als Handelnde betrachtet, sondern zum Objekt gemacht. Zugleich werden die Auswirkungen der Erwartungen und Zwänge an Männer und Männlichkeiten im Rahmen dieses Geschlechterverhältnisses noch selten erforscht, wodurch die ihren freien Willen einschränkenden Faktoren hier nicht hinreichend zu Tragen kommen. Somit wird eine Betrachtung, die diese Faktoren beiden Geschlechtern gleichermaßen zuordnet, verunmöglicht.
Kritik an der angenommenen Geschlechtsspezifik der Gewalt Gegenwärtig dominierende Theorien und Konzepte im Bereich der häuslichen Gewalt sind primär vom Leitbild der Geschlechterdifferenz bestimmt: In neueren Analysen und Diskussionen wird der Mann als potentielles Opfer häuslicher Gewalt zwar thematisiert, jedoch vor allem in Abgrenzung zu den Gewalterfahrungen von Frauen. So wird z.B. hinterfragt, ob und inwiefern die Gewalt, die von männlichen Partnern verübt wurde, überhaupt vergleichbar ist mit der Gewalt, die von weiblichen Partnern angewendet wird, und ob und inwiefern unterschiedliche Gewaltdynamiken vorliegen. Auch wird verstärkt auf die Geschlechtsunter34
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schiede bei der Schwere der Gewalt hingewiesen, auf die unterschiedlichen Verletzungsraten, die Schwere der Verletzung, die unterschiedliche Nutzung medizinischer Versorgungssysteme, die verschiedenen psychischen Auswirkungen der Gewalt auf Männer und Frauen sowie die aggressiven Verhaltensweisen (Tjaden/Thoennes 2000; Gilbert 2002; Hamberger 2002; Kavemann 2003; Krahé/Scheinberger-Olwig 2003; Seith 2003). Wesentlicher Ausgangspunkt des Erklärungsansatzes der ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ ist das ›Doing Gender‹10, das gewalttätiges Verhalten als erlernt und mit den Geschlechtsrollenerwartungen an Jungen und Mädchen, resp. Mann und Frau, verknüpft betrachtet (Godenzi 1996:74ff). Zudem wird gewalttätiges Verhalten von Männern kaum negativ sanktioniert, so dass Aggressivität als positiver Wert der dominierenden Männlichkeit betrachtet werden muss. Die in Deutschland vorhandenen Täterprogramme zielen daher vorrangig auf die Veränderung ihres erlernten Sozialverhaltens (Logar 2002; Kraus/Logar 2005; Godenzi 1998) und auf eine stärkere negative Sanktionierung gewalttätigen Verhaltens ab, so dass diesem die gesellschaftliche Akzeptanz entzogen wird. Demgegenüber sind dem dominierenden Bild von Weiblichkeit expressive aggressive Verhaltensweisen nicht inhärent, so dass gewalttätige Frauen im Gegensatz zu Männern nicht auf eine gesellschaftliche Akzeptanz zurückgreifen können. In der Theorie der ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ wird jedoch nicht hinreichend zwischen dem biologischen (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender) unterschieden, vielmehr sind beide eng mit einander verwoben: Männern wird die männliche Sozialisation in den Körper eingeschrieben, wodurch diese sich materialisiert, d.h. einen Körper erhält. Zugleich erscheint ›der Mann‹ in der Debatte um häusliche Gewalt als Kollektivsubjekt ›Täter‹, während Frauen als Kollektivsubjekt ›Opfer‹ wahrgenommen werden. Das Erklärungsmodell basiert auf dieser Konstellation, wodurch Frauen als Täterinnen aus dem Blickfeld geraten, aber auch nicht Gewalt ausübende Männer. Ebenso wird anhand des Beispiels der Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften deutlich, dass oft auf das biologische Geschlecht (sex) rekurriert wird, beispielsweise in der Annahme, dass gewalttätige Frauen männliche Werte übernähmen oder aber die Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften niedriger ausfalle als in männlichen oder gegengeschlechtlichen Beziehungen. Eine hinreichende Begründung, warum Frauen gewalttätig werden, bietet das Erklärungsmodell der ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ daher nicht.
10 Mit »gender« ist die soziale Geschlechtlichkeit eines Menschen gemeint. 35
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Neben der Kategorie Geschlecht werden auch die pauschalen Verknüpfungen von Geschlecht einerseits und Macht und Gewalt andererseits kritisiert: »Wenn wir den Gewaltbegriff von der körperlichen Bedrohung und Verletzung bis hin zu strukturellen Einschränkungen von Lebens- und Freiheitsrechten ausweiten und verschärfen, dann müssen wir unsere eigenen Analysen auch an dieser Definition messen und messen lassen. Das bedeutet, dass das ›Geschlecht‹ als Kriterium der Gewalt und die geschlechtsspezifische Opfer-Täter-Unterscheidung sich relativieren.« (Thürmer-Rohr 2003:17). Geschlecht und Identität werden im Rahmen eines hegemonialen Diskurses konstruiert: Als Hegemonie wird der Prozess bezeichnet, »in dem kulturelle Autorität verhandelt und in Frage gestellt wird. D.h. Hegemonie wird ständig wiederhergestellt, erneuert, verteidigt und modifiziert« (Hark 1999:25). Nach Robert Connell (2000) gibt es verschiedene Konstruktionen von Männlichkeit (und Weiblichkeit), die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen und immer wieder neu ausgehandelt werden. Das Geschlechterverhältnis wird demnach durch die »Dominanz eines spezifischen männlichen Geschlechterprojekts« (Döge 2000) geprägt, ist aber im Kern ein doppeltes Herrschaftsverhältnis, das sich nicht nur durch die hierarchischen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, sondern auch durch die Hierarchien zwischen verschiedenen Männlichkeiten darstellt. Die hier dargestellten Überlegungen führen konsequenterweise auch zur Infragestellung der Konstruktion von Geschlecht im Gewaltdiskurs (Engelfried 1997). Nicht das Geschlecht an sich (sex), sondern bestimmte Konstruktionen von Geschlecht (gender) gehören zu den verschiedenen Faktoren zur Analyse der Dynamik von Gewalt in Partnerschaften. Ulrike Gräßel (2003) stellt zudem das soziale Geschlecht als übergeordnetes Merkmal zur Beschreibung von Beziehungsdynamiken in Frage. Sie beschreibt die Frau »als Akteurin innerhalb einer persönlichen Beziehung, die – neben anderen Faktoren – eben auch von gender geprägt ist«. Ungeachtet dessen kommt sie zu dem Schluss, dass in häuslichen Gewaltbeziehungen »extrem polarisierte Geschlechteridentitäten in Form von rigiden Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen konstruiert werden« und diese den »weiblichen Opfern durchaus positive Identifikationsmöglichkeiten bieten« (Gräßel 2003:168). Die in Misshandlungsbeziehungen verstrickten Männer und Frauen betreiben aktiv ein »Doing Gender«, wobei sich die dort konstruierten Männlichkeiten und Weiblichkeiten an den extremen Polen verschiedener Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit befinden und prekärerweise stark komplementär sind. Gräßel geht grundsätzlich von unterschiedlichen sozialen Männlichkeiten und Weiblichkeiten aus und bricht so mit einer Herangehensweise an das Thema, die von der Prämisse der Kollektivsubjekte 36
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Mann und Frau ausgeht. Mit der Ausdifferenzierung von Geschlecht verliert die als natürlich gesetzte Geschlechterdifferenz und die mit ihr einhergehende Geschlechtsmarkierung von Täter und Opfer ihre Grundlage. Frauen werden nicht länger als »Gewaltgeschädigte [gedacht], sondern als Zeitgenossinnen, die in die Gewaltpraktiken der eigenen Kultur verstrickt sind, die Einfluß nehmen können auf die Fortsetzung wie auf die Eindämmung der Gewaltnormen, also selber handeln können und ihr Handeln selber verantworten müssen« (Thürmer-Rohr 2003:26, Hervorhebung i. O.).
Fokussierung der Gewaltforschung auf gegengeschlechtliche Partnerschaften Die Aufdeckung von Geschlecht und Identität als soziokulturelle Konstrukte führte im Rahmen des Diskurses zu häuslicher Gewalt zwar zu einem differenzierteren Blick auf Männlichkeiten und Weiblichkeiten, nicht aber dazu, unterschiedliche Beziehungs- und Geschlechtskonstellationen gleichermaßen zu erfassen. Die die bestehende Ordnung reproduzierende Geschlechterdifferenz beinhaltet daher einen heterozentristischen Blick: In der Analyse von Gewalt in Intimpartnerschaften wird grundsätzlich von einer Gegengeschlechtlichkeit der Beziehungspartner ausgegangen. Auch im Rahmen des Konzepts der hegemonialen Männlichkeiten wird nach Döge (2000) diejenige Intimpartnerschaft (noch) als dominant beschrieben, die heterosexuell und weiß ist. Die gesellschaftliche Ordnung wird folglich nicht nur durch Hegemonie hergestellt, sondern auch durch die ihr zugrunde liegende Annahme, dass die gegengeschlechtliche Lebensweise die dominierende ist und andere Lebensweisen als davon abweichend zu betrachten sind. Die unterschiedlichen Konstrukte von Männlichkeiten und Weiblichkeiten werden von dieser Annahme ebenfalls durchdrungen. Des Weiteren wird in den Analysen zu häuslicher Gewalt zumeist von dyadischen Interaktionen ausgegangen, die durch das Täter-Opfer-Verhältnis beschrieben werden. Auch sind die vorhandenen Rollen/Verhaltensweisen – wie bereits dargestellt – geschlechtsmarkiert: Ziel der »zusammenhängenden, fortgesetzten und wiederholten Handlung« ist es, »Macht und Kontrolle über die Frau in dieser Beziehung auszuüben« (Schweikert 2000:73). Wie bereits dargestellt versperrt dieser Ansatz den Blick auf Frauen als Akteurinnen. Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften wiederum öffnet den Blick auf (lesbische) Frauen als Täterinnen und (schwule) Männer als Opfer und zeigt somit die Problematiken derjenigen Theorien auf, die eine Geschlechtsmarkierung von Täter und Opfer implizieren: Frau37
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en sind in diesem Phänomenbereich als der direkten, manifesten Gewalt fähige Täterinnen sichtbar, während Männer hier auch als Opfer erkennbar werden. Die Tatsache, dass auch Frauen Gewalt ausüben, entmystifiziert das gesellschaftliche Bild, aber auch das Selbstbild der Frau als Opfer. Die Tatsache, dass Männer Gewalt erleiden, entmystifiziert wiederum ein bestimmtes Bild von Männlichkeit, in dem Männer als machtvoll, stark und unverletzbar erscheinen. Zudem birgt die Geschlechtsmarkierung von Täter und Opfer die Gefahr, einschlägige Vorurteile gegenüber Lesben und Schwulen weiterzutragen bzw. zu festigen. Die Darstellung der häuslichen Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen besitzt das Potential, das Grundaxiom des dominierenden Diskurses zu häuslicher Gewalt zu hinterfragen, nämlich die Annahme, dass das Geschlecht in seiner Kombination von sex und gender hier das dominierende Moment ist.
Frauen als Täterinnen In dem von Thürmer-Rohr angestoßenen Diskurs über die (Mit-)Täterschaft von Frauen wurden diese als aktive, handelnde Subjekte mit eigener Entscheidungskompetenz betrachtet. Frauen waren nicht länger Getriebene, sondern konnten selbst über das Maß der Partizipation oder Nicht-Partizipation an den hegemonialen Strukturen entscheiden. Die Entmystifizierung des Kollektivsubjekts Frau/Opfer führte innerhalb der Frauenbewegungen zu Debatten über Frauen als Täterinnen in der NSZeit, über den Eurozentrismus und Rassismus der weißen, westlichen Frauenbewegung sowie über den Dominanzanspruch westdeutscher Feministinnen gegenüber der ostdeutschen Emanzipationsbewegung. Eine Folge dieser Auseinandersetzungen war eine starke Ausdifferenzierung der Wahrnehmung von Frauen. Demgegenüber wurden Männer allerdings immer noch als Kollektivsubjekt Mann/Täter/Nutznießer wahrgenommen. Auch die Diskussionen um weibliche Aggressivität werden in der Regel unter einem geschlechtsspezifischen Blick geführt: Es wird zwar angenommen, dass Frauen in gleichem Maß wie Männer Wut und Ärger erleben, jedoch pflegten sie einen geschlechtsspezifischen Umgang mit ihren Aggressionen (Micus 2002:153; Bruhns/Wittmann 2002:21). So ist für Frauen nach Campbell mit Aggressionen eher ein gefühlter Kontrollverlust verbunden, der begleitet wird von Schuldgefühlen und Scham (Campbell, zitiert in Micus 2002:154). Dagegen schrieben Männer ihren Aggressionen, wenn sie mit Wut verbunden sind, eine kathartische Wirkung zu und betrachten diese auch als einen Aspekt ihrer Männlichkeit (Micus 2002:154). Ziel weiblicher Aggression sind nach Micus vor al38
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lem andere Frauen, gefolgt vom Ehepartner (Micus 2002: 161). Im Vordergrund stünden dabei verbale Attacken in Form von Beleidigungen, Spott und Streit. Aber auch Sachbeschädigungen und leichte körperliche Übergriffe in Form von Schlagen, Kratzen oder an den Haaren reißen kämen vor. Besonders gegenüber Ehemännern würden neben verbalen Übergriffen vor allem indirekte Aggressionsformen verwendet werden, z.B. in der Verweigerung von »Pflichten« im Haushalt (Micus 2002:161). In der jüngeren Literatur wird aber auch konstatiert, dass sich die Geschlechter annähern: Demnach drücken Männer und Frauen ihren Ärger oder ihre Frustration in einem Konflikt in der Partnerschaft »ähnlicher – im Sinne von körperlich aggressiv – aus« als bisher angenommen (Kavemann 2003:54). Außerdem konnte festgestellt werden, dass gerade bei jüngeren Frauen aggressive Verhaltensweisen positiv besetzt sind und der Unterschied zu Jungen im Gewaltverhalten geringer wird (Bruhns/Wittmann 2002:168) bzw. kaum noch auszumachen ist (Viemerö, zitiert in Micus 2002). Daher liegt die Vermutung nahe, dass bei Frauen eine Tendenz von indirektem und verstecktem Ausdruck von Aggressionen, etwa in Form von Ignorieren, Tratsch, Verweigerung, Ausschluss, übler Nachrede usw., beziehungsweise von Autoaggression hin zum direkten und manifesten Ausdruck zu erkennen ist. Auch in einem Bereich, der lange als rein männliche Domäne der Gewaltausübung betrachtet wurde, die sexualisierte Gewalt, rückt weibliche Täterschaft in den Bereich des Möglichen. So wurde die Täterschaft von Frauen bei Kindesmisshandlung und bei sexuellem Missbrauch von einigen Autorinnen thematisiert (Heyne 1993; LAG Autonome Mädchenhäuser NRW e.V. 1994; Elliott 1995). Im Vordergrund stand hierbei die generationsübergreifende Struktur der Gewalt, z.B. der Missbrauch eines Kindes durch die Mutter oder Großmutter. Diskutiert wurde dabei besonders die Abwehr von professionellen Beraterinnen und Therapeutinnen gegen das Thema (LAG Autonome Mädchenhäuser NRW e.V. 1994:17f), die notwendige Reflexion eigener Täteranteile, aber auch der professionelle Umgang mit sexuellen Gewalttäterinnen (ebenda 1994: 37f). Eine Studie zu sexueller Aggression von Frauen befasst sich entgegen den vorherigen Untersuchungen mit sexualisierter Aggression gegenüber Männern (Krahé/Scheinberger-Olwig 2002). Sie bricht mit der allgemeinen Annahme, dass sexualisierte Gewalt unter Erwachsenen nur von Männern verübt wird: Nach dieser Studie ergibt sich eine Prävalenz der Viktimisierung von 38,5 % der befragten, vorwiegend jungen Männer. So berichten 9,3 % von ihnen »schon einmal von einer Frau durch den Einsatz bzw. die Androhung körperlicher Gewalt oder durch verbale Druckausübung gegen ihren Willen zu sexuellem Kontakt gebracht wor39
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den zu sein« (Krahé/Scheinberger-Olwig 2002:205). Am häufigsten würden jedoch sexuelle Handlungen unter Ausnutzung der Wehrlosigkeit der Männer erzwungen (18,8 %), gefolgt von verbalem Druck mit 9,3 % und ebenso häufig unter Androhung oder Einsatz körperlicher Gewalt. Die Täterinnen stammten überwiegend aus dem sozialen Nahraum (Freundinnen, Bekannte), gefolgt von Partnerinnen und ExPartnerinnen. Eine vergleichbare Studie zu sexueller Aggression unter Frauen steht allerdings noch aus. Entgegen den angeführten Ergebnissen zeichnet sich im Bereich der häuslichen Gewalt ein anderes Bild ab: Hier dominiert die Auffassung, dass Frauen, die in heterosexuellen Partnerschaften Gewalt ausüben, dies primär reaktiv tun und sie nicht initiieren (Hamberger 2002). Nach Hamberger verhielten sich Frauen, die ein vergleichbares Maß an Wut und Feindseligkeit wie Männer aufweisen, nicht passiv, sondern verteidigten sich oder aber schlügen zurück. So hätten die meisten Frauen berichtet, dass zuerst ihre Partner physische Gewalt eingesetzt hätten (Hamberger 2002: 1313). Auch löse die Gewalt der Männer bei den Frauen mehr Angst aus als umgekehrt. Zudem würden Männer in stärkerem Maße dominierende und kontrollierende Verhaltensweisen ausüben (Hamberger 2002:1318). In Fällen von bidirektionaler Gewalt würden verstärkt Männer die gewalttätige Dynamik initiieren und kontrollieren, während Frauen zwar durch die eigene Ausübung von Gewalt aktiv involviert seien, jedoch nicht die Kontrolle über das Geschehen hätten (Hamberger 2002:1318). Eine Täterschaft im Sinne der Initiierung der gewalttätigen Dynamik und des Auslösens von Angst trifft nach Hamberger in heterosexuellen Partnerschaften für Frauen nicht zu. Demgegenüber kommt eine weitere, überarbeitete Studie zur Aggressivität von Frauen (Swan/Snow 2003) zu einem anderen Schluss. Sie unterscheidet zwischen vier Verhaltensmustern von Frauen im Kontext häuslicher Gewalt: a) das »Opfer« (der Partner verübt mehr schwere Gewalt und Zwang gegen die Frau, als sie ihm gegenüber), b) die »missbrauchte Aggressorin« (abused aggressor), die mehr schwere Gewalt und Zwang gegen ihren Partner verübt, als er ihr gegenüber, c) Frauen in einer Partnerschaft, in der der Mann vergleichsweise mehr kontrollierenden Zwang ausübt als die Frau, aber Frauen ebenso häufig schwere Gewalt ausüben wie der männliche Partner (mixed-male coercive relationship) und schließlich d) Frauen, deren Gebrauch von kontrollierendem Zwang gleich groß oder größer ist als der des männlichen Partners, dieser aber im Vergleich zur Frau ebenso häufig oder häufiger schwere Gewalt ausübt (mixed-female coercive relationship) (Swan/Snow 2003: 78f). Diese Gruppen von Frauen wurden hinsichtlich ihrer traumatischen Erfahrungen in der Kindheit, ihrer Konfliktlö40
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sungsstrategien unter Stress in der Partnerschaft, ihres Ausdrucks von Wut, ihrer Motivation, Gewalt einzusetzen, des Ausmaßes der physischen Verletzungen bei ihnen und ihren Partnern sowie hinsichtlich psychologischer Symptome und ihres Alkoholkonsums vergleichend untersucht. Die zu untersuchende Gruppe bestand nach statistischer Bereinigung aus 95 Frauen, die meist von einem Gericht zur Teilnahme an einem Trainingsprogramm verurteilt waren und angeschrieben wurden oder sich aufgrund von Öffentlichkeitsarbeit gemeldet hatten. Von dieser Gruppe wurden 34 % der Kategorie des Opfers, 12 % der Kategorie der »missbrauchten Aggressorinnen«, 32 % der Kategorie der »mixedmale coercive relationship« und 18 % den »mixed-female coercive relationships« zugeordnet. Im Rahmen des Diskurses zu weiblicher Täterschaft ist die Gruppe der »missbrauchten Aggressorinnen« von besonderem Interesse. Es konnte festgestellt werden, dass die Wahrscheinlichkeit eines traumatisierenden Missbrauchs in der Kindheit bei diesen signifikant höher ist als in den anderen Gruppen, und auch höher liegt als bei den Opfern. 37 % der Frauen des Samples haben allerdings weder sexualisierte oder emotionale noch physische traumatisierende Missbrauchserfahrungen in der Kindheit gemacht. Auch zeigte die Gruppe der »missbrauchten Aggressorinnen« das höchste Maß an expressiver Wut und die geringste Fähigkeit, ihre Wut zu kontrollieren. Schließlich unterscheide sich zudem die Motivation der Gewaltausübung deutlich von den Frauen der anderen Gruppen. Die »missbrauchten Aggressorinnen« übten signifikant häufiger Gewalt aus, um ihren Partner zu kontrollieren oder um Vergeltung zu üben. Dagegen hätten beispielsweise die Frauen der Gruppe der »Opfer« am häufigsten aus Gründen der Selbstverteidigung Gewalt verübt. Allerdings könnten unterschiedliche Motivationen auftreten, denn 75 % der Befragten sagten, dass sie zumindest gelegentlich Gewalt zur Selbstverteidigung eingesetzt hätten, 38 %, dass sie damit ihren Partner kontrollieren wollten, und 45 % gaben an, Gewalt schon einmal aus Vergeltung verübt zu haben. Auch hätten die Frauen der Gruppe der »missbrauchten Aggressorinnen« angegeben, dass sie im Regelfall diejenigen wären, die zuerst Gewalt anwenden würden (83 %), während die Frauen der Gruppe der »Opfer« zu 88 % angaben, dass im Regelfall der Mann die Gewalt initiiere (Swan/Snow 2003:100).
Männer als Täter häuslicher Gewalt Die männlichen Täter heterosexueller Misshandlungsbeziehungen werden in der Literatur vor allem über psychische Auffälligkeiten, biographische Aspekte und den Umgang mit ihrer Gewalt beschrieben. Sonkin 41
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et al. (1985) konnten feststellen, dass 93 % der männlichen Misshandler zuvor schon eine Partnerin misshandelten, dass die Beziehungen durchschnittlich fast fünf Jahre andauerten und die meisten eine Geschichte der Gewalt aufwiesen. So hätten 83 % der befragten Täter in ihrer Kindheit Formen körperlicher Züchtigung erlebt, 21 % seien physisch misshandelt worden, 45 % hätten gesehen, wie ihr Vater ihre Mutter misshandelt hätte, und 50 % seien entweder selbst misshandelt worden oder hätten gesehen, wie ihre Mutter misshandelt wurde (Sonkin 1985:35). Godenzi (1996) wiederum rekurriert auf Megargees (1982) und stellt sechs Kategorien von Tätern auf: So übe der »Asoziale« häusliche Gewalt aufgrund von äußeren Reizen (z.B. Rache oder Frustration) aus und weise eine grundlegende hohe Neigung oder Bereitschaft zur Gewalt auf. Der »Konformist« sei dagegen ein überangepasstes Individuum, »welches zwanghaft bemüht ist, jegliche Aggressionen zu unterdrücken, und gerade deshalb eruptiv gewalttätig ist«. Der »antisoziale Manipulator« wiederum setze Gewaltanwendung ein, um bestimmte Ziele zu erreichen. Der »Neurotiker« verfüge aufgrund psychischer oder organischer Störungen über keine natürlich-kulturellen Hemmungen, die ihn von Gewalthandlungen abhalten könnten. Der »Übernehmer kultureller Werte« habe im Laufe seiner Sozialisation »interpersonale Gewaltanwendung als erwünschtes, moralisch korrektes Handlungsmittel« kennen gelernt, während sich der »Gelegenheitstäter« das Recht herausnehme, nach der Einnahme von Rauschmitteln oder »wegen besonders widerlich empfundenen persönlichen Umständen Gewalt als Ausnahmehandlung anwenden zu können« (Godenzi 1996:232). Godenzi rekurriert im Weiteren auf Finkelhor et al. (1988), der darauf hinweist, dass die meisten Täter eine von Gewalt geprägte Kindheit aufwiesen, sei es als Zeuge, Opfer oder Täter. Viele Misshandler zeigten ein hohes Maß an Abhängigkeit, die wiederum zu kontrollierenden Verhaltensweisen – und damit zu Abhängigkeiten der Frauen – führe (Godenzi 1996:241). Auch würden die Täter so genannte Neutralisierungstechniken benutzen, wodurch die negativen Effekte ihrer Gewaltanwendung außer Kraft gesetzt würden: Die Täter deuten die Gewalt um, indem sie sie bagatellisieren, sie relativieren oder moralisch rechtfertigen; auch würden sie ihre Verantwortung delegieren, ihr gewalttätiges Verhalten leugnen oder minimieren und schließlich das Opfer diskreditieren und ihm die Schuld zuweisen (Godenzi 1996242). Des Weiteren würden Gewalttäter erhebliche Energie investieren, um ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten. Als weitere Neutralisierungstechniken führt Godenzi sich rechtfertigende oder sich entschuldigende Verhaltensweisen an: Wer sich vor sich selbst entschuldige, verleugne seine Verantwortung und wer sich rechtfertige, akzeptiere zwar eine gewisse Verantwortung bezüglich der Gewalthand42
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lung, verleugne jedoch die Fehlbarkeit des Verhaltens (Godenzi 1996: 242). Auch Logar et al. (2002) weisen darauf hin, dass die von ihnen interviewten Misshandler kein Unrechtsbewusstsein zeigten, nicht akzeptierten, etwas falsch gemacht zu haben und der Frau die Schuld zuschöben (Logar et al. 2002:33). Eine weitere Untersuchung beschreibt Täter auf der Basis von Männern, die an einem Trainingsprogramm im Rahmen einer Interventionsmaßnahme teilgenommen hatten, als durchschnittlich Anfang 30 und von geringem sozioökonomischem Status (Gondolf 2002:95). Die durchschnittliche Dauer der Partnerschaft habe fünf Jahre betragen, wobei in drei Viertel der Partnerschaften Kinder vorhanden gewesen seien (Gondolf 2002:96). Viele Täter wiesen narzisstische und antisoziale Persönlichkeitsmerkmale auf. Ein Drittel habe schwerwiegende Probleme mit dem eigenen Verhalten unter Alkoholeinfluss, so sei es dann zu Auseinandersetzungen gekommen, auch seien sie betrunken Auto gefahren oder verhaften worden. Zudem seien ein Viertel der Täter alkoholabhängig gewesen. Andererseits habe einer von fünf Tätern gesagt, niemals oder nur selten Alkohol getrunken zu haben (Gondolf 2002:97). Über die Hälfte der befragten Täter habe berichtet, dass ihre Eltern ein Alkohol- oder Drogenproblem gehabt hätten, in einem Drittel der Fälle hätten sich die Eltern geschlagen und auch seien ein Viertel der Täter in ihrer Kindheit geschlagen worden (Gondolf 2002:98). In einer jüngeren Untersuchung von Gilchrist et al. (2003) werden bestimmte Tätertypen in Verbindung mit bestimmten gewalttätigen Ausdruckformen gebracht: Er beschreibt die männlichen Täter häuslicher Gewalt als eine heterogene Gruppe, die dennoch in zwei Hauptgruppen kategorisiert werden kann, die »Borderline/emotional abhängigen« und die »antisozialen/narzisstischen« Täter. Die Täter des »antisozialen/narzisstischen« Typus verübten demnach in ihren Partnerschaften Nötigungen/Einschüchterungen ebenso wie psychische Gewalt und setzten männliche Privilegien ein und durch (Gilchrist et al. 2003:3). Der »Borderline/emotional abhängige« Täter versuche eher, seine Partnerin von Freund/inn/en und der Familie zu isolieren und drohe ihr, sie zu verletzen oder zu töten. Auch zeige der Typus des »Borderline/emotional abhängigen« Täters ein sehr hohes Maß an interpersonaler Abhängigkeit und große Wut; er leide unter Depressionen und/oder Angstzuständen und mache eher andere für seine Situation verantwortlich. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er physischen oder sexualisierten Missbrauch in der Kindheit erlebt habe, seine persönlichen Bindungen seien eher von Angst geprägt und er könne suizidale Gedanken haben. In Gilchrists Untersuchung traf dieser Typus auf 28 % der 336 männlichen Straftäter zu, die wegen Straftaten im Kontext häuslicher Gewalt auffäl43
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lig geworden waren (Gilchrist et al. 2003:2). In der Untersuchung wird zur Beschreibung des antisozialen/narzisstischen Tätertypus auf Verhaltensweisen zurückgegriffen, die auch von Godenzi aufgeführt werden: So übe der antisoziale Täter Zwang aus, drohe seiner Partnerin, bagatellisiere sein Verhalten, nutze Neutralisierungstechniken wie die Tat zu verleugnen, sich zu entschuldigen oder dem Opfer die Schuld zuweisen. Zudem setze der Täter Blicke ein, um seiner Partnerin Angst zu machen, zerstöre Gegenstände und benutze auch die Kinder, in dem er drohe, diese der Mutter wegzunehmen oder die Partnerin über die Kinder zu beleidigen. Der Typus des »antisozialen/narzisstischen« Täters wurde von Gilchrist wiederum in drei Subtypen unterteilt, wobei der eher antisoziale Typus durch antisoziales Verhalten auffalle, eine höhere Wahrscheinlichkeit von Alkohol- und Drogenmissbrauch aufweise, eher ein »Macho-Verhalten« an den Tag lege, Probleme mit Empathie habe und vordem schon strafrechtlich auffällig geworden sei. Dieser Typus Täter trat in 47 % der Fälle auf (Gilchrist et al. 2003:2). Der eher narzisstische Typus habe eine Neigung zur Paranoia und Narzissmus. Die Täter dieses Typus zeigten keine »Macho-Verhaltensweisen«. Sie neigten allerdings auch eher dazu, sozial erwünscht zu antworten, weshalb die Aussagen zum »Macho-Verhalten« fraglich seien. Auch würden sie sich in ihren Beziehungen eher trennen. Dieser Täter-Typus zeigte sich in 13 % der untersuchten Fälle. Der Subtypus des »antisozialen/narzisstischen« Täters mit einer geringen Pathologie habe eine Neigung zum Narzissmus und zeige nur moderate »Macho-Attitüden«. Auch er neige eher zu sozial erwünschten Antworten. Diese Täter zeigten weder ein hohes Maß an Wut noch hätten sie suizidale Gedanken und wiesen zudem keine Missbrauchserfahrungen auf. Dieser Typus traf auf 12 % der analysierten Täter zu. Nach Gilchrist et al. haben die Täter in 73 % der Fälle vor dem Übergriff Alkohol konsumiert und in 23 % der Fälle wurde eine Waffe eingesetzt (Gilchrist et al. 2003:2). Die am häufigsten geäußerten Gründe für die Gewaltausübung waren Eifersucht, Trennung und Themen, die die Kinder betrafen. Die dominierenden Theorien zu häuslicher Gewalt in heterosexuellen Intimpartnerschaften können inzwischen aufgrund des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit (u.a. Döge 2000, 2001, 2004) erklären, warum nicht alle Männer zu Tätern werden. Jedoch können sie nicht hinreichend darlegen, warum Frauen ihre Partnerin oder ihren Partner misshandeln, denn gewalttätiges Handeln ist kein Part weiblicher Sozialisation und folglich kein bedeutender Aspekt ihrer sozialen Geschlechtlichkeit. Demgegenüber verorten individual-psychologische Ansätze die Ursachen häuslicher Gewalt in der Persönlichkeit und den individuellen Verhaltensweisen des Täters resp. der Täterin (vgl. Island/Letellier 1991). 44
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Jedoch vermögen sie nicht hinreichend herzuleiten, warum die überwiegende Mehrheit der Täter männlich ist (vgl. BMFSFJ 2004).
Männer als Opfer häuslicher Gewalt Häusliche Gewalt gegen Männer ist ein »Randthema, sowohl die soziale Wahrnehmung, die Forschung als auch den gesellschaftspolitischen Diskurs betreffend« (Lamneck/Ottermann (2004:144). Der Diskurs zu männlichen Opfern häuslicher Gewalt ist ebenfalls heteronormativ geprägt: »Innerhalb des Bereichs der Partnergewalt lassen sich unterscheiden (a) Mann-Frau-Gewalt, d.h. einseitige Aggression von Männern gegenüber ihren Frauen, (b) Frau-Mann-Gewalt, d.h. Gewalt der Frauen gegen ihre Männer und (c) beiderseitige Gewalt« (Lamneck/Ottermann (2004:93). Und weiter: »Die meisten Opfer von Gewaltkriminalität sind männlich. Gleiches gilt für die Täter. Diese Feststellung trifft auf den außerhäuslichen, weniger oder gar nicht auf den häuslichen Bereich zu.« (ebenda 2004:144). In einer Pilotstudie zu Gewalterfahrungen von Männern (BMFSFJ 2004) wurde festgestellt, dass jedem vierten der 200 befragten Männer ein- oder mehrmals körperliche Gewalt durch die aktuelle oder vorherige Partnerin widerfahren ist, wobei hier auch leichtere Übergriffe erfasst wurden, die von den Forschern nicht unbedingt als Gewalt definiert wurden (BMFSFJ 2004:10). Jeder fünfte Mann gab an, dass seine Partnerin eifersüchtig sei und seinen Kontakt zu anderen Menschen unterbinde. Jeder sechste Mann berichtet von kontrollierendem Verhalten seiner Partnerin (BMFSFJ 2004:11). In einer weiteren – ebenfalls nicht repräsentativen – Untersuchung wurde festgestellt, dass 4,6 % der befragten Männer Opfer einer Gewalthandlung durch ihre Partnerin geworden seien (Lamneck/Ottermann (2004:148). Andere Untersuchungen weisen sogar eine annähernd gleiche Prävalenz von Männern und Frauen als Täter bzw. Täterinnen häuslicher Gewalt auf (Gemünden 1990; Bock 2003). Die berechtigte Kritik an den beiden letztgenannten Untersuchungen weist auf eine grundlegende Problematik in der Diskussion zur Prävalenz häuslicher Gewalt in heterosexuellen Partnerschaften hin, nämlich die fehlende Differenzierung zwischen aggressivem Konfliktverhalten und einem systematischen Gewalt- und Kontrollverhalten (Kavemann 2003; Gloor/Meier 2003). Neben der Prävalenz stellt sich auch die Frage, ob Männer, die ein bestimmtes Bild von Männlichkeit repräsentieren, häufiger Opfer werden als Männer, die andere Formen von Männlichkeit repräsentieren. In der bereits zitierten Teilstudie von Krahé/Scheinberger-Olwig zu sexueller Aggression von Frauen gegenüber Männern konnte hier interessan45
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terweise kein signifikanter Unterschied der Viktimisierung zwischen Männern mit erhöhter Feminität/geringerer Maskulinität und stark maskulinen Männern ausgemacht werden (Krahé/Scheinberger-Olwig 2002: 217). Der Diskurs zu männlichen Opfererfahrungen ist im Wesentlichen durch zwei Aspekte geprägt: Die Tabuisierung des Themas durch Männer einerseits, und die Infragestellung der Wahrnehmung von Frauen als Kollektivsubjekt Opfer andererseits. Auch wenn die polizeiliche Kriminalstatistik aufzeigt, dass die meisten Opfer männlicher Gewaltkriminalität Männer sind, werden tatsächliche und potentielle Opfererfahrungen von Männern selbst bagatellisiert, stigmatisiert oder ignoriert. Gewalt durch die Partnerin wird vor allem in humoristischen Darstellungen aufgegriffen, wobei der dort parodierte Mann nicht der vorherrschenden Vorstellung von Männlichkeit entspricht. Männliche Opfererfahrung durch eine Frau beinhaltet folglich auch ein Versagen im »Doing Gender«, sich wie ein »richtiger« Mann verhalten zu haben. Dieses Versagen ist schambesetzt und hindert Männer daran, Hilfe und Unterstützung einzufordern. Die Diskussion um männliche Opfererfahrungen offenbart des Weiteren die vorrangige Ausrichtung von institutionellen und nichtinstitutionellen Ressourcen auf Frauen als Opfer von Männergewalt im sozialen Nahraum. Derzeitige Präventions- und Interventionsansätze zielen auf Frauen (und Kinder) als alleinige Opfer häuslicher Gewalt ab. Männer können in Deutschland demgegenüber – ungeachtet der tatsächlichen Prävalenz männlicher Opfer – nicht auf vergleichbare Hilfs- und Unterstützungsangebote zurückgreifen. Die Debatten um männliche Opfererfahrungen im Kontext häuslicher Gewalt sind – unabhängig von der tatsächlichen Prävalenz – oft stark emotionalisiert, werden politisiert und zuweilen gegen vermeintliche Privilegierungen von Frauen zu Felde geführt. Nach Kavemann birgt der Diskurs über Männer als Opfer häuslicher Gewalt daher die Gefahr, dem grundsätzlicheren Problem der Opferwerdung von Männern durch Männer aus dem Weg zu gehen. Vielmehr sei das Ziel der Debatte in weiten Teilen das Diskreditieren feministischer Positionen (Kavemann 2003:62). Die Analyse der gegenwärtigen Literatur zu männlichen Opfern lässt diesen Schluss zu. Die dennoch vorherrschende Tabuisierung männlicher Opferwerdung führt zu einer fehlenden Versorgungsstruktur für männliche Opfer häuslicher Gewalt und gleichzeitig mangelnden Angeboten für Täterinnen.
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Aggressives Konfliktverhalten versus systematisches Gewalt- und Kontrollverhalten Ein Großteil der Literatur, die sich mit häuslicher Gewalt im Allgemeinen und mit männlicher Opferwerdung im Besonderen befasst, differenziert nur sehr selten zwischen unterschiedlichen Gewaltdynamiken in den Partnerschaften: Der Blick richtet sich vielmehr auf das formale Beziehungsverhältnis der Partner und Partnerinnen, die Motivation des Täters und die Auswirkungen der Gewalt auf das Opfer. Zur Beschreibung der gewalttätigen Dynamiken in einer Partnerschaft muss grundsätzlich zwischen zwei Systematiken unterschieden werden, dem situativen aggressiven Konfliktverhalten und dem systematischen Gewalt- und Kontrollverhalten: Unter aggressivem Konfliktverhalten werden situative, gelegentliche Gewaltausbrüche gefasst, die offenbar tendenziell von beiden Partnern gleichermaßen verübt werden können (Brückner 2002:21a; Gloor/Meier 2003:534). Es handelt sich dabei häufig um Meinungsverschiedenheiten und Uneinigkeiten, die in körperlicher Gewalt eskalieren können. Nach Gloor/Meier bleibt die Geschlechtersymmetrie auch dann vorhanden, wenn »theoretisch geringfügigere Handlungen von schweren Übergriffen unterschieden werden« (ebenda 2003:534). Die Analyse des aggressiven Konfliktverhaltens findet sich traditionell primär in dem systemischen Forschungsansatz der familialen Gewalt (Brückner 2002b). Bei einem systematischen Gewalt- und Kontrollverhalten handelt es sich dagegen um »zusammenhängende, fortgesetzte und wiederholte Handlungen« (Schweikert 2000:73), die dazu dienen, dauerhaft Hegemonieansprüche in Form von Macht und Kontrolle in der Partnerschaft zu etablieren. Hier lässt sich eine Geschlechtersymmetrie, wie sie bei dem aggressiven Konfliktverhalten anzutreffen ist, nicht feststellen. Die Tradition der Analyse von Misshandlungsbeziehungen ist vor allem in der feministisch geprägten Forschung des »woman abuse« (Brückner 2002b) zu verorten. Schließlich ist für Hamberger/Guse (2002) Angst ein wesentliches Indiz, um Täter und Opfer unterscheiden zu können. Gerade in Partnerschaften, in denen beide Beteiligte Gewalt ausübten, sei dies ein bedeutendes Kriterium, um die Systematik der Gewalt zu analysieren und Täter und Opfer differenzieren zu können (Hamberger/Guse 2002:1302). So sei das Auslösen von Angst ein bedeutendes Mittel zur Etablierung von Kontrolle. Die Initiierung von Gewalt ist demnach kein
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hinreichendes Kriterium, um Täter und Opfer unterscheiden zu können.11 Zur Beschreibung des aggressiven Konfliktverhaltens wiederum wird in der Regel ein etabliertes Instrument zur Messung der allgemeinen Aggressionsbereitschaft in einer Beziehung, die »Conflict Tactics Scale (CTS)« bzw. ihre überarbeitete Fassung, die CTS2, herangezogen. In der Skala werden drei verschiedene Techniken des Konfliktmanagements unterschieden: gewaltlose Techniken (Aushandeln von Konflikten), verbal-aggressive Techniken (psychische Aggression) und körperlich-aggressive Techniken (körperliche Aggression). Den jeweiligen Techniken sind bestimmte Items zugeordnet, wobei auch nach Überarbeitung der ursprünglichen CTS die Items für die körperlichen Aggressionen überwiegen: So wurden den gewaltlosen Techniken sechs Items, den verbal-aggressiven Techniken acht Items und den körperlichaggressiven Techniken zwölf Items zugeordnet (vgl. Krahé/Scheinberger-Olwig 2002:197). Problematisch an der CTS ist die ihr immanente Annahme, dass Konflikte auf einer innerfamilialen Situation beruhen und nicht von außen in die Familie hineingetragen werden können, d.h. ein Zusammenhang mit gesellschaftlichen Gegebenheiten ignoriert wird. Des Weiteren werden nur retrospektive subjektive Wahrnehmungen erfasst, d.h. wie jemand sich und seine Partnerin in dem Konflikt interagierend wahrnimmt bzw. wahrgenommen hat. Subjektive Wahrnehmungen spiegeln eine individuelle Wahrheit wider, die unterschiedlichen Manipulationen unterliegt, z.B. den Erwartungen an das Geschlechtsrollenverhalten, Schuldgefühlen, Scham, Delegation der Verantwortung usw. Nach Kavemann erfasst die CTS zudem nur die aktuelle Partnerschaft, während demgegenüber wenigstens ein Drittel der Frauen von ihrem Ex-Partner angegriffen würden. Auch zähle die CTS ausschließlich nichtsexuelle körperliche Angriffe und lasse den Kontext der Gewalthandlung unberücksichtigt. Schließlich würde die CTS auch die Folgen der Gewalthandlung nicht messen (Kavemann 2003:53).
11 Die Untersuchung von Hamberger/Guse (2002) bezieht sich auf gegengeschlechtliche Partnerschaften und rekurriert dabei auf die Metaanalyse von Archer (2000), die zu dem Schluss kommt, dass Frauen ebenso häufig Gewalt ausübten wie Männer. Dagegen kommen Hamberger/Guse zu dem Schluss, dass diejenigen Frauen, die ebenfalls gewalttätig sind, dennoch vorrangig Opfer seien. So hätten die Frauen ein signifikant höheres Maß an Angst gezeigt und seien sowohl häufiger als auch schwerer verletzt worden (ebenda 2002:1305). Die Analyse von Hamberger/Guse bietet vor dem Hintergrund einer höheren – auch physischen – Gegenwehr lesbischer Frauen und der offenbar unterschiedlichen Gewaltdynamiken wichtige Indizes für die Differenzierung von Täterin und Opfer. 48
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Die Anwendung der CTS zur Beschreibung auch von Misshandlungsbeziehungen führt bei einigen männlichen Autoren zu dem Schluss, dass häusliche Gewalt von Männern und Frauen gleichermaßen verübt wird: Bock (2003) rekurriert dabei auf die Meta-Analysen von Archer (2000) und Fiebert (1997) sowie die vergleichende Analyse von Gemünden (1996). Die Autoren haben Untersuchungen zu häuslicher Gewaltbetroffenheit von Männern zusammengetragen und ausgewertet. Bock und Gemünden kommen zu derselben Auffassung, nämlich dass Gewalt zwischen Männern und Frauen geschlechteregalitär verteilt ist. Gemünden geht dabei jedoch davon aus, dass jeder Gewaltanwendung ein Konflikt vorangeht (Gemünden 1996:88), d.h. in seiner Untersuchung wird letztlich die Dynamik von Misshandlungsbeziehungen ausgeschlossen. Allerdings postuliert er zugleich eine Allgemeingültigkeit seiner Aussagen. Kimmel (2002) wiederum reanalysierte die von Archer und Fiebert untersuchten Arbeiten nochmals und stellte dabei fest, dass mehr als zwei Drittel der Untersuchungen mit der Conflict Tactic Scale zur Analyse häuslicher Gewalt gearbeitet haben (Kimmel 2002:1335). Zudem seien einige der aufgeführten Untersuchungen nicht themenrelevant. Kimmel kommt zu dem Schluss, dass »Fiebert’s (1997) scholarly annotated bibliography thus turns out to be far more of an ideological polemic than a serious scholarly undertaking« (Kimmel 2002:1336).
Fazit Es ist der Frauenbewegung zu verdanken, dass die Ausübung von Gewalt in der Partnerschaft nicht länger als individuelle Pathologie betrachtet wird, sondern als Ausdruck und Konsequenz einer hierarchischen Gesellschaftsordnung begriffen wird, in der Frauen qua biologischem Geschlecht die untergeordnete Position zugewiesen wird. Die Durchsetzung der Geschlechterhierarchie mittels Gewalt ist demzufolge ein ordnungspolitisches Mittel und stellt daher keine Normverletzung, sondern eine Normverlängerung dar. Das hohe Ausmaß der Gewalt gegen Frauen ließ lange Zeit Unterschiede zwischen Frauen hinter der kollektiven, geteilten Erfahrung als Gewaltopfer verschwinden. Das Kollektivsubjekt Frau/Opfer wurde dem Kollektivsubjekt Mann/Täter entgegengestellt: ›Der Mann‹ war der »potentielle Vergewaltiger«, ›die Frau‹ sein potentielles Opfer. Während jedoch vor allem in der westdeutschen Frauenbewegung in den letzten 25 bis 30 Jahren ein Prozess der Auseinandersetzung mit der Komplexität des Subjekts Frau stattfand, blieb das Kollektivsubjekt Mann darin erhalten. Erst die Männerforschung trug wesentlich zu einer Differenzierung des Subjekts Mann bei. 49
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Die kritische Auseinandersetzung mit der Kategorie ›Geschlecht‹ in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigt, dass sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht (sex und gender) und darauf aufbauende Identitäten künstliche Konstrukte sind, die dem Körper eingeschrieben werden; Geschlecht und Identität sind konstituierende Elemente der hegemonialen Ordnung. Mit der Beschreibung der hegemonialen Ordnung als ›Geschlechterverhältnis‹ wurde die Hierarchisierung aufgrund des Geschlechts als wesentliches Merkmal der hegemonialen Ordnung festgeschrieben. In der Männerforschung wiederum wurde herausgearbeitet, dass es nicht nur ein Konzept von Männlichkeit und Weiblichkeit gibt, sondern verschiedene, die einer hierarchischen Ordnung unterworfen sind. Das Geschlechterverhältnis wird demnach durch das dominante Bild von Männlichkeit und Weiblichkeit gestaltet, wobei dieses zugleich verallgemeinert wird. Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften wiederum öffnet den Blick auf (lesbische) Frauen als Täterinnen und (schwule) Männer als Opfer und zeigt somit die Problematiken derjenigen Theorien auf, die eine Geschlechtsmarkierung von Täter und Opfer implizieren. Der Erklärungsansatz der ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ zur Beschreibung der hegemonialen Gesellschaftsordnung erreicht dort seine Grenze, wo das Geschlecht (sex und gender) nicht das tragende Moment der zu untersuchenden Ordnung darstellt. Denn würde alleine auf die Kategorie Geschlecht im Sinne von sex und gender zur Beschreibung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zurückgegriffen, würde das konsequenterweise zu der Annahme führen, dass in diesen Beziehungen Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit und die ihnen entsprechenden Verhaltensnomen und Charakterzuschreibungen reproduziert werden, sich beispielsweise eine »männliche« und eine »weibliche« Partnerin bzw. ein »männlicher« und ein »weiblicher« Partner fänden bzw. diese in ihren Partnerschaften die dominanten Geschlechtsrollenstereotypen aushandeln würden. Eine weitere Schlussfolgerung wäre, dass mehrheitlich diejenigen Partnerinnen, die ein männlich konnotiertes Geschlechtsrollenverhalten adaptiert haben, eher gewalttätig würden als diejenigen Partnerinnen, die in ihrem traditionellen weiblichen Geschlechtsrollenverhalten verhaftet blieben. Zudem wäre anzunehmen, dass es in schwulen Partnerschaften häufiger zu gewalttätigen Übergriffen käme als in lesbischen Beziehungen. Wie im Folgenden noch aufzuzeigen sein wird, kann dem nicht zugestimmt werden. Andererseits sind gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht qua biologischem Geschlecht egalitär; vielmehr ist anzunehmen, dass hier weitere, die hegemoniale Gesellschaftsordnung tragende und hierarchisierende Unterschiede wie Klassenzuge-
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hörigkeit, Bildungsgrad, Einkommen, Behinderung/chronische Erkrankung oder ethnische Herkunft zum Tragen kommen. Die Existenz von Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften stellt folglich Geschlecht als wesentliches konstituierendes Merkmal der hegemonialen Ordnung in Frage. Diese wird eher durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Diskriminanten wie Klasse, Ethnie, Einkommen, Bildung usw. und Geschlecht hergestellt und stabilisiert. Mit Blick auf eine weitergehende Gesellschaftsanalyse sind die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen diesen verschiedenen Ordnungselementen von besonderer Bedeutung.
Diskurs Gewalt in Liebesbeziehungen zwischen Frauen Begrifflichkeiten Die Literatur zu Gewalt in lesbischen Beziehungen stammt vorrangig aus dem angloamerikanischen Sprachraum und befasst sich mit unterschiedlichen Aspekten des Problemfeldes, welches durch die spezifischen Lebenssituationen lesbischer Frauen maßgeblich bestimmt wird. Auch hier finden sich unterschiedliche Definitionen von häuslicher Gewalt in lesbischen Partnerschaften. So definiert Hart (1986:173) »lesbian battering is hat pattern of violent and coercive behaviors whereby a lesbian seeks to control the thoughts, beliefs and conduct of her intimate partner or to punish the intimate for resisting the perpetrator’s control over her«. Nach dieser Definition sind einzelne physische Übergriffe keine Misshandlung, sofern diese nicht in der fortdauernden Kontrolle über die Partnerin münden. In einer weiteren Definition wird das Element der Macht der Charakterisierung hinzugefügt. Tigert (2001) lehnt sich in ihrer Definition von häuslicher Gewalt an die der New Hampshire Coalition Against Domestic Violence von 1999 an und definiert diese als »pattern of coercive behaviour that is used by one person to gain power and control over another, which may include physical violence, sexual, emotional and psychological intimidation, verbal abuse, stalking, and economical control« (Tigert 2001:74). Allerdings betrachtet sie die Gewalt in lesbischen Partnerschaften nicht nur als Ausübung von Macht und Kontrolle innerhalb einer Intimpartnerschaft: »It is about homophobia/heterosexism, and the reenactment of and response to cultural traumatization« (Tigert 2001:75).
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Beide hier vorgestellten Charakterisierungen gehen davon aus, dass das Ziel der Gewalt darin besteht, über die Partnerin Macht und Kontrolle zu erlangen, d.h. dass es sich hierbei um eine monodirektionale Gewaltausübung handelt, in der Täterin und Opfer auszumachen sind. Das Verhalten der Partnerin wird dabei von Hart als Widerstand gegen den Versuch der Kontrolle bezeichnet, eine andere Motivation wird von Hart in dieser Definition ausgeschlossen. Demgegenüber bezieht Tigert ebenso gesellschaftliche Einflussfaktoren wie Homophobie und Heterosexismus in ihre Analyse ein.
Prävalenzen Eine belastbare Quantifizierung der Prävalenz von Gewalt in lesbischen Intimpartnerschaften erweist sich als schwierig, da die Veröffentlichungen auf Studien rekurrieren, die jeweils unterschiedliche Aspekte beleuchten, oft nicht repräsentativ sind und somit nicht miteinander verglichen werden können. In den folgenden Studien wird der Fokus auf physische Übergriffe gelegt: So sind beispielsweise Brand/Kidd (1986)12 in einer Befragung von 55 lesbischen und 75 heterosexuellen Frauen zu dem Ergebnis gekommen, dass jeweils 25 % von ihnen physische Gewalt in ihrer Partnerschaft resp. Partnerinnenschaft erfahren haben. 7 % der befragten Lesben und 9 % der heterosexuellen Frauen gaben an, von ihrer Partnerin bzw. ihrem Partner vergewaltigt worden zu sein. In einer Untersuchung von Kelly/Warshafsky (1987)13 wiederum wurden 48 lesbische Frauen und 50 schwule Männer zu ihren Gewalterfahrungen befragt. 47 % berichteten von körperlichen Aggressionen als Mittel der Konfliktlösung durch ihre Partnerin bzw. ihren Partner. In einer Studie von Bologna/Waterman/Dawsen (1987)14 an der 174 Lesben teilnahmen, gaben 59,8 % an, mindestens einmal physische Gewalt durch ihre Partnerin erlebt zu haben. 81 % berichteten von psychischem und emotionalem Missbrauch und weitere 31 % haben sexualisierte Übergriffe durch ihre Partnerin erlebt. Eine Erhebung des »Gay & Lesbian Community Action
12 Pamela Brand/Aline Kidd (1986): Frequency of physical aggression in heterosexual and female homosexual dyads. Psychology Reports 59, S. 1307-1313. 13 E.E. Kelly/L. Warshafsky (1987): Partner abuse in gay male and lesbian couples. Zitiert in Elliott (1996), S. 2f. 14 C.K. Waterman/L.J. Dawson/M.J. Bologna (1989): Sexual coercion in gay male and lesbian relationships: Predictors and implications for support services. Journal of Sex Research 26, S. 118-124. 52
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Council«15 von 1987 kommt des Weiteren zu dem Resultat, dass 22 % der 900 befragten Lesben und 17 % der befragten 1.000 schwulen Männer physische Gewalt erfahren hatten. Eine ebenfalls 1987 durchgeführte Untersuchung von Loulan16 kommt zu dem Resultat, dass 17 % der befragten 1.566 lesbischen Frauen physische Gewalt erlebt haben. Eine jüngere Untersuchung von Tjaden/Thoennes/Allisson von 199917 gibt wiederum die lebenslange Prävalenz von physischer Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen mit 11,4 % an, während sie in heterosexuellen Partnerschaften bei 20,3 % läge. Diese Studie geht zudem auf eine weitere Facette der häuslichen Gewalt ein, der durch männliche ExPartner. So kommen die Autorinnen zu dem Ergebnis, dass das Risiko lesbischer Frauen, von einem männlichen Ex-Partner angegriffen zu werden, annähernd dreimal so hoch ist wie die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer weiblichen Partnerin zu werden (30,4 % vs. 11,4 %)18. Hinsichtlich des Ausmaßes physischer Gewalt in schwulen Partnerschaften kommt die University von Georgetown (2003)19 zu dem Ergebnis, dass von den befragten 2.881 homosexuellen Männern 20 % Gewalt durch ihren Partner erfahren haben. Auch wenn die beiden letztgenannten Studien den Schluss zulassen, dass die Prävalenz der physischen Gewalt in schwulen und in heterosexuellen Partnerschaften vergleichbar ist, während sie in lesbischen Partnerinnenschaften demgegenüber signifikant niedriger läge, wird in der gegenwärtigen Literatur zu Gewalt in lesbischen Beziehungen aufgrund der anderen aufgeführten Studien nach wie vor davon ausgegangen, dass die Prävalenz in allen drei Vergleichsgruppen in etwa gleich hoch ist. Da – wie bereits angeführt – die zitierten Untersuchungen den Fokus auf physische Übergriffe legen, erlauben sie keine Aussagen bezüglich des Vorkommens verbaler und/oder psychischer Gewalt. Auskunft zur Häufigkeit immaterieller Formen von Gewalt gibt beispielsweise die Studie von Lie/Schilit (1991)20. Die Autorinnen kommen zu dem 15 Gay and Lesbian Community Action Council, Minneapolis (MN) (1987): A survey of the Twin Cities gay and lesbian community: Northstar project. Unpublished paper. Zitiert in Elliott (1996), S. 3. 16 JoAnn Loulan (1987): Lesbian Passion. Zitiert in Renzetti (1992), S. 17. 17 P. Tjaden/N. Thoennes/C.J. Allison (1999): Comparing violence over the life span in samples of same-sex and opposite sex cohabitants. Violence and Victims 14, S. 413-425. 18 Zitiert in Mc Laughlin/Rozee 2001:41. 19 School of Nursing and Health Studies der Georgetown University (2003). Veröffentlicht auf der Webseite http://gumc.georgetown.edu/communi cations/releases/battered_01242003.htm. Stand: 24. Januar 2003. 20 G. Lie/R. Schilit/J.Bush/M. Montagne/L. Reyes (1991): Lesbians in currently aggressive relationships: How frequently do they report aggressive past relationships. Violence and Victims 11, S. 85-103. 53
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Schluss, dass von den 169 Befragten 26 % körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erlebt hätten. Werden psychischer Zwang und andere immaterielle Formen von Gewalt einbezogen, steigt der Anteil auf 73 %. Auch Renzetti (1992) kommt in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass von den 100 befragten lesbischen Frauen 87 % physische Misshandlungen und psychischen Missbrauch erlebt hatten, wobei psychische Formen von Gewalt häufiger auftauchten als physische Übergriffe. Zudem waren in 30 % der Fälle Kinder und in 38 % auch Haustiere betroffen. Das Lesbian Battering Intervention Project Survey21 (1990) in Minnesota wiederum gibt an, dass 76 % der befragten Lesben indirekte Androhungen von physischer Gewalt in ihrer Partnerschaft erlebt hätten. Die vorgestellten Studien sind jedoch, wie eingangs angemerkt, kritisch zu betrachten, da sie oftmals auf kleinen, nicht randomisierten Samples beruhen und regional begrenzt waren. Außerdem ist die Gruppe der weißen, aus der Mittelschicht stammenden und gebildeten Lesben, die ihren gleichgeschlechtlichen Lebensentwurf offen leben, überrepräsentiert (vgl. Kritik von West 2002). Einige Untersuchungen beruhen zudem auf klinischen Samples, die keine Rückschlüsse auf die ›alltäglichen‹ Facetten von Gewalt in lesbischen Beziehungen zulassen. Auch wird in den aufgeführten Untersuchungen nicht immer deutlich, ob sich der Erfahrungszeitraum auf die gegenwärtige Beziehung oder auch auf vorhergehende Partnerschaften bezieht. Des Weiteren bleibt häufig offen, ob die Teilnehmerinnen der Untersuchungen Gewalt ausgeübt und/ oder diese erlitten haben (vgl. McLaughlin/Rozee 2001). Die Kritik bezieht sich zudem auf die unterschiedlichen Messinstrumente, die keine direkte Vergleichbarkeit der Studien zulassen. Vielen Untersuchungen liegt die Annahme zugrunde, dass die Ausübung von Gewalt Teil eines (negativen) Konfliktverhaltens darstellt. Als Messinstrument wird daher u.a. die Conflict Tactic Scale herangezogen, die das Konfliktverhalten zwar summarisch analysiert, jedoch nicht – wie bereits dargestellt – zur Beschreibung der Dynamik einer gewalttätigen Beziehung geeignet ist (vgl. auch Poorman 2001; Kimmel 2002). Die vorliegenden Studien differenzieren daher auch nicht zwischen den unterschiedlichen Dynamiken und können folglich keinen Aufschluss darüber geben, wie hoch die jeweiligen Anteile beispielsweise von Misshandlungsbeziehungen und von aggressivem Konfliktverhalten an den gewalttätigen Partnerinnenschaften sind. Sieht man von den methodischen Problemen ab, kann zusammenfassend festgestellt werden, dass die meisten Studien eine mittlere Präva-
21 Lesbian Battering Intervention Project Survey, St. Paul (MN) (1990). Zitiert in Elliott (1996), S. 3. 54
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lenz von physischer Gewalt in lesbischen Beziehungen von 20 % bis 30 % angeben. Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass durchschnittlich in jeder vierten lesbischen Beziehung körperliche Formen von Gewalt ausgeübt werden. Auch nimmt der Grad der Viktimisierung zu, wenn psychische und verbale Übergriffe hinzukommen. Hier wird eine Prävalenz von bis zu 80 % angenommen. Den meisten Autorinnen zufolge ist das Ausmaß der Gewalt in lesbischen Beziehungen vergleichbar mit dem von häuslicher Gewalt in gegengeschlechtlichen Beziehungen (u.a. Renzetti 1992, West 2002). Auch ist kein Unterschied zu heterosexuellen gewalttätigen Partnerschaften hinsichtlich der Formen von Gewalt zu erkennen, da lesbische Frauen physische, psychische/verbale und sexualisierte Gewalt verüben (Elliott 1996). Jedoch lässt sich eine Tendenz hin zu einer stärkeren Ausübung immaterieller Formen von Gewalt ausmachen (Renzetti 1992; McLaughlin/Rozee 2001). Zudem gestaltet sich der zyklische Verlauf einer sog. »Misshandlungsbeziehung« analog zu heterosexuellen Partnerschaften (Ohms 1993; Elliott 1996).
Unterschiede zwischen Gewaltdynamiken in Liebes-beziehungen zwischen Frauen und gegengeschlechtlichen Partnerschaften Trotz dieser vorhandenen Vergleichbarkeit in Form und Verlauf mit heterosexuellen Misshandlungsbeziehungen werden in den angeführten Untersuchungen wesentliche Unterschiede zu diesen benannt. Die Differenzen betreffen zum einen die Beziehungs- und/oder Konfliktdynamik und zum anderen die Einbettung in den jeweiligen sozialen Kontext.
Gegenwehr So scheinen sich lesbische Frauen häufiger auch physisch gegen einen Übergriff durch die Partnerin zu wehren als heterosexuelle Frauen gegen ihren männlichen Intimpartner (Walker 1986; Hart 1986; Renzetti 1992; Margolies/Leeder 1995; Marujo/Kreger 1996). Allerdings unterscheiden nur die Studien von Renzetti (1992) und Marujo/Kreger (1996) zwischen unterschiedlichen Intentionen der Gegenwehr. So stellt Renzetti (1992) fest, dass sich von den 100 befragten lesbischen Frauen, die sich alle als Opfer definierten, 78 % gewehrt oder gerächt hätten. In 64 % der Fälle handelte es sich dabei um eindeutiges Abwehrverhalten, während 18 % es ihrer Partnerin mit gleicher Münze heimgezahlt haben. Weitere 5 % gaben an, sich später gerächt zu haben, indem sie beispielsweise ihre Partnerin geschlagen, oder ihr Sex vorenthalten haben (Renzetti 1992:110). Dagegen kommen Marujo/Kreger (1996) zu dem Schluss, 55
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dass von den 62 lesbischen Frauen, die sie im Rahmen ihrer Arbeit befragten, 34 % Formen von Gegenwehr zeigten, die nicht als Selbstverteidigung im eigentlichen Sinne begriffen werden konnten. Diese Frauen wiesen ein sich wiederholendes Muster von physischer und/oder psychischer Aggression als Reaktion auf das Verhalten ihrer Partnerin auf. Die Motivation dieser Form von Gegenwehr war Rache, Heimzahlen oder gar die Verletzung der Partnerin (Marujo/Kreger 1996:28). Von den 62 Frauen zeigten 39 % Merkmale, die heterosexuellen Opfern häuslicher Gewalt zugeschrieben wurden, und 27 % der lesbisch lebenden Frauen zeigten ähnliche psychologische Charakteristika auf wie heterosexuelle Täter.
Macht und Kontrolle als Ziel der Gewaltausübung Trotz des vergleichbar höheren Maßes an Gegenwehr oder Selbstverteidigung lässt sich nach Meinung einiger Autorinnen das Ziel der Gewaltausübung als Etablierung von Macht und Kontrolle beschreiben (Hart 1986:174; Renzetti 1992:38f; Elliott 1996:3). Die »Macht« steht hier jedoch aufgrund des nonkonformen sozialen Status lesbischer Frauen nicht in einem sozialpolitischen Kontext einer Normverlängerung. (Lesbische) Frauen können nicht mittels der Ausübung von Gewalt eine dominante gesellschaftliche Position verfestigen oder fortführen. Der Aspekt der Macht wird daher in der Literatur auch kontrovers diskutiert. So kommen weitere Autorinnen zu dem Schluss, dass andere Faktoren eine größere Rolle spielen, die entweder mit dem Status einer sozialen Minderheit in Zusammenhang stehen oder mit individuellen Merkmalen. Demgemäß führen beispielsweise Miller et al. (2001:110f.) internalisierte Homophobie an, während hingegen Poorman/Seelau (2001:101) Gewalt als Mittel der Kompensation individueller Defizite betonen. Auch Tigert (2001) grenzt Gewalt in lesbischen Beziehungen von häuslicher Gewalt in gegengeschlechtlichen Partnerschaften dahingehend ab, dass diese nicht nur über die Kriterien Macht und Kontrolle zu beschreiben sei. Vielmehr ginge es, wie eingangs dargestellt, auch um Homophobie, Heterosexismus und die Reproduktion von und Reaktion auf kulturelle Traumatisierungen (Tigert 2001:75).
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Psychosoziale Versorgung lesbischer Frauen Ein weiterer bedeutender Unterschied zu heterosexuellen Misshandlungsbeziehungen ist zudem in der psychosozialen Versorgung sowohl der Opfer als auch der Täterinnen gegeben (vgl. auch Renzetti 1996; Ohms/Müller 2001; Giorgio 2002). Während misshandelte heterosexuelle Frauen im Regelfall auf ein weit gespanntes Netz von Interventionsmaßnahmen zugreifen könnten, gälte dies nicht für lesbische Opfer häuslicher Gewalt. Diese träfen nach wie vor auf Unverständnis und sogar Ablehnung, was zu einer Reviktimisierung beitragen würde (Ohms/Müller 2001). In Deutschland zeichnet sich zudem hinsichtlich der psychosozialen Versorgung eine geschlechtsspezifische Ausrichtung dahingehend ab, dass viele frauenspezifische Einrichtungen vor allem opferorientierte Maßnahmen anbieten, während den wenigen männerspezifischen Einrichtungen die Arbeit mit den Tätern vorbehalten bleibt. Da sich diese geschlechtsspezifische Trennung im Falle von Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partner/innenschaften erübrigt, läge es in der Verantwortung lesben- oder schwulenspezifischer Einrichtungen, Angebote für sowohl Opfer als auch Täter/innen zu offerieren.
Kritik an der Geschlechtsspezifik dominierender Erklärungsansätze Die Literatur zu Gewalt in lesbischen Beziehungen ist geprägt von einem Diskurs der Abgrenzung und Kritik am dominierenden Ansatz der Analyse häuslicher Gewalt. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die darin festgeschriebene Geschlechtsmarkierung von Täter und Opfer. Die dominierenden feministischen Theorien sehen die Wurzeln häuslicher Gewalt vor allem in Sexismus und Misogynie. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist demnach ein Problem der sozialen Geschlechtlichkeit. Diese theoretische Ausgangsposition führt konsequenterweise zu folgenden Annahmen über Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen: Eine konsistente Schlussfolgerung ist beispielsweise, dass Gewalt in schwulen Beziehungen logisch sei, da Männer sozialisationsbedingt aggressiver seien als Frauen; lesbische Frauen müssten demgegenüber mit einem weitaus geringeren Maß an gewalttätigen Strukturen in ihren Partnerinnenschaften rechnen. Dem ist entgegenzuhalten, dass vorhandene psychologische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen derzeit noch von einer annähernd gleichen Prävalenz der Gewalt in schwulen resp. lesbischen Partnerschaften ausgehen. Eine weitere mögliche Schlussfolgerung aus der Geschlechtsmarkierung des Gewaltgeschehens ist, dass die Folgen der Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen nicht so 57
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schwerwiegend sind wie bei der Misshandlung einer Frau durch einen Mann. Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass die Schwere der Gewalt auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen mit der Dauer der Partnerschaft zunimmt – ebenso wie in gegengeschlechtlichen Partnerschaften (Renzetti 1992). Auch wird gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oftmals ein an herkömmlichen Geschlechterstereotypen orientiertes Verhalten unterstellt, wobei der »männlich« attribuierten Lesbe die Täterschaft und der »weiblich« attribuierten Lesbe die Opferschaft zugeordnet wird. Auch diese Schlussfolgerung sei zwar im Rahmen des dominierenden feministischen Denkmodells konsistent, jedoch irrig (Hart 1986; Strach/Jervey/Hornstein/Porat 1986; Ohms 1993).
Analyseansätze zu Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen Die Analyse der Gewalt in lesbischen Beziehungen befindet sich folglich in dem Dilemma, dass weder die vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Ansätze noch die angebotenen individual-psychologischen Erklärungsmuster sie hinreichend beschreiben können. In vielen der bereits zitierten Untersuchungen wird Gewalt in lesbischen Beziehungen primär als negatives Konfliktverhalten betrachtet, ohne dass eine Abgrenzung zu systematischen Misshandlungen erfolgt. Auch wenn einige Autorinnen zwischen einmaligen Vorfällen und Misshandlungen unterscheiden (Hart 1986; Renzetti 1992), verliert die Analyse mehrfacher Übergriffe hier ihre Trennschärfe, d.h. sie differenziert nicht mehr zwischen Konfliktverhalten und systematischen Misshandlungen. Werden die Gründe für die Gewalt in lesbischen Partnerschaften in beziehungsinternen Konflikten verortet, führt dies zu einer Analyse der möglichen Ursachen der Konflikte. Hierbei scheinen spezifische beziehungsinterne Themenfelder eine besondere Signifikanz für lesbische Partnerschaften zu haben, so beispielsweise der Konflikt um Autonomie versus Abhängigkeit (Renzetti 1992) oder Symbiose (Miller 2001). Auch stellt sich in diesem Kontext die Frage nach möglichen Suchtstrukturen, beispielsweise Alkohol- und/oder Drogenabhängigkeit (Renzetti 1992; Farley 1996). Ein individual-psychologischer Analyseansatz führt zu weiteren möglichen Einflussfaktoren, die in der Biographie und Persönlichkeit des Individuums verankert sind (Coleman 1994; Farley 1996; Sandfort 2001). Im Fokus stehen hier vor allem Akzentuierungen bis hin zu Störungen der Persönlichkeit, die dazu beitragen können, ein negatives Konfliktverhalten oder auch ein systematisches gewalttätiges Beziehungsmuster zu etablieren. 58
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Beziehungsinterne Konflikte Abhängigkeit und Autonomie Das betrifft besonders den möglichen Konflikt um Abhängigkeit und Autonomie, um Eifersucht und um andere Ursachen eines möglichen Machtungleichgewichts zwischen den Partnerinnen. Weitere Anknüpfungspunkte für Konflikte können aber auch subkulturelle Werte wie die »politische Korrektheit« sein. Renzetti (1992) kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit, dass diejenige, die sich abhängig fühlt, gewalttätig wird, umso höher ist, je stärker das eigene Gefühl von Abhängigkeit ist und je mehr die Partnerin versucht, unabhängig zu bleiben. Die Gewalt nimmt nach Renzetti (1992) an Schwere und Häufigkeit zu, je ausgeprägter dieses Spannungsverhältnis ist. Abhängigkeit führt zum Bedürfnis nach Kontrolle, die wiederum in einer starken Isolation der Partnerin mündet (Renzetti 1992:38f). Renzetti stellte weiter fest, dass häufiger noch als der Kampf um Abhängigkeit und Autonomie die Eifersucht Quelle von Konflikten ist. Dabei sieht Renzetti Eifersucht eng verknüpft mit Abhängigkeit oder sogar als mögliche Folge von dieser an. Eifersucht ist dabei auch stark sexuell konnotiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass je größer die empfundene Abhängigkeit und je größer die Eifersucht waren, desto häufiger und desto potentiell gefährlicher waren die Verletzungen (Renzetti 1992:56). Renzetti stellte auch ein deutliches Machtungleichgewicht zwischen den an der Studie teilnehmenden Lesben und ihren Partnerinnen/Misshandlerinnen fest: Die Opfer haben ihre Partnerinnen als dominanter und weniger nachgiebig als sich selbst beschrieben. Auch seien diese eher die »Nehmerinnen« als die »Geberinnen« in der Beziehung gewesen (Renzetti 1992:44). Bei schweren physischen Übergriffen tauchten allerdings häufiger weitere Indizien für ein vorhandenes Machtungleichgewicht auf, die auf eine vorhandene soziale Ungleichheit hinweisen – so die unterschiedliche Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, Unterschiede im Bildungsniveau und auch ökonomische Ungleichheit. Bei letzterer sei es jedoch irrelevant gewesen, ob die Täterin ein höheres oder niedrigeres Einkommen als das Opfer hatte (ebenda 1992:48). Auch in anderen Untersuchungen wird auf das Thema Abhängigkeit und Autonomie eingegangen. So stellte Farley (1996) fest, dass 54 % der Schwulen und 63 % der Lesben, die er anhand des DSM-III-R psychologisch bewertet hat, sich in ihren Beziehungen abhängig fühlen. Eine jüngere Studie (Poorman/Seelau 2001) wiederum beschreibt den Konflikt um Autonomie und Abhängigkeit aus einem anderen Blickwinkel. Grundlage der Untersuchung bildete die »Fundamental Interperso59
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nal Relations Orientation-Behaviour«-Skala (FIRO-B), die ein mit der »Conflict Tactics Scale« vergleichbares Messinstrument ist.22 Die Autorinnen kommen entgegen den Schlussfolgerungen von Renzetti und Farley zu dem Schluss, dass lesbische Misshandlerinnen eine höhere Wahrscheinlichkeit als der Durchschnitt aufweisen, sich bezüglich der sozialen Einbettung und der Nähe unwohl zu fühlen. Das bedeutet, dass lesbische Misshandlerinnen weniger soziale Kontakte hätten und in der Partnerschaft eine größere interpersonale, emotionale Distanz vorzögen (Poorman/Seelau 2001:97). Begründet wird dies mit der Angst vor möglicher Zurückweisung und der Befürchtung, als nicht liebenswert wahrgenommen zu werden (ebenda 2001:98). Hinsichtlich der Charakterisierung der Täterinnen entsprechen diese denen von Renzetti: So wiesen lesbische Misshandlerinnen verstärkt kontrollierende Verhaltensweisen auf und wollten im Vergleich zu ihren Partnerinnen die Beziehung eher dominieren als sich zurücknehmen bzw. unterordnen (ebenda 2001:98). Nach Poorman/Seelau (2001) dienen die gewalttätigen Übergriffe der Kontrolle der interpersonalen Nähe, um so die soziale Präferenz oder das Defizit an Inklusion und Intimität der Täterin auszugleichen. Diese Erklärung träfe eher zu als die Argumentationslinie, autoritäre Kontrolle etablieren zu wollen oder aber gar aus einer Idee der Herrschaft heraus, die Partnerin zu misshandeln (ebenda 2001:101).
Der Wunsch nach Einssein mit der Partnerin (Symbiose) Eine weitere Studie kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass Lesben mit einem höheren Bedürfnis nach Unabhängigkeit häufiger physische Gewalt und Aggression zur Konfliktlösung einsetzten (Miller 2001:118). Miller, an deren Untersuchung, die auf einem nicht klinisches Sample beruht, 284 lesbische Frauen teilgenommen haben, diskutiert bezüglich des Spannungsfeldes um Distanz und Nähe auch die Symbiose als extreme Form der Verschmelzung. In der Literatur wird immer wieder auf die Problematik der Symbiose in lesbischen Beziehungen hingewiesen (vgl. Burch 1987 u.a.). Miller stellt fest, dass Symbiosen lange als pathologisch galten, sich die Bewertungen jedoch inzwischen geändert hätten. Sie sei ein Mittel, die Integrität einer Beziehung gegenüber einer permanenten Bedrohung zu bewahren (Miller 2001:112). Problematisch sei allerdings, dass die Erwartungen an Ähnlichkeit und Gleichheit im Laufe der Beziehung zwangsläufig enttäuscht werden müssten. Die Differenz 22 Sie besteht aus 54 Items, anhand derer verschiedene Aspekte der Beziehungsdynamik gemessen werden sollten, so die verbalisierte und gewünschte soziale Einbettung, d.h. der Wunsch nach sozialen Kontakten, Kontrolle und Zuneigung. 60
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werde schließlich als Bedrohung wahrgenommen und führe zu Konflikten (ebenda 2001:112). Miller unterscheidet sich von den anderen Autorinnen dahingehend, dass sie das Spannungsfeld um Autonomie und Nähe nicht nur anhand der Interaktion der beiden Partnerinnen beschreibt, sondern auch die gesellschaftliche Position als bedeutendes Modulationselement hinzuzieht.
Sucht In den bereits vorgestellten und auch in anderen Untersuchungen wird weiteren potentiellen Einflussfaktoren nachgegangen, so beispielsweise dem möglichen Zusammenhang von Alkohol- und/oder Drogenmissbrauch mit der Ausübung von Gewalt. Die Ergebnisse sind auch hier nicht einheitlich. So konnte etwa Farley (1996) in seiner klinischen Studie keine Korrelation von Drogen- und/oder Alkoholmissbrauch und Misshandlungen feststellen. 60 % der gewalttätigen Schwulen und 55 % der gewalttätigen Lesben wiesen keinen Alkohol- und/oder Drogenmissbrauch auf. Allerdings zeigten die an der Studie teilnehmenden Lesben und Schwule viele andere zwanghafte Verhaltensweisen, wie beispielsweise Sexsucht und Esssucht (Farley 1996:37). Nach Farley stellt das Suchtverhalten eine Möglichkeit dar, wie Täter und Täterinnen mit ihren Unsicherheiten und ihrem geringen Selbstwertgefühl umgingen (ebenda:1996:41). Demgegenüber stellt Renzetti (1992) fest, dass Alkohol- und/oder Drogenmissbrauch in Verbindung mit dem Gefühl der Abhängigkeit und Eifersucht ausschlaggebend für die Schwere der Misshandlung ist. Zwei Drittel der von ihr befragten lesbischen Frauen haben angegeben, dass Alkohol in den Konflikten eine Rolle gespielte habe (Renzetti 1992:63). Es bestünde jedoch kein kausaler Zusammenhang zwischen dem übermäßigen Konsum von Alkohol und der Gewalthandlung, vielmehr sei dieser eine Möglichkeit, vorhandene Gefühle von Abhängigkeit zu kompensieren (ebenda 1992:65). Allerdings lässt sich nicht die Tatsache erklären, dass in 28 Fällen beide Frauen unter Alkoholeinfluss standen. Auch geben die aufgeführten Untersuchungen keinen Aufschluss darüber, ob und inwiefern der festgestellte Alkoholkonsum gewalttätiger lesbischer Frauen in Relation steht zu einem allgemein höheren Alkoholkonsum von Lesben, als ihn vergleichsweise heterosexuelle Frauen aufweisen (vgl. Nicoloff/Stiglitz 1987; Sandfort et al. 2001).
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Persönlichkeitsmerkmale Auf der individual-psychologischen Ebene werden noch weitere Einflussfaktoren benannt: So weisen nach Coleman (1994, zitiert in Poorman 2001) lesbische Täterinnen ähnliche Charakteristika auf wie Menschen mit Borderline und narzisstischen Persönlichkeitsauffälligkeiten. Auch die klinische Studie von Farley (1996:38) zeigt, dass 20 % der analysierten 119 schwulen Täter und 38 % der 169 lesbischen Täterinnen so genannte »Anpassungsstörungen« hatten. Zudem wiesen 33 % der Schwulen und 19 % der Lesben »Impulsstörungen« auf, ebenso hatten 13 % der Schwulen und 19 % der Lesben »Affektstörungen«. Weitere 7 % der Schwulen und 18 % der Lesben wiesen »Persönlichkeitsstörungen« auf (Farley 1996). Zu berücksichtigen sind hier jedoch zwei Aspekte: Zum einen handelt es sich hierbei um ein klinisches Sample und zum anderen belegt beispielsweise die Studie von Sandfort et al. (2001) ohnehin eine allgemein höhere Prävalenz von psychischen Störungen bei Lesben und Schwulen als bei heterosexuellen Frauen und Männern. Diese können nach Sandfort zum einen biologisch bedingt sein, jedoch sei in der Untersuchung auch sehr deutlich geworden, dass soziale Faktoren wie beispielsweise die Erfahrung von Stigmatisierung, Vorurteilen und Diskriminierung oder gar Einsamkeit einen starken Einfluss auf die psychische Gesundheit von Lesben und Schwulen hätten (Sandfort 2001:89). Inwiefern die Prävalenz psychischer Auffälligkeiten in einem kausalen Zusammenhang zu der Ausübung von Gewalt steht, können die aufgeführten Studien nicht hinreichend klären. Auch Poorman/Seelau (2001) kritisieren sowohl die Grundlage der Untersuchungen als auch deren Zielsetzungen, da diese darauf ausgerichtet waren, Pathologien zu erkennen. Sie stellen mögliche Generalisierungen in Frage und sind der Auffassung, dass die in diesen klinischen Studien erhobenen Täterprofile nicht auf die Mehrheit der lesbischen resp. schwulen Täter passten.
Gesellschaftspolitisches Erklärungsmodell: Verinnerlichte Homophobie Gegenüber diesen beiden Erklärungsmodellen stellen sozialwissenschaftlich orientierte Analyseansätze einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Einflussfaktoren und der Ausübung von Gewalt her. Als wesentliches Kriterium werden hier die gesellschaftliche Homophobie und deren Verinnerlichung durch Lesben und Schwule angeführt (Taylor/Chandler 1995; Balsam 2001; Byrne 2001). Verinnerlichte Homophobie ist nach Byrne (2001) ein negatives Selbstkonzept bezüglich 62
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der eigenen Homosexualität und negative Gefühle gegenüber dem, was man als Person ist. Sie sei das Resultat einer heterosexistischen Kultur und eines Wertesystems, das Lesben und Schwule vom Tage ihrer Geburt an angreife und herabsetze (Byrne 2001:110). Taylor/Chandler (1995) betrachten die verinnerlichte Homophobie als eine wesentliche Ursache für die Ausübung von Gewalt in der Partnerinnenschaft: »We are all affected by mainstream perceptions of ›the lesbian‹, and if we do not confront the stereotypes we may internalise damaging notions of what a lesbian is, leading to self-disgust, discomfort at the expression of our sexuality and guilt. If such a woman attempts to form a committed relationship, the guilt associated with her desire for sexual and social contact with other lesbians could become intensified and result in violence or self-abuse« (Taylor/Chandler 1995:51). Nach Balsam (2001) wiederum geht bei lesbischen Frauen die internalisierte Homophobie mit geringerer sozialer Unterstützung, Einsamkeit, geringerem Selbstwertgefühl und Depressionen einher. Eine Möglichkeit, die Auswirkungen von Homophobie auf Lesben zu konzeptualisieren, ist der so genannte Minoritätenstress: Dieser basiert auf den Folgen der Zuschreibung eines geringeren sozialen Status für bestimmte gesellschaftliche Gruppen, so beispielsweise lesbischen Frauen. Als externe Stressoren werden hier lesbenfeindlich motivierte Gewalt und Diskriminierung benannt, als internalisierte Stressoren wiederum Homophobie, emotionale Inhibition und schließlich das Verheimlichen des lesbischen Lebensentwurfes – und damit des Selbst. Das Zusammenwirken von traumatischen Gefühlen wie Schuld, Scham und Depression mit einem mangelnden Selbstwertgefühl, das aus einer homophoben Gesellschaft und der Erfahrung häuslicher Gewalt resultiert, führe dazu, dass viele Lesben Gewalt als eine logische Konsequenz ihrer lesbischen Lebensform betrachteten (Balsam 2001:31). Diejenige, die Gewalt in ihrer Partnerschaft ausübe, könne sich gleichzeitig als Opfer gesellschaftlicher Homophobie erleben. Die Beziehung werde dann zu dem Raum, in dem sie Macht und Kontrolle erfahren wolle – was sie letztlich aus ihrer Opferrolle entlasse (ebenda 2001:33). Auch Tigert (2001) kommt zu dem Schluss, dass es für Lesben, Schwule, Bisexuelle und transgender Menschen sehr schwer ist, sich in dieser Gesellschaft nicht als defizitär wahrzunehmen. Sie zeichnet eine enge Verknüpfung von internalisierter Homophobie und Scham, und rekurriert dabei auf eine Untersuchung von Nathenson (1992, zitiert in Tigert 2001:80). Demnach gibt es vier grundlegende Möglichkeiten, auf Scham zu reagieren, nämlich Rückzug, Vermeidung, Selbstverletzung und schließlich die Verletzung einer anderen Person. Die beiden letztgenannten Verhaltensmuster seien in der therapeutischen Behandlung von 63
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Opfern und Täterinnen häuslicher Gewalt von besonderer Bedeutung. So sei nicht auszuschließen, dass die Gewalt, die eine Frau ihrer Partnerin antut, letztlich gegen sich selbst gerichtet sei. Sie bestrafe sich für ihren Lebensentwurf, indem sie ihre Partnerin misshandelt. Eine analoge Argumentationslinie lässt sich auch bei Miller (2001) feststellen. Ihrer Auffassung nach führen die Entfremdung und Isolation durch internalisierte Homophobie und externe Unterdrückung zu dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. So sei Gewalt ein Mittel, Kontrolle zumindest über die Partnerin zu erhalten. In ihrer Untersuchung konnte sie feststellen, dass Lesben, die ein höheres Bedürfnis nach Kontrolle haben, häufiger Gewalt zur Konfliktlösung nutzten (Miller: 2001:117). Sie kommt zu dem Schluss, dass Misogynie und Homophobie eine größere Bedeutung in der Analyse der Gewalt in lesbischen Beziehungen haben als das Konzept der Macht (Miller 2001:110f).
Kontrolle als bedeutender Aspekt der Gewaltausübung Ein grundsätzlicher Konsens der unterschiedlichen theoretischen Ansätze besteht hinsichtlich des Aspekts der Kontrolle: Die Erlangung oder Aufrechterhaltung von Kontrolle wird als wesentliches Ziel der Gewaltausübung angesehen (Allen/Leventhal 1999). Die Ursachen für das Bedürfnis nach Kontrolle und deren Durchsetzung mittels Gewalt werden zum einen in intrapsychischen Merkmalen und zum anderen als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen. Während die sozialwissenschaftlich orientierten Theorien individuelle Verhaltensweisen als Folge gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse sehen, tendieren individual-psychologische Forschungsansätze dazu, diese als Ausdruck einer individuellen Auffälligkeit in der Persönlichkeit bis hin zu einer Pathologie zu beschreiben.
Synthese der Analyseansätze Merrill (1996) schlägt daher vor, häusliche Gewalt als ein soziales und psychologisches Phänomen zu betrachten, bei dem das soziale Geschlecht einen Einflussfaktor neben anderen darstellt. Er bezieht sich dabei auf Zemsky (1990)23, die drei Kategorien von Ursachen für häusliche Gewalt aufstellt, nämlich (1) erlerntes Verhalten, (2) Gelegenheit und (3) Entscheidung. Häusliche Gewalt sei demnach entweder durch intergenerationale Transmission vermittelt oder aufgrund ihres Erfolges 23 Beth Zemsky (1990): Lesbian battering: Considerations for intervention. Zitiert in Gregory Merrill: Ruling the exceptions. In: Charles Harvey Miley/Claire Renzetti (1996): Violence in same-sex partnerships, S. 14. 64
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in das Verhaltensrepertoire aufgenommen worden. Die Gelegenheit ergebe sich aus der weitgehenden Sanktionslosigkeit der Handlung. Zudem sei die Ausübung von Gewalt eine bewusste Entscheidung, auch wenn dies von den Täterinnen oftmals nicht so wahrgenommen werden würden. Dennoch hätten sie die Fähigkeit, auch eine andere Entscheidung zu treffen. Nach Merrill (1996) sind individuelle Verhaltensweisen internalisiert und durch gesellschaftliche Wertvorstellungen geformt. Das soziale Umfeld, besonders das Machtverhältnis und die Möglichkeit von Konsequenzen für das Handeln, beeinflusst das Verhalten einer potentiellen Täterin (Merrill 1996:16). Jedoch sei auch die subjektive Wahrnehmung der Täterin bezüglich eines möglichen Machtungleichgewichts oder auch ihre Einschätzung, welche Konsequenzen ihr Verhalten haben könnte, von besonderer Bedeutung (ebenda 1996:16). Als weiterer gesellschaftlicher Einflussfaktor hinsichtlich der Gewaltdynamik wird daher auch die psychosoziale Versorgung, vor allem die Intervention und Tertiärprävention, der betroffenen lesbischen Frauen diskutiert (Renzetti 1996; Ohms/Müller 2001; Giorgio 2002). So stellten Renzetti (1996) und Ohms/Müller (2001) fest, dass es hinsichtlich der Zugänglichkeit potentieller Hilfseinrichtungen für lesbische Frauen große Diskrepanzen gibt zwischen der von den Einrichtungen proklamierten Offenheit und den angetroffenen Realitäten. Renzetti stellte fest, dass nur 25,8 % der möglichen Anlaufstellen zielgruppenspezifische Öffentlichkeitsarbeit leisten (Renzetti 1996:64). Auch Ohms/ Müller, die die Antworten von 532 Einrichtungen in drei europäischen Ländern ausgewertet haben, kommen zu vergleichbaren Ergebnissen: So würde keine in Deutschland angesiedelte Opferhilfe gezielt Lesben als Gewaltopfer ansprechen (Ohms/Müller 2001:38), während dies immerhin 12 % der Familienberatungseinrichtungen (ebenda 2001:49) und 14 % der Frauenhäuser täten (ebenda 2001:59). In Deutschland wiesen immerhin 56 % der Frauenberatungsstellen und der Frauennotrufe Unterstützungsangebote für lesbische Frauen auf (ebenda 2001:54). Dennoch sei die fachliche Kompetenz zu hinterfragen, da einige Einrichtungen der Auffassung seien, es genüge, wenn eine offen lebende lesbische Frau in der Einrichtung arbeite, um Offenheit gegenüber dieser Zielgruppe zu signalisieren. Ohms/Müller kritisierten zudem, dass dann vor allem diese Mitarbeiterin für lesbische Klientinnen zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob sie kompetent sei oder dafür überhaupt zuständig sein wolle. Viele Beratungseinrichtungen wie beispielsweise die Mehrheit der Familienberatungsstellen sahen zudem keine Anknüpfungspunkte zu lesbischen Frauen. Auch werde das Thema »Homosexualität« nur sehr selten in der Ausbildung beispielsweise von Sozialpädagogen/innen oder Sozialarbeiter/innen aufgegriffen und die Mitarbei65
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ter und Mitarbeiterinnen seien vielerorts auf Fortbildungen angewiesen. Da diese jedoch nur selten genutzt würden, sei die Aneignung fachlicher Kompetenz nicht gegeben (ebenda 2001:61). Auch gebe es nach Renzetti (1996) eine Diskrepanz zwischen geleisteter Öffentlichkeitsarbeit und vorhandenen spezifischen Angeboten für lesbische Gewaltopfer. Diese wiesen nur 9,7 % der befragten 544 Einrichtungen auf. Der Entschluss, eine gewalttätige Beziehung zu verlassen, wird auch durch das Wissen um mögliche Wege aus der Beziehung befördert. Nach Giorgio (2002) ist der Diskurs um Gewalt in lesbischen Beziehungen vor allem ein Diskurs um das Schweigen darüber. Viele lesbische Opfer häuslicher Gewalt schwiegen über die erfahrene Gewalt u.a. als Reaktion auf gesellschaftliche Stigmatisierung, aber auch weil sie nur unzureichende psychosoziale Unterstützung erhielten. So wüssten beispielsweise einige Rechtsanwältinnen nicht, ob die rechtlichen Bestimmungen auch auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften zuträfen. In einigen Anlaufstellen, wie beispielsweise den Notruftelefonen (Frauennotrufe), würden lesbische Opfer als »Sonderfälle« betrachtet und ihnen daher die regulären Möglichkeiten einer Krisenintervention vorenthalten (Giorgio 2002:1240).
Lesbische Täterinnen häuslicher Gewalt Mit wenigen Ausnahmen liegt den meisten Analysen von Gewalt in lesbischen Beziehungen eine Opferperspektive zugrunde, d.h. die Beschreibung und Charakterisierung der Täterinnen geschieht mittels der Wahrnehmungen der Opfer (Brand/Kidd 1986; Kelly/Warshafski 1987; Bologna/Waterman/Dawson 1987; Renzetti 1992 u.a.). Es gibt nur wenige Untersuchungen, die sich dezidiert auf lesbische Misshandlerinnen beziehen. So sehen beispielsweise Margolies/Leeder (1995), die anhand ihrer Arbeit mit 30 lesbischen Täterinnen ein psychologisches Profil erstellt haben, ebenfalls Homophobie und internalisierte Homophobie als signifikante Risikofaktoren bei der Ausübung und Aufrechterhaltung häuslicher Gewalt an. Zudem bestünde eine Korrelation mit der Erfahrung von Misshandlungen in der Kindheit, wobei eine Überlebensstrategie die Identifikation mit dem Aggressor sei (Margolies/Leeder 1995: 141). So wiesen alle 30 Täterinnen eine Geschichte von Misshandlungen oder Missbrauch in der Familie auf. Auch zeigten lesbische Täterinnen ein hohes Maß an Empathie für ihre Partnerinnen hinsichtlich erlebter Misshandlungen in deren Kindheit. Sie schämten sich dafür, zu den Gewalterfahrungen beigetragen zu haben. Dennoch glaubten sie, sie hätten in der Situation keine andere Wahl gehabt. Margolies/Leeder konnten ebenfalls keinen direkten Zusammenhang von Gewalt und Drogen- bzw. 66
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Alkoholmissbrauch feststellen (ebenda 1995:141). Der Zorn, der mit der Gewaltausübung einhergegangen sei, sei vergleichbar mit einem Adrenalinschub und die Täterinnen hätten sich in dem Moment der Gewaltausübung gut gefühlt. Dennoch habe keine bewusst den Konflikt provoziert, um dieses drogenähnliche Stimmungshoch zu erzeugen. Dieser Aspekt ist für Margolies/Leeder (1995) bedeutsam für die Unterscheidung von Täterinnen und Opfern, wobei letztere zwar in den Konflikten auch physisch involviert sein könnten, jedoch primär Gefühle von Angst hätten (ebenda 1995:142). Des Weiteren verstünden es nach Margolies/Leeder lesbische Täterinnen auch, ein positives Selbstbild nach außen zu projizieren. Dennoch würden sie ein geringes Selbstwertgefühl aufweisen. Die äußere, teilweise exaltierte Selbstdarstellung würde die Selbstwahrnehmung von Schwäche, Machtlosigkeit und Verletzbarkeit verdecken. Nach Wahrnehmung der Täterinnen sei ihr fragiles Selbst jedoch offen sichtbar und ihre Partnerinnen würden absichtlich darauf »herumtrampeln«. Tatsächlich zeigte sich aber, dass das geringe Selbstwertgefühl der Täterinnen eher ein bedeutender Grund für ihre Partnerinnen darstellte, in der Beziehung zu verbleiben. Auch hätten die Täterinnen Schwierigkeiten, sich auszudrücken und hätten eine starke Neigung zu dichotomen Sichtweisen und Gefühlen. Als weitere Einflussfaktoren werden die Sehnsucht nach Verschmelzung und Abhängigkeit aufgeführt. So sei gerade das Gefühl von Abhängigkeit eine Ursache für Wut. Die Ausübung von Gewalt stellt einen Mechanismus dar, um Nähe und Distanz in der Partnerschaft zu regulieren. Gleichzeitig hätten die Täterinnen eine chronische Angst vor dem Verlassenwerden und vor Verlust. Die Gewalt diente dann dazu, die Partnerin physisch und psychisch in der Beziehung zu halten. Auch seien sie nicht fähig, ihre Gefühle in einer anderen und konstruktiveren Art auszudrücken. Die Beziehungsdynamik wird von Margolies/Leeder (1995) als verstrickt und isoliert beschrieben. Sie konstatierten ebenfalls ein hohes Maß an Gegenwehr, wobei allerdings auch die Partnerin physische Gewalt initiieren könne. Dies sei jedoch als antizipatorische Selbstverteidigung zu bewerten. Eine jüngere Studie, die auf einem Sample von 15 Frauen beruht, kommt hinsichtlich einzelner Aspekte zu anderen Schlüssen (Poorman/Seelau 2001). Lesbische Täterinnen hätten demnach weniger soziale Kontakte und zögen in ihrer Partnerschaft eine größere interpersonale Distanz vor. Auch bewahrten sie eine größere emotionale Distanz ähnlich wie bei formalisierten Beziehungen und hätten Schwierigkeiten, Zuneigung und Zärtlichkeit auszudrücken (ebenda 2001:88). Des Weiteren würden lesbische Misshandlerinnen ein stärkeres Bedürfnis nach Kontrolle aufweisen als ihre Partnerinnen. Diese Faktoren führten zu ei67
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ner spezifischen Beziehungsdynamik: Demnach rationalisierten Lesben die Misshandlung als einen Mechanismus, aufgrund ihrer diskriminierenden Erfahrungen ein Gefühl von Selbstkontrolle zu erhalten, das ihrer Meinung nach auch jedem Menschen zustehe. Die Misshandlung führe jedoch auch zu einer größeren interpersonalen Distanz, als ihnen lieb sei. Daraus ergebe sich ein zyklischer Verlauf, der dazu dient, die wahrgenommenen Gefühle von Nähe und Distanz der Partnerin zu kontrollieren. Die Misshandlungen stellten demnach ein Mittel dar, interpersonale Nähe zu kontrollieren, um die soziale Präferenz oder das Defizit an Inklusion und Intimität seitens der Täterin zu kompensieren (ebenda 2001:101). Daher seien therapeutische Ansätze, die auf eine verbesserte Impulskontrolle oder auf Wut-Management abzielten, ebenso wenig geeignet wie verhaltenstherapeutische Ansätze, um eine langfristige Änderung zu bewirken.
Sexualisierte Gewalt in lesbischen Beziehungen Im Folgenden wird auf einen besonderen Aspekt der Gewalt in lesbischen Beziehungen eingegangen, die sexualisierte Gewalt. Ihre Thematisierung berührt ein ›Tabu im Tabu‹: Sexualisierte Gewalt gilt als rein männliche Domäne und wird als spezifische Form der Gewalt von Männern an Frauen betrachtet. Die Thematisierung sexualisierter Gewalt durch Frauen, sei es ihre (Mit-)Täterschaft bei sexuellem Missbrauch, bei sexualisierter Gewalt bei der ersten Verabredung (›date rape‹) oder in der Partnerschaft findet nur in wenigen Arbeiten statt. Im Kontext der sexualisierten Gewalt in lesbischen Beziehungen wurden vor allem in den 1980er bis Mitte der 1990er Jahre in der feministisch geprägten Literatur nur sadomasochistische Sexualpraktiken problematisiert und als eine Form von Gewalt charakterisiert (Knollenberg/Douville 1986; Farley 1993; Jo/Strega/Ruston 1993). Die wesentlichen Argumentationslinien betrafen die Diskussion, ob das Spiel mit Formen von Herrschaft und Unterordnung in einem sexuellen Setting eine Fortführung patriarchaler, sexualisierter Gewalt gegen Frauen darstelle und ob die beiderseitige Einvernehmlichkeit vor dem Hintergrund einer sexistischen Gesellschaft tatsächlich gegeben sein könne. Auffällig sei zudem, dass es weitaus mehr lesbische Frauen gebe, die sich Schmerzen zufügen lassen wollten, als Lesben, die Schmerzen zufügten. So schätzt Farley (1993) das Verhältnis der »Bottoms« zu den »Tops« auf zehn zu eins (Farley 1993:34). Sadomasochistische Sexualpraktiken wurden als lesbenfeindlich und heterosexistisch charakterisiert. Allerdings hat sich inzwischen eine Position durchgesetzt, sadomasochistische Sexualpraktiken nicht als eine Form sexualisierter Gewalt 68
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zu betrachten, sondern als eine weitere sexuelle Variante. Nach Margulies (1999) ist in der Debatte um sadomasochistische Sexualpraktiken der Konsens das ausschlaggebende Kriterium: S/M sei demnach eine »conscious, consensual activity« – und keine Form des Missbrauchs (Margulies 1999138). Auch spielten sich sadomasochistische Sexualpraktiken in einem begrenzten, vorher konsensual definierten Setting ab (ebenda 1999:138). Demgegenüber seien Misshandlungen weder konsensual, noch auf einen bestimmten Kontext begrenzt. Hinsichtlich des Konsenses bei sadomasochistischen Praktiken kann ergänzend angemerkt werden, dass Frauen letztendlich ihres Statu’ als handlungsfähige Subjekte enthoben werden, wenn ihnen die Fähigkeit abgesprochen wird, ihren freien Willen auszudrücken und so die Einvernehmlichkeit an sich in Frage gestellt wird. Nach Ristock (2001) und Girshik (2002b) muss zudem zwischen Gewalt und Sadomasochismus unterschieden werden, um lesbischen Frauen, die Gewalt in einem S/M-Setting erlebt haben, die notwendige Hilfe und Unterstützung anbieten zu können. Gewalt liege beispielsweise dann vor, wenn sich eine Sexualpartnerin nicht an das vorher abgesprochene Setting halte und dadurch der Konsens gebrochen werde. Ein Großteil der sexualisierten Gewalt von Frauen an Frauen findet im Kontext einer Misshandlungsbeziehung statt (Girshik 2002b:1502). Anhand der aufgeführten Untersuchungen zu Gewalt in lesbischen Beziehungen lässt sich eine Prävalenz sexualisierter Gewalt von zwischen 7 % bis ca. 48 % feststellen, wobei diese von Zwang zu Sex, erzwungenem Küssen über unerwünschtes Anfassen der Brust oder der Genitalien bis hin zur erzwungenen oralen, analen oder vaginalen Penetration reicht. So kam beispielsweise Renzetti (1992) zu dem Ergebnis, dass 48 % der misshandelten Frauen von ihrer Partnerin auch zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden. Waterman/Dawson/Bologna (1989) wiederum kommen zu dem Schluss, dass 31 % der befragten Lesben durch eine andere Lesbe sexuell missbraucht worden seien. Allerdings geht nicht daraus hervor, ob dies im Zusammenhang einer gewalttätigen Beziehung stand. Auch in der Studie von Loulan (1987) sagten 17 % der befragten lesbischen Frauen, dass sie in ihrer Partnerinnenschaft sexuell missbraucht worden seien. In der Untersuchung von Brand/Kidd (1986) antworteten 7 % der befragten Lesben, dass sie von ihrer Partnerin vergewaltigt worden seien.
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Fazit Die Analyseansätze in den vorgestellten Untersuchungen zu dem Problem der Gewalt in lesbischen Beziehungen lassen sich in drei Kategorien unterteilen: individual-psychologische Erklärungsmodelle, gesellschaftliche Analyseansätze und schließlich die Synthese beider Herangehensweisen. Dabei wird von einigen Autorinnen die gesellschaftliche Einbettung in ein System von Sexismus und Frauenfeindlichkeit kritisch hinterfragt, da die Gewalt in lesbischen Beziehungen nicht als Fortführung eines männliche Herrschaftsanspruches beschrieben werden könne. Alternativ werden hier die potentiellen Auswirkungen von Homophobie und internalisierter Homophobie diskutiert. Ob diese allerdings als Aspekt von Sexismus oder als Teil eines Herrschaftssystems betrachtet werden muss, bleibt offen. Zudem greift auch ein individual-psychologischer Ansatz zu kurz, da hier die ausgegrenzte gesellschaftliche Position lesbischer Frauen ausgeblendet wird. Diese wird aber als ein bedeutendes Modulationselement lesbischer Intimpartnerschaften betrachtet. Daher ist es notwendig, sozialwissenschaftliche und individualpsychologische Ansätze zu verbinden, um adäquate Erklärungsmodelle erstellen zu können. Neben der Darstellung möglicher Risikofaktoren, die ein Gewalthandeln begünstigen, stellt sich als bedeutendes Problem die Bestimmung von Täterin und Opfer heraus. So sind die Gewaltdynamiken von einem hohen Maß an Gegenwehr geprägt, wodurch ein Bild gegenseitiger Misshandlungen entstehen kann. Zudem liegt keine Geschlechtsmarkierung vor, was die Zuordnung ebenfalls erschwert. Als alternative Kriterien werden z.B. das Vorhandensein von Angst (Hamberger/Guse 2002; Margolies/Leeder 1995) oder die Ausübung von Definitionsmacht (Giorgio 2002) herangezogen. Eine Zuordnung der Täterschaft über die Initiierung von Gewalt wird als nicht ausreichend kritisiert, da lesbische Frauen Gewalt auch antizipierten und daher diese möglicherweise auch initiierten (Margolies/Leeder 1995). Die hier vorgestellten Studien differenzieren nur selten zwischen systematischen Misshandlungsbeziehungen und aggressiven Konfliktlösungsmechanismen. Viele der den Untersuchungen zugrunde liegenden Messinstrumente wie beispielsweise die Conflict Tactics Scale oder die FIRO-B sind vor allem geeignet, um Konfliktverhalten zu beschreiben, jedoch nicht systematische Misshandlungen. Zudem basieren die zahlreichen psychologischen Studien auf klinischen Samples, die keinesfalls auf alltägliche Gewaltverhältnisse übertragen werden können. Es zeigt sich, dass die angloamerikanischen Forschungen zu Gewalt in lesbischen Intimpartnerschaften sehr uneinheitlich sind und der derzeitige Status quo als ›Phase der Diskussion‹ beschrieben werden muss. 70
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Auffallend ist zudem, dass diese Diskussionen in Europa resp. Deutschland, vergleichsweise wenig stattfinden. Ob und inwiefern die Ergebnisse der angloamerikanischen Studien auch die Gewaltdynamiken von Liebesbeziehungen zwischen Frauen und die Lebenssituation lesbischer Frauen in Deutschland hinreichend zu beschreiben vermögen, ist bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge noch offen.
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Sozialpolitischer Hintergrund Seit dem Jahr 2000 vernetzen sich die Gewaltpräventionsprojekte der lesbischen Fachberatungsstellen und einige wenige ›Lesbentelefone‹'1 bundesweit, mit dem Ziel, eine Standardisierung der Datenerhebung und eine Optimierung der Beratungsarbeit zu den Phänomenbereichen der Gewalt gegen lesbische Frauen und der Gewalt in lesbischen Partnerschaften zu erreichen. In diesem Zusammenhang wurden erstmals in Deutschland die Beratungen zu Gewalt gegen Lesben und zu häuslicher Gewalt in lesbischen Partnerschaften bundeseinheitlich dokumentiert und ausgewertet (Ohms 2006). Dabei wurde deutlich, dass das Beratungsaufkommen in beiden Fällen gleich hoch ist und daher auch die Gewaltprävention im Fall der häuslichen Gewalt einen gleichwertigen Stellenwert einnehmen muss. Während lesbenfeindliche Gewalt jedoch nicht tabuisiert ist, wird die Gewalt in lesbischen Beziehungen in den lesbischen Subkulturen verschwiegen und verharmlost. In der Praxis bedeutet das, dass sich von Gewalt in ihrer Partnerschaft betroffene lesbische Frauen nur selten an eine Fachberatungsstelle wenden. Eine erste Anlaufstelle stellt in diesen Fällen häufig der Freundinnenkreis dar, der allerdings mit dieser Problemlage oftmals überfordert ist (Ohms 2006: 52). Wendet sich schließlich eine lesbische Frau an eine Fachberatungsstelle, ist es auf den ersten Blick meist diejenige, die von der Gewalt betroffen ist. Die Praxis zeigt jedoch auch, dass Frauen, die Gewalt ausü-
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Lesbentelefone arbeiten in der Regel auf einer ehrenamtlichen Basis und weisen vielfältige Beratungsangebote auf, die von Hinweisen auf Veranstaltungen bis hin zur Beratung bei Gewalterfahrungen reichen. 73
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ben, sich selbst als Opfer wahrnehmen und dementsprechend eine ›Opferberatung‹ wünschen oder aber die Partnerinnen derart mit einander verwoben sind, dass eine eindeutige Zuordnung von Täterin und Opfer nicht möglich erscheint. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es in Deutschland aber keine Untersuchung, die diese Erfahrung aufgreift und systematisiert. Grundlage der Untersuchung sind 20 qualitative Interviews, die in den Jahren 2002 und 2003 in Deutschland durchgeführt wurden. Die Interviews dauerten durchschnittlich zweieinhalb Stunden. Nach dem Interview konnten die Interviewpartnerinnen einen ergänzenden Erhebungsbogen ausfüllen, der sowohl die eigene verübte Gewalt als auch die der Partnerin umfasst. Diese Angaben dienten vor allem als Anhaltspunkt für die Glaubhaftigkeit des Erzählten und gehen nicht weiter in die Untersuchung ein. Sofern möglich, fanden die Interviews in den Beratungsräumen der lesbischen Fachberatungseinrichtung vor Ort statt. Zwar liegen bei den Interviewpartnerinnen eine breite Altersstruktur, unterschiedliche Bildungsniveaus und verschiedene kulturelle Hintergründe vor, jedoch konnten lesbische Frauen im ländlichen Raum nicht erreicht werden. Einige der interviewten Frauen haben zuvor zwar im ländlichen Raum gelebt, wohnten aber zum Zeitpunkt des Interviews in einer Großstadt oder deren näheren Umgebung. Auch konnten lesbische Partnerschaften, in denen beide Frauen einen Migrationshintergrund aufweisen, nicht erfasst werden. Desgleichen gilt schließlich für Partnerschaften, in denen eine der Partnerinnen eine körperliche oder geistige Behinderung hat.
Ziele Zentrales Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist die Darstellung gewalttätiger Beziehungsdynamiken lesbischer Intimpartnerschaften. Dabei stehen sowohl der Prozess der Gewalt als auch die Frage, wie die Interviewte sich und ihre Partnerin in diesem Prozess wahrgenommen hat, im Mittelpunkt meines Interesses. Von besonderer Bedeutung sind hier die bewussten – und vor allem unbewussten – Wünsche und Hoffnungen, die die Interviewten an die Beziehung und ihre Partnerin haben. Auch gilt mein Augenmerk der Frage, in welchem möglichen Zusammenhang die Wünsche und Hoffnungen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stehen. Diesen Überlegungen geht die Annahme voraus, dass menschliches Handeln sinnhaft ist, wobei der Sinn dem/der Leser/in auf den ersten Blick nicht unbedingt zugänglich ist. Des Weiteren gehe ich davon aus, 74
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dass die Gewaltausübung der lesbischen Frauen im Regelfall nicht auf eine organische Krankheit2 zurückgeführt werden kann und mögliche Auffälligkeiten in den Persönlichkeiten nicht notwendigerweise einen ›Krankheitswert‹ besitzen. Auch ist die Untersuchung von Überlegungen der neueren Bindungstheorien beeinflusst, die darauf hinweisen, dass (früh)kindliche Erfahrungen in den Lebensgeschichten das Bindungsverhalten bei Paarbeziehungen im Erwachsenenalter beeinflussen können (Bretherton 2001:69f). Daher bildet die Rekonstruktion der Lebensgeschichten der interviewten Frauen einen zentralen Aspekt dieser Untersuchung. Die wesentlichen Annahmen der Bindungstheorien werden nachfolgend kurz skizziert: Demnach gibt es fünf Bindungsmodelle, die sich auch in Paarbeziehungen wiederfinden: Nach Gloger-Tippelt (2001:114f) weisen »Personen mit guter, lebhafter Erinnerung an Kindheitserfahrungen, die offen frei auch über widersprüchliche und unangenehme Gefühle zu ihren Bezugspersonen sprechen können«, ein »autonomes, sicheres Bindungsmodell« auf. Personen, die »wenige, keine oder nur vage Erinnerungen an Beziehungen in der Kindheit haben und trotz der Erfahrung von Zurückweisung häufig idealisierte Elternbilder darstellen […] oder Bindung insgesamt abwerten«, haben ein »unsicherdistanzierendes Bindungsmodell«. Diese Menschen tendieren dazu, negative Erfahrungen zu verharmlosen und eigene Stärken und die eigene Unabhängigkeit zu betonen. Ein »präokkupiertes, verwickeltes Bindungsmodell« weisen Personen auf, die als Erwachsene »immer noch emotionale Verwicklungen mit den Bezugspersonen aus ihrer Kindheit« aufweisen. Diese Menschen zeigen »entweder immer noch Ärger, wenn sie über die Erfahrungen mit ihren Eltern« sprechen oder sind ihren negativen Kindheitserfahrungen hilflos und passiv ausgesetzt, »ohne ihr Selbst abgrenzen zu können« (Gloger-Tippelt 2001:115). Eine weitere Kategorie ist nach Gloger-Tippelt der »unverarbeitete Bindungsstatus«, der auf frühen Verlusten von Bindungspersonen oder Traumata beruht. Schließlich gibt es noch eine Gruppe, die nicht eindeutig klassifiziert werden könne und in der sowohl »ausgeprägte bindungsabweisende als auch verwickelte Anteile« enthalten seien. Forschungsergebnisse in der Bindungstheorie weisen zudem darauf hin, dass – zumindest bei hetero-
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Der BGH definiert Krankheit als »jede Störung der normalen Beschaffenheit oder der normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt, d.h. beseitigt oder gelindert werden kann«. BGH, 21.März 1958. Als psychische Störung wiederum werden »erhebliche Abweichungen« vom Erleben oder Verhalten (psychisch) gesunder Menschen verstanden. Diese werden im International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) klassifiziert. Die aktuelle Version ist das ICD-10 und wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegeben. 75
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sexuellen Partnerschaften – Menschen mit einem sicheren und Menschen mit einem unverarbeiteten Bindungsstatus eher zusammenleben, als dass sich hier ›Mischformen‹ zeigten (Hofmann 2001:147). Mit den jeweiligen Bindungsmodellen verknüpft sind bewusste und unbewusste Wünsche und Hoffnungen an die Partnerschaft, die das Beziehungsleben gestalten und deren Enttäuschung möglicherweise ein gewalttätiges Handeln befördert. Die hier dargestellten Theorien zu Bindungen im Erwachsenenalter lenken gerade bei dem Phänomen der Gewalt in der Partnerschaft den Blick auf die bewussten und unbewussten Erwartungen und Hoffnungen an eine Partnerschaft, wobei die Art der Bindung im Rahmen der Bindungstheorie vor allem auf Erfahrungen in der Kindheit zurückgeführt wird. Lesbische Partnerschaften lassen sich – ebenso wie die Beziehungen anderer sozialer Minderheiten – jedoch nicht ohne den gesellschaftlichen Kontext beschreiben, der einen großen Einfluss auf das Bindungsverhalten haben kann. Da lesbische Frauen in einer Gesellschaft leben, die der gleichgeschlechtlichen Lebensweise eher ablehnend gegenübersteht, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen das »physische, geistige und soziale Wohlbefinden«3 einer lesbischen Frau, aber auch deren Partnerschaft, negativ beeinflussen. Eine der lesbischen Lebensweise gegenüber negativ eingestellte Gesellschaft erschwert es den Frauen nicht nur, ihre lesbische psychosexuelle Identität positiv zu besetzen, sondern belastet auch die Partnerschaft in besonderem Maß. Diese wird nicht nur als persönliche Verwirklichung, sondern auch als ›Schutzraum‹ vor einem homophoben Umfeld betrachtet. Zugleich kann die Abwehr eines homophoben Umfeldes auch die Partnerschaft stärken, da sich beide Frauen gemeinsam einem ›feindlichen‹ Äußeren ausgesetzt sehen und durch dessen Gegenwehr die Beziehung nach innen stabilisiert wird. Die ›kollektive Opfererfahrung‹ lesbischer Frauen und deren vermeintliche gemeinsame biologische (sex) und soziale (gender) Geschlechtlichkeit kann aber auch dazu führen, dass Unterschiede zwischen den Partnerinnen verdeckt werden und die Partnerschaft verstärkt als ›Einheit‹ wahrgenommen wird. Das ›Einssein‹ kann sich dann als brüchig erweisen, wenn eine der Partnerinnen Grenzen setzt oder aber die Bedrohung von außen wegfällt. Des Weiteren lässt sich eine Partnerschaft ebenso wie andere soziale Beziehungen als interaktiver Prozess beschreiben, wobei von mir unter Interaktion ein aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen verstanden wird. Dieses Handeln kann verbal oder nonverbal
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Die WHO bezeichnet ›Gesundheit‹ als »a state of complete physical, mental and social well-being«.
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erfolgen und ist sowohl von bewussten als auch unbewussten Prozessen begleitet. Nach Flaake (2000:169) drängt »Unbewusstes […] immer wieder ein in aktuelles Verhalten und Handeln und prägt es im Sinne einer ›Wiederkehr des Verdrängten‹«. Die Betrachtung einer Partnerschaft als Interaktion führt zu der Annahme, dass sich gewalttätige Muster in Beziehungen durch das Agieren beider Partnerinnen etablieren. Ziel der Untersuchung ist daher auch, unterschiedliche Interaktionsmuster aufzudecken, die mit bestimmten gewalttätigen Dynamiken einhergehen. Aus den hier skizzierten Erkenntnissen im Vorfeld wurden für die vorliegende Untersuchung folgende Leitfragen entwickelt, die sich in vier Fragenkomplexe gliedern lassen. Diese beziehen sich auf den Prozess der Gewalt an sich, auf die Motivation, auf den Umgang der Partnerinnen mit dem Gewalterleben und schließlich auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wie entwickelt sich eine gewalttätige Beziehungsdynamik und welcher Art ist sie? Gibt es eindeutige Kriterien, die eine Unterscheidung zwischen den Gewaltdynamiken ermöglichen? Wie sieht sich die Gewalt ausübende Partnerin in diesem Prozess und wie sieht sie ihre Partnerin? Wie sind die Partnerinnen an und in die gewalttätigen Beziehungsstrukturen gebunden? Aus welcher Interaktion ergibt sich welche Gewaltdynamik? Welche Risikofaktoren begünstigen ein gewalttätiges Handeln von Frauen? Welche bewussten und unbewussten Hoffnungen und Wünsche haben lesbische Frauen an ihre Beziehung? Welche Gründe führen sie für ihre Gewaltausübung an und welche unbewussten Motivationen offenbaren die Erzählungen? Zeichnet sich in der Lebensgeschichte der Gewalt ausübenden Frauen ein Muster der Gewalt ab? Unterscheiden sich die Lebensgeschichten von Opfern und Täterinnen? Wie gehen beide Partnerinnen mit dem Gewalterleben um? Wie beschreibt die Gewalt ausübende Partnerin rückblickend ihre Tat? Wie gehen die Opfer mit ihren Ängsten um? Welche Rolle spielt die gesellschaftliche Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Lebensweise in der Ausgestaltung lesbischer Partnerschaften und der Gewaltentwicklung? Um einer Antwort auf die hier formulierten Fragen näher zu kommen, bedarf es eines interdisziplinären Zugangs, der sich in einem Gebiet zwischen kriminologischer und sozialwissenschaftlicher Gewaltfor77
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schung ansiedelt. Ausgesprochenes Ziel ist dabei, im Rahmen einer soziologischen Forschung die Perspektive der Gewalt ausübenden lesbischen Frau zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Der derzeitige Forschungsstand zu häuslicher Gewalt reflektiert vor allem die Perspektive des – meist weiblichen und heterosexuellen – Opfers, so dass mit dieser Forschungsfrage ein Perspektivenwechsel in mehrerer Hinsicht einhergeht: Sie reflektiert den Blick einer Frau, die Gewalt ausübt, und zudem den einer Frau, die wegen ihrer psychosexuellen Orientierung einer sozialen Minderheit angehört und daher mit einem Stigma besetzt ist.
Ethische Überlegungen Eine grundlegende ethische Überlegung betrifft die Zielgruppe der lesbischen Frauen: Die Analyse von Gewalt in lesbischen Beziehungen mit dem Fokus auf lesbische Frauen, die Gewalt ausüben, kann möglicherweise althergebrachte Vorurteile gegenüber Lesben bestärken oder wiederbeleben. In den Vorüberlegungen wurde die Annahme verworfen, dass eine Verbindung zwischen dem Lesbischsein an sich und der Gewaltausübung vorliegen könnte. Vielmehr führten die Überlegungen zu der Vermutung, dass die individuellen Lebensgeschichten, subkulturelle Werte und ein homophobes Umfeld wesentliche Faktoren für die Ausübung von Gewalt sein können, wobei die subkulturellen Werte in einer Wechselbeziehung zur homophoben Umwelt stehen. Die Entscheidung, sich lesbischen Frauen und nicht Frauen einer anderen sozialen Minderheit zuzuwenden, beruhte auf dem leichteren Zugang zu dieser Zielgruppe aufgrund der Vernetzung mit den Fachberatungseinrichtungen. Daher greife ich auch in der Interpretation der Geschehnisse auf die fachlichen Erfahrungen der Mitarbeiterinnen lesbischer Fachberatungsstellen zurück. Die Arbeit in der Praxis hat gezeigt, dass sich auch Frauen, die Gewalt ausüben, als Opfer wahrnehmen. Demzufolge müssen in die Untersuchung auch Frauen einbezogen werden, die Gewalt erfahren haben. Eine besondere Schwierigkeit stellt der Zugang zu lesbischen Frauen mit Gewalterfahrungen, sei es als Opfer oder als Täterin, dar. Zwar bieten gerade Großstädte eine Vielzahl von subkulturellen Einrichtungen, in denen lesbische Frauen zu erreichen sind, doch ist das Thema der Gewalt in der Partnerschaft, aber auch innerhalb der Subkultur, mit einem Tabu belegt, was den Zugang zu lesbischen Frauen mit Gewalterfahrungen in ihren Partnerschaften erschwert. Daher musste davon ausgegangen werden, dass nur wenige von Gewalt betroffene lesbische Frauen an 78
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der Untersuchung teilnehmen würden, diese aber wiederum eine hohe Bereitschaft zeigen, ein tiefgehendes Interview zu führen – was für qualitative Analyseansätze sprach. Auch wurde diskutiert, wie die betroffenen Frauen erreicht werden könnten. Einen möglichen Zugang stellen lesbische Fachberatungsstellen dar, doch sollten auch Frauen erreicht werden, die keinen aktuellen Beratungsbedarf hatten. Deshalb wurde versucht, diese Gruppe über Hinweise in zielgruppenspezifischen Medien anzusprechen. Schließlich konnte auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Interview bei der Interviewpartnerin eine für sie schwierige emotionale Lage auslösen könnte. Daher wurde mit den örtlichen lesbischen Fachberatungsstellen ein kostenfreies Beratungsangebot vereinbart, das die Interviewpartnerinnen im Bedarfsfall nutzen konnten. Da zudem nicht ausgeschlossen werden konnte, dass bei diesem Thema auch die Interviewerinnen besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt sind, wurde hier eine kollegiale Supervision durch Mitarbeiterinnen anderer Beratungseinrichtungen ermöglicht.
Theoretische Grundlagen In der vorliegenden Arbeit lehne ich mich an die Tradition von Clifford Geertz an, der die Wissenschaft als eine verstehende und interpretierende betrachtet, die nach Bedeutungen sucht. Nach Geertz (1987:15) ist die Analyse »das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen […] und das Bestimmen ihrer gesellschaftlichen Grundlage und Tragweite«. Ethnologische Interpretation ist für ihn »der Versuch, den Bogen eines sozialen Diskurses nachzuzeichnen, ihn in einer nachvollziehbaren Form festzuhalten« (Geertz 1987:28). Er sieht dabei individuelle »Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse« in einen kulturellen Kontext eingebettet, in dem sie »verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sind« (Geertz 1987:21). Obschon er sein Augenmerk auf verschiedene Völker und deren vorherrschende Kultur richtet, ermöglicht dieser Ansatz auch die Analyse von subkulturellen Gruppen, wie beispielsweise Homosexuellen, die letztlich auch Bestandteil der dominierenden Kultur sind; das Verstehen des kulturellen Rahmens einer sozialen Minderheit führt dazu, seine spezifische »Normalität zu enthüllen« (Geertz 1987: 21), die in Abgrenzung und zugleich in Wechselbeziehung zur dominanten Kultur steht. Die Betrachtung einer Handlung vor einem kulturellen und subkulturellen Hintergrund öffnet den Weg für eine Analyse, die den möglichen Einfluss eines gesellschaftlichen Kontextes auf individuelles Verhalten verständlich macht und diesem so einen möglichen Sinn verleiht, der sich aus der Handlung selbst nicht ergeben würde. 79
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Gewalttätiges Handeln ist im Regelfall nicht Ausdruck ›praktischer Vernunft‹, d.h. es ist nicht unmittelbar nachvollziehbar. Da es zudem eine unbewusste Dimension hat, kommen hier ebenfalls verdrängte Wünsche und Gefühle zum Tragen (siehe Flaake 2000), so dass es auf einer kognitiven Ebene für die gewalttätige Person möglicherweise selbst nicht nachvollziehbar ist. Diese Annahme wirkt sich auf das Deuten der Interviews aus. Die interviewten Frauen versuchen, auf der bewussten Ebene, sich und auch der Interviewerin gegenüber, ihrem (gewalttätigen) Handeln einen Sinn zu geben, es sich selbst und der Interviewerin verständlich zu machen. Diese »Selbstdeutungen« der Interviewpartnerin entsprechen einer Ebene der Bedeutung, die Oevermann/ Allert/Konau (1980:19) als Ebene der »mentalen Repräsentanz« bezeichnen. Sie ist »Element des biographischen Konstruktionsprozesses, wie er sich auf der Ebene der Bewusstseinsfähigkeit manifestiert« (Ebenda 1980:21). Es ist nun an der Wissenschaftlerin, die latente Sinnstruktur, d.h. verdeckte und verdrängte Motive, offen zu legen. Erst die Analyse der unbewussten Motive ermöglicht letztlich eine Sinngebung, d.h. führt zu einer Deutung, die dem Handeln aus der Perspektive der Gewalt ausübenden Person einen Sinn gibt. Die im Interpretationsprozess erlangten Deutungen wiederum unterliegen »expliziten Bewertungskriterien« und erreichen ihre Allgemeinheit in der »Genauigkeit ihrer Einzelbeschreibung« (Geertz 1987:35). In der Ethnologie werden »keine allgemeinen Aussagen angestrebt, die sich auf die verschiedenen Fälle beziehen, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalls« (Geertz 1987:37). Diesem Tenor wird auch in der vorliegenden Arbeit gefolgt. Eine Generalisierung ist dann möglich, wenn der theoretische Begriffsrahmen, aus dem eine Interpretation besteht, in der Lage ist, »haltbare Deutungen auch beim Auftauchen neuer sozialer Phänomene bereitzustellen« (Geertz 1987:38). In Hinblick auf den vorliegenden Forschungsgegenstand bedeutet das, dass mittels des zu entwickelnden Begriffsrahmens weitere Beschreibungen gewalttätiger Dynamiken in Liebesbeziehungen zwischen Frauen gefasst werden können – ohne eine Allgemeingültigkeit postulieren zu müssen oder zu wollen. Zugleich muss ein solcher Begriffsrahmen die typischen Eigenschaften der Struktur bzw. der Interaktion herausstellen und genau sein – was nach Geertz letztlich erst eine Generalisierung ermöglicht. Die Methode einer ›dichten Beschreibung‹ besteht in der Einzelfallanalyse, die in die Tiefe geht. Die ›Dichte‹ einer Beschreibung erschöpft sich dabei nicht in ihrem Reichtum an Details oder in ihrer Genauigkeit, sondern sollte immer an das konzeptuelle System der Untersuchten anschließen. Nach Geertz muss eine ›dichte Beschreibung‹ festgehalten werden, um sich später wieder auf sie beziehen zu können. Für den For80
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schungsprozess sind drei Elemente entscheidend: das Beobachten, das Festhalten und das Interpretieren (Geertz 1987:30). Der Gegenstand der Untersuchung lässt eine teilnehmende Beobachtung, wie sie in der Ethnologie üblich ist, nicht zu. Diese erweist sich als nicht praktikabel, da Gewalt in lesbischen Partnerschaften meist nicht im öffentlichen Raum stattfindet und sich so der direkten Beobachtung entzieht. Stattdessen erfolgt eine methodisch rekonstruierende Darstellung der Partnerschaften mit Hilfe von leitfadengestützten, fokussierten Interviews bzw. Experteninterviews und ergänzenden quantitativen Fragebogen. Das fokussierte Interview (vgl. Merton/Kendall 1945/46) ermöglicht es, das Augenmerk auf eine spezifische Information zu richten, wobei hier die Wahrnehmungen und Sichtweisen der Interviewpartnerinnen einfließen. Die Gesprächsführung ist dabei zurückhaltend und nichtdirektiv. Indem der Interviewpartnerin die Gesprächsstrukturierung selbst überlassen wird und erst am Ende Fragen zu Bereichen gestellt werden, die nicht angesprochen wurden, können letztlich auch Schlüsse darüber gezogen werden, »an welcher Stelle mit welcher Kontexteinbettung« bestimmte Themen selbst thematisiert werden und welche auch nicht (Oevermann/Allert/Konau 1980:19). Allerdings ist hier der Übergang zu so genannten Experteninterviews fließend, da die Interviewten tatsächlich auch ›Expertinnen‹ ihrer Gewalterfahrungen, sei es als Gewaltausübende oder als Gewalterlebende, sind. Ihnen wird die Position von Expertinnen nicht zugeordnet, sondern sie sind es faktisch aufgrund ihrer Erfahrungen. Die verschriftlichten Interviews bilden die Grundlage für die anschließende Deutung. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Authentizität der Beschreibung des gewalttätigen Geschehens. So kann angenommen werden, dass die interviewten Frauen ein möglichst positives Bild von sich zeichnen wollen und gewalttätige Geschehnisse abmildern oder sogar verschweigen. Ist es der Interviewerin jedoch möglich, das Vertrauen ihrer Interviewpartnerin zu gewinnen, können Dinge in Erfahrung gebracht werden, die die Interviewpartnerin unter normalen Umständen Fremden nicht mitteilen würde; auch unterliegen besonders diejenigen Interviewpartnerinnen, die sich auf das Interview vorbereitet haben, einem Gestaltschließungszwang, d.h. dass eine Erzählung nach Maßgabe eines einmal gewählten Grades an Präzision ohne Auslassung zu Ende erzählt werden muss; auch in einer erzählerischen ›Inszenierung‹ findet sich Authentisches, denn diese wird von der Interviewpartnerin originär gestaltet; schließlich dauerten die Interviews durchschnittlich ca. zweieinhalb Stunden, wobei diese ab einem bestimmten Punkt für die Interviewpartnerinnen anstrengend wurden.
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Mit nachlassender Konzentration beginnen sie, Dinge mitzuteilen, die sie Dritten möglicherweise sonst nicht sagen würden. Abschließend muss auch die Position der Untersuchenden in dem Prozess betrachtet werden. Das Interview und die Interviewerin können Teil einer gewalttätigen Beziehungsdynamik werden, sei es, indem die Gewalt ausübende Person versucht, das Verständnis der Interviewerin zu gewinnen, oder aber indem das Interview im Rahmen einer Dreiecksdynamik die jeweiligen Positionen stärken soll. Die Interviewerin wird folglich in das Geschehen hineingezogen und verliert in den Augen der Interviewten die Position der neutral Beobachtenden. Sie hat dann die Aufgabe, einerseits das Vertrauen der Interviewten zu gewinnen, ohne sich andererseits funktionalisieren zu lassen und parteilich zu werden. Für die nachfolgende Interpretation ist es deshalb wichtig, dass die Interviewerin eigene Emotionen aufschreibt, um so über mögliche Gegenspiegelungen den Sinn einer Handlung zu erfassen. Desgleichen gilt auch für die spätere Analyse der Interviewtranskripte. Da wissenschaftliche Erkenntnisse nur ein Bild der Wirklichkeit aus einer bestimmten Perspektive wiedergeben und es keine ›objektive Wirklichkeit‹ gibt, ist es notwendig, den diesen Erkenntnissen zugrundeliegenden theoretischen und begrifflichen Rahmen darzulegen. Während der theoretische und begriffliche Rahmen bereits in den vorangegangenen Kapiteln darstellt wurde, sei an dieser Stelle auf meinen beruflichen Hintergrund hingewiesen: Ich befasse mich seit Anfang der 1990er Jahre mit dem Thema der häuslichen Gewalt und der Gewalt gegen lesbische Frauen. Bis zu diesem Zeitpunkt stand hierbei die Perspektive derjenigen Frau im Vordergrund, die Gewalt erfahren hat. Seit Ende der 90er Jahre leite ich ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt, in das die Erfahrungen und Kenntnisse der lesbischen und transgender Fachberatungsstellen einfließen.
Datenerhebung Grounded Theory Ein mögliches Verfahren zur Entdeckung neuer Zusammenhänge und zur Erstellung einer ›dichten Beschreibung‹ lässt sich als zirkulärer Prozess beschreiben, indem Vorwissen/Beobachten, Annahmen/Fragen zu einem vertieften Wissen führen, das auf den vorliegenden Beobachtungen beruht und zu erneuten Annahmen und Fragen führt. Die ›Grounded Theory‹ ist ein Forschungsstil der qualitativen Sozialforschung, der es ermöglicht, schrittweise eine in den Daten begründete Theorie zu entwi82
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ckeln. Entwickelt wurde die Methode von Barney Glaser und Anselm Strauss (u.a. Glaser/Strauss 1974, 1998), fortgeführt von Anselm Strauss und Juliet Corbin (Strauss/Corbin 1990/1996). Die ›Grounded Theory‹ hat sich gerade auch bei praxisrelevanten Forschungsprojekten bewährt.
Der Interviewleitfaden Die Interviews wurden von drei Interviewerinnen mit Hilfe eines Interviewleitfadens geführt. Da eine möglichst offene Gesprächsführung gewünscht war, konnten nicht immer alle Themenkomplexe abgedeckt werden. Das Interview wurde mit einer Frage zu dem Kennenlernen der Partnerinnen eingeleitet; anschließend wurde die Interviewte aufgefordert, vom letzten gewalttätigen Erlebnis in der Partnerschaft zu berichten. Erst danach sollte, wenn möglich, von dem eindringlichsten Ereignis berichtet werden. Allerdings zeigte sich, dass beides oftmals miteinander einherging. Die Interviewerinnen waren angehalten, die Interviewpartnerin möglichst lange frei erzählen zu lassen und erst zum Schluss des Interviews nachzufragen. Das war nicht immer gegeben, da einige Frauen das Interview nutzen, um ›ihre Geschichte‹ zu erzählen und keine Offenheit für weitere Fragen zeigten. Auch wurden die abschließenden Fragen zum sozialen Hintergrund von den Frauen oft als narrativer Bruch erlebt, d.h. diese wurden derart wahrgenommen, dass die eigene Erzählung nun beendet ist und die Interviewerin noch Gelegenheit für die in einem Forschungskontext als wichtig erachteten Fragen erhält. Der Zugang zur Persönlichkeit der Interviewten war dann verschlossen. Andere Frauen wiederum suchten während des Interviews den Dialog mit der Interviewerin und waren auf auffordernde Fragen angewiesen, um den eigenen Erzählfluss zu mobilisieren. Auch fiel es einigen Frauen schwer, auf offene Fragen zu antworten und bedurften der Hilfestellung im Sinne einer Konkretisierung der Fragen. Im weiteren Gesprächsverlauf wurden diese dann zwar aufgegriffen, dienten offenbar aber vorrangig als Anhaltspunkt für eigene Überlegungen. Obgleich die Interviewerinnen angehalten waren, in der Ansprache das förmliche ›Sie‹ zu benutzen, konnte das nicht in allen Fällen eingehalten werden. Augenscheinlich gibt es eine subkulturelle Codierung, die mit der vermuteten Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur das informelle ›Du‹ verbindet. Da aber die informelle Anrede verschiedene Funktionen haben kann, beispielsweise die Einforderung von Parteilichkeit, waren die Interviewerinnen angehalten, je nach situativer Einschätzung der Funktion der informellen Anrede darauf einzugehen oder aber weiterhin die formelle Anrede zu benutzten. 83
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Die Interviewtranskripte Die Interviews wurden verschriftet, von zwei verschiedenen Personen ›korrekturgehört‹ und um mögliche Übertragungsfehler bereinigt. Ziel des Transkripts ist nach Kowal/O’Connell (2000:438), »die geäußerten Wortfolgen […], häufig aber auch deren lautliche Gestaltung […] sowie redebegleitendes nichtsprachliches Verhalten […] möglichst genau auf dem Papier darzustellen, so dass die Besonderheiten eines einmaligen Gesprächs sichtbar werden«. Die in dieser Untersuchung verwendeten Transkriptsymbole lehnen sich an die Richtlinien des Instituts für Deutsche Sprache von 20044 und an Bergmann (1987) an. Die vorgestellten Interviewsequenzen beinhalten Auslassungen gegenüber dem Transkript. Diese werden durch […] gekennzeichnet. Auch beinhalten die original verwendeten Zitate auch deren Intonation, beispielsweise wird eine Betonung kursiv dargestellt.
Datenauswertung: Latente Sinnstruktur Wie bereits dargestellt, kann in der Interpretation zwischen der ›mentalen Repräsentanz‹ und einer ›latenten Sinnstruktur‹ unterschieden werden, wobei letztere Unbewusstes offenbart und deren Lesart dem gewalttätigen Handeln eine auch für Dritte zugängliche Sinnstruktur verleiht. Um unbewussten Motiven auf die Spur zu kommen, können mittels eines Interviews auf drei Ebenen Informationen gewonnen werden: Auf der Ebene des eigentlichen Handlungsgeschehens (z.B. das Tatgeschehen), der Ebene der sprachliche Besonderheiten als Ausdruck eines kognitiven Prozesses (wie wird das Geschehen begründet) und schließlich auf der semantischen Ebene, die die Besonderheiten der Wortwahl, Auslassungen oder benutzte Bilder betrifft. Diese Informationen wurden im Rahmen eines Kodierverfahrens gewonnen, das sich an Glaser/Strauss (1998) anlehnt. Da gewalttätiges Verhalten im Regelfall nicht der praktischen Vernunft entspringt, muss in der Analyse ein besonderes Augenmerk auf die Aufdeckung der latenten Sinnstruktur gelegt werden. Dabei wird nach Oevermann/Allert/Konau (1980) davon ausgegangen, dass der handelnden Person, also der Interviewpartnerin, gesellschaftliche Normen und Regeln bekannt sind und sie diese interpretiert. Diese subjektiven Auslegungen stellen eine »Besonderung des Allgemeinen« dar, wobei die Frage zu stellen sei, »inwieweit diese Rationalisierungen verdeckter und 4 84
www.ids-mannheim.de/ksgd/kt/dida-exmaralda-trl.pdf
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verdrängter Motive darstellen […]« (Oevermann/Allert/Konau 1980:21). Das bedeutet, dass die Interviewpartnerinnen zwar bemüht sind, sich und der Interviewerin ihr Verhalten zu erklären, aber diese Rationalisierungen ihre latenten Motive überdecken können. Das geschilderte Verhalten wird daher in einem weiteren Interpretationsschritt mit der Überlegung kontrastiert, wie »vernünftigerweise« unter Einbezug des soziokulturellen Gefüges in einem bestimmten Kontext eine Person handeln könnte oder sollte. Lässt sich kein der praktischen Vernunft entspringendes Verhalten aufzeigen, müssen gedankliche Kontextbedingungen konstruiert werden, die eine Handlung ›sinnvoll‹ machen können. Eine individualspezifische Kontextbedingung stellt dabei die Lebensgeschichte der interviewten Frauen dar (Oevermann et.al. 1980), aber in Rekurs auf Geertz auch die (sub-)kulturelle Einbettung der Partnerschaft. Nach Geertz (1987) spielt die kulturelle Einbettung des Geschehens eine gleichermaßen große Rolle für das Verstehen des Verhaltens, so dass in die Analyse sowohl die individuelle Lebensgeschichte, der eigentliche Handlungsablauf und die soziokulturelle Einbettung einfließen. Eine wesentliche Voraussetzung für die Erfassung der latenten Sinnstruktur sind das eigene Alltagsverständnis und die eigenen Subjektivität; zentrales ›Werkzeug‹ ist hierbei die Reflexion der eigenen Reaktionen auf den Text (Flaake 2001:239). Die analytischen Schritte lassen sich nach Belgrad (1996) wie folgt beschreiben: • Gleichschwebende Aufmerksamkeit und freie Assoziation: In dieser Phase geht es darum, spontanen Einfällen und Assoziationen jenseits des Alltagsbewusstseins freien Lauf zu lassen. • Irritationen festhalten: Irritationen in der freien Assoziation können dort entstehen, wo Brüche im Text vorkommen oder aber Erzählungen ›unsinnig‹ oder ›unlogisch‹ erscheinen. Grundlage ist hier die Subjektivität der deutenden Wissenschaftlerin und ihr Einlassen auf eigene Gefühle und Reaktionen, die in der Auseinandersetzung mit den Transkripten zu Tage treten. Eine Möglichkeit, Irritationen festzuhalten, sind die in der Grounded Theory verwendeten Memos. • Szenisches Verstehen: Hierunter wird die Reflexion der eigenen Reaktionen auf den Text verstanden. Diese werden beim axialen Kodieren in einen sinnhaften Kontext eingefügt. Da im Regelfall verschiedene Lesarten möglich sind – und eine bestimmte auch von der Interviewpartnerin vorgeschlagen wird – entscheidet das Maß der Stimmigkeit und Nachvollziehbarkeit der Interpretation über deren Plausibilität. Die Ergebnisvalidierung erfolgte vor allem im kollegialen Dialog, der allerdings aus organisatorischen Gründen nicht dokumentiert wurde. 85
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Besonders für das Aufdecken der latenten Sinnstrukturen wurde auf die von Belgrad vorgeschlagene Methode zurückgegriffen.
Auswahl und Darstellung der Interviews In die Untersuchung eingegangen sind 20 Interviews, von denen fünf im nachfolgenden Kapitel näher vorgestellt werden. Die näher darstellten Interviews wurden ausgewählt, weil die darin aufscheinenden Beziehungsdynamiken konsistent erkennbar, d.h. klar beschreibbar waren, sie die Perspektive der Gewalt ausübenden Frauen widerspiegeln und auch ein Paar darstellen. Die vertiefende Darstellung der Einzelfälle erfolgt thematisch und in mehreren Schritten. Einführend werden die objektiven Daten der Partnerschaft dargestellt. Danach folgt die Lebensgeschichte der Interviewpartnerin. Anschließend werden die Wünsche und Hoffnungen der Interviewten an die Beziehung expliziert, die Beschreibung der Beziehungspartnerin, die Schilderung der Partnerschaft aus Sicht der Interviewten, der Prozess der Gewalt und der Umgang der Beteiligten mit der Gewalterfahrung. In der abschließenden Reflexion wird versucht, die Sinnhaftigkeit des Handelns aus der Perspektive der Interviewten darzulegen. Des Weiteren werden die Interviews ›sowohl in Form der ›dichten Beschreibung‹ als auch anhand von Zitaten dargestellt. Der ›dichten Beschreibung‹ und den Zitaten folgen die jeweiligen Interpretationen. Die Interviewtranskripte sind durchschnittlich 40 Seiten lang. Mittels der ›dichten Beschreibung‹ werden diese verdichtet, während die ausgewählten Zitate die Besonderheiten der gewalttätigen Beziehungsdynamik sowie deren Einfluss- bzw. Risikofaktoren hervorheben. Längere wörtliche Interviewsequenzen finden sich vor allem in der Beschreibung des Prozesses der Gewalt, so dass der/die Leser/in einen möglichst ungefilterten Eindruck von der Selbstrepräsentanz der Interviewpartnerin erlangen kann. Auch diese Interviewsequenzen werden anschließend interpretiert. Zum Zwecke einer besseren Lesbarkeit wurde zwischen die Passagen der ›dichten Beschreibung‹ und deren Interpretation eine Trennlinie gezogen.
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ZUSAMMENFASSENDE DARSTELLUNG DER FALLANALYSEN
Im Folgenden findet sich eine Zusammenfassung der Interviews. Diese verkürzte Darstellung soll dem Leser/der Leserin ermöglichen, auch ohne Detailanalyse den theoretischen Ausführungen zu folgen. Die detaillierte Darstellung der ausgewählten Interviews erfolgt im abschließenden Kapitel.
Elvira und Agnes aus Sicht von Elvira Elvira und Agnes haben eine annähernd zehn Jahre andauernde Partnerschaft, in der Agnes von ihrer Partnerin wiederholt misshandelt wird. Die überwiegend physischen Übergriffe haben bereits ca. ein halbes Jahr nach Beginn der Partnerschaft eingesetzt und erfolgten anfänglich jedes zweite bis dritte Wochenende. Die Frauen haben einen gemeinsamen Sohn, der zum Zeitpunkt des Interviews ca. fünf Jahre alt ist. Elvira ist in einem Land mit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung aufgewachsen, während Agnes aus Westdeutschland stammt. Nach Aussage von Elvira sind ihre Übergriffe mit der Geburt des Kindes seltener geworden. Ungefähr zeitgleich mit dessen Geburt begann sie eine zweite Beziehung, die sie als »Affäre« bezeichnet und ihrer Partnerin nach wie vor verschweigt. Die Partnerschaft befindet sich zum Zeitpunkt des Interviews in der Trennungsphase; sie beendete daher ihre »Affäre«, weil sie glaubt, dadurch ihre Partnerin halten zu können. Elvira bezeichnet sich anfänglich als Täterin. Das Interview ist geprägt von ihrem Bemühen, ihr gewalttätiges Verhalten sich und anderen
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zu erklären. Dabei sucht sie die Gründe für ihre Gewaltausübung vor allem im Verhalten ihrer Partnerin. Sie sieht diese in Agnes’ Eifersucht und in der von ihr empfundenen, mangelnden Wertschätzung. Auch nimmt sie ihre Partnerin als egoistisch, respektlos und rücksichtslos wahr. Zudem wünscht sie sich von Agnes Zuwendung in Form einer umfassenden mütterlichen Fürsorge und Geborgenheit, die ihr aber ihrem Empfinden nach versagt bleibt. Im Verlauf des Interviews wird deutlich, dass Elvira von Beginn ihrer ersten Partnerschaft an gewalttätig war. Hier wiederum führt sie als Grund ihre eigene Eifersucht an, die Ausdruck ihrer Angst ist, ihre Partnerin zu verlieren. Elviras Lebensgeschichte offenbart verschiedene Aspekte, die ihr gewalttätiges Verhalten befördert haben können: So sind ihre Eltern sehr früh verstorben, ihr Vater starb, als sie neun Jahre alt war, ihre Mutter, als sie 13 war. Elvira lässt keine Wut auf ihre Eltern zu, sie so früh alleine gelassen zu haben, sondern idealisiert stattdessen ihre Kindheit. Auch war sie ab dem 13. Lebensjahr ihrer Auffassung nach mehr oder weniger auf sich alleine gestellt. Es wurden ihr später keine Grenzen gesetzt, weder durch ihre Lebensgefährtinnen noch durch die Ärzte, die zumindest eine ihrer Partnerinnen im Krankenhaus medizinisch versorgt haben; auch zeigt ihr Freundeskreis Verständnis für ihr gewalttätiges Verhalten. Über dieses Verständnis ist Elvira entrüstet, was wiederum als Ausdruck ihres Wunsches gelesen werden kann, die Freunde mögen elterliche Aufgaben übernehmen und ihr eine Grenze setzen. Durch den frühen Tod der Eltern ist Elvira jene mütterliche Fürsorge entgangen, die sie nun in ihren Beziehungen zu finden hofft. Sie möchte umfassend geliebt werden – auch mit ihrer gewalttätigen Seite. Zugleich schämt sie sich für ihre Gewalttätigkeit und hat Schuldgefühle. Das Interview ist dementsprechend zwiespältig: Elvira sieht ihre Gewalttätigkeit im Verhalten von Agnes begründet und schämt sich zugleich für ihr Tun. Neben der emotionalen Vernachlässigung, verursacht durch den frühen Tod ihrer Eltern, zeichnet sich ein weiterer lebensgeschichtlicher Aspekt ab, der die Gründe für ihr gewalttätiges Verhalten erhellen könnte: Elvira erlebte in dem Konflikt zwischen ihrem homosexuellen Bruder und ihren Eltern deren massive ablehnende Haltung gegenüber Homosexualität. Der Konflikt mündete im Rauswurf ihres Bruders aus dem Elternhaus. Sie erzählt, dass sie ihre lesbischen Beziehungen anfänglich verheimlicht hat und auch eine ihrer früheren Partnerinnen ihre gleichgeschlechtliche Partnerschaft verschleierte, was ihre Befürchtung, ihre Partnerin verlieren zu können, bestärkte. Es liegt die Vermutung nahe, dass sie die Ablehnung ihrer Eltern verinnerlicht hat und sich für ihre 88
ZUSAMMENFASSENDE DARSTELLUNG DER FALLANALYSEN
Lebensweise schämt. Elvira versucht, ihrer Scham entgegenzuwirken, indem sie eine möglichst »normale« Beziehung leben möchte, wobei sich ihre Vorstellung von Normalität stark an heterosexuellen Beziehungsmodellen orientiert. Da sie ihren Part in diesem Beziehungsmodell eher in der Übernahme von vor allem »männlich/väterlich« besetzten Aufgaben sieht, kann sie ihr Bedürfnis nach Fürsorge und Geborgenheit nicht hinreichend verwirklichen, was zu Enttäuschungen führt. Elvira versucht schließlich, ihre idealisierten Vorstellungen von Familie und die damit einhergehenden Erwartungen an ihre Partnerin mittels Gewalt durchzusetzen. Diese Idealisierung ist es auch, die sie in der Beziehung hält und die sie daran hindert, ihre Partnerschaft zu Agnes als gescheitert zu betrachten. Letztlich hält sie nicht an der Beziehung, sondern an ihrem Idealbild fest. Die Betrachtung der gewalttätigen Begebenheiten zeigt, dass den Taten Gefühle von Ohnmacht, Machtlosigkeit und Verzweiflung vorausgehen. Während der Tat nimmt Elvira sich dann als machtvoll wahr und hat das Gefühl, die Kontrolle über das Geschehen und ihre Partnerin zu erlangen. Sie sagt, dass sie mit Hilfe der Gewalt erreicht habe, dass die Partnerin nun das tue, was sie von ihr erwartet habe, d.h. dass ihre Partnerin sich nun fügt. Nach der Tat fühlt sie sich jedoch »schlecht« und zeigt Gefühle von Schuld und Scham, wobei sie eine Verletztheit »auf beiden Seiten« wahrnimmt. Diese Beschreibung lässt vermuten, dass sie die Gewalt nicht nur als zerstörerisch, sondern auch als selbstzerstörerisch wahrnimmt. Ihre entpersonalisierte Darstellung der Gewalt wiederum legt nahe, dass sie ihr gewalttätiges Verhalten nicht als Teil von sich betrachtet und sich diesem hilflos ausgeliefert sieht. Da Elvira glaubt, dass ihre Partnerin durch ihr Verhalten die Gewalt evoziert, ist sie auch der Auffassung, dass es zu keinen weiteren Übergriffen käme, wenn diese ihre Verhalten ändern würde. Elviras Beschreibung der gewalttätigen Situationen, dass sich beide Frauen geprügelt hätten, lässt vermuten, dass sie ihre Partnerin in der Situation als gleichermaßen Beteiligte erachtet. Sie betrachtet sich daher nicht nur als Täterin, sondern auch als Opfer und dementsprechend Agnes nicht nur als Opfer, sondern auch als Täterin. Ihre negative Beschreibung von Agnes reflektiert vornehmlich ihre Wahrnehmung von dieser und lässt aber ihr Verhalten zugleich in einem milderen Licht erscheinen. Allerdings nimmt Elvira ihre Partnerin auch derart wahr, dass diese Angst vor ihr hatte und sich anfänglich gar nicht und erst später vermehrt gewehrt habe. Demgegenüber empfindet sie selbst keinerlei Angst vor ihrer Partnerin. Die unterschiedlich empfundene Angst der Frauen weist entgegen Elviras Wahrnehmung auf eine Täter-Opfer-Struktur der Gewaltdynamik hin, in der Elvira vor allem eine Täterschaft und Agnes 89
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ein Opfersein zugeordnet werden kann. Agnes’ anfängliche mangelnde Gegenwehr lässt aber auch vermuten, dass sich dadurch die gewalttätige Beziehungsstruktur erst aufbauen und festigen konnte. Ein besonderer Aspekt der Beziehung von Elvira und Agnes ist das Vorhandensein eines Kindes. Der Sohn stammt nicht aus einer vorherigen Partnerschaft, sondern war das gemeinsame und auf Dauer angelegte ›Projekt‹ beider Frauen; er symbolisiert das Einswerden mit der Partnerin. Bis zu seiner Geburt war Elvira jedoch die alleinige Empfängerin von Agnes’ mütterlicher Fürsorge. Elvira stellt ihre Zuwendung zu dem Sohn als relativ zurückhaltend dar: Sie beschreibt ihr Verhalten ihm gegenüber zwar als fürsorglich, jedoch nicht »übertrieben mütterlich fürsorglich«. Dagegen betont Elvira die mütterlichen Eigenschaften ihrer Partnerin, wodurch dieser die Position der »Mutter« zugeordnet wird. Allerdings betrachtet sie die Mütterlichkeit ihrer Partnerin auch kritisch, da sie diese nicht nur ihr und dem Sohn, sondern beispielsweise auch dem Kind aus der vorherigen Partnerschaft zukommen lässt. Dieses Kind bezeichnet Elvira als »Ex-Tochter«, da Agnes nicht die leibliche Mutter ist und sie daher nach Elviras Auffassung nur eine begrenzte Verantwortung innehaben sollte. Da sich Elvira zugleich Agnes’ mütterliche Zuwendung ersehnt, sieht sie sich in einem Konkurrenzverhältnis zu dem Sohn. Dieses kann als Ausdruck des der Beziehung zugrunde liegenden Mutter-Kind-Verhältnisses gelesen werden. Auch die Entsexualisierung der Partnerschaft kann als weiteres Indiz dessen herangezogen werden. Da Agnes Elviras Bedürfnisse nach mütterlicher Fürsorge nicht hinreichend erfüllt, kompensiert Elvira ihre Bedürftigkeit mittels einer »Affäre«, von der sie erzählt, dass sie sich dort auch einmal habe »fallen lassen« können. Schließlich begann das Paar eine Psychotherapie, um die bestehenden Probleme zu lösen. Die Therapeutin beendete nach zwei Jahren die Paartherapie und arbeitete von da an mit Agnes in Einzeltherapie weiter. Elvira begründet die Beendigung der Paartherapie finanziell. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass die Therapeutin die Fortführung der Paartherapie als ungeeignet erachtete und mit Agnes einzeln weiterarbeiten wollte. Elvira suchte sich eine neue Therapeutin und wird von dieser zum Zeitpunkt des Interviews seit zwei Jahren begleitet. Es zeigt sich, dass Elvira auch in diesem Zeitraum gewalttätig geworden ist, was vermuten lässt, dass ihr situativ einsetzbare Strategien der Deeskalation fehlen. Zugleich kann sie als ›psychologisch geschult‹ beschrieben werden und erkennt aufgrund ihres psychologischen Wissens die Mechanismen der Verlustängste ihrer Partnerin; jedoch setzt sie dieses Wissen auch ein, um ihrer Partnerin anzudrohen, sie zu verlassen, d.h. Zwang gegen sie auszuüben. Ihre Selbstbeschreibung als Täterin lässt 90
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vermuten, dass sie in der Therapie einen Zugang zu sich als Gewalt ausübende Person bekommen hat. Sie kann aber zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht die damit einhergehende Verantwortung für ihre Taten übernehmen, sondern sucht die Gründe für ihre Gewaltausübung vorrangig im Verhalten ihrer Partnerin. Auch gebraucht Elvira zur Beschreibung ihrer Übergriffe eine verharmlosende Sprache, wodurch die Auswirkungen ihrer Übergriffe abgemildert und die Opfererfahrung ihrer Partnerin relativiert werden. Zusammenfassend lässt sich die Gewaltdynamik wie folgt beschreiben: Die physischen Übergriffe finden wiederholt und regelmäßig statt, wobei sie nach der Geburt des Kindes nach Wahrnehmung von Elvira nachgelassen habe. Zugleich hat sie in der neuen Partnerin, ihrer »Affäre«, jemanden gefunden, der die umfassende ›mütterliche‹ Fürsorge, die sie an ihrer Partnerin vermisst, kompensiert. Auch verläuft die Gewaltdynamik zyklisch, d.h. nach dem Angriff folgt eine Phase der Versöhnung, in der Elvira versucht, ihrer Partnerin zu vermitteln, dass diese nur ihr Verhalten zu ändern brauche und es dann zu keiner Gewalt käme. Schließlich eskaliert die Situation erneut, so dass es wieder zu einem Übergriff kommt. Auch beschreibt Elvira eine Entgrenzung der Gewalt, d.h. diese hat im Verlauf der Beziehung an Schwere zugenommen. Schließlich befürchtet sie, dass sie sich oder ihrer Partnerin etwas Schwerwiegendes antun könne und entschließt sich, etwas zu unternehmen. Das lässt die Vermutung zu, dass erst ein Leidensdruck vorhanden sein muss, um etwas gegen das gewalttätige Verhalten zu tun; dieser entsteht dabei vor allem durch den selbstzerstörerischen Moment der Gewalt. Agnes wiederum hat Angst vor Elvira, wobei das auch ihr Verhalten gegenüber Elvira beeinflusst. Agnes löst sich erst dann aus der Beziehung, als sie eine neue Partnerin gefunden hat. Zuvor hatte sie die Partnerschaft aufrechterhalten, wobei Elvira vermutet, dass das aus Verlustangst geschah. Dadurch dass Agnes ihr immer wieder verzeiht, muss Elvira nicht befürchten, dass diese sie verlässt. Daher erfährt sie keine negativen Konsequenzen aus ihrem gewalttätigen Handeln, was ihren Eindruck bestärkt, dass dieses – zumindest kurzfristig – erfolgreich ist.
Nike und Gertrud aus Sicht von Nike Nike hat sich auf das Interview vorbereitet und Fotografien sowie Notizen mitgebracht. Ihre Ausführungen werden nur selten von der Interviewerin unterbrochen. In ihrer Beschreibung baut sie parallel zu dem Spannungsbogen, der ihre Gewalttaten beschreibt, einen weiteren auf,
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der diesem ihr Opfersein entgegenstellt. Es entsteht der Eindruck einer Inszenierung, in der sie Regie führt. Nike hatte ihr lesbisches Coming-out mit Anfang 40. Ihre Partnerin Gertrud ist 17 Jahre jünger als sie. Nike ist ebenso wie Elvira in einem Land mit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung aufgewachsen. Für Nike und Gertrud ist es ihre erste lesbische Beziehung. Zum Zeitpunkt des Interviews war die Partnerschaft seit einem Jahr getrennt, wobei diese ca. eineinhalb Jahre dauerte. Nike hat eine volljährige Tochter, die aus ihrer früheren Ehe stammt. Von ihrer Partnerschaft mit Gertrud erzählt sie, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich geliebt gefühlt habe; sie erläutert das anhand ihres Gefühls, sich erstmals fallen lassen zu können und »nichts darstellen« zu müssen. In ihrer ersten gleichgeschlechtlichen Partnerschaft findet sie die Zuwendung und Liebe, nach der sie sich immer gesehnt hat. Zugleich beschreibt sie die Partnerschaft aber auch derart, dass beide Frauen voneinander abhängig und durch die Erfahrung von sexuellem Missbrauch stark miteinander verbunden gewesen seien. Sie betrachtet die Partnerschaft als durch eine komplementäre Aufgabenverteilung geprägt, wobei sie sich in der Rolle der »Nehmenden und Annehmenden« sieht. Nike berichtet von einem einmaligen physischen Übergriff während ihrer Beziehung zu Gertrud. Danach sei es aber immer wieder zu Konflikten gekommen, in denen sie »laut« geworden sei. Dieses Verhalten wird von ihrer Partnerin aufgrund der zuvor erfolgten physischen Attacke als ebenfalls gewalttätig empfunden. Nike bemüht sich sehr, die Partnerschaft aufrechtzuerhalten, doch Gertrud zieht sich immer weiter zurück und trennt sich schließlich. Nach der Trennung richtet Nike ihre Bedürftigkeit nunmehr auf ihren Bruder, der diese ebenfalls nicht erfüllt. Sie empfindet sein Verhalten als Zurückweisung und kompensiert diese mit dem Konsum von Alkohol, Psychopharmaka und Cannabis konsumiert. Allerdings kommt es im Zuge ihres zunehmenden Rausches zu einem massiven Übergriff auf ihren Bruder. Dieser ruft daraufhin die Polizei, die Nike schließlich der Wohnung verweist. Der Bruder muss anschließend medizinisch stationär versorgt werden. Er erstattet Anzeige gegen seine Schwester. Nike erklärt ihren physischen Übergriff auf ihre Partnerin Gertrud mit ihrer übermächtig werdenden Verlustangst und als situativ bedingt. Auch die später erfolgenden verbalen Attacken sind aus ihrer Sicht ihrer Verzweiflung und Angst geschuldet, Gertrud zu verlieren. Das aggressive Verhalten gegenüber ihrem Bruder erläutert sie wiederum mit ihrer Verzweiflung und Enttäuschung über seine mangelnde Fürsorge und Zuwendung. Als weiteren Auslöser für ihre Gewaltausübung gegenüber dem Bruder betrachtet sie ihre bis dahin unterdrückte Wut auf ihn, weil 92
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er sie nicht vor dem sexuellen Missbrauch beschützt habe; sie glaubt, dass er von ihrem Missbrauch wusste und sie nicht beschützte, ebenso wenig wie ihre Mutter. Diese gab ihr zudem noch die Schuld an dem sexuellen Missbrauch. In Nikes Biographie zeigen sich verschiedene Faktoren, die möglicherweise zu ihrem gewalttätigen Verhalten beigetragen haben: Sie hat in ihrer Kindheit sowohl physische als auch sexualisierte Misshandlungen erfahren und gelernt, entweder selbst auszuteilen oder aber nötigenfalls einzustecken. Nike empfindet Gewalt als etwas völlig Normales und greift gegebenenfalls auf diese zurück, so gegenüber ihrer Tochter, ihrem ehemaligen Partner, ihrer Partnerin und gegenüber ihrem Bruder. Die Alltäglichkeit der Gewalt in ihrer Kindheit verschließt ihr den Blick auf das Leid, das sie dadurch verursacht. Des Weiteren war Nike bemüht, trotz der massiven Gewalt durch ihre Eltern deren Anerkennung und Liebe zu erhalten, beispielsweise indem sie den von ihren Eltern gewünschten Lebensentwurf an Stelle ihres Bruders verwirklichte: In dem Konflikt zwischen ihrem Bruder und ihren Eltern wurde sie auch der ablehnenden Haltung ihrer Eltern gegenüber Homosexualität gewahr. Daher unterdrückte sie lange ihre eigene homosexuelle Neigung, heiratete stattdessen und bekam ein Kind. Es liegt die Vermutung nahe, dass die ablehnende Haltung der Eltern gegenüber Homosexualität bei Nike dazu führte, die Ablehnung zu verinnerlichen und schließlich als ›internalisierte Homophobie‹ gegen sich selbst zu richten. Als Nike ihre erste lesbische Partnerschaft offen kundtat, traf sie an ihrem Arbeitsplatz erneut auf Ablehnung, was ihre verinnerlichte Homophobie wieder mobilisiert oder bestärkt haben kann. Sie zeigt ein starkes Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung und sucht diese in ihren Partner/innenschaften. Sie ist mit dem Gefühl aufgewachsen, nicht die von ihr ersehnte Aufmerksamkeit, Fürsorge, Geborgenheit und Unterstützung erhalten zu haben. Ihre Enttäuschung über die Nichterfüllung ihrer Hoffnungen entlädt sich eruptiv in Gewalt. Zudem nimmt dieser eine Stellvertreterfunktion ein und repräsentiert den Täter des von ihr erlittenen sexuellen Missbrauchs. Aufgrund der von ihr erlebten Gewalt und den wiederholten Unzufriedenheiten über die mangelnde Fürsorge und Geborgenheit sieht sich Nike vor allem als Opfer, dem schweres Leid zugefügt worden ist. Ihre eigenen gewalttätigen Übergriffe geraten dabei in den Hintergrund. Die Betrachtung der Geschehnisse zeigt, dass Nike während des Übergriffs ihrer Verzweiflung, Ohnmacht und Wut ausgeliefert zu sein scheint. Danach ist sie verzweifelt bemüht, die Ereignisse ungeschehen zu machen; sie befürchtet, nun nicht mehr geliebt zu werden. Obgleich Nike ihre Bemühen als »Wiedergutmachung« bezeichnet, fehlen not93
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wendige Elemente einer tatsächlichen Wiedergutmachung wie die Übernahme der Verantwortung für das Geschehen, so dass es nahe liegt, dass sie vielmehr die ›Uhr zurückdrehen‹, d.h. die Tat ungeschehen machen möchte. Auch schämt sie sich danach für ihr Verhalten. Ihre Scham hindert sie anfänglich auch daran, sich Hilfe und/oder Unterstützung zu suchen und befördert das Verheimlichen ihrer Gewalt. In ihrem Bemühen, ihr gewalttätiges Verhalten verständlich zu machen, zieht Nike vor allem Gründe heran, die außerhalb von ihr liegen. Das lässt vermuten, dass sie die von ihr verübte Gewalt nicht als Teil von sich betrachtet. Sie glaubt beispielsweise, dass ihre Partnerin Gertrud den Übergriff durch ihr Verhalten verschuldet habe; auch will sie nicht wahrhaben, dass ihre Tat eine derart schwere Auswirkung auf Gertrud haben könnte, wie diese ihr versucht zu vermitteln. Sie ist der Meinung, dass Gertrud weitaus größere psychische Probleme als die durch ihre Gewalt ausgelöste Unbill habe. Des Weiteren benutzt sie zur Beschreibung des Geschehens eine verharmlosende Sprache, so habe es beispielsweise ein »Missverständnis« gegeben oder aber ihr sei »die Hand ausgerutscht«. Zudem deutet sie Gertruds Gegenwehr derart, dass beide Frauen gleichermaßen an der »Schlägerei« beteiligt gewesen seien, was vermuten lässt, dass sie ihre Partnerin in dem Konflikt als ebenso beteiligt wahrnimmt. Auch rückt sie in ihrer Beschreibung der Geschehnisse bei ihrem Bruder die vermeintliche Mitwisserschaft ihres Bruders an ihrem sexuellen Missbrauch in den Vordergrund, wodurch ihre Attacke nicht nur abgemildert erscheint, sondern diese für sie zudem in gewisser Weise legitimiert. Die Dramaturgie ihrer Schilderung ist gekennzeichnet durch zwei parallele Erzählstränge, wobei derjenige, der ihre Opfererfahrung beschreibt, den Strang überlagert, der die von ihr verübte Gewalt beschreibt. Diese Dramaturgie verweist auf ihr Bemühen, in ihrer Erzählung eine Balance zwischen Täterschaft und Opfererfahrung herzustellen. In dem Interview wird jedoch auch deutlich, dass Nikes Partnerin Angst vor ihr hat: Gertrud versucht, Nike ihre Angst zu vermitteln; aufgrund ihrer Angst empfindet sie auch Nikes verbale Attacken als gewalttätig. Nike kann aber die Konfrontation mit Gertruds Angst nicht aushalten und versucht andere, außenstehende Gründe für die schwerwiegenden Auswirkungen heranzuziehen. Schließlich zieht sich Gertrud aus der Partnerschaft zurück und nutzt die räumliche Distanz für eine Trennung – auch wenn diese letztlich von Nike verbalisiert wird. Durch Gertruds Rückzug aus der Partnerschaft erfährt Nike eine negative Konsequenz ihrer physischen Attacke, weshalb sie diese in den nachfolgenden Streitgesprächen nicht länger anwendet. Dennoch kann sie trotz ihres intensiven Bemühens die sich anbahnende Trennung nicht aufhalten. 94
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Nike schlägt sowohl ihrer Partnerin als auch ihrem Bruder vor, eine Paartherapie zu beginnen, was erneut vermuten lässt, dass sie beide nicht als Opfer betrachtet, sondern vielmehr als an der Gewalt beteiligte Personen, wenn nicht sogar als deren Verursacher. Zugleich ist ihr Vorschlag einer Paartherapie ihrer Verlustangst geschuldet, denn Nike möchte ihre Beziehung zu Gertrud und auch die zu ihrem Bruder nicht verlieren. Beide lehnen jedoch eine Paartherapie ab, so dass sich Nike erneut zurückgewiesen fühlt. Auch greift sie selbst immer wieder auf verschiedene therapeutische Maßnahmen zurück, von stationärer Krisenintervention bis hin zur ambulanten Therapie. Im Vordergrund der Therapien stehen dabei nicht ihre aggressiven Anteile, sondern ihre Opferwerdung: Dadurch wird die von ihr verübte Gewalt zu einer Art ›umgeleiteter Autoaggression‹. Sie ist sich des selbstzerstörerischen Aspekts der von ihr verübten Taten gewahr, nicht jedoch des zerstörerischen gegenüber anderen. Nike erwartet von dem Therapeuten/der Therapeutin die Übernahme väterlicher, resp. mütterlicher Fürsorge und Zuwendung. Bleibt ihr diese versagt, wechselt sie den/die Therapeut/in. Eine Geschlechtsspezifik der Opfer liegt offenbar nicht vor. Nike wird dann gewalttätig, wenn sie sich zurückgewiesen fühlt, wobei ihre Attacken von Gefühlen der Ohnmacht, Verlustangst und der Wut begleitet werden. Die Intensität ihrer Gefühle kann dabei auf ihr starkes Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe zurückgeführt werden. Dennoch rückt sie ihr Opfersein stark in den Vordergrund. Ihre psychotherapeutischen Erfahrungen lassen sie ›psychologisch geschult‹ erscheinen, was es ihr ermöglicht, das Verhalten ihrer Partnerin auf deren sexuellen Missbrauch zurückzuführen. Dadurch mildert sie aber zugleich die schwerwiegenden Auswirkungen ihres eigenen gewalttätigen Verhaltens ab. Aufgrund von Gertruds Angst, die die Beziehung stark beeinflusst, liegt hier ebenfalls eine Täter-Opfer-Struktur vor. Durch den Rückzug der Partnerin aus der Beziehung kann sich aber keine dauerhafte Gewaltstruktur etablieren, wie sie in der Partnerschaft von Elvira und Agnes aufgezeigt werden konnte. Im Gegensatz zu Elvira kann Nike zum Zeitpunkt des Interviews die eigene Täterschaft nicht annehmen und sieht sich als Opfer.
Martina und Andrea aus Sicht beider Frauen Beide Frauen nahmen in einem zeitlichen Abstand von ca. eineinhalb Jahren an den Interviews teil. Ihre Erzählungen über ein bestimmtes Geschehen legte die Vermutung nahe, dass es sich bei ihren Partnerschaf95
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ten um ein und dieselbe handelt. Daher wurden die Interviews zusammengeführt, um so ein umfassendes Bild der Beziehung zeichnen zu können. Die Beziehung von Martina und Andrea dauerte ca. zweieinhalb Jahre und war für Martina ihre erste lesbische Partnerschaft, nicht jedoch für Andrea. Während Martina Studentin ist und sich durch einen Nebenjob finanziert, hat ihre Partnerin einen Hauptschulabschluss und keine abgeschlossene Berufsausbildung. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie erwerbslos. Beide Frauen sind Mitte 30. Während Martinas erzählerischer Schwerpunkt auf der Beziehung liegt, berichtet Andrea vornehmlich von ihrem Verhalten nach der zweiten, endgültigen Trennung, wobei hier der Schwerpunkt auf ihrem mehrmonatigen Telefonterror liegt. Die Partnerschaft hat für beide Frauen einen unterschiedlichen Stellenwert: Martina erachtet ihre Liebesbeziehung gleichwertig zu ihrem engen Freundinnenkreis und es ist für sie von großer Bedeutung, dass sie für ihre Freundinnen und Freunde wichtig ist. Andrea dagegen erwartete, dass sie im Vergleich zu Martinas Freundinnen eine hervorgehobene Stellung innehat und nicht mit diesen gleichgesetzt wird. Auch ist sie bereit, in der Partnerschaft all ihre Sachen »herzugeben«. Die Äußerung kann derart gelesen werden, dass sie die Grenzen von sich und ihrem Gegenüber auflöst. Sie hat daher die Grenzen, die Martina ihren Freundinnen gegenüber gezogen hat, nicht auf sich bezogen, was schließlich zu einer Konfliktquellen zwischen den Frauen wurde. Martina beschreibt ihre Beziehung zu Andrea als von Beginn an von sozialen und intellektuellen Differenzen geprägt. Die Kommunikation hätte primär auf einer vorsprachlichen Ebene stattgefunden, denn die verbale Interaktion sei von Beginn an gestört gewesen. Nähe sei vor allem durch Sexualität und Tanzen hergestellt worden. Die Sexualität habe jedoch sehr früh abgenommen, was Martina auf Andreas Erfahrung von sexuellem Missbrauch zurückführt. Sie beschreibt ihre Partnerin als sehr bedürftig, wobei ihre Bedürftigkeit mit dem starken Wunsch auch nach räumlicher Nähe einhergegangen sei. Zudem nimmt sie ihre Partnerin in deren Bedürftigkeit als machtvoll und kontrollierend wahr. Des Weiteren sei Andrea eifersüchtig und habe Martinas Freundinnen ein sexuelles Interesse unterstellt. Sich selbst sieht Martina hingegen als sehr fürsorglich an und übernimmt partiell die Verantwortung für Andreas Lebensgestaltung, weil sie deren Verantwortungslosigkeit gegenüber sich selbst und Dritten nicht erträgt. Martina sieht sich zudem als einen Menschen, dem es schwer fällt, Grenzen zu setzen. Diese hätten daher auch eine besondere Bedeutung für sie. Andrea wiederum habe ihre Grenzen oft nicht respektiert, was in einem Fall dazu führte, dass sie sich vorübergehend von Andrea getrennt habe. Schließlich habe Martina die Beziehung 96
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im Rahmen einer Paartherapie endgültig beendet. Sie berichtet hauptsächlich von Konflikten während der Partnerschaft, in denen sie aggressiv geworden sei. Martina erzählt, dass Andrea sie so lange provoziert habe, bis sie schließlich wütend geworden sei, geweint und an die Decke getreten oder an die Wand geschlagen habe. Sie glaubt, dass Andrea sie provoziert habe, um das von ihr empfundene Machtungleichgewicht aufzulösen; daher sei eine frühzeitige Beendigung des Konflikts nicht möglich gewesen, denn erst durch Martinas emotionale Reaktion, die mit einem Verlust von Kontrolle einhergegangen sei, habe sich Andrea von ihrem Gefühl der Unterlegenheit befreien können. Martina erzählt, dass sie sich in den Konflikten oft an die Streite mit ihrer jüngeren Schwester erinnert fühlt, als sie noch Kinder gewesen seien. Das lässt vermuten, dass sich die Partnerinnen hier auf einer kindlichen Ebene begegnen. Andrea kann sich dagegen kaum an die beziehungsinternen Konflikte entsinnen. Sie erinnert sich vor allem daran, dass ihre Partnerin »schnell aus der Haut gefahren« sei. Martinas Beschreibung ihrer eigenen aggressiven Akte wiederum lässt vermuten, dass sie nicht zu den aktiven Anteilen ihrer Gewalt stehen kann. Nach der letzten, endgültigen Trennung habe Andrea sie über mehrere Monate telefonisch terrorisiert. Schließlich sei es zu einem Treffen gekommen, weil Andrea ihr ihre persönlichen Sachen zurückgeben wollte. Andrea habe sie dabei erneut beschimpft und ihr vorgeworfen, sich nur »wegen des Sexes« getrennt zu haben. Martina habe das zurückgewiesen. Daraufhin habe Andrea wütend auf den Sack geschlagen, in dem Martinas Sachen gewesen seien. Schließlich seien beide Frauen mit erhobenen Fäusten aufeinander zugerannt und hätten sich an den Jacken gepackt und geschüttelt. Andrea dagegen erzählt, dass sie mit Martina sehr glücklich gewesen sei und sich noch nie so sicher wie in dieser Beziehung gefühlt habe. Nach zwei Jahren sei es mit der Beziehung jedoch sehr »bergab« gegangen und die Konflikte hätten besonders im letzten halben Jahr stark zugenommen. Ihrer Auffassung nach habe auch die Sexualität unter den Konflikten gelitten. Sie könne sich jedoch kaum an die beziehungsinternen Konflikte erinnern, weil ihre stärksten Gefühle mit der Trennung verbunden seien. Sie berichtet, dass sie sich in Konfliktsituationen von Martina nicht wertgeschätzt gefühlt habe. Schließlich hätten diese derart zugenommen, dass es zur Trennung gekommen sei. Obgleich sie die Trennung vordergründig mit den beziehungsinternen Konflikten begründet, zeigt sich im Verlauf des Interviews, dass sie den eigentlichen Grund in den vorhandenen sexuellen Problemen sieht. Nach der Trennung fühlt sie sich verletzt und ungerecht behandelt. Sie empfindet Einsamkeit und glaubt, dass nur Martina sie aus ihrer Misere erlösen könne. Sie will Martinas Fürsorge und Zuwendung, die sich stattdessen einer 97
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anderen Frau hinwendet. Auch erlebt sie die Trennung als Macht- und Kontrollverlust. Andrea ist verzweifelt und will mittels zahlreicher Telefonanrufe, während derer sie Martina auch beschimpft und ihr mit Selbstmord droht, deren Zuwendung erzwingen. Andrea wendet sich nun an ihren Freundes-/Freundinnenkreis, um dort die ersehnte Zuwendung zu erhalten. Dieser steht dem Geschehen jedoch hilflos gegenüber, was sie als Zurückweisung empfindet. Andrea vergleicht ihr gewalttätiges Verhalten mit einem »Borderline-Syndrom«, d.h. mit einer Krankheit, wobei sie ihr Verhalten als außerhalb ihrer Kontrolle liegend wahrnimmt. Zudem begründet sie ihr gewalttätiges Verhalten mit einem »Impulskontrollverlust«. Dieser Ausdruck weist auch auf psychologische Erfahrung hin. Beide Beschreibungen legen die Vermutung nahe, dass sie nicht zu den aktiven Teilen ihrer Gewalt stehen kann. Dennoch kann sie mit Hilfe einer räumlichen und zeitlichen Distanz ihren Telefonterror beenden. Andrea hat Martina vor allem in der Trennungsphase als egoistisch und »unfair« wahrgenommen. Ihre negative Beschreibung von Martina steht in scheinbarem Widerspruch zu ihrem nachpartnerschaftlichen Stalking-Verhalten, mittels dessen sie versucht, deren Zuwendung einzufordern. Ihre Stalking-Aktivitäten haben dabei etwas Obsessives an sich, so habe sie »wie eine Wahnsinnige« am Telefon gesessen und erst aufhören können, ihre Partnerin anzurufen, wenn sie völlig erschöpft und müde gewesen sei. Währenddessen empfindet sie Hass, Wut und Ohnmacht; sie hat die Fantasie, dass ihre ehemalige Partnerin ihre Anrufe nicht mehr erträgt und ein Kissen auf das Telefon legt. Zugleich mildert sie die Auswirkungen ihrer gewalttätigen Verhaltensweisen ab, indem sie diesen ihr empfundenes Leid gegenüberstellt. Sie überträgt die Verantwortung für die von ihr verübte Gewalt gleichermaßen an ihre Partnerin/Ex-Partnerin, so wie sie auch die Verantwortung für ihre Lebensgestaltung an ihre Partnerin oder ihren Freundeskreis delegiert hat. Dabei erweist sie sich als sehr bedürftig und in hohem Maß abhängig, wobei sie kindlichen Verhaltensmustern verhaftet bleibt. So wünscht sie sich beispielsweise, in ihrem tiefen Leid einfach »an die Hand genommen« zu werden, oder aber dass ihre Freundinnen die mütterlichen Aufgaben ihrer (ehemaligen) Partnerin übernehmen und sie bekochen. Andrea zeigt zwar Schuldgefühle, da sie sich aber nicht in der Lage sieht, den Telefonterror alleine beenden zu können, erhofft sie von ihrem Freundes- und Freundinnenkreis darin unterstützt zu werden. Andrea ist enttäuscht, weil dieser sie nicht davon abhalten und ihr dadurch eine Grenze setzen konnte; zudem konnte dieser ihr die ersehnte mütterliche Fürsorge nicht zukommen lassen.
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Martina erzählt ebenfalls, dass sie sich von ihrer Partnerin nicht wertgeschätzt gefühlt habe, denn obgleich sie sich sexuell sehr zurückgehalten und sich nicht einmal mehr sexuelle Fantasien zugestanden habe, hätte Andrea ihr immer wieder ein sexuelles Interesse an anderen Frauen unterstellt. Sie empfindet sich als »altruistisch« und »edel«, weil sie sehr viel Verständnis für ihre Partnerin gezeigt, und eigene Bedürfnisse unterdrückt habe. In Martinas Lebensgeschichte zeigt sich, dass ihr Vater Alkoholiker war. Jahrelang musste sie mit der Angst vor dem Tod des Vaters leben, der behauptete, mit 52 zu sterben. Das Verhältnis zu ihrem alkoholkranken Vater war von Fürsorge und von einem Gefühl der Ohnmacht geprägt. Martinas Selbstwertgefühl wird vor allem durch das Gefühl, von anderen gebraucht zu werden und ihnen wichtig zu sein, gestärkt. Das schlägt sich auch in ihrer Beziehungskonstellation nieder, in der sie eine Partnerin hat, die sehr bedürftig ist, wobei sie diese auch in der Bedürftigkeit belässt, indem sie beispielsweise die Verantwortung für deren Lebensgestaltung übernimmt. Martinas Fürsorge erfährt jedoch nicht die Wertschätzung, die sie sich erwünscht, was zu einer Kränkung des Selbstwertes führt, die letztlich in die Eskalation der Gewalt mündet, die sich über den Verlauf der Partnerschaft abzeichnet. In Andreas Biographie wiederum zeigen sich psychische, physische und sexuelle Misshandlungen. Sie kam kurz nach der Geburt in ein kirchliches Kinderheim und wurde erst mit drei Jahren von ihrer Mutter in die sich nun stabilisierende Familie zurückgeholt. Die Mutter lebte mit Andreas Vater zusammen, der von ihr jedoch nur als »Erzeuger« bezeichnet wird. Dieser habe sie dann bis zu ihrem achten Lebensjahr sexuell missbraucht. Schließlich verübte ihr Vater Suizid. Ihr Verhältnis zu ihm ist auch nach seiner Selbsttötung von intensiver Wut gekennzeichnet. Die Erfahrung von sexuellem Missbrauch lässt die Vermutung zu, dass dieser negative Auswirkungen auf ihre Sexualität im Erwachsenenalter gehabt, und folglich auch die Partnerinnenschaft beeinflusst hat. Des Weiteren kann angenommen werden, dass Andrea versucht, mittels der Art und Weise, wie sie ihre Partnerschaft gestaltet, die in ihrer Kindheit entgangene mütterliche Zuwendung zu kompensieren. Sie bleibt dabei kindlichen Mustern verhaftet und weist ihrer Partnerin die Aufgabe der mütterlichen Fürsorgerin zu. So wird die Partnerschaft zu einem Substitut der Herkunftsfamilie und die Partnerin zu einem Substitut der Mutter. Sie trifft dabei auf Martina, die in ihrer Beziehung das von Fürsorge und Ohnmacht geprägte Verhältnis zu ihrem Vater wieder erlebt und ihren Selbstwert durch das Gefühl, gebraucht zu werden, stärkt. Die Interaktion der Partnerinnen von Fürsorgerin und Bedürftiger stabilisiert die Partnerschaft, wobei sich Andreas große Bedürftigkeit und Martinas Wunsch nach Fürsorge in der Beziehung ergänzen. Zu Konflikten und 99
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gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt es dann, wenn eine der beiden Frauen ihre partnerschaftliche Position vorübergehend aufgeben will bzw. die andere nicht ihre Wünsche erfüllt bekommt. Die gewalttätige Dynamik kann auch nicht von der endgültigen Trennung durchbrochen werden. Auch wenn Andrea wegen ihres nachpartnerschaftlichen Telefonterrors zuvorderst als gewalttätig erscheint, war es Martina, die durch ihr aktives Handeln die Rollenverteilung »Bedürftige vs. Fürsorgende« in der Partnerschaft moduliert hat: Sie hat die Verantwortung für die Lebensgestaltung ihrer Partnerin übernommen und diese dadurch in ihrer Kind-Position belassen und bestärkt. Als mögliche Gründe für diese spezifische Gestaltung der Beziehung lassen sich Aspekte ihrer Biographie heranziehen: Das Verhältnis zu ihrem alkoholkranken Vater war von massiver Verlustangst und von Machtlosigkeit geprägt, da sie davon ausgehen musste, dass er tatsächlich zu dem von ihm angegebenen Alter sterben werde.1 Martinas durchaus positive Beschreibung ihrer Familie lässt vermuten, dass sie keine negativen Gefühle, wie beispielsweise Wut auf ihren Vater, zulässt. Sie relativiert dieses vorteilhafte Bild zwar, indem sie von dem Alkoholismus ihres Vaters berichtet, benutzt aber das Bild ihrer Familie dazu, sich von ihrer Partnerin abzugrenzen. Martinas Bedürfnis, besonders »edel, hilfreich und gut« zu sein, kann folglich familiäre Wurzeln haben und wird in ihrem Beziehungsgefüge fortgeführt: Sie hat ein weites Netz an unterschiedlichen Beziehungen aufgebaut, die sie als gleichwertig betrachtet. Dabei ist es ihr wichtig, anderen wichtig zu sein, d.h. sie stärkt ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstachtung über das »Dasein für andere«. In ihrer Partnerschaft zu Andrea kommt dieser Mechanismus zum Tragen, da diese sich als äußerst bedürftig erweist. Für ihre vermeintlich selbstlose Haltung und Fürsorge erhofft sich Martina Anerkennung und Liebe, wobei ihr diese ihrer Wahrnehmung nach versagt bleibt. Da sich die Interaktion beider Frauen
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Im Umfeld von abhängigen Menschen sieht sich ein mitbeteiligter Mensch, sei es die Partnerin oder das Kind, auch zu bestimmten Haltungen und Handlungen veranlasst, wodurch möglichst lange ein Bild einer intakten und gesellschaftlich anerkannten Familie aufrechterhalten werden kann. Das Verhalten von Personen, die mit einem suchtkranken Menschen zusammenleben oder in enger Verbindung zu ihm stehen, und deren Leben durch die Sucht beeinträchtigt wird, wird nach Schmieder (1992) als CoAbhängigkeit bezeichnet. Es gelten unausgesprochene, familiäre Regeln, beispielsweise die, keine Gefühle, insbesondere keine negativen, zu äußern oder die, dass jedes Familienmitglied, ausgenommen den betroffenen Menschen, besonders »edel, hilfreich und gut« sein sollte. Die Verhaltensweisen und Haltungen führen zu starken Verstrickungen, so dass sich schließlich die gesamte Persönlichkeit eines Menschen ändern kann.
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zudem auf einer vorsprachlichen Ebene bewegt und sie zugleich kindlichen Verhaltensmustern verhaftet bleiben, kommt es zu physischen Ausdrucksformen von Aggressionen bis hin zur Gewalt. Das Bedürfnis nach umfassender Fürsorge geht mit dem Wunsch nach Einssein mit der Partnerin einher. Die lesbische Partnerschaft wird dabei als Schutzraum und in Abgrenzung eines als ablehnend wahrgenommenen Umfeldes betrachtet: So hätten Martina und Andrea sich in einer Situation, in der sie belästigt worden seien, wortlos verstanden und sich gemeinsam dem Angreifer entgegengestellt. Beide Frauen greifen hier auf ihre Erfahrungen von Lesbenfeindlichkeit als gesellschaftliche Realität zurück. Die gemeinsame Erfahrung von Ablehnung gestaltet die Partnerschaft, indem diese verstärkt als Schutzraum vor homophoben Attacken gilt; durch den nach außen verlagerten ›Feind‹ wird auch das eigene ›Böse‹ nach außen verschoben, wodurch das Einssein mit der Partnerin nicht nur aufgrund gemeinsamer ablehnender Erfahrungen, sondern auch durch das Verlagern von Trennendem nach außen befördert wird. Die Beziehung von Martina und Andrea kann derart beschrieben werden, dass Martina während, Andrea vor allem nach der Partnerschaft gewalttätig geworden ist. Es scheint jedoch auch so zu sein, dass sich Martinas aggressives Verhalten nicht direkt gegen ihre Partnerin richtete; dennoch ist Andrea mittelbar von Martinas Aggression betroffen, denn diese signalisiert, dass sie sich auch direkt gegen sie richten könnte. Demgegenüber richtet sich Andreas Telefonterror nach Beendigung der Beziehung direkt gegen ihre Partnerin, d.h. Martina ist unmittelbar betroffen. Die Betrachtung des ganzen Beziehungszeitraums weist auf ein kontinuierliches, eskalierendes Fortschreiten zur Gewalt hin, die von ›einfachen‹ physischen Übergriffen in Form von Sachbeschädigungen und psychischen Angriffen in Form von Verspotten, Herabsetzen, Drohungen, Erniedrigungen und Demütigungen bis hin zu nachpartnerschaftlichen Stalking-Aktivitäten und erstmaligen physischen Attacken, die sich gegen den Körper Partnerin richten, reicht. Beide Frauen berichten in ihren Interviews von einer Paartherapie. Andrea berichtet zudem von einer Psychoanalyse im Zeitraum der Beziehung sowie von einer Einzeltherapie. Während die Psychoanalyse offenbar der Aufarbeitung individueller Problemlagen galt, diente die Paartherapie der Aufrechterhaltung der Partnerschaft. Die darauf folgende Einzeltherapie sollte signalisieren, dass Andrea bemüht ist, die Partnerschaft aufrechtzuerhalten. In den von Andrea angeführten psychotherapeutischen Maßnahmen stehen offenbar das von ihr erfahrene Leid und ihr Umgang damit im Vordergrund, nicht jedoch ihre Gewaltausübung. In einem von ihr beschriebenen therapeutischen Setting wird deut101
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lich, dass sie dabei versucht, der Psychotherapeutin die mütterliche Rolle zuzuweisen. Daher liegt die Vermutung nahe, dass sie, nachdem weder ihre Partnerin noch ihr Freundeskreis diese Funktion erfüllt haben, nun nach anderen Personen sucht, denen sie diese Aufgabe zuweisen kann. Andrea hat ihr gewalttätiges Verhalten schließlich selbst beenden können, indem sie eine räumliche und zeitliche Distanz schaffte. Dennoch ist anzunehmen, dass sich ein derartiges Verhalten wiederholen wird, ebenso wie Martina ein analoges Beziehungsmuster erneut eingehen wird. Im Gegensatz zu den vorher beschriebenen Partnerschaften lässt sich hier anhand des Kriteriums der Angst keine Täter-OpferRelation feststellen. Vielmehr modulieren beide Frauen aktiv die gewalttätige Beziehungsdynamik, so dass sie beide als Akteurinnen beschrieben werden können.
Lydia und Nadine aus Sicht von Lydia Lydia beschreibt ihre Beziehung zu Nadine, in der ihres Erachtens beide Frauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten sowohl physisch als auch psychisch gewalttätig geworden sind. Beide Frauen waren während der Partnerschaft Mitte 30; die Beziehung dauerte ca. zweieinhalb Jahre, wobei sie zum Zeitpunkt des Interviews seit wenigen Monaten getrennt war. Die Trennung wurde von Lydias Partnerin Nadine vollzogen. Lydia beschreibt sich als aus der Mittelschicht stammend, während sich Nadine als »Prol« bezeichnet habe. Lydia weist zudem einen interkulturellen Hintergrund auf, während Nadines Eltern aus Deutschland stammen. Lydia berichtet, dass diese Partnerschaft bereits ihre dritte Beziehung sei, in der es zu Gewaltanwendung gekommen sei, wobei sie von ihren jeweiligen Partnerinnen als Gewalttätige beschrieben wurde. Die Wahrnehmungen ihrer ehemaligen Partnerinnen beruhten Lydias Auffassung nach jedoch auf deren Unfähigkeit zu einer klaren Kommunikation; sie hätten daher versucht, ihre Unsicherheiten durch Grenzsetzungen zu verdecken. Lydia erzählt jedoch auch, dass sie in den Konflikten mit ihrer gegenwärtigen Partnerin Wutanfälle bekommen, und Dinge zerstört oder Sachen aus den Schränken gerissen habe. Auch habe sie die von Nadine gesetzten Grenzen nicht immer respektiert, da sie diese als gewalttätig empfand. Lydia beschreibt ihre Partnerin Nadine als ebenfalls physisch und psychisch gewalttätig, so habe Nadine auch ihre Grenzen nicht respektiert und sei zudem physisch übergriffig geworden; Nadine habe beispielsweise Kampfsporttechniken ihr gegenüber eingesetzt oder aber ihr während des Autofahrens ins Lenkrad gegriffen und somit sich und an102
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dere gefährdet. Nach Lydias Eindruck waren Nadines Übergriffe sowohl reaktiv und von Ohnmacht und Wut begleitet als auch aktiv, um eigene Grenzen zu setzen bzw. eigene Interessen durchzusetzen. Lydia empfindet Nadines physische Übergriffe dennoch nicht so schwerwiegend wie ihre psychischen Attacken, da diese länger nachwirkten. Letztere hätten vor allem aus zahlreichen Herabsetzungen bestanden. Lydia erzählt die Geschehnisse während ihrer Beziehung zu Nadine überwiegend über die Reflexion des Verhaltens ihrer Partnerin. Ihr psychologisierender und diagnostizierender Erzählstil verdeutlicht, dass sie sich dadurch Distanz zu den eigenen Gefühlen schafft. Sie formuliert ihre Erwartungen an eine Beziehung über die negative Kritik an ihrer Partnerin Nadine, was die Vermutung nahe legt, dass sie kein eigenes, positiv besetztes Beziehungskonzept hat. In dem Interview wird deutlich, dass sich Lydia gegenüber ihrer Partnerin Nadine in einer unterlegenen und verletzbaren Position wahrnimmt. Nadines Beruf als Kampfsportlehrerin weckt in ihr die Hoffnung und Erwartung, in Nadine die von ihr benötigte Stärke zu finden; sie hofft, von dieser aufgefangen und umsorgt zu werden. Lydia ist schließlich von Nadine enttäuscht, weil diese ihre Erwartungen nicht erfüllt und sich selbst als bedürftig zeigt: Nadine erweist sich als verletzbar und unsicher, als »Opfer«. Dem Opfersein wiederum bringt Lydia eine massive Verachtung entgegen, die letztlich in ihrer starken Selbstverachtung für die eigene Opfererfahrungen begründet ist. Lydia kann sich nicht als Opfer annehmen. Ihr Verhalten ist dementsprechend ambivalent: Sie sucht Nähe und vermeidet diese gleichzeitig systematisch. Zugleich kann Lydia keinen Unterschied zwischen sich und Nadine zulassen und empfindet jede Grenzziehung als eine Zurückweisung ihrer Person. Die Sexualität nimmt in Lydias Beschreibung der Partnerinnenschaft eine bedeutende Rolle ein: Sie betrachtet die von Nadine gelebte sadomasochistische Sexualität als frauenverachtend. Lydia hat das Gefühl, von Nadine in ihre »Gewaltgeschichten« hineingezogen zu werden, d.h. sie nimmt die sadomasochistische Sexualpraktik als gewaltförmig wahr. Dennoch lässt sie sich darauf ein und übernimmt den Part der Sadistin, wobei Lydia den Eindruck hat, dass ihr diese Rolle vor allem von ihrer Partnerin zugeordnet worden sei. Sie fühlt sich von ihrer Partnerin in der Sexualität funktionalisiert und beschimpft diese als »Nutte« und »Puffmutter«. Sie erzählt aber auch, dass sie diese Rolle auch angenommen habe und »ziemlich darauf abgefahren« sei. Obgleich die Herabsetzungen an ihre Partnerin gerichtet sind, weisen sie auch auf Lydias erneute selbstentwertende Eigenwahrnehmung hin. Die Rolle der Sadistin setzt sie mit dem des Täters des sexuellen Missbrauchs gleich, wobei sie schließlich sogar die Fantasie hatte, Nadines Vater unbedingt kennen 103
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lernen zu wollen und von ihm ein Kind zu bekommen. Diese Fantasie lässt vermuten, dass Lydia selbst in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden ist. Lydia betrachtet ihr gewalttätiges Verhalten in der Partnerschaft als vergleichbar mit einem epileptischen Anfall, d.h. als etwas Krankheitsähnliches, was sich außerhalb ihrer Kontrolle befindet. Sie beschreibt ihre physischen Übergriffe als etwas »in einer Handlung rüberbringen« oder gar als »Lieblingsbeschäftigung«, wodurch das Geschehen verschleiert und abgemildert wird. Erst auf Nachfrage wird deutlich, dass sie wütend wurde und Sachen aus den Schränken und von den Wänden gerissen hat. Auch merkt sie an, dass sie ihre Wut nur gegen Dinge gerichtet habe, die reparabel gewesen seien. Lydia geht mit der von ihr verübten Gewalt derart um, dass sie ihr Verhalten rationalisiert bzw. intellektualisiert und es von einer vermeintlich neutralen und distanzierten Position, gleichsam aus der Vogelperspektive, beschreibt. Diese dient zwar vordergründig einer vermeintlichen Objektivierung bzw. Intellektualisierung der Geschehnisse, ist aber auch Ausdruck ihrer massiven Selbstentfremdung. Durch die Intellektualisierung verschließt sie den Zugang zu ihren Gefühlen. Dadurch, dass sie sich selbst fremd geworden ist, benötigt sie andere, beispielsweise ihre Partnerin, um ein bestimmtes, positives Bild von sich gespiegelt zu bekommen: Sie überträgt Eigenschaften wie Stärke, Wehrfähigkeit und Selbstsicherheit, die sie sich für sich selbst wünscht, auf andere. Das Bemühen um die ›Spiegelung‹ durch andere erklärt ihre kontinuierlichen Grenzverwischungen in dem Interview. Diese erfolgen nicht nur zwischen ihr und ihrer Partnerin, sondern auch in Situationen, in denen eigentlich eine deutliche Täter-Opfer-Zuordnung zu erwarten wäre, wie beispielsweise bei dem an sie gerichteten Vorwurf der Vergewaltigung. Hier verschwimmen nicht nur die Grenzen hinsichtlich der Frage von Täter und Opfer, sondern auch die Grenzen zu einer früher von ihr erlebten Vergewaltigung. Lydia berichtet sehr wenig über ihr Elternhaus. Ihr Vater stammte aus Nordafrika und ihre Mutter aus Deutschland. Ihr Vater verstarb als sie zehn Jahre alt war, ihre Mutter starb während ihrer Partnerschaft mit Nadine. Lydias Mutter hatte nach ihrer Wahrnehmung »psychotische« Anfälle und scheint Psychopharmaka genommen zu haben. Lydias starke Identifikation mit dem Missbraucher ihrer Partnerin, ihre Grenzverwischungen bezüglich Täterschaft und Opferwerdung sowie die selbstentwertende Beschreibung ihrer Vergewaltigung als ›interkulturelle Erfahrung‹ lassen erneut vermuten, dass sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurde. Infolgedessen ist sie sich selbst fremd geworden, hat den Zugang zu ihren Gefühlen verschlossen und nimmt sich und ihrer Umwelt gegenüber eine distanzierende ›Vogelperspektive‹ ein. Die von ihr 104
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beschriebene gewalttätige Beziehungsdynamik lässt vermuten, dass bei beiden Frauen in der Partnerschaft die traumatische Erfahrung von sexuellem Missbrauch wiederbelebt wird. Daher bedürfen sie zwar der Nähe, wehren sie aber gleichzeitig ab. Die Partnerschaft konfiguriert sich als kontinuierlicher Kampf um Grenzen, Nähe und Distanz, deren Mittel physische und psychische Gewalt ist. Lydia weist dabei Attribute sowohl einer Täterschaft als auch einer Opferwerdung auf, wobei sie jedoch weder den einen noch den anderen Anteil annehmen kann. Da beide an der Beziehungsdynamik gleichermaßen beteiligt sind und Angst nur situativ auftaucht, nicht jedoch die Partnerschaft prägt, kann auch hier keine Täter-Opfer-Relation festgestellt werden. Vielmehr können beide Frauen als Akteurinnen des Gewaltgeschehens erachtet werden.
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ERGEBNISSE UND
UNTERSUCHUNG THEORETISCHE REFLEXION DER
Es zeigen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen den gewalttätigen Dynamiken, die im Folgenden näher erläutert werden. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten befinden sich vor allem auf der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene. Da sich an einigen Punkten auch Annäherungen an die Beschreibungen von heterosexuellen männlichen Tätern häuslicher Gewalt zeigen, werden diese ebenfalls skizziert. Von den Gemeinsamkeiten lässt sich wiederum die Bedeutung von Gewalterfahrungen in der Lebensgeschichte der Frauen für deren eigenes Gewalthandeln ableiten. Anschließend werden die Unterschiede der geschilderten Fallbeispiele präsentiert, so dass schließlich eine Klassifizierung der unterschiedlichen gewalttätigen Beziehungsdynamiken möglich ist.
Lesbische Liebesbeziehungen mit Gewaltdynamiken – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Bedürftigkeit der Gewalt ausübenden Frau Fürsorge und Zuwendung Die Bedürftigkeit der interviewten Frauen zeigt sich in ihrem Wunsch nach allumfassender Fürsorge und Zuwendung. Da Elvira in ihrer Partnerschaft mit Agnes nicht jene ›mütterliche‹ Zuwendung findet, nach der sie sich sehnt, geht sie eine weitere Beziehung ein, in der sie sich »auch 107
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einmal fallen lassen« kann. Nike wiederum beschreibt ihre Position in der Partnerschaft als »Nehmende und Annehmende«, wobei auch sie erzählt, dass sie sich hier erstmals habe »fallen lassen« können. Mit diesem Gefühl geht die Hoffnung einher, von der Partnerin »aufgefangen« zu werden, die daher als stark, beschützend und umsorgend imaginiert wird. Auch Andrea nimmt eine sehr hilfsbedürftige Position ein, die es ihr ermöglicht, umfassende Fürsorge und Zuwendung auf sich zu ziehen. Äußerungen wie der Wunsch, »einmal an die Hand genommen zu werden«, und die vorsprachliche Kommunikation in der Beziehung legen nahe, dass sie diesbezüglich in lebensgeschichtlich frühen Verhaltensmustern verharrt. Da diese Kommunikationsebene ihr ermöglicht, Aufmerksamkeit und Zuwendung auf sich zu ziehen, erscheint die ›kindliche‹ Haltung als machtvoll. Die Bedürftigkeit ihrer Partnerin Martina zeigt sich dagegen in deren Wunsch, andere zu umsorgen und dafür Anerkennung und Zuwendung zu erfahren. Schließlich suchen auch Lydia und Nadine in ihrer Partnerin Stärke, Geborgenheit und Zuwendung. Nadine verbleibt in der Partnerschaft in der Position des Opfers, wodurch sie sich möglicherweise erhofft, in ihrem Opfersein von ihrer Partnerin angenommen zu werden und den in ihrer Kindheit versagten Schutz und die entgangene Zuwendung zu erhalten. Lydia wiederum hofft, in ihrer Partnerin jene Stärke zu finden, derer sie bedarf, um sich beschützt zu fühlen: So habe sie sich anfänglich für Nadine interessiert, weil diese sie aufgefangen habe, als sie »abgestürzt« sei. Auch erzählt sie, dass sie in der Partnerschaft ihr »inneres Kind« abgestellt habe. Das lässt vermuten, dass sie sich in der Partnerschaft als schutzbedürftiges »Kind« wahrnimmt, wobei ihr jedoch der Schutz versagt bleibt, weil ihre Partnerin Nadine ebenfalls sehr bedürftig ist.
Der Wunsch nach Einssein In vor allem psychologisch orientierter Literatur wird der Wunsch nach Einssein in lesbischen Beziehungen thematisiert und als ein wesentlicher Aspekt des Scheiterns dieser Partnerschaften ausgemacht (z.B. Streit 1992). Flaake sieht hier einen Zusammenhang zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlich verankerten, geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen. Sie ist der Auffassung, dass »gesellschaftliche Hierarchisierungen« auch das Verhältnis unter Frauen prägen. So gebe es »[…] in Beziehungen unter Frauen […] häufig vorfindbare Strukturen […], die damit zusammenhängen, dass an Frauen als Geschlecht bestimmte lebensgeschichtliche Erfahrungen und damit auch bestimmte Fantasien, Wünsche und Ängste gebunden sind« (Flaake 2000:49). Besonders »verführerisch« sei die »Vorstellung von Gleichheit und Ge108
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meinsamkeit«, die sich mit einem »inneren Verbot von Autonomie, von Abgrenzung und Trennung« verbinde (ebenda 2000:53). Diese Vorstellung beruhe auf der ersten intensiven Bindung von Mutter und Tochter, wobei in der lesbischen Partnerschaft jene entgangene Wertschätzung zum Tragen kommt, die in der Mutter-Tochter-Beziehung wegen des homoerotischen Tabus verwehrt bleibe. Nach Flaake (2000) ermöglichen Frauenbeziehungen »so etwas wie eine ›nachholende Sozialisation‹«, in der sich »Körperlichkeit und Sexualität […] im Spiegel einer anderen Frau« entfalten können. Der Wunsch nach allumfassender und kritikloser Liebe führe unvermeidlich zu Enttäuschungen. Es gebe verschiedene Möglichkeiten, mit der Enttäuschung umzugehen, so beispielsweise die Aufrechterhaltung der »symbiotischen Illusion« oder aber der Schritt hin zu einer »realitätsgerechteren Sichtweise der Anderen und einer inneren Abgrenzung«. Eine besondere Bedrohlichkeit stellten in symbiotischen Beziehungen aggressive Impulse dar, wobei bereits »leiseste Äußerungen« von Unzufriedenheit vermieden werden müssten, »denn mit ihnen droht alles Zurückgedrängte aktualisiert zu werden« (Flaake 2000). Wut könne kurz gefühlt oder verbalisiert werden, jedoch würde diese von Schuldgefühlen überlagert werden, was dazu führe, sie ungeschehen machen zu wollen. Auch betrieben Frauen einen »großen Energieaufwand«, damit »negative Regungen unbewusst« blieben (Musfeld, zitiert in Flaake 2000). Der Wunsch nach Einssein und die damit oftmals einhergehende Enttäuschung kann dort, wo keine anderen Umgehensweisen mit der eigenen Unzufriedenheit mehr möglich sind, schließlich Gewalttätigkeiten auslösen.
Auflösung von Ich-Grenzen Der Wunsch nach Einssein ist Ausdruck des Bedürfnisses nach grenzenund kritikloser Geborgenheit, wobei die Ich-Grenzen aufgehoben werden und die Partnerinnen miteinander ›verschmelzen‹. So sieht sich Elvira in Konkurrenz zum gemeinsamen Sohn, dessen Verhältnis zu seiner Mutter jene enge Beziehung darstellt, die sie sich von der Partnerschaft erhofft. Sie sieht sich in der Partnerschaft in der Position des »Kindes«, welches letztlich mit dem anderen Kind um die »Mutter« konkurriert. Ihr Wunsch, mit Agnes eine derart enge Bindung einzugehen, die einem frühkindlichen Mutter-Kind-Verhältnis entspricht, weist auf eine Auflösung ihrer Ich-Grenzen hin. In einem frühkindlichen Mutter-Kind-Verhältnis hat sich das Kind noch nicht von der Mutter abgegrenzt und bildet eine Einheit mit ihr. Auch Nike betont in ihrer Beziehung zu Gertrud eine starke Verbundenheit beider Frauen, die in der gleichen Erfahrung von sexuellem Missbrauch begründet liege. 109
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Durch das ähnliche Schicksal sieht sie Gertrud nicht mehr als ein Gegenüber, das möglicherweise anders mit den eigenen Gewalterfahrungen umgehen könnte, sondern löst ihre Ich-Grenzen auf und hofft, dass ihre Partnerin sie wegen vermeintlich gleicher Erfahrungen versteht und gleichermaßen empfindet; sie betrachtet Gertrud als einen Teil von sich. Das hat unter anderem zur Folge, dass Nike Gertruds beruflichen Erfolg auch als den ihrigen ansieht. Zugleich wird diese Illusion aber durch Nikes Lebensrealität konterkariert, so dass sie mit Neid auf Gertruds beruflichen Erfolg reagiert und ihr schließlich eine Schuld an dem eigenen Misserfolg zuschreibt. Der Wunsch nach Einssein zeichnet sich auch in der Beziehung von Martina und Andrea ab. Hier findet sich ebenfalls eine Parallele mit frühkindlichen Mutter-Kind-Strukturen, in denen noch keine Abgrenzung zwischen Mutter und Kind vorhanden ist. So berichtet Andrea, dass sie in ihrer Partnerschaft all ihre Sachen »hergeben« und ihre Partnerin in ihren »Ideen und Wünschen« unterstützen würde, auch wenn sie selbst andere Vorstellungen hätte und damit »nicht klar käme«. Diese Äußerung verdeutlicht ihre Haltung, das Selbst zugunsten der Partnerin zurückzustellen. Ihre Formulierung »hergeben« lässt aber auch den Schluss zu, dass das Selbst nicht nur zurückgestellt, sondern auch aufgelöst wird. In der Trennungsphase schließlich empfindet Andrea die Trennung als »unfair« und kann es nicht ertragen, dass ihre Partnerin sie loslässt. Sie sucht einen mütterlichen Ersatz in ihrem Freundeskreis und hofft, dass dieser »einfach einmal stumpf etwas für sie kocht«. Martina beschreibt ihre Fürsorge bis hin zur Auflösung eigener Grenzen. So habe sie sich beispielsweise keine sexuellen Fantasien mehr zugestanden, nachdem zwischen ihr und Andrea keine Sexualität mehr möglich gewesen sei. Schließlich berichtet Martina auch, dass sie sich teilweise in der Rolle einer »Mutter« gesehen habe, die sich um ein bedürftiges Kind kümmern müsse, für es kocht, mit ihm einkaufen geht usw. Die Beziehung von Martina und Andrea ist getragen von dem Versuch, eine frühkindliche Mutter-Kind-Bindung herzustellen, wobei die Aufgaben komplementär sind. Auch in der Partnerschaft von Lydia und Nadine sehnen sich beide Frauen nach Nähe, die sie aber zugleich nicht ertragen können. In dem Moment, in dem die Bedürftigkeit einer der Partnerinnen zutage tritt, wird sie von der anderen zurückgewiesen, beispielsweise indem Nadine eine sexuelle Affäre beginnt oder aber Lydia Nadine herabsetzt. Lydias Beschreibung der Sexualität ist im Kontext der Konflikte von zahlreichen Grenzverwischungen geprägt, die nur schwerlich einen Schluss darüber zulassen, wer eigentlich gemeint ist. Das gilt insbesondere für ihre Beschreibung einer Vergewaltigung, wo letztlich offen bleibt, wer 110
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wem Gewalt angetan hat. Diese Grenzverwischungen weisen ebenfalls auf die Auflösung ihrer Ich-Grenzen hin. Bei Lydia und Nadine scheint zudem die Ebene, auf der das Einssein hergestellt wird, vor allem die Sexualität zu sein. Lydias Bestreben, diese Ebene zu ändern, werden ihrer Wahrnehmung nach von Nadine abgewehrt. In der Partnerschaft von Lydia und Nadine ist besonders fatal, dass die Ebene, auf der das Einssein hergestellt wird, zugleich jene ist, in der traumatische Erfahrungen wieder belebt werden. Die hier dargestellten Fallbeispiele verdeutlichen verschiedene Möglichkeiten, ein Einssein mit der Partnerin herzustellen. Dieser Wunsch ist getragen von dem Bedürfnis, von der Partnerin umfassend und kritiklos geliebt zu werden. Mit dem Wunsch nach Einssein geht die Auflösung der Ich-Grenzen einher. Diese erfolgt oftmals durch die Annäherung an ein frühkindliches Mutter-Kind-Verhältnis oder aber durch vergleichbare (traumatische) Erfahrungen, die die andere als Teil des Selbst erscheinen lassen.
Geringes Selbstwertgefühl Eine weitere Facette der Bedürftigkeit schließlich ist das geringe Selbstwertgefühl der Frauen. Unter einem Selbstwert wird der Eindruck, den eine Person von sich selbst hat und wie sie ihn bewertet, verstanden. Für die Entwicklung eines positiven Selbstwerts scheint die Kindheit von besonderer Bedeutung zu sein, wird es doch vor allem durch die elterliche Anerkennung und Wertschätzung sowie als positiv erlebte Gefühle befördert (Forward 1993; Satir 2002). Folglich können Gewalterfahrungen in der Kindheit oder Erlebnisse von sozialer und emotionaler Vernachlässigung wesentlich zu einem geringen Selbstwertgefühl beitragen. Dieses wiederum beeinflusst bei den interviewten Frauen auch deren Erwachsenenleben und schlägt sich schließlich in ihren Partnerschaften nieder. So hat sich Elvira ihrer Partnerin unterlegen gefühlt und glaubte, sich ihr gegenüber nicht ohne physische Gewalt durchsetzen zu können. Elvira weist in ihrer Lebensgeschichte, bedingt durch den frühen Tod ihrer Eltern, Aspekte einer emotionalen und sozialen Vernachlässigung auf, die zu ihrem geringen Selbstwertgefühl beigetragen haben können. Nike fühlt sich ebenfalls ihrer Partnerin unterlegen. Sie weist eine Biographie von körperlichen und sexuellen Misshandlungen auf, die einem positiven Selbstwert abträglich sind. Lydia wiederum identifiziert sich mit dem Täter ihres sexuellen Missbrauchs und adaptiert seine Macht, weshalb sie sich ihrer Partnerin überlegen fühlt. Zugleich weist sie aber eine derart massive Selbstverachtung auf, dass keinerlei Raum für einen positiven Selbstwert vorhanden ist. Andrea wiederum zeigt in 111
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ihrer Lebensgeschichte ebenfalls Erfahrungen von sexualisierter und physischer Gewalt sowie emotionaler Vernachlässigung. Diese können – wie bei den anderen Frauen auch – zu einem geringen Selbstwertgefühl beigetragen haben. Bei Martina wiederum zeigt ihr grundlegendes Verhaltensmuster, anderen Menschen ihre aufopfernde Fürsorge zuteil werden zu lassen, eine Möglichkeit auf, ihren Selbstwert zu stabilisieren. Hier liegt die Vermutung nahe, dass der Alkoholismus ihres Vaters zu einem geringen Selbstwertgefühl beigetragen hat. Martina verspürte eine tiefe Ohnmacht, ihren Vater vor dem vermeintlich anstehenden Tod nicht retten zu können, und empfindet seine Äußerungen, in einem bestimmten Alter zu sterben, rückblickend als gewalttätig. Auch können sich durch die Alkoholkrankheit familiäre Strukturen ergeben, in denen der Vater im Zentrum der Fürsorge durch alle Familienmitglieder steht, d.h. auch die Kinder dem Vater eine vermehrte Fürsorge zukommen lassen. Die Wertschätzung des Vaters erfolgt hier – wenn überhaupt – durch ihre ihm zukommende Fürsorge. Martinas durchaus wohlwollende Beschreibung ihrer Herkunftsfamilie lässt zudem vermuten, dass ihr daran gelegen war, nach außen das Bild einer intakten Familie zu repräsentieren. In ihrer Beziehung mit Andrea werden folglich die Strukturen aus der Herkunftsfamilie wiederbelebt, denn die Partnerin bedarf ihrer umfassenden Fürsorge. Dadurch wird Andreas bedürftige Position bestärkt und festgeschrieben, während Martina so ihr Selbstwertgefühl stabilisiert.
Enttäuschung Der Wunsch nach Einssein mit der Partnerin kann zu einer Enttäuschung führen, wenn beide Frauen nicht die »symbiotische Illusion« aufrechterhalten oder aber keine »realitätsgerechtere Sichtweise der anderen und eine innere Abgrenzung« (Flaake 2000:54) finden. Die interviewten Frauen sind von ihren Partnerinnen enttäuscht, da sie ihre Bedürftigkeit nicht von ihnen erfüllt sehen, d.h. die Enttäuschung entsteht aus der Nichterfüllung vorhandener Wünsche und Erwartungen. In ihren Versuchen, sich und der Interviewerin ihr gewalttätiges Verhalten zu erklären, führen sie daher zuvorderst das negative Verhalten ihrer Partnerinnen an, die sie »provoziert« (Martina) oder die sich »unfair« und »ungerecht« (Andrea) verhalten habe, sie wegen der eigenen Verlustängste nicht aus der Situation entkommen ließ (Elvira) oder aber sie »missverstanden« habe (Nike). Diese Erklärungen lassen vermuten, dass sich die Frauen von ihren Partnerinnen ›getäuscht‹, d.h. um ihre Hoffnungen ›betrogen‹, sehen. Mit der Enttäuschung geht auch das Gefühl einher, von der Partnerin zurückgewiesen zu werden. Zugleich stehen den Frauen 112
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keine kognitiven Verarbeitungsstrategien zur Verfügung, so dass sie zur Verarbeitung der Enttäuschung auf frühe Verhaltensmuster zurückgreifen: Sie sind ob der empfundenen Zurückweisung wütend, wobei diese Wut der eines Kindes gleicht, das eine allgegenwärtige und umsorgende Mütterlichkeit vermisst. Zugleich befürchten sie, ihre Partnerin zu verlieren, von der sie ja jene Fürsorge und Zuwendung ersehnen, um die sie sich ›betrogen‹ sehen. Die Enttäuschung ist folglich eng mit Wut und Verlustangst verwoben, wodurch letztlich aggressive Gefühle befördert werden, die schließlich in Gewalt münden.
Unsichere Bindungsrepräsentationen In der Analyse der Interviews wurde deutlich, dass die Interviewpartnerinnen in der Kindheit Zurückweisungen, fehlende Zuwendung und emotionale Ablehnung sowie Gewalt von ihren Eltern oder anderen nahe stehenden Personen erlebt haben. Die Erfahrungen in der Kindheit können einen nicht unerheblichen Einfluss darauf haben, wie Menschen später ihre Partnerschaften gestalten bzw. in welcher Form sie sich an einen anderen Menschen binden. Allerdings können nach Ziegenhain (2000) auch »spätere Beziehungserfahrungen mit anderen nahestehenden Personen als den Eltern die Bindungsrepräsentation verändern«. Als Menschen mit einer sicheren Bindungsrepräsentation werden diejenigen erachtet, die eine ausgewogene Balance zwischen »Bindungsbedürfnissen und Autonomiebestrebungen« sowohl auf der kognitiven als auch auf der emotionalen Ebene gefunden haben (Ziegenhain 2000). Bei allen Interviewpartnerinnen zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen den formulierten Wünschen und Erwartungen an eine Partnerschaft (kognitive Ebene) und der emotionalen Ebene, die sich in der herausgearbeiteten, latenten Sinnstruktur offenbart: Die interviewten Frauen möchten ein selbstbewusstes Gegenüber, und streben ein ausgeglichenes Verhältnis von Nähe und Distanz in der Beziehung an. In den gelebten Partnerschaften zeigt sich demgegenüber ein hohes Maß an Bedürftigkeit und Abhängigkeit, wobei sich viele Konflikte um ein empfundenes Machtungleichgewicht ranken. Auch steht das Bedürfnis nach Einssein mit der Partnerin dem Wunsch nach Autonomie entgegen, da dieser die Beziehung grundlegend moduliert und nicht situativ oder zeitlich begrenzt ist. Die Diskrepanz zwischen kognitiver und emotionaler Ebene lässt eine unsichere Beziehungsrepräsentation vermuten, wobei hier mehrere Typen unterschieden werden: Nach Gloger-Tippelt (2000) weisen Menschen mit einem ›unsicher-distanzierten mentalen Bindungsmodell‹ folgende Merkmale auf: Sie messen emotionalen Beziehungen wenig Bedeutung in ihrem Denken und Fühlen bei, stellen sich 113
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als selbstständig und stark dar und zeigen für Beziehungen zu anderen Menschen nur eine geringe Wertschätzung. Auch vermeiden sie emotionale Themen – besonders solche, die mit negativen Gefühlen verknüpft sind. Die emotionale Ablehnung oder gar Gewalterfahrung in der Kindheit wird bewältigt, in dem sie als unbedeutend abgetan wird. Das hat zur Folge, dass Bindungserfahrungen minimiert oder das Bindungssystem gar deaktiviert wird. Nach Gomille (2000) wiederum spielen bei Menschen mit einem ›unsicher-präokkupierten mentalen Bindungsmodell‹ die Kindheitserfahrungen eine bedeutende Rolle und sie berichten meist sehr detailliert und mit »viel emotionaler Beteiligung« darüber. Diese Menschen wirkten »wie gefangen in ihren Erinnerungen bzw. in ihrer Vergangenheit. Gleichzeitig erweckten sie den Eindruck, dass sie nach Bestätigung ihrer Ansichten und Anerkennung ihrer Person suchen« (Ebenda). Auch erschienen sie »wenig autonom und abgegrenzt gegenüber anderen« (›passiv-präokkupierte Personen), oder aber sähen die Verantwortung bzw. Schuld für Konflikte ausschließlich bei den anderen (ärgerlich/konflikthaft-präokkupierte Personen). Bei ›ängstlichpräokkupierten Personen‹ wiederum stünden traumatische Erlebnisse im Vordergrund, beispielsweise schwere Missbrauchs- bzw. Gewalterfahrungen. Solche Erlebnisse könnten zu einem inneren »Wiedererleben der traumatischen Situationen« führen (Gomille 2000). Wie das Beispiel von Lydia und Nadine verdeutlicht, können diese auch in der Beziehung selbst wiedererlebt und wiederbelebt werden. Die skizzierten Merkmale unsicherer Bindungsmodelle deuten darauf hin, dass auch die Interviewpartnerinnen unsichere Bindungsstrukturen in unterschiedlichen Ausprägungen aufweisen. Ihre Unsicherheit, die sich beispielsweise in Eifersucht oder Misstrauen äußern kann, führt letztlich dazu, dass sie die Sicherheit, die sie in ihren Beziehungen suchen, nicht in ihren Partnerinnen finden können. Daher werden sie von diesen enttäuscht sein.
Kontrolle und kontrollierendes Verhalten Die interviewten Frauen haben den Moment der Gewaltausübung als außerhalb ihrer Kontrolle liegend wahrgenommen: So beschreibt Elvira ihren emotionalen Zustand als »Fass überlaufen«, Andrea vergleicht ihr Verhalten mit einem »Borderline-Syndrom«1 und »Impulskontrollver1
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Das Borderline-Syndrom wird im ICD 10 unter F60.3 »Emotional instabile Persönlichkeitsstörung« aufgeführt. Der Borderline-Typus weist demnach Kennzeichen einer emotionalen Instabilität auf, wobei zusätzlich oft das eigene Selbstbild, die Ziele und die »inneren Präferenzen« unklar und gestört sind. Auch zeigt der Borderline-Typus häufig eine »übermäßige
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lust«2, und Lydia wiederum mit einem »epileptischen Anfall«3. Auch Martina fühlt sich in den Konflikten an ihre Kindheit erinnert, in der ihre jüngere Schwester sie so lange »provoziert« habe, bis sie sie schließlich geschlagen habe. Außerdem hatten die Interviewpartnerinnen das Gefühl, ihrem gewalttätigen Verhalten hilflos ausgeliefert zu sein. Alle Frauen empfinden im Moment der Gewaltausübung Ohnmacht, Wut und Hass; sie fühlen sich ungerecht behandelt, hilflos, sind enttäuscht, verletzt und verzweifelt. Und sie haben Angst, ihre Partnerinnen zu verlieren. Diesen Beschreibungen stehen die Handlungsweisen der Interviewpartnerinnen entgegen, die vermuten lassen, dass sie in einem gewissen Umfang fähig sind, ihr Tun zu kontrollieren. So berichten Elvira und Lydia, dass sie nur Gegenstände zerstört hätten, die entweder ihrer Partnerin gehörten oder aber reparabel gewesen seien. Auch berichtet Elvira, dass sie schließlich vor allem Sachen zerstört, und nicht mehr Agnes geschlagen habe, was sie als zunehmende Kontrolle erachtet. Martina wiederum richtet ihre Aggression nicht direkt gegen ihre Partnerin, obgleich diese deren unmittelbares Ziel ist. Andrea wiederum terrorisiert Martina über einen Zeitraum von ca. drei Monaten. Zuerst sieht sie sich nicht in der Lage, ihr gewalttätiges Verhalten selbst zu kontrollieren, und sucht Unterstützung in ihrem Freundeskreis. Schließlich beendet sie ihr Verhalten selbst, indem sie eine räumliche und zeitliche Distanz einnimmt. Nike fühlt sich ebenfalls ihrer Gewalt hilflos ausgeliefert. Dennoch scheint sie angesichts der Möglichkeit, ihre Partnerin zu verlieren, ihr Verhalten insofern kontrollieren zu können, nicht erneut physisch übergriffig zu werden, sondern ihren Gefühlen mit anderen Mitteln Ausdruck
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Anstrengung«, nicht verlassen zu werden, droht mit Suizid, verübt selbstschädigende Handlungen und ist oft auch unfähig, Wut zu kontrollieren. Andrea gibt in ihrem Versuch der Erklärung ihres gewalttätigen Verhaltens möglicherweise eine psychiatrische Diagnose wieder. Laut Statistik wird das Borderline-Syndrom fast nur bei Frauen diagnostiziert. Im ICD 10 wird unter F63.8 »Sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle« der Impulskontrollverlust als ein sich »dauernd wiederholendes unangepasstes Verhalten«, bei denen der/die Betroffene »den Impulsen, das pathologische Verhalten auszuführen, nicht widerstehen kann«. Dabei weist der Impulskontrollverlust ein breites Spektrum von vokalen und motorischen »Tics« wie bei einem TouretteSyndrom bis hin zu bedingt steuerbarem aggressiven Verhalten auf. Epilepsie ist eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems, die unterschiedliche Symptome aufweist, so beispielsweise Sturzanfälle, Bewusstseinsverlust, Krampfanfälle usw. Allerdings gibt es auch »pseudoepileptische Anfälle«, die aussehen können wie echte epileptische Anfälle, aber nicht mit einer epileptischen Entladung einhergehen. Sie treten meist unbewusst wegen unbewältigter psychischer Probleme auf. Vgl. www.epi lepsie-informationen.de. 115
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zu verleihen. Auf diese Art und Weise versucht sie, mögliche negative Konsequenzen ihres Verhaltens zu vermeiden. Die geschilderten Auffälligkeiten im aggressiven Verhalten der Interviewpartnerinnen deuten darauf hin, dass sie fähig sind, ihr Tun in einem gewissen Umfang zu steuern. Das steht folglich dem Gefühl, der eigenen Aggression hilflos ausgeliefert zu sein, entgegen. Dieser Widerspruch lässt sich zuvorderst nur feststellen. Auch wird deutlich, dass sich die Täterinnen dessen nicht gewahr sind. Elvira, Nike und Lydia waren zudem in ihren vorherigen Partnerschaften gewalttätig. Von Martina liegen diesbezüglich keine Informationen vor, und Andrea berichtet, dass sie bereits zuvor in einer Partnerschaft übergriffig geworden sei, jedoch nicht in dem hier geschilderten Ausmaß. Dadurch, dass die Frauen wiederholt gewalttätig geworden waren, kann angenommen werden, dass ihnen ihr Verhalten bekannt und bewusst – und folglich vorhersehbar – war. Das wiederholte Vorkommen gewalttätiger Verhaltensmuster scheint aber nicht zu einer verbesserten Kontrollfähigkeit zu führen; vielmehr erleben sich die Frauen in der neuen Situation abermalig ohnmächtig. Erfahren sie keine negativen Konsequenzen aus ihrem Tun und sehen dies zudem als wenigstens kurzfristig erfolgreich an, werden die Frauen möglicherweise sogar darin bestärkt, weiterhin Gewalt auszuüben. Obgleich ein wiederholtes Geschehen mit einer Vorhersehbarkeit des eigenen Tuns einhergeht, führt diese nicht notwendigerweise zu einer Stärkung der Fähigkeit, die eigenen Aggressionen zu kontrollieren . Dazu bedarf es des Wissens um alternative Handlungsmöglichkeiten und die Fähigkeit, diese einzusetzen. In den von den Interviewpartnerinnen geschilderten Situationen scheinen ihnen aber Handlungsalternativen nicht zugänglich zu sein. Obwohl die Frauen sich ihrer Gewalt hilflos ausgeliefert sehen, wirken ihre gewalttätigen Verhaltensweisen zugleich kontrollierend. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Wirkungsweisen unterscheiden, durch direkt kontrollierendes Verhalten und indirekt durch die Angst der Partnerin: So kontrolliert beispielsweise Martina Andrea, indem sie diese nicht aus ihrer bedürftigen Position entlässt. Ihre Fürsorge dient zugleich dazu, diese in der ›kindlichen‹ Position zu halten. Auch berichtet Andrea, dass es zu Konflikten gekommen sei, wenn sie eine ›ErwachsenenPosition‹ habe einnehmen wollen. Die Konflikte seien derart geendet, dass beide ihre ursprünglichen Positionen wieder eingenommen hätten. Andrea wiederum kontrolliert ebenfalls Martina, wobei sie vor allem ihre Bedürftigkeit einsetzt. Dadurch wird Martina an sie gebunden und es verbleiben ihr wenige Freiräume, anderen Aktivitäten nachzugehen. Ferner erscheint Andrea beispielsweise entgegen vorherigen Absprachen früher zu einem vereinbarten Termin und entzieht so Martina die Mög116
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lichkeit, diese Zeit anderweitig zu nutzen. Auch andere Konflikte, dass etwa Martina zu viel Geld ausgebe oder Andrea sich ungesund ernähre, weisen auf kontrollierende Verhaltensweisen hin. Diese dienen dazu, nicht nur die Partnerin nach eigenen Vorstellungen zu formen, sondern es ihr auch zu verunmöglichen, ihre Position in der Beziehung zu verändern – was wiederum eine veränderte Beziehungsdynamik zur Folge haben könnte. Das vorrangige Ziel des kontrollierenden Verhaltens ist, das ›Liebesobjekt‹ festzuhalten und zu dem gewünschten Verhalten zu zwingen. Das Element der Kontrolle findet sich ebenfalls bei Lydia und Nadine. So berichtet Lydia, dass es zu Konflikten gekommen sei, wenn sie in der Partnerschaft die Position der Bedürftigen habe aufgeben wollen. Aber auch Lydia zeigt kontrollierende Verhaltensweisen, indem sie beispielsweise von ihrer Wahrnehmung abweichende Interpretationen von bestimmten Situationen nicht annimmt und von ihrer Partnerin erwartet, dass diese ihre Sichtweise übernimmt. Dadurch kontrolliert sie die Wahrnehmung ihrer Partnerin. Auch sie möchte dadurch ihr ›Liebesobjekt‹ zwingen, das von ihr gewünschte Verhalten anzunehmen. In den Partnerschaften von Elvira und Nike wiederum wirkt vor allem die Angst ihrer Partnerinnen kontrollierend, denn diese versuchen, Situationen zu vermeiden, in denen Elvira oder Nike erneut physisch gewalttätig werden könnten. So berichtet Elvira, dass Agnes mit Übergriffen gerechnet habe. Allerdings übt Elvira auch direkte Kontrolle auf die Wahrnehmung von Agnes aus, indem sie gegenüber dieser ihre Affäre verschweigt und Agnes’ Selbstwahrnehmung als irrig darstellt. Das hat zur Folge, dass Agnes ›verrückt‹ gemacht wird, da sie ihrer eigenen Wahrnehmung kein Vertrauen mehr schenken kann. Zudem übt Elvira auch mittels physischer Gewalt direkt Kontrolle aus: In Situationen, in denen sie glaubt, die Kontrolle über das Geschehen verloren zu haben, gewinnt sie diese mittels körperlicher Aggression zurück. Nach Wahrnehmung von Nike habe auch Gertrud Angst vor ihr gehabt, und schließlich verbale Aggressionen als ebenso gewalttätig wie eine physische Attacke erlebt. Allerdings scheinen Nikes physischen Attacken nicht wie bei Elvira der Wiedergewinnung von Kontrolle zu dienen, sondern sind primärer Ausdruck ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung. Deren Folge ist jedoch, dass die daraus hervorgegangene Angst das zukünftige Verhalten der Partnerin kontrolliert. Die hier geschilderten Verhaltensmuster verdeutlichen, dass Kontrolle ein wesentlicher Aspekt gewalttätiger Beziehungsdynamiken ist. Diese wird zum einen über die Angst der Partnerin, zum anderen über direkt kontrollierende Verhaltensweisen hergestellt. Das Ziel der Kont-
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rolle ist, die Partnerin, das ›Liebesobjekt‹, festzuhalten und zu zwingen, das erwünschte Verhalten anzunehmen.
Gefühle von Schuld und Scham Scham ist ein durch kulturelle Normen und Werte geprägter Affekt. Sie stellt sich vor allem dann ein, wenn die Selbstachtung und der Selbstwert in Zweifel gezogen werden. Das bedeutet, dass das positive und idealisierte Bild, das man von sich hat, gestört wird. Das Aufkommen von Scham ist aber auch ein Indiz dafür, dass bei der betroffenen Person ein Wertesystem vorhanden ist und das eigene Verhalten in Konflikt mit diesem steht. Elvira, Nike und Andrea weisen nach der Tat Gefühle von Scham auf: Elvira hat sich danach »nicht gut gefühlt« und Nike sieht sich als »schlechten Menschen«. Auch Andrea erzählt, dass sie es »jetzt auch noch nicht losgelassen« habe, sich selbst und einen anderen Menschen so »gequält« zu haben. Das Aufkommen von Scham lässt vermuten, dass hier gesellschaftliche Werte zum Tragen kommen und Elvira, Nike und Andrea sich des Normbruchs ihrer Gewaltausübung gewahr sind, was sie schließlich auch verbalisieren. Wie bereits dargestellt, konnte in den Fällen von Elvira und Nike anhand des Merkmals »Angst« eine eindeutige Zuordnung von Täterin und Opfer erfolgen. Beide Frauen erkennen die Angst ihrer Partnerinnen, was möglicherweise dazu beigetragen hat, die Normverletzung wahrzunehmen. Auch Andrea sieht sich in ihrer situativen Betrachtung der Zeit nach der Trennung als »Täterin« und ihre Partnerin als Opfer des von ihr verübten Telefonterrors, was ebenfalls ihre Schuld- und Schamgefühle beförderte. Scham ist dabei nicht nur ein Affekt, der sich durch Selbstreflexion einstellt, sondern man kann auch beschämt werden: Als beispielsweise Elviras Partnerin Agnes erstmals ihrer neuen Partnerin von den Misshandlungen erzählte, beschämte sie damit zugleich Elvira, indem diese plötzlich dem Blick einer anderen Person preisgegeben war. Elvira versucht, ihre aufkommende Scham abzuwehren, indem sie die Situation mittels der Androhung von Gewalt unter Kontrolle bringt. Dagegen verbalisieren Martina und Lydia mögliche Schamgefühle bezüglich ihres gewalttätigen Verhaltens nicht. Bei Frauen nehmen sich vorrangig als Opfer wahr und reflektieren zum Zeitpunkt des Interviews eigene Anteile an der Gewalt nicht. Das wiederum legt die Vermutung nahe, dass es mit zunehmender Komplexität der Beziehungsdynamik und aktiver Beteiligung beider Frauen an deren Aufrechterhaltung um so schwieriger ist, das eigene Verhalten als gewalttätig zu reflektieren – und desto weniger stellt sich Scham ob dessen ein.
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Abmilderung des gewalttätigen Verhaltens Das eigene Tun wird von den Interviewpartnerinnen abgemildert, indem diese ihre Partnerinnen als ebenbürtige Konfliktpartnerinnen wahrnehmen. Auch glauben sie, dass ihr gewalttätiges Verhalten erst durch deren Verhalten ausgelöst wird. Das Verhalten der Partnerin wird dabei oftmals mittels einer offensiven und teilweise brutal wirkenden Sprache geschildert, so beschreibt Lydia beispielsweise das Verhalten ihrer Partnerin als »in die Fresse gerammt«. Demgegenüber wird das eigene Tun abgemildert oder gar verdeckt, so hat Lydia ihre emotionale Lage »in einer Handlung rübergebracht« oder aber ist ihrer »Lieblingsbeschäftigung« nachgegangen; Elvira wiederum hat sich »ein bisschen« am »Mobiliar« »vergriffen und das Wohnzimmer »in Unordnung« gebracht. Auch Nike betont, dass Gertrud wohl andere Probleme habe als die von ihr verübte Gewalt. Zudem mildert sie das Ausmaß ihrer Gewalt ab, indem sie diesem ihre Gewalterfahrung gegenüberstellt. Alle Frauen gehen davon aus, dass sie die Taten nicht begangen hätten, wenn ihre Partnerinnen sich anders verhalten hätten.
Paartherapie Da die gewalttätige Beziehungsdynamik von den Gewalt ausübenden Frauen als von beiden Frauen getragen wahrgenommen wird, versuchen sie, vor allem mittels einer Paartherapie, ihre Probleme zu lösen. Sowohl Elvira und Agnes, Andrea und Martina als auch Lydia und Nadine nahmen an einer solchen Teil, während Gertrud Nikes Vorschlag hierzu ablehnte. Elvira, Nike, Lydia und Andrea möchten mit Hilfe der Paartherapie die Partnerschaft aufrechterhalten. Auch Martina glaubte, »dass da noch etwas möglich sei«, bis sie sich schließlich im Rahmen der Therapie trennte; Nadine hat sich ihr nach Wahrnehmung von Lydia entzogen, was schließlich zum Abbruch der Therapie führte, und schließlich wurde die Paartherapie von Elvira und Agnes in eine Einzeltherapie überführt, wobei die Therapeutin Agnes als Klientin behielt. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Paartherapie vor allem der Betrachtung der Gewalt ausübenden Frauen geschuldet ist, die Gewalt nicht als aktiven Teil von sich anzunehmen, sondern ihre Gründe im Verhalten der Partnerin zu verorten. Auch scheint der Wunsch nach einer Paartherapie von Verlustangst motiviert zu sein, d.h. dass sich die Frauen erhoffen, dadurch die Beziehung aufrechterhalten zu können.
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Die Bedeutung von Gewalterfahrungen für die Modulation des Prozesses der Gewalt Gewalterfahrungen in der Lebensgeschichte Alle Interviewpartnerinnen weisen in ihrer Lebensgeschichte Erfahrungen von Gewalt auf, die von sexuellem Missbrauch über körperliche Misshandlungen, psychische Formen von Gewalt bis hin zu sozialer und emotionaler Vernachlässigung reichen. Nike ist dabei die einzige, die ihre Erfahrung von sexuellem Missbrauch selbst benennt; Kenntnisse von Andreas sexuellem Missbrauch liegen demgegenüber nur durch Martinas Benennung vor. Auch Lydia benennt die Erfahrung von sexualisierter Gewalt in ihrer Kindheit nicht selbst, sondern bestimmte Äußerungen lassen vermuten, dass dem so gewesen sein könnte. Von physischen Misshandlungen berichten ebenfalls Nike und Andrea. Zudem beschreiben Martina und auch Lydia einen Elternteil als psychisch krank, so war Martinas Vater Alkoholiker und Lydias Mutter wiederum habe »psychotische« Schübe gehabt und Psychopharmaka genommen. Die Androhung von Martinas Vater, in einem bestimmten Alter zu sterben, kann als psychische Gewalt erachtet werden, denn Martina wurde in ihrer Kindheit ständig von der Angst begleitet, dass ihr Vater bald sterben werde. Des Weiteren kann nicht ausgeschlossen werden, dass die vermeintlich »psychotischen« Schübe von Lydias Mutter zu physischen und psychischen Attacken geführt haben. Auch ist Lydias Vater gestorben, als sie zehn Jahre alt war. Schließlich berichtet auch Elvira von sozialen und emotionalen Vernachlässigungen nachdem ihr Vater und ihre Mutter verstarben, als sie neun bzw. 13 Jahre alt gewesen ist. Von da an habe sie zwar unter der Obhut eines Vormundes gestanden, aber dennoch mehr oder weniger alleine gelebt. Nike, Andrea und Lydia haben durch den sexuellen Missbrauch erfahren, dass ihre körperlichen und seelischen Grenzen nicht respektiert wurden. Elvira wiederum hat nicht gelernt, die Grenzen anderer zu respektieren, weil ihr selbst keine gesetzt wurden. Martina hingegen hat gelernt, dass sie nur durch Selbstaufopferung Anerkennung und Liebe bekommt. Es liegt nahe, dass diese Kindheitserfahrungen das spätere Leben der betroffenen Frauen geprägt haben. Sowohl Lydia, Nike als auch Elvira waren bereits zuvor gegenüber Partnerinnen und/oder anderen nahestehenden Personen gewalttätig geworden. So erzählt Lydia, dass ihre drei vormaligen Partnerinnen sie als gewalttätig beschrieben hätten. Nike wiederum habe zuvor ihren damaligen Ehemann und auch ihre Tochter geschlagen. Elvira berichtet, dass sie zuvor in all ihren Partnerschaften gewalttätig geworden sei. Andrea 120
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wiederum beschreibt ihr Verhalten in den vorhergehenden Partnerschaften derart, dass sie dort zwar auch nach der Trennung grenzüberschreitend gewesen sei, aber diese Massivität hier erstmals zutage getreten wäre. Von Martina wiederum liegen keine Kenntnisse über vorherige Partnerschaften vor. Allerdings zeigt sich nach den Schilderungen der interviewten Frauen, dass auch deren Partnerinnen zuvor Gewalt erlebt haben. So habe Elviras Partnerin Agnes vorher in einer Partnerschaft mit einer gewalttätigen Dynamik gelebt, Nikes Partnerin Gertrud sei sexuell missbraucht worden, ebenso Nadine, Lydias Partnerin. Von Andrea ist bekannt, dass sie ebenfalls sexuell missbraucht wurde, Martina wiederum weist in ihrer Lebensgeschichte ebenfalls Gewalterfahrungen auf. Eine Psychotraumatisierung kann durch ein einzelnes oder aber mehrere Ereignisse erfolgen, bei denen ein Mensch extreme Angst und Hilflosigkeit erfahren hat und dadurch in seinen Verarbeitungsmöglichkeiten überfordert war. Das kann dazu führen, dass er in seinem Selbstund Weltverständnis dauerhaft erschüttert ist. Ca. 20 % der Betroffenen leiden in Folge der traumatischen Erfahrung an so genannten posttraumatischen Belastungsstörungen, die sich beispielsweise darin zeigen können, dass Erinnerungen in den Alltag einbrechen. Diese werden häufig auch als »Flashbacks« bezeichnet. Auch kann die traumatisierte Person bewusst oder unbewusst Situationen, Dinge, Personen, Themen oder sogar Gefühle meiden, die an das Trauma erinnern könnten. Andere Betroffene wiederum zeigen starke Gefühle von Angst, Schreckhaftigkeit oder Beklemmung, häufig in Zusammenhang mit körperlichen Symptomen wie z.B. Herzrasen oder Atembeschwerden. Nike, Andrea, Lydia und Nadine sind in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden. In diesen Situationen können sie sich als extrem angstvoll und hilflos erlebt haben. Die interviewten Frauen zeigen unterschiedliche Wege, die von ihnen erlebten traumatischen Ereignisse zu bewältigen. So versucht Nike, ihr Trauma mittels des Konsums von Alkohol und Suchtmitteln zu überwinden. Bei Andrea scheint es nach Schilderung von Martina zu »Flashbacks« gekommen zu sein, die schließlich eine gemeinsame Sexualität verunmöglichten. Ihr Weg, das Trauma zu bewältigen, kann darin bestehen, die in der Kindheit verloren gegangene allumfassende Fürsorge und Zuwendung in der Partnerschaft zu suchen. Nadine wiederum sieht in der S/M-Praxis eine Möglichkeit, die während des sexuellen Missbrauchs empfundene Ohnmacht und Hilflosigkeit zu überwinden. Lydia schließlich eignet sich die ›Macht des Täters‹ an und hegt eine tiefe Verachtung für das Opfersein. Auch bei Elvira liegt die Vermutung nahe, dass sie durch den frühen Tod ihrer Eltern traumatisiert ist. Sie musste diesen hilflos miterleben. Infolgedessen zeigt sie Anzeichen einer großen Angst vor dem Verlassenwerden, 121
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die sich z.B. in ihrer Eifersucht zeigen. Elvira wurde u.a. dann gewalttätig, wenn sie sich der Liebe ihrer Partnerin unsicher war und befürchtete, dass diese sie verlassen könne. Auch Martina war letztlich dem Alkoholismus ihres Vaters hilflos ausgeliefert. Obgleich folglich bei allen Frauen von einer Traumatisierung ausgegangen werden kann, zeigen sich bedeutende Unterschiede in den Ursachen der Traumatisierung. So wurde bei Nike, Andrea und Lydia das Trauma durch eine direkte Gewalterfahrung ausgelöst, während es bei Elvira und Martina durch das Schicksal einer nahe stehenden Person bedingt ist. Anhand der vorliegenden Untersuchung wird deutlich, dass eine Traumatisierung, besonders durch Gewalterfahrungen in der Kindheit, einen bedeutenden Risikofaktor für die Ausübung oder das Erleben von Gewalt in der Partnerschaft darstellt. Ein direkter Zusammenhang zwischen einer Traumatisierung durch eine direkte Gewalterfahrung oder aber andere Faktoren mit einer spezifischen gewalttätigen Beziehungsdynamik lässt sich hier allerdings nicht nachweisen. Der Umstand, dass sowohl die Gewalt ausübende Frau als auch diejenige, die die Gewalt erfährt, in ihren Lebensgeschichten Erfahrungen von Gewalt aufweisen, legt die Vermutung nahe, dass diese einen Risikofaktor sowohl für eine Gewaltausübung als auch für Gewalterfahrungen darstellen. Das sagt jedoch nichts darüber aus, warum eine Person später Gewalt ausübt und eine andere Person später erneut Gewalt erfährt. Ein möglicher Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen in der Kindheit und einer Gewaltausübung im Erwachsenenalter zeigt sich auch bei männlichen Tätern häuslicher Gewalt. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass auch diese in ihrer Lebensgeschichte Erfahrungen von Gewalt aufweisen: So haben Sonkin et al. (1985) festgestellt, dass 83 % der befragten Täter in ihrer Kindheit Formen körperlicher Züchtigung erlebt haben, 21 % physisch misshandelt worden sind, 45 % gesehen hätten, wie ihr Vater ihre Mutter geschlagen hätte, und 50 % seien entweder selbst misshandelt worden oder hätten gesehen, wie ihre Mutter misshandelt wurde (Sonkin 1985:35) Auch Godenzi (1996) kommt in seiner Analyse männlicher Täter häuslicher Gewalt zu dem Schluss, dass viele von ihnen in ihrer Biographie Gewalterfahrungen aufweisen: Er bezieht sich dabei auf eine Untersuchung von Finkelhor et al. (1988), die darauf hinweisen, dass die meisten Täter in der Kindheit Gewalterfahrungen gemacht haben, sei es als Zeuge, Opfer oder Täter. Eine Pilotstudie aus dem Jahr 2004 lässt zudem vermuten, dass Männer, die in ihrer Kindheit Gewalt erlebt haben, in ihrem Erwachsenenleben ebenso erneut Opfer werden können (Forschungsverbund ›Gewalt gegen Männer‹:2004). Die polizeiliche Kriminalstatistik bestä122
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tigt, dass mit Ausnahme der sexualisierten Gewalt die meisten Opfer der von Männern verübten Gewalttaten ebenfalls Männer sind.4 Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass ebenso wie bei lesbischen Frauen die Gewalterfahrung in der Kindheit das Risiko für ein weiteres Gewalterleben – sei es als Täter oder als Opfer – befördert. Den Umstand, warum eine Person später Gewalt ausübt und eine andere Person diese wiederum erfährt, kann aber mittels der Lebensgeschichte nicht geklärt werden.
Normalisierung5 von Gewalterfahrungen und Identifikation mit dem Aggressor Die Lebensgeschichten von Nike und Lydia legen einen weiteren Zusammenhang von Gewalterfahrungen in der Kindheit und späterer eigener Gewaltausübung nahe: Nike erzählt, dass die von ihr erfahrene körperliche Gewalt zu etwas »Normalem« geworden sei, dass es nur darum gegangen sei, auszuteilen und dafür zu sorgen, selbst so wenig wie möglich Schaden zu nehmen. Diese ›Überlebensphilosophie‹ spiegelt die Sichtweise des ›Stärkeren‹ wider, denn um möglichst geringen eigenen Schaden zu nehmen, agiert sie notfalls vorher selbst. Dieses Verhalten lässt den Schluss zu, dass Nike die Position des Täters eingenommen hat, um letztlich Schaden von sich abzuwenden. Infolgedessen reagiert sie auf von ihr empfundene seelische Verletzungen mit physischer Gewalt. Auch Lydia hat die Perspektive des Täters übernommen: Sie verharmlost eigene Opfererfahrungen und verachtet ihre Partnerin zutiefst, weil diese nach ihrer Auffassung in einer Opferhaltung verharrt. Diese Verachtung gilt zugleich ihrer eigenen Opfererfahrung – und damit auch ihr selbst. Zudem ist ihre Fantasie, von dem Mann, der ihre Partnerin sexuell missbraucht hat, ein Kind bekommen zu wollen, nicht nur Ausdruck des eigenen erlebten Missbrauchs, sondern spiegelt auch ihre 4
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Vgl. Bundeskriminalamt (2005): Polizeiliche Kriminalstatistik – Bundesrepublik Deutschland. Demnach sind 92,4 % der Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Frauen (S. 57). In den anderen Deliktfeldern wie Raub, Körperverletzung, Mord, Totschlag sind Männer weitaus stärker gefährdet, Opfer zu werden als Frauen. Bei Straftaten gegen die persönliche Freiheit wiederum scheint das Risiko, Opfer zu werden, zwischen den Geschlechtern relativ ausgeglichen zu sein (S. 62). Ungeachtet der geringen Opfergefährdung von Männern bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung, zeigt sich, dass auch hier die Mehrzahl der Täter (64,2 %) aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis stammt (S. 64). Nach Jürgen Link ist normal das, was »normalerweise als normal gilt.« Das bedeutet, dass das Handeln oder die Erfahrung in den Alltag eingegangen sind und als ›allgemein üblich‹ erachtet werden. 123
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Identifikation mit der Macht des Täters wider. Auch bei Elvira kann von einer Normalisierung der Gewaltausübung gesprochen werden, da diese in ihr Alltagshandeln eingegangen ist. Schließlich musste Lydia ebenso wie die anderen Frauen erleben, dass das gewalttätige Verhalten des Täters keine negativen Konsequenzen für ihn mit sich brachte. Das vermittelt ihr und den anderen Frauen, dass die Ausübung von Gewalt nicht sanktioniert wird. Auch blieb in allen Fällen die eigene Gewaltausübung unsanktioniert und war sogar zumindest kurzfristig erfolgreich. Diese Erfahrung im Umgang mit der Gewalt kann die Frauen letztlich darin bestärkt haben, weiterhin gewalttätig zu sein.
Konsum von Alkohol und/oder anderen Suchtmitteln Der Konsum von Alkohol und/oder anderen Suchtmitteln spielt in den Partnerschaften von Elvira und Agnes bzw. Nike und Gertrud eine bedeutende Rolle, in den anderen jedoch nur eine untergeordnete oder gar keine. Elvira sieht einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und ihrer Gewalttätigkeit und erzählt, dass sie deshalb damit aufgehört habe. In der Trennungsphase trinkt sie aber in einer Konfliktsituation Alkohol und wird anschließend gewalttätig. Ihre Schilderungen einzelner Konflikte lassen vermuten, dass Agnes nicht nur von Elviras Abneigung gegen den Konsum von Alkohol wusste, sondern auch, warum dem so ist. Daher signalisiert Elviras Alkoholkonsum Agnes, dass diese gewalttätig werden könnte; Elviras Alkoholkonsum stellt daher eine Androhung von (physischer) Gewalt dar. Nach Elviras Darstellung wiederum scheint Agnes selbst dem Alkohol stark zugeneigt zu sein. In betrunkenem Zustand verhalte diese sich dann »unmöglich« und »lasse sich gehen«, was dann zu Konflikten und schließlich zu einer körperlichen Auseinandersetzung führe. Elvira sieht daher die Ursache für ihre Gewalttätigkeit in Agnes’ Verhalten, welches sie unter Alkoholeinfluss als besonders problematisch wahrnimmt. Nike wiederum weist vielfältige Suchtstrukturen auf, sie konsumiert in Situationen, in denen sie sich emotional stark belastet und angespannt fühlt, Alkohol, Tabletten (Psychopharmaka) und auch Cannabis. Nike berichtet, dass sie sich vor dem Konflikt mit Gertrud »mit dem Alkohol zurückgehalten« habe, was vermuten lässt, dass sie zwar Alkohol getrunken hat, sich aber nicht als ›betrunken‹ beschreiben würde. Allerdings hat sie vor dem Angriff auf ihren Bruder hochprozentige Alkoholika, Psychopharmaka und auch Cannabis zu sich genommen. Von Gertrud wiederum ist nach Nikes Erzählung nur bekannt, dass sie zwar nicht
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abstinent lebt, aber Alkohol und andere Suchtmittel auch nicht einsetzt, um beispielsweise mit psychischen Belastungen umzugehen. Martina wiederum berichtet von ihrer Partnerin Andrea, dass diese ab und zu Cannabis konsumiert habe. Das stehe nach ihrer Auffassung jedoch in keinem Zusammenhang mit der Partnerschaft und habe diese auch nicht beeinflusst. Schließlich wird in Lydias Beschreibung ihrer Partnerschaft kein Konsum von Suchtmitteln benannt. Der in den Interviews deutlich gewordene unterschiedliche Beitrag des Konsums von Alkohol und anderen Suchtmitteln zu der gewalttätigen Beziehungsdynamik legt die Vermutung nahe, dass kein direkter Zusammenhang zwischen der Ausübung von Gewalt und der Einnahme von Suchtmitteln hergestellt werden kann. Gleiches gilt für die Schwere der Gewalt: So kann kein direkter Zusammenhang zwischen der Schwere der Tat und einem Alkoholkonsum festgestellt werden. Der Konsum von Alkohol und anderen Suchtmitteln kann jedoch einen funktionalen Aspekt haben: So setzt Elvira das Wissen ihrer Partnerin um ihre Gewalttätigkeit unter Alkoholeinfluss ein, um diese zu bedrohen. Schließlich konsumiert sie Alkohol und wird dann auch gewalttätig. Nach Elviras Erzählung entsteht zudem der Eindruck, dass ihre Partnerin Agnes Alkohol trinkt, um mit den Herausforderungen und Belastungen ihrer gewalttätigen Partnerschaft fertig zu werden. Nike wiederum greift auf verschiedene Suchtmittel zurück und nutzt diese, um ebenfalls mit den von ihr als extrem empfundenen psychischen Belastungen umzugehen. Dabei ist hier ein Zusammenhang zwischen ihrer Suchtmittelabhängigkeit und einer Traumatisierung durch den von ihr erlebten sexuellen Missbrauch nicht auszuschließen. Eine niederländische Untersuchung zu gleichgeschlechtlichem Sexualverhalten und psychischen Störungen (Sandfort 2001) zeigt, dass lesbische Frauen eine signifikant höhere Alkohol- und andere Drogenabhängigkeit aufweisen als heterosexuelle Frauen. Sandfort führt diesen Unterschied neben biologischen auf soziale Faktoren zurück, so beispielsweise auf Stigmatisierung, Vorurteile und Diskriminierung. Desgleichen könne Einsamkeit eine weitere Ursache sein (Sandfort 2001). Dennert (2004) wiederum kommt in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass lesbische Frauen häufiger über Erfahrungen mit illegalen Suchtmitteln verfügen und häufiger rauchen als heterosexuelle Frauen. Eine weitere Untersuchung zeigt indessen auch, dass lesbische Frauen nicht häufiger Anzeichen einer schweren Alkoholabhängigkeit zeigen als heterosexuelle Frauen (Kauth/Hartwig/Kalichman 1999). Schließlich berichtet Wolf in ihrer Arbeit zu den Erfahrungen und gesundheitliche Entwicklungen lesbischer Frauen im Coming-out-Prozess, dass fünf der 14 von ihr interviewten Frauen »zur Belastungsbewältigung auf den 125
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Konsum von Alkohol und illegalisierten Drogen Rückgriff genommen« hätten (Wolf 2004). Die hier kurz skizzierten Untersuchungen legen nahe, dass lesbische Frauen sowohl während des Coming-outs als auch während ihres offenen lesbischen Lebens besonderen Belastungen ausgesetzt sind, die u.a. auf die gesellschaftliche Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Lebensweise zurückzuführen sind. Eine Möglichkeit, mit dieser Situation umzugehen, besteht im Konsum von Suchtmitteln. Gleiches gilt für traumatisierende Erfahrungen in der Kindheit wie beispielsweise den sexuellen Missbrauch. Als weiterer möglicher Grund wird aber auch gerade bei lesbischen Frauen die Gewalterfahrung in der Partnerschaft angeführt, d.h. es wird ein Zusammenhang von Alkoholkonsum und Opferwerdung hergestellt (Russel/Testa/Wilsnack 2000). Nach Klein (1996) stellt der übermäßige Alkoholkonsum einen potentiellen Auslöser für gewalttätiges Verhalten dar, ist aber nicht dessen Ursache. Vielmehr spielten andere Faktoren ebenfalls eine Rolle, beispielsweise die mit dem Alkoholkonsum verbundene Erwartung von Aggression oder aber auch eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur; so wiesen Menschen mit einer antisozialen oder narzisstischen Persönlichkeitsstörung ein erhöhtes Risiko für Alkoholmissbrauch auf. Gleiches gelte für ein aggressives Verhalten in der Kindheit, das zu Alkoholmissbrauch und gewalttätigem Verhalten im Erwachsenenalter führen könne (Klein 1996). Der in den Interviews dargestellte Alkohol- und Suchtmittelkonsum legt nahe, dass dieser vor allem genutzt wird, um psychische Belastungen, die mit der lesbischen Lebensweise und/oder Gewalterfahrungen in der Kindheit einhergehen, zu bewältigen. Elvira setzt ihren Alkoholkonsum zudem ein, um ihre Partnerin damit zu bedrohen. Ihr daraufhin erfolgender Übergriff unter Alkoholeinfluss scheint dabei primär an ihre Erwartung von Aggression in Zusammenhang mit ihrem Alkoholkonsum gebunden zu sein. Auch bietet ihr das die Möglichkeit, sich von ihrer Tat zu entlasten. Gleiches gilt für Nike, deren Suchtverhalten als Ausdruck ihres Versuchs, mit ihren psychischen Belastungen umzugehen, gelesen werden kann. Zugleich entlastet sie sich dadurch rückwirkend von ihrer gewalttätigen Handlung. Bei dem Übergriff auf ihre Partnerin Gertrud kann sie sich indessen nicht mittels ihres Alkoholkonsums entlasten. Das wiederum kann ihre Wahrnehmung, es habe sich letztlich um eine »Schlägerei« gehandelt, befördert haben.
Ablehnung des eigenen Lebensentwurfs – verinnerlichte Homophobie Nach Margolies et al. ist die verinnerlichte Homophobie »the adoption and acceptance within a lesbian or gay man of these negative attitudes. 126
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The oppressive and prejudiced environment takes root, feeding on histories, issues and the unique social conditions of each individual« (Margolies 1987). Elvira und Nike erinnern sich an Ereignisse, in denen ihre Eltern ablehnend auf die Homosexualität des Bruders reagierten. Als Nike dann mit Mitte 40 ihr lesbisches Coming-out hatte, traf sie an ihrem Arbeitsplatz erneut auf eine ablehnende Haltung. Lydia wiederum erzählt, dass sie ihr Lesbischsein in Deutschland nicht »an die große Glocke« hängen wolle, weil sie nicht »darüber definiert und reduziert« werden wolle. Diese Haltung kann als Antizipation einer ablehnenden Einstellung gegenüber ihrem Lesbischsein gelesen werden. Sie versucht daher, durch ihre Haltung und ihr Verhalten eine mögliche Ablehnung vorwegzunehmen. Lydias Reaktion, aber auch Nikes Bemühen, lange den von ihren Eltern gewünschten heterosexuellen Lebensentwurf zu leben, können als direkter Ausdruck der Verinnerlichung dieser ablehnenden Einstellung erachtet werden. Auch Elvira berichtet, dass sie anfänglich nicht offen als lesbische Frau gelebt habe, weil sie wegen der Erfahrungen des Bruders mit den Eltern Angst davor gehabt habe. Diese Reaktion lässt vermuten, dass auch Elvira die ablehnende Haltung ihrer Eltern verinnerlicht hatte. Die Verinnerlichung negativer Botschaften über die eigene sexuelle Orientierung kann ein positives Selbstbild verhindern, so dass diese beispielsweise nicht offen gelebt oder sogar unterdrückt wird. Internalisierte Homophobie kann sich nicht nur gegen die eigene Person richten, sondern auch gegen die Partnerin, denn diese verkörpert jene eigenen Anteile, deren Ablehnung verinnerlicht wurden. Daher liegt die Vermutung nahe, dass verinnerlichte negative Botschaften über die eigene sexuelle Orientierung ebenfalls einen Risikofaktor für die Ausübung von Gewalt in der Partnerschaft darstellen. Allerdings weisen Untersuchungen auch darauf hin, dass verinnerlichte Homophobie zu Selbsthass führen kann und die betreffende Person sich mit ihrer Opferwerdung in einer gewalttätigen Partnerschaft für ihre sexuelle Orientierung »bestraft« (Margolies/Becker/Jackson-Brewer 1987).
Fehlende Grenzsetzung in der lesbischen Subkultur durch Tabuisierung der Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Mit der Geschlechtlichkeit von Frauen und Männern sind bestimmte soziokulturelle Normen und Werte verknüpft, die ihnen im Laufe ihres Lebens vermittelt werden. Nach Gräßel (2003) treffen in heterosexuellen Misshandlungsbeziehungen bestimmte Typen/Vorstellungen von Männ127
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lichkeit und Weiblichkeit aufeinander, die in ihrem Zusammenspiel die gewalttätigen Beziehungsstrukturen verfestigen. Im westeuropäischen Kulturraum stellt die Veräußerlichung von Aggressionen – auch in Form von Gewalt – keinen tragenden Aspekt von Weiblichkeit dar.6 Frauen verüben folglich im Gegensatz zu Männern einen Normbruch, wenn sie – vor allem physisch – gewalttätig werden. Mit der Betrachtung der von Männern verübten Gewalt als normgerechtes Verhalten geht eine Sanktionsschwäche einher, die es Männern erleichtert, ihr Tun als gesellschaftlich akzeptiert wahrzunehmen. Obgleich lesbische Frauen einen Normbruch begehen, obliegt auch ihr gewalttätiges Verhalten einer Sanktionsschwäche. Diese ist vor allem in der Tabuisierung der Problematik in der lesbischen Subkultur begründet. Im Zusammenhang mit der Arbeit mit männlichen Tätern häuslicher Gewalt konnte festgestellt werden, dass der Erfolg der Täterprogramme sehr stark von deren Einbettung in Interventionsstrukturen und einer damit einhergehenden ›community response‹ abhängt. Diese beinhaltet eine klare Positionierung für das Opfer und eine Benennung des Verhaltens als gewalttätig sowie die Zurückweisung eines solchen Verhaltens als Mittel zur Durchsetzung eigener Bedürfnisse und Interessen.7 Bleibt eine dahingehende Positionierung der lesbischen Subkultur aus, werden lesbische Täterinnen demzufolge in ihrem gewalttätigen Verhalten bestärkt. Ein bedeutender Grund für die mangelnde Auseinandersetzung mit dieser Problematik ist in der Struktur der Subkultur zu finden: Die Herausbildung einer Subkultur geschieht in Reaktion auf die Marginalisierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wie beispielsweise Homosexueller. Diese möchten zwar Teil der herrschenden Kultur sein und fordern Akzeptanz, definieren sich aber zugleich in Abgrenzung zu dieser. Die Notwendigkeit dazu wird in der kollektiven Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung bis hin zu Gewalt gesehen. Das hat zur Folge, dass lesbische Täterinnen letztendlich nicht der herrschenden Ordnung »ausgeliefert« werden: Es werden nur sehr selten polizeiliche 6
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Diese Annahme gilt, obgleich sich hier eine Annäherung der Geschlechter feststellen lässt. Siehe u.a. Bruhns/Wittmann (2006): Umstände und Hintergründe der Einstellung von Mädchen zu Gewalt. In: Heitmeyer/Schröttle (Hg.): Gewalt – Beschreibungen, Analysen, Prävention, S. 294-317; Schröder, Miriam: »Bist du scheiße, schlachte ich dich« – Mädchengewalt. In: Spiegel online vom 28. April 2006; Süddeutsche Zeitung vom 6.6.06, S. 14: »Messerstecherei unter Mädchen – Eine Tote«. Eine mögliche Form von ›community response‹ stellt die juristische Sanktionierung häuslicher Gewalt dar, beispielsweise die justizielle Weisung in eine Tätergruppe oder aber gerichtliche Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz. Vgl. hierzu beispielsweise WiBig (2004): Täterarbeit im Kontext von Interventionsprojekten gegen häusliche Gewalt, S. 87.
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oder rechtliche Maßnahmen gegen die Gewalt ausübende Frau ergriffen, mit der Begründung, dass diese dann Diskriminierungen ausgesetzt sein könnte (Ohms 2006:59f.). Zugleich findet nur sporadisch eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik in subkulturellen Einrichtungen wie beispielsweise in lesbisch-schwulen Kulturzentren oder anderen Selbsthilfeeinrichtungen statt. Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ist mit einem Tabu belegt. Tabus schützen ein Thema vor dem Diskurs in einer Gemeinschaft und je mehr darüber schweigen, desto mehr Macht hat das Tabu über den/die Einzelne/n. Die kollektive Aufrechterhaltung eines Tabus stärkt folglich den Zusammenhalt einer Subkultur. Das lässt vermuten, dass der Diskurs zu Gewalt in lesbischen Beziehungen als bedrohlich für die lesbische Subkultur wahrgenommen wird. Die daraus resultierende Sanktionsschwäche beruht daher nicht wie bei heterosexuellen Männern auf einer Normverlängerung, sondern auf der mangelnden ›community response‹ der lesbischen Subkultur.
Zwischenfazit Wie aufgezeigt werden konnte, erweisen sich die Gewalt ausübenden Frauen als sehr bedürftig und ersehnen sich von ihren Partnerinnen bedingungslose Liebe. Diese Sehnsucht geht mit dem Wunsch nach Einssein, nach der Auflösung der Ich-Grenzen, mit einem geringen Selbstwertgefühl und vor allem der Enttäuschung darüber einher, dass ihre Sehnsucht nicht durch die Partnerin gestillt wird. Die hier dargestellten Interviews lassen vermuten, dass die Sehnsucht nach Einsein mit der Partnerin ein besonderer Aspekt gewalttätiger Beziehungsdynamiken bei Liebesbeziehungen zwischen Frauen ist. Trotz dieser Gemeinsamkeiten haben sich die gewalttätigen Beziehungsdynamiken unterschiedlich entwickelt. Auch wenn sich möglicherweise beide Partnerinnen als bedürftig erweisen, führt der jeweilige Umgang mit der eigenen Bedürftigkeit in der Interaktion zu unterschiedlichen Dynamiken: Während zum Beispiel Agnes ihre mütterliche Fürsorge an dem Kind ausleben kann, richtet sich Elviras Bedürftigkeit an Agnes und enttäuscht. Elvira geht nun zwei Wege, ihrer Bedürftigkeit gerecht zu werden: Sie beginnt eine zweite Beziehung, in der sie sich aufgehoben fühlt und versucht zudem, mittels Gewalt ihre Partnerin zu dem erwünschten Verhalten zu zwingen. Auch Nike hegt den Wunsch nach Einssein mit ihrer Partnerin und sieht diesen auf der beruflichen Ebene und durch die geteilte Erfahrung von sexuellem Missbrauch erfüllt. Allerdings bricht ihre Illusion von Einssein auch genau auf diesen Ebenen, denn Gertrud erweist sich als beruflich erfolgreicher und hat ei129
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ne andere Form des Umgangs mit ihrer Gewalterfahrung gefunden als Nike. Nike ist enttäuscht und wütend. Sie befürchtet, ihr Liebesobjekt zu verlieren und wird schließlich gewalttätig. In diesen beiden Fällen haben folglich die Partnerinnen die Ebene, auf der das Einssein hergestellt werden sollte, nicht geteilt. Dem gegenüber teilen Martina und Andrea die Ebene, auf der das Einssein hergestellt wird. Beide Frauen sehen das Einssein verwirklicht und versuchen mittels kontrollierendem und gewalttätigem Verhalten ihre Partnerin auf dieser Ebene festzuhalten. In ihrer Beziehung wird das Einssein durch die Annäherung an ein frühkindliches Mutter-KindVerhältnis hergestellt. Dadurch, dass Martina und Andrea sich mit ihre jeweiligen Position in der Partnerschaft selbst verwirklichen und diese zugleich komplementär sind, entsteht eine beidseitige starke Abhängigkeit und Verwobenheit, die auch nicht durch die Trennung aufgehoben wird. In der Beziehung von Lydia und Nadine schließlich erweisen sich beide Frauen ebenfalls als bedürftig und suchen bei ihrer Partnerin Zuwendung und Sicherheit. Da die Konflikte als etwas Trennendes erlebt werden, wird das Einssein vor allem über die Sexualität wiederhergestellt. Zugleich werden in der Sexualität, aber auch in der Beziehungsdynamik, lebensgeschichtlich frühe Traumata wieder belebt, in der eine Partnerin die Position des ›Opfers‹ und die andere die des ›Täters‹ einnimmt. Dadurch erhält die Beziehung ebenfalls eine Komplementarität, die jedoch Lydias Selbsthass verstärkt. Zugleich überträgt sie diesen auf ihre Partnerin, so dass diese sich in dieser Komplementarität nicht mehr verwirklicht sieht. Letztlich jedoch sehen sich beide Frauen in ihrer Bedürftigkeit nicht von ihrer Partnerin angenommen und sind voneinander enttäuscht.
Angst Die Partnerschaften von Elvira und Agnes sowie Nike und Gertrud unterscheiden sich von den beiden anderen dargestellten Beziehungen dahingehend, dass die Angst von Agnes und Gertrud die jeweiligen Beziehungsdynamiken bestimmt haben. In der von Elvira beschriebenen Partnerschaft hat Agnes Angst vor ihr. Obwohl Agnes manchmal mit einem gewalttätigen Übergriff von Elvira rechnete, d.h. dieser für sie vorhersehbar ist, erscheint er ihr dennoch als unvermeidbar. Elvira berichtet auch, dass Agnes’ Gegenwehr mit der Zeit nachgelassen habe, so habe diese sich anfänglich häufiger und dann immer seltener gewehrt. Zugleich hat die Schwere von Elviras Übergriffen zugenommen. Agnes versucht, sich auf verschiedene Art 130
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und Weise zu schützen, beispielsweise indem sie die Telefonleitung zu ihrer neuen Partnerin offen lässt – was Elvira jedoch bemerkt und unterbindet. Nach dem Übergriff kommt es zu einer Versöhnung in der Elvira Agnes versucht zu verdeutlichen, dass diese nur ihr Verhalten ändern müsse, damit es zu keinen Attacken käme. Nike wiederum erzählt, dass Gertrud nach der physischen Attacke Angst vor ihr gehabt habe und anschließend jedes Lautwerden von ihr als ebenso bedrohlich wie den körperlichen Angriff empfunden hat. Gertruds Angst und ihr Bemühen, Nike das Ausmaß ihres Tuns zu vermitteln, prägen die Beziehung nach der Attacke. Schließlich zieht sich Gertrud aus der Partnerschaft zurück, wobei sie einen beruflich bedingten Ortswechsel nutzt, um sich auch räumlich zu trennen. Obgleich Nike die Trennung verbalisiert, ist es Gertrud, die diese vollzogen hat. Agnes und Gertrud gehen sehr unterschiedlich mit ihrer Angst um: Während Agnes sich eher passiv verhält und in der Partnerschaft verbleibt, zeigt Gertrud aktive Verhaltensweisen und konfrontiert Nike mit ihrer Angst. Schließlich sucht sie nach einem Weg, sich zu trennen und dabei das Risiko eines weiteren Angriffs zu verringern. Demgegenüber versucht Agnes, Situationen zu vermeiden, die zu Gewalt führen könnten bzw. lässt diese dann ›über sich ergehen‹. Beiden gemein ist jedoch, dass ihre Angst die jeweiligen Beziehungen gestaltet und prägt. In den Fallbeispielen von Martina und Andrea, resp. Lydia und Nadine wiederum ist Angst – falls vorhanden – situativ begrenzt und gestaltet nicht die Partnerschaft. So berichtet Martina zwar, dass Andreas Verhalten sie belastet habe, aber sie benennt keine Gefühle von Angst oder Bedrohung. In dem Interview von Lydia zeigt sich, dass sie in einer spezifischen Situation Angst verspürt hat. Auf die Nachfrage der Interviewerin, ob sie denn Angst gehabt habe, fragt Lydia wiederum, wer denn gemeint sei, sie oder ihre Partnerin. In den Beziehungen von Martina und Andrea sowie Lydia und Nadine sind beide Partnerinnen aktiv an der Aufrechterhaltung der Beziehungsdynamik beteiligt, wobei die darin eingenommenen Positionen miteinander verwoben sind und sich ergänzen. Während sich die Partnerschaften von Elvira und Agnes bzw. Nike und Gertrud mittels eines Täterin-Opfer-Bezugs charakterisieren lassen, indem die Angst des Opfers die Beziehungsdynamik prägt, können die Partnerschaften von Martina und Andrea bzw. Lydia und Nadine nicht derart beschrieben werden. Angst ist hier kein prägendes Merkmal. Dennoch entwickeln sich die Partnerschaften gewaltförmig, wobei sie bei Martina und Andrea sogar eine Eskalation dahingehend erfährt, dass beide Partnerinnen in der Trennungsphase erstmals direkt physisch übergriffig werden. Die Partnerschaft ist nicht von den indirekten physi131
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schen und den psychischen Übergriffen geprägt, sondern von der Verwobenheit der Positionen von Fürsorgender und Bedürftiger. Dagegen ist es in der Partnerschaft von Lydia und Nadine bereits in der Phase der Beziehung zu physischen Angriffen gekommen. Im Vordergrund stehen auch hier nicht die einzelnen Attacken, sondern die Beziehungsdynamik, die sich durch das Wiederbeleben lebensgeschichtlicher Traumata in der Partnerschaft ergibt. Beide Partnerschaften lassen sich daher eher über die jeweiligen spezifischen Dynamiken charakterisieren, in denen Gewalt zwar vorkommt, aber nicht angstauslösend wirkt. Zudem sind beide Frauen aktiv an dem Geschehen beteiligt. Das Vorhandensein von Angst stellt folglich ein bedeutendes Kriterium für die Charakterisierung einer Täter-Opfer-Beziehung dar. Demgegenüber zeichnen sich die anderen gewalttätigen Dynamiken durch eine Verwobenheit der Partnerinnen aus, weshalb diese eher mit dem Begriff der ›beidseitigen Akteurinnen-Dynamik‹ gefasst werden kann.
Herrschaft und Macht Das dargestellte, kontrollierende Verhalten der interviewten Frauen, aber auch der von ihnen empfundene Kontrollverlust, sind eng mit dem Aspekt der Macht verwoben: ›Macht‹ in Anlehnung an Max Weber bedeutet, »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (Weber 2005:38). Im Kontext der geschilderten Partnerschaften bedeutet das, dass die Frauen bestrebt sind, ihre Vorstellungen von Partnerschaft und ihre Hoffnungen und Erwartungen an die Partnerin durchzusetzen. ›Macht‹ wird von den Frauen vor allem auf sich bezogen erlebt, Lydia spricht beispielsweise davon, ihre »Eigenmacht« verloren zu haben. In ihrer Enttäuschung über die Nichterfüllung ihrer Wünsche fühlen sich die Frauen daher ›ohn-mächtig‹. Mittels kontrollierendem oder gewalttätigem Verhalten versuchen sie folglich, ihre Macht wieder zu gewinnen. Im Gegensatz zu ›Macht‹ ist im Kontext einer Paarbeziehung ›Herrschaft‹ nicht reflexiv ausgelegt, sondern richtet sich an die Partnerin: Nach Max Weber heißt Herrschaft »die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden« (Weber 2005: 38). Als Beispiel für einen »Herrscher« führt er den »Hausvater« oder einen »Beduinenhäuptling« an. Herrschaft basiert zwar auf Macht, allerdings geht es hier darum, für einen »Befehl« »Fügsamkeit« zu finden. Anhand des Merkmals von ›Macht‹ und ›Herrschaft‹ lässt sich eine weitere Differenzierung der Beziehungsdynamiken vornehmen: Ein wesentliches Charakteristikum der Partnerschaft von Elvira und Agnes ist 132
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Elviras Forderung, dass Agnes einlenkt bzw. sich ihrem Willen fügt: Demnach möchte Elvira nicht nur ihre Machtlosigkeit überwinden, sondern zugleich die Fügsamkeit ihrer Partnerin hinsichtlich ihres »Befehls« erreichen, d.h. Herrschaft über ihre Partnerschaft erlangen. Dieser Anspruch geht über die Überwindung einer empfundenen ›Ohn-Macht‹ hinaus. Herrschaft unterscheidet sich von Kontrolle insofern, als letztere ein Mittel darstellt, um Herrschaft zu sichern: Elvira möchte nicht nur Agnes’ Verhalten kontrollieren, sondern auch deren Gedanken: sie schlägt deren Vermutung, dass sie eine Affäre haben könnte, sprichwörtlich nieder und manipuliert durch ihr beständiges Leugnen Agnes’ Wahrnehmung. Das kann dazu führen, dass diese sich selbst immer weniger vertraut und quasi ›verrückt‹ gemacht wird. Durch die von Elvira verübte Kontrolle und Gewalt versucht sie, ihre Herrschaft, d.h. Agnes’ Gehorsam, zu sichern – erst dann kehrt für Elvira »Friede« ein. Dagegen handelt es sich bei Nike um einen einmaligen physischen Übergriff, wobei allerdings ihre spätere laute Tonstärke in Konflikten von Gertrud als gleichermaßen gewalttätig wahrgenommen wird. Während Nikes einmalige physische Attacke von Wut und Hass geleitet ist, scheinen ihre nachfolgenden verbalen Übergriffe ihrer Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verzweiflung geschuldet zu sein. Ihr Bemühen, ihr gewalttätiges Verhalten Gertrud zu erläutern, erscheint jedoch angesichts ihrer mangelnden Einsicht in die angstauslösenden Auswirkungen ihres Tuns als Versuch, ihre Wahrnehmung gegenüber Gertrud durchzusetzen. Nike setzt folglich verbale Aggression ein, um die von ihr empfundene Ohnmacht zu überwinden, d.h. ihre Macht wiederzugewinnen. Sowohl die Partnerschaft von Elvira und Agnes als auch die von Nike und Gertrud lassen sich als Täter-Opfer-Relation beschreiben. Dennoch weisen beide Beziehungsdynamiken einen bedeutenden Unterschied auf, der sich anhand des Merkmals von ›Macht‹ resp. ›Herrschaft‹ darstellen lässt: Bei Nike handelt es sich um einen einmaligen physischen Übergriff, dem verbale Attacken folgen. Obwohl dieser die Partnerschaft nachhaltig beeinflusst hat, zeigt sich kein Zyklus der Gewalt, wie er sich in der Partnerschaft von Elvira und Agnes abzeichnet. Auch möchte Nike mit ihrer physischen und nachfolgenden verbalen Aggression die von ihr empfundene Ohnmacht überwinden und ihre Wahrnehmung Gertrud vermitteln. Demgegenüber hat Elvira den Anspruch, dass ihre Partnerin sich ihr fügt, d.h. gehorsam ist. Mittels Gewalt und kontrollierendem Verhalten versucht sie, diesen Gehorsam zu erzwingen. Der zyklische Verlauf, Elviras Herrschaftsanspruch, die Kontrolle über das Verhalten und die Gedanken der Partnerin sowie die zunehmende Schwere der Gewalt weisen auf die Gewaltdynamik einer sog. Misshandlungsbeziehung hin. Dagegen kann Nikes gewalttätiges 133
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Handeln eher aus einem Affekt heraus beschrieben werden, in dem kognitive Fähigkeiten im Umgang mit Enttäuschung und Verzweiflung von ihren Emotionen überlagert werden. Auch in den anderen geschilderten Beziehungsdynamiken taucht das Merkmal der ›Macht‹ auf. Sowohl Martina als auch Andrea erleben sich in ihren Positionen als machtvoll. Das ist allerdings nur aufgrund des komplementären Beziehungsgefüges möglich. Mit der Trennung wird die Komplementarität aufgehoben und Andrea fühlt sich ›ohn-mächtig‹. Mittels ihres gewalttätigen Handelns, welches auch ihre Bedürftigkeit widerspiegelt, möchte sie nicht nur ihr Liebesobjekt zurückgewinnen, sondern auch die damit verbundene Form der Beziehung. Die Partnerschaft von Lydia und Nadine wiederum ist von einem konstanten Kampf und von Macht geprägt: Beide Frauen möchten ihre Erwartungen an die Partnerin durchsetzen. Zudem empfindet Lydia Nadines Bedürftigkeit und Opfersein als Ausdruck von Machtlosigkeit, dem sie große Verachtung entgegenbringt. Sie bedarf der Macht von Nadine, um ihre eigene Macht zu spüren; ihr Sein ist eng mit dem von Nadine verwoben. Lydia möchte daher um ihrer selbst willen Nadine als machtvoll erleben. Da Nadine diese Hoffnung nicht erfüllt und ihre Bedürftigkeit offenbart, sieht sich Lydia quasi ihrer Macht beraubt. Keine der beiden Frauen fühlt sich letztendlich bei der anderen aufgehoben, was schließlich zur Trennung führt.
Monodirektionale vs. bidirektionale Gewaltausübung In den Partnerschaften von Martina und Andrea sowie Lydia und Nadine lässt sich eine bidirektionale Gewaltausübung feststellen, während in den Beziehungen von Nike und Gertrud bzw. Elvira und Agnes diese monodirektional erfolgt. In den Beziehungen von Martina und Andrea resp. Lydia und Nadine sind beide Partnerinnen aktiv und mit eigener Motivation an der gewalttätigen Beziehungsdynamik beteiligt: Die Beziehung von Martina und Andrea kann, wie bereits erläutert, als »Fürsorge-Kollusion« charakterisiert werden, in der beide Frauen versuchen, ihre progressiven bzw. regressiven Anteile zu verwirklichen. Beide sind daher bemüht, die Partnerin in der entsprechenden Position zu halten. Ein Teil der (gewalttätigen) Konflikte ist darauf zurückzuführen, dass eine der beiden Partnerinnen der von ihr angenommenen und auch zugeordneten Aufgabe nicht nachkommt. Mittels des Konflikts wird der alte Status quo wieder hergestellt. Eine dauerhafte Veränderung der Beziehungsdynamik wird von keiner der Partnerinnen angestrebt. Martina findet ihre Erfüllung in ihrer Fürsorge. Diese lässt sie besonders ihrer Beziehungspartnerin, aber 134
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auch anderen Menschen zukommen, denn es ist ihr »wichtig«, dass sie anderen »wichtig« ist. Andrea wiederum erzählt, in der Beziehung ihr »inneres Kind abgestellt« zu haben. Sie erlebt ihre Bedürftigkeit als sehr machtvoll und bedauert, nach der Trennung ihre Macht über Martina verloren zu haben. Diese komplementäre und korrelierende Aufgabenverteilung führt auch zu einer großen Abhängigkeit der Frauen voneinander, denn beide können sich nur dann verwirklichen, wenn die Partnerin die ihr zugedachte Funktion erfüllt. Da die Beziehung von Fürsorgender und Bedürftiger einem Mutter-Kind-Verhältnis entspricht, bleiben die Kommunikation und mögliche Konfliktlösungsstrategien auf einer lebensgeschichtlich eher früh verorteten Ebene. Martinas Hilflosigkeit und Ohnmacht drückt sich darin aus, dass sie gegen die Wand oder Decke schlägt, wobei Andrea von ihrer Aggression zumindest mittelbar betroffen ist. Andrea wiederum versucht nach der Trennung mittels Telefonterror die Zuwendung ihrer nunmehr ehemaligen Partnerin einzufordern. Andreas Stalking-Aktivität ist daher Ausdruck der in der Beziehung von beiden Frauen geschaffenen Abhängigkeit. Schließlich zeigt die geschilderte Dynamik auch, dass physische Attacken eine weitere Stufe der Eskalation darstellen, in der vorherige Einflussfaktoren, die die Partnerinnen daran gehindert haben könnten, körperlich aggressiv zu werden, ihre Wirkung verloren haben. Die Wut beider Frauen war schließlich derart groß, dass sie die körperliche Grenze überschritten. Dadurch erhält ihre Aggression eine andere Qualität. In der Beziehung von Lydia und Nadine scheinen beide Frauen ebenfalls aktiv und mit eigener Motivation an der Aufrechterhaltung der gewalttätigen Beziehungsdynamik beteiligt zu sein. Die Beziehung kann als ›traumatisierte Partnerschaft‹ beschrieben werden, in der lebensgeschichtliche Traumata – hier sexualisierte Gewalt – wieder belebt und inszeniert werden. Dabei erfährt sich Nadine wieder als Opfer, während Lydia deren Opferstrukturen, aber auch ihren eigenen Opfererfahrungen, eine tiefe Verachtung entgegenbringt; sie betrachtet sich und Nadine mit den Augen des Täters. Die Re-Inszenierungen der Gewalttraumata schlagen sich auch in der von den Frauen verübten sadomasochistischen Sexualpraktik nieder, in der beide Frauen nicht nur entsprechend der Sexualität komplementäre Positionen haben, sondern diese auch in einem lebensgeschichtlichen Bezug stehen. So habe Nadine gegenüber Lydia geäußert, dass sie durch ihre Position als Masochistin ihre durch den sexuellen Missbrauch verloren gegangene Macht zurückgewinnen könne. Demgegenüber identifiziert sich Lydia nicht nur mit der Rolle der Sadistin, die sie anfänglich vehement ablehnte, sondern auch mit Nadines Missbraucher. Lydia fühlt sich anfänglich von Nadine in diese Rolle gedrängt, wobei sie sie im Verlauf der Partnerschaft so weit annimmt, dass 135
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sie schließlich alleine eine entsprechende Subkultur aufsucht. In den Konflikten reagiert Nadine auf die von ihre empfundenen Herabsetzungen und Demütigungen mit Wut und Aggression, die zu physischen Übergriffen führen. Lydia dagegen versucht mit physischer Gewalt ihre Wahrnehmungen ihrer Partnerin zu vermitteln, sie beschreibt das als »in einer Handlung rüberbringen«. Sie setzt Gewalt ein, wenn sie das Gefühl hat, dass ihre Partnerin nicht »in Kontakt« mit ihr ist. Zudem setzt sie ihre Partnerin verbal herab und verleiht ihrer tiefen Verachtung für deren Opferstrukturen Ausdruck. Lydia sucht etwas in ihrer Partnerin, was ihr selbst verloren gegangen ist, nämlich Macht und Stärke. Wegen ihres Berufes als Kampfsportlehrerin scheint Nadine das auch zu verkörpern. Schließlich ist Lydia enttäuscht, weil Nadine ihre Hoffnung nicht erfüllt. Auch Nadine sucht etwas in Lydia, was ihr verloren gegangen ist. Sie reagiert auf Lydias ›Täterstrukturen‹ mit Wut und Aggression, wodurch sie die von ihr empfundene Ohnmacht überwindet. Die Wiederbelebung der Traumata ist jedoch nur möglich, weil Lydia und Nadine komplementäre Positionen, d.h. Opfer und Täter einnehmen. Beide Frauen sind aktiv an dem gewalttätigen Geschehen beteiligt. Die Beziehung kann als ein kontinuierlicher Kampf um Macht charakterisiert werden, wobei beide sich nach Nähe sehnen und diese aber nicht zulassen können. Dagegen liegt in den Beziehungen von Nike und Gertrud resp. Elvira und Agnes eine monodirektionale Gewaltausübung vor. Obgleich Gertrud in der gewalttätigen Situation ebenfalls körperlich aggressiv geworden ist, lässt sich ihr Verhalten als Gegenwehr beschreiben. Auch wenn ihre Gegenwehr möglicherweise von Wut geprägt war, setzte sie diese erst ein, nachdem sie von Nike bereits geschlagen worden war. Schließlich versuchte sie auch, der Situation zu entkommen und flüchtete zu ihrer Mutter. Nikes physische Attacke bewirkt bei ihr zudem ein beständiges Gefühl der Angst, so dass bereits eine lautstarke Intonation genügt, um diese erneut auszulösen. Auch Agnes zeigt nach Elviras Erzählung anfänglich Anzeichen von physischer Gegenwehr, die im Laufe der Zeit jedoch immer weniger geworden ist. Ihre von Elvira als herabsetzend empfundenen Äußerungen über den Verlauf der Partnerschaft scheinen eher ihrer Enttäuschung denn einer Aggression gegenüber Elvira geschuldet zu sein. Auch nimmt sie schließlich deren physischen Übergriffe hin. Das Opfersein muss sich daher nicht notwendigerweise, wie eingangs dargestellt, durch ein ›paralysiertes, hinnehmendes‹ Verhalten darstellen, sondern kann auch offene und versteckte Formen der Gegenwehr und auch Aggression beinhalten. Ausschlaggebend scheint mir hier vielmehr die Angst des Opfers zu sein, die letztlich auch die gewalttätige Beziehungsdynamik moduliert.
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Charakteristika von Gewaltdynamiken in Beziehungen und Klassifizierungstabelle Anhand der dargelegten Gemeinsamkeiten und Unterschiede wird deutlich, dass auf der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene die Gemeinsamkeiten von Einflussfaktoren, die die gewalttätigen Dynamiken bedingen, überwiegen: die interviewten Frauen weisen Erfahrungen von Gewalt und/oder Vernachlässigung in ihren Biographien auf, sie zeigen Auffälligkeiten in ihren Persönlichkeiten, teilen das Bedürfnis nach Zuwendung und Fürsorge und leben schließlich in einer Gesellschaft, die gegenüber ihrer Homosexualität Vorbehalte hegt. Die Betrachtung der Interaktion der Partnerinnen offenbart allerdings bedeutende Unterschiede, die auch die jeweiligen Beziehungen gestalten. Diese ermöglichen schließlich eine differenzierte Klassifizierung der spezifischen gewalttätigen Beziehungsdynamiken. Bedeutende Merkmale sind Angst, die Ausrichtung der Gewalt, die Ebene, auf der das Einssein hergestellt werden soll und schließlich die Interaktion der Partnerinnen.
Angst Das Vorhandensein bzw. das Nichtvorhandensein von Angst bei einer der beiden Partnerinnen ist das grundlegende Merkmal für die Unterscheidung zweier Typen von Gewaltdynamiken: In der Täter-OpferDynamik ist die Angst des Opfers tragendes Moment der Partnerschaft, während sie demgegenüber in der beidseitigen Akteurinnen-Dynamik zwar situativ vorhanden sein kann, nicht jedoch die Beziehung gestaltet. Die Angst des Opfers vor der Täterin ist allgegenwärtig; das Opfer versucht, Situationen zu vermeiden, in denen die Partnerin gewalttätig werden könnte. Auch rechnet es jederzeit mit einem Übergriff. Hingegen hat keine der Partnerinnen in der beidseitigen Akteurinnen- Dynamik dauerhaft Angst vor der anderen und überlegt auch nicht, wie sie einer möglichen gewalttätigen Attacke entgehen könnte. Die vorliegende Untersuchung lässt den Schluss zu, dass Angst ein eindeutiges – und damit das wesentliche – Kriterium für die Bestimmung einer vorliegenden Täter-Opfer-Dynamik ist. Andere Kriterien wie die Initiierung der Gewalt (vgl. Hamberger 2002; Swan/Snow 2003) erweisen sich als nicht so eindeutig, da sich ein Opfer nicht zwangläufig paralysiert und passiv verhalten muss, sondern in Reaktion auf seine Angst quasi ein gewalttätiges Verhalten antizipieren und daher auch ›initiieren‹ könnte.
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Ausrichtung der Gewalt Des Weiteren erfolgt die Gewaltausübung in einer Täter-Opfer-Dynamik monodirektional, während sie in einer beidseitigen Akteurinnen-Dynamik bidirektional verläuft. Bei Betrachtung der Beziehung über einen längeren Zeitraum kristallisiert sich eine Partnerin heraus, die wiederholt physische und/oder psychische Gewalt erfährt. Dagegen lässt sich in einer beidseitigen Akteurinnen-Dynamik ebenfalls bei Betrachtung eines längeren Beziehungszeitraums keine eindeutige Opferposition feststellen. Vielmehr zeigen beide Partnerinnen aggressive und kontrollierende Verhaltensweisen. In einzelnen Situationen mag dennoch eine ›Täterin‹ und ein ›Opfer‹ auszumachen sein, was allerdings nicht der komplexen Beziehungsdynamik gerecht wird. In der Täter-Opfer-Dynamik wird mittels Gewalt Herrschaft, Macht und Kontrolle über die Partnerin hergestellt, wobei die Partnerin diese nicht gleichermaßen anstrebt, sondern der Aggression ihrer Partnerin ausgesetzt ist. Obgleich eine mögliche – auch physische – Gegenwehr des Opfers von Wut getragen sein und auch die Täterin verletzen kann, geschieht das in Reaktion auf deren aggressives Verhalten. Auch legen die Interviews nahe, dass mit zunehmender Verweildauer in der Partnerschaft die aktive Gegenwehr geringer wird, bis sie schließlich endet. Hingegen nimmt die Schwere der Gewalt bei der Täterin zu. Bei der bidirektional ausgerichteten gewalttätigen Beziehungsdynamik sind beide Frauen bestrebt, ihre zum Großteil ihnen nicht bewussten Hoffnungen und Wünsche gegenüber der Partnerin durchzusetzen; beide zeigen kontrollierende Verhaltensweisen und wollen ihre Macht durchsetzen. Die gewalttätigen Übergriffe der jeweiligen Partnerinnen erfolgen dabei nicht gleichzeitig, es handelt sich also nicht um eine ›Prügelei‹, an der beide gleichermaßen beteiligt sind. Vielmehr scheinen sich beide Frauen in der Partnerschaft zu unterschiedlichen Gelegenheiten kontrollierend zu verhalten oder aber werden aus den unterschiedlichen, bereits geschilderten Motivlagen gewalttätig.
Ebene des Einsseins Wie bereits dargestellt, ist der Wunsch nach Einssein ein bedeutendes Merkmal gewalttätiger Dynamiken in Liebesbeziehungen zwischen Frauen. Der Prozess der Gewalt wird davon beeinflusst, ob beide Frauen die Ebene, auf der das Einssein hergestellt wird, teilen oder nicht bzw. ob beide Frauen sich auf dieser Ebene begegnen können. In de Täter-Opfer-Beziehung scheint die Ebene des Einsseins nicht von beiden Frauen getragen zu werden, wodurch der Eindruck entsteht, 138
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dass die eigene Bedürftigkeit an die Partnerin herangetragen wird. Da diese unerfüllt bleibt, kommt es zu Enttäuschungen und Wut, die schließlich in Gewalt mündet. So möchte Elvira von Agnes jene mütterliche Fürsorge und Zuwendung, die diese jedoch ihrem Sohn zukommen lässt. Da Elvira bereits vor der Geburt des Kindes gegenüber Agnes gewalttätig geworden war, liegt die Vermutung nahe, dass sich die Frauen bereits vorher nicht auf dieser Ebene begegnen konnten. So kritisiert Elvira, dass sich Agnes um ihre »Ex-Tochter« und ihre ehemalige Partnerin gekümmert habe und dort etwas teile, wonach sie sich sehne. Nike wiederum sieht das Einssein über die Erfahrung von sexuellem Missbrauch und gleicher beruflicher Tätigkeit hergestellt. Sie sieht das Einssein durch Gertruds anderen Umgang mit der Gewalterfahrung und durch ihren beruflichen Werdegang zerstört. Auch wird dadurch, dass nach Nikes Wahrnehmung Gertrud ihr gewalttätiges Verhalten nicht verstehen kann, das Einssein zerstört. Beide Frauen können sich folglich auf der von Nike ersehnten Ebene des Einsseins nicht begegnen. In der beidseitigen Akteurinnen-Dynamik wird demgegenüber die Ebene des Einsseins von beiden Frauen geteilt und es entstehen komplementäre Beziehungsstrukturen. Die Bedürftigkeiten der Partnerinnen werden in den Beziehungen in einer sich ergänzenden Art und Weise verwirklicht. Während jedoch Martina und Andrea durch die komplementäre Beziehungsstruktur von Fürsorgender und Bedürftiger das Einssein hergestellt haben, ist das Sein von Lydia eng mit dem von Nadine verwoben. Da Lydia ihren Selbstwert und ihre Macht über Nadines Spiegelung stabilisiert, also Nadines Macht und Selbstwert die ihrigen sind, wird das Einssein Nadine quasi in den Körper eingeschrieben. Zugleich verkörpert Nadine diese Charakteristika durch ihren Beruf als Kampfsportlehrerin. Diese Ebene wird dennoch nicht von beiden Frauen geteilt, denn Nadine erweist sich entgegen Lydias Hoffnungen und Wünschen als ebenfalls bedürftig. Eine weitere Ebene des Einsseins, in der sich beide Frauen schließlich begegnen, ist die Sexualität. Mittels dieser wird das Trennende in der Beziehung aufgehoben. Zugleich trennt die Sexualität aber auch, denn hier werden lebensgeschichtliche Traumata wieder belebt.
Beziehungsdynamiken Anhand der dargelegten Charakteristika lassen sich nachfolgende Kategorien zur Beschreibung gewalttätiger Beziehungsdynamiken erstellen:
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Täter-Opfer-Dynamik Misshandlungsbeziehung Die Partnerschaft von Elvira und Agnes lässt sich als Misshandlungsbeziehung beschreiben: Diese ist durch einen wiederholten zyklischen Ablauf gekennzeichnet, in dem die Spannungen in der Partnerschaft zunehmen, bis es schließlich zu einem Übergriff kommt. Danach sind beide Partnerinnen bestrebt, sich zu versöhnen, bis es erneut zu einer Situation kommt, in der die Täterin gewalttätig wird. Neben dem zyklischen Verlauf ist diese Dynamik auch durch Herrschaft und Kontrolle geprägt, wobei Herrschaft sich von Macht dahingehend unterscheidet, dass diejenige, die Herrschaft ausübt, dauerhafte Folgsamkeit von ihrer Partnerin erwartet, während Macht die Durchsetzung eigener Interessen betont. Schließlich erstreckt sich die Misshandlungsbeziehung über einen längeren Zeitraum, in dem die Schwere der Gewalt zunimmt und so eine Entgrenzung erfährt. Die Dauer einer Misshandlungsbeziehung kann auch darauf zurückgeführt werden, dass sich hier das Opfer nur selten zur Wehr setzt und lange in der Partnerschaft verbleibt. Nach der – häufig physischen Attacke – tritt eine Beziehungsphase ein, in der das Paar sehr um Versöhnung bemüht ist. Hier verzeiht das Opfer der Täterin, was letztlich dazu führt, dass deren gewalttätiges Verhalten bestärkt wird, da sie keine negativen Konsequenzen erfährt. So berichtet Elvira, dass sie anfänglich befürchtet, Agnes würde die Beziehung beenden, aber nach deren wiederholtem Verzeihen keinerlei derartige Besorgnisse mehr hegte. Auch entsteht bei der Täterin der Eindruck, zumindest kurzfristig mittels der Ausübung von Gewalt erfolgreich gewesen zu sein. Schließlich wehrt sich Agnes immer seltener, so berichtet Elvira, dass diese sich anfänglich häufiger und später nicht mehr zur Wehr gesetzt habe. Die geschilderten Merkmale legen die Vermutung nahe, dass durch fehlende negative Konsequenzen für die Täterin, beispielsweise indem ihr verziehen wird, und den spezifischen erstarrenden Umgang des Opfers mit seiner Angst der Nährboden für eine Misshandlungsbeziehung gelegt ist. Affektakzentuierte Gewaltdynamik Die Partnerschaft von Nike und Gertrud wiederum ist durch eine eher affektakzentuierte Gewaltdynamik charakterisiert. Als Affekttat wird von Saß jene Handlung bezeichnet, bei der die handelnde Person »aus Wut, Zorn oder Leidenschaft, aus Kränkung, Trauer oder Angst in eine heftige affektive Erregung [gerät] und aus dieser heraus mit hoher Aggressivität handelt […]« (Saß 1993). Die affektakzentuierte gewalttä140
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tige Beziehungsdynamik weist einen willkürlichen Verlauf auf, in dem physische Übergriffe sporadisch und beliebig auftreten oder aber von psychischen Attacken abgelöst werden. Auch ist sie eher von Macht als von Herrschaft sowie von Kontrolle bestimmt. Zudem ist die Dauer der Partnerschaft kürzer als die einer Misshandlungsbeziehung. Da mit zunehmender Verweildauer die Gegenwehr des Opfers abnimmt, weist die kürzere Dauer der Partnerschaft darauf hin, dass hier noch ein höheres Potential der Gegenwehr vorliegt. Auch zieht sich das Opfer schneller aus der Partnerschaft zurück als in einer Misshandlungsbeziehung. Durch den Rückzug der Partnerin erfährt die Täterin in der affektakzentuierten Entwicklung eine negative Konsequenz für ihr gewalttätiges Verhalten. Das kann zu einem Strategiewechsel führen mit dem Ziel, weiteren negativen Konsequenzen zu entgehen. Da auch der Strategiewechsel, in Nikes Fall eine psychisch orientierte Gewaltform, erneut zu negativen Konsequenzen führt, weil die Partnerin diese als gleichermaßen gewalttätig empfindet wie den physischen Übergriff, kann sich hier keine fortdauernde Gewaltdynamik etablieren. Daher liegt die Vermutung nahe, dass das Verhalten des Opfers darüber entscheidet, ob sich eine Misshandlungsbeziehung etabliert oder nicht.
Beidseitige Akteurinnen-Dynamik Kollusionen8 In einer ›Kollusion‹ finden nach Willi (2002) »zwei Partner mit ähnlich gelagerten Liebesdefiziten zueinander«. Die Verwobenheit der Partnerschaft von Martina und Andrea lässt sich mittels der von Willi als »Helfer-Kollusion« bezeichneten Paardynamik beschreiben. Diese Beziehungsdynamik zeichnet sich dadurch aus, dass eine Partnerin nach einem Partner oder einer Partnerin sucht, die »unbegrenzt spendet, mütterlich betreut und pflegt«. Der Partner bzw. die Partnerin wiederum »will pflegen, helfen, unterstützen«. Er/sie erwartet dafür Dankbarkeit, aber auch die Bestätigung, für jemand anderen wichtig zu sein. In der Partnerschaft von Martina und Andrea begegnen sich zwei Frauen, die ihre jeweilige progressive (fürsorgliche) oder regressive (bedürftige) Position hier verwirklichen wollen. In einer negativen Beziehungsentwicklung ist eine Veränderung der eingenommenen und zugeordneten Positionen nicht möglich; die vorhandenen Strukturen werden notfalls mittels Zwang und/oder Gewalt aufrechterhalten. Beide Partnerinnen zeigen ein 8
Nach Willi (2002:205) beschreibt der Begriff »Kollusion« das Zusammenspiel eines neurotischen Paarkonflikts. Neurotisch wird das Zusammenspiel erst durch seinen Abwehrcharakter (unbewältigte frühkindliche Traumatisation und Konflikte). 141
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Interesse an der Aufrechterhaltung der Beziehungsdynamik und gestalten diese aktiv. Auch setzen beide Partnerinnen Gewalt ein, wenn sie die Beziehungsstruktur gefährdet sehen. Zugleich haben die Frauen keine Angst vor einander, und betrachten ihr Tun und das ihrer Partnerin aus der jeweiligen progressiven oder regressiven Position heraus. Die Verwobenheit der Bedürftigkeiten führt zu einer starken Abhängigkeit, die es beiden Frauen erschwert, nach einer vollzogenen Trennung loszulassen. Das wiederum kann zu nachpartnerschaftlichen Übergriffen in Form von beispielsweise Stalking-Aktivitäten führen.
Traumatisierte Partnerschaften In der ›traumatisierten Partnerschaft‹ (Lydia und Nadine) werden lebensgeschichtliche Gewalttraumata in der Beziehung wiederbelebt, wobei die eine Partnerin die Position des Opfers und die andere die Position der Täterin innehat. Die jeweiligen Positionen ergeben sich aus dem individuellen Umgang mit dem erlebten Gewalttrauma. So kann das Opfer entweder weiterhin in dieser Position verbleiben oder aber die Sicht des Täters übernehmen und selbst zur Täterin werden. Wenn ein ›Opfer‹ und eine ›Täterin‹ in einer Beziehung aufeinander treffen, kann es dann zu einer gewalttätigen Beziehungsdynamik kommen, in der das Gewalttrauma fortgeführt wird. Das ›Opfer‹ erlangt in seiner Abgrenzung von der Partnerin die verloren gegangene Kontrolle und Macht zurück, während die ›Täterin‹ diese über den Perspektivenwechsel wiedergewinnt. Da diese komplementären Positionen nicht auf ein bestimmtes Setting, beispielsweise die Sexualität, begrenzt sind, gestalten sie die Beziehungsdynamik der Partnerschaft. In der eingangs in Kap. I, 3.8 dargestellten Untersuchung von Swan/Snow (2003) wurde festgestellt, dass 12 % der gewalttätigen Frauen der Gruppe der »missbrauchten Aggressorin« zugeordnet werden können, aber 37 % der an der Studie beteiligten Frauen keine traumatisierte Erfahrungen aufweisen. Die Ergebnisse der hier vorliegenden Untersuchung lassen allerdings vermuten, dass ein weitaus höherer Anteil der lesbischen gewalttätigen Frauen dieser Gruppe zugeordnet werden kann. Das Trauma wiederum schlägt sich in der gewalttätigen Beziehungsstruktur entsprechend dem Interaktionsmuster nieder und kann wie bei Nike und Gertrud einen Täter-Opfer-Bezug herstellen oder aber wie bei Lydia und Nadine in der ›Re-Inszenierung‹ des Traumas münden.
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Tabelle 1: Klassifizierungen Beziehungsdynamiken Täter/Opfer-Dynamik Beidseitige Akteurinnen-Dynamik Misshandlungsbeziehung Angst
Gewaltverlauf
Affektakzentuierte Gewaltdynamik Angst des Opfers Angst des Opfers bestimmt die bestimmt die Dynamik der Dynamik der Partnerschaft Partnerschaft
FürsorgeKollusion
Zyklischer Verlauf der Gewalt, einseitig motiviert Entgrenzung der Gewalt Herrschaft
Willkürlicher Verlauf der Gewalt, einseitig motiviert Entgrenzung der Gewalt Macht
Sich wiederholende Motive, beiderseitig motiviert Progredienz zur Gewalt Macht
Subjektiv empfundener Kontrollverlust Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit Wirkt indirekt kontrollierend
Subjektiv empfundener Kontrollverlust Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit Wirkt direkt und indirekt kontrollierend Komplementäre regressive bzw. progressive Verwirklichung
Situative Angst möglich, jedoch bestimmt sie nicht die Dynamik der Partnerschaft Monodirektionale Monodirektionale Bidirektionale Gewaltausübung Gewaltausübung Gewaltausübung
Macht/ Herrschaft Kontrolle Subjektiv empfundener Kontrollverlust Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit Wirkt direkt kontrollierend Hoffnungen, die mit Partnerschaft verknüpft sind Wunsch nach Einssein mit der Partnerin
Wunsch nach Fürsorge wird an Opfer herangetragen
Wunsch nach Fürsorge wird an Opfer herangetragen
Verhinderung der Auflösung der Ich-Grenze durch einseitige Gewalt Verlustangst von Täterin und Opfer
Verhinderung der Auflösung der Ich-Grenze durch einseitige Gewalt Verlustangst von Täterin (und Opfer)
Traumatisierte Partnerschaften Situative Angst möglich, jedoch bestimmt sie nicht die Dynamik der Partnerschaft Bidirektionale Gewaltausübung Sich wiederholende Motive; beiderseitig motiviert Eskalation der Gewalt Macht
Auflösung der Ich-Grenzen
Subjektiv empfundener Kontrollverlust Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit Wirkt direkt und indirekt kontrollierend Komplementäre Wiederbelebung lebensgeschichtlicher Gewalttraumata Auflösung der Ich-Grenzen
Trennung wird als existenziell empfunden
Re-Inszenierung von Täterin/Opfer
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DAS FREMDE IN MIR Sucht
Konsum von Suchtmitteln mit direktem Einfluss auf die Beziehung
Verhalten Opfer verbleibt in der Part- der Partnerschaft nerin
Konsum von Suchtmitteln mit Einfluss auf die Beziehung
Rückzug des Opfers aus der Partnerschaft
Konsum von Suchtmitteln hat keinen direkten Einfluss auf die Partnerschaft
Konsum von Suchtmitteln hat keinen direkten Einfluss auf die Partnerschaft Beide halten die Beide halten Beziehung aktiv die Beziehung aufrecht aktiv aufrecht
Konflikthafte und gewalttätige Dynamiken: Eine notwendige Differenzierung Konflikte in einer Beziehung beschreiben Situationen, in denen unvereinbare Gegensätze zwischen den Partnern vorhanden sind. Nach Willi (2002:204) sind sie zudem aus der Beziehungssituation heraus verstehbar. Die Interaktion, d.h. das aufeinander bezogene Handeln der Partnerinnen, kann dabei konstruktiv oder destruktiv bis hin zur Anwendung von Gewalt verlaufen. Sie ist bestimmt durch bewusste und unbewusste Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen an die Partnerschaft und erfolgt sowohl verbal als auch nonverbal. Zur Beschreibung des aggressiven Konfliktverhaltens in der Partnerschaft wird oftmals die ›Conflict Tactics Scale‹ bzw. deren überarbeitete Fassung, die CTS 2 herangezogen. Im Fokus steht hier das Konfliktmanagement, d.h. wie sich die Partner/innen in einem Konflikt verhalten. Die Beschreibung gewalttätiger Beziehungsdynamiken als Konflikt und destruktives Konfliktverhalten ist vorrangig situationsbezogen und kann die Auswirkung eines wiederholt destruktiven Konfliktverhaltens auf die Modellierung der Partnerschaft nicht hinreichend fassen. So könnte beispielsweise Elviras gewalttätiges Verhalten als ein sich wiederholender Bedürfniskonflikt dargestellt werden. Dabei könnten jedoch die Auswirkungen ihrer Gewalttaten, nämlich Agnes’ Angst sowie der sich daraus ergebende Gewaltzyklus und die mit ihm einhergehende Macht und Kontrolle nicht erfasst werden. Analog könnte für die gewalttätige Beziehungsdynamik von Nike und Gertrud argumentiert werden: Die konflikthaften Situationen könnten ebenfalls als Bedürfniskonflikte beschrieben werden. Diese Charakterisierung kann jedoch Gertruds Angst vor Nike nicht fassen. Ihre Angst prägt die Beziehung und führt schließlich zu ihrem Rückzug aus der Partnerschaft. Bei bidirektionale Gewaltdynamik kann analog argumentiert werden: zwar könnten die einzelnen Situationen als Bedürfnis- und/oder Wertekonflikte beschrieben werden, aber die bewussten und unbewussten Erwartungen und Hoffnungen an die Partnerschaft führen nicht nur zu Situationen, in denen unvereinbare Gegensätze aufeinander treffen, 144
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sondern sie tragen die Beziehung. Die Hoffnungen und Erwartungen an die Partnerschaft wiederum sind beeinflusst von den jeweiligen Lebensgeschichten der Frauen, z.B. von ihren Traumatisierungen in der Kindheit, aber auch von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie etwa die verinnerlichte Ablehnung eines gleichgeschlechtlichen Lebensentwurfs. Die lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Einflüsse auf bewusste und unbewusste Erwartungen und Hoffnungen an die Partnerschaft sind zudem nicht erst in der Beziehung entstanden, sondern begleiten die Frauen vielmehr über einen längeren Lebensabschnitt und kommen in der Partnerschaft zum Tragen. Daher lässt sich der Konflikt nicht notwendigerweise aus der Beziehungssituation heraus verstehen. Die spezifische Beziehungsdynamik dagegen lässt sich aus der Partnerschaft heraus erklären, denn diese wird von der Interaktion der Partnerinnen, d.h. ihrem bewussten und unbewussten und ihrem verbalen und nonverbalen Zusammenwirken, gestaltet. Schließlich unterschieden sich Konflikt und Gewalt auch in ihrer Motivation und Zielsetzung. Gewalt und Konflikt sind nach Wieviorka (2006) von »unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Logik«. Als Konflikt versteht er »in einem eingeschränkten Sinne [eine] ungleiche Beziehung zwischen zwei Personen […], die innerhalb eines bestimmten Raumes in Opposition zueinander stehen, wobei keine beabsichtigt, die gegnerische Partei und damit auch die Beziehung selbst zu liquidieren, vielmehr diese Beziehung zu verändern, zumindest die eigene Position zu stärken sucht« (Ebenda). Er sieht sich dabei in der Tradition von Georg Simmel, der in den Ursachen des Kampfes (Konfliktes) das Trennende sieht, »Hass und Neid, Not und Begier« (Simmel 1992). Da der Kampf in Folge von Trennendem auftritt, stellt er einen möglichen Weg dar, um wieder zu »irgendeiner Art von Einheit« zu gelangen (Ebenda). Nach Simmel folgt das Auseinandergehen nicht dem Konflikt, sondern der Konflikt dem Auseinandergehen. Im Gegensatz zu Simmel, der zur Erlangung der Einheit auch die Vernichtung der einen Partei für möglich hält, weicht Wieviorka insofern ab, als er zwischen »Streit« und »Gewalt« unterscheidet und die Gewalt als dem Konflikt entgegenstehend erachtet: »Gewalt beendet eine Diskussion eher als dass sie sie eröffnen würde, sie erschwert die Debatte, den Austausch, auch wenn dieser ungleich sein sollte, und befördert den endgültigen Bruch […]« (Wievieorka 2006). Die Gewalt habe ihren Platz in den »Randbereichen des Konflikts, wo dieser […] nicht greift und unfähig ist, die ›Einheit‹ der betroffenen Parteien sicherzustellen; sie findet ihren Platz auch dort, wo der Hass oder eine unversöhnliche Feindschaft im Mittelpunkt des Handelns stehen. Aber grundsätzlich gehören Gewalt und Konflikt unterschiedli145
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chen Registern an, die sich sehr viel eher widersprechen, als dass sie sich ergänzten« (Ebenda). Während die Gewalt bewusst oder unbewusst auf die Vernichtung der Beziehung oder des Menschen abzielt, wird in einem Konflikt die Beziehung an sich nicht in Frage gestellt, sondern diese oder die eigene Position in dem Beziehungsgefüge soll mittels des Konflikts verändert werden. Die Gewalt kommt dann zum Tragen, wenn das Trennende in den Vordergrund tritt. Nach Simmel setzt Zorn, Hass, Verachtung und Grausamkeit eine Zusammengehörigkeit voraus, »einen äußeren oder inneren, wirklichen oder verneinten Anspruchs auf Liebe, Freundschaft, Anerkennung, Vereinigung irgendwelcher Art«. Die von den Frauen geschilderte Eskalation der Konflikte beschreibt daher auch einen Weg von der Einheit hin zum Trennenden, was schließlich in der symbolischen (verbalen) oder realen (physischen) Vernichtung der Partnerin mündet. Der Konflikt wird folglich dann zu Gewalt, wenn sich das Trennende des Verbindenden bemächtigt und dieses nicht länger der leitende Gedanke der Auseinandersetzung ist. Die Frauen setzen Gewalt ein, um das Trennende in der Beziehung aufzuheben: Sie erleben, dass die Partnerin nicht so ist, wie sie es sich wünschen, dass das von ihnen ersehnte Einssein durch deren Anderssein nicht hergestellt oder aber aufgelöst wird. Um das Einssein wiederherzustellen, beendet beispielsweise Elvira zwar ihre Affäre, belässt aber ihre Partnerin in der Ungewissheit, indem sie ihr diese nach wie vor verschweigt. So rückt das Trennende zwischen Agnes und Elvira immer stärker in den Vordergrund, bis Elvira schließlich versucht, das mittels physischer Gewalt aufzuheben. Nike wiederum nimmt Gertruds Rückzug aus der Partnerschaft als das Trennende wahr und wird in den nachfolgenden Konflikten verbal aggressiv. Sie beschreibt diese Auseinandersetzungen als Teil ihres Bemühens, die Beziehung aufrechtzuerhalten bzw. das Einssein mit ihrer Partnerin wiederherzustellen. Die in der Partnerschaft von Martina und Andrea vollzogene Trennung möchte Andrea mittels des Telefonterrors überwinden und das Einssein mit ihrer Partnerin wiedererlangen. Sie möchte erreichen, dass ihre Partnerin sich erneut um sie sorgt und sie in ihrem Leid tröstet. Auch Lydia und Nadine erleben ihre Konflikte als etwas Trennendes; daher hat vor allem die Sexualität die Funktion, danach die Gemeinsamkeit wiederherzustellen. Lydias verbale Attacken gegen Nadine, aber auch ihre Abwehr, ihre Partnerin als eine andere wahrzunehmen, dienen daher auch der Überwindung des Trennenden. Während der Konflikt eigentlich der Wiederherstellung von Einheit dient, bewegen sich die Frauen in dem Randbereich, in dem diese Einheit nicht sichergestellt werden kann. Hier findet die Gewalt nach Wieviorka ihren Platz, d.h. physische und psychische Zwangsmittel werden 146
ERGEBNISSE DER UNTERSUCHUNG UND THEORETISCHE REFLEXION
bemüht, um die ersehnte Einheit wiederherzustellen. Gewalt hat aber auch dort seinen Platz, wo Hass und unversöhnliche Feindschaft im Mittelpunkt des Handelns stehen, d.h. dort, wo das Trennende zum Zerstörerischen wird. Wieviorkas Trennung von Konflikt und Gewalt offenbart das Paradoxon, mittels Gewalt eine Partnerschaft aufrechterhalten zu wollen, denn demnach schließt der Wunsch, das Einssein mit der Partnerin wiederherzustellen, letztlich auch deren symbolische und/oder reale Vernichtung ein. Die Trennung von Konflikt (Streit) und Gewalt verdeutlicht zudem, dass die Betrachtung gewalttätiger Beziehungsdynamiken als Konflikt, und die damit einhergehenden mangelnden Konfliktlösungsstrategien zu kurz greifen, da sie die Ebene der Symbolik, d.h. das, wofür der Konflikt steht, nicht fassen können.
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ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE UND EINBINDUNG WEITERER INTERVIEWANALYSEN
Sozialer Hintergrund und Spektrum der Gewalt Von Februar 2002 bis einschließlich September 2003 wurden in Deutschland 20 Interviews mit lesbischen Frauen, die Gewalt in ihrer Partnerschaft erlebt haben, geführt. Ziel der Arbeit war, unterschiedliche gewalttätige Beziehungsdynamiken sowie spezifische Merkmale von Gewalt ausübenden Frauen herauszuarbeiten. Das Spektrum der Gewalt reicht von schwerer Körperverletzung über sexualisierte Gewalt bis hin zu verbalen Attacken in Form von Herabsetzungen, Beleidigungen und Erniedrigungen. Das Durchschnittsalter der interviewten Frauen lag zwischen 30 und 45 Jahren. Von den 20 beschriebenen Partnerschaften weisen vier einen interkulturellen Hintergrund auf und zwei weitere beschreiben eine deutsche Ost-West-Beziehung. Auch hatten die Frauen ein breites Berufs- und Bildungsspektrum, sie waren Akademikerinnen, Freiberuflerinnen oder im Einzelhandel tätig. In einigen Fällen waren in der Partnerschaft Kinder vorhanden, die von der Gewalt indirekt und direkt betroffen waren. Einige der interviewten Frauen befanden sich wegen der gewalttätigen Vorfälle in psychotherapeutischer Behandlung oder suchten Unterstützung in einer lesbischen Fachberatungsstelle.
Erweiterter Gewaltbegriff Der Analyse liegt ein ›erweiterter‹ Gewaltbegriff zugrunde, der nicht nur körperliche Attacken umfasst, sondern auch psychische und verbale Formen von Gewalt sowie kontrollierende Verhaltensweisen. Dieser er149
DAS FREMDE IN MIR
möglicht nicht nur die Beschreibung der gewalttätigen Situation an sich, sondern auch deren Progredienz, die oftmals von psychischen/verbalen Attacken und/oder kontrollierenden Verhaltensweisen geprägt ist.
Modelle gewalttätiger Beziehungsdynamiken In der Untersuchung kristallisierten sich zwei Modelle gewalttätiger Strukturen heraus, die sich auch durch das Merkmal der Angst unterscheiden lassen. Eine gewalttätige Beziehungsdynamik, die sich mittels eines Täter-Opfer-Bezuges beschreiben lässt, ist durch die Angst des Opfers charakterisiert. Es ist bemüht, weiteren Übergriffen zu entgehen oder aber diese schnellst möglich hinter sich zu bringen; es lebt in ständiger Angst vor seiner Partnerin; sein Umgang mit seiner Angst trägt entscheidend zu der die Partnerschaft prägenden Gewaltdynamik bei. Demgegenüber sind in einer gewalttätigen Beziehungsdynamik, die sich als beidseitige Akteurinnen-Dynamik beschreiben lässt, beide Frauen aktiv an der Aufrechterhaltung der gewalttätigen Strukturen beteiligt. Hier zeigen die Partnerinnen keine dauerhafte Angst vor ihrer Partnerin, so dass die Angst auch nicht die Gewaltdynamik prägt. Dennoch kann Angst situationsbezogen auftreten, wobei beide Frauen in verschiedenen Situationen Angst haben können. Zudem werden von beiden Partnerinnen unterschiedliche Formen von Gewalt eingesetzt, die nicht als ›Gegenwehr‹ oder ›Selbstverteidigung‹ beschrieben werden können. Vielmehr sind die gewalttätigen Handlungen im Rahmen eines Kontextes von Macht zu verstehen, wobei jede versucht, ihre Wünsche und Bedürfnisse gegenüber der Partnerin durchzusetzen. Auch sind beide Frauen an der Aufrechterhaltung der Beziehungsstrukturen interessiert, weil sie sich in ihrer Position in dem Geschehen wiederfinden. Allerdings wirken auch die Opfer in den Täter-Opfer-Beziehungen nicht unbedingt »passiv« und »paralysiert«, sondern gestalten ebenfalls durch ihr Verhalten die gewalttätige Beziehungsdynamik. Auch verbleiben einige möglicherweise wegen eigener Verstrickungen in der Partnerschaft oder halten gar die Gewaltdynamik aufrecht, weil das Opfersein ihnen vielleicht auch positive Werte vermittelt. Dennoch unterscheiden sie sich von den ›Akteurinnen‹ durch die Angst, die ihren Alltag und ihre Partnerschaft begleitet und prägt. In dem eingangs dargestellten Diskurs zur Gewalt in lesbischen Beziehungen wird in einigen Untersuchungen die Vermutung geäußert, dass sich lesbische Opfer stärker gegen die Attacken ihrer Partnerin wehren als vergleichsweise heterosexuelle Frauen. Dieser Annahme kann hier nicht gefolgt werden, denn das Maß der Gegenwehr hängt meines Erachtens vor allem von der 150
ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE
ihr zugrunde liegenden gewalttätigen Beziehungsdynamik und weniger vom Geschlecht des Partners bzw. der Partnerin ab.
Dynamiken als interaktive Prozesse In der vorliegenden Untersuchung konnte ebenfalls festgestellt werden, dass sowohl die Täter-Opfer-Relationen als auch die beidseitige Akteurinnen-Beziehung unterschiedliche Dimensionen haben, deren Ausgestaltung vor allem von der Interaktion der Partnerinnen abhängt. Diejenigen Partnerschaften, die sich vor allem mittels der Angst des Opfers als Täter-Opfer-Relation beschreiben lassen, weisen in ihrem Verlauf deutliche Unterschiede auf. So lässt sich eine spezifische Dynamik als wiederkehrender Zyklus beschreiben, der von Herrschaft und Kontrolle geprägt ist, während eine andere Dynamik durch einen einmaligen Vorfall – in der Regel eine physische Attacke – geprägt ist, der allerdings derart angstauslösend wirkt, dass er die Partnerschaft prägt. Das zuerst beschriebenen Muster der Gewalt wird in der Literatur zu häuslicher Gewalt als ›Misshandlungsbeziehung‹ bezeichnet. Im zweiten Fall zeichnet sich zwar ebenso wie im ersten Fall im Leben der Täterin ein Muster ab, auf bestimmte emotionale Lagen gewalttätig zu reagieren, doch kann sich in der Partnerschaft kein Gewaltzyklus etablieren. Auch wenn die einmalige affektbetonte Tat derart angstauslösend wirkt, dass sie die Partnerschaft prägt, kann sich aufgrund des anderen Umgangs des Opfers mit seiner Gewalterfahrung keine Misshandlungsbeziehung etablieren. Die Entwicklung der jeweiligen gewalttätigen Beziehungsdynamik hängt in hohem Maß davon ab, wie die Opfer mit ihren Ängsten umgehen. Verbleiben sie paralysiert in der Partnerschaft, kann sich ein Gewaltzyklus etablieren, während ein aktiver Umgang, beispielsweise die Partnerin mit der eigenen Angst zu konfrontieren oder aber Wege aus der Beziehung zu suchen, die Dynamik einer Misshandlungsbeziehung verhindert. Auch wenn in der affektbetonten Gewaltdynamik die einmalige physische Attacke im Vordergrund steht, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Täterin nachfolgend verbale Attacken, kontrollierende Verhaltensweisen oder psychische Gewalt einsetzt. Diese aber werden von dem Opfer als gleichermaßen schwerwiegend und angstauslösend empfunden wie der eigentliche körperliche Angriff. Des Weiteren lassen sich auch bei denjenigen Partnerschaften, in denen Angst kein tragendes Merkmal der Partnerschaft ist und beide Partnerinnen aktiv an der Aufrechterhaltung der gewalttätigen Strukturen beteiligt sind, ebenfalls zwei unterschiedliche Entwicklungen ausmachen. So handelt es sich zum einen um eine Verwobenheit von Für151
DAS FREMDE IN MIR
sorge und Bedürftigkeit, wobei eine Partnerin die Position der Fürsorgenden und die andere Partnerin diejenige der Bedürftigen einnimmt. Eine Veränderung ist kaum möglich, Konflikte stellen das Beziehungsgefüge nur temporär in Frage. Die Gewalt dient letztlich dazu, die bestehenden Beziehungsstrukturen aufrechtzuerhalten. Willi (2002) bezeichnet diese Verwobenheit als »Kollusion«, wobei er verschiedene Kollusionsthemen anführt, so die ›Liebe als Einssein‹, ›Liebe als einander umsorgen‹, Liebe als ›einander ganz gehören‹ und schließlich ›Liebe als männliche Bestätigung‹. Das letztgenannte Kollusionsthema hat sich in den lesbischen Partnerschaften nicht gefunden, während die ersten drei hier meist in Mischform auftreten. Da sich als Hauptthema die ›Liebe als einander umsorgen‹ herauskristallisiert hat, und die drei Themen eng mit einander verwoben sind, wurden die beiden anderen Formen diesem zugeordnet und stellen dessen Ausprägungen dar. Schließlich werden in einer ›traumatisierten Partnerschaft‹ mit Täteridentifikation frühere Gewalttraumata wieder belebt, wobei eine Partnerin in der Position des ›Opfers‹ verbleibt, während die andere Partnerin die Position des ›Täters‹ einnimmt. Beide Frauen versuchen auf den ihnen eigenen Wegen den in der gewalttätigen Situation empfundenen Kontrollverlust zu überwinden. Während sich die anderen Gewaltdynamiken – ungeachtet der Unterschiede – auch in den Beschreibungen heterosexueller Partnerschaften finden, konnte ich in der entsprechenden Literatur keine Darstellung dieses Prozesses finden. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass Frauen im Allgemeinen weitaus häufiger sexualisierter Gewalt in der Kindheit ausgesetzt sind als Männer, und daher die Wahrscheinlichkeit, dass in einer lesbischen Partnerschaft zwei traumatisierte Frauen aufeinander treffen, deren Umgang mit dem Trauma komplementär ist, höher ist, als bei gegengeschlechtlichen Partnerschaften. Auch stellt sich bei heterosexuellen Partnerschaften die Frage, ob bei dem hohen Ausmaß der Gewalt gegen Frauen in ihren Partnerschaften tatsächlich derart viele Frauen ihren Traumatisierungen durch die Übernahme der Position des Opfers begegnen oder aber ob sie weiterhin in diese Position gezwungen werden. Dieses Muster würde anhand der vorliegenden Untersuchung eher einer Misshandlungsbeziehung mit eindeutiger Täter-Opfer-Struktur zugeordnet werden als der ›traumatisierten Partnerschaft‹ mit Täteridentifikation, da bei letzterer ein Zwang zu einer bestimmten Position nicht aufgezeigt werden kann. Vielmehr entsteht hier der Eindruck, dass beide Frauen in ihren Positionen ihren Selbstwert stabilisieren und so einen Weg gefunden haben, mit ihrem schweren Trauma umzugehen.
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ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE
Der Blick der Täterinnen In den Interviews werden auch die Gefühle der Gewalt ausübenden Frauen unmittelbar vor der Gewaltanwendung beschrieben. Besonders die Interviews mit den ›Täterinnen‹ zeigen, dass diese sich vor der Gewaltausübung ohnmächtig und hilflos gefühlt haben; sie möchten von ihren Partnerinnen wahrgenommen werden oder aber wünschen sich, dass diese tun, was sie wollen. Während der Tat fühlen sie sich machtvoll und haben die Vorstellung, nun ihre Wünsche und Bedürfnisse durchsetzten zu können. Nach der Tat allerdings haben sie Schuldgefühle und schämen sich für ihr Tun. Gefühle von Schuld und Scham scheinen dabei vor allem mit einer Täter-Opfer-Konstellation verbunden zu sein. Zugleich betrachten sich Täterinnen nicht als solche, sondern sehen sich auch als Opfer. Dadurch werden ihre Gefühle von Schuld und Scham abgemildert. In Partnerschaften wiederum, in denen beide Frauen aktiv an der Aufrechterhaltung der Dynamik beteiligt sind, tauchen nur selten solche Gefühle auf. Mögliche Gründe dafür können die fließenden Grenzen zwischen Gewaltausübung und Gewalterfahrung sowie die Selbstwahrnehmung der Frauen als Agierende in einem komplexen Geschehen sein.
Mögliche Risikofaktoren Alle Interviewpartnerinnen waren bemüht, der Interviewerin und sich selbst gegenüber eine mögliche Erklärung für das Geschehen zu finden. So wie die Interviewten bemüht waren, einen Sinn in ihrem Handeln zu sehen, bin auch ich davon ausgegangen, dass gewalttätiges Handeln so wie jedes menschliche Tun einen Sinn hat. Dieser ist allerdings unter der Maxime einer ›praktischen Vernunft‹ nicht immer gleich zugänglich. Daher ging es im Prozess der Deutung vor allem darum, die latenten Sinnstrukturen offen zu legen und einen spezifischen Kontext herzustellen, der dem gewalttätigen Verhalten einen Sinn verleiht. Erst die Sinngebung ermöglicht es, das Handeln zu verstehen. Rasch wurde deutlich, dass den Frauen ihre eigene große Bedürftigkeit nicht zugänglich war und sie auf der kognitiven Ebene die Gründe für ihr Tun vor allem im Verhalten der Partnerin oder in anderen, äußeren Einflüssen suchten. Die latenten Sinnstrukturen offenbarten sich insbesondere in den versteckten und verdrängten Hoffnungen und Wünschen an die Partnerschaft und die Partnerin. Diese kamen unabhängig von der spezifischen gewalttätigen Beziehungsdynamik in der Ausgestaltung der Partnerschaft zum Tragen. So war allen Frauen eine große Bedürftigkeit ge153
DAS FREMDE IN MIR
meinsam, die sich im Wunsch nach Einssein mit der Partnerin, in der Auflösung der Ich-Grenzen, ihrer Sehnsucht nach Fürsorge und Zuwendung, ihrem geringen Selbstwertgefühl und schließlich ihrer Enttäuschung über ihre unerfüllt gebliebenen Sehnsüchte zeigte. Als mögliche Ursachen für die unbewussten Hoffnungen und Wünsche lassen sich Einflüsse in der individuellen Lebensgeschichte, aber auch in gesellschaftlichen Verhältnissen sowie deren Wechselwirkung mit der individuellen Lebensgestaltung ausmachen. So weisen alle Gewalt ausübenden Frauen in ihrer Kindheit Aspekte einer emotionalen Vernachlässigung oder physische und sexualisierte Gewalterfahrungen auf. Da jedoch in der vorliegenden Untersuchung für keinen der möglichen Gründe eine Kausalität mit der Gewaltausübung festgestellt werden konnte, können diese Faktoren nur als ›Risikofaktoren‹, die ein gewalttätiges Handeln befördern, nicht jedoch als Ursachen charakterisiert werden. Zudem weisen auch diejenigen Frauen, die Gewalt in ihrer Partnerschaft erfahren haben, ähnliche biographische Merkmale auf, so dass hier zwar von einem von Gewalt geprägten Kontext ausgegangen werden kann, aber eine eindeutige Zuordnung von Täter- oder Opferwerdung nicht möglich ist. Die Frage, warum eine Frau gewalttätig wird, während eine andere erneut Gewalt erfährt, bleibt unbeantwortet. Als gesellschaftliche Einflussfaktoren wiederum können die Verinnerlichung einer Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Lebensweise, aber auch die Tabuisierung der Gewalt in lesbischen Partnerschaften in der Subkultur angeführt werden. Erstere kann dazu beitragen, dass lesbische Frauen in ihrer gleichgeschlechtlichen Identität kein positives Selbstbild entwickeln können. Auffällig an den Interviews war, dass viele der geschilderten, gewalttätigen Beziehungsdynamiken die erste lesbische Beziehung betrafen, die daher auch von einem Coming-out-Prozess geprägt war. Hier hat folglich eine Verknüpfung von Gewalt und lesbischer Identitätssuche bzw. Coming-out stattgefunden. Allerdings erweisen sich die subkulturellen Rahmenbedingungen als ebenso schwerwiegend wie die Ablehnung der vorherrschenden, heterosexuell ausgerichteten Kultur. Die Tabuisierung des Themas der Gewalt in lesbischen Beziehungen wird durch die notwendige Abgrenzung zur ›Dominanzkultur‹ befördert, da man einerseits abwertende Vorurteile nicht bestätigen, aber andererseits auch nicht so sein möchte wie die Menschen der vorherrschenden Kultur. So haben viele Frauen berichtet, dass sie sich wegen des tabuisierten Themas alleine gelassen gefühlt, und nicht die notwendige Unterstützung erhalten haben. Zugleich verhindert das Tabu, dass Gewalt ausübenden Frauen Grenzen gesetzt werden; gegenüber gewalttätigen Männern erfolgt allmählich ein gesellschaftlicher Wandel, der es ihnen immer schwerer macht, ihre Taten als sozial legitim, d.h. als 154
ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE
»Normverlängerung«, zu betrachten. Während bei Gewalt in lesbischen Beziehungen keinesfalls vom Prinzip einer Normverlängerung gesprochen werden kann, hat jedoch die Tabuisierung des Phänomens in der Subkultur die gleiche Wirkung. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass die subkulturelle Tabuisierung auch lesbische Frauen in ihrem Opfersein bestärkt, indem diese die erlebte Gewalt als ›Strafe‹ für ihre sexuelle Orientierung betrachten. Kulturelle und besonders subkulturelle Werte beeinflussen daher ebenfalls das gewalttätige Geschehen in einer Partnerschaft und sind folglich als weitere Risikofaktoren zu benennen. Im Kontext der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden in dieser Untersuchung auch mögliche vorhandene Suchtstrukturen der Interviewten angeführt. Diese wurden nicht den individuellen Lebensgeschichten zugeordnet, weil beispielsweise ein übermäßiger Alkoholkonsum im Kontext einer sozialen Minderheit anders bewertet werden muss als bei Angehörigen der herrschenden Kultur. So weisen einige Studien darauf hin, dass lesbische Frauen einen signifikant höheren Alkoholkonsum haben als vergleichsweise heterosexuelle Frauen. Eine mögliche Begründung findet sich im Umgang mit der marginalisierten gesellschaftlichen Situation, d.h. der Alkoholkonsum gilt hier als möglicher Weg, mit Diskriminierungen umzugehen. Als weiterer möglicher Grund wird aber auch gerade bei lesbischen Frauen die Gewalterfahrung in der Partnerschaft angeführt (Russel/Testa/Wilsnack 2000). Auch wurde in den Untersuchungen zu häuslicher Gewalt in heterosexuellen Partnerschaften deutlich, dass gewalttätige Männer oft ein weiteres sozial unerwünschtes Verhalten, nämlich den Missbrauch von Alkohol, aufweisen (Gondolf 2002) – was einen Zusammenhang vermuten lässt. Ein möglicher Zusammenhang zwischen Alkoholmissbrauch und Gewaltausübung bei (lesbischen) Frauen ist derzeit allerdings noch nicht erforscht. Auch die vorliegenden Interviews lassen keinen Schluss über die Funktion von Alkohol-konsum in einer gewalttätigen Beziehungsdynamik zu. Nicht in jedem Fall spielen Alkohol oder andere Suchtmittel eine Rolle – falls doch, dann gibt es keine eindeutige Zuordnung zu einem Opfersein oder einer Täterschaft. So ›moniert‹ beispielsweise eine gewalttätige Täterin, dass ihre Partnerin getrunken habe, während sie nicht trinke. Eine andere wiederum weist multiple Suchtstrukturen auf, die aber eher in Zusammenhang mit ihrer Biographie und weniger mit der Gewaltausübung an sich stehen. In anderen Fällen wiederum spielte Alkohol keine Rolle.
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DAS FREMDE IN MIR
Tabelle 2: Einordnung aller Interviews
Name und Dauer der Partnerschaft
Mechthild (2 M) Monika (3/4 J) Kirsten (2,5 J) Sabine (10 J) Reinhild (2 J) Roswitha (1 J) Karin (1,5 J) Romy (3 J) Monika (7 J) Juliane (3 J) Maren (4 J) Ilona (2 J) Uschi (1 J) Bettina (4 J) Kordula (4 J)
Beziehungsdynamiken Mono-direktional Bi-direktional Fürsorge Traumatisierte Systematische, Affektakzentuierte Kollusion Partnerschaft wiederholte Misshandlun- Dynamik gen (Misshandlungsbeziehung) X X X X X (X)
X
(X)
X
X X X
(X)
X
(X)
X
(X)
X X X
Anhand der angeführten Tabelle wird deutlich, dass nur ein geringer Teil der in den Interviews geschilderten Beziehungsdynamiken sich als »Misshandlungsbeziehung« beschreiben lässt. Des Weiteren ist zu erkennen, dass in den gewalttätigen Dynamiken, in denen beide Partnerinnen aktiv involviert sind, oftmals Merkmale beider Unterkategorien gegeben sind. Jedoch kommt in der Dynamik letztendlich ein Aspekt besonders zu tragen, so dass die Gewaltdynamik letztendlich einer Katego156
ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE
rie zugeordnet werden kann. Der untergeordnete Aspekt wird hier in Klammern angeführt. Weil sich gerade in den bidirektionalen Dynamiken Merkmale verschiedener Kategorien zeigen, müssen die dargestellten Kategorien als offen betrachtet werden, d.h. dass ein Wechsel zwischen den Subkategorien erfolgen kann. Dieser scheint nicht nur innerhalb der bidirektionalen Dynamiken möglich, sondern auch von einer bidirektionalen Dynamik hin zu einer monodirektionalen Ausrichtung der Gewalt. So kann zum Beispiel mit zunehmender Schwere der Gewalt durch eine der beiden Partnerinnen die andere dauerhaft Angst vor ihrer Partnerin bekommen, so dass sich nun eine Täter-Opfer-Struktur etabliert. Einige Interviews ließen die Vermutung zu, dass hier ein derartiger Prozess bevorstehen könnte. Da es sich in dieser Arbeit jedoch nicht um eine Langzeituntersuchung handelt, konnte diese Vermutung nicht verifiziert werden. Im nachfolgenden Kapitel werde ich der Frage nachgehen, ob und inwiefern das von mir entwickelte Modell auf heterosexuelle Paarbeziehungen übertragen werden kann. Auch diskutiere ich abschließend die Frage der Tragfähigkeit des Erklärungsansatzes der ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹.
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VERGLEICHENDE BETRACHTUNG MIT GEWALT IN HETEROSEXUELLEN PAARBEZIEHUNGEN
Häusliche Gewalt und Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Als Erklärung für die häusliche Gewalt in gegengeschlechtlichen Partnerschaften hat sich international inzwischen die Theorie der ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ durchgesetzt. Diese betrachtet ebenfalls den Einfluss gesellschaftlicher Verhältnisse auf das individuelle Handeln und setzt damit das Individuum in Bezug zu der es umgebenden Gesellschaft. Das gesellschaftlich verankerte, hierarchische Geschlechterverhältnis wird dabei als wesentlicher Einflussfaktor auf die Gewaltausübung in der Partnerschaft erachtet. Als Gewalt wird hier »jede Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität einer Person« verstanden, die im Zusammenhang »mit der Geschlechtlichkeit des Opfers und des Täters« steht und »unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses durch die strukturell stärkere Person zugefügt wird« (Hageman-White 1997). Männer hätten das »gesellschaftlich abgesicherte Vorrecht«, sich gegenüber Frauen und Mädchen gewalttätig zu verhalten (Brückner 2002a). Dieser Ansatz stößt bei der Erklärung von häuslicher Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften an seine Grenzen, da hier die Geschlechtlichkeit (sex und gender) der Akteure als vorrangige Bedingung für die Ausübung von Gewalt bzw. deren Opferwerdung herangezogen wird. So sind es dann auch die Frauen, die qua Geschlecht zu Opfern und Männer, die zu Tätern werden. Zudem bietet die weibliche Sozialisation nur sehr wenige Anhaltspunkte für eine Legitimierung weiblicher Aggressivität, d.h. grundsätzlich stellt die nach außen gerichtete
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DAS FREMDE IN MIR
Gewalt keinen Bestandteil der Vorstellung dessen dar, was als ›weiblich‹ gilt. Da das gesellschaftliche Bild von Frauen nicht in Einklang mit der Gewaltausübung steht, entfällt hier ein in dem Erklärungsansatz der ›Gewalt im Geschlechterverhältnis‹ als bedeutend erachteter Aspekt der Motivation zur Ausübung von Gewalt. Auch birgt er die Gefahr, dass bei gewalttätigen Frauen eine Adaption ›männlicher‹ Werte angenommen wird, was wiederum Vorurteile gegenüber lesbischen Frauen befördern könnte. Ungeachtet dessen kann auch bei lesbischen, Gewalt ausübenden Frauen ein ähnlicher Effekt wie bei (heterosexuellen) Tätern häuslicher Gewalt eintreten, nämlich der der ›Normverlängerung‹. Dieser Effekt ist bei lesbischen Frauen, wie bereits geschildert, vorrangig in der Tabuisierung des Themas in der lesbischen Subkultur begründet, während einige Männer sich offenbar durch die gesellschaftliche Ordnung dazu legitimiert sehen. Darüber hinaus wurde in der vorliegenden Arbeit deutlich, dass die Begrenzung der Betrachtung auf eine spezifische Situation nicht hinreichend Aufschluss über die Gewaltdynamik und die ihr zugrunde liegende Interaktion gibt. Die einzelne Situation ist in der Regel emotional stark aufgeladen und lässt sich als eine gewalttätige Eskalation eines Konflikts beschreiben. Erst die Betrachtung eines längeren Beziehungszeitraums ermöglicht es, auch kontrollierende Verhaltensweisen und andere Mechanismen offen zu legen, die dazu dienen, eigene Wünsche und Hoffnungen an die Partnerschaft durchzusetzen. Daher ist der Kritik an einer situativen Betrachtung zuzustimmen, derzufolge diese nur ein Bild eines ganzen Filmes betrachte und so die Komplexität des Filmes verloren ginge. Schließlich konnte aufgezeigt werden, dass sich trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten in den Lebensgeschichten und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die gewalttätigen Strukturen in den Partnerschaften unterschiedlich entwickeln. Dieses Phänomen lässt sich nur mittels einer interaktionistischen Herangehensweise erklären. Als Interaktion verstehe ich ein aufeinander bezogenes Handeln, das sowohl verbal als auch nonverbal erfolgt. Das Handeln wiederum ist beeinflusst von den bewussten und unbewussten Wünschen und Hoffnungen an die Beziehung und die Partnerin. Dabei können bewusste Wünsche, wie beispielsweise ein ausgewogenes Verhältnis von Gemeinsamkeit und Autonomie, in Widerspruch zu unbewussten Hoffnungen, so z.B. dem Bedürfnis nach Einssein mit der Partnerin, stehen. Erst das aufeinander bezogene Handeln gestaltet den Verlauf der gewalttätigen Beziehungsdynamik, d.h. entscheidet darüber, ob sich ein wiederkehrender und eskalierender Gewaltzyklus etablieren kann, ob eine einmalige physische Attacke derart angstauslösend wirkt, dass die Partnerin sich trennt, ob bei160
VERGLEICHENDE BETRACHTUNG MIT HETEROSEXUELLEN PAARBEZIEHUNGEN
de Frauen durch eine Verwobenheit von Fürsorge und Bedürftigkeit aneinander gefesselt sind oder sich schließlich zwei Frauen begegnen, deren Traumatisierungen aufgrund vorhergehender Gewalterfahrungen in der Partnerschaft reinszeniert werden. Die Analyse der Interviews hat gezeigt, dass es vor allem die unbewussten Wünsche und Hoffnungen sind, die beide Partnerinnen an die Beziehung binden, und dass deren Enttäuschung letztlich zur Gewaltausübung beiträgt. Für die Entwicklung eines Interventionskonzeptes bedeutet das, dass beide Partnerinnen in die Maßnahmen eingebunden werden müssen, wenn die gewalttätige Beziehungsdynamik durchbrochen werden soll. Die Art und Weise, wie die Partnerin eingebunden wird, ist allerdings von der zugrunde liegenden Gewaltdynamik abhängig. Es kann angenommen werden, dass auch in heterosexuellen Partnerschaften eine vergleichbare Vielfalt gewalttätiger Prozesse vorhanden ist. Eine Fokussierung der Arbeit der Interventionsnetzwerke auf ›Misshandlungsbeziehungen‹ scheint vor allem dem Umstand geschuldet, dass diese Gewaltdynamik in heterosexuellen Partnerschaften ein hohes Letalitätsrisiko birgt. Da die Opfer im Regelfall Frauen und die Täter Männer sind, ist eine Ausrichtung des Opferschutzes auf Frauen und der Täterarbeit auf Männer nachvollziehbar. Allerdings hat dieser Umstand auch dazu geführt, Opfer und Täter geschlechtlich zu markieren und Geschlecht als dominierenden ›Risikofaktor‹ festzuschreiben. Erst ein Blick auf die Vielfalt gewalttätiger Dynamiken ermöglicht eine komplexe Herangehensweise, in der weitere die Dynamik beeinflussende Faktoren einbezogen werden. Das führt schließlich dazu, das Primat von Geschlecht als Risikofaktor zu hinterfragen. Vielmehr ist anzunehmen, dass gewalttätige Beziehungsdynamiken auch in gegengeschlechtlichen Partnerschaften verschiedene Dimensionen aufweisen, in denen beide Beteiligte unterschiedliche Aufgaben und Positionen einnehmen.
Fazit Grundlage gewalttätiger Dynamiken in Partnerschaften ist die Bildung von Hierarchien: Hierbei wird vor allem auf strukturell verankerte Hierarchien zurückgegriffen, beispielsweise Herkunft, Ethnie, Einkommen, sozialer Status, Geschlecht oder Bildung. Stehen dem Paar diese strukturellen Hierarchisierungen nicht zur Verfügung, greifen sie auf beziehungsinterne Möglichkeiten einer Hierarchisierung zurück, beispielsweise auf den unterschiedlichen Umgang mit erlebtem sexuellem Missbrauch.
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DAS FREMDE IN MIR
Geschlecht als primärer Ausdruck strukturell verankerter Hierarchisierungen zur Beschreibung gewalttätiger Beziehungsdynamiken muss verworfen werden. Nichtsdestotrotz werden hier strukturelle Verankerungen und deren Auswirkungen besonders deutlich.
Selbstreflexion und weiterer Forschungsbedarf Abschließend ist festzustellen, dass die Auseinandersetzung mit (lesbischen) Frauen, die Gewalt ausüben, in hohem Maß die Notwendigkeit und Fähigkeit zur Selbstreflexion befördert. Obgleich dies methodischer Bestandteil der Arbeit war, waren alle an dem Projekt beteiligten Personen verstärkt aufgefordert, sich mit eigenen, unterdrückten Anteilen auseinanderzusetzen und zu reflektieren, warum das eine Verhalten sie »wütend« macht oder warum sie sich andererseits in die Struktur einbinden lassen und Sympathie bzw. ›mütterliche‹ Gefühle für die interviewte Frau hegten. Aus diesem Prozess konnte die Erkenntnis gewonnen werden, dass erst die Reflexion eigener Strukturen es ermöglicht, auch in der Praxis mit gewalttätigen Menschen zu arbeiten. Ich kann Pence/Paymar (1993) nur zustimmen, wenn sie hinsichtlich der Arbeit mit männlichen Tätern häuslicher Gewalt sagen: »Often a fine line separates those of us who teach the class from those court mandated to attend«. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die vorliegende Arbeit auch einen weiteren Forschungsbedarf offenbart. Um mit Geertz (1987) zu argumentieren: »Die Untersuchung von Kulturen ist ihrem Wesen nach unvollständig. Und mehr noch, je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie.« So zeigt die vorliegende Arbeit einen Forschungsbedarf bei der Betroffenheit oder Mitbetroffenheit von Kindern in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, die eine Gewaltdynamik aufweisen. Hier wirken Gewalterfahrung und gleichgeschlechtliche Lebenszusammenhänge in einer homophoben Umwelt. Diese könnte dazu beitragen, dass Kinder ihre Gewalterfahrungen verstärkt verschweigen, weil sie neben dieser die gleichgeschlechtliche Lebensweise der Gewalt ausübenden Personen offen legen müssten. Auch wirft die Arbeit Fragen im Zusammenwirken von Sucht, Gewalt und lesbischer Lebensweise auf. Mit der Erforschung dieser spezifischen Aspekte häuslicher Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften könnte die Einwirkung eines homophoben Umfeldes auf die Gestaltung lesbischer Partnerschaften und deren mögliche gewalttätige Entwicklung auf alle davon betroffenen Personen dargestellt werden. Dadurch würde der besondere Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Ordnung und individuellem Verhalten in gleichgeschlechtlichen 162
VERGLEICHENDE BETRACHTUNG MIT HETEROSEXUELLEN PAARBEZIEHUNGEN
Partnerschaften verdeutlicht und schließlich Gewalt in lesbischen Partnerschaften ebenso wie häusliche Gewalt in heterosexuellen Beziehungen verstärkt als gesellschaftliches Problem betrachtet werden.
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DETAILLIERTE DARSTELLUNG DER AUSGEWÄHLTEN INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
Im Folgenden werden die bisherigen Ausführungen mittels einer detaillierten Darstellung der ausgewählten fünf Interviews, die wiederum vier gewalttätige Beziehungsverläufe beschreiben, ergänzt. Das erste Interview (Elvira) beschreibt eine Täter-Opfer-Beziehung, die durch einen wiederkehrenden Zyklus charakterisiert ist. Bei dem zweiten Interview (Nike) handelt es sich ebenfalls um einen TäterOpfer-Bezug, wobei die Dynamik stark affektakzentuiert ist. In den in den weiteren Interviews dargestellten Partnerschaften lässt sich kein eindeutiger Täter-Opfer-Bezug ausmachen, vielmehr erscheinen beide Partnerinnen aktiv an der gewalttätigen Dynamik beteiligt. Während die Partnerschaft von Martina und Andrea von einer Fürsorge-Kollusion geprägt ist, kann die Beziehung von Lydia und Nadine als traumatisiert charakterisiert werden.
Elvira und Agnes aus Sicht Elviras Das Interview fand im November 2002 statt. Während des Interviews entstand der Eindruck, dass sie mit einem hohen Maß an Offenheit über ihre Gewaltausübung berichtete, aber auch sehr bemüht ist, Verständnis für ihre Taten zu erhalten.
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DAS FREMDE IN MIR
Zur Beziehung Elvira und ihre Partnerin Agnes sind Ende 30. Elvira hat ihre Kindheit und Jugend in einem sozialistischen Land verbracht. Dort hatte sie den Beruf einer Zoofachverkäuferin gelernt. Zum Zeitpunkt des Interviews war sie in Westdeutschland im öffentlichen Dienst im Nahverkehr tätig. Ihre Partnerin Agnes wiederum ist Erzieherin und in Westdeutschland aufgewachsen. Beide Frauen haben sich während ihrer vorherigen Partnerschaften kennengelernt. Elvira war zuvor in einer Beziehung, in der es zwei Kinder gab. Das Paar lebte in Ostdeutschland und hatte den Wunsch, andere lesbische Paare kennen zu lernen, die ebenfalls Kinder hatten (8,4)1. Sie trafen auf Agnes und ihre damalige Partnerin. In dieser Beziehung gab es ein Kind. Nach ca. drei Jahren trennte sich erst das deutsche Paar, ein halbes Jahr später das binationale (20,4). Etwa vier Jahre später (22,11) haben sich Agnes und Elvira wieder getroffen und ein weiteres halbes Jahr später ineinander verliebt (20,8). Da Agnes in einer westdeutschen Stadt lebte, pendelte Elvira eine Weile zwischen ihrem Heimatort und Agnes’ Wohnort (26,1-2). Ihr kam die Fernbeziehung zupass, da sie sich eigentlich nicht fest binden wollte (26,5-6). Das ausschlaggebende Ereignis, das Elvira veranlasste, eine feste Beziehung einzugehen, war der von Agnes erfolgte »Heiratsantrag« (26,9), sowie ihr eigener Kinderwunsch (26,10). Sie erzählt, dass sie auf Drängen von Agnes zu ihr in die Wohnung gezogen sei. Die Frauen haben einen vierjährigen Sohn, von dem Elvira erneut die Co-Mutter ist. Zum Zeitpunkt des Interviews befand sich die Partnerschaft in der Trennungsphase.
Elviras Biographie Die Beschreibung ihrer Kindheit leitet Elvira damit ein, dass sie die »schönste Kindheit« hatte, die »sich überhaupt jemand vorstellen« könne (689,3). Dann erzählt sie, dass ihr Vater gestorben sei, als sie sieben Jahre alt war, und ihre Mutter verstarb, als sie zehn Jahre alt war. Seitdem habe sie mit ihrem Vormund im Haus ihrer Eltern gelebt (691,1). Der Vormund sei der neue Lebensgefährte ihrer verstorbenen Mutter gewesen. Er habe dort ebenfalls zwei Jahre gewohnt und dann eine neue Frau kennen gelernt und sei schließlich ausgezogen (701,5). Seitdem sei er einmal in der Woche vorbei gekommen und habe ihr Geld für den Lebensunterhalt gebracht, »und das sei es dann gewesen« (701,6). Später habe er es nur noch in den Briefkasten geworfen (747,1). Schließlich
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Die in Klammern angegebene Zahl gibt Absatz und Satz des Transkripts an.
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sei der persönliche Kontakt »eingeschlafen« und ihr Vormund sei schließlich nicht mehr gekommen (743,2). Elvira sei dann an den Wochenenden zu ihm und seiner Partnerin zum Essen gegangen (743,3). Schließlich habe sie sich immer seltener sehen lassen und er hätte dann »bloß« noch angerufen (743,6). Elvira beschreibt die Zeit als eine, in der sie sich alleine »durchboxen« musste (701,7). Sie habe »immer stark« sein müssen, ob in der Schule, in der Lehre oder im Beruf (703,1-2). In dem Lebensabschnitt, den sie mit ihren Eltern verbrachte, beschreibt sie sich als »Wunschkind«, »Hätschelkind« (705,2) und »Nesthäkchen« (708,4). Sie sei das jüngste von drei Geschwistern, wobei ihre Brüder 26 und 20 Jahre älter seien und nicht mehr Zuhause wohnten. Elvira habe das Gefühl gehabt, dass ihre Brüder »nichts mehr von ihr wissen wollten«, ebenso wenig wie ihr Vormund, nachdem er seine neue Partnerin kennen gelernt hatte (711,2). Ab ihrem 13. Lebensjahr habe sie daher alleine im Haus ihrer Eltern gelebt. Da der Vormund ein hoher Parteifunktionär gewesen sei, sei das möglich gewesen (713,2). Es habe zwar »ein paar Veränderungen, äußerliche Veränderungen« gegeben (719,2), aber nicht derart, dass es seitens der Schule Bedenken gegeben hätte, sie könne jetzt »aus sämtlichen Bahnen« gleiten (719,4). Sie hätten einmal im Monat »beim Jugendamt antreten« und »Bericht erstatten« müssen (719,6). Dabei sei herausgekommen, dass der Vormund nicht mehr in dem Haus lebte, was aber »in seiner Position kein Problem« gewesen sei (719,7). Sie habe eine »ganz eifrige« Klassenlehrerin gehabt, die sie »zweimal in der Woche« besucht habe (735,2). Elvira habe dann ihren Vormund angerufen und gesagt: »Mensch, die tritt schon wieder an hier«, und dann hätten sie »ganz schnell sauber gemacht«, sie zum Friseur geschickt und »dann noch mal neu angezogen« (735,3). Und dann sei das so »seinen Gang gegangen« (735,4). Elvira habe das Gefühl gehabt, dass niemand sich »im Grunde einen Kopf« darum gemacht habe, ob sie ihr Leben »gebacken« bekäme oder nicht (735,1). Sie habe sich in dieser Zeit völlig auf sich alleine gestellt gefühlt und beschreibt diese Zeit als eine, in der ihre Gefühle »verschütt gegangen« seien (749,1). Nachfolgend beschreibt Elvira ein Geschehnis aus ihrer Kindheit, in der der jüngere der beiden Brüder seinen Eltern sagte, dass er »schwul« sei. Er habe mit ihrer Mutter »ganz böse Erfahrungen« gemacht und sei schließlich von Zuhause rausgeworfen worden (853,4-5). Ihre Eltern hätten damit »überhaupt nicht umgehen« können (855,2). _______________________ Elvira leitet die Interviewsequenz damit ein, dass sie die schönste Kindheit gehabt habe, die sich jemand vorstellen könne, und sie zudem ein Wunschkind gewesen sei. Dann berichtet sie jedoch, dass ihre Eltern 167
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früh verstorben seien und sie unter die Obhut eines Vormundes gestellt wurde; er war der Partner ihrer Mutter vor deren Tod. Dieser Umstand legt nahe, dass ihre beiden älteren Brüder die Vormundschaft für sie nicht übernommen haben. Elvira beschreibt die Situation derart, dass ihre Brüder von ihr »nichts mehr wissen« wollten; diese Charakterisierung deutet auf ein Gefühl der Zurückweisung und des »Im-Stich-gelassenWerdens« hin. Auch habe sich der Vormund von ihr zurückgezogen, wobei Elvira sein Verhalten in Zusammenhang mit seiner neuen Lebensgefährtin setzt. Da der Rückzug zeitlich mit ihrer Pubertät zusammenfällt, kann zudem angenommen werden, dass sie diese ohne jegliche Unterstützung und Hilfe von außen durchlebte. Infolgedessen können große Unsicherheiten in der Selbstwahrnehmung als Mädchen bzw. auch als lesbisches Mädchen aufgetreten sein; auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich Elvira durch seinen Rückzug wegen einer Frau in ihrer Weiblichkeit zurückgewiesen fühlte. Zudem hatte sie das Gefühl, dass ihrem Vormund zwar daran gelegen war, die formalen Rahmenbedingungen einzuhalten, er aber letztlich – ebenso wie ihre Brüder – kein Interesse an ihr hatte. Ihre Äußerung, dass sie sich »keinen Kopf« um sie gemacht hätten, weist auf ihre Wahrnehmung hin, ihren Brüdern und ihrem Vormund gleichgültig gewesen zu sein. Elviras Beschreibung ihrer Lehrerin als »ganz eifrige« und ihre Reaktion auf deren Besuche, »Mensch, die tritt schon wieder an«, legen jedoch auch nahe, dass sie das Verhalten der Lehrerin nicht als fürsorglich sondern vielmehr als kontrollierend erachtet hat. Dieser Aspekt spielt aber für den Vormund eine größere Rolle als für Elvira, so dass angenommen werden kann, dass sie hier seine Perspektive übernommen hat. Obgleich für Elvira eine formale Fürsorge durch das Jugendamt und die Klassenlehrerin gewährleistet war, seien dennoch Veränderungen eingetreten, die sie jedoch als »äußere Veränderungen« benennt. Ihre weitere Beschreibung, dass sie bei Besuchen der Lehrerin zum Friseur gegangen sei, lässt vermuten, dass sich diese vor allem auf ihr Erscheinungsbild beziehen. »Innere Veränderungen«, beispielsweise die möglichen psychischen Auswirkungen ihrer früh geforderten Selbstständigkeit und ihre unerfüllte Sehnsucht nach Geborgenheit, scheinen ihr in diesem Lebensabschnitt nicht zugänglich zu sein; zurückblickend beschreibt sie ihre Jugend jedoch als einen Lebensabschnitt, in dem sie sich immer »durchboxen« musste und Gefühle »verschüttet« gegangen seien. In ihrer Kindheit wiederum hatte sie einen Konflikt zwischen dem jüngeren der beiden Brüder und ihren Eltern mitbekommen, in dem Homosexualität thematisiert wurde und der Bruder »ganz böse Erfahrungen« gemacht habe. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Erfahrung negativen Einfluss auf die Entwicklung ihrer lesbischen psychosexuellen 168
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Identität hatte.2 Elviras Beschreibung ihrer Jugend lässt vermuten, dass es sich bei ihrer eingangs geäußerten Auffassung, die »schönste Kindheit« gehabt zu haben, die man sich vorstellen könne, um eine Idealisierung des Lebensabschnitts handelt, in dem ihre Eltern noch lebten. Dadurch entzieht sie sich zugleich einer Reflexion beispielsweise darüber, inwiefern die elterliche Ablehnung von Homosexualität Auswirkungen auf ihren eigenen Lebensentwurf gehabt haben könnte.
Elviras Wünsche und Hoffnungen an die Beziehung Elviras Wünsche und Hoffnungen an die Partnerschaft lassen sich vor allem von ihrer Beschreibung des Kennenlernens von Agnes ableiten. Die nachstehende Interviewsequenz dokumentiert, was Elvira an ihrer Partnerin mochte: (22) Elvira: Ihre Weichherzigkeit. Also, so ein bisschen so ein Samariterkomplex. Also man muss allen und jedem helfen und guckt erst zu anderen als zu sich selber. Und das fand ich eigentlich ganz toll. Tja, auch dass sie, sie ist eine sehr feminine Frau. Das war für mich eigentlich auch sehr ausschlaggebend. Und was mir halt in der Zeit aufgefallen ist beziehungsweise also, wo wir befreundet waren (-)war sie mehr, na ja so der Haudegen. Ja, so der Kumpel. Und sie hat sich im Laufe der Jahre, also wir haben uns ja dann gut vier Jahre nicht mehr gesehen bis dahin zum ersten Treffen. Weil die Freundschaft ist irgendwann auseinander gebrochen. Wir haben den Kontakt abgebrochen und es sind so ungefähr, bis wir uns wieder gesehen haben, so vier Jahre vergangen. Und da hat sie sich eben ganz anders entwickelt, ne. Aus der Kumpeline ist eben eine richtige Frau geworden. Das hat mich schon fasziniert. Gefragt, was Elvira an ihrer Partnerin mochte, antwortet sie, dass sie ihre »Weichherzigkeit« schätzt. Diese anfänglich positive Beschreibung erfährt im nachfolgenden Satz eine Wendung, indem Elvira diese als »Samariterkomplex« charakterisiert. Ihre Formulierung »allen und jedem helfen« weist darauf hin, dass sie Agnes’ Weichherzigkeit als grenzenlos wahrgenommen hat. Die Beschreibung der Zuwendung als »zuerst nach anderen zu schauen als zu sich selber« weist dabei auf eine aufopfernde, selbstlose Form der Fürsorge hin, die vor allem mit Mütterlichkeit verbunden ist. Der Gebrauch des Adverbs »eigentlich« in der nachfolgenden Äußerung deutet auf eine ablehnende Haltung gegenüber der von ihr wahrgenommenen Grenzenlosigkeit von Agnes’ Fürsorge 2
Vgl. G. Wolf (2004): Erfahrungen und gesundheitliche Entwicklung lesbischer Frauen im Coming-out Prozess. 169
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hin. Das lässt vermuten, dass sie diese nicht mit anderen Menschen teilen möchte. Weiterhin beschreibt sie Agnes als »sehr feminine Frau«, was für sie »sehr ausschlaggebend« gewesen sei; Agnes habe sich im Laufe der Jahre von einem eher männlichen Typus (»Kumpeline« und »Haudegen«) hin zu einem ihrer Meinung nach weiblicheren Typus entwickelt, den sie als »richtige Frau« bezeichnet. Diese Formulierung legt nahe, dass Elvira eine bestimmte Vorstellung von Frausein hat, die eng mit Feminität verknüpft ist und die sie in Agnes verkörpert sieht. Auch fließt in Elviras Vorstellung von Weiblichkeit der Aspekt der Mütterlichkeit ein, die sie ebenfalls in Agnes’ Weichherzigkeit verwirklicht sieht. Agnes’ Feminität und Mütterlichkeit sind nach Elviras Beschreibung die wesentlichen Gründe, warum sie sich ihr zugewendet hat. Trotz ihrer anfänglichen Zurückhaltung bezüglich einer dauerhaften Partnerschaft geht Elvira schließlich die Beziehung ein. Sie erzählt, dass der »Heiratsantrag« ihrer Partnerin hierfür ausschlaggebend gewesen sei: (26) Elvira: […] und na ja, ich sage mal, warum es dann eigentlich so richtig gefunkt hat, war der Grund, dass sie mal nach [Stadt] gekommen ist. (-)Und ich habe damals schon im öffentlichen Dienst gearbeitet, also ich bin Bus gefahren. Und dann kam sie halt auf der Strecke zu mir in den Bus und hat mir eben so was wie einen Heiratsantrag gemacht. Und das war dann so mit Kinderwunsch. War immer mal so der letzte Kick, wo ich gesagt habe, okay, warum soll es nicht so sein. Das Setting des »Heiratsantrags«, das Agnes ausgewählt hat, signalisiert Elvira, dass sie für diese etwas Besonderes ist: Agnes nimmt eine mehrstündige Reise auf sich, um an den Wohnort ihrer Partnerin zu gelangen, dann muss sie die Fahrroute des Busses und Elviras Dienstplan in Erfahrung bringen, um ihr schließlich an einer Bushaltestelle zu begegnen; auch findet der Antrag in einem öffentlichen Rahmen statt, was zudem signalisiert, dass sie entgegen einer möglichen gesellschaftlichen Ablehnung zu ihr steht. Die mit dem »Heiratsantrag« verknüpfte Symbolik nährt Elviras Hoffnung, für Agnes etwas Besonderes zu sein und vorrangige oder gar alleinige Empfängerin ihrer umfassenden Liebe und Fürsorge zu werden. Da auch ihr Wunsch nach einem gemeinsamen Kind von Agnes geteilt wird, entschließt sich Elvira letztlich, die Beziehung einzugehen: »okay, warum soll es nicht so sein«. Diese Äußerung legt jedoch auch die Vermutung nahe, dass sie dem Schritt in eine feste Beziehung zumindest anfänglich nicht gleichermaßen wohlwollend gegenübersteht wie Agnes. Da in lesbischen Partnerschaften Kinder nicht »zufällig« entstehen, stellt die Entscheidung für ein Kind einen großen 170
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und bewussten Schritt dar, der in Deutschland zudem aufwendig ist. Elviras Wunsch nach einem gemeinsamen Kind kann daher als Ausdruck ihres Bedürfnisses, in der Partnerschaft eine Gemeinsamkeit herzustellen bzw. ein gemeinsames ›Lebenswerk‹ zu schaffen, welches die Partnerschaft langfristig trägt und die Frauen miteinander verbindet, gelesen werden. _______________________ Auf die Frage, wie sich Elvira eine ideale Partnerschaft vorstelle, antwortet sie, dass diese ihren Idealvorstellungen entspräche, da sie sehr familiär sei, d.h. sie ein Kind hätten und in ihre Herkunftsfamilien integriert seien (470,2-4). Auch möchte sie gerne die Eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen und monogam leben. Da Elvira während ihrer Partnerschaft mit Agnes eine seit mehr als vier Jahren andauernde Affäre hat (494,3), fragt die Interviewerin nach, ob sich das Bedürfnis nach Monogamie erst entwickelt habe. Elvira antwortet, dass sie vorher monogam gelebt habe und dies die erste Beziehung sei, in der dem nicht so sei. Den Grund dafür sieht sie in Agnes’ übertrieben fürsorglichen Verhalten: Elvira bezeichnet Agnes als »Übermutter« (506,4), wobei diese Formulierung als Ausdruck von Elviras Einschätzung, dass es sich dabei um ein übertriebenes Verhalten handelt, gelesen werden kann. Auch beschreibt sie das Verhalten von Agnes gegenüber ihrem Sohn als »sehr, sehr, sehr, sehr fürsorglich« (512,1). Die mehrfache Wiederholung des Adverbs »sehr« läst ebenfalls vermuten, dass sie Agnes’ fürsorgliches Verhalten gegenüber dem Kind als übertrieben wahrnimmt. Elviras kritische Äußerung hinsichtlich des fürsorglichen Verhaltens von Agnes im Kontext der Benennung ihrer Affäre legt die Vermutung nahe, dass sie in dem Sohn einen Konkurrenten um die mütterliche Zuwendung sieht und diese ihm ihrer Wahrnehmung nach übermäßig zuteil wird. Elvira fühlt sich daher vernachlässigt und kompensiert ihre Bedürftigkeit mittels der Affäre. Trotz der Konflikte und Gewalttätigkeiten hält Elvira an der Beziehung fest, weil sei glaubt, dass die Probleme behoben werden können (559-562). _______________________ Elvira betrachtet ihre Partnerschaft mit Agnes als ihren Idealvorstellungen entsprechend. In Anbetracht der von ihr geschilderten Probleme erscheint dies als eine rückblickende Idealisierung, die von der sich abzeichnenden Trennung geprägt ist. Es wird jedoch auch deutlich, dass sie sich wünscht, für ihre Partnerin etwas Besonderes zu sein und von dieser mütterlich umsorgt zu werden. Der Sohn symbolisiert ihren Wunsch nach einem gemeinsamen Lebensprojekt, etwas, was beide 171
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Frauen miteinander verbindet. Er steht aber auch für eine bestimmte Vorstellung von Familie, nämlich dass beide Eltern für ihr Kind da sind und die Familie in das Netzwerk der Herkunftsfamilien eingebettet ist. Da Elviras Vorstellung von Familie nicht ihre eigene Lebensgeschichte widerspiegelt, liegt die Vermutung nahe, dass damit auch eigene kindliche Sehnsüchte erfüllt werden. Ihren Wünschen steht jedoch mit der Geburt des Kindes ihre Aufgabe als erwachsener Elternteil entgegen. Auch wird Elvira durch seine Geburt mit ihrer Aufgabe als verantwortlicher Elternteil konfrontiert, wodurch ihren kindlichen Sehnsüchten und Bedürfnissen weniger Raum in der Partnerschaft bleibt. Sie hofft daher, in ihrer Affäre ihre Sehnsüchte und Erwartungen erfüllt zu bekommen. Elviras Vorstellung, endlich eine Familie zu haben, die sie in ihrer späten Kindheit und Jugend verloren hatte, bindet sie trotz ihrer Enttäuschungen an die Partnerschaft mit Agnes. Daher glaubt sie auch, dass die vorhandenen Probleme lösbar seien. Da sie aber die meisten Probleme durch ihre Partnerin verursacht sieht, verlagert sie die Verantwortung für die Trennung auf ihre Partnerin Agnes; dies steht in Einklang mit ihrer bereits dargestellten Auffassung, dass diese wesentlich für die gewalttätige Beziehungsdynamik verantwortlich sei.
Elviras Beschreibung ihrer Partnerin Agnes Elvira beschreibt ihre Partnerin Agnes als einen Menschen, der nicht alleine sein kann und eifersüchtig ist: (538) Elvira: Also, wenn ich irgendwelche Treffen hatte mit Arbeitskollegen oder Arbeitskolleginnen oder, dann wurde immer gesagt: »Ja, muss das sein?« Und: »Mein Gott, ich bin ja dann alleine zu Hause.« Also, es wurde ziemlich zeitig unterbunden und ich habe mich da auch sehr gut in diese Rolle reinschieben lassen. (539) I: Was heißt das? Also sie hat gesagt, sie ist alleine zu Hause. Das ist ja jetzt selber erst mal kein Problem, also … (540) Elvira: Im Grunde genommen nicht, für sie schon. (541) I: Und was war das Problem? (542) Elvira: Ja, das Problem für sie ist eigentlich gewesen, ja, sie wollte da nicht alleine sein. Sie hat dann gesagt: »Ja, du hast dann Sonntags nur frei und dann gehst du Samstag mit deinen Kollegen weg.« Und: »Da könnten wir ja was zusammen machen.« Und: »Das muss doch nicht sein.« Und: »Und wer ist denn da alles dabei?« Und … 172
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(543) I: Also, ihre Freundin war auch eifersüchtig? (544) Elvira: Ja. (545) I: Und hat dann so, also Sie sollten nicht mehr weggehen? (546) Elvira: Ja, es ging ja wirklich so weit, dass ich dann kurz bevor ich gefahren bin, mir das dann doch anders überlegt habe (-)und zu Hause geblieben bin. In der dargestellten Erzählsequenz beschreibt Elvira ihre Partnerin Agnes als eine Person, die »nicht allein sein wollte« und daher auch Treffen mit Arbeitskollegen »unterbindet«. Diese Formulierung lässt vermuten, dass sie ihre Partnerin zwar als bedürftig, aber zugleich als machtvoll erlebt, da sie dadurch Elvira Kontakte zu anderen Menschen verunmöglichte. Die von ihr zitierte Frage: »Und wer ist denn da alles dabei?« legt wiederum nahe, dass sie sich durch Agnes’ Eifersucht zudem kontrolliert fühlt. Elvira empfindet Agnes’ Bedürftigkeit daher vor allem als Zwang, durch den sie in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt wird. Gleichzeitig sagt sie, dass sie sich »sehr gut in diese Rolle« habe »reinschieben« lassen und dem Druck nachgegeben habe, indem sie es sich »dann doch anders überlegt habe und zu Hause geblieben« sei. Hier betont Elvira ihre eigene mangelnde Grenzsetzung und fehlende Durchsetzungsfähigkeit gegenüber Agnes. Elviras Beschreibung ihrer Partnerin Agnes als bedürftig legt die Vermutung nahe, dass sie ihre eigene Bedürftigkeit auf ihre Partnerin projiziert. Indem sie ihre Partnerin bekämpft, versucht sie folglich auch, ihre eigene Bedürftigkeit abzuwenden. Aus der Perspektive von Elvira verwischen daher die Grenzen zwischen ihr und ihrer Partnerin. Während sie jedoch die Bedürftigkeit von Agnes als machtvoll erlebt, nimmt sie sich als ohnmächtig wahr, d.h. dass sie nur schwerlich Grenzen setzen und keine eigenen Bedürfnisse durchsetzen kann. _______________________ Auch erzählt Elvira, dass ihre Partnerin zum Zeitpunkt des Interviews seit ca. neun Wochen eine »Affäre« habe (40,2). Sie berichtet, dass sie seit eineinhalb Jahren keine Sexualität mehr mit ihrer Partnerin lebe und ihr deshalb vorgeschlagen habe, eine Affäre einzugehen. Elvira habe jedoch nicht damit gerechnet, dass »es passiert und jetzt ist es passiert« (34,19). Da Elvira von Agnes’ Affäre im Kontext der bevorstehenden Trennung erzählt (34,2), lässt das zudem vermuten, dass sie diese als eigentlichen Grund dafür erachtet. Auch scheint Agnes’ vermeintliche 173
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»Affäre« für Elvira eine besondere Bedeutung zu haben, denn mittels dieser formuliert sie ihre Wut auf Agnes: Sie sei »verletzt« (44,1) und »wütend« (44,2), nicht jedoch wegen der Affäre an sich, sondern weil Agnes das »rigoros durchgezogen« habe (44,5) und diese auslebe »ohne Rücksicht auf mich und das Kind« (44,10). Sie empfindet Agnes’ Verhalten als »respektlos« und »rücksichtslos« (44,16). Elvira vermittelt mit ihrer Beschreibung ein negatives Bild von Agnes, wobei sie diese als machtvoll erlebt und sich ihr zugleich als ohnmächtig ausgeliefert wahrnimmt. Auch erfährt das Bild von Agnes als fürsorgliche Mutter eine negative Wendung, da sie ihre Bedürfnisse »ohne Rücksicht auf das Kind« durchsetzt. Elvira empfindet Agnes als »schlechte Mutter«, nicht nur gegenüber dem Kind, sondern auch sich selbst gegenüber. Allerdings offenbart Elvira in ihrer Bezeichnung des gemeinsamen Sohnes als »das Kind« zugleich ihre distanzierte Haltung gegenüber dem Kind, was die Vermutung bestärkt, dass sie ihn als Konkurrenten um die Zuwendung der Mutter wahrnimmt. Weiterhin erzählt Elvira von ihrer Partnerin, dass sie in ihrer vorherigen Partnerschaft massiv misshandelt worden sei, weshalb sie nicht verstehen könne, warum sie nach wie vor Kontakt zu ihrer ehemaligen Partnerin und deren Kind habe (192-201). Nach Auffassung von Elvira habe Agnes die gewalttätigen Strukturen aus ihrer Kindheit gekannt (204,2). Elvira betont die Gewalt als lebensgeschichtlichen Aspekt ihrer Partnerin und den Umstand, dass Agnes bereits zuvor in einer Partnerschaft, die von einer Gewaltdynamik geprägt war, gelebt hatte. Das ermöglicht es ihr, die eigene Gewalttätigkeit in Bezug zur Biographie ihrer Partnerin zu setzen und Agnes als Beteiligte an der gewalttätigen Dynamik zu betrachten. Auch erscheint ihr Bild von Agnes ambivalent, so beklagt sie deren vermeintlich übertriebene fürsorgliche Hinwendung zu dem Sohn und den damit für sie verbundenen Entzug mütterlicher Fürsorge, und charakterisiert Agnes zugleich als diejenige, die rücksichtsund respektlos eigene Bedürfnisse auslebt.
Elviras »Affäre« Die lange Dauer von Elviras Affäre sowie ihr biographischer Hintergrund lassen vermuten, dass diese eine besondere Bedeutung für sie hat. Elvira verschweigt ihre »Affäre« gegenüber ihrer Partnerin aus Angst, dass diese die Beziehung sofort beenden würde (320,2). Anfänglich beschreibt Elvira ihre Affäre als rein sexuell motiviert (422). An einer anderen Stelle des Interviews wird jedoch deutlich, dass Elvira in ihrer Affäre etwas gefunden hatte, was sie in ihrer Partnerschaft vermisste. Der
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nachstehenden Erzählsequenz ist ein Gespräch über Elviras »verschüttete« Gefühle (749,1) vorangegangen. (752) I: Wünschen Sie sich von Ihrer Beziehung auch mal, sich einfach fallen lassen zu können? (753) Elvira: Ja. (754) I: Aber in der Beziehung, in der Sie jetzt sind, sind Sie … (755) Elvira: … war es nicht möglich. (756) I: Ja. Da sind Sie auch die Stärkere? (757) Elvira: Deswegen die Affäre. (758) I: Und da war es möglich, sich fallen zu lassen? (759) Elvira: >Ja […] Und also gerade in so einem Moment, wo man, wo eigentlich nur noch die Familie da ist, die einen schützt und die einen in den Arm nimmt und sagen kann: »Nike, es wird wieder gut. Komm, hast niemand, aber doch wir haben uns noch.« (-)Ich hätte meinen Bruder an dem Abend totschlagen können. […] Und ich denke, es hat an dem Abend, mein Bruder hat alles abgekriegt. Das, was meiner Mutter, meinem Vater oder was Gertrud gegolten hätte. […] War mir dann erst klar, als er eben dann, als ich mich beruhigt hatte so ein bisschen und in mein, in das Zimmer ging. Und meine Sachen packte und ich dann mitkriegte, dass er die Polizei anrief. Die Polizei kam dann, ich habe dann fix ein bisschen aufgeräumt, habe mich zusammengerissen, weil ich, mir war das peinlich und unangenehm und ich hatte gehofft, es geht noch alles gut. Und ich habe dann gesagt, was vorgefallen war, aber ich habe natürlich verschwiegen, dass ich ihn derartig angegriffen habe. Und die haben dann eben gesagt: »Verlassen Sie bitte die Wohnung, Ihr Bruder möchte alleine sein.« Und bin dann in mein Auto gestiegen und habe um die Ecke geparkt. (-)Und war völlig fertig. Das, ich glaube, ich war, wie ein Nervenzusammenbruch, ich war am Ende. Ich war völlig am Ende. Ich hatte Angst. Ich habe Angst gehabt. Ich wusste nicht, wohin. Ich wollte eigentlich nur noch, ich (-)Ich bin dann irgendwie auch in der Nacht dann 232
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noch, so wie ich war, zurückgefahren. […] Ich habe wahnsinniges Glück gehabt. Einen Wahnsinns-Schutzengel gehabt, der mich beschützt hat und andere Menschen. Ich bin hier in [Stadt] angekommen. Ich hatte nichts zu essen im Haus. (5 Sek.) Ich habe dann drei Tage im Bett verbracht. Und mich mit Beruhigungsmitteln und mit Alkohol zugedröhnt, damit ich schlafen konnte, ich hatte auch Schmerzen, mir tat alles weh. […] Ich dachte, ich überlebe das nicht. Ich habe zig Mal angerufen dann bei ihm und habe um Verzeihung gebeten. Er ging nie ans Telefon. Inzwischen weiß ich, warum. Er hat sich in der Nacht noch abholen lassen. Er kam in die Klinik, hat auf der Intensivstation gelegen mehrere Tage wegen seines Schlaganfalls, wegen seiner Behinderung. Stand also unter Beobachtung. Und man hat mehrere Rippenbrüche festgestellt, die also auch aber aufgrund dieses Sturzes gegen den Schrank herrühren könnten. Bisswunden und blaue Flecke und Kratzer. Ich konnte nie wieder mit ihm reden seitdem. Ich bin dann, habe zu dieser Zeit, bis zu dieser auch immer noch versucht, Kontakt zu Gertrud aufzunehmen, und habe ihr das dann am Telefon erzählt. Habe natürlich nicht gesagt, in welchem Ausmaß das war, sondern nur, dass ich ihn geohrfeigt habe. Und sie war so die Einzige für mich, wo ich mich, wo ich dachte, da fühle ich mich beschützt. Zu Beginn der aufgeführten Sequenz schildert Nike, dass ihr beim Hinund Herlaufen im Flur eine Tischlampe heruntergefallen sei. Sie bezeichnet diese als »olles Ding vom Sperrmüll« und »nichts Teures, nichts Kostbares«. Diese Beschreibungen des folgenden Verhaltens ihres Bruders lassen dieses als unverhältnismäßig erscheinen: Sie beschreibt dieses als »ausrasten« und »hysterisch«. Ähnliche Formulierungen fanden sich bereits zur Beschreibung von Gertruds Verhalten. Nike nennt ihren Bruder »Paulchen«, was eine Verniedlichung darstellt. Das lässt die Vermutung zu, dass sie sich in diesem Konflikt in der Position der Erwachsenen sieht, die versucht, ein hysterisches ›Kind‹ zu beruhigen. Paul erscheint Nike ihren Beschwichtigungsversuchen nicht zugänglich, was ebenfalls analog zu dem ersten geschilderten Konflikt ist. Nikes Alkoholkonsum ist auch Ausdruck der von ihr erlebten Anspannung und ihres Umgangs damit. Sie sieht das Weihnachtsfest zerstört wegen »so einer blöden Lampe«, d.h. auch hier sieht sie keine Verhältnismäßigkeit gegeben. Nike leitet die Szene, in der ihre Gewalttätigkeit beschrieben wird, mit der Unverhältnismäßigkeit und Irrationalität des Verhaltens ihres Bruders ein. Nach ihrer Wahrnehmung hat er dadurch das familiäre Klima zerstört, während Nike wiederum verzweifelt bemüht ist, die Situation zu »retten«. Die nachfolgenden Äußerungen beschreiben zuerst verkürzt und dann detailreicher den weiteren Verlauf des Konflikts. Ihr Bruder äußert, 233
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dass er alleine sein möchte, wobei Nike schildert, dass er sie bzw. dann sie ihre Tante aus der Wohnung geworfen habe. Schließlich habe Nike dann die Wohnung verlassen. Die Verworrenheit bezüglich des Rauswurfs der Tante löst sich in der detaillierten Darstellung auf. Zu diesem Zeitpunkt jedoch deutet sie darauf hin, dass es Nike daran gelegen ist, ihr Tun als selbst bestimmtes und damit erwachsenes Handeln darzustellen, d.h. das von ihr entworfene Bild aufrechtzuerhalten. Nike verlässt schließlich die Wohnung, nimmt Tabletten und raucht einen Joint. Dieses Verhalten lässt erneut auf grundlegende Suchtstrukturen schließen, die bei psychischen Belastungen zum Tragen kommen. Bei ihrer Rückkehr in die Wohnung steht Nike unter Einfluss verschiedener Drogen, deren Zusammenwirken Auswirkungen auf ihre Psyche gehabt haben könnten. In der Wohnung bemerkt sie, dass ihr Bruder die von ihr mitgebrachten Alkoholika mit Hilfe einer Nachbarin entsorgt. Sie fühlt sich »kompromittiert« und zeigt sich darüber entrüstet, dass ihr Bruder heimlich von seiner Nachbarin den Alkohol aus dem Haus bringen lässt, »damit seine Toch… seine Schwester nicht mehr ran kommt«. Ihre sprachliche Unsicherheit hinsichtlich ihres verwandtschaftlichen Verhältnisses als Tochter bzw. Schwester legt die Vermutung nahe, dass sie ihre Position als Erwachsene in dem Konflikt nicht mehr innehat. Dadurch, dass ihr Bruder die Nachbarin in das Geschehen einbezieht, wird zudem eine Form von Öffentlichkeit hergestellt: Nike sieht sich für einen kurzen Moment durch die Augen der Nachbarin – ihr gewalttätiges Verhalten und ihren übermäßigen Alkoholkonsum – und fühlt sich bloßgestellt und beschämt. Ihre Reaktion, dann den Whisky zu trinken, den ihr Bruder übersehen hat, ist zwar Ausdruck ihrer Suchtstruktur, erscheint aber vor diesem Hintergrund vergleichbar mit einem ›eigensinnigen Beharren‹ oder einer Trotzreaktion, was die Vermutung bestärkt, dass sie ihre Erwachsenen-Position aufgegeben hat. Nike ist weiterhin bemüht, ihr Ungeschick ungeschehen machen, und versucht erneut, die Tischlampe zu reparieren – was nochmals misslingt. Die Spannung zwischen den Geschwistern eskaliert und Nike wird in dieser zweiten Phase des Konflikts physisch übergriffig. Sie beschreibt ihr Verhalten derart, dass ihr die »Hand ausgerutscht« sei: Diese Formulierung legt nahe, dass Nike ihre Tat als außerhalb ihrer Kontrolle liegend wahrnimmt. Zudem wird mit einem »Hand ausrutschen« eher ein leichter körperlicher Übergriff wie beispielsweise eine Ohrfeige verbunden, was vermuten lässt, dass sie ihr Verhalten als nicht schwerwiegend erachtet. Da in Folge des Schlages ihr Bruder aus dem Gleichgewicht geriet und gegen den Schrank fiel, kann ihre Beschreibung als Versuch der Abmilderung ihrer Tat interpretiert werden. Im Folgenden äußert sie, das ihr »alles egal« gewesen sei, was darauf hindeutet, dass 234
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ihr in diesem Augenblick die Folgen ihres Tuns gleichgültig sind, d.h. sie diese in Kauf nimmt. Nike wird sich der schweren Auswirkungen ihrer Tat erst durch die Reaktion ihrer Tante gewahr: »Es war schlimm. Und meine Tante schrie noch dazu«. Das Schreien der Tante offenbart ihr die Schwere ihrer Handlung. Wie auch schon in der Situation mit Gertrud ist Nike danach sehr bemüht, die Tat ungeschehen zu machen. Sie erzählt, dass sie sich von ihrer Tante gewünscht hätte, dass diese »an Muttern statt« beschwichtigend auf den Streit einwirke mit den Worten, »Kinder, ihr seid Geschwister. Jetzt ist Schluss, beruhigt euch. Es ist nichts passiert.« Die Betonung des Wortes »Kinder« sowie die weiteren Formulierungen deuten darauf hin, dass sie den Konflikt als kindlichen Streit unter Geschwistern betrachtet. Ihre Sichtweise blendet dabei aus, dass beide inzwischen erwachsen sind. Auch beinhaltet sie eine Gleichwertigkeit der Akteure und klammert die körperliche Behinderung des älteren Bruders aus, die als Hinweis für eine mögliche Ungleichheit herangezogen werden könnte. Zudem legt die gewünschte Äußerung, dass »nichts passiert« sei, die Vermutung nahe, dass Nike ihr Verhalten als nicht schwerwiegend erachtet und möchte, dass ihre Tante diese Wahrnehmung teilt. Die Zuschreibung der schlichtenden Mutterrolle zu ihrer Tante offenbart des Weiteren Nikes Sehnsucht nach einer intakten Familie, wobei sie sich und ihren Bruder in der Position der Kinder sieht. Das Schreien der Tante signalisiert stattdessen, dass diese Nikes Wahrnehmung des Geschehens nicht teilt und zudem eine Parteilichkeit für den Bruder ergreift, indem sie auf Nike »einschreit«. Auch entzieht sie sich durch ihre Parteilichkeit der ihr zugedachten Mutterrolle. Nike fühlt sich infolgedessen abgelehnt und verletzt, aber auch beschämt. Zudem stigmatisiert die parteiliche Haltung der Tante Nike als Täterin. Nike sieht sich durch diese Spiegelung in ihrem Bemühen, »das wiedergutzumachen« gehindert, ist enttäuscht und wirft ihre Tante aus der Wohnung, »damit wir beide irgendwie, damit das wieder gut wird, ich wollte das wiedergutmachen«. Diese sprachliche Wendung weist eine Veränderung der Perspektive auf, die von einer aktiven Beteiligung »beider« für das Geschehen, über eine unpersönliche Sichtweise, in der die Akteure nicht benannt werden, bis zur Benennung des eigenen aktiven Handelns reicht. Dieser Perspektivenwechsel kann als retrospektiver Ausdruck der Übernahme der Verantwortung für die Tat gelesen werden. In der Situation selbst spricht sie von Wiedergutmachung, was eine Entschädigung für ein erlittenes Unrecht beinhaltet und der Einsicht bedarf, dieses begangen zu haben. Nike möchte demgegenüber jedoch vielmehr den Zustand vor ihrer Tat wiederherstellen, was eher ein »Ungeschehenmachen« meint. Die Spiegelung der Tante lässt dies nicht zu, so dass sie diese aus der Wohnung entfernt. Zum Zeitpunkt des Geschehens entglei235
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tet Nike die Kontrolle, sie »habe dann total die Beherrschung verloren« und auf ihren Bruder »blind« eingeschlagen, ihn gebissen und gekratzt. Ihre Formulierung »blind« legt nahe, dass sie das Gefühlt hatte, sich nicht mehr unter Kontrolle zu haben. In ihrer weiteren Erzählung nimmt sie Bezug auf den von ihr erlittenen sexuellen Missbrauch und äußert, dass sie sich nicht vorstellen könne, dass ihr Bruder »davon nie irgendetwas in seinem Leben mitgekriegt« habe. Ihre Annahme lässt vermuten, dass sie sich als Kind von ihrem Bruder nicht beschützt fühlte, als sie von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. Sie sieht in ihm einen Mittäter und/oder einen Stellvertreter ihres Misshandlers. Sie empfindet ihren Bruder als »hartherzig und kalt und gemein« und er habe sie »ständig verletzt«; sie hatte sich »ein bisschen Geborgenheit« erhofft, die ihr ihr Bruder nicht gibt. Nike hat das Gefühl, von ihrem Bruder nicht angenommen und wertgeschätzt zu werden; auch fühlt sie sich von ihm in ihrer schwierigen Lebenslage erneut nicht beschützt. Auch in ihrer Beziehung zu Gertrud hatte sie sich Geborgenheit und Zuwendung erhofft. Sie empfindet deren Rückzug gleichermaßen wie Pauls Abwehr als Zurückweisung und mangelnde Wertschätzung. Nike ist verzweifelt und fühlt sich in der Situation hilflos. Ihre Verlassenheit und Ohnmacht münden schließlich in Wut und Hass, die sich in der Attacke auf ihren Bruder entladen. Nike beschreibt ihre Gefühle während der Tat als »ohnmächtige Wut und Hass« – sie hätte ihren Bruder »an dem Abend totschlagen können«. Hass ist die stärkste Abneigung, die ein Mensch gegenüber einem anderen empfinden kann. Nikes Hass erscheint hier als Reaktion auf ihre tiefen Verletzungen, denen sie, wie bereits geschildert, ohnmächtig gegenüber steht. Zugleich weist diese Formulierung auf eine Entgrenzung der Gewalt hin, die zum Zeitpunkt ihres Übergriffs auf Gertrud noch nicht gegeben war. Im Folgenden sagt sie, dass ihr Bruder das abbekommen habe, was ihrer Mutter, ihrem Vater »oder was Gertrud gegolten hätte«. Diese Wendung legt nahe, dass Paul auch stellvertretend für Gertrud und deren Zurückweisung steht. Nike reagiert auf diese von ihr empfundene Zurückweisung und Ablehnung gleichermaßen mit einem tiefen Gefühl der Antipathie. Obgleich Nike versucht, ihren Übergriff auf ihren Bruder mittels ihrer Familiengeschichte zu begründen, lässt diese Wendung vermuten, dass ihre Wut und ihr Hass über die Grenzen der Herkunftsfamilie hinausreichen. Daher kann angenommen werden, dass das ihr widerfahrene Leid und die von ihr empfundene Mittäterschaft ihrer Mutter und ihres Bruders in Bezug zu der von ihr verübten Gewalt gesetzt werden; dadurch wird ein paralleler Spannungsbogen erzeugt, und letztere abgemildert wird. Im Folgenden erzählt Nike, dass ihr Bruder die Polizei gerufen habe. Deshalb habe sie »fix ein bisschen aufgeräumt« und sich »zusammengerissen«, weil ihr 236
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»das peinlich und unangenehm« gewesen sei und sie gehofft habe, dass »alles noch gut geht«. Den eintreffenden Beamten habe sie berichtet, was vorgefallen sei und habe »natürlich verschwiegen, dass ich ihn derartig angegriffen habe«. Die Formulierung »zusammenreißen« deutet darauf hin, dass sie in dieser Phase des Konflikts die Kontrolle über ihr Verhalten wiedererlangt hat. Ihre Beschreibung des Geschehens als »peinlich« und »unangenehm« weist auf eine Beschämung durch Dritte hin, d.h. die Anwesenheit der Polizeibeamten befördert ihre Betrachtung der Tat durch andere, fremde Augen. Ihre weitere Äußerung, dass sie gegenüber den Beamten die Schwere ihres Übergriffs »natürlich verschwiegen« habe, lässt vermuten, dass Nike nun versucht, durch ihr Handeln möglichen Schaden von sich abzuwenden. Das Verschweigen selbst deutet auf die Einsicht hin, ein Unrecht begonnen zu haben; das Adjektiv »natürlich« legt jedoch die Vermutung nahe, dass sie nicht für ihre Tat einsteht, sondern stattdessen die Vermeidung möglicher negativer Auswirkungen im Vordergrund steht. Diese Wendung leitet einen Perspektivenwechsel ein, in dem nun Nikes Leid in den Vordergrund gerückt wird: Sie sei von der Polizei der Wohnung verwiesen worden und »völlig am Ende« gewesen; sie habe »Angst« gehabt und nicht gewusst, wohin sie fahren solle. Schließlich sei sie nach Hause gefahren und habe dabei einen »Wahnsinns-Schutzengel« gehabt, der »mich« beschützt habe. Nike hatte in dem Interview zuvor geäußert, dass sie sich als »schlechter Mensch« fühle, wenn Gertrud sie mit den Auswirkungen ihrer Tat konfrontiert. Die Metapher des Schutzengels und die Betonung des Personalpronomens legen daher nahe, dass sie sich trotz dieses Geschehens nicht als »schlechten Menschen« sieht, denn dann wäre sie ihrer Auffassung nach nicht beschützt worden. Zudem sieht sie sich weder von Gertrud, ihrem Bruder noch ihrer Tante beschützt und greift daher auf ein metaphysisches Wesen zurück. In ihrer Wohnung fühlt sie sich von Scham überwältigt, sie habe gedacht, sie »springe aus dem Fenster« und »überlebe das nicht«. Mit der Scham geht sie um, indem sie erneut Tabletten und Alkohol konsumiert. Sie habe versucht, ihren Bruder zu erreichen, der jedoch nicht da gewesen sei. Schließlich habe sie erfahren, dass er einen Schlaganfall hatte und ins Krankenhaus gekommen sei. Auch wurden »Bisswunden«, »blaue Flecken« und »Kratzer« sowie mehrere Rippenbrüche festgestellt, die von dem Sturz gegen den Schrank »herrühren könnten«. Der von ihr hier verwendete Konjunktiv stellt die physischen Auswirkungen des Geschehens in Frage. Dieses Verhalten ist vergleichbar mit demjenigen gegenüber Gertrud, als sie äußerte, dass diese sich aus anderen Gründen als Nikes Gewalttätigkeit getrennt habe. Das lässt vermuten, dass Nike der Konfrontation mit den
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Auswirkungen ihrer Taten ausweicht, indem sie diese bezweifelt oder deren Ursachen woanders verortet. In ihrer Not und Verzweiflung wendet sich Nike nun erneut an ihre ehemalige Partnerin Gertrud, von der sie dachte, dass sie »die Einzige« sei, bei der sie sich »beschützt« fühle. Ihre Formulierung, dass diese »die Einzige« gewesen sei, kann als Ausdruck ihrer Ausweglosigkeit und sozialer Isolation gelesen werden. Gertrud wiederum wird dadurch nicht aus ihrer Aufgabe, die sie bereits in der Beziehung innehatte, entlassen. Nike habe ihr von dem Geschehen berichtet, jedoch »natürlich nicht gesagt, in welchem Ausmaß das war«. Sie scheint sich der emotionalen Unterstützung von Gertrud nur sicher zu wähnen, so lange diese das wahre Ausmaß der Tat nicht kennt. Auch hier benutzt sie erneut das Adjektiv »natürlich« zur Beschreibung ihres Verhaltens. Dieses lässt ein zielgerichtetes Handeln vermuten, wobei sie nicht nur möglichen Schaden von sich wenden, sondern auch Gertruds Zuwendung erhalten möchte. Des Weiteren weist das Adjektiv darauf hin, dass sie ihr Verhalten als gerechtfertigt erachtet; dieses scheint dabei nicht in Relation zu der von ihr verübten Tat zu stehen, sondern zu dem von ihr erfahrenen Leid.
Zwischenfazit Nikes Erzählung über den Angriff auf ihren Bruder weist einen Spannungsbogen auf, in dem mit ihrer zunehmenden Hilflosigkeit und Ohnmacht auch ihre Gewalttätigkeit zunimmt. Schließlich mündet das Geschehen in einem massiven Übergriff, dem sie wiederum ihre Erfahrung von sexuellem Missbrauch gegenüberstellt. Sie beschreibt die Tat erneut als sich aus einer Situation entwickelnd und vorangetrieben durch die von ihr empfundene Zurückweisung durch ihren Bruder. Nike ist bemüht, die Situation für sich erträglich zu gestalten, indem sie der zunehmenden Spannung versucht auszuweichen. Dabei greift sie auf Alkohol und Tabletten zurück, die sie zu ihrem Bruder mitgenommen hatte. Das lässt vermuten, dass sie eine problematische Situation erwartet und sich auf diese vorbereitet hat. Später greift sie auch auf Cannabis zurück, welches sie sich vor Ort besorgt hatte. Dieser Akt deutet darauf hin, dass sich der Konflikt über das von ihr vorgestellte Maß entwickelte und ihr entglitten ist. Nike ist enttäuscht von ihrem Bruder und wütend. Ihre Wut und ihr Hass münden schließlich in den Übergriff. In beiden von Nike beschriebenen Gewalttaten kommen ihre Verzweiflung, ihre Ohnmacht und ihr Ringen um Liebe und Anerkennung, ebenso wie die daraus resultierenden Verletzungen, Enttäuschungen, Verzweiflung und Wut zum Ausdruck, die sich schließlich in physischer Gewalt entladen. Verantwortlich sieht sie zum einen ihre Partnerin Gert238
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rud, die sich zuvor aggressiv verhalten habe und sie schließlich, so glaubt Nike, verlassen habe. Auch ihr Bruder habe sie immer wieder zurückgewiesen und wollte schließlich, dass sie seine Wohnung verlässt. An diesem Punkt erfährt die Erzählung eine Wendung und Nike führt den von ihr erlebten sexuellen Missbrauch durch ihren Vater an. Sie sieht in ihrem Bruder einen Mittäter, weil er sie nicht beschützt hat. Der Massivität ihres Übergriffs wird somit ihre traumatisierende und schwerwiegende Opfererfahrung gegenübergestellt. Im Folgenden erfährt Nikes Darstellung eine wesentliche Wendungen, die eine weitere Erzählperspektive offenbaren: So zeigt sich, dass sich ihr Wut und ihr Hass auf Gertrud nun auch gegen ihren Bruder richtet. Das, was Gertrud und Paul miteinander verbindet, ist deren von Nike empfundene Zurückweisung. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass ihre Opfererfahrung ihren Hass auf Paul verstärkt hat, so dass die Schwere der Tat hier zugenommen hat. Dennoch kann sie nicht damit alleine begründet werden; vielmehr beinhaltet sie eine dramaturgische Komponente, die ihren eigenen Übergriff abmildert. Während Nike das gewalttätige Geschehen als ansteigende Ohnmacht und zunehmenden Kontrollverlust charakterisiert, erscheint dagegen ihr Handeln danach stark interessengeleitet und zielgerichtet: So habe sie »natürlich« gegenüber der Polizei und gegenüber Gertrud das wahre Ausmaß ihrer Tat verschwiegen. Der Gebrauch dieses Adjektivs weist darauf hin, dass sie den von ihr geschilderten Umgang mit ihrer Gewalttätigkeit als gerechtfertigt erachtet, um Schaden von sich abzuwenden oder dennoch Zuwendung zu erhalten. Sie bedarf Gertruds mütterlicher Zuwendung und, um sich diese zu sichern, verschweigt sie das Ausmaß ihres Verhaltens. Nike verharrt dadurch in einem lebensgeschichtlich frühen Verhaltensmuster, das sie in ihrer Biographie zuvor als »Ich habe zurückgeschlagen oder ich bin abgehauen« beschrieben hatte.
Nikes Muster der Gewalt Nike erzählt, dass es nicht das erste Mal in ihrem Leben gewesen sei, dass so etwas vorgekommen sei. So sei sie auch ihrer Tochter gegenüber »handgreiflich« geworden (17,4) und habe ihren Ehemann geschlagen (17,15). Dieser »arme Mensch« habe sich das von ihr »gefallen lassen« (17,16) und »duldete« es (17,17). Sie wollte nicht mit ihrer Tochter über das Geschehen mit Gertrud reden, weil sie Angst hatte, sie zu verlieren, da diese sich in therapeutischer Behandlung befinde, um die »Kindheit« mit ihrer Mutter »und ihren Eltern« aufzuarbeiten (17,9). Sie wollte ihr das daher nicht »zumuten« und habe sich zudem »geschämt wie ver239
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rückt« (17,10). Nike sieht ihre Gewalttätigkeit verknüpft mit »Verlassenwerden, Angst haben, alleine zu bleiben in einer schwierigen Situation« (17,6). _______________________ Die hier dargestellte Erzählsequenz findet sich nach der Beschreibung ihres Übergriffs auf ihre Partnerin Gertrud. Dieser wurde von ihr zuvor als situativ bedingt charakterisiert, wobei sie die Kontrolle verlor und, von ihrer Verlustangst überwältigt, Gertrud ins Gesicht schlug. Jetzt offenbart Nike, dass sie zuvor ihre Tochter und auch ihren damaligen Ehemann misshandelt hatte. Nikes Äußerung, dass ihre Tochter ihre »Kindheit« mittels einer Psychotherapie aufarbeite, legt zudem nahe, dass es sich nicht um einen einmaligen Vorfall gehandelt hat. Auch lassen die Formulierungen, dass ihr Mann sich das »gefallen lassen« und »geduldet« habe, vermuten, dass es sich hier ebenfalls nicht um einen einmaligen Vorfall handelte. Daher kann angenommen werden, dass es sich bei Nike um ein sich wiederholendes gewalttätiges Muster handelt, das sich durch ihre Biographie zieht. Diese Erkenntnis steht in Widerspruch zu ihren situationsbezogenen Schilderungen. Die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Betrachtungsweisen lassen sich vergleichen mit der Betrachtung der einzelnen Bilder eines Films oder aber des Films im Ganzen. Obgleich Nike einen Zusammenhang zwischen einzelnen Situationen herstellt, indem sie diese mit ihrer Angst, verlassen zu werden, begründet, betrachtet sie dennoch nicht den ganzen Film, wodurch ihr das Ausmaß ihrer Gewalttätigkeit und deren Auswirkungen auf ihr Leben und das der anderen verschlossen bleibt. Auch bedingt ihre Scham, dass sie ihr gewalttätiges Verhalten verschweigt, so dass sie lange Zeit keine Hilfe und Unterstützung erhielt. Nike erzählt, dass sie erst dann angefangen habe, anderen von ihrer Gewaltausübung zu erzählen, als sie merkte, dass sie ihre Freundin verliert (19,2). Als andere Dritte, mit denen sie über ihr Verhalten gesprochen hatte, werden im Laufe des Interviews zwar Therapeutinnen und Therapeuten benannt, aber keine weiteren Menschen aus dem Freundesund/oder Bekanntenkreis. Ihr sozialer Nahraum scheint daher auf ihre Tochter, ihre Partnerin und ihren Bruder beschränkt zu sein. Das wiederum verstärkt den Eindruck ihrer Isolation und der existenziellen Funktion, die die Beziehung zu Gertrud innehatte.
Nikes Therapie Nike berichtet, dass sie nach dem Übergriff auf ihren Bruder eine Nottherapie gemacht habe. Ihre Therapeutin habe geäußert, dass der Über240
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
griff wie ein »Ventil« gewesen sei, und wenn das nicht geschehen wäre, sie sich »wahrscheinlich umgebracht« hätte (33,4-5). Sie geht in eine »Selbsthilfegruppe« um ihren sexuellen Missbrauch aufzuarbeiten (33,41). In der Paartherapie wiederum sieht sie eine Möglichkeit, die von ihr verübte Gewalt gemeinsam zu bewältigen; sowohl Gertrud als auch ihrem Bruder Paul schlägt sie nach ihren gewalttätigen Attacken eine gemeinsame Therapie vor. Aber beide nehmen ihre »Chance« nicht wahr (33,29), ihre Biographien und eigenen Anteile gemeinsam mit Nike aufzuarbeiten. Die Formulierung, dass beide eine »Chance« nicht wahrnehmen, lässt vermuten, dass Nike sich nach wie vor nicht alleine für das Geschehen verantwortlich sieht. Auch kann ihr Angebot einer Paartherapie als Versuch erachtet werden, die Situationen wie vor ihrem Übergriff wiederherzustellen. Nike empfindet die Ablehnungen von Gertrud und Paul als erneute Zurückweisung, denn von ihrer ehemaligen Partnerin weiß sie beispielsweise, dass diese in therapeutischer Behandlung ist, um ihren sexuellen Missbrauch zu bewältigen. Sie lehnt die Psychotherapie daher nicht als Bewältigungsinstrument an und für sich ab, sondern nur in Zusammenhang mit Nike. Ihr Bruder wiederum erstattet Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung (33,6) und bricht jeglichen Kontakt zu ihr ab. Allerdings sieht Nike in den Personen der Therapeutinnen und Therapeuten selbst wieder eine Quelle der Verletzung und Zurückweisung: So sei es mit ihrer Therapeutin zu einem Konflikt gekommen, weil diese eine Gesetzesregelung hinsichtlich der Bezahlung von Therapiestunden nicht akzeptiert habe (29,35). Die Therapeutin habe daraufhin die Therapie abgebrochen (31,13). Ein ähnliches Muster zeigt sich auch bei der Inanspruchnahme einer Rechtsanwältin bzw. eines Rechtsanwalts: So habe ein Rechtsanwalt das Geschehen bei ihrem Bruder relativiert, wodurch sie ihr Leid nicht angemessen gewürdigt sieht (33,16). Nike sieht in dem Anwalt jedoch nicht nur eine rechtliche Vertretung, sondern auch jemanden, der ihr helfen soll, »aus dieser Situation rauszukommen« (33,18). Durch dessen vermeintliche Bagatellisierung fühlt sie sich verletzt und nicht gut aufgehoben. Nikes Umgang mit den ihr zur Verfügung stehenden Hilfsangeboten legt die Vermutung nahe, dass sie diese nicht als Hilfe zur Selbsthilfe begreift, sondern ihre Verantwortung an diese delegiert und hofft, von ihnen errettet zu werden; die Therapeuten/-innen und Rechtsanwälte/innen substituieren folglich die entgangene mütterliche Zuwendung und Liebe.
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Zusammenfassende Interpretation Nike hat sich auf das Interview anhand von Notizen vorbereitet und bringt Bilder mit, um ihre Wahrnehmungen der Ereignisse zustützen. Der Erzählablauf weist einen Spannungsbogen auf, in dem parallel zur Progredienz ihrer Gewalt auch das von ihr erlebte Leid zunimmt; mit dem Gipfel der Gewalt geht dann auch der Höhepunkt ihrer Opferwerdung einher. Nikes Leben ist von ihrer Sehnsucht nach mütterlicher Fürsorge und Liebe geprägt. Durch den erlittenen sexuellen Missbrauch hat sie gelernt, Liebe, Zuneigung und Fürsorge nur dann zu erhalten, wenn sie auch gegen ihren eigenen Willen tut, was andere von ihr erwarten: So lebte sie beispielsweise lange einen heterosexuellen Lebensentwurf, um die Zuneigung ihrer Eltern zu erhalten, oder aber sie begleitete ihre Lebensgefährtin zu einem Fest, zu dem sie eigentlich nicht wollte. Auch bemüht sie sich sehr um die Zuwendung ihres Bruders, indem sie ihn im Haushalt sehr unterstützt. Wird ihr die ersehnte Fürsorge und Liebe dennoch nicht zuteil, fühlt sie sich zurückgewiesen – was wiederum in ein verstärktes Bemühen um Liebe und Fürsorge mündet. Es scheint, als ob Nike nicht zwischen Abgrenzung und persönlicher Zurückweisung unterscheiden kann. Schließlich ist sie verletzt und verzweifelt, aber auch wütend und zornig. Die Zurückweisungen, die sie als Erwachsene erlebt, entsprechen einer traumatischen Zurückweisung in ihrer Kindheit, die sich möglicherweise in dem Verhalten der Mutter bei dem sexuellen Missbrauch offenbart. Nikes Wut gleicht der Wut eines Kindes, das eine allgegenwärtige und umsorgende Mütterlichkeit vermisst. In ihrem Erwachsenenleben richtet sie diese Wut gegen andere, aber auch sich selbst. Gleichzeitig befürchtet sie, die Person, von der sie sich Liebe und Fürsorge ersehnt, zu verlieren. Von Verlustangst und dem Gefühl der Ohnmacht überwältigt, verliert sie immer mehr die Kontrolle, bis sie schließlich gewalttätig wird; ihre Sprachlosigkeit in diesen Momenten lässt ebenfalls ein eher lebensgeschichtlich frühes Verhaltensmuster vermuten, d.h. sie hat keine Worte, um ihre Ängste zu beschreiben. Nike war von Kindheit an mit Gewalt konfrontiert und hat diese als normalen Bestandteil in ihr Leben integriert: Sie hatte früh gelernt, dass es bei der Gewalt nur darum ginge, entweder »zurückzuschlagen« oder »abzuhauen«. Für sie war beides eine Möglichkeit, sich selbst zu schützen. Sie sagt, dass es für sie nicht so schlimm gewesen sei, wenn sie einmal »eine bekommen hat«. Da ihre Mutter ihr zudem die Schuld für den erlebten sexuellen Missbrauch gegeben hat, kann Nike ihr Selbstwertgefühl nur über eine Identifikation mit dem ›Stärkeren‹, dem Täter, stabilisieren. Dabei übernimmt sie die Verhaltensmuster ihres Vaters 242
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und ihrer Mutter, die nach Nikes Erzählung zumindest Mitwisserin der an ihr verübten Gewalt war. Nike nimmt sich nicht als Täterin wahr, sondern sieht die anderen verantwortlich für das Geschehen. Die Normalität von Gewalt in ihrem Leben hindert sie auch daran, das Leid, welches sie anderen Menschen zufügt, nachzuvollziehen. Wird sie damit konfrontiert, sieht sie nicht das Leid, sondern ein Bild von sich, dass sie nicht erträgt. Um dieser Spiegelung zu entgehen, wirft sie beispielsweise ihre Tante aus der Wohnung ihres Bruders. In den Konflikten verharrt Nike in einem kindlichen Verhalten, was besonders deutlich in der Auseinandersetzung mit ihrem Bruder wird. Diese ist für sie ein Streit unter Geschwistern, wobei die Tante die mütterliche Aufgabe übernehmen soll, schlichtend auf die »Kinder« einzuwirken. Nike möchte ebenso wie ein Kind trotz seines schlechten Verhaltens weiterhin geliebt werden. Die von ihr erhoffte, vermeintlich ›neutrale‹ mütterliche Position der Tante interpretiert sie aber letztlich als Parteilichkeit. Da ihre Tante für ihren Bruder Partei ergreift, wird ihre Illusion eines Konflikts unter ebenbürtigen Geschwistern nicht aufrechterhalten; Nike muss erkennen, dass sie kein Kind ist und ihr nicht wie einem Kind verziehen wird, wenn es Übles getan hat. Auch ihr Bruder verweigert sich ihrer idealisierten Vorstellung von Familie und versagt ihr die von ihr ersehnte Zuwendung und Liebe. Ihre Verletztheit, Verzweiflung und Ohnmacht münden schließlich in Wut und Hass. Die eingangs in Kap. I, 1 dargestellte Bindungstheorie legt nahe, dass Nike wegen der traumatischen Erfahrungen in ihrer Kindheit im Erwachsenenalter ein unsicheres Bindungsverhalten aufweist, welches Auswirkungen auf die Gestaltung der Partnerschaft hat. Nikes Gewalttätigkeit entspringt daher möglicherweise ihrer ›narzisstischen Wut‹ und ihrem unsicheren Bindungsverhalten, wobei es dabei nicht nur darum geht, die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen, sondern auch Rache an einer enttäuschenden Realität zu üben. Auch nach dem Übergriff bleibt sie einem lebensgeschichtlich frühen Verhaltensmuster verhaftet: Sie wünscht sich, dass man ihr verzeihen möge und sie trotz ihrer Tat wieder liebt. Sie möchte ihre Tat »wiedergutmachen«, was sich jedoch als »ungeschehen machen« erweist; sie möchte so geliebt werden wie vor ihrer Tat. Nach dem Geschehen zeigen sich bei Nike intensive Gefühle von Schuld und Scham. Scham ist ein Affekt, der durch bestimmte »Reize«, im Regelfall soziokulturelle Normen, ausgelöst wird. Diese Normen sind verinnerlicht und müssen nicht notwendigerweise im Bewusstsein des/der Einzelnen verankert sein, sondern haben sich im Unterbewussten etabliert. Daher ist Nike bewusst, dass ihr Tun unrecht ist. Ihre Scham führt indessen lange Zeit dazu, dass sie ihr Verhalten verschweigt und sich keine Hilfe sucht. 243
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Ihre Erzählung erhält jedoch eine bedeutende Wendung, als sie zum einen offenbart, dass sich in dem Übergriff auf ihren Bruder auch ihre Wut auf Gertrud entladen hat und sie gegenüber dieser und den Polizeibeamten das Ausmaß ihrer Gewalt »natürlich« verschwiegen hat. Dadurch erscheint ihr Verhalten nach der Tat zielgerichtet und intendiert. Sie möchten möglichen Schaden von sich abwenden und setzt dafür verschiedene Strategien ein, so beispielsweise das Verschweigen und der Vorschlag einer Paartherapie. Auch vermittelt diese Formulierung den Eindruck, dass sie diese Vermeidungsstrategie als gerechtfertigt erachtet. Diese Wendung wiederum lässt ihre Vorbereitung auf das Interview und die sofortige Übernahme des Gesprächsverlaufs in einem anderen Licht erscheinen. Es entsteht der Eindruck einer Inszenierung, in der Nike die von ihr verübten gewalttätigen Übergriffe in einem milden Licht erscheinen lassen möchte. Nike beschreibt ihre Übergriffe als situativ bedingt; danach zeigt sie große Schuldgefühle, ist beschämt und über ihre Tat erschrocken. Sie will es »wiedergutmachen«. Damit meint sie die Wiederherstellung der Situation vor ihrem Übergriff und nicht eine Wiedergutmachung im eigentlichen Sinn. Ihre situationsbezogenen Beschreibungen stehen dabei in Widerspruch zu ihrer Biographie, in der sich die Ausübung von Gewalt als ein sich wiederholendes Muster erwiesen hat. Da beide von ihr geschilderten gewalttätigen Situationen eine ähnliche Gewaltentwicklung aufweisen, die von Nikes Gefühl der Zurückweisung und Ohnmacht geprägt ist, können die Situationen als von ihr getragen charakterisiert werden. Das jeweilige Gegenüber, d.h. sowohl ihre Partnerin Gertrud als auch ihr Bruder Paul beeinflussen jedoch durch ihr Verhalten den weiteren Verlauf des Geschehens. Beide agieren jedoch ähnlich, indem sie sich je nach ihrem Verhältnis zu Nike langsam bzw. sofort von dieser zurückziehen, und so weiterer möglicher physischer Gewalt entgehen. Nikes Schilderungen von Gertruds Reaktion lassen weiterhin vermuten, dass auch ein einmaliger physischer Übergriff derart angstauslösend wirken kann, dass sich infolgedessen sowohl die Wahrnehmung als auch das Verhalten des betroffenen Menschen verändert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bei Nike Liebe und Nähe mit einer tiefen, frühen Sehnsucht nach Geborgenheit und Umsorgtwerden verknüpft ist. Sie sucht in ihren Beziehungen jene in ihrer Kindheit verloren gegangene Bindung, die mit einer allgegenwärtigen und umsorgenden ›Mütterlichkeit‹ verknüpft ist. Daher verfällt sie in ihren Partnerschaften und auch gegenüber ihrem Bruder in lebensgeschichtlich frühe Verhaltensmuster: Sie hat keine Worte, um ihre Gefühle zu beschreiben, und weiß sich nicht mehr zu helfen, so dass sie schließlich gewalttätig wird. Ihre tiefgreifende, essenzielle Wut beruht 244
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dabei auf der Enttäuschung über die Realität: weder Gertrud noch ihr Bruder können ihr die erhoffte Geborgenheit geben. Diese frühkindliche Sehnsucht ist es auch, die es ihr verwehrt, in der Partnerschaft einen ›erwachsenen‹ Part einzunehmen. Daher begreift sie auch nicht, welchen Schaden sie mit ihrem Tun anrichtet. Zudem kann angenommen werden, dass, wenn Nike Nähe zulässt, ihre Abhängigkeit von der anderen Person so stark wird, dass sie keine Distanz mehr hat, um überlegt zu handeln, d.h. ihr ihre kognitiven Fähigkeiten nicht zur Verfügung stehen. Ihre Versuche, ihre Taten ungeschehen zu machen, können als weiterer Ausdruck ihres lebensgeschichtlich frühen Verarbeitungsmusters gelesen werden; sie möchte ein ›gutes Kind‹ sein, dass trotz seiner Taten noch geliebt wird. Ihre eigenen Opfererfahrungen und ihr zielorientiertes Verhalten nach der Tat dienen daher ihrem Bemühen, sich zu ›entschulden‹ – ebenso wie ihre Teilnahme an dem Interview.
Martina und Andrea aus Sicht beider Frauen Das Interview mit Martina fand im April 2002 statt. Die zweite Aufnahmekassette (nach 45 Minuten) ist von starken Störgeräuschen überlagert, so dass nicht das ganze Gespräch transkribiert werden konnte. Im Fokus des Interviews steht die von Gewalt geprägte Beziehung zu ihrer Partnerin Andrea. Das Interview mit Andrea wiederum fand annähernd eineinhalb Jahre später im September 2003 statt. Es wurde mehrmals unterbrochen, weil Andrea emotional stark belastet war und eine Pause benötigte oder weinte. Im Fokus des Interviews stehen ihr Leid, das sie durch die Trennung erfahren hat und ihr nachpartnerschaftliches gewalttätiges Verhalten. Die Interviews ließen erkennen, dass beide Frauen ein Paar waren. Während der Fokus von Martinas Erzählung auf der Beziehung liegt, steht bei Andrea ihr Verhalten nach Trennung der Partnerschaft im Vordergrund.
Zur Beziehung Die Beziehung zwischen Martina und Andrea dauerte ca. zweieinhalb Jahre. Während es für Martina die erste Frauenbeziehung war, hatte ihre Partnerin Andrea bereits vorher in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung gelebt. Beide Frauen sind Mitte 30. In der Partnerschaft stellt die erste, vorübergehende Trennung eine Zäsur dar, wodurch sich der Verlauf der Partnerschaft in zwei Phasen unterteilen lässt. Nach der vorübergehenden Trennung habe nach Aussage von Martina Andrea einer Paartherapie zugestimmt und sie selbst sei deshalb davon überzeugt ge245
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wesen, dass »da noch etwas möglich« sei, und habe sich noch einmal darauf eingelassen (101,3), bis es schließlich zur endgültigen Trennung gekommen sei. Martina erzählt, dass sie Studentin ist und ihren Unterhalt durch einen Nebenjob sichere. Ihre Partnerin Andrea habe einen Hauptschulabschluss und verschiedene Ausbildungen angefangen, aber keine Abschlussprüfungen gemacht und sei zurzeit erwerbslos. Andrea erzählt ebenfalls, dass sie zahlreiche Ausbildungen angefangen, jedoch nicht beendet habe, weil sie den »Leistungsdruck anstrengend und nicht richtig« findet (242,2). Sie lebt in einem alternativen Wohnprojekt am Rande einer Großstadt. Von ihrer Partnerin erzählt sie ebenfalls, dass diese Studentin sei. Martina berichtet, dass sowohl sie selbst als auch Andrea der Auffassung seien, mit einer gewalttätigen Partnerin zusammen gewesen zu sein (21,2), würden aber nicht länger denken, dass die jeweils andere Schuld habe oder böse sei. Beide möchten nach wie vor miteinander befreundet bleiben. Den Schwerpunkt des Gewaltgeschehens sieht Martina vor allem in der Zeit nach Beendigung der Beziehung und weniger während dieser (354,1). Sie legt den Fokus ihrer Erzählung auf die Zeit der Beziehung und weniger auf das nachpartnerschaftliche Verhalten. Martina erzählt zudem, dass sie bereits zuvor Beziehungen gehabt habe, in denen es zu Grenzüberschreitungen gekommen sei, doch diese seien im Gegensatz zu ihrer Beziehung mit Andrea mit »dem Bruch« der Partnerschaft auch beendet gewesen (352,1). Andrea richtet den Fokus ihrer Beschreibung auf ihr nachpartnerschaftliches Verhalten, wobei sie sich als diejenige sieht, die in der Beziehung gewalttätig geworden ist. Sie berichtet nur sehr wenig über die Zeit der Partnerschaft.
Die Biographien Martina Martina erzählt, dass sie »im Gegensatz zu Andrea« in einer funktionierenden und generationsübergreifenden Familienstruktur aufgewachsen sei und sich von ihrer Familie geliebt und unterstützt gefühlt habe (155,1). Sie habe auch heute noch eine sehr schöne Beziehung zu ihren Eltern und zu ihrer Schwester (322,1). Ihre Mutter habe eine Lehre als Schneiderin gemacht und sei dann aber Hausfrau geworden. Ihr Vater sei Bankkaufmann und war zum Zeitpunkt des Interviews bereits pensioniert. In der folgenden Sequenz beschreibt sie das Verhältnis zu ihrem Vater: (356) Martina: Und, also ich hatte, ich habe einen Alkoholiker-Vater, und ich habe von meinem Vater etwa ein Mal die Woche, also der mein 246
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Bezugspunkt war in der Familie, etwa ein Mal die Woche gehört, dass er ja eh mit 52 stirbt. Und da wäre ich dann zwölf gewesen. Ja. Also das war, das würde ich heute auf alle Fälle als gewalttätig bezeichnen und das, darauf führe ich auch andere Sachen zurück, die in meiner Psyche Spielchen spielen, aber (-)und Gewalt, also gewalttätig im Sinne von, also Alkoholiker sind grundsätzlich ignorant und grundsätzlich grenzübertretend und grundsätzlich grobmotorisch bis grob. Also, was nicht heißt, dass das bös, bösartig bewusst, oder dass ich irgendwie gefoltert, geschlagen, misshandelt oder sonst irgendwie geworden wäre, niemals, aber, diese psychische Gewalt, zu wissen, dass man einen Menschen verliert, verlieren wird, zwangsläufig, weil das sieht man als Kind nicht anders, den man, der der einzige Mensch ist, sozusagen, ist halt Gewalt. Die Erzählung wird zunächst mit der Feststellung eingeleitet, dass ihr Vater Alkoholiker war und ihren »Bezugspunkt« in der Familie darstellte. Sie charakterisiert sein Verhalten zwar als gewalttätig, aber mildert es sogleich ab, indem sie ihm vermeintlich schwerere Formen von Gewalt gegenüberstellt, nämlich Misshandlungen und Folter. Auch unterstellt sie ihm keine Absicht in seinem Tun, sondern beschreibt es als grundlegende Eigenschaften eines Alkoholikers. Martinas Überlegungen lassen vermuten, dass sie unter Gewalt ein Handeln versteht, dass absichtlich erfolgt und eine bestimmte Schwere erreicht. Da ihr Vater zudem suchtkrank ist, schreibt sie sein Verhalten seiner Erkrankung zu, wodurch er entlastet wird. Dennoch empfindet sie seine wiederholten Äußerungen, dass er in einem bestimmten Alter sterben werde, als gewalttätig, da sie den Verlust einer für sie offenbar zentralen Bindungsperson befürchten muss. Zudem habe sie als Kind seine Äußerung nicht kritisch hinterfragen können, sondern den Verlust als zwangsläufig angesehen. Das Leben mit dieser Angst ist für sie daher eine Form von psychischer Gewalt. Andrea Andrea hat zum Zeitpunkt des Interviews keine Ausbildung abgeschlossen und ist erwerbslos. Sie berichtet, dass ihr Vater Handwerker und ihre Mutter Küchenhilfe und später Hausfrau gewesen sei (248,1). Sie sagt, dass sie in ihrer Kindheit von Misshandlungen bis zu Missbrauch alles erlebt habe (206,3). Im Alter von drei Monaten sei sie für drei Jahre in ein katholisches Mädchenheim gekommen. In der folgenden Erzählsequenz beschreibt sie die Rückkehr in die Familie und den Tod ihres Vaters: (258) Andrea: Bin ich wieder da rausgeholt worden und dann in diese Familie eingeführt worden, zu meiner leiblichen Mutter und dann kam 247
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mein Erzeuger dazu. Und dann sind auch alle anderen Geschwister aus dem Heim geholt worden und dann ging der Terror los. Und als ich acht war, also nach fünf Jahren, hat sich mein Vater erhängt und meine Mutter hat uns dann weiter großgezogen. Ganz klassisch. (259) I: Na ja, nicht so klassisch, die wenigsten Väter erhängen sich. (260) Andrea: Leider. Nach ihrem Heimaufenthalt ist Andrea im Alter von drei Jahren von ihrer Mutter in eine neue Familie geholt worden, zu der offenbar auch neue Geschwister gehörten. Ihre Formulierung, in »diese Familie eingeführt worden« zu sein, zeigt, dass ihr die neue Familie fremd geblieben ist. Die Titulierung des Vaters als »Erzeuger« lässt die Vermutung zu, dass Andrea mit dem Begriff »Vater« andere Vorstellungen und Werte verbindet als sie durch diesen verwirklicht sieht. Sie betrachtet ihn als »Produzent« und als jemanden, der seiner Rolle als Vater nicht gerecht geworden ist. Mit der Formulierung »Terror« umschreibt sie die Zeit, in der sie physisch und sexuell misshandelt wurde, als Schreckensherrschaft. Schließlich erhängte sich ihr Vater. Andreas Äußerung, dass sich »leider« nicht alle Väter erhängen, ist ein Hinweis auf ihre große Wut auf ihren Vater. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese in dem sexuellen Missbrauch begründet ist, wobei offen bleibt, ob er der Täter war oder aber ob sie sich nicht von ihm beschützt gefühlt hat.
Zwischenfazit Martina stellt in der Darstellung ihrer Biographie explizit die Gegensätzlichkeit zu Andrea heraus. Sie sei im Gegensatz zu Andrea wohlbehütet aufgewachsen und könne auf eine generationsübergreifende Familienstruktur zurückgreifen. Entgegen ihrer Beschreibung scheint die Familie dennoch einen dysfunktionalen Aspekt aufzuweisen, der sich in der Suchterkrankung ihres Vaters zeigt. Diese kann wesentlich dazu beigetragen haben, dass Martina ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstvertrauen von den Reaktionen ihrer Umwelt abhängig macht und mittels ihrer Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit Liebe einfordert. Andrea wiederum hat sehr früh in ihrer Kindheit die Erfahrung von Verlassenwerden gemacht, als sie in ein Kinderheim gebracht worden war. Anschließend kehrte sie in ihre Familie zurück, die ihr jedoch fremd geblieben ist. Sie ist wenigstens bis zu ihrem 8. Lebensjahr sexuell missbraucht worden, wobei offen bleibt, ob ihr Vater der Täter war. Dieser beging Suizid.
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AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
Das Kennenlernen Beide Frauen erzählen, dass sie sich in einem Frauenzentrum, in dem sie sich ehrenamtlich engagiert hätten, kennen gelernt haben. Martina beschreibt das Kennenlernen wie folgt: (9) Martina: Kennen gelernt habe ich sie in einer Kneipe, in der ich arbeite, und ich kannte sie vom Sehen schon sehr viel länger und fand sie schon ziemlich lange ziemlich toll, daran kann sie sich aber nicht mehr erinnern, das ist auch ziemlich bezeichnend für diese Beziehung. Und (-), das ist jetzt drei, also es war Sommer 98, dass ich mich wirklich verliebt habe und im März 99 sind wir zusammengekommen. Die Erzählsequenz wird damit eingeleitet, dass sie bereits länger von Andrea angetan war, diese sich jedoch nicht daran erinnern könne. Die darauf folgende Wendung, dass das bezeichnend für die Beziehung gewesen sei, legt die Vermutung nahe, dass sie Andrea eine wiederkehrende Tendenz zuschreibt, ihre Gefühle nicht wahrzunehmen, und die damit einhergehende Enttäuschung noch in die Gegenwart hineinwirkt. Sie kehrt dann erneut zum Kennenlernen zurück und beschreibt ihre emotionale Hinwendung zu Andrea als einen Prozess von »toll finden« bis hin zu »wirklich verliebt«. Schließlich habe es noch ein dreiviertel Jahr gedauert, bis beide zusammengekommen seien. Die Erzählung über das Kennenlernen nimmt in Martinas Interview nur einen kleinen Raum ein und ist von ihrer Enttäuschung über den Verlauf der Beziehung überlagert. Andrea berichtet ebenfalls, dass sich beide Frauen schon einige Jahre gekannt hätten. Sie schildert den Moment, an dem ihr Interesse für Martina geweckt wurde, wie folgt: (21) Andrea: Nach zwei Jahren ist mir eine Stelle an ihrem Hals aufgefallen, die ich, glaube ich, sehr erotisch fand. Ich weiß es nicht mehr so genau. Doch, ich weiß es eigentlich ganz genau. Es war der Hals, und ich habe sie immer als sehr gesprächig empfunden und an dem Abend war ich sehr gesprächig und sie hat extrem zugehört und ich glaube an dem Abend war es so, dass ich Interesse hatte, sie kennen zu lernen. Andreas Schilderung über das Kennenlernen beginnt mit einem Detail, nämlich dass ihr eine besondere Stelle am Hals von Martina aufgefallen sei, die sie als erotisch empfunden habe. Ihre Detailgenauigkeit deutet 249
DAS FREMDE IN MIR
hier auf einen romantischen Blick auf das Geschehen hin. Sie vergewissert sich ihrer Erinnerung und erzählt dann von dem Moment, der ihr Interesse an Martina geweckt habe: Martina habe an diesem Abend entgegen ihrer üblichen Gesprächigkeit »extrem zugehört«. An dieser Formulierung zeigt sich, dass es ihr wichtig war, dass ihr jemand zuhört und dass es für sie etwas Besonderes war. Es scheint, als ob dieses »Besondere« Andreas Interesse an Martina erweckt hat. Andrea erzählt im Folgenden, dass Martina in den vorangegangenen zwei Jahren immer wieder geäußert hätte, dass sie mit einem Mann zusammen sei, und Andrea glaubt, dass sie sich unbewusst daher auch nicht für sie geöffnet habe (21,6). Doch irgendwann habe Martina angefangen, Andrea zu verwirren, weil sie sagte, dass sie doch eine Lesbe sei (21,7). Andrea hat sich in Martina (23,2) verliebt und eines Tages hätten sie sich verabredet. Sie habe Martina erzählt, dass sie viel an sie habe denken müssen und Martina habe geantwortet, dass sie von Andrea geträumt habe. Sie seien nächtens Hände haltend durch die Stadt gegangen (25,7). _______________________ In dieser Erzählsequenz erläutert Andrea, warum sie sich erst nach zwei Jahren für Martina interessiert habe und begründet das mit Martinas Partnerschaft mit einem Mann. Wegen der vorhandenen Beziehung und der mutmaßlichen Heterosexualität von Martina habe sie sich dieser daher nicht geöffnet. Martinas Äußerung, dass sie lesbisch sei, habe sie daher auch erst einmal verwirrt. Im Folgenden erzählt sie eine weitere Episode des Kennenlernens, in der beide bereits in einander verliebt gewesen seien. Auch hier ist ihre Beschreibung detailliert, was wiederum einen romantischen Blick auf diese Begegnung vermuten lässt. In der nachstehenden Sequenz nimmt Andreas Erzählung eine Wendung und sie formuliert erstmals negative Gefühle, die mit ihrer Beziehung zu Martina verbunden sind: (27) Andrea: Dann ging erst mal das Dilemma los, dass sie ihren Freund verlassen hat. Was ich schon als unangenehm empfand, so dieser nahtlose Wechsel, aber zu verliebt war, um sie irgendwie (-)Also, ich fand es schon komisch irgendwie, habe es aber auch genossen und habe mit dem Mann schon ein Stück weit gelitten. Also ich fand es nicht fair. Das kann ich heute nach drei, vier Jahren klar formulieren. Aber damals habe ich es gespürt, dass ich es nicht fair finde. Andrea steht Martinas Trennung von ihrem vormaligen Partner ambivalent gegenüber: Einerseits stellt sie diese als »Dilemma« dar, was eine 250
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
Zwangslage beschreibt, die eine Entscheidung zwischen zwei gleichgünstigen bzw. -ungünstigen Möglichkeiten fordert. Diese Formulierung lässt vermuten, dass sie die Partnerschaft zu einem Mann als gleichwertig zu ihrem Lesbischsein betrachtet. Sie fühlt mit dem verlassenen Partner und leidet sogar ein »Stück weit« mit ihm. Zudem empfindet sie den nahtlosen Übergang als unangenehm. Andererseits genießt sie ihre nun beginnende Partnerschaft mit Martina. Sie ist verliebt, was sie offenbar davon abhält, auf das Geschehen einzuwirken. Aufgrund der Formulierung, dass sie die Trennung als »nicht fair« empfunden hat, kann angenommen werden, dass sie die eigene Trennung als ebenfalls »nicht fair« betrachtet und Parallelen zwischen sich und dem verlassenen Partner sieht. Diese Annahme wird ebenfalls gestützt von ihrer darauf folgenden Äußerung, dass sie das nun nach »drei, vier Jahren« deutlich formulieren kann, während es damals vor allem ein Gefühl gewesen sei. Noch zwei Jahre nach der Trennung vermittelt Andreas Beschreibung der Partnerschaft ein positives Gefühl gegenüber ihrer damaligen Partnerin Martina. Sie beschreibt einzelne Situationen, so etwa die, als ihr Interesse geweckt wurde, den nächtlichen Spaziergang und schließlich Martinas Trennung von ihrem vorherigen Partner, detailliert und teilweise auch romantisierend, wobei die Wendung hin zur ersten Formulierung negativer Gefühle mit der Beschreibung der Trennung vom männlichen Partner einhergeht. Demgegenüber beschreibt Martina das Kennenlernen kurz und weniger detailreich. Es entsteht der Eindruck, dass diese Erzählsequenz von ihrer noch in die Gegenwart wirkenden Enttäuschung überlagert ist. Während Martina Andrea von Beginn an als ignorant beschreibt, zeichnet Andrea ein positives Bild von Martina.
Wünsche und Hoffnungen an die Beziehung Martina Die folgende Erzählsequenz dokumentiert Martinas Erwartungen an eine lesbische Beziehung: (261) Martina: Für mich persönlich die ideale, die Traumvorstellung von einer Beziehung ist auf jeden Fall gleichberechtigt. (262) I: Was heißt das? (263) Martina: Gleiche Anteile von, oder beide Bedürfnisse werden in gleichem Maße berücksichtigt von beiden Frauen. Also, das ist das, was ich von Frauenbeziehungen noch einmal stärker erwarte, als ich es aus 251
DAS FREMDE IN MIR
meinen ehemaligen heterosexuellen Leben kenne. Also schon von Natur aus gleich sozialisiert zu sein oder ähnlich sozialisiert zu sein, nämlich nicht, ich bin ein Mann in einer heterosexuell dominierten Gesellschaft. Also zwei gleichgeschlechtliche Partner, da denk ich schon mal ebenbürtig, wenn es auch Ausnahmen gibt. Also das ist für mich das Ideal. Die Erzählsequenz wird von Martinas Schilderung ihrer Idealvorstellung einer lesbischen Partnerschaft eingeleitet. Sie glaubt, dass aufgrund desselben Geschlechts und gleicher Sozialisation in einer lesbischen Beziehung eher Gleichheit hergestellt werden könne als in einer gegengeschlechtlichen Partnerschaft. Unter Gleichberechtigung versteht sie dabei, dass die Wünsche und Vorstellungen beider Partnerinnen gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Formulierung »ebenbürtig« legt zudem nahe, dass sie annimmt, dass die Partnerinnen einander geistig, kulturell, sozial und physisch gewachsen sind. Sie betrachtet das Geschlechterverhältnis als Hindernis für die Verwirklichung von Egalität und sieht die Ursache für Ungleichheit vor allem in der geschlechtlichen Differenz begründet. Dadurch scheint es, als ob andere Differenzen, beispielsweise sozialen Unterschiede, durch die gemeinsame Sozialisation als Frau überwunden werden können. Auch wenn sie sich dessen bewusst zu sein scheint, dass es Ausnahmen gibt, hegt sie die Hoffnung, ihre Idealvorstellung verwirklichen zu können. Martina erzählt weiterhin, dass sie ihre »Liebesbeziehung« als ebenso wichtig erachten würde wie die Beziehung zu ihren besten Freundinnen (263,15). Bezüglich sexueller Monogamie sagt sie, sie könne sich vorstellen, monogam zu leben, wenn ihre Partnerin sich das wünsche (261,3), jedoch habe dies keine Bedeutung für sie (263,6). Sie habe viele Menschen, mit denen sie unterschiedliche Sachen mache und durch die auch unterschiedliche Bedürfnisse befriedigt würden. Es sei ihr wichtig, dass sie für ihre Freunde und Freundinnen wichtig sei (269,2-4). Nicht zuletzt sei es auch wichtig, gemeinsame Werte zu teilen, so würde sie sich sofort wieder »entlieben«, wenn ihre Partnerin beispielsweise ausländerfeindlich sei (269,8). Die nachstehende Erzählsequenz erläutert ihre Vorstellung von Beziehung näher: (270) I: (-)Kannst du es dir vorstellen eine gemeinsame Haushaltskasse zu führen, einen beidseitigen Zugriff zum Konto, also so was, Patientenverfügungen, irgendwelche (-)fürsorglichen Dinge, gehören die damit rein?
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AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
(271) Martina: Ja, auf alle Fälle, und da auch nicht nur auf die Liebesbeziehung auch auf den engeren Kreis (272) I: Nicht auf die Liebesbeziehung …? (273) Martina: Nicht nur. Ich kann mir das mit den Menschen, die mir sehr eng sind, vorstellen. Auch so Sachen. Ich habe, ich habe mit meiner ehemaligen WG, mit meinen zwei besten Freundinnen, Freunde haben wir so was gemacht, eine Patientenverfügung z.B. und eine gemeinschaftliche Haus-, Haftpflichtversicherung. Also, das ist für mich selbstverständlich, wenn in meiner Wohngemeinschaft oder in meinem engsten Kreis, wenn da eine Krankheit, dass ich natürlich die Menschen mit versorgen würde, oder ich würde mich darauf verlassen, dass das auch passiert, wenn es in meinem Falle wäre. Anhand der Formulierung »Liebesbeziehung« zeigt sich, dass Martina zwischen ihrer Partnerin und ihrem engsten Freundinnenkreis dahingehend unterscheidet, dass »Liebe« ein tragendes Moment der Partnerinnenschaft darstellt. Auf der funktionalen Ebene wiederum teilt sie Aufgaben und Pflichten mit dem Freundes- und Freundinnenkreis, beispielsweise hat sie eine Patientenverfügung6, in der sie offenbar eine ihrer engeren Freundinnen zur Vertreterin bestimmt hat, oder teilt eine Haftpflichtversicherung mit diesen. Im Falle einer Krankheit ist es für sie »selbstverständlich«, die- oder denjenigen »mit zu versorgen«. Gleichzeitig »verlässt« sie sich darauf, dass dies umgekehrt ebenso zutrifft. Ihre Formulierung, sich darauf zu »verlassen«, lässt vermuten, dass Martina hier von einer starken Verbindlichkeit ausgeht. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch das Einbeziehen des Freundeskreises in die Organisation persönlicher Belange der hervorgehobene Status der Partnerschaft relativiert wird, wenn die Partnerin diese Form der Aufgabenverteilung nicht teilt. Die folgende Sequenz dokumentiert, dass neben der »Liebe« als bedeutsames Unterscheidungsmerkmal zwischen ihrer Partnerin und ihren engsten Freundinnen auch die Sexualität wichtig ist: (275) Martina: [Lachen] Ich habe jetzt Sex mit meiner Liebesbeziehung ausschließlich. Aber ich fände es auch sonderbar, wenn ich sagen müsste, das kommt niemals in Frage mit meiner besten Freundin. Also ne 6
Die Patientenverfügung ermöglicht dem Patienten oder seinem Vertreter, in eine medizinische Behandlung einzuwilligen oder diese abzulehnen. Die Behandlungsentscheidung kann sich dabei auf lebensverlängernde Maßnahmen im Sterbensfall oder bei einem unmittelbaren Bewusstseinsverlust beziehen oder sogar weiter gefasst sein. 253
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gewisse Sexualität in Anführungszeichen, habe ich ja auch, wenn ich sie zur Begrüßung küsse oder sie umarme, weil es ihr schlecht geht oder auch einfach, weil es ihr gut geht und wir uns zusammen freuen. (276) I: () Sexualität (277) Martina: Also, es ist keine sexuelle Lust dabei, also die Körperlichkeit, ich kann () […] (283) Martina: Also, ich denke, es ist eine der wenigen, die ich da so nehme als, als explizit auf die Liebesbeziehung beschränkt. Allerdings erzählt sie auch, dass es Situationen mit besten Freundinnen gegeben habe, in denen sie sexuelle Lust verspürt habe (281,3). Die Sequenz wird damit eingeleitet, dass Martina feststellt, dass sie »jetzt« ausschließlich mit ihrer Liebesbeziehung Sex habe. Ihre zeitliche Umschreibung legt nahe, dass diese Aussage den aktuellen Zeitrahmen umfasst, wobei offen bleibt, ob sich dieser auch auf ihre Partnerschaft mit Andrea bezieht, da das Paar seit zwei Jahren getrennt ist. Im darauf folgenden Satz tritt eine Wendung ein und sie schränkt die Gültigkeit ihrer Aussage dahingehend ein, dass sie für sich nicht völlig ausschließen kann, auch mit ihren besten Freundinnen Sex zu haben. Sie erzählt sogar, dass sie in bestimmten Situationen mit dieser sexuelle Lust verspürt habe. Dann erfolgt eine erneute Wendung ihrer Argumentation und sie kehrt zu der eingangs geäußerten Ausführung zurück, dass die Sexualität explizit auf die Liebesbeziehung beschränkt ist. Hier fällt nun der aktuelle Bezug weg, wodurch ihre Äußerung nun eine Allgemeingültigkeit erhält, die sie eingangs nicht hatte. Der von Martina eingeführte ›Exkurs‹ relativiert dennoch die Gültigkeit ihrer Aussage. Er legt die Vermutung nahe, dass sich bei Martina ein Wandel ihrer Einstellung vollzogen hat, wobei zuvor sexuelle Monogamie nicht notwendigerweise ihren Überzeugungen entsprach, das aber möglicherweise auf die Gegenwart zutrifft. Martinas Vorstellungen bezüglich der Gestaltung der Partnerschaft weichen von dem tradierten Modell einer monogamen Zweierbeziehung ab; sie ordnet ihrem engeren Freundes- bzw. Freundinnenkreis, Verantwortungen und Pflichten zu, die in einer traditionellen Zweierbeziehung originär von der Partnerin erfüllt werden, so beispielsweise die Verantwortung, die mit einer Patientenverfügung verknüpft ist. Dadurch wird die Partnerin ihres besonderen, hervorgehobenen Status’ enthoben; nach 254
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
Martinas Vorstellung liegen die Unterschiede zwischen ihren besten Freundinnen und ihrer Lebensgefährtin im Vorhandensein von Liebe und in der Sexualität, die sie zumindest in der Gegenwart nur mit dieser teilt. Ihre Äußerung, dass es ihr »wichtig« sei, für ihre Freundinnen »wichtig zu sein«, weist auch darauf hin, dass ihre Vorstellung von Beziehung und die damit verbundene Gleichwertigkeit der engeren Freundinnen möglicherweise in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung und Zuneigung begründet liegt: Sie möchte, dass die Bedeutung, die andere für sie haben, sie auch für diese hat. Andrea Andrea wiederum antwortet auf die Frage der Interviewerin, wie sie sich eine ideale Beziehung vorstelle, dass sie glaubte, diese mit Martina gefunden zu haben (154,1). Die Beziehung zu Martina sei dadurch gekennzeichnet gewesen, dass beide sich sehr viel Sicherheit gegeben und sich unterstützt hätten (154,3). Eine Idealbeziehung bedeutet für Andrea, »den anderen zu unterstützen in seinen Ideen und Wünschen«, auch wenn sie damit nicht »klar kommen« würde (154,5). Die folgende Sequenz dokumentiert Andreas Schwierigkeit, ihre Erwartungen und Hoffnungen an eine Beziehung zu formulieren: (155) I: Und was hätten Sie gern? (156) Andrea: Was hätte ich gerne? Was hätte ich gern? (157) I: Jetzt haben Sie erzählt, was Sie geben: Unterstützung, Vertrauen, auch was zu tragen. Und was hätten Sie gerne? (158) Andrea: Kann ich grad nicht sagen. Ich glaube ich bin noch nicht soweit, eine Beziehung eingehen zu können. Zu sagen, was ich gerne hätte (-)Ich bin jetzt zweieinhalb Jahre nicht mehr mit Martina zusammen und bin noch ziemlich geschockt über die Trennung und mit dem Ausweis von Gewalt, den ich da reingetragen habe. Ich kann das jetzt nicht formulieren. Die Erzählsequenz wird mit der Frage der Interviewerin eingeleitet, was Andrea sich von ihrer Partnerin erhofft bzw. von dieser bekommen möchte. Andrea glaubt nicht, gegenwärtig eine Beziehung eingehen zu können oder zu sagen, was sie gerne hätte. Andreas Antwort weist auf eine große Verunsicherung hinsichtlich der Wahrnehmung und Benennung eigener Bedürfnisse hin. Da sie nach wie vor über die Trennung und ihr gewalttätiges Verhalten »geschockt« ist, kann angenommen werden, dass sie die Beziehung auch nach mehr als zwei Jahren emotio255
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nal noch nicht verarbeitet hat. Das wiederum schlägt sich in einer Idealisierung ihrer Beziehung zu Martina und einer damit einhergehenden mangelnden Abstraktionsfähigkeit nieder. Da sie zuvor jedoch erzählt hat, dass sie sich in einer idealen Partnerschaft vorstellt, ihre Partnerin in deren Lebensgestaltung zu unterstützen, eröffnet sich eine Diskrepanz zwischen ihren Vorstellungen, was sie in einer Beziehung geben, und dem, was sie erhalten möchte. Ersteres kann sie formulieren, Letzteres nicht. Dieser emotionale Bruch lässt vermuten, dass Andrea zum einen Schuldgefühle entwickelt hat, ob der Gewalt, die sie »da reingetragen« hat, und zum anderen diese ihr einen Zugang zur eigenen Bedürftigkeit verwehren. Im Folgenden äußert Andrea auf das Nachfragen der Interviewerin dann doch noch einige Erwartungen an eine lesbische Partnerschaft. So möchte sie nicht mit ihrer Partnerin zusammenwohnen (160,1). Auch wünscht sie sich sexuelle Monogamie und kann sich nicht vorstellen, mit einem Menschen zusammen zu sein, der noch »hier und da ein Techtelmechtel« hat (162,4). Wie eingangs bereits dargestellt, war es für Andrea etwas Besonderes, dass Martina ihr in einer bestimmten Situation »extrem zugehört« habe. Ihre Schilderung dieser Situation weist auf ihre emotionale Bedürftigkeit und ihren Wunsch, umsorgt zu werden, hin; sie glaubt, in ihrer Bedürftigkeit bei Martina aufgehoben zu sein.
Die Sexualität in der Partnerschaft Die Sexualität in der Beziehung erhält eine besondere Symbolik, da sie sowohl für Martina als auch für Andrea von großer Bedeutung war. Nach Martinas Wahrnehmung stellt diese ein essenzielles Kommunikationsmittel in der Partnerschaft dar und gewährleistet so den Zusammenhalt der Partnerschaft. Martina erzählt, dass sie anfänglich »schönen Sex« gehabt hätten (9,4), wobei Andrea aufgrund ihrer Missbrauchserfahrungen nach einem halben Jahr jedoch keine Sexualität mehr habe leben können. Sie habe ihre Partnerin aber niemals gedrängt oder bedrängt (33,2), sondern habe die Initiative vielmehr ihrer Partnerin überlassen (33,3-4). Auch habe sie sich nicht einmal mehr selbst sexuelle Bedürfnisse zugestanden, weil sie Angst gehabt habe, Andrea dadurch unter Druck zu setzen. Da sie keine sexuellen Ambitionen entwickelte, habe sie sich »edel« und »altruistisch« fühlen können (37,1). Auch hatte sie sehr viel Verständnis für ihre Partnerin, weil sie befürchtete, dass Andrea bei sexuellen Erwartungen ihren Vergewaltiger vor sich sehen würde (37,3). Andrea habe jedoch nicht geglaubt, dass sie tatsächlich keinen Sex wolle und habe eifersüchtig auf andere Frauen reagiert (45,5-6). Das wiederum habe zu zahlreichen Konflikten mit den Personen in Martinas 256
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
Umgebung geführt. Martina erzählt, dass sie immer wieder versucht habe, Andrea das Gefühl zu geben, dass sie sie liebe und sie sich keine Sorgen machen müsse (55,3). Andrea habe das ab und zu rational greifen können, aber nicht immer und dann habe ihre Angst, Trauer, Wut oder Verletztheit dominiert (55,5). In solchen Situationen habe Martina das Verhalten von Andrea »ignoriert«, da sie wusste, »was Sache ist« (57,4). Teilweise seien die Konflikte derart eskaliert, dass Andrea und Martinas Freundin sich angeschrien hätten. Die Freundin habe gefragt, was sie Andrea getan habe, und diese habe geantwortet: »Du willst mit meiner Freundin vögeln« (57,7). Martina erzählt weiterhin, dass ihr schließlich die Sexualität nicht mehr gefehlt habe. Auch habe sie sich aufgrund der Problematik um den sexuellen Missbrauch noch nicht einmal mehr sexuelle Fantasien zugestanden und habe auch nicht masturbiert. Wenn sie sexuelle Fantasien hatte, habe sie sich schuldig und als Täter gefühlt (217,2). Gerade weil sie ihre eigene Sexualität in dieser Beziehung unterdrückt habe, sei sie umso wütender gewesen, dass Andrea ihr vorgeworfen habe, sie hätte sich nur wegen Sex getrennt (213,1). Ihre sexuelle Lust habe aber sofort nach der zweiten, endgültigen Trennung wieder eingesetzt. Andrea wiederum erzählt anfänglich, dass die Sexualität in der Beziehung »nicht wirklich befriedigend« gewesen sei, »weder für Martina noch für mich« (33,3). Später wiederum beschreibt sie die gemeinsam erlebte Sexualität als sehr harmonisch, so seien beide sehr sensible Menschen und hätten daher auch teilweise einfach erspürt, was die andere wolle oder nicht (191,3). Andrea kann sich jedoch auch an eine sexualisierte Grenzüberschreitung erinnern. Martina wollte sie in der Öffentlichkeit küssen, obwohl Andrea dabei unwohl gewesen sei, weil Menschen »glotzten«, und sie sagte, dass sie das nicht wolle. Martina wollte sie trotzdem küssen, was Andrea als grenzüberschreitend empfand (192,1). Auch äußert sie, dass es ihr lieber gewesen wäre, wenn Martina »einen Seitensprung riskiert« hätte, als die Partnerschaft aufzugeben (162,1); Martina hätte immer gesagt, sie »suche ihre Leichtigkeit« und trenne sich von ihr (162,2). Andrea ist der Auffassung, dass sie einen Seitensprung eher »getragen« hätte als eine »komplette Trennung« (162,3). _______________________ Beide Frauen schildern gleichermaßen, dass es in der Beziehung eine Phase gegeben habe, in der der Sex »schön« bzw. »harmonisch« gewesen sei. Die sexuellen Probleme, die dann aufgetaucht sind, werden von beiden sehr unterschiedlich wahrgenommen:
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Martina hat das Gefühl, sich sexuell sehr zurückzunehmen, und erwartet dafür Liebe und Anerkennung von Andrea. Daher ist sie auch wütend auf Andrea, weil diese das große Opfer, das sie bringt – nämlich jegliche sexuellen Regungen zu unterdrücken – nicht hinreichend würdigt. Aufgrund ihrer hohen Opferbereitschaft nimmt sie sich dabei nahezu als ›Märtyrerin‹ wahr. Ihr selbstzurücknehmendes Verhalten bestärkt ihre Eigenwahrnehmung als fürsorgliche, aufopfernde ›Mutter‹. Zugleich erwartet sie dafür Dankbarkeit von ihrem ›Kind‹, die ihr Andrea jedoch versagt, indem sie ihr unterstellt, sich genau wegen der fehlenden Sexualität getrennt zu haben. Nach Martinas Wahrnehmung war Andrea sehr in ihrer Sexualität verunsichert und reagierte eifersüchtig auf ihre Freundinnen. Ihre Beschreibung von Andreas eifersüchtigen Reaktionen legen zudem die Vermutung nahe, dass sie sich als sexuell begehrenswert wahrnimmt, was wiederum ihr sexuelles Entsagen erhöht. Andreas Schilderung der gemeinsam erlebten Sexualität wiederum ist teilweise sehr widersprüchlich, da sie diese zwar als »harmonisch«, aber auch als sehr unbefriedigend darstellt. Ihre Formulierung »harmonisch« weist dabei auf ihre Sehnsucht nach Einssein mit ihrer Partnerin hin. Gleichzeitig ist ihr bewusst, dass die Sexualität weder für sie noch für ihre Partnerin sehr befriedigend gewesen sei. Sie berichtet sogar von einer Situation, in der sie Martinas Verhalten als sexuell übergriffig empfunden hat, und schließlich ist sie auch der Auffassung, dass sich Martina wegen der fehlenden Sexualität von ihr getrennt habe. Auch unterstellt sie Martinas Freundinnen ein sexuelles Interesse, was wiederum zu Konflikten geführt hat. Diese Widersprüchlichkeit ist möglicherweise Ausdruck ihrer nicht erfolgten Ablösung aus der Beziehung. Das sie diese nach wie vor aufrechterhalten bzw. wiederhaben möchte, imaginiert sie diese retrospektiv positiv. In Andreas Biographie wird deutlich, dass sie als Kind sexuell missbraucht worden ist. In ihrer Darstellung der Konflikte um Sexualität thematisiert sie das jedoch nicht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass das durch das Erleben des sexuellen Missbrauchs erfolgte Trauma die Sexualität der Partnerschaft stark beeinflusst hat. Andreas mögliches Trauma wiederum hat Martina die Möglichkeit eröffnet, ihr Idealbild einer fürsorgenden, aufopfernden ›Mutter‹ zu verwirklichen.
Beschreibung der Beziehung Martina charakterisiert die Beziehung als stark von sozialen und intellektuellen Unterschieden geprägt (9,5). So sei sie Akademikerin (149,1), während Andrea einen Hauptschulabschluss habe (151,2). Sie halte ihre Partnerin jedoch für eine »äußerst intelligente« Person und habe ihr das 258
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
auch immer wieder gesagt (153,3). Als einzige gemeinsame Ebene sei die Körperlichkeit vorhanden gewesen; die Kommunikation hätte vor allem über Sexualität und Tanzen stattgefunden (9,4). Da es sonst keine »großen Verbindungen« gegeben hätte, sei es dann auch im Laufe der Beziehung »ziemlich schwierig« geworden (9,5). Sie beschreibt die intellektuellen Differenzen derart, dass sie und ihre Partnerin keine verbale Ebene miteinander gefunden hätte (11,5). Es hätte immer eines weiteren Schrittes bedurft, oft auch mit körperlicher Kommunikation, um Missverständnisse, die in der verbalen Kommunikation entstanden seien, auszugleichen (11,6). Durch die körperliche Kommunikation wie beispielsweise auch Mimik würde eine gefühlsmäßige Bestätigung der anderen stattfinden und könnten so Missverständnisse ausgeräumt werden. Fände diese gefühlsmäßige Bestätigung nicht statt, würde die Kommunikation sehr schnell sehr schwierig werden (11,9). Auch könne sie nichts mit Andreas Freunden anfangen und diese nichts mit ihren. Es sei schon wie eine kleine Insel gewesen; gemeinsame Bekannte hätten sie dann auch zusammen kennen gelernt (11,1). Bereits nach einem halben Jahr habe aber die Sexualität rapide abgenommen, was Martina auf die Erfahrungen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit ihrer Partnerin zurückführt (11,3). _______________________ Weil eine gemeinsame soziale und intellektuelle Basis fehlte, seien sie letztlich nur durch Sexualität und Körperlichkeit miteinander verbunden gewesen. Beide Aspekte waren die tragenden Kommunikationsmittel. Martinas Beschreibung der Interaktion zwischen ihr und Andrea ähnelt einer vorsprachlichen frühen Eltern-Kind-Beziehung, in der der Säugling soziale Signale mittels Gesten und Vokalen sendet.7 Martina deutet 7
Erst im Alter von neun bis zwölf Monaten verständigen sich die Säuglinge vermehrt durch Gesten und Vokalisationen. Die Eltern-Kind-Interaktion dient dem Aufbau einer Bindung mit den Eltern, durch die Fürsorge und Schutz des Säuglings gewährleistet wird. Die frühe Interaktion mit engen Bezugspersonen ist bedeutend für die Persönlichkeitsentwicklung, wobei in der Bindungstheorie eine positive Entwicklung »als eine gelungene Integration von Autonomie und emotionaler Verbundenheit« verstanden wird (Ziegenhain 2001:154). Aus bindungstheoretischer Sicht gibt es drei grundlegende Bindungsrepräsentationen, die sichere, die unsicher-distanzierende und die unsicher-präokkupierte (vgl. hierzu Gloger-Tippelt 2001). In der sicheren Bindungsrepräsentation findet sich ein Gleichgewicht zwischen Autonomie und Verbundenheit/Abhängigkeit, die dem »Bedürfnis nach individualisierter Beziehung und Zuwendung jenseits der Befriedigung allgemeiner körperlicher oder psychologischer Bedürfnisse« entspringt (Ziegenhain 2001:155). Auch wenn sich nach Ziegenhain die sichere autonome Bindungsrepräsentation gleichermaßen bei Erwachsenen 259
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an, dass die Sexualität bereits nach einem halben Jahr »rapide« abgenommen habe und führt das auf Andreas Erfahrung von sexuellem Missbrauch zurück. Ihre Fokussierung auf Andreas Biographie als Begründung für die abnehmende Sexualität lässt vermuten, dass sie mögliche Probleme in der Partnerschaft und eine damit verbunden eigene Beteiligung nicht als Ursache für die abnehmende Sexualität ansieht. Da die Sexualität ein wesentliches Mittel der Kommunikation darstellt, deutet sich mit dessen Wegfall bereits hier eine starke Belastung bzw. Gefährdung der Partnerschaft an. _______________________ Demgegenüber berichtet Andrea, dass sie die ersten ein- bis eineinhalb Jahre sehr glücklich gewesen sei und sich »noch nie so sicher gefühlt habe in einer Beziehung wie mit dieser Frau« (27,6). Sie empfinde das auch heute noch so und sagt, dass das eine »tolle Beziehung« gewesen sei (27,7). Nach zwei Jahren sei die Beziehung jedoch »schon ziemlich bergab« gegangen (29,1) und die Konflikte hätten vor allem im letzten halben Jahr zugenommen. Sie erzählt, dass die Sexualität auch »total darunter gelitten« habe (29,2). Die folgende Erzählsequenz beschreibt die Problematik der Partnerschaft aus Andreas Sicht: (33) Andrea: Also, einmal ging unsere Beziehung bergab, weil wir nicht miteinander kommunizieren konnten und wir konnten nicht miteinander streiten. Das war dann so, dass ich dann meistens gegangen bin. Also, den Streit, dass ich da rausgegangen bin und Martina damit ziemlich alleine gelassen habe, und unsere Sexualität war nicht wirklich befriedigend, weder für Martina noch für mich. Andrea sieht die Schwierigkeiten in der Partnerschaft ebenfalls in der problematischen Kommunikation begründet. Sie ist der Auffassung, dass sie nicht miteinander streiten konnten, was sich darin gezeigt hätte, dass sie in den Konflikten meist gegangen sei. Das hätte zur Folge gehabt, dass sie Martina dann »damit« alleine gelassen habe. Es liegt die Vermutung nahe, dass sie mit der Formulierung »damit« Martinas Gefühlslage in dieser Situation meint. Auch erzählt sie, dass ihre Sexualität weder für sie noch für Martina befriedigend gewesen sei. Andreas zeitlimit positiven und mit negativen Kindheitserfahrungen finden, zeigt sich bei den anderen Bindungsrepräsentationen eine Auffälligkeit hinsichtlich zahlreicher »unangenehmer« Erlebnisse und Erinnerungen in der Kindheitsgeschichte (Gloger-Tippelt 2001:175). Das wiederum lässt vermuten, dass Erfahrungen in der Kindheit das spätere Bindungsverhalten eines Erwachsenen wesentlich beeinflussen können. 260
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che Beschreibung der Partnerschaft weist darauf hin, dass sie die ersten eineinhalb Jahre »sehr glücklich« gewesen ist und die Probleme erst später virulent geworden sind. Nach zwei Jahren war die Beziehung dann stark belastet, wobei die Konflikte im letzten halben Jahr zugenommen haben. Diese zeitliche Ausdifferenzierung kommt in Martinas Beschreibung der Partnerschaft demgegenüber nicht zum Tragen. Hinsichtlich der Problematik um die unbefriedigende Sexualität lässt sich in Andreas Erzählung eine Wendung ausmachen: Zuerst bringt sie diese in Zusammenhang mit den aufkommenden Konflikten, so habe ihre Sexualität »total darunter gelitten«. Wenig später nimmt sie erneut Bezug auf die Sexualität: Entgegen ihrer zeitlichen Ausdifferenzierung der Konfliktentwicklung scheint ihre Äußerung, dass ihre Sexualität »nicht wirklich befriedigend« gewesen sei, nun eher allgemein gehalten zu sein. Das wiederum lässt vermuten, dass sie diese nun als ein grundlegendes Problem der Partnerschaft betrachtet, das unabhängig von der zeitlichen Entwicklung der Konflikte vorhanden ist. Diese Wendung weist auf eine rückblickende Relativierung der glücklichen Anfangszeit der Partnerschaft hin. Die nachfolgende Erzählsequenz dokumentiert die hervorgehobene Bedeutung von Sicherheit in Andreas Beziehung zu Martina: (81) Andrea: Für mich war schlimm, weil Martina und ich schon so auf einer rosa Wolke waren und gegenseitig viel Sicherheit gegeben haben. Oder sie mir, das kann ich sagen. Wie sie das so sieht, weiß ich nicht. Aber ich habe soviel Sicherheit gespürt, dass ist so unglaublich. Ich glaube, das hat mich, das lässt mich oder das hat mich wach gerüttelt. [weint] (-)Sorry. (82) I: (-)Diese Sicherheit in der Beziehung, wie kam das, woran machen Sie das fest? (83) Andrea: Das habe ich festgemacht oder das mache ich fest oder bei Martina habe ich es festgemacht daran, wie wir mit Eifersucht umgegangen sind beide, also, wir haben es uns erlaubt, eifersüchtig zu sein in unserer Beziehung und hatten damit einen offenen Umgang und offenen okaynen Umgang. (84) I: Was meinen Sie damit? (85) Andrea: Wenn ich eifersüchtig war, sie ganz nahe kam und sagte, das ehrt sie, dass ich eifersüchtig bin, so. Also wir hatten einen okaynen Umgang. Wir haben Eifersucht nicht einfach in die Tonne getreten. Wir haben nicht gesagt, das geht nicht, du musst nicht eifersüchtig sein, es 261
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gibt keinen Grund, sondern wir haben das zugelassen, dass die andere eifersüchtig ist und wenn sie eifersüchtig war, bin ich ähnlich auf sie zugegangen und habe ihr gesagt, dass ich das süß finde, dass sie eifersüchtig ist. Ja, so, so sind wir damit umgegangen und das war für mich, das hat mir Spaß gemacht, glaube ich. (86) I: Das hat Ihnen Sicherheit gegeben? (87) Andrea: Also, das ist ein Teil, warum ich mich sicher gefühlt habe, weil eigentlich alles erlaubt war in unserer Beziehung an Gefühlen und nicht gleich gewertet wurde. Die Sequenz wird damit eingeleitet, dass sie in ihrer Partnerschaft mit Martina ein hohes Maß an Sicherheit verspürt habe, wobei ihre Korrektur von »gegenseitig viel Sicherheit gegeben« in zu »sie mir« einen Wechsel von der »Wir«-Perspektive zur »Ich«-Perspektive darstellt. Es liegt die Vermutung nahe, dass sich ihre Äußerung, dass sie das »wachgerüttelt« habe, eher auf die Trennung und nicht auf die Partnerschaft bezieht, da sie in diesem Moment weint. Ihr Weinen scheint hier Ausdruck ihrer Trauer über den Verlust dieser Sicherheit zu sein. Die Interviewerin wartet einen Augenblick und fragt dann, woran sie diese Sicherheit festgemacht habe. Andrea erzählt, dass sie das an dem Umgang mit Eifersucht festgemacht habe, so habe weder sie noch ihre Partnerin diese »in die Tonne getreten«. Diese Äußerung lässt vermuten, dass die Eifersucht nicht abgewehrt wurde. Andrea erzählt zudem, dass sie sich in der Beziehung sicher gefühlt habe, weil alle Gefühle erlaubt gewesen seien, ohne »gleich gewertet« zu werden. Diese Formulierung kann gelesen werden als Andreas Wunsch, von ihrer Partnerin vorbehaltlos angenommen zu werden. Sie sieht dies in der Partnerschaft verwirklicht, was sie exemplarisch am beidseitigen Umgang mit negativen Gefühlen wie beispielsweise Eifersucht erläutert. Sie hat sich bei ihrer ehemaligen Partnerin mit der Vielfalt ihrer Emotionen aufgehoben und sicher gefühlt und glaubte, von Martina mit ihren guten und weniger guten Seiten akzeptiert zu werden, ohne dass die Partnerschaft in Frage gestellt würde. _______________________ Martina wiederum beschreibt die Beziehung als eine, die von Grenzverletzungen geprägt gewesen sei. Ein wesentliches Problem in der Partnerschaft seien die unterschiedlichen Vorstellungen darüber gewesen, wie viel Zeit die Partnerinnen miteinander verbrächten: So sei Andrea oft gekommen und dann nicht wieder gegangen (63,1). Martina hätte And262
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rea aber niemals vor die Türe gesetzt, wenn sie gesagt hätte, dass sie sie brauche (65,2). Sie habe Andrea als sehr bedürftig wahrgenommen; so habe sich Andrea, wenn sie in ihrem eigenen Zuhause gewesen sei, vernachlässigt, d.h. sie habe sich nicht um sich gekümmert. Sie hätte nicht gegessen, habe den ganzen Tag gekifft und ihre Wohnung nicht aufgeräumt (67,2-4). Wenn Martina dann zu Andrea gefahren sei, habe sie deren Wäsche gewaschen, beim Spülen geholfen und beide seien zusammen einkaufen gegangen. Auch habe sie dann für Andrea gekocht und wenn dem so war, musste sie auch dort übernachten. Ihre Funktion beschreibt Martina in diesen Situationen als »Mama-Rolle« (69,1). Andrea habe sie in solchen Situationen »bedürftig wie ein kleines Kind« wahrgenommen (71,1). Die folgende Sequenz dokumentiert Martinas Sicht auf Andreas Verhalten: (72) I: Das heißt auch, dass deine, deine Rolle dann auch sehr klar war, wenn du sagst, ich war oft die »Mama«? (73) Martina: Ja, aber das war auch nicht immer so. Es war nicht so, dass ich mich jetzt, also sie ist einfach zu klug, als dass man das konstant hätte spielen müssen, ja. Also, sie hat sich dann auch immer mal wieder selbst gerappelt oder ich bin dann einmal in Urlaub gefahren, als es ganz schlimm war, […] Die Sequenz wird mit Martinas Feststellung eingeleitet, dass Andreas Bedürftigkeit nicht immer vorhanden war. Der darauf folgende Satz enthält eine sprachliche Wendung, sie beginnt mit einer möglichen Auswirkung von Andreas Verhalten auf sich, wobei sie diesen Satz nicht beendet. Der nicht vollendete Satz eröffnet zahlreiche Optionen, wie er hätte beendet werden können. Aufschluss darüber gibt der darauf folgende Perspektivenwechsel: Martina stellt fest, dass Andrea zu klug gewesen sei, um ihre Bedürftigkeit immerwährend zu »spielen«. Diese Formulierung kann derart gelesen werden, dass Martina Andreas Bedürftigkeit nicht als authentischen Aspekt deren Persönlichkeit sieht, sondern vielmehr als Mittel für einen bestimmten Zweck. Daher liegt die Vermutung nahe, dass sich Martina von Andreas Bedürftigkeit einem gewissen Druck oder Zwang ausgesetzt gefühlt bzw. instrumentalisiert gesehen hat. Schließlich habe Andrea einen ganzen Winter bei ihr verbracht. Der Auslöser sei gewesen, dass sie ihren Hund vernachlässigt habe, d.h. ihn weder gefüttert noch ausgeführt habe. Diesen Zustand habe Martina nicht ausgehalten (81,4) und daraufhin angeboten, dass beide zu ihr kommen könnten. Sie hätten verabredet, dass jede zweimal am Tag mit 263
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dem Hund rausgehe. Doch Andrea habe sich recht schnell nicht mehr an die Verabredung gehalten, weil sie morgens nicht aus dem Bett gekommen sei (81,6). _______________________ Die von Martina geschilderten beziehungsinternen Konflikte darüber, wie viel Zeit sie miteinander verbringen, handeln von unterschiedlichen Vorstellungen von Nähe und Distanz. Sie nimmt Andrea als extrem bedürftig wahr, wobei diese jegliche Verantwortung, sei es sich selbst gegenüber oder gegenüber anderen Lebewesen, an sie delegiert habe. Sie wiederum glaubt, sich aufgrund des eigenen Verantwortungsgefühls dem nicht entziehen zu können. Sie übernimmt Verantwortung, organisiert das Leben ihrer Partnerin und schützt Dritte vor den von ihr vermuteten negativen Folgen von Andreas Lebensstil, so beispielsweise den Hund. Da sie letztendlich immer wieder für Andrea da ist, setzt sie keine Grenze. Ihre Analogie zu einem Mutter-Kind-Verhältnis lässt eine Polarisierung der jeweiligen Funktionen der Partnerinnen in der Beziehung vermuten, wobei sich Martina einer möglichen Funktionalität der Bedürftigkeit ihrer Partnerin gewahr ist, sich selbst in ihrer »Mutterrolle« dennoch als überlegen wahrnimmt. _______________________ Andrea wiederum erzählt von alltäglichen beziehungsinternen Konflikten, z.B. um Ernährung und Geld. So habe Martina »wahnsinnige Schulden« gehabt und Andrea habe ihr »ganz klar vorgeworfen«, dass sie zu viel ausgibt und sie auch bei einem Discounter einkaufen gehen könne (91,6). Ihr Vorschlag wird von Martina abgelehnt mit dem Argument, dass sie »gerne gut isst«. Schließlich hätten sich beide Frauen angeschrien (93,2). Zum Schluss hätten sich Andrea und Martina immer häufiger angeschrien und Martina sei auch schneller »aus der Haut gefahren« (99,1-2). Am stärksten seien ihre Gefühle aber mit der Trennung verbunden und weniger mit den Konflikten innerhalb der Beziehung, deshalb könne sie sich auch kaum an diese erinnern (103,2). _______________________ Andrea beschreibt einen Konflikt, in dem sie ihre Partnerin für deren Verhalten kritisierte und beide verbal aggressiv geworden seien. Der Konflikt kann dahingehend interpretiert werden, dass Andrea Martinas Verhalten angesichts ihrer hohen Schulden finanziell verantwortungslos findet und ihr das auch vorhält; dadurch übernimmt sie hier die Verantwortung für Martinas Lebensgestaltung. Dieser von Andrea geschilderte Konflikt legt die Vermutung nahe, dass auch Martina entgegen ihrer 264
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Selbstdarstellung Probleme in ihrer Lebensgestaltung hat. Im weiteren Verlauf benennt Andrea jedoch keine weiteren konkreten Beispiele und führt eine Erinnerungslücke an. Diese ist angesichts ihrer Detailgenauigkeit z.B. bezüglich des Kennenlernens, verwunderlich und lässt eher vermuten, dass sie dieses Thema im Interview entweder ausklammern möchte oder aber ihr die einzelnen Konfliktsituationen tatsächlich nicht gegenwärtig sind, da ihr inhaltlicher Schwerpunkt auf ihrem Verhalten nach der Trennung liegt.
Zwischenfazit Es zeigt sich, dass beide Frauen ihre Partnerschaft vor allem über die Ebene der Konflikte beschreiben, wobei sie darauf auf sehr unterschiedlichen Ebenen Bezug nehmen. So steht für Martina Andreas Bedürftigkeit und die damit verbundenen Problemfelder im Vordergrund, während Andrea dagegen auf einzelne Vorfälle Bezug nimmt und sich kaum an die Zeit in der Beziehung erinnern kann. Im Kern richten beide ihre Beschreibungen auf das Unvermögen der Partnerin, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Während Andrea das exemplarisch daran festmacht, dass Martina über ihre finanziellen Verhältnisse lebt, fokussiert Martina hingegen auf Andreas Bedürftigkeit. Beide Frauen greifen indes in den beschriebenen Situationen direktiv ein, so hält Andrea Martina ihren Lebensstil vor und schlägt vor, andernorts einzukaufen, während Martina wiederum Andreas Pflichten übernommen hat. Während jedoch Andreas Bedürftigkeit mit wenigen Ausnahmen eher allgegenwärtig erscheint und gemäß Martinas Erzählung die Beziehung wesentlich moduliert hat, bleibt in Andreas Beschreibung Martinas Unvermögen auf einzelne Bereiche beschränkt. Auch wenn es gegen Ende der Partnerschaft vermehrt zu Konflikten gekommen sei, scheinen Martinas Untüchtigkeiten die Partnerschaft nicht wesentlich beeinflusst zu haben. Der Prozess der Gewalt Die Konfliktentwicklung Martina ist der Auffassung, dass es sich bei den Konflikten um wiederkehrende Muster gehandelt hat (105,4). Sie beschreibt die Dynamik der Konflikte derart, dass Andrea sie während eines Streits »provoziert« habe, weil sie »stark und ruhig« gewesen sei (105,4), und dies Andrea an ihre eigene »Ohnmacht« erinnert habe (105,6). Andrea habe Martina in der Beziehung als mächtig wahrgenommen, was sie letztlich auch gewe-
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sen sei. Die folgende Sequenz dokumentiert Martinas Verhalten in den Konflikten: (109) Martina: […] ich war im Endeffekt auch die Mächtige, ja. Also ich war diejenige, die versucht hat, das wieder runterzukochen, die gesagt hat: »Lass uns vernünftig reden, lass uns in einer halben Stunde noch mal telefonieren«, und das hat sie so wütend gemacht, dass ich diese starke Rolle behalten habe, dass sie (-), ich weiß nicht, ob sie ihren Missbraucher gesehen, also so unbewusst oder was es, was es eigentlich ist oder ob sie sich als Kind und einfach in dieser Ohnmachtsposition, die man halt als Kind immer hat, fühlte, oder, das weiß ich nicht, jedenfalls hat sie mich so lange provoziert, bis ich ausgeflippt bin und wütend geworden bin und sie angeschrien hab’. Und durch dieses Anschreien hat sie sich wieder so, also da konnte sie, hat sie einerseits gemerkt, dass ich immer noch sehr viel Macht habe, aber die Macht lässt sich brechen. Und das hat sie aber so lange weitergetrieben bis ich wirklich fast am liebsten gegen die Wand gehauen hätte, was ich zwei, drei Mal getan habe, ja, ich habe (-)Und dann, das, dann in dem Moment brach es. Also ich habe ein Mal z.B. gegen meine Decke, ich habe ein Hochbett gehabt, und habe gegen meine Decke getreten und da war so eine Zwischendecke nur drin und dann war da halt ein Loch drin [lachend]. Weil ich halt auf keinen Fall ihr irgendwas antun wollte, ja, und, aber ich hab’ mich oft so provoziert gefühlt, dass ich das Gefühl habe, ich schlage sie gleich, was ich nie getan habe, aber (-) Die Beschreibung der Konfliktdynamik wird von Martina damit eingeleitet, dass sie versucht habe, beschwichtigend in den Konflikt einzuwirken. Sei beschreibt ihre Position in diesem Moment als machtvoll und als »starke Rolle«, die sie »behalten« hat. Diese Formulierung kann derart gelesen werden, dass sie sich ihrer Partnerin gegenüber grundsätzlich überlegen fühlt. Andrea habe sie dann so lange »provoziert«, bis sie schließlich derart wütend geworden sei, dass sie diese angeschrien und manchmal auch gegen die Wand oder Zimmerdecke geschlagen oder getreten habe. Sie erzählt, dass sie in diesen Momenten das Gefühl hatte, sie schlage gleich Andrea, es aber nie getan habe, da sie ihr keinesfalls etwas antun wollte. Martina ist der Auffassung, dass Andreas Verhalten in der von ihr empfundenen »Ohnmachtsposition« begründet ist, »die man als Kind immer hat«. Dabei stellt sie einen Zusammenhang zu Andreas Erfahrung von sexuellem Missbrauch her, wobei diese möglicherweise auch ihr gegenüber »unbewusst« agiert habe. Diese Interpretation deutet auf ein Gefühl von eigener Überlegenheit hin, wobei sie Andrea zugleich zu einem »klinischen Fall« macht. Ihre Begründung und be-
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sonders die Formulierung »immer« weisen aber auch auf eine Analogie zu ihrer eigenen Kindheit hin: Es liegt die Vermutung nahe, dass sie damit auch ihr eigenes Gefühl von Ohnmacht bezüglich der Suchterkrankung ihres Vaters reflektiert. Der Konflikt sei dann soweit eskaliert, dass sie gegen die Wand geschlagen oder getreten habe. Ihr Lachen nach diesem Satz mildert die Wirkung ihrer Handlung ab. Sie hatte in diesen Momenten das Gefühl, Andrea gleich zu schlagen, wobei sie das aber nie getan habe, da sie ihr keinesfalls etwas antun wollte. Obgleich Martina Andrea nicht direkt geschlagen hat, waren ihre physischen Aggressionen dennoch gegen diese gerichtet. Martina erzählt weiterhin, dass der Konflikt dann beendet war, wenn Martina sich zum Teil erheblich verletzt hatte oder von ihrer Wut so erschrocken war, dass sie zu weinen begonnen habe. Erst dann habe sich Andrea stark fühlen können: (113) Martina: […] Also, was dann gereicht hat war, wenn ich gegen die Wand gehauen habe und meine Hand geblutet hat oder ich mir wehgetan hatte oder in dem Moment, in dem, also ich bin dann meistens auch so erschrocken von dieser eigenen Wut, dass ich dann angefangen habe, zu heulen irgendwann. Das war dann so der Moment, wo ich, wo das dann wieder gebrochen ist, von ihrer Seite. Dann konnte sie sich stark fühlen und dann war gut. Nach Auffassung von Martina musste der Konflikt erst eine bestimmte Erheblichkeit erreicht haben, damit er beendet werden konnte. Beenden konnte ihn offenbar nur ihre Partnerin Andrea, wenn »von ihrer Seite« etwas »gebrochen« und es dann »gut« gewesen sei. Ihre Erzählperspektive lässt vermuten, dass sie für sich selbst in diesem Moment keine Möglichkeit sah, den Konflikt vorher aufzulösen. Martina nimmt die Situation derart wahr, dass sie auf die kindliche Ebene ihrer Partnerin gezogen wird, d.h. sie selbst »klein« und hilflos wirken muss, damit die Situation aufgelöst werden kann. Da Andrea sowohl den Anfang als auch das Ende des Konflikts bestimmt, weist dieses Verhalten zudem einen kontrollierenden Aspekt auf; im Kern ist er jedoch ein Kampf um Macht und Überlegenheit. Andrea habe in dem Augenblick, in dem Martina die Kontrolle verlor und zuschlug, die stärkere Rolle »zurückerobert« (131,1): (131) Martina: Ich glaube, wir beide, also einmal Andrea, weil sie dann ja plötzlich wieder die starke Rolle hatte, zurückerobert hatte, und ich mit meinem Verstand halt.
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Diese Äußerung weist auf Martinas Einschätzung hin, dass es sich in den Konflikten um einen Kampf um Macht, d.h. um einen Kampf um die »starke Rolle«, gehandelt habe, die Andrea mittels der eskalierenden Konflikte »zurückerobert« hat. Der vorliegende Satzbau befördert die Annahme, dass Martina diese Position im Folgenden wiederum zurückerobert hat, wozu sie ihren Verstand genutzt habe. Diese Formulierung kann derart gelesen werden, dass Martina die Beziehung als MutterKind Verhältnis reflektiert, in der sie die Rolle der vernunftbesetzten und erwachsenen ›Mutter‹ einnimmt, während Andrea das provozierende ›Kind‹ darstellt. Diese Gegenüberstellung lässt erneut die Vermutung zu, dass sie sich ihrer Partnerin überlegen fühlt. Auch wenn Andrea sie überwiegend als machtvoll erlebt habe, habe sie sich in den Konfliktsituationen als »total ohnmächtig« empfunden, da egal wie sehr sie versucht habe, Andrea zu beruhigen, das bei ihr »nichts ausgelöst« habe (117,3). Martina beschreibt die Konfliktmuster im Folgenden derart, dass ihre Partnerin die »schwache Kindposition« innegehabt hätte, während sie diejenige gewesen sei, die »ruhig und überlegen« war (145,3). Andrea würde aus dieser Kindposition heraus verletzen, bis die Positionen kippten. Die folgende Erzählsequenz dokumentiert Martinas Selbstwahrnehmung, die Konfliktdynamik nicht aktiv befördert zu haben: (146) I.: Und, wenn du sagst »aus eigener Verletztheit verletzt«, was ist denn für dich die Ursache, also warum ist sie so? Hast du dir darüber Gedanken gemacht? (147) Martina: (3 Sek.) Na ja, ich glaube schon, dass ich sie auch ein Stück weit in dieser Schwäche gehalten habe. Also (6 Sek.), ohne, dass ich das wollte oder auch ohne, dass ich das wirklich getan habe, sondern einfach nur aufgrund dessen, was ich bin, also das Bild, das sie von mir hat. Martinas Antwort wird mit der Erkenntnis eingeleitet, ihre Partnerin Andrea in »dieser Schwäche« gehalten zu haben. Ihre vorherige Beschreibung der Stellung ihrer Partnerin in der Beziehung als »schwache Kindposition« lässt vermuten, dass sie mit dem Begriff »Schwäche« die Kindposition meint, mit der Unterlegenheit und Machtlosigkeit einhergeht. Die Betonung des Wortes »getan« weist darauf hin, dass sie der Auffassung ist, daran nicht aktiv beteiligt gewesen zu sein. Vielmehr sei das in Andreas Wahrnehmung von ihr begründet. Martinas Reflexion der Beziehung ist konform mit ihrer Reflexion der Konflikte, die sie von Andrea initiiert und beendet sieht, d.h. als von ihr kontrolliert, während 268
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sie sich selbst als ohnmächtig empfindet. Sie beschreibt hier ihre Position in der Partnerschaft als passiv. Gleichzeitig beschreibt sie Andrea derart, dass diese sich wegen der Unterschiede in der sozialen Herkunft und in der Bildung »angegriffen« gefühlt habe (153; 154,1). Dieser Ausdruck kann als ein unterstelltes Gefühl der Unterlegenheit gelesen werden. Zugleich erzeugt sie anhand der Mutter-Kind-Analogie ein Bild, in dem sie sich als machtvoll und ihrer Partnerin überlegen darstellt. Beide Wahrnehmungen erscheinen auf den ersten Blick inkohärent. Der Schlüssel zur Erklärung dieser Inkohärenz scheint in ihrer Äußerung über ihre Partnerin zu liegen, die in einer »Ohnmachtsposition« war »die man als Kind immer hat«: Möglicherweise spielt hier ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Vater eine Rolle, wobei sie die damals empfundene Ohnmacht nun ihrer Partnerin zuordnet, während sie sich in der Position der Erwachsenen wahrnimmt. Sie selbst nimmt sich in der Partnerschaft als machtvoll und überlegen wahr und sieht sich an den Konfliktentwicklungen nur passiv durch das, was sie für Andrea verkörpert, beteiligt. Ihre machtvolle Selbstwahrnehmung in der Partnerschaft steht im Gegensatz zu den Gefühlen von Ohnmacht in ihrer Kindheit; zugleich repliziert sie in der Beziehung ein Eltern-Kind-Verhältnis, so dass die Vermutung nahe liegt, dass sie mit dieser Beziehungskonstellation ihre Gefühle von allgegenwärtiger Ohnmacht kompensiert, die sie seit ihrer Kindheit in sich trägt. Andrea wiederum beschränkt sich in ihrer Darstellung der Konflikte und deren Entwicklung, wie bereits dargestellt, auf wenige Geschehnisse und geht nicht derart dezidiert auf die Konfliktdynamik ein.
Der schwerwiegendste Vorfall in der Partnerschaft Von der Interviewerin auf den tief greifendsten Konflikt in der Partnerschaft angesprochen, erzählen beide Frauen von der gleichen Situation: So sei laut Andrea eine ihrer Freundinnen bei einer Demonstration verhaftet worden. Sie habe davon gehört und daraufhin mittels Martinas Computer nach Rechtsanwälten geschaut. Als Martina nach Hause gekommen sei, habe sie Andreas Verhalten als grenzüberschreitend empfunden und als »Vergewaltigung« bezeichnet (39,6). Daraufhin habe Andrea sie gefragt, ob sie denn schon einmal vergewaltigt worden sei und Martina habe das verneint. Andrea erzählt, dass sie Martinas Reaktion absolut nicht verstehen könne, weil sie sich um ihre Freundin sorge und Martina von »Vergewaltigung« spreche, weil sie »ihr Zeug« benutzt habe (39,8). Nach Auffassung von Andrea sei Martina selbst sehr erschrocken über ihre Formulierung gewesen, habe geweint und nach ihr getreten. Daraufhin sei Andrea »einfach gegangen« (39,9). Sie sei aber 269
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nicht gegangen, weil Martina nach ihr getreten habe, sondern weil sie sich in eine Ecke gedrängt fühlte (39,10). Auf die Frage der Interviewerin, wieso Martina das Verhalten als grenzüberschreitend empfunden habe, erzählt Andrea, dass »Hinz und Kunz« ihren Computer benutzt hätten und Martina klar geäußert habe, dass sie das nicht wolle (41,1). Da sie ihrer Partnerin »ein Stück weit Sonderrechte« eingeräumt habe, sei sie nicht davon ausgegangen, dass sie mit den anderen gleichgesetzt werde (41,2). Andrea würde in ihrer Beziehung ihre Sachen schon »komplett hergeben« (43,3) und habe nicht damit gerechnet, mit den Frauen der WG gleichgesetzt zu werden (43,1). (40) I: Wie erklären Sie sich die Reaktion von Martina auf das Benutzen des Computers? (41) Andrea: Ein Stück kann ich es nachvollziehen, weil Hinz und Kunz, das ist nämlich die WG, in der sie gewohnt hat, ihren Computer benutzt hat und sie ganz klar gesagt hat, sie will das nicht und das auch auf diesem Plenum gesagt hat. Aber ich habe mir ein Stück weit Sonderrechte eingeräumt, weil ich bin ja ihre Beziehung gewesen, ich bin ihre Beziehung zu dem Zeitpunkt gewesen und ich gehe nicht davon aus, dass sie … (42) I: … dass sie Sie mit den anderen gleichsetzt? (43) Andrea: Mit ihren Mitbewohnerinnen, genau. Ich habe halt ein anderes Verständnis von Beziehung als Martina. Kann ich nicht sagen, das wäre interessant, wenn sie hier sitzen würde, aber ich gebe mein Zeug schon her, komplett, in einer Beziehung. Die hier dargestellte Sequenz dokumentiert Andreas Vorstellung von Beziehung: Da sie ihr »Zeug« »komplett« in einer Beziehung hergebe, ist sie davon ausgegangen, dass dem umgekehrt auch so sein würde, da sie schließlich zu diesem Zeitpunkt ihre Partnerin gewesen sei. Nach Andreas Wahrnehmung wird sie stattdessen mit den anderen Frauen der Wohngemeinschaft gleichgesetzt. Demgegenüber erwartet sie aber, eine hervorgehobene Bedeutung für ihre Partnerin zu haben und folglich auch anderen Regeln zu unterliegen, als denen, die für die Frauen aus der Wohngemeinschaft gelten. Andrea erzählt aber auch, dass Martina auf einem »Plenum«, an dem sie offenbar teilgenommen hat, gesagt habe, dass sie eine allgemeine Nutzung des Computers nicht will. Augenscheinlich hat sie Martinas Äußerung nicht auf sich bezogen, weil sie sich in einem besonderen Status als Partnerin sieht, der verschiedene 270
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»Sonderrechte« beinhaltet. Folglich stülpt sie ihre eigenen Prinzipien ihrer Partnerin über, ohne dass diese zuvor untereinander neu verhandelt worden wären. In dem daraus folgenden Konflikt verbalisiert Martina mittels des Terminus’ »Vergewaltigung« die von ihr empfundene Schwere der Grenzüberschreitung. Für Andrea stehen hingegen ihre Sorgen bezüglich der Situation ihrer Freundin im Vordergrund ihres Handelns. Durch ihre Kritik an Martinas Wortwahl wird zugleich das Ausmaß der von dieser empfundenen Grenzüberschreitung in Frage gestellt. Das lässt die Vermutung zu, dass Andrea Martinas Reaktion in keiner angemessenen Relation zu ihren Sorgen bezüglich ihrer verhafteten Freundin sieht. Getragen wird der Konflikt jedoch von Andreas Gefühl von Zurückweisung und Enttäuschung: Sie wird sich aufgrund der Gleichsetzung mit den Mitbewohnerinnen dessen gewahr, dass sie nicht den hervorgehobenen Status einnimmt, den sie sich als Partnerin vorstellt und wünscht. Andreas Äußerungen, dass sie ihre Sachen »komplett hergeben« würde und ihre Annahme, dass dem umgekehrt selbstverständlich auch so sei, können als Grenzverwischung zwischen sich und ihrer Partnerin gelesen werden. Ihre Grenzverwischung wiederum ist Ausdruck ihres Wunsches nach Einssein mit der Partnerin. _______________________ Martina beschreibt in ihrer Erzählung über den schwerwiegendsten Vorfall den gleichen Konflikt: Sie habe sowohl den Frauen ihrer Wohngemeinschaft als auch ihrer Partnerin verboten, ihren Internetanschluss zu nutzen (23,1). Es habe diesbezüglich monatelange Konflikte in der Wohngemeinschaft gegeben. Eines Tages seien beide für sechs Uhr abends verabredet gewesen. Martina kam um fünf Uhr von der Arbeit und wollte diese eine Stunde noch für sich haben (29,7). Ihre Partnerin sei jedoch schon gegen vier Uhr gekommen und habe in ihrer Abwesenheit und, ohne sie zu fragen, ihren Computer benutzt. Als sie um fünf Uhr nach Hause gekommen sei, habe sie ihre Freundin vor ihrem Computer angetroffen. Diese habe gesagt, dass es sehr wichtig gewesen sei, weil eine ihrer Freundin vermutlich auf einer Demonstration verhaftet worden sei. Da sie das aber nicht wisse, hoffe sie, über das Internet weiteres zu erfahren. Martina fühlte ihre »Grenzen nicht respektiert« und sich von ihrer Partnerin »nicht ernst« genommen (31,1). Es sei zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen, in der Martina verdeutlichte, dass Andrea sie wenigstens hätte im Büro anrufen und fragen können; zudem hätte sie den Namen dieser »angeblich besten Freundin« noch nie gehört und Andrea hätte auch in ein Internet-Café gehen können (31,2). Martina kam sich »hintergangen« vor und war »sehr wütend« (31,6). Sie 271
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fragte ihre Partnerin, ob dieser ihre Grenzen »so egal« seien und ob es ihr jetzt wichtiger sei, im Internet zu surfen, als sie ihr »wichtig sei« (31,7). Daraufhin habe Andrea mit »Ja« geantwortet (31,8), woraufhin Martina sie aus der Wohnung geworfen habe. Martina erzählt, dass sie sich von Andrea nicht so geliebt gefühlt habe, weil diese ihre Grenzen nicht respektiert habe (207,4). Sie habe mit Andrea darüber gesprochen, doch diese würde »bis heute nicht sehen«, dass sie Martinas Grenzen nicht ernst genommen habe (207,6) Andrea hätte vielmehr nur gesehen, dass Martina ihre Sorge um ihre Freundin nicht ernst genommen habe (207,5). _______________________ Martina erzählt, dass sie lange gegenüber den Frauen ihrer Wohngemeinschaft habe kämpfen müssen, um durchzusetzen, dass ihr Internetzugang nicht frei zu Verfügung steht. Angesichts ihrer Selbsteinschätzung, dass sie nur schwerlich Grenzen setzen kann, ist dieser Schritt von besonderer Bedeutung für sie. Ihre Partnerin Andrea habe die Bedeutung dessen unterschätzt und ihre Grenze nicht respektiert. Befördert wurde ihr Verhalten durch die besondere Situation, in der sich Andrea über den Verbleib einer ihrer Freundinnen Sorgen gemacht habe. Nach Martinas Einschätzung rechtfertigte die vermeintliche Notlage jedoch nicht Andreas grenzverletzendes Verhalten, da sie alternative Handlungsmöglichkeiten gehabt hätte. Martina hat sich in dieser Situation von ihrer Partnerin nicht respektiert und ernst genommen gefühlt. Sie ist verletzt und empfindet Andreas Verhalten als sehr egoistisch. Zugleich stellt sie Andreas Motivation und Argumentation, d.h. ihre Glaubwürdigkeit, in Frage, da sie von der »angeblich besten Freundin« noch »nie« etwas gehört habe. Sie reflektiert das nachfolgende Gespräch derart, dass sich beide Frauen letztlich nicht wertgeschätzt gefühlt haben. Sowohl Andreas Infragestellung von Martinas Formulierung der »Vergewaltigung« als auch Martinas Hinterfragen von Andreas Glaubwürdigkeit lassen jedoch vermuten, dass beide das Gefühl der mangelnden Wertschätzung durch die andere nicht akzeptieren können.
Die Trennung der Partnerschaft Nachfolgend wird die Trennung erst aus Sicht von Martina und anschließend aus Andreas Perspektive geschildert. Martina berichtet, dass sie nach einem Konflikt um den Zugang zu ihrem Computer gesagt habe, dass sie Andrea nie wieder sehen wolle, aber dann vorgeschlagen habe, eine Paartherapie zu machen (101,2). Andrea habe eingewilligt; Martina habe das Gefühl gehabt, dass die Be272
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ziehung auf einem guten Weg sei und habe sich deshalb erneut darauf eingelassen. Jedoch hätten die Konflikte in der zweiten Phase der Partnerschaft stark zugenommen, so dass Martina »irgendwann mal« gesagt habe, »Andrea, ich will dich nicht mehr« (101,6). Zugleich beschreibt sie ihren inneren Zustand in der zweiten Beziehungsphase derart, dass sie sich emotional verschlossen habe: Sie sei »kalt« oder »kühler« geworden und habe gehofft, »nicht mehr so verletzbar« zu sein (187,1). _______________________ Martinas Äußerung »Andrea, ich will dich nicht mehr«, stellt eine massive Zurückweisung der Person von Andrea dar und kann als Ausdruck ihrer Wut auf diese gelesen werden. Mit dieser Ablehnung geht ein hohes Aggressionspotential einher, das direkt gegen ihre Partnerin gerichtet ist. Im Gegensatz zu den zuvor geschilderten Ereignissen richtet sich nun der Ausdruck der Aggression direkt gegen die Partnerin, wenn auch in abgemilderter, d.h. verbaler Form. Es liegt die Vermutung nahe, dass sich vor allem in der zweiten Phase der Partnerschaft bei Martina eine größere Bereitschaft, die Wut direkt gegen die Partnerin zu richten, zeigt. Auch hofft sie, durch eine emotionale Abschottung nicht länger »so verletzbar« zu sein. Die folgende Sequenz dokumentiert die zweite, endgültige Trennung: (187) Martina: Aber da war dann der Moment, dass wir uns sehr häufig gestritten haben, geschrien haben oder dass diese Spirale begann von Ohnmacht und Macht und irgendwann habe ich den Schlussstrich gezogen und habe gesagt: »Nein, ich will das nicht mehr. Ich hasse mich in meiner Wut so sehr, das kann ich nicht mehr, das will ich nicht mehr. Ich will mit dir nicht so eine Beziehung haben.« Die Sequenz wird durch Martinas Erkenntnis eingeleitet, dass die Konflikte zugenommen hätten und sie schließlich einen »Schlussstrich« gezogen habe. Ausschlaggebend sei gewesen, dass sie sich selbst in ihrer Wut derart gehasst habe, dass sie die Beziehung schließlich nicht mehr wollte. Das wiederum lässt vermuten, dass in den Konflikten Anteile ihrer Persönlichkeit zum Tragen kamen, die sie ablehnt und durch die ihr Selbstbild ins Wanken geriet. Durch die Trennung von Andrea glaubt sie, sich zugleich von diesen Seiten ihrer Persönlichkeit trennen zu können. _______________________
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Auf die folgende Frage der Interviewerin, wieso Martina es überhaupt noch einmal versucht habe, antwortete diese, dass sie bestimmte Eigenschaften von Andrea auch fasziniert hätten, so ihre »Direktheit« oder ihre »Großzügigkeit bezüglich ihres Hab und Guts« und schließlich hätten beide einen »ähnlichen Humor« gehabt (191,3). Es gäbe »schon einige Sachen«, die sie auch »jetzt nicht verlieren« will (191,3). Martina empfindet Andreas Direktheit und Kompromisslosigkeit aber auch als sehr »dominant« (197,1). Andrea könne im Gegensatz zu ihr »sehr gut« Grenzen setzen und andere verletzen (197,2). Später im Interview berichtet Martina, dass es auch kleine Momente gegeben hätte, wo sie sich sehr gut verstanden hätten. Sie beschreibt eine Situation, in der eine fremde Person übergriffig geworden sei und beide Frauen »sich nicht einmal mehr anschauen mussten«, sondern »gleich reagiert« hätten. Dieses Verstehen füreinander verdeutliche, dass sie »zusammenpassten« (344,3). _______________________ Martinas Beschreibung der Partnerschaft und ihres Verhältnisses zu Andrea sind von starken Ambivalenzen geprägt, was sich besonders deutlich an der ersten Trennung zeigt. Diese weist zwei Ebenen auf: die äußere Trennung, d.h. diejenige, die Martina gegenüber Andrea ausgesprochen und später zurückgezogen hat, und die innere, die sie dahingehend beschreibt, dass sie sich emotional verschlossen habe, um sich vor zukünftigen Verletzungen besser zu schützen. Martina ist einerseits fasziniert von bestimmten Eigenschaften von Andrea, die sie auch nicht verlieren will, und andererseits empfindet sie Andrea als sehr dominant und verletzend. Schließlich hält sie die Beziehung weiterhin aufrecht. Die zweite, endgültige Trennung erfolgt, weil Martina realisiert, dass sie trotz ihrer emotionalen Abschottung weiterhin verletzbar ist. Das von Martina erst später im Interview angeführte Beispiel eines außersprachlichen Verstehens ist vergleichbar mit einer frühen Eltern-KindInteraktion. Dieses Beispiel symbolisiert Martinas Wunsch nach Einssein mit ihrer Partnerin, was durch die Begegnung mit einem feindlichen Äußeren realisiert wird. Beide Frauen hätten in dieser Situation sich »nicht einmal mehr anschauen« müssen und »gleich reagiert«. Für diesen kurzen Moment wird Martinas idealisierte Vorstellung einer lesbischen Partnerinnenschaft wahr: die Partnerinnen bedürfen keiner weiteren Kommunikation, sie handeln intuitiv, wobei die Gemeinsamkeit über das Geschlecht und möglicherweise auch die lesbische Identität hergestellt wird. Diese erweist sich jedoch als fragil, denn wenn das feindliche Äußere entfällt und das Paar auf sich selbst zurückgeworfen ist, treten die Differenzen erneut zutage. _______________________ 274
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
Martina erzählt weiterhin, dass sie in der zweiten Phase der Beziehung »ganz klare Grenzen« gesetzt habe, indem sie drei »Forderungen« gestellt habe, nämlich sich nicht mehr so häufig wie bisher zu sehen, die körperliche Kommunikation wiederherzustellen und eine Paartherapie zu beginnen (195,3-5). Martinas »Forderungen« zu Beginn der zweiten Beziehungsphase richten sich vornehmlich an ihre Partnerin; das lässt die Vermutung zu, dass sie die Gründe für die vergangenen Konflikte vor allem in deren Verhalten verortet sieht. Da sich Martina in der Partnerschaft in einer mütterlichen, und Andrea in einer kindlichen Funktion wahrnimmt, können ihre »Forderungen« als erzieherische Maßnahmen betrachtet werden, bei deren Nichteinhalten der Entzug mütterlicher Fürsorge droht. Die Formulierung »Forderung« weist daher auf eine Eigenwahrnehmung hin, Macht und Kontrolle über das Geschehen zu haben. Die nachstehende Sequenz dokumentiert erneut den Verlauf der zweiten, endgültigen Trennung aus Martinas Sicht: (195) Martina: In der zweiten Phase, also dann kam [Stadt], dann kam die die Wiederaufnahme der Beziehung und dann haben wir eine zweite Paartherapie gemacht, eine zweite Stunde von Andrea aus dieses Mal, weil sie gemerkt [hat], dass ich ihr weggleite oder schon weggeglitten bin. Da hab ich mich drauf eingelassen und da hätte ich nicht mehr oder da habe ich ganz klar für mich formuliert: »Wir sind nicht mehr zusammen«, und das wusste sie auch. In dieser Sequenz greift Martina die Paartherapie erneut auf und erzählt, dass die Inanspruchnahme einer zweiten Stunde von Andrea ausgegangen sei, da diese das Gefühl gehabt habe, dass Martina ihr entgleite. Die folgenden Äußerung, sie habe »klar für sich« formuliert, dass sie nicht mehr zusammen seien, stellt eine vollzogene innere Trennung dar. Sie geht davon aus, dass Andrea »das auch wusste«, wobei jedoch offen bleibt, wie Andrea Kenntnis von Martinas Gedankengang erhalten haben könnte: Es liegt die Vermutung nahe, dass sie einen Zusammenhang zu Andreas Gefühl, dass Martina ihr »weggleite« sieht, d.h. Andrea die bevorstehende Trennung geahnt und daher die zweite Stunde Paartherapie vorgeschlagen habe. Auch ist es möglich, dass Martina auf die von ihr »irgendwann« in der zweiten Beziehungsphase geäußerte Zurückweisung Andreas Bezug nimmt: »Andrea, ich will dich nicht mehr«. Martina erzählt anschließend, dass obgleich nun die endgültige Trennung erfolgt sei, die Frauen noch in Kontakt miteinander stünden und mittels der Paartherapie versuchen, eine Freundschaft aufzubauen (191,3). _______________________ 275
DAS FREMDE IN MIR
Andrea wiederum erzählt, dass sie während der Beziehung eine Psychoanalyse gemacht, diese aber nach einem Jahr abgebrochen habe (33,5). Währenddessen sei die Beziehung immer schwieriger geworden. Martina habe dann vorgeschlagen, eine Paartherapie zu machen (33,6). In der Paartherapie habe Martina jedoch geäußert, dass sie die Beziehung beenden möchte (33,7). Andrea hat entgegen Martinas Wahrnehmungen die Trennung nicht als einen zweiphasigen Prozess erlebt, sondern sieht diese als auf eine Situation bezogen an. Obgleich sie die Schwierigkeiten während der Beziehung bemerkt, will sie nicht wahrhaben, dass eine Trennung sich anbahnt. Die folgende Sequenz dokumentiert, wie sie die Trennung erlebt hat: (162) Andrea: Also Martina z.B., von ihr hätte ich mir gewünscht, dass sie die Beziehung nicht cutted, sondern dass sie einen Seitensprung riskiert. Weil sie hat immer gesagt, sie sucht ihre Leichtigkeit und trennt sich von mir, und sie ist auch nahtlos in eine andere Beziehung gegangen. Ich glaube, ich hätte diesen Seitensprung eher getragen als eine komplette Trennung. Ich kann mir nicht vorstellen, mit einem Menschen zusammen zu sein, der noch eine Beziehung irgendwo hat oder hier und da ein Techtel, das glaube ich () Die Erzählsequenz wird damit eingeleitet, dass sich Andrea von Martina gewünscht hätte, dass diese die Beziehung nicht »cutted«. Diese Formulierung ist durch das Englische beeinflusste Umgangssprache und bedeutet u.a. »abschneiden« oder »durchschneiden«; das wiederum steht für die im Deutschen genutzte Formulierung, »einen Schnitt machen«, was im Moment des Agierens eine gewisse Radikalität und Endgültigkeit beinhaltet und vom Gegenüber daher auch eher als Zäsur – quasi am Höhepunkt des Entscheidungsprozesses – wahrgenommen wird. Andrea hätte die Beziehung gerne aufrechterhalten und ist der Auffassung, dass Martina lieber hätte einen »Seitensprung riskieren« sollen. Diese Äußerung lässt vermuten, dass sie den Grund für die Trennung in den sexuellen Problemen der Partnerschaft sieht. Sie begründet ihre Vermutung mit Martinas Äußerung, dass diese »Leichtigkeit« suche und sich trenne. Die Formulierung, sie habe »immer ihre Leichtigkeit gesucht«, weist darauf hin, dass dies nach Andreas Wahrnehmung während der Beziehung häufiger von Martina geäußert wurde. Andrea bezieht die von Martina geäußerte Suche nach »Leichtigkeit« offenbar nur auf den sexuellen Bereich und hätte daher einen »Seitensprung« »eher getragen« als eine »komplette« Trennung. Gleichzeitig kritisiert sie Martina dafür, »nahtlos« eine andere Beziehung eingegangen zu sein. Andrea hatte zu Beginn des Interviews beanstandet, dass Martina ebenfalls »nahtlos« 276
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
von ihrem damaligen männlichen Partner die Beziehung zu ihr eingegangen sei. Sie habe damals mit dem Mann ein »Stück weit mit gelitten« und Martinas Verhalten als »nicht fair« empfunden. Daher liegt die Vermutung nahe, dass sie die Trennung von ihr als gleichermaßen »unfair« betrachtet. In dem letzten Satz revidiert sie ihre zuvor geäußerte Haltung, dass sie einen »Seitensprung eher getragen« hätte, da sie sich letztendlich doch nicht vorstellen kann, mit einem Menschen zusammen zu sein, der noch ein »Techtel« oder eine andere »Beziehung« hat. Diese Wendung kann als Ausdruck einer Selbstreflexion und einer einsetzenden Verarbeitung der vollzogenen Trennung gelesen werden. Andreas Beschreibung des Fortgangs der Partnerschaft jedoch lässt vermuten, dass sie die Möglichkeit einer bevorstehenden Trennung nicht im Blick hatte: Während sie die Psychotherapie als Möglichkeit betrachtet, die Beziehung aufrechtzuerhalten, bot sie ihrer Auffassung nach Martina so die Gelegenheit, diese zu beenden.
Zwischenfazit Von Andrea scheint etwas auszugehen, was Martina fasziniert und auch nach der endgültigen Trennung nicht loslässt. Sie empfindet Andrea als machtvoll, kontrollierend, dominant und verletzend – und gleichzeitig als abhängig und bedürftig. Auch die letzte Trennung erweist sich nicht als endgültig, da beide Frauen nun versuchten, mit externer Hilfe eine Freundschaft aufzubauen. Andrea wiederum hatte eine mögliche bevorstehende Trennung nicht realisiert und war bemüht, mittels externer Hilfe die Beziehung aufrechtzuerhalten. Während sie die sexuellen Probleme als ursächlichen Grund für die Trennung betrachtet, führt Martina hingegen die in den Konflikten zutage tretenden Machtkämpfe an, die sie nicht länger ertragen habe. Sie sieht diese als von Andrea initiiert und kontrolliert an, und fühlt sich ihnen machtlos ausgeliefert. Da beide Frauen offenbar auch nach der Trennung bemüht waren, mittels der Paartherapie eine Freundschaft aufzubauen, sowie Andreas Äußerung, dass sie sich gewünscht hätte, dass Martina sich nicht trenne, legen die Vermutung nahe, dass entgegen Martinas Selbstwahrnehmung zwar eine äußere Trennung erfolgt ist, jedoch keine innere. Es entsteht vielmehr der Eindruck, als ob beide Frauen sich nach wie vor nicht loslassen können. Andreas gewalttätiges Verhalten nach der Trennung Andrea erzählt, dass sie Martina nach der Trennung immer wieder angerufen habe, um mit ihr zu reden. Sie wollte von Martina getröstet werden, wollte, dass sie sich um sie kümmere (55,1-2). Sie beschreibt ihr 277
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Verhalten als »Telefonterror« (55,5): Andrea habe »wie eine Wahnsinnige« am Telefon gesessen und immer wieder diese Nummer »reingehackt« (55,11). Wenn der Anrufbeantworter angesprungen sei, habe sie wieder aufgelegt. Manchmal aber habe sie es geschafft, ihn »zuzutexten« (55,13). Andrea sagt, dass sie »super wütend« gewesen sei und am liebsten die Telefonzelle zusammengetreten hätte (55,14-15). Sie erzählt, dass sie Martina am Telefon beschimpft, beleidigt und ihr gedroht habe (57,2-4). Aufgehört habe sie immer erst, wenn sie erschöpft und müde gewesen sei (67,3). Nach Einschätzung von Andrea habe der Telefonterror ein bis zwei Monate gedauert, wobei dieser mit der Zeit zugenommen habe (67,2). Es habe mit »kontrollierend, irgendwelche Gespräche einfordernd« angefangen und sei bis hin zu der Drohung, »ich bringe mich um, wenn du nicht reagierst«, gegangen (67,3). Andrea beschreibt sich in dieser Zeit als »völlig durch den Wind« (71,7). Die nachstehende Sequenz dokumentiert Andreas Befinden und Verhalten nach der Trennung: (52) I: Und was ist dann passiert? (53) Andrea: Passiert ist, dass ich ein krasses Gefühl der Einsamkeit gespürt habe, also nicht, ich fühle mich alleine, sondern ganz krass einsam und ich das Gefühl hatte, Martina ist die Einzige, die mich da runterholen kann. Das war natürlich eine fatale Lüge oder keine Ahnung. […] und wenn ich das Bedürfnis hatte, mich anzukuscheln bei jemandem, war es nur Martina, Martina, Martina. Ich, was ich total krass fand war zu realisieren, dass ich keine Macht mehr über Martina habe. So gewisse (-), das ist alles so (-)Dir geht es Scheiße. Das ist mir egal. Aufgelegt. Also, so. Sie hat sich keine Sorgen mehr um mich gemacht. Sie ist nicht mehr zu mir gekommen. Sie hat mich nicht mehr getröstet. Alles ist komplett, komplett weggefallen. Das war, glaube ich, der Auslöser. (54) I: Was ist dann passiert? (55) Andrea: Ich habe halt immer wieder angerufen und wollt mit ihr reden und wollt, dass sie vorbeikommt. Also wollte, dass sie mich in den Arm nimmt, dass sie mich tröstet, dass sie mir eine Suppe kocht. Sie hat ganz klar signalisiert: »Eh, Alte, mir geht es gut. Ich komme nicht vorbei«, und dann ging es schnell, dass ich wieder angerufen hab. Also, ich habe ganz klar Telefonterror betrieben, […]. […] Ich fand es total ungerecht, dass sie sich jeglichen Gesprächen entziehen will. Das, was ich vorher gemacht habe, das macht sie, ganz klar. Ich darf, sie nicht, und ich habe dann immer wieder angerufen, immer wieder angerufen. Wie eine Wahnsinnige saß ich (-)am Telefon und hab immer wieder diese 278
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
Telefonnummer reingehackt. Der AB ist angesprungen und habe wieder aufgelegt. Manchmal hab ich es geschafft, ihn zuzutexten. Ich war super wütend. […] (57) Andrea: Ich habe sie total beschimpft. Ich habe sie beleidigt. Ich habe ihr gedroht. Also es ist dann so heftig geworden, dass ich irgendwann dachte, ich bring mich um, weil ich Angst habe, dass ich Martina was antue. Das war die Essenz der ganzen Dramaturgie, dass ich dachte, ich müsste mich umbringen, damit nicht irgendeine Scheiße passiert. (58) I: […] Was ist in Ihrem Kopf vorgegangen, was haben Sie gefühlt und gedacht? (59) Andrea: Gefühlt habe ich Hass, Wut, Ohnmacht. Alles, das ganze Programm und gedacht habe ich zum Teil: »Eh, was machst du hier, Andrea, he, hör auf damit«, also vom Kopf her war ganz oft eine Vernunft, aber vom Gefühl her war ich zutiefst drinnen und ich konnte es nicht ertragen, dass Leute nicht mit mir umgehen konnten […] und die mich damit allein gelassen haben. Die Erzählsequenz wird eingeleitet mit Andreas Beschreibung ihrer Gefühle nach der Trennung: Sie fühlt sich sehr einsam. Sie glaubte, dass »nur Martina« sie trösten könne; auch sei sie die Einzige, bei der sie sich »ankuscheln« könne. Diese Formulierung verdeutlicht, dass sich Andrea als hilfloses kleines Kind fühlt, welches merkt, dass sie von der »Mutter« verlassen wurde; da es für ein Kind nur eine einzige Mutter gibt, hält sie an dieser fest und kann sie nicht loslassen, d.h. sie kann die Trennung von Martina nicht akzeptieren. Andreas Formulierung, dass sie keine »Macht mehr über Martina« habe, kann derart gelesen werden, dass sie sich in der Situation existenziell ausgeliefert fühlt: Die Ausübung von »Macht« ist dabei eine Reaktion auf ihre Erfahrung von Verlassenwerden, das mit dem Gefühl absoluter Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden ist. Durch Martinas Trennung wird für Andrea folglich eine für sie nicht zu ertragende frühere Situation wieder belebt. Um dem Verlassenwerden entgegenzuwirken, entwickelt sie eine Machtstrategie, in der ihre Bedürftigkeit existenziell erscheint und sie daher um so mehr auf Martinas Zuwendung angewiesen ist. Mit dem von ihr empfundenen Machtverlust geht daher auch ein Kontrollverlust einher, da sie offenbar mit ihrer Bedürftigkeit Martina nicht länger veranlassen kann, sie zu umsorgen. Sie fühlt sich von ihr zurückgewiesen. Mittels ihres »Telefonterrors« versuchte sie, vehement deren Fürsorge einzufordern. Ange279
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sichts ihres Leids empfindet sie es als »ungerecht«, dass Martina sich ihr entzieht, es ihr gut geht und sie eine neue Beziehung hat. In ihrer darauf folgenden Äußerung zeigt sich, dass Andrea die durch den Kontaktabbruch erfolgte Grenzsetzung als ungerecht empfindet, weil sie Martina einen vermeintlich größeren Handlungsspielraum eröffnet als ihr: Martina »dürfe« den Kontakt abbrechen, sie aber »dürfe« diesen nicht einfordern, d.h. Martina »darf« etwas, während sie etwas »nicht darf«. Gerade hinsichtlich des von ihr zuvor geäußerten Machtverlusts kann angenommen werden, dass Andrea hier eine Machtverschiebung zu ihren Ungunsten wahrnimmt. Sie betont dabei, dass Martina nun das tue, was sie selbst in den Konflikten gemacht habe, d.h. sich einem Gespräch entzieht, was sie in den Konflikten zuvor bei Andrea kritisiert hatte. Andreas nachfolgende Äußerung, »ich darf, sie nicht«, weist auf die von ihr empfundene Ungerechtigkeit hin. Ihre Wahrnehmung dient hier jedoch der Rechtfertigung ihres Telefonterrors, da sie »dann immer wieder« angerufen habe. Ihre Formulierung, »wie eine Wahnsinnige am Telefon gesessen und die Rufnummer »reingehackt«, legt nahe, dass sie sich als nicht als die Geschehnisse kontrollierend wahrgenommen hat; sie beschreibt ihr Verhalten als Obsession, d.h. als eine Zwangshandlung, die stark mit ihren Verlustängsten verbunden ist. Der der Obsession zugrunde liegende Zwang richtet sich vor allem gegen ihre Partnerin, aber auch gegen sich selbst: Sie kann ihre Handlung erst dann vorübergehend aufgeben, wenn sie völlig erschöpft und müde ist. Der Anrufbeantworter wird zum Symbol von Martinas Zurückweisung. Andrea ist »super wütend« und droht, beschimpft und beleidigt Martina auf dem Anrufbeantworter. Ihre nun folgende Äußerung, dass »es« schließlich derart »heftig« geworden sei, dass sie befürchtet, Martina etwas antun zu können und sie sich daher mit dem Gedanken trägt, sich umzubringen, kann hier als Ausdruck ihrer großen Verzweiflung, Ohnmacht und Wut gelesen werden. Diese erscheint ihr möglicherweise immer weniger kontrollierbar. Schließlich schildert sie, dass sie in dem Moment, in dem sie Martina angerufen habe, Hass, Wut und Ohnmacht gefühlt habe. Ihre Gefühle von Hass und Wut sind Ausdruck der von ihr empfundenen Ohnmacht gegenüber dem Entzug der Fürsorge. Ihre Formulierung, »vom Kopf her war ganz oft eine Vernunft, aber vom Gefühl her war ich zutiefst drinnen«, verdeutlicht erneut, dass Andrea sich ihren Gefühlen und den daraus resultierenden Handlungen hilflos ausgeliefert sieht: Sie ist sich des Unrechts ihrer Handlung gewahr und kann sie dennoch nicht beenden. _______________________ Im Folgenden erzählt Andrea, dass ihr bewusst gewesen sei, dass sie jemand anderen und auch sich quäle, und das habe sie nicht losgelassen, 280
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
»jetzt auch nicht«. (70,9). Frühere Trennungen seien bei ihr nicht so »krass« verlaufen, da habe sie Alkohol getrunken, bis es »nicht mehr wehtat« (76,1) oder aber stand auch schon einmal vor der Tür der ehemaligen Partnerin, die sie jedoch weggeschickt habe. Sie sei daraufhin auch gegangen. Derart massiv habe sie sich noch nicht verhalten (77,3). _______________________ Andreas Äußerungen legen die Vermutung nahe, dass sie sich nicht nur – wie bereits geschildert –des Unrechts ihrer Tat gewahr ist, sondern dass sie auch starke Schuldgefühle hat, die sie zumindest bis zum Zeitpunkt des Interviews nicht losgelassen haben. Daher könnten diese als eine mögliche Begründung für die Teilnahme an dem Interview in Betracht gezogen werden. Der von ihr geschilderte Umgang mit vorherigen Trennungen zeigt ebenfalls verschiedene Facetten von Abhängigkeit, so beispielsweise ihr übermäßiger Alkoholkonsum und ihre Schwierigkeit, die Trennung zu akzeptieren und die Beziehung loszulassen. Da nach ihrer Wahrnehmung die Massivität ihres Verhaltens so jedoch noch nicht vorgelegen habe, kann vermutet werden, dass die Abhängigkeitsstrukturen in dieser Partnerschaft vergleichsweise stark ausgeprägt waren.
Andreas Umgang mit der verübten Gewalt Nach einer kurzen Gesprächspause kommt die Interviewerin auf den Freundeskreis von Andrea zu sprechen. Andrea konnte es nicht ertragen, dass die Leute um sie herum mit ihr nicht umgehen konnten. (59,3). Sie erzählt, dass sie sich gewünscht habe, dass ihre Freund/innen sie aus der Situation herausgeholt hätten, d.h. mit ihr spazieren gegangen wären oder einmal ins Kino oder ähnliches. Andrea berichtet, dass sie viel und auch »sehr laut« geweint habe, aber den Eindruck hatte, dass keine/r mit ihr da »durchgehen« wollte (118,3). Der folgende Erzählausschnitt dokumentiert ihre Erwartungen an ihren Freundeskreis: (122) Andrea: Also, ich hing dann wieder in so einem luftleeren Raum und (-)hatte da keinerlei, ich hatte keine Stütze. (123) I: Was haben Sie erhofft? Was haben Sie erhofft, dass Sie an Unterstützung bekommen? (124) Andrea: Habe ich gerade erwähnt. Mal an die Hand genommen kriegen. Wie wäre es mit Schwimmbad, wir gehen mal in die Sauna oder wir gehen mal spazieren oder wir gehen mal ins Kino oder wir gehen 281
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mal – eigentlich Kleinigkeiten, komm, ich koch dir mal was, du isst überhaupt nicht mehr, also ich hab fast gar nichts mehr gegessen. Heulen macht auch satt oder zu mindestens hat man kein Hungergefühl mehr. Ich habe in der Trennungsphase diverse Kilos abgenommen und hab das auch einigen Leuten gesagt, dass ich immer dünner werde und das war leider auch kein Grund für die Leute, einfach mal stumpf was zu kochen für mich, also, von der Unterstützung würde ich sagen, habe ich nicht viel, nichts Großes erwartet, aber das Kleine, das ist schon auch irgendwie nicht zu Stande gekommen. Die Sequenz wird mit ihrer Erkenntnis eingeleitet, dass sie »keinerlei« Unterstützung gehabt habe. Diese Formulierung lässt zuerst einmal vermuten, dass sie keinen Beistand erhalten hat. Sie habe ihren Freund/innen erzählt, was sie mache und habe ihnen auch gesagt, dass sie das nicht wolle aber trotzdem mache. Eine Freundin habe ihr dann angeboten, zu ihr zu kommen, bevor sie wieder zum Telefon gehe. Das Angebot ihrer Freundin weist auf die Widersprüchlichkeit von Andreas Wahrnehmung hin, eben »keinerlei« Unterstützung erhalten zu haben. Diese Inkohärenz lässt vermuten, dass Andrea die vorhandenen Angebote als nicht hinreichend wahrgenommen hat. Auch habe sie in der Trennungsphase »diverse Kilos« abgenommen und ihren Freund/innen auch gesagt, dass sie immer dünner werde. Das habe jedoch keine »der Leute« dazu bewegen können, einmal »stumpf etwas für sie zu kochen«. Dieses Beispiel wiederum verdeutlicht, dass sie von ihren Freundinnen bestimmte Hilfsangebote erhofft hat, die jedoch von diesen nicht erfüllt wurden. Andrea nimmt das Verhalten ihrer Freundinnen derart wahr, dass diese entweder nicht hinreichende oder gar keine Unterstützung geleistet haben; folglich fühlt sie sich von diesen nicht unterstützt. Andrea zeigt ein hohes Maß an Bedürftigkeit und Verletzlichkeit, indem sie beispielsweise kaum noch isst oder sehr laut weint. Beide Verhaltensweisen sind dabei stark nach außen gerichtet und signalisieren und symbolisieren zugleich ihre Bedürftigkeit. Da Andrea sich in ihrem großen Leid von Martina zurückgewiesen fühlt, wendet sie sich schließlich an ihren Freundeskreis und hegt die Hoffnung, nun von diesen die umfassende Fürsorge zu erhalten, der sie bedarf. Zudem soll er sie von ihrer Gewaltausübung abzuhalten. Andrea beschreibt sich in dieser Phase als Kind, das »an die Hand genommen« werden möchte. Die Aktivitäten, die sie sich von ihren Freundinnen erhofft, beinhalten eine gewisse ›Mütterlichkeit‹, die die Sorge um das psychische und physische Wohlergehen des Kindes umfassen. Es liegt daher nahe, dass sie sich ihren Freundesbzw. Freundinnenkreis in dieser Situation als elterliches/erwachsenes Gegenüber wünscht. Da ihr auch hier die mütterliche Zuwendung nach 282
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
ihrem Empfinden versagt bleibt, fühlt sie sich in ihrem Leid und ihrer Bedürftigkeit weder von ihrer ehemaligen Partnerin noch von ihren Freunden und Freundinnen angemessen wahrgenommen und aufgehoben. Ihre Formulierung »die Leute« zur Beschreibung ihres Freundeskreises beinhaltet wiederum eine Distanzierung und Abwertung und kann als Ausdruck ihrer Enttäuschung diesen gegenüber gelesen werden. Ihre Not ist jetzt an einem Maximum angelangt, denn sie fühlt sich von allen Menschen, die ihr nahe sind, im Stich gelassen. _______________________ Andrea erzählt im Folgenden, dass ihr Impuls, nicht ohne Martina leben zu wollen, immer stärker geworden (132,2) und sie daher zu einer Freundin geflogen sei. Diese habe drei Kinder, wodurch sie sehr schnell in einen »Kinderalltag« reingerutscht sei (140,2). Sie glaubt, dass der Besuch bei dieser Freundin sie gerettet habe (138,1). In dem fremden Land habe sie ihr Alleinsein besser aushalten können und ihr Schmerz und ihre Wut seien ihr auch nicht mehr so präsent gewesen (142,1). Als sie nach einem Monat zurück nach Deutschland gekommen sei, habe sie gemerkt, dass es von ihr aus zu einem »ganz schönen Bruch« zwischen ihr und ihren Freundinnen gekommen sei (144,2). Sie sei enttäuscht von ihren »so genannten Freunden« und empfinde einige als »Voyeuristen«, weil sie dabei zugesehen hätten, wie sie »durchgeknallt« und »fast am Sterben« gewesen sei (148,1). _______________________ Andrea fühlt sich von ihrer ehemaligen Partnerin und auch ihrem Freundeskreis im Stich gelassen und ihrem großen Leid alleine überlassen. Sie ist auf sich selbst zurückgeworfen und entschließt sich, eine Freundin, die weit weg vom Ort des Geschehens wohnt, zu besuchen. Diese Freundin hat mehrere Kinder, wodurch Andrea schnell in einen familiären Alltag hineinrutscht. Andrea spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »Kinderalltag«. Das wiederum lässt die Vermutung zu, dass sie hier von ihrer Freundin den »elterlichen« Trost und die Zuwendung erhalten hat, die sie benötigte. Möglicherweise hat die räumliche Distanz auch dazu beigetragen, den Bann der Obsession, d.h. den zwanghaften Charakter ihrer Handlungen, zu durchbrechen. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland war sie zumindest psychisch soweit stabilisiert, dass sie ihr gewalttätiges Verhalten beenden konnte. Sie fühlt sich ihren Gefühlen nicht länger ohnmächtig ausgeliefert. Ihre Enttäuschung über, und ihre Wut auf ihren Freundeskreis ist jedoch geblieben. Andrea berichtet schließlich, dass sie auch nach der Trennung psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch genommen habe: 283
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(71) Andrea: Ich mach Therapie. Ich mache jetzt eine Gesprächstherapie seit exakt zwei Jahren und meine Therapeutin hat mich da durch begleitet, mehr oder weniger, weil, da muss ich alleine durch. Ja und meine Therapeutin hatte da so einen ganz anderen Umgang, wenn ich da rein bin und: »Bitte weisen Sie mich in eine Klinik ein. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.« Also, ich war hochgradig suizid. Sie, ich glaube, sie würde mit schüttelndem Kopf, aber sie ist ziemlich cool geblieben und hat mich nicht eingewiesen. Ich war auf den Knien rumgerutscht und habe mir Beruhigungstabletten gewünscht, also ich war emotional völlig durch den Wind. Verständlicherweise. Wenn einem das gerade so bewusst ist, das man gerade jemanden ganz schön quält und auch sich selber, dann lässt es nicht locker. Bei mir zumindest. Jetzt auch nicht. Der Erzählausschnitt wird damit eingeleitet, dass Andrea in der Trennungsphase psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nimmt. Obgleich sie diese Unterstützung wertschätzt, zeigt sich hier die eigene Einsicht, »da alleine durch zu müssen«. Im Folgenden beschreibt sie den Weg, wie sie zu dieser Einsicht gekommen ist: Anfänglich versuchte sie der Therapeutin den elterlichen, fürsorglichen Part zuzuweisen, was diese jedoch nicht angenommen habe. Sie sei »ziemlich cool« geblieben. Ihre nachfolgende Formulierung, dass ihr »gerade« bewusst geworden sei, dass sie »gerade jemanden ganz schön quält«, legt die Vermutung nahe, dass die Einsicht, was sie mit ihrem Tun anderen gegenüber bewirkt, im Rahmen der Therapie eingesetzt hat. Die Folge ist, dass sie starke Schuldgefühle entwickelt.
Martinas Umgang mit Andreas Verhalten Während Andrea ausführlich über ihr gewalttätiges Verhalten nach der Trennung berichtet, nimmt dieses in Martinas Beschreibung nur einen kleinen Raum ein. Der »Telefonterror« (161,2) habe demnach nach der endgültigen Trennung eingesetzt. Die nachstehende Erzählsequenz dokumentiert die Ambivalenz, die Martina gegenüber dem Verhalten von Andrea empfindet: (171) Martina: Die Konflikte waren nur, wenn sie aus irgendeinem Grund Panik bekommen hat, dass es ihr total beschissen ging und sie mit mir reden wollte, aber sie mir dann gleichzeitig, weil sie mit mir reden wollte, aber sie mir dann gleichzeitig sagte, wie viel Scheiße ich gebaut habe und ich die einzige Verantwortung für die Trennung habe und dafür, dass es ihr so schlecht geht ()
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Martina begründet Andreas Verhalten mit »Panik« und dass es ihr »total beschissen« gegangen sei. Daher habe sie mit ihr reden wollen. Gleichzeitig habe Andrea ihr jedoch während der Telefonate Vorhaltungen gemacht, dass sie die »einzige Verantwortung« für die Trennung trage und auch dafür, dass es ihr so schlecht ginge. Die Formulierung »einzige Verantwortung« kann derart gelesen werden, dass nach Martinas Auffassung Andrea sich ihrer Verantwortung für die Trennung entzieht und stattdessen ihr die alleinige »Schuld« zuschreibt. Da sich Martina wie bereits geschildert nicht in Verantwortung der Konfliktdynamik, sondern sich dieser vielmehr hilflos ausgeliefert sieht und sich in der Partnerschaft als fürsorglichen und ihre Partnerin umsorgenden Menschen wahrgenommen hat, widersprechen diese Anwürfe stark ihrer Selbstwahrnehmung. Der Hinweis, dass Martina auch dafür verantwortlich sei, dass es Andrea so schlecht gehe, lässt aus Martinas Sicht daher eher vermuten, dass Andrea durch diese Vorwürfe ihre erneute Fürsorge erzwingen will. _______________________ Auch habe Andrea geäußert, dass Martina »egoistisch« sei, sich nicht um sie kümmere, sie ihr »nicht wichtig« sei und Martina eigentlich nur nach einer Frau suchen würde, mit der sie »ordentlich ficken« könne, die »reich« sei, eine »tolle Karriere« und »keine Probleme« habe (177,2). Andrea habe auch mehrmals geäußert, dass sie sich »umbringen« werde, was Martina als »Drohung« empfand (161,4). Martina beschreibt im Folgenden aus ihrer Sicht eine Situation, in der Andrea mehrmals angerufen habe: Andrea habe sie angerufen, woraufhin Martina gesagt habe, dass sie nicht mit ihr sprechen wolle, und auflegte. Daraufhin habe Andrea erneut angerufen und gesagt, »Ja, jetzt legst du wieder auf!«, »Du willst dich nicht mit mir auseinandersetzen« und ähnliches (95,7-8). Martina antwortete, dass sie nicht mit Andrea reden wolle, und legte erneut auf. Dann habe sie ihre Wohnung verlassen. Eineinhalb Stunden später seien 63 Nachrichten von Andrea auf ihrem Anrufbeantworter gewesen (95,8). Martina erzählt, dass so etwas mehrmals vorgekommen sei und Andrea 20, 30, 40 Mal wieder angerufen habe (99,2). Sie berichtet, dass sie sich nicht immer getraut habe aufzulegen, weil Andrea gedroht habe, sich umzubringen (161,4). Das sei ungefähr viermal in der Zeit nach der Trennung vorgekommen (165,1). Schließlich bittet sie ihre beste Freundin, die auch eine »GEMEINSAME« Freundin gewesen sei, darum, sich um Andrea zu kümmern und sie aufzufordern, ihr Verhalten zu beenden (91,4). Diese habe das auch getan, allerdings ohne Martina davon etwas zu sagen (161,1). Sie sei von dieser Freundin »total enttäuscht«, weil diese sich nicht »verhalten« habe (91,6). _______________________ 285
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Obgleich Martina Verständnis für Andreas Verhalten zeigt, sieht sie sich durch deren nachpartnerschaftliches Verhalten wegen der Selbstmorddrohungen kontrolliert und unter Druck gesetzt. Auch liegt die Vermutung nahe, dass sie Andreas Anrufe als Ausübung von Zwang betrachtet, dem sie sich entziehen möchte. Andreas Vorwürfe verletzen sie zudem, so dass sie schließlich eine Freundin bittet, sich um Andrea zu kümmern. Sie betont dabei, dass es sich um eine gemeinsame Freundin gehandelt habe. Aufgrund deren Verhalten, ohne es Martina zu sagen, mit Andrea zu sprechen, fühlt Martina sich enttäuscht. Sie hatte von ihr eine Parteilichkeit erwartet, indem sich die gemeinsame Freundin nun positioniert, dadurch dass sie ihre Intervention Martina offenbart. Indem sie dies jedoch nicht tut, vermeidet sie eine Positionierung und Parteilichkeit zugunsten von Martina. Dieses Vorkommnis weist jedoch noch eine weitere Komponente auf, die mit Martinas mütterlicher Funktion während der Partnerschaft in Zusammenhang steht: Martina behält auch nach der Trennung ihre mütterliche Funktion gegenüber Andrea bei. Da sie sich jedoch zugleich nicht direkt deren Anwürfen aussetzen möchte, schaltet sie eine dritte Instanz ein, die ihre Fürsorge transportiert. Da die Freundin durch ihr ›neutrales‹ Verhalten aber gegenüber Andrea nicht das Selbstbild der ›fürsorgenden Mutter‹ reflektiert und sie sich dadurch nicht hinreichend ›vertreten‹ sieht, ist Martina in ihrem Selbstwertgefühl verletzt. Auch wird durch das Verhalten der Freundin nicht ihr Opfersein reflektiert, was sie möglicherweise ebenfalls kränkt.
Eskalation der Gewalt Die nachfolgende Begebenheit taucht nur in dem Interview von Martina auf. Sie erzählt, dass es schließlich nach der Trennung noch zu einem weiteren Konflikt gekommen sei. Andrea habe sie aufgefordert, ihre Sachen abzuholen. Dabei habe es sich im Wesentlichen um gemeinsame Erinnerungsstücke gehandelt. Die Frauen hätten sich getroffen und Martina habe nach den Müllsack gegriffen, in dem die Sachen waren und sei gegangen. Andrea sei hinterher gerannt und habe Martina beschimpft, sie habe sich nur wegen des Sexes getrennt. Martina habe geantwortet, dass sie das nicht mehr hören wolle. Daraufhin habe Andrea mit der Hand auf den Sack mit den Sachen geschlagen. Das habe Martina so wütend gemacht, dass sie sich umdrehte und mit erhobenen Fäusten auf Andrea zugelaufen sei. Zuerst sei Andrea weggelaufen und sei dann aber ebenfalls mit erhobenen Fäusten auf Martina zu gerannt. Schließlich hätten sich beide Frauen an den Jacken gepackt und sich hin und her geschüttelt. In diesem Moment sei ein Freund von Martina, den sie gebeten hatte, sie zu begleiten, dazwischen gegangen und habe Andrea wieder 286
AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
nach Hause geschickt (209,22). Martina erzählt, dass sie in diesem Moment zum ersten Mal Andrea hätte auch ins Gesicht schlagen können, weil die Hemmschwelle weg gewesen sei, da sie sich in einem Konflikt erstmals richtig berührt hätten (211,1). _______________________ Nach Martinas Wahrnehmung ist das das erste Mal gewesen, dass beide Frauen ihre Wut bzw. Verzweiflung direkt gegen den Körper der ExPartnerin gerichtet haben. Im Verlauf der Partnerinnenschaft ist nicht nur die Gewalt eskaliert – sie reicht von kontrollierendem Verhalten, Sachbeschädigungen über die Ausübung von Zwang bis nun hin zur Körperverletzung–, sondern es zeigt sich auch eine fortschreitende Herabsetzung der Hemmschwelle, der Partnerin physisch etwas anzutun. Die Eskalation scheint unausweichlich zu sein, da beide Frauen in ihrer Interaktion eher auf kindliche Konfliktstrategien zurückgreifen. Gleichzeitig scheint die mögliche Eskalation für Martina vorhersehbar gewesen zu sein, denn sie hat einen Freund gebeten, sie zu begleiten. Martinas männliche Begleitung übernimmt die Position des Erwachsenen und beendet den Konflikt, indem er Andrea nach Hause schickt. Diese wiederum fügt sich nach Martinas Wahrnehmung der »Autorität des Erwachsenen«. Durch die offene Parteilichkeit des Freundes fühlt sich Martina hinreichend unterstützt.
Zusammenfassende Interpretation Die Interviews mit beiden Frauen fanden im Abstand von ca. eineinhalb Jahren statt, wobei das Interview mit Martina zuerst geführt wurde. Die Partnerschaft dauerte ca. zweieinhalb Jahre. Sie ist charakterisiert durch eine kontinuierliche Progredienz hin zur Gewalt, die ihren Höhepunkt schließlich im erstmaligen beidseitigen physischen Angriff der Frauen in der nachpartnerschaftlichen Phase findet. Die Beziehung selbst kann in zwei Abschnitte eingeteilt werden, wobei die vorübergehende Trennung das Ende der einen und den Beginn der anderen markiert. Während der Partnerschaft kam es immer wieder zu Konflikten, die nach Martinas Auffassung einem Muster folgten: Andrea habe sie so lange ›provoziert‹, bis sie schließlich geweint habe oder aggressiv geworden sei und gegen die Wand oder Zimmerdecke geschlagen oder getreten habe. Auch wenn dabei vor allem ihre eigenen Dinge beschädigt wurden, war ihre Aggressivität dennoch gegen Andrea gerichtet. Nach Andreas Bericht wiederum habe Martina zumindest in einer Situation sogar direkt nach ihr getreten, sie aber nicht getroffen. In dem Moment, in dem sich Martina ohnmächtig fühlte und aggressiv wurde, habe Andrea nach Mar287
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tinas Auffassung die fürsorgliche Position einnehmen können, wodurch der Konflikt beendet worden sei. Schließlich kam es zur endgültigen Trennung, wobei Andrea nach zwei Monaten und über einen Zeitraum von ca. zwei bis drei Monaten Martina mittels zahlreicher Telefonanrufe mit drohendem und forderndem Inhalt bedrängte. Später kam es zu einem Treffen, bei dem Andrea Martina einige Sachen zurückgeben wollte. Dort eskalierte die Situation und beide Frauen attackierten sich physisch. Zum Zeitpunkt des letzten Interviews schienen beide Frauen wieder in Kontakt miteinander zu stehen und versuchten, mittels einer Paartherapie eine Freundschaft aufzubauen. Anfänglich teilen beide Frauen ihren Wunsch nach Einssein. Martina beschreibt in dem Interview beispielsweise eine Szene des sprachlosen Verstehens, mit der sie ein positives Gefühl gegenüber ihrer Partnerin verbindet. Die Sprache wird dagegen von ihr als etwas Trennendes empfunden. Andreas Wunsch nach Einssein zeigt sich wiederum darin, dass sie in der Beziehung »schon alles hergeben« würde, d.h. dass sich hier die Grenzen zwischen den Partnerinnen auflösen. Im Verlauf der Beziehung entwickelt und festigt sich jedoch eine komplementäre Struktur von Bedürftigkeit und umfassender Fürsorge: Andrea verkörpert in dieser Beziehung die hilflose Person, die sich danach sehnt, »in der Liebe verwöhnt, umsorgt, beschenkt und gepflegt zu werden«.8 Andreas Bedürftigkeit wird von Martina aber zugleich als sehr machtvoll und kontrollierend empfunden. In den beziehungsinternen Konflikten sieht sie sich Martina ohnmächtig ausgeliefert; sie hat den Eindruck, dass diese von Andrea sowohl initiiert als auch beendet werden. Andrea wiederum empfindet Wut und Hass nach der Trennung, weil sie dem nun eintretenden Entzug der Fürsorge »ohn-mächtig« gegenüber steht. Martina wiederum sieht sich in der Helferposition selbst verwirklicht und erwartet Dankbarkeit für ihr selbstaufopferndes Verhalten. Das zeigt sich besonders deutlich in dem Konflikt um Sexualität: Dieser symbolisiert für Martina ihre große Opferbereitschaft, weil sie sich nicht einmal mehr sexuelle Fantasien zugestanden habe, um ihrer Partnerin auch nicht das geringste sexuelle Begehren zu signalisieren. Andrea wiederum erweist sich als eifersüchtig beispielsweise auf die Freundinnen ihrer Partnerin und unterstellt diesen ein sexuelles Interesse an Martina. Zudem glaubt sie, dass sich Martina nur aus sexuellen Gründen von ihr getrennt habe. Martina wiederum ist ob dieses Vorwurfs sehr gekränkt, da ihr dadurch die erwartete Dankbarkeit versagt bleibt. Die beziehungsinternen Konflikte scheinen getragen zu werden von einem Kampf um Macht, wobei die jeweiligen Positionen in der Partner8 288
Jürg Willi 2002, S. 220.
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schaft kurz getauscht werden. Allerdings kehren beide Frauen schließlich wieder in ihre originären Positionen von Fürsorgender und Bedürftiger zurück, so dass die Konflikte zu keiner dauerhaften Veränderung der Beziehungsstruktur führen. Auffällig ist, dass sich Andrea kaum an beziehungsinterne Konflikte erinnern kann, was im Widerspruch zu ihrer sonstigen detailgenauen Darstellung von Ereignissen steht. Sie beschreibt vorrangig ihr Leid sowie ihre Ohnmacht und das damit einhergehende Verhalten, das durch die Trennung hervorgerufen wurde. Martina wiederum ist wütend auf, und enttäuscht von Andrea, weil diese ihr fürsorgliches und selbstaufopferndes Verhalten nicht wertschätzt. Auf der Konfliktebene begegnen sich beide Frauen auf einer kindlichen Ebene, so dass erwachsene Konfliktlösungsmodelle nicht zum Tragen kommen. Daher tragen beide Frauen die Position des Erwachsenen an Menschen aus dem sozialen Nahraum heran. Bei Martina beispielsweise geht damit der Wunsch einher, dass eine gute Freundin an ihrer statt die Konflikte zu ihren Gunsten löst, während Andrea wiederum von ihrem Freundeskreis die entgangene Fürsorge und Zuwendung erhofft. Beide erwarten von ihren jeweiligen Freundinnen Parteilichkeit. Diese erhalten hierbei vor allem eine Stellvertreterfunktion: So wendet sich Martina an eine Freundin, damit sie sich um Andrea kümmert und sie so zur Beendigung des gegen sie gerichteten Verhaltens bewegt. Sie hofft, dass ihre Freundin ihre vormalige Aufgabe übernimmt und Andrea die von ihr benötigte Fürsorge zukommen lässt, und diese dadurch – so die Erwartung – von ihren Belästigungen Abstand nimmt. Andrea wiederum hofft gleichermaßen, dass ihr enger Freundeskreis ihre entgangene Fürsorge und Zuwendung substituiert. In beiden Fällen erfüllten die Freunde/Freundinnen die an sie gestellten Hoffnungen nicht. Voller Zorn wendet sich Andrea von ihren Freundinnen ab. Sie fühlt sich von ihrer Partnerin und ihren Freundinnen in höchster Not im Stich gelassen. Martina ist ebenfalls von ihrer Freundin enttäuscht, weil diese sich ihrer Meinung nach nicht als parteilich erweist und dadurch ihre Selbstwahrnehmung als Opfer nicht spiegelt. Schließlich ist es Andrea, die die den gewalttätigen Verlauf durchbricht, indem sie sich zu einer Freundin im Ausland begibt und dort in den »Kinderalltag« integriert wird. Durch den räumlichen Abstand und durch die Mutterrolle ihrer Freundin wird sie möglicherweise psychisch stabilisiert. Als sie nach Deutschland zurückkehrt, nimmt sie die Hilfe einer Psychotherapeutin in Anspruch. In dem Moment, in dem sie mit deren Hilfe auf ihre eigenen Kompetenzen zurückgeworfen wird, scheint sie sich ihrer Taten bewusst zu werden und entwickelt Schuldgefühle. Schließlich scheint sie soweit stabilisiert zu sein, dass sie zumindest von den terrorisierenden Anrufen ablässt.
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Während Andrea ihr aggressives Verhalten direkt gegen ihre Partnerin richtete, leitete Martina ihre Wut um in die Beschädigung von Sachen. In die Situation, in die sich beide Frauen nach der Trennung erneut begegnen, attackieren sie sich erstmals direkt physisch. Die Begegnung eskaliert, weil Martina ihre Wut nun ebenfalls direkt gegen ihre Partnerin richtet. Das vorherige Umlenken ihrer Aggressionen ist konform mit ihrer »Mutterrolle« in der Beziehung, d.h. sie sah sich hier in dem »erwachsenen« Part, während ihre Partnerin Andrea den »kindlichen« Part verkörperte. In der Situation nach der Trennung begegnen sich beide Frauen jedoch auf der Kindebene, während die Rolle des Erwachsenen von einer dritten Person, Martinas Freund, übernommen wird. Die Frauen führen unterschiedliche Gründe für die Konflikte bzw. die Gewaltausübung an. Martina fokussiert hierbei auf die beziehungsinternen Konflikte, während bei Andrea ihr gewalttätiges Verhalten nach der Trennung im Vordergrund steht: Martina verortet die Gründe für die konflikthafte Beziehung im sozialen Status und im Verhalten von Andrea. So haben nach ihrer Auffassung die in der Beziehung vorhandenen Klassenunterschiede wesentlich zu der Beziehungsdynamik beigetragen. Aufgrund der sozialen und intellektuellen Differenz sei nur eine eingeschränkte verbale Kommunikation möglich gewesen und ihre Partnerin habe sich ihr unterlegen gefühlt. Sie habe versucht, dem entgegenzuwirken, indem sie Andrea gesagt habe, dass sie sie für eine sehr intelligente Person halte. Martinas Umgang mit den sozialen und intellektuellen Differenzen ist Ausdruck der »Mutter-Kind«-Struktur der Beziehung; sie fühlt sie sich dieser überlegen, auch wenn sie ihre Partnerin versucht zu bestärken. Auch sei Andrea sehr eifersüchtig gewesen und habe ihr nie geglaubt, dass sie sie liebe. Martina habe immer wieder versucht, ihr das Gefühl zu geben, dass sie sie liebe und Andrea sich keine Sorgen machen müsse. Auch hier steht Andreas Verunsicherung in ihrer Sexualität im Vordergrund, während Martina demgegenüber versucht habe, sie zu beschwichtigen. Allerdings erzählt sie auch, dass sie Andrea in diesen eifersüchtigen Phasen »ignoriert« habe, da sie »wusste, was Sache« ist. Beide Reaktionen deuten abermals auf die in der Partnerschaft vorhandene Mutter-Kind-Struktur hin, in der Martina die Position der fürsorglichen »Mutter« innehatte und das »Kind« entweder beschwichtigt oder ignoriert. Daher liegt auch nahe, dass sie ihre Partnerin Andrea nicht als »ebenbürtig« wahrgenommen hat – was wiederum zu der von ihr eingangs formulierten Erwartung an eine lesbische Beziehung in Widerspruch steht. Als weiteren Grund für die konflikthafte Beziehung führt Martina Andreas Verlustängste an. So sei es in den Konflikten häufig darum ge290
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gangen, dass sie Andrea nicht die nötige Sicherheit hat geben können. Andrea habe sich nach Wahrnehmung von Martina grundsätzlich vernachlässigt gefühlt und mit anderen um ihre Fürsorge und Liebe konkurriert. Schließlich führt Martina noch Andreas Abhängigkeit an, die sich in ihrer Bedürftigkeit zeigt. Deren Abhängigkeit zeige sich vor allem darin, dass Andrea ihre Eigenverantwortung an Martina delegiert habe und nicht alleine sein könne. Andreas Bedürftigkeit spricht zudem Martinas Verantwortungsgefühl an, d.h. sie betrachtet ihre Aufgabe in der Partnerschaft u.a. darin, sich um Andrea zu kümmern. Das wiederum verstärkt ihre Wahrnehmung von Andrea als von ihr abhängig. Ihren Anteil an der Entwicklung der Beziehungsdynamik sieht Martina darin, dass sie nur schlecht habe Grenzen setzen können, d.h. ihre eigenen Grenzen selbst nicht ernst genommen habe und dafür eingetreten sei. Sie glaubt, sich gegenüber Andrea kaum durchsetzen zu können. Martinas Versuchen einer Grenzsetzung steht die von ihr wahrgenommene Grenzenlosigkeit der Bedürftigkeit von Andrea gegenüber, was schließlich zu Konflikten führt. Letztlich habe sie sich von Andrea nicht geliebt gefühlt, weil diese ihre Grenzen nicht respektiert habe. Es scheint eine Korrelation zwischen Martinas Selbstwahrnehmung, kaum Grenzen setzen zu können, und ihrem Bedürfnis zu bestehen, ihre Fürsorge und Liebe Menschen, die ihr wichtig sind oder derer bedürfen, zuteil werden zu lassen: Es liegt die Vermutung nahe, dass Martina ein Gefühl von Bedeutung durch die Reaktionen ihres Umfeldes erfährt; daher ist für sie bedeutsam, dass sie ihren Freundinnen ebenso wichtig ist wie diese ihr. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung realisiert sie in ihrer umfassenden Hilfsbereitschaft. Diese wiederum kann, wenn der erwarteten Dankbarkeit eine besondere Bedeutung zugemessen wird, sehr egoistisch sein, obwohl sie auf den ersten Blick altruistisch wirkt. Hilfsbereitschaft entzieht sich jedoch oftmals einer kritischen Würdigung, da sie eine allgemeine hohe Anerkennung genießt. Das wiederum erleichtert es Martina, ihr Verhalten in der Partnerschaft nicht kritisch zu reflektieren. Andrea wiederum richtet ihren Blick vor allem auf ihr nachpartnerschaftliches Verhalten. Durch die Trennung wird bei ihr die Erfahrung des Verlassenwerdens wieder belebt, was mit existenziellen Gefühlen von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ausgeliefertsein verbunden ist. Sie hält an Martina fest und glaubt, dass diese die einzige sei, die sie »da rausholen« könne. Zudem hat sie das Gefühl, »einfach ausgetauscht worden zu sein«, d.h. dass die Beziehung von ihrer Partnerin nicht hinreichend wertgeschätzt wurde. Durch die Präsenz der neuen Partnerin wird ihr zudem verstärkt bewusst, dass sie den hervorgehobenen Status, den sie sich in einer Partnerschaft erhofft, nicht länger innehat. Andrea bleibt auch nach der Trennung in ihrer Bedürftigkeit auf Martina ausgerichtet. 291
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Sie fühlt sich ohnmächtig und ist wütend und spricht sogar von Hass auf Martina, weil diese ihr durch die Trennung die Fürsorge und Zuwendung entzieht. Ihrer Machtlosigkeit begegnet sie, indem sie mit ihrem Verhalten die entgangene Fürsorge einfordert bzw. von Martina erzwingen will. Auch wenn Martina nach Wahrnehmung von Andrea diejenige ist, die sie verletzt und zurückgewiesen hat, glaubt Andrea, dass sie die einzige ist, die sie emotional auffangen könnte: Sie richtet ihre Bedürftigkeit nach wie vor an ihre nunmehr ehemalige Partnerin. Dieses Paradoxon legt die Vermutung nahe, dass hier eine starke Abhängigkeit vorhanden ist, denn es scheint keine Öffnung der Perspektive möglich zu sein, um nach alternativen emotionalen Unterstützungssystemen zu suchen. Obgleich ihr Bemühen, von ihren Freundinnen Unterstützung zu erhalten, auf den ersten Blick als alternativer Weg angesehen werden könnte, wurde aufgezeigt, dass dieser nur eine substituierende Rolle einnehmen soll, wodurch ihre Bedürftigkeit auch weiterhin auf Martina ausgerichtet bleibt. Andreas Verhalten legt nahe, dass sie noch sehr stark mit Martina verbunden ist und die Trennung für sich noch nicht vollzogen hat. Die Grundstruktur der Beziehung von Martina und Andrea kann nach Willi (2002) als »Helfer-Kollusion«9 beschrieben werden, in der die Positionen beider Frauen festgeschrieben sind und keine Veränderung mehr möglich zu sein scheint: Martina verwirklicht ihr Bild einer selbstlosen Fürsorgerin, indem sie ihre Partnerin in der Rolle der Bedürftigen hält, und diese wiederum verharrt in ihrer Bedürftigkeit und zwingt ihrer Partnerin die Rolle der Fürsorgerin auf. Die Biographien sowie die aufgeführten Gründe beider Frauen geben Hinweise auf mögliche Einflussfaktoren, warum beide die jeweiligen Positionen in der Beziehung verwirklichen möchten, so finden sich bei beiden Frauen traumatisierende Ereignisse in ihren Lebensgeschichten. Daher kann angenommen werden, dass beide Frauen in dieser Partnerschaft traumatische Kindheitserfahrungen mit verteilten Rollen und unterschiedlichen Positionen wiederholen: die eine aus der Position der machtvollen Versorgerin, die andere aus der Position der Abhängigen und Bedürftigen. Die kurzzeitigen Rollenwechsel zeigen jedoch auch, dass beide Frauen beide Anteile in sich tragen. Allerdings können weder die Biographien noch die angeführten Gründe die Eskalationsstufen der Gewalt hinreichend erklären. Diese scheinen eng verknüpft zu sein mit einer Entgrenzung der Gewalt in dem Sinne, dass die Hemmschwelle sinkt und die Aggressionen nicht 9
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Nach J. Willi wird in der Helfer-Kollusion die Liebe definiert als »zärtliches Umsorgen und Helfen«. Es fänden sich einander eine »hilflose Person mit regressiven Ansprüchen« und ein »Helfer, der sich progressiv verwirklichen möchte« (Willi 2002:220).
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länger umgeleitet werden, sich also schließlich direkt gegen den Körper der anderen richten. Obgleich in einer situationsbezogenen Betrachtungsweise eine Zuschreibung von Täterin und Opfer möglich wäre, würde dies der komplexen Beziehungsdynamik keinesfalls gerecht werden und die aktiven Anteile beider Frauen an der Aufrechterhaltung der Kollusion verschleiern. Auch erweisen sich Erklärungsmodelle, die auf einer TäterOpfer-Konstellation beruhen, in diesem Fall als nicht hinreichend.
Lydia und Nadine aus Sicht von Lydia Das Interview mit Lydia fand im August 2002 statt. Es zeichnet sich ein Spannungsbogen von der Beschreibung minderschwerer Grenzüberschreitungen über psychische Übergriffe, physische Attacken bis hin zur Vergewaltigung ab. Lydia hat sich auf das Interview vorbereitet und Notizen darüber angefertigt, welche Themen sie ansprechen möchte. Während des Interviews und auch abschließend geht sie ihre Unterlagen durch, um zu überprüfen, ob sie alle für sie relevanten Punkte angesprochen hat. Ihr Erzählstil wirkt streckenweise verworren und inkohärent.
Zur Beziehung Die Beziehung von Lydia und Nadine dauerte ca. zweieinhalb Jahre, wobei sie zum Zeitpunkt des Interviews seit vier Monaten beendet war. Der Altersunterschied beider Frauen liegt bei knapp zehn Jahren, Lydia ist Anfang und Nadine Ende 30 Jahre. Beide Frauen sind berufstätig, Lydia übt einen Handwerksberuf aus, während ihre Partnerin Nadine freiberufliche Win-Tsun-Trainerin ist (2,3). Lydia beschreibt sich mit einem multikulturellen Hintergrund (176,1), als aus der Mittelschicht stammend und in einem umgebauten Lkw lebend. Sie erzählt, dass ihre Partnerin demgegenüber einen deutschen soziokulturellen Hintergrund aufweise, sich als »Prol« bezeichnet habe (528,1) und in einer Wohnung lebe. Lydia habe viel Zeit in der Wohnung ihrer Partnerin verbracht, wobei sie das nicht als »Zusammenwohnen« erachtet, da Nadine ihr nur einen »Regalplatz« für ihre Sachen zugestanden habe (22,1). Weiterhin berichtet sie, dass sie in Nadines Wohnung bedingt durch den wenigen Raum, der ihr zur Verfügung stand, viel »Chaos« verursacht habe (22,2). Während ihre Partnerin eher einen »inneren chaotischen Umgang« hätte, habe sie einen »äußeren chaotischen Umgang« (22,2). Jedoch habe Nadine auch persönliche Dinge bei ihr gehabt (20,2-3). _______________________ 293
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In Lydias Beschreibung der Partnerschaft werden vor allem die Gegensätze zwischen den Partnerinnen in den Vordergrund gestellt: Diese beruhten auf den unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, der jeweiligen Schichtzugehörigkeit und beträfen schließlich auch den Lebensstil. Zudem sei der Umgang mit Dingen ebenfalls sehr unterschiedlich gewesen, Nadine habe einen »inneren chaotischen Umgang« und Lydia wiederum einen »äußeren«. Das Verbindende zwischen Lydia und Nadine scheint die Kampfkunst zu sein, was jedoch auch etwas Trennendes in sich birgt, so war Nadine die Trainerin und Lydia die Schülerin. Die Art der Beschreibung der Beziehung legt nahe, dass Lydia zurückblickend vor allem das Trennende wahrnimmt und mögliche positive, verbindende Aspekte dabei in den Hintergrund treten.
Lydias Biographie Lydias Vater stammt aus Nordafrika, ihre Mutter war Deutsche. Ihr Vater sei »einfach verstorben«, als sie zehn Jahre alt war (404,3). Ihre Mutter ist während der hier beschriebenen Beziehung ebenfalls gestorben. Sie war längere Zeit schwer krank und nahm Medikamente ein, die, so vermutet Lydia, bei ihr psychotische Schübe ausgelöst haben (406,2). So habe sie nicht mehr leben wollen und »immer Selbstmorddrohungen« geäußert (406,6). Diese hätten sich jedoch »aufgelöst«, seit sie selbst diese auch einmal geäußert habe (406,7). Auch sei sich Lydia gewiss gewesen, dass ihre Mutter in diesen Momenten von ihrem Tun nichts mehr mitbekam und auch nicht bemerkt hätte, wenn sie sich nachts umgebracht hätte. Sie würde Lydia dann am nächsten Tag finden und sich dann wundern, warum sie tot sei (406,5). Lydia verbrachte ihre Kindheit sowohl in der Heimat ihres Vaters als auch in Deutschland; sie erzählt, dass sie eineinhalb Jahre in der Heimat ihres Vaters in einen Kindergarten gegangen sei (176,2). Aufgewachsen sei sie jedoch »eher« in Deutschland (174,2), wobei sie sich dem Herkunftsland ihres Vaters emotional verbunden fühlt (173,5). Ihr Lesbischsein sei in der Heimat ihres Vaters »bekannt«, wobei darüber aber nicht gesprochen werde (172,5). In Deutschland hänge sie ihr Lesbischsein ebenfalls nicht »an die große Glocke« (171,1), weil sie dann »darüber definiert und auch reduziert« würde (172,2). Inzwischen sei sie »an einem Punkt angelangt, wo sie sich gar nicht mehr definieren« würde, da andere damit viele »Klischees« verbinden würden (172,3). Lydia hat die Fachhochschulreife, aber danach keine Ausbildung beendet. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet sie als Handwerkerin in einem Betrieb. Die Frage, ob es in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt gegeben habe, verneint sie (412,1). Al-
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lerdings berichtet sie von einer Vergewaltigung im Alter von 20 Jahren (414,1). _______________________ Lydias Formulierung, dass ihr Vater »einfach verstorben« sei, kann als Ausdruck ihrer Ohnmacht gegenüber seinem Tod gelesen werden. Auch deutet sie auf das Gefühl hin, von ihm im Stich gelassen worden zu sein. Die Beschreibung ihrer Mutter wiederum lässt vermuten, dass sie diese zumindest während der psychotischen Schübe als gefährlich und auch lebensbedrohlich wahrgenommen hat. Zudem liegt die Vermutung nahe, dass sie die von ihrer Mutter geäußerten Selbstmorddrohungen sehr belastet haben, wobei auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass Lydia glaubte, schuld an dem Zustand ihrer Mutter zu sein. Lydias Einschätzung der Selbstmorddrohungen ihrer Mutter habe sich im Nachhinein dadurch ›aufgelöst‹, dass sie gegenüber Nadine selbst einmal mit Suizid gedroht habe. Obgleich Lydia sich von ihrer Mutter teilweise direkt gefährdet sieht, nimmt sie diese nicht als das Geschehen kontrollierend wahr: sie kann sie töten, aber nicht mit Absicht. Die Beschreibung ihres Umgangs mit dem Lesbischsein wiederum kann auf den ersten Blick als offen, aber nicht als offensiv (»an die große Glocke hängen«) gelesen werden. Sie lehnt die Zuschreibungen, die mit dem Lesbischsein verknüpft sind ab und kommt zum Schluss, sich nicht mehr »zu definieren«, d.h. ihre sexuelle Orientierung zu verschweigen. Auch setzt sie den mehrheitlich negativen Zuschreibungen keine positiven Werte entgegen, so dass ihre Haltung gegenüber ihrem Lesbischsein als letztlich defensiv erachtet werden kann.
Lydias Wünsche und Hoffnungen an eine Beziehung Lydias Hoffnungen und Wünsche an eine Beziehung lassen sich nur von ihren Schilderungen über die grundlegenden Konflikte der Beziehung ableiten. Sie erzählt, dass es in der Beziehung ein grundsätzliches Problem bezüglich der unterschiedlichen Vorstellung über sexuelle Monogamie gegeben habe. Die folgende Erzählsequenz dokumentiert diesen Konflikt: (76) Lydia: Und das, sage ich mal, an wichtigen Punkten an und für sich gar nicht mehr möglich war. Und es gab dann auch noch eine Situation halt mir der, wo ich halt gesagt habe: »Du musst dich jetzt entscheiden, was du eigentlich willst. Also entweder willst du was mit der anderen oder mit mir.« Und dann kam an für sich, dass selbst, wenn sie jetzt monogam leben wollte und dass es so was da drin gibt, weil unter den Um295
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ständen, wie das lief, ging das für mich ganz klar nicht. Ginge das nicht, weil sie erst mal damit ihre Vergangenheit und ihre Herkunft verraten würde. Und ich die Gesellschaft darstellen würde und alle auf meiner Seite stehen würden, wo ich sagen würde, das hat nichts mehr mit mir zu tun, nichts mehr mit, was sie von mir will, sondern einfach, dass sie sonst wo in der Vergangenheit war, und an für sich um ihre Vergangenheit gekämpft hat und den Rest auf mich drauf projiziert hat. Und ich sage mal, ich habe in dem Moment auch eine gute Projektionsfläche gebildet einfach von dem, wer ich bin. Die Sequenz ist eingebettet in Lydias Beschreibung der beziehungsinternen Konflikte und wird mit ihrer Feststellung eingeleitet, dass an »wichtigen Punkten gar nichts mehr möglich« gewesen sei. Der Kontext der angeführten Sequenz legt nahe, dass damit die Kommunikation zwischen den Partnerinnen gemeint ist. Im Folgenden beschreibt sie ein Thema, das für sie einen »wichtigen Punkt« darstellte, nämlich die sexuelle Monogamie; sie habe ihre Partnerin vor die Wahl gestellt, entweder mit ihr oder mit einer anderen Frau sexuell zu verkehren. Da diese Wahl im Alltag jedoch nicht als solche im eigentlichen Sinne verstanden wird, sondern vielmehr die Aufforderung beinhaltet, das Gegenüber möge sich für sie entscheiden, liegt die Vermutung nahe, dass Lydia davon ausging, dass sie Nadine wichtiger war als die andere Frau. Der darauf folgende Satz kann derart gelesen werden, dass Nadine beabsichtigte, auf Lydias Anliegen einzugehen (»wenn sie jetzt monogam leben wollte«) und diesem sogar positiven Aspekte abgewinnen konnte (»dass es was drin gibt«), d.h. Lydia vermittelte, dass sie ihr wichtig ist. Lydia lehnt jedoch Nadines Entschluss aufgrund der »Umstände« ab; sie begründet ihre Ablehnung damit, dass ihre Partnerin ihre »Vergangenheit und ihre Herkunft verraten würde«, und sieht in der monogamen Zweierbeziehung gesellschaftliche Verhältnisse reproduziert, gegen die Nadine gekämpft habe, so habe sie »um ihre Vergangenheit gekämpft«. In der monogamen Zweierbeziehung würde Lydia aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Mittelschicht den gesellschaftlichen Teil repräsentieren, gegen den sich Nadine wehre. Auch würden dann »alle auf ihrer Seite stehen«, was aber nichts mehr mit ihr zu tun hätte und auch nicht mit dem, was Nadine von ihr wolle. Lydia wechselt in ihrer Begründung gegen das Beziehungsmodell die Perspektive und argumentiert über Nadines mögliche Haltung dazu. Das führt zu einer Grenzverwischung, die die Frage aufwirft, ob es sich dabei tatsächlich um Nadines Einstellung handelt oder aber diese von Lydia antizipiert wird. Durch die von ihr formulierte Ablehnung verschließt sie sich zugleich Nadines möglichem Signal, ihr wichtig zu sein. Die Erzählsequenz ist auch durch einen ver296
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worrenen und inkohärenten Erzählstil gekennzeichnet, was in Widerspruch zu der Klarheit und Eindeutigkeit der einleitenden Aussage steht, in der sie sich gegen eine Mehrfachbeziehung ausgesprochen hatte; dadurch gerät auch die nachstehende Begründung in Gegensatz zu dieser. _______________________ Im Folgenden verdeutlicht Lydia jedoch ihre ablehnende Haltung gegenüber Mehrfachbeziehungen: Diese würden nur bedeuteten, die Freiheit zu haben, sich »tausend Hintertürchen offen zu halten« (80,2). Nadine sei dieser Gedankengang jedoch zu »patriarchalisch« gewesen (82,1). Lydia zeigt sich gegenüber »Affären« nicht so ablehnend wie gegenüber Mehrfachbeziehungen, sofern »es ganz klare Prioritäten« gebe und diese »auf einer vernünftigen Ebene« verlaufen würden (80,1). Nadine habe aber nach einem Jahr eine zweite Beziehung angefangen und gesagt, dass sie sich so gegen Lydia abgrenzen wolle (84,2). Auch habe Nadine ihr bereits nach einem Tag erzählt, dass beide Partnerschaften gleichwertig seien (84,3), obgleich sie »die andere« erst seit »ein paar Wochen« kenne und ihre Partnerschaft »schon ein Jahr« andauerte (84,4). Lydia ist auch der Meinung, dass es Nadines »Struktur« gewesen sein, immer nach einem Jahr etwas Neues anzufangen (86,2). Allerdings habe sie die Hoffnung gehabt, dass es bei ihr anders sei (88,2). _______________________ Lydia erwartet von einer Partnerschaft Monogamie und Verbindlichkeit. Ihre Formulierung, dass es »ganz klare Prioritäten« geben müsse, weist darauf hin, dass sie ihre Liebe als etwas Besonderes erachtet und daher auch für ihre Partnerin etwas Besonderes sein möchte. Desgleichen kann ihre Annahme, dass Nadines Beziehungsmuster sich bei ihr nicht fortsetzen werde, als Ausdruck dieses Wunsches gelesen werden. Sie hofft, sich durch das Besondere von den »anderen« Frauen zu unterscheiden und abzugrenzen. Mit der Hoffnung, dass sich diese Beziehung von den anderen abhebt, geht auch die Erwartung einher, dass sich negative Verhaltensweisen der Partnerin nicht in der eigenen Partnerschaft wiederholen. Diese Erwartung birgt den Gedanken, dass die ehemalige Partnerin die negativen Aspekte der Persönlichkeit der Partnerin hervorgerufen hatte, aber man nun durch die Besonderheit der Liebe davor geschützt ist. Der von Lydia geschilderte Verlauf der Beziehung lässt jedoch vermuten, dass es zu keiner Übereinkunft hinsichtlich der sexuellen Monogamie gekommen ist. Vielmehr habe Nadine nach einem Jahr eine zweite, parallele Partnerschaft begonnen. Lydia zitiert Nadine, dass diese sich mittels der zweiten Partnerschaft von ihr abgrenzen wolle. Es liegt nahe, dass sich Lydia durch Nadines Gleichsetzung beider Beziehungen 297
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zurückgewiesen und entwertet fühlt. Auch ist sie enttäuscht darüber, dass Nadine die Besonderheit ihrer Liebe nicht teilt.
Lydias Beschreibung ihrer Beziehung zu Nadine Lydia erzählt, dass sie ihre Partnerin in einem Win-Tsun-Training kennen gelernt habe. Sie sei eine der Teilnehmerinnen gewesen, während Nadine die Trainerin war. Allein, dass ihre Partnerin eine Kampfsporttrainerin sei, sieht Lydia zurückblickend als »Grundlage für eine Gewaltbeziehung« an (6,1). Auf die darauf folgende Frage der Interviewerin, was Lydia an ihrer Partnerin interessiert habe, antwortet sie, dass sie im Training »abgestürzt« sei und Nadine sie aufgefangen habe (8,2). Sie habe dann den Kontakt mit Nadine aufgenommen (8,1). Weiterhin erwähnt sie, dass sie den ersten Konflikt mit ihrer Partnerin als Indiz für eine Grundstruktur, die sich in der Beziehung manifestiert habe, sieht. Sie sagt, dass ihre Freundin eine starke »Fehlstruktur« habe, weil sie ihre »Existenzberechtigung« darin sehe, sich um Lydia zu kümmern (48,1). Dazu müsse sie Lydia jedoch klein halten (48,1). Lydia wiederum habe sich auf diese Struktur eingelassen und dort ihr »inneres Kind« abgestellt (48,2). Zu Konflikten sei es dann gekommen, wenn Lydia einmal »selbst unterwegs« sein wollte. Sie habe dann »keinen Raum zum Wachsen« gehabt (48,5). Lydia sieht die Ursprünge der Dynamik ihrer Partnerschaft darin, dass sie ihr Verhalten von ihrer Mutter erlernt habe, während ihre Partnerin das Verhalten von ihrem Vater übernommen habe. Folglich hätten eigentlich ihre Mutter und Nadines Vater eine Beziehung miteinander gehabt (48,8). Zudem sei Nadine von ihrem Vater missbraucht worden und habe auch eine gewisse Zeit in einem Heim verbracht (48,10). Deshalb habe sich Nadine immer eine Position gesucht, in der sie die Macht gehabt hätte, sei es als Win-Tsun-Trainierin oder indem sie mit jüngeren Frauen zusammen gewesen sei (48,11). Auch habe sie öfters mit Frauen, die bei ihr trainierten, eine Beziehung angefangen (48,12). _______________________ Lydia beschreibt die Beziehung als eine, in der sich von Beginn an eine Rollenverteilung von emotional Versorgender/Fürsorgerin und Bedürftiger etabliert habe, wobei sie den Part der Bedürftigen innehatte. Beide Frauen haben sich bereits in diesen unterschiedlichen Positionen kennen gelernt, so war Lydia Schülerin und Nadine ihre Kampfkunstlehrerin. Nadine habe sie aufgefangen, als sie im Training psychisch »abgestürzt« sei. Lydias Äußerung, dass das Verhältnis von Schülerin und Lehrerin an sich eine »Grundlage für eine Gewaltbeziehung« sei, lässt vermuten, 298
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dass sie ihre Partnerschaft rückblickend derart wahrgenommen hat, dass die diesem Verhältnis implizite hierarchische Struktur auf die Beziehung übertragen wurde und so keine Gleichheit zwischen den Frauen hergestellt werden konnte. Ihrer Meinung nach besteht ein Zusammenhang zwischen den gewalttätigen Strukturen in der Partnerschaft und den ungleichen Machtverhältnissen. Der Grundkonflikt der Beziehung, nämlich unterschiedliche Verteilung von Macht, zeigt sich auch in ihrer Beschreibung des Kennenlernens: Hier finden sich keine romantischen und/oder erotischen Wahrnehmungen der Partnerin; vielmehr steht Nadines Fürsorge im Vordergrund. Lydia beschreibt wiederum ihre Bedürftigkeit als »inneres Kind«, welches sie in der Beziehung »abgestellt« habe. Zum Streit sei es dann gekommen, wenn sie sich der ihr zugeordneten aber auch von ihr angenommenen Rolle entzog habe und »selbst unterwegs« sein wollte. Anhand dieser Bilder stellt Lydia eine Analogie zu einem Mutter-Kind-Verhältnis her, in dem es zu Konflikten kommt, wenn das »Kind« um seine Selbstständigkeit ringt. Ihre Formulierung, dass es sich bei Nadine um eine »Fehlstruktur« gehandelt habe, weil diese ihre »Existenzberechtigung« darin sehe, sich um sie zu kümmern, lässt vermuten, dass sie diese Struktur vor allem von Nadine getragen ansieht. Als weitere Begründung für die geschilderte Beziehungsstruktur führt sie die Biographien beider Frauen an, wobei sie Nadines Heimaufenthalt und sexuellen Missbrauch hervorhebt. Die Betonung spezifischer Aspekte von Nadines Biographie lässt erneut annehmen, dass Lydia die Gründe für die Beziehungsdynamik vor allem bei Nadine verortet sieht. Auch reflektiert sie ihre und Nadines Biographie dahingehend, dass eigentlich ihre Mutter und Nadines Vater eine Beziehung miteinander gehabt hätten. Ihre Gleichsetzung mit einem Elternteil legt die Vermutung nahe, dass sie auf diese Weise eigene, aktive Anteile an der Aufrechterhaltung der Beziehung »entschuldet«, indem sie diese als Reproduktion elterlicher Verhaltensmuster charakterisiert. Da Lydia in ihrer Beschreibung der Partnerschaft vor allem die trennenden Aspekte betont, scheinen rückblickend keinerlei positive Anknüpfungspunkte mehr zu Nadine vorhanden zu sein.
Sexualität in der Partnerschaft Lydia beschreibt im Folgenden als weiteres Problemfeld in der Beziehung die Art der Sexualität, die die Partnerinnen praktizierten: So habe sie anfänglich sadomasochistischen Sexualpraktiken kritisch gegenüber gestanden und diese als sehr »frauenverachtend« empfunden (130,10). Nadine wiederum betrachtet laut Lydia sadomasochistische Praktiken als eine »eigenständige Sexualität«, die es ihr ermögliche, mit dem er299
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fahrenen Missbrauch umzugehen (134,2). Diese sei »praktisch das Resultat ihres Missbrauchs«, was Lydia verstehen müsse (134,3). Lydia erzählt, dass sie sich darauf eingelassen habe, wodurch sie ihrer Meinung nach dem Missbrauch jedoch einen großen Raum gegeben und Nadine in ihrer Opferrolle unterstützt habe (138,7-8). Die nachstehende Sequenz dokumentiert Lydias weitere Reflexion der sadomasochistischen Sexualpraktik: (140) Lydia: Sie meinte, dass es darin keine Rollenverteilung geben würde, sondern dass sie sich auch immer abwechseln könnten, was sicherlich möglich ist, aber was ich inzwischen einfach zu dem weiß, da muss ich gerade noch mal gucken, zu diesem insgesamt zu der Sexualität sagen würde. Ist auch einfach, [Hantieren mit Papier, [murmelndes Mit-sich-selbst-Reden] wo ich einfach denke, dass es eine Struktur gab, wo es, sie letztendlich auch einfach, also von dem, was ich daraus auch inzwischen sehe ist, dass sie an und für sich in der Sexualität, die sie mit Geliebten gelebt hat, auch an und für sich immer in den Kampf gegen den Vater gegangen ist. Um sich davon abzugrenzen und trotzdem sich bestätigen zu können: »Ich kann das leben.« Der Erzählabschnitt wird damit eingeleitet, dass Nadine nach Wahrnehmung von Lydia der Auffassung sei, es gebe keine festgeschriebenen Rollen in dem sadomasochistischen Setting. Diese Äußerung hat möglicherweise eine Offenheit signalisiert, die es Lydia erleichterte, ihre Vorbehalte gegenüber sadomasochistischen Sexualpraktiken zu überwinden und sich darauf einzulassen. Lydia ist aber auch der Auffassung, dass Nadine mit ihrer Sexualität »den Kampf gegen den Vater« geführt habe, um sich von ihm abzugrenzen und sexuelle Autonomie (»Ich kann das leben«) zu erlangen. Lydia spricht auch hier von einer »Struktur« von Nadine. Diese Formulierung kann dahingehend gedeutet werden, dass sie zwar einen Rollentausch grundsätzlich für möglich hält, diesen aber wegen der weiteren, zentralen Funktion der Sexualität für Nadine verwirft. Dadurch, dass die Sexualität der Bereich ist, in dem Nadine nach Lydias Wahrnehmung ihren Kampf gegen ihren Vater ausficht, steht sie in ihrem Part stellvertretend für den Vater und Täter. So entsteht ein Widerspruch zwischen Nadines anfänglicher Äußerung und Lydias Erfahrung, die an sie herangetragene und auch von ihr angenommene Rolle während der Partnerschaft beständig innezuhaben. Lydia beschreibt im Folgenden die Sexualität in der Partnerschaft dahingehend, dass es dabei nicht mehr um Nähe, sondern um Macht gegangen sei (142,2). Sie habe sich derart darauf eingelassen, dass sie glaubte, wenn sie das Codewort benutze und eine Szene abbreche, sie 300
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ihre Partnerin daran hindere, den virtuellen Kampf gegen ihren Missbraucher zu gewinnen. Dadurch würde sie mit dem Täter identisch werden (142,5). Schließlich habe sie sich derart mit dem Vater identifiziert, dass sie dachte, sie müsse ihn »unbedingt mal kennen lernen« (144,2). Dies sei sogar soweit gegangen, dass sie viel von dem Mann geträumt habe und glaubte, sie müsse »mit ihrem Vater ein Kind kriegen« (146,2). Lydia erzählt des Weiteren, dass Nadine mit ihrer neuen Freundin »gekuschelt« und so Nähe aufgebaut habe. Daraufhin habe Lydia sie als »Nutte« bezeichnet (144,9). Auf die Nachfrage der Interviewerin, ob sie beide denn nicht »gekuschelt« hätten, antwortete Lydia, dass das nach ihrer Auffassung kaum vorgekommen sei, während Nadine sicherlich meinen würde, dass es viel gewesen sei (148,1-2). Lydia hat das Gefühl, von ihrer Partnerin in deren »Gewaltgeschichten« und auch in diese Rolle hineingezogen worden zu sein (152,3-5). Auch glaubt sie, von ihrer Partnerin benutzt worden zu sein und betituliert sie als »Puffmutter«, die sie »praktisch auf den Strich geschickt hat, um gegen etwas anzukämpfen« (154,1). Das habe Nadine jedoch nicht mit den anderen Frauen gemacht, sondern mit diesen eine Nähe hergestellt, die Lydia eigentlich wollte (154,2). Dies sei auch der Grund gewesen, warum sie Nadine als »Nutte« bezeichnet habe. Das habe sich nicht darauf bezogen, dass sie mit den anderen Frauen gekuschelt habe, sondern »wegen ihrer Rolle da drin« (154,7). Lydia erzählt, dass sie schließlich kaum noch das Codewort benutzt habe und darauf »eingestiegen« sei, Lust um der Lust willen zu haben (164,2). Sie sei schließlich »ziemlich darauf abgefahren« und habe die Sexualität als Machtmittel benutzt (164,8). Das sei eine Weile ganz gut gegangen, weil sich beide Frauen dann auf einer gleichen Ebene begegnet wären (164,9). Lydia erzählt, dass sie dann aber »ins Uferlose gekippt« sei (164,10), d.h. dass sie in einer europäischen Großstadt auf S/M-Sex-Partys gegangen sei und den Trip, Sex als Macht, völlig ausgelebt habe (166,1) und sich überlegt habe, Domina zu werden. Sie sei vor allem geistig voll »darauf eingestiegen«, was ihr aber schon gereicht hätte (166,3). In ihrer sadomasochistischen Sexualität mit Nadine sieht sie sich nicht als Subjekt wahrgenommen, sondern fühlt sich aufgrund ihres Parts in den Szenarien mit dem erlebten Missbrauch objektiviert: Sie habe eine Stellvertreterfunktion inne und repräsentiere den Missbraucher. Auch wenn Lydia ihre Rolle kritisch sieht, identifiziert sie sich stark mit dem Täter und seiner Macht – bis hin zu einer völligen Verschmelzung, die sich in ihrer Fantasie äußert, von ihm ein Kind bekommen zu wollen. Diese Fantasie scheint ihr sehr vertraut zu sein, was die Vermutung nahe legt, dass sie selbst sexuell missbraucht wurde. Die von ihr in der Sexualität erlebte Machtfülle scheint in Widerspruch zu ihrer in der Partner301
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schaft wahrgenommenen Bedürftigkeit und Machtlosigkeit zu stehen. Da sie sich in der Sexualität jedoch funktionalisiert und objektiviert sieht, erlebt sie ihre Position hier ebenfalls als machtlos. Die Identifikation mit dem Täter und seiner Macht stellt vielmehr eine Verarbeitungsstrategie des eigenen erlebten sexuellen Missbrauchs dar, der zwar die Sexualität beeinflusst, nicht jedoch ihre wahrgenommene Position in der Partnerschaft. Neben der von ihr wahrgenommenen sexuellen Objektivierung sieht Lydia, dass Nadine mit anderen Frauen einen Umgang pflegt, der diese nicht ihres Subjektstatus’ beraubt und der zudem auch mittels Körperlichkeit eine Nähe zulässt, die sie sich in ihrer Beziehung wünscht. Auch wenn Nadine sagt, dass sie mit Lydia ebenso viel »kuschele«, hat Lydia den Eindruck, dass in der Partnerschaft ihre Sehnsucht nach Nähe und ihre Hoffnung, dass die Liebe etwas Besonderes sei, nicht erfüllt werden. Aufgrund des von ihr wahrgenommenen Objektstatus’ tituliert sie Nadine als »Nutte« und als »Puffmutter«. Zudem habe sie die sadomasochistische Sexualität als frauenfeindlich angesehen, was sie letztlich in ihrem Objektstatus bestätigt sieht. Gleichzeitig aber empfindet sie diese Sexualpraktik und ihre Rolle als lustvoll. Das von ihr geschilderte Spannungsfeld von der vehementen Ablehnung sadomasochistischer Sexualpraktiken bei gleichzeitigem starkem Lustempfinden lässt vermuten, dass sich Lydia für ihre Lust verachtet oder gar gehasst hat. Obgleich sie in der Sexualität einen aktiven Part innehat und diesen auch wahrnimmt, beschreibt sie ihre Situation passiv, so sei sie in die Rolle »hineingezogen worden«. Ihr sprachlicher Duktus legt daher die Vermutung nahe, dass sie zu ihrem Lustempfinden nicht stehen kann. Auch reflektieren die Bezeichnungen von Nadine als »Nutte« und »Puffmutter« nicht nur deren Abwertung, sondern auch ein hohes Maß an Selbstentwertung und Selbstverachtung. Lydia erzählt weiterhin, dass Konflikte vor allem mittels Sexualität »aufgelöst« worden seien: (322) Lydia: Ich habe dann erst mal geparkt und bin erst mal weggerannt. Woraufhin sie mir erst mal hinterher rannte und ich noch weiter panisch weggerannt bin. Und (-)dann kam ich irgendwann wieder und na ja, wie solche Situation sich auflösen lassen, wenn man mit Macht und Sex zu tun hat, ist klar. Wir sind danach miteinander ins Bett gegangen. So also. Und ich sage mal so, also deshalb denke ich auch inzwischen, dass es da drin einfach nur um Macht ging, weil, klar kannst du das immer weiter hochputschen und du musst es auch weiter hochputschen, um sie da, sage ich mal, den Kick, ihr die Lust zu kriegen, wenn es da drin um Macht geht, weil es braucht immer mehr.
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(323) I: Hat sich die Situation dadurch für dich aufgelöst? (324) Lydia: Nee. Nicht in Wirklichkeit. Also die Situation ist natürlich geblieben. (-)Aber, sage ich mal, das war… (325) I: In dem Moment gab es nur () (326) Lydia: Ja, ich glaube, vielleicht erst noch mal eine Unterbrechung, aber wo es auch, denke ich, ganz klar, also wenn einfach dieses, eh als Machtmittel gelebt wird oder als Kampf, dann ist das auch die einzige Antwort, die du darauf haben kannst. Und, klar, sage ich mal, von dem, also was ich spannend daran finde, ist, dass das halt, was ich halt früher nie geglaubt habe, dass das wirklich über diese, je extremer die Situationen werden auch so eine Luststeigerung gibt, die sicherlich auch wesentlich kürzer ist, weil das ist ja auch eine vollkommen schwachsinnige Basis letztendlich, die nichts mehr mit mir oder sonst was zu tun hat, sondern mit an sich auch sehr, sehr viel Selbstverachtung, würde ich sagen. Oder einfach Kampfsituationen, und dass sich das aber wirklich in so eine Intensität von Empfinden steigern kann, aber das wesentlich schneller sofort umgesetzt werden muss, damit, weil das gar nicht haltbar ist. Und, also, das fand ich schon sehr spannend da dran, diese Geschichte. Also, klar kann ich jetzt alles nur als Drama sehen und alles schlimm gewesen, aber, also, damit würde ich mich hinstellen, ich bin das arme Opfer und ja, ein bisschen langweilig [Lachen]. Nee, so habe ich aber auch noch nie funktioniert. Also, so habe ich auch mit 20 nicht funktioniert, also… Die dargestellte Erzählsequenz wird damit eingeleitet, dass Lydia nach einem Konflikt weggerannt sei. Ihre Partnerin sei ihr gefolgt, woraufhin sie »panisch« weitergerannt sei. Diese Formulierung deutet auf eine mögliche Angst hin, die sie in diesem Moment vor ihrer Partnerin hatte. Als sie schließlich zurückkehrte, seien beide Frauen »miteinander ins Bett gegangen«. Lydia glaubt, dass es in der Sexualität »nur um Macht« gegangen sei. Im Folgenden spricht sie davon, dass »das immer weiter hochgeputscht« wurde, um »den Kick«, d.h. »Lust« zu bekommen, und wenn es um Macht ginge, brauche es immer mehr. Diese Äußerungen lassen vermuten, dass im Laufe der Zeit die Emotionalität in den Konflikten zugenommen hat, was ihrer Meinung nach auch notwendig war, um die sexuelle Lust zu steigern. Ihrer Beschreibung nach war daher die in den Konflikten aufkommende Emotionalität zugleich die Antriebsfeder für die sexuelle Lust. Begründet ist das nach Lydias Meinung darin, dass es sich bei der Sexualität eigentlich um Macht gehandelt habe. In ihren Formulierungen »um sie da« und »ihr die Lust zu kriegen« verwischen grammatikalisch und inhaltlich die Grenzen zwischen ihr selbst
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und ihrer Partnerin, so dass der Eindruck entsteht, dass sie diese Erklärung eher ihrer Partnerin zuordnet. Im Folgenden beschreibt sie ihre Wahrnehmung der Sexualität als »Machtmittel« und als Ausdruck eines »Kampfes«. Das lässt vermuten, dass für Lydia die Sexualität nach einem Konflikt die Fortführung des Konflikts auf einer anderen Ebene darstellt. Ihre Charakterisierung der Sexualität lässt zudem vermuten, dass beide Frauen in der Partnerschaft keine Nähe herstellen können: In dem Moment, in dem die Bedürftigkeit der einen oder anderen zutage tritt, reagiert die jeweils andere mit Ablehnung bzw. Zurückweisung, wodurch es zu einem Konflikt kommt. Durch den aufkommenden Streit wird die benötigte Distanz hergestellt. In dem Konflikt entsteht eine größere Distanz als erwünscht, so dass durch die gemeinsam erlebte Sexualität wieder Nähe hergestellt wird. In Lydias Beschreibung der Funktion von Sexualität benutzt sie nur das unpersönliche Pronomen »man« und das Personalpronomen »du«, d.h. sie schafft eine Distanz zwischen sich und ihrem Tun bzw. zwischen sich und ihrer Lust. Ihre darauf folgende Äußerung, dass die Sexualität »nichts mehr mit ihr oder sonst was zu tun hat«, sondern »mit sehr, sehr viel Selbstverachtung« legt nahe, dass sie die Selbstverachtung nicht auf sich, sondern auf ihre Partnerin bezieht, wodurch sie sich eher als das Opfer von Nadines Strukturen begreift. Zugleich lehnt sie den Begriff des Opfers für sich ab und bringt diesem sogar ein hohes Maß an Verachtung entgegen, was sich in ihren Formulierungen des »armen Opfers« und dass dies »ein bisschen langweilig« sei, zeigt. Auch ihr Lachen an dieser Stelle kann als Ausdruck dieser Abscheu gelesen werden. Ihre Verachtung gegenüber dem Opfersein stellt sie im nachfolgenden Satz in Zusammenhang mit der von ihr erlebten Vergewaltigung. Auch hier lehnt sie den Begriff des Opfers für sich ab. Der von Lydia hergestellte Kontext legt nahe, dass sie die gleiche Verachtung, die sie gegenüber Nadine aufbringt, auch sich selbst gegenüber empfindet. Lydias Verhältnis zu ihrer mit Nadine gelebten Sexualität ist dennoch sehr ambivalent, sie verachtet sich in dieser Sexualität und verspürt zugleich die Lust an der Macht. Sie nimmt sich als Opfer von Nadines Strukturen wahr und verdammt sich auch für ihr Opfersein. Sie verachtet aber desgleichen Nadine und bezeichnet diese als »Nutte« oder »Puffmutter«. Wie bereits aufgezeigt, liegt die Vermutung nahe, dass nicht nur Nadine sexuell missbraucht wurde, sondern auch Lydia. Daher erscheint die Sexualität als »Kampf« um Macht, Nähe und Distanz; beide Frauen erleben in ihrer Sexualität und in ihrer Beziehung die erlittenen Traumata erneut.
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Zwischenfazit Lydias Darstellung der Beziehung legt nahe, dass sie die Beziehungsstruktur vor allem von Nadine getragen sieht, wobei diese zugleich das Verhaltensmuster ihres Vaters reproduziert. Lydia nimmt Nadine in der Partnerschaft als machtvoll wahr, was zudem durch die eingangs erwähnte Hierarchie, die durch das Trainerin-Schülerin-Verhältnis hergestellt wird, verstärkt wird. Lydia ist der Auffassung, dass Partnerschaften, in denen ein grundlegendes Machtungleichgewicht vorliege, eine grundlegende Beziehungsstruktur von Nadine sei. In der von Lydia beschriebenen Sexualität zeichnet sich jedoch ein entgegengesetztes Muster ab: Nach ihrer Auffassung dient Nadine die sadomasochistische Sexualpraktik vor allem dazu, sich gegenüber ihrem Vater und Missbraucher abzugrenzen. Dabei verkörpert Lydia nicht nur den Täter, sondern sie identifiziert sich auch sehr stark mit ihm, bis hin zur Fantasie, von ihm ein Kind haben zu wollen. Die Vertrautheit dieser Fantasie legt ebenso wie das hohe Maß ihrer Identifikation mit Nadines Vater die Vermutung nahe, dass sie selbst sexuell missbraucht worden ist. Zugleich drückt sie aber eine große Verachtung gegenüber dem Opfersein ihrer Partnerin aus und wehrt somit auch die eigene Opferschaft ab. Die Verachtung, die sie gegenüber dem Opfersein von Nadine entgegenbringt, offenbart sich daher gleichermaßen als Selbstverachtung. Möglicherweise verachtet sie sich auch dafür, schließlich auf die Sexualität »ziemlich abgefahren« zu sein. Ungeachtet der großen Nähe zu einer Täterschaft betrachtet sich Lydia vor allem als Opfer von Nadines Strukturen. Sie glaubt, sich unter der Vorgabe, dass die Rollen getauscht werden könnten und jede jederzeit das Setting abbrechen könne, auf die Sexualität eingelassen zu haben bzw. von Nadine hineingedrängt worden zu sein. Lydias Sicht legt nahe, dass sie sich sowohl in der Beziehung als auch in der Sexualität als Opfer der Strukturen ihrer Partnerin sieht, dass sie sich für ihr Opfersein hasst und zugleich die positiven Gefühle, die sie mit ihrer Bedürftigkeit, aber auch der Sexualität verknüpft, verschleiert. Durch ihre starke Ambivalenz erscheinen ihre Erzählungen daher oftmals inkohärent. Der Prozess der Gewalt In der nachstehenden Sequenz lenkt die Interviewerin das Thema auf die Gewalterfahrungen: (9) I.: Und vielleicht, also wir, kannst du von den letzten gewalttätigen Erlebnissen erzählen? Also das letzte, was für dich, nicht das schwerwiegendste () 305
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(10) Lydia: Das letzte von meiner Seite, von ihrer Seite aus? Das ist ja immer noch ein Unterschied. Worauf bezieht sich das jetzt? Auf beides, oder? (11) I.: Das letzte, was dir einfällt. Vielleicht, wie überhaupt die Situation war. (12) Lydia: Mm::hh:: Ja, ich denke, die letzte gewalttätige Sache als solches war die Trennung, wie die lief. Die lief von ihr aus, also das war durch ihrs. Und ich habe die auch erst mal nicht akzeptiert. Habe dann auch eigene gewalttätige Sachen gemacht. Der Interviewabschnitt wird mit der Frage der Interviewerin nach dem letzten gewalttätigen Ereignis eingeleitet. Lydia fragt daraufhin nach, ob ihre Gewaltausübung oder die ihrer Partnerin gemeint sei. Die Interviewerin lässt die Antwort offen und fragt nach der Situation. Lydia antwortet, dass sie die Trennung ihrer Partnerin als gewalttätig empfunden und diese nicht akzeptiert habe. Daraufhin sei auch sie gewalttätig geworden. Lydias Antwort deutet darauf hin, dass sie die von ihr verübte Gewalt auf den Zeitraum nach der Trennung begrenzt erachtet, während ihre Partnerin bereits zuvor gewalttätig geworden sei. Lydia erzählt weiterhin, dass die Beziehung von Anfang an sehr schwierig gewesen sei. Die nachstehende Sequenz dokumentiert einen Konflikt, der sich bereits zu Beginn der Partnerschaft ereignet habe: (18) Lydia: Weil, es gab halt eine Situation, wo ich aus dem Ausland wiedergekommen bin, was sie an sich gerne wollte, ziemlich am Anfang, wo wir dann zum Telefonieren verabredet waren, sie aber nicht da war und (-)sich in dem Moment an und für sich für eine, für die Rettung von einer Freundin, die gerade in einer gewalttätigen Beziehung, in einer Gewaltbeziehung war, entschieden hat. Und mich dafür praktisch versetzt hat. Und dann halt die andere Frau mit aufgeschlitzten Pulsadern ins Krankenhaus gebracht hat, aber dann noch zu Hause betreut hat und deshalb aber praktisch meinen, unseren Telefontermin nicht eingehalten hat. Und für mich war das so, dass da auch was gekippt ist, weil sie sich für, also dass es so was gab von auf so einer feinfühligen Ebene, dass sie sich für das Grobe und das Gewalttätige entschieden hat, dass das wichtiger ist. Und ich dachte, na ja, was man im Leben ruft, es kommt auch zurück. Lydia berichtet zu Beginn, dass sie aus dem Ausland zurück nach Deutschland gekommen sei und sich telefonisch mit Nadine verabredet habe. Diese sei jedoch zu der entsprechenden Zeit nicht zu Hause gewe306
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sen sei. Nadine habe zu diesem Zeitpunkt eine Freundin nach einer versuchten Selbsttötung ins Krankenhaus gebracht. Auch habe sie diese danach noch zu Hause betreut. Daher habe Nadine die telefonische Verabredung mit Lydia nicht einhalten können. Die zeitliche Koinzidenz von Nadines Hilfeleistung für eine Freundin und der telefonischen Verabredung interpretiert Lydia als eine bewusste und willentliche Entscheidung gegen ihre Person. Zugleich setzt sie Nadines Entscheidung, ihrer Freundin zu helfen, mit einer Entscheidung für das »Gewalttätige« gleich. Lydia erzählt, dass in diesem Moment bei ihr etwas »gekippt« sei, weil sich ihre Freundin für das »Grobe und Gewalttätige« entschieden habe und nicht für die feinfühlige Ebene. Auch hier wird deutlich, dass sie ihre Liebe als etwas Besonderes, Zartes erachtet, der sie Nadines Entscheidung für das »Grobe und Gewalttätige« entgegensetzt. Diese Gegenüberstellung lässt vermuten, dass sich Lydia mit ihren Gefühlen von Nadine nicht angenommen fühlt. Lydias anschließende Formulierung, dass »was man im Leben ruft, auch zurückkommt« kann als Ausdruck ihrer Schuldgefühle gelesen werden, die wiederum mit ihren Gewalterfahrungen verbunden sind. Es liegt die Vermutung nahe, dass Lydia an ihrem möglichen sexuellen Missbrauch und auch an ihrer Vergewaltigung eine Schuld für sich annimmt; so wie sie Schuld an der früher erfahrenen Gewalt zu haben glaubt, trägt sie diese Schuld auch jetzt. In dieser Sichtweise kommt ihre tiefe Selbstentwertung zum Ausdruck.
Erste Grenzüberschreitungen Lydia erzählt, dass es von Beginn an zu Grenzüberschreitungen gekommen sei, so habe beispielsweise ihre Partnerin ihr Schamgefühl verletzt, als diese mit ihren Freundinnen am Strand die Länge ihrer Schamhaare verglichen habe (32,1). Des Weiteren habe sie zu Beginn der Beziehung einen Arbeitsplatz im Mittelmeerraum gehabt. Nadine wollte sie dort besuchen, woraufhin Lydia antwortete, dass sie noch nicht wisse, ob es »für sie stimme, wenn Nadine sie dort besuche« (32,5). Daraufhin habe Nadine geweint und sagte, dass das »alles nicht ginge« (32,6). Lydia habe sich von Nadine »total unter Druck gesetzt« gefühlt, woraufhin sie glaubte, »jetzt nicht wegzukommen, bevor ich irgendetwas sage« (32,6). Deshalb habe sie geantwortet, dass sie »noch einmal drüber nachdenken« wolle (32,9). Jedoch sei ihre Unsicherheit übergangen worden und es sei klar gewesen, dass Nadine sie besuchen würde. Die nachfolgende Sequenz dokumentiert Lydias Umgang mit der von ihr empfundenen Grenzüberschreitung:
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(32) Lydia: Und das sind, sage ich mal, kleine Grenzüberschreitungen, die ich vielleicht auch erst mal nicht, schon wahrgenommen habe, aber dann auch gesagt habe: »Ich muss mich nicht so anstellen.« Woraufhin aber klar ist, dass ich dann hinterher auch nicht mehr auf kleine Grenzen achte, sondern es mir auch irgendwann egal ist. Und das denke ich, ist schon so eine Dynamik, die auch einfach ziemlich am Anfang gesetzt wird bei jeder Gewaltbeziehung. Also ich habe ja insgesamt drei, (lachend) bin langsam eine Expertin. Nein, ich brauchte das auch, um Sachen klarer zu kriegen. Lydia beschreibt zu Beginn der dargestellten Sequenz Nadines Verhaltensweisen als Grenzüberschreitungen, die sie »erst mal nicht« als solche wahrgenommen hatte. Die erste von ihr geschilderte Begebenheit betrifft die Verletzung ihres Schamgefühls. Dieses Ereignis scheint für Lydia von besonderer Bedeutung zu sein, da es für sie rückblickend möglicherweise den Anfangspunkt einer eskalierenden gewalttätigen Beziehungsdynamik darstellt. Sie erachtet Nadines Verhalten, ihre Unsicherheit zu übergehen, als weitere Grenzüberschreitung und versucht, mit diesen umzugehen, indem sie sich beschwichtigt und sich sagt, dass sie sich »nicht so anstellen« müsse. Die Folge sei jedoch gewesen, dass sie später dann auch nicht mehr auf »kleine Grenzen« achte, sondern »es ihr irgendwann egal« sei. Der von ihr geschilderte Mechanismus legt eine Analogie zu den Strukturen von sexuellem Missbrauch nahe, wo eine »Desensibilisierung« über »kleinere« Grenzüberschreitungen stattfindet10. Daher kann vermutet werden, dass der von ihr erlebte mögliche sexuelle Missbrauch gegenwärtig ist und in der konflikthaften Beziehungsdynamik eine wesentliche Rolle spielt. Auch lässt die Art und Weise, wie sie auf diese Grenzüberschreitung reagiert – sie müsse sich nicht so anstellen – erneut auf eine tiefe Selbstentwertung schließen. Abschließend erzählt sie, dass dies bereits ihre dritte »Gewaltbeziehung« ist und sie diese offenbar benötigt, »um Sachen klarer zu kriegen«. Diese Formulierung weist auf Schuldgefühle hin, die Lydia glauben lassen, diese Form der Partnerschaft quasi »anzuziehen«. _______________________ Lydia erzählt im Folgenden, dass Nadine sie schließlich an ihrem Arbeitsplatz besucht habe, irgendwann habe sie gedacht, »es sei okay« (38,1). Sie habe Nadine jedoch einen falschen Plan mit den benötigten Busverbindungen aufgezeichnet, so dass diese nicht nur verspätet, sondern auch »stinksauer« an der Arbeitsstelle eingetroffen sei (38,6). Ly10 Vgl. hierzu u.a. D. Bange/G. Deegener (1996): Sexueller Missbrauch an Kindern, S. 57. 308
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dia antwortete auf Nadines Vorwürfe, dass ihr der falsche Plan Leid tue, aber sie sich schließlich selbst nach dem richtigen Weg erkundigen hätte können. Obwohl Lydia noch eine halbe Stunde zu arbeiten hatte, habe Nadine sie am Arm genommen und von ihrem Arbeitsplatz weggezogen, um mit ihr zu reden (39,10). Lydia sei nach kurzer Zeit an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, wobei Nadine jedoch noch eine ganze Weile »beleidigt« und »stinksauer« auf Lydia gewesen (38,15) sei. Lydia ist demgegenüber der Auffassung, dass Nadine »ihre Verantwortung an Lydia abgegeben habe« (40,1), denn es sei nicht ihre Verantwortlichkeit, wenn sich Nadine verlaufe, schließlich müsse sie selbst schauen, ob der Plan stimme oder nicht (40,2). Lydia empfindet Nadines Verhalten als unselbstständig. Was sie jedoch brauche, sei ein selbstständiges Gegenüber (40,2). _______________________ Lydias Formulierung, schließlich sei es »okay« gewesen, deutet auf ihre Unsicherheit hinsichtlich Nadines Besuch hin, die sich offenbar bis zum Zeitpunkt des tatsächlichen Besuchs nicht aufgelöst hat. In diesem Kontext kann der fehlerhafte Busplan als unbewusster Ausdruck ihrer Bedenken gelesen werden. Nadine reagiert emotional erregt auf diesen Vorfall und stellt Lydia zur Rede. Diese wiederum interpretiert das Geschehen derart, dass Nadine unselbstständig sei und sie nicht dafür verantwortlich ist, wenn diese sich verlaufe. Sie betont, dass sie als Partnerin ein selbstständiges Gegenüber benötige. Lydias Formulierung, Nadine habe ihre »Verantwortung an sie abgegeben«, weist nochmals auf ihre Wahrnehmung von Nadine als Opfer hin. Ihre Reaktion erscheint angesichts der nachvollziehbaren Kritik Nadines indes überzogen und aggressiv. Sie kann zugleich als Abwehr einer eigenen Verantwortlichkeit und als erneuter Ausdruck ihrer Verachtung für Nadines Opferstruktur gelesen werden. Es liegt nahe, dass Nadines Unsicherheit in dieser Situation in Gegensatz zu Lydias Hoffnung, Erwartung und Vorstellung von deren Stärke steht. Wie bereits aufgezeigt werden konnte, birgt Lydias Verachtung für Nadines Opferstrukturen auch ein hohes Maß an Selbstentwertung und Selbstverachtung in sich.
Lydia als Gewalt ausübende Person Lydias Schilderungen der Beziehungsdynamik, der Sexualität und schließlich der ersten Grenzüberschreitungen legen die Vermutung nahe, dass sie die gewalttätigen Strukturen in der Beziehung vor allem von Nadine getragen sieht. Sie fühlt sich in ihrer Liebe von Nadine nicht angenommen und zurückgewiesen. Auch habe Nadine sie in eine sexuelle 309
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Rolle gedrängt, der sie anfänglich ablehnend gegenüberstand, und schließlich habe es eine enge Verknüpfung von den Konflikten mit der Sexualität gegeben. In den Konflikten sei es um Macht gegangen und die Sexualität sei die Fortführung dieses Machtkampfs auf einer anderen Ebene gewesen. Lydia beschreibt sich als Opfer, wobei sie zugleich ihr Opfersein vehement ablehnt und diesem ein hohes Maß an Verachtung und Selbsthass entgegenbringt. Die Beziehung mit Nadine sei bereits die dritte gewalttätige Beziehung. Sie benötige diese offenbar, um »Sachen klarer zu kriegen«. Ihre Selbstwahrnehmung ist getragen von Schuldgefühlen, die mit der Auffassung einhergehen, es nicht anders verdient zu haben. Im weiteren Verlauf des Interviews zeigt sich jedoch, dass Lydia entgegen ihrer bisherigen Darstellung während der Partnerschaft gewalttätig geworden ist:
Psychische Gewalt So berichtet sie, dass sie erst später ein Problem in ihrer Beziehung erkannt habe, nämlich dass sie ihre Partnerin unter Druck gesetzt habe (54,2). Das hätten ihr die beiden Frauen gesagt, mit denen sie vorher in einer gewalttätigen Beziehung gelebt habe (56,1). Das Problem sei gewesen, dass sie »sehr schnell« denke und in vielen Dingen »sehr klar« sei (56,5). Sie habe nicht verstehen können, dass andere Menschen nicht so seien. So sei ihr beispielsweise anhand eines Satzes eines Briefes, den Nadine ihr geschrieben hatte, klar gewesen, dass diese eine Affäre mit einer anderen Frau beginnen werde. Sie habe Nadine diesbezüglich angesprochen, die jedoch geantwortet habe, dass sich das »nicht so anfühle« und »da nichts« sei (56,14). Lydia erzählt, dass sie das jedoch sehr klar gesehen habe und Nadine mit ihrer eigenen Unklarheit konfrontiert habe. Ihre Partnerin habe sich unter Druck gesetzt gefühlt, aber Lydia wollte eigentlich nur »eine klare Ansage« haben (56,12). Da Nadine abstritt, eine Affäre haben zu wollen, betrachtet Lydia das Unvermögen ihrer Partnerin, nach den eigenen Gefühlen schauen zu können, als »Vertrauensbruch« ihr gegenüber, denn sie glaubt, dass ihre Partnerin nicht das Vertrauen hat, ihr ihre Gefühle (56,21) bzw. Unsicherheiten mitzuteilen (58,1). Lydia sieht ihr Verhalten nicht als gewalttätig an (58,2), kann sich aber vorstellen, dass bei ihrer Partnerin bestimmte Dynamiken freigesetzt werden könnten (58,3). Durch das darauf folgende Verhalten ihrer Partnerin würde ein Kreislauf entstehen, in dem ihre »Klarheit dann noch schärfer« würde (62,1). Ihre ehemaligen Partnerinnen und auch Nadine würden ihr Bedürfnis nach Klarheit jedoch als Unsicherheit, Eifersucht (73,1-3) und Kontrolle (75,3) interpretierten. Lydia ist dessen ungeachtet der Auffassung, dass sie ein feines Gespür für Gefühle und Situationen habe und dadurch eine Klarheit erreiche, die die ande310
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ren nicht hätten oder »haben wollten« (66,1). Ihre nunmehr drei ehemaligen Partnerinnen hätten ihre »Unsicherheit« dadurch verborgen, dass sie ihr eine Grenze »reingeknallt« hätten, weil sie das Gefühl hatten, dass Lydia sie mit ihrem Wunsch nach Kommunikation »unter Druck gesetzt habe« (74,7). Die Wahrnehmungen ihrer (ehemaligen) Partnerinnen seien für Lydia letztlich nur eine »Projektion« (72,1) und eine »Verschiebung« (74,7) gewesen. Sie glaubt, je größer die »Unsicherheit« ihrer Partnerin gewesen sei, desto weniger sei »das Ganze« gegangen (76,1). _______________________ In dem dargestellten Erzählabschnitt wird deutlich, dass Lydia von ihren Partnerinnen als grenzüberschreitend und gewalttätig wahrgenommen wird. Auch wenn sie nicht ausschließen könne, dass ihr Verhalten bei ihren ehemaligen Partnerinnen derart gewirkt haben könnte, weist sie deren Wahrnehmungen zurück. Vielmehr führt sie die Gründe für die unterschiedlichen Eindrücke auf ›Kommunikationsprobleme‹ zurück, die darauf basierten, dass Lydia »sehr schnell im Denken« und in vielen Sachen schnell »sehr klar« sei. Sie sei davon ausgegangen, dass die anderen auch diese Fähigkeit besäßen, was sich jedoch als Irrtum erwiesen habe. Lydia ordnet sich hier eine Eigenschaft zu, die sie von ihren Freundinnen abhebt und das Besondere an ihr hervorhebt. Da ihre (ehemaligen) Partnerin/nen dieses Besondere an ihr nicht erkannt hätten, habe das in der Folge zu ›Kommunikationsproblemen‹ geführt. Lydias Beschreibung legt jedoch eher die Vermutung nahe, dass sie sich in keiner ihrer Partnerschaften in ihrer Besonderheit angenommen gefühlt hat. Ihre Partnerin und auch ihre ehemaligen Partnerinnen hätten entgegen ihrer Auffassung die Gründe für ihr Verhalten in ihrer Eifersucht, Unsicherheit und ihrem Bedürfnis nach Kontrolle liegend gesehen. Im Folgenden führt sie als Beispiel für die unterschiedlichen Wahrnehmungen einen Konflikt um eine Affäre von Nadine an, die nach Lydias Auffassung noch stattfinden wird. Lydia vermeint zu spüren, dass Nadine eine Affäre mit einer bestimmten Frau haben werde. Obgleich diese Lydias Eindruck zurückweist, lässt Lydia von ihrer Wahrnehmung nicht ab und deutet Nadines Verhalten stattdessen als mangelndes Vertrauen, ihre Gefühle zu offenbaren. Da keine ihrer (ehemaligen) Partnerinnen Lydias Besonderheit wahrnehmen und würdigen kann, führe das zu einer Fehlinterpretation ihres Verhaltens. Das wiederum hätte zur Folge, dass sie als Täterin wahrgenommen und ihre Partnerinnen ihr fälschlicherweise Grenzen »reinknallen« würden. Lydias Lesart deutet erneut auf ihr Gefühl hin, von ihrer Partnerin zurückgewiesen zu werden. Die Formulierung »reinknallen« legt zudem nahe, dass Lydia die Grenzsetzungen als 311
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ungerechtfertigt erachtet. Zudem sieht sich Lydia, wie bereits dargestellt, in ihrer Besonderheit nicht hinreichend wahrgenommen und wertgeschätzt, und infolgedessen ungerecht behandelt. Ihre Auseinandersetzung mit gewalttätigen Ereignissen bzw. dem an sie gerichteten Anwurf, selbst gewalttätig zu sein, findet über eine kritische Würdigung ihrer Partnerinnen statt. Dadurch entgeht sie einer Auseinandersetzung mit den eigenen aktiven Anteilen ihrer Gewalttätigkeit. _______________________ Im Folgenden erzählt Lydia von mehreren Konflikten, anhand derer sie ihr gewalttätiges Verhalten erläutert. Neben den geschilderten ›Kommunikationsproblemen‹ führt sie als weiteren Grund das in der Partnerschaft vorhandene Machtungleichgewicht an: So habe es beispielsweise einen Konflikt um Nadines Schlafstörungen geben. Nadine habe lange Zeit unter Schlafstörungen gelitten (264,2), weshalb es eine Vereinbarung gegeben habe, dass sie Nadine im Schlaf nicht störe und nicht wecke (264,6). Es habe jedoch Situationen gegeben, in denen Nadine nach Wahrnehmung von Lydia »aus dem Kontakt gegangen« sei und sehr schnell habe schlafen müssen (264,6). Sie habe das aber ignoriert, weil es ihr wichtig gewesen sei: »[…] wenn es wichtig war, war es wichtig. Punkt« (264,7). Lydia habe ihre Partnerin aber auch bei Sachen geweckt, die rückblickend nicht unbedingt hätten sein müssen (268,3), weil sie auch die kleineren Streitereien »[bis] zum Ende durchdiskutieren und dann in den Mülleimer werfen« und »das Gute dabehalten« wollte (270,1). Nadine sei da aber teilweise schon so müde gewesen, dass sie sich nicht mehr konzentrieren konnte und schlafen wollte. Für Lydia bedeutete das aber zu warten. Sie sieht die Situation derart, dass Nadines Dinge geklärt waren, ihre aber nicht (274,1). _______________________ Lydia empfindet Nadines Schlaf als Rückzug aus einem ungelösten Konflikt. Lydia unterscheidet im Folgenden zwei Motivationen, sich nicht an die ausgehandelte Grenze zu halten: zum einen dann, wenn ihr etwas wichtig war, und zum anderen, wenn sie die Situation zu Ende bringen wollte, d.h. das Problem ausdiskutiert werden sollte. Die erste geschilderte Motivation lässt vermuten, dass dieser das Gefühl zugrunde liegt, von Nadine zurückgewiesen zu werden, da diese die Bedeutung bestimmter Themen oder Dinge für Lydia verkennt. Im Vordergrund der zweiten angeführten Motivation steht Lydias Bedürfnis nach Kommunikation, das von ihrer Partnerin jedoch durch den Schlaf unerfüllt bleibt. Bleibt der Konflikt ungelöst, empfindet Lydia das als Machtungleichgewicht, in dem sie sich als unterlegen wahrnimmt; dann seien zwar Na312
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dines, nicht jedoch ihre Dinge geklärt. Daher versucht sie, ihr Bedürfnis auch entgegen der dezidierten Absprache, Nadine schlafen zu lassen, durchzusetzen, um das empfundene Machtungleichgewicht aufzulösen. Die beiden aufgeführten Beispiele für beziehungsinterne Konflikte zeigen, dass sich Lydia von ihrer Partnerin, aber auch ihren ehemaligen Partnerinnen, in ihrer Besonderheit nicht hinreichend wertgeschätzt und angenommen fühlt. Auch beschreibt sie die Partnerschaft als durch ein Machtungleichgewicht geprägt, in dem sie sich ihrer Partnerin unterlegen wahrnimmt. Es sei dann zu Grenzüberschreitungen gekommen, wenn sie versucht habe, ihre Bedürfnisse gegen die Grenzen der Anderen durchzusetzen, um so das Machtungleichgewicht zu ihren Gunsten zu verschieben. Lydia zeigt – wie bereits dargestellt – eine große Verachtung für Nadines »Opferhaltung«, obgleich sie sich ihr unterlegen fühlt. Die nachstehende Sequenz verdeutlicht ihre Ambivalenz: Beide Frauen sind zusammen mit Lydias Fahrzeug in Urlaub gefahren. Lydia wollte nun doch länger in der Gegend bleiben, statt wie geplant gemeinsam weiter in eine andere Region zu reisen: (298) Lydia: … weil ich auch dort an sich [in der Region] bleiben wollte. Und gesagt habe: »Hier, ich kann dich da, wenn du da hin willst, kann ich dich zu diesem Bahnhof bringen. Und dann kannst du da hin fahren.« [In ironisierendem Ton] »Nein, du setzt mich aus.« Und war dann an sich in ihrem Trauma von der Missbrauchsgeschichte. Das heißt, ich war dann das Arschloch, was sie aussetzt. Und das hat sich dann weiter hochgeputscht. Und dann konnte ich auch nicht mehr, und dann dacht ich: »Na ja, fahre ich sie halt noch hin.« Na ja, wieder auf dieses Trauma, Trauma, Trauma eingegangen und ich bin das arme Opfer. … Und dann gab es halt eine Situation, ich weiß auch nicht mehr genau, wie die zustande gekommen ist. Wo ich auch irgendwann richtig, ich wirklich auch einfach die Schnauze voll hatte. Weil es immer noch darum ging, dass sie ja jetzt die Arme ist, die, weil ich habe dann auch mal in [Land] gesagt, hier jetzt sind wir in [Land], jetzt, da wird ein Zug hinfahren und dann kannst du einen Bus nehmen. Wenn ich jetzt nicht hier wäre, würdest du das auch schaffen. Und dann war das, ging das halt noch mal, dass sie das nicht wollte und ich sie aussetze und nanana. Und dass es dann vorbei wäre und dass, tatata. Und dann gab es irgendwie, ich weiß nicht mehr genau, was sie vorher gesagt hat, auf jeden Fall habe ich sie dann sicherlich auch was ich weiß auch noch nicht, wie es dazu gekommen ist, wird sicherlich auch eine Geschichte bei mir dahinter geben, also wo ich sie dann halt irgendwann, weil ich einfach gar nicht mehr konnte und einfach nur noch meine Ruhe haben wollte, einfach »FOTZE« angeschrien habe. Also auch mit einer totalen Verach313
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tung da drin. Was sicherlich absolut unadäquat ist und auch einfach auch eine totale Grenzüberschreitung und alles Mögliche. Lydia entscheidet sich im Urlaub, die Reise nicht wie geplant fortzusetzen, sondern in dem Ort zu verweilen, in dem sie sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt. Nadine möchte jedoch weiterfahren. Daraufhin schlägt ihr Lydia vor, sie an den nächstgelegenen Bahnhof zu bringen, von dem aus sie zu dem nächsten Reiseziel fahren könne. Nadine antwortet, dass Lydia sie »aussetze«, was diese in einem nachäffenden Tonfall wiedergibt. Ihr Tonfall kann als Ausdruck ihrer Verachtung gegenüber Nadines Haltung interpretiert werden. Lydia bringt Nadines Äußerung in Zusammenhang mit dem von ihr erlittenen sexuellen Missbrauch und sieht sich mit dem Täter gleichgesetzt. Die Situation eskalierte, bis Lydia einlenkt und überlegt, Nadine schließlich in die andere Region zu fahren. Gleichzeitig ist sie aber auch der Auffassung, dadurch Nadine in ihrem Opfersein zu bestärken. Ihre Formulierungen, »Trauma, Trauma, Trauma« und »ich bin das arme Opfer« weisen erneut auf ihre Verachtung von Nadines Opferhaltung hin. Der nachfolgende Ausdruck, Lydia habe »die Schnauze voll« gehabt, kann als ihre Wut darauf gelesen werden, dass sich Nadine in dieser Situation als Opfer sieht. Die Situation eskaliert erneut und Nadine äußert wiederholt, dass sie nicht einfach an den Bahnhof gebracht werden möchte, weil sie sich »ausgesetzt« fühle. Auch droht sie damit, die Beziehung zu beenden. Lydia kommentiert diese Aussagen mit Äußerungen wie »nanana« und »tatata«. Diese können sowohl als Ausdruck ihrer psychischen Angespanntheit als auch als verachtende Kommentierung interpretiert werden. Sie erzählt weiter, dass sie »nicht mehr konnte« und ihre »Ruhe« haben wollte und Nadine schließlich als »Fotze« bezeichnete. Sie habe geschrien und in dem Wort habe sehr viel Verachtung gelegen. Der Begriff »Fotze« ist eine herabsetzende, sexualisierte Bezeichnung für eine Frau, die zudem eher von Männern als von Frauen benutzt wird:11 Lydias Wortwahl legt daher die Vermutung nahe, dass sie in diesem Moment die Rolle des Täters des sexuellen Missbrauchs übernommen hat. Folglich verleiht sie ihrer Verachtung für Nadines Opferhaltung Ausdruck, indem sie dessen Position einnimmt. Im Nachhinein erachtet sie ihr Verhalten als »unadäquat«, als »totale Grenzüberschreitung« und »alles Mögliche«. Diese offene Formulierung lässt vermuten, dass sie ihr Verhalten als gewalttätig wahrnimmt, aber diese Begrifflichkeit für sich nicht annimmt. _______________________
11 Vgl. u.a. Luise Pusch (1990), Alle Menschen werden Schwestern, S. 67f. 314
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Lydia erzählt im Folgenden, dass ihre verbale Attacke gegen Nadine angesichts ihrer »Gefühlsmasse« »angemessen« gewesen sei, was ihr dennoch nicht das »Recht« gebe, sich derart zu verhalten (300,1). Nadine wiederum habe sie daraufhin während des Fahrens physisch angegriffen (302,1), indem sie ihr den »Kopf weggedrückt« und den »Arm umgedreht« habe (306,1). Lydia empfindet es als »adäquat«, Nadines Verhalten als »Mordanschlag« zu betrachten (316,3-4), was sie jedoch in Anbetracht der Vorgeschichte »noch mal relativieren« wolle (316,5). Nadine reagiert auf Lydias Verachtung mit einem physischen Übergriff. Lydias Beschreibung des Geschehens als »Mordanschlag«, deutet auf ihre Einschätzung der Situation als lebensbedrohlich hin. Dagegen betrachtet sie ihre verbalen Attacken angesichts ihrer Gefühlslage als »angemessen«. Durch die unterschiedliche Bewertung der jeweiligen Verhaltensweisen erscheint die eigene Attacke nicht nur in einem milderen Licht, sondern ermöglicht es Lydia zudem, sich als Opfer eines lebensbedrohlichen Angriffs wahrzunehmen.
Physische Gewaltausübung von Lydia Lydia erzählt erstmals im Zusammenhang mit dem Konflikt um Nadines Zweitbeziehung auch von körperlichen Übergriffen: So berichtet sie, dass sie sich entschieden habe, wenn Nadine mit ihr keine »näheren Bande« eingehen wolle und sie nur eine Geliebte wie jede andere sei, selbst auch nach anderen Frauen zu schauen (116,4). Nadine habe darauf Herzrhythmusstörungen bekommen, was Lydia als »super eifersüchtig« interpretierte (118,5). Ihre Freundin habe das jedoch abgestritten und Lydia sagt in einem nachäffenden Ton, »nein, das sind nur Herzrhythmusstörungen« (118,6). Auf die Frage der Interviewerin, welche Gefühle diese Antwort bei Lydia ausgelöst habe, antwortet sie, dass das »reine Selbstverleugnung« sei und sie das »mit sonst jemandem machen könne aber nicht mit ihr« (120,1-2). Lydia habe dann versucht, mit Nadine darüber zu sprechen bzw. auch noch einmal in einer »Handlung rüberzubringen« (126,2). Das wurde von Nadine jedoch als grenzüberschreitend empfunden (125,3). Im Folgenden bejaht Lydia die Frage der Interviewerin, ob es in der Beziehung auch zu körperlichen Übergriffen gekommen sei. Sie erzählt, dass sie in den Situationen, in denen sie glaubte, dass Nadine »aus dem Kontakt gehe«, außer sich sei und »totale Wutanfälle« bekäme (182,3). Lydia sieht ihr Verhalten jedoch nicht als gewalttätig an, weil sie in dem Moment »keine Kontrolle darüber« habe (182,6). Sie glaubt, dass ihr Verhalten mit »Epilepsie« vergleichbar sei (182,7). _______________________
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Lydia hat den Eindruck, dass sich Nadine von ihr abkehrt und wendet sich daher anderen Frauen zu. Der sich nun anbahnende Konflikt, ob Nadine nun eifersüchtig ist oder zeitnah Herzrhythmusstörungen hat, legt die Vermutung nahe, dass sich Lydia diese emotionale Reaktion von Nadine erhoffte und daher deren Verhalten auch dahingehend interpretiert. Da Eifersucht als ein Aspekt von Verlustangst betrachtet werden kann, hegt Lydia möglicherweise die Hoffnung, durch diese emotionale Regung eine Bestätigung ihrer besonderen Bedeutung für Nadine zu erhalten. Mit Nadines Zuwendung zu der anderen Frau gehen für Lydia eine Zurückweisung und auch der Entzug von emotionaler Unterstützung einher. Von der Interviewerin darauf angesprochen, welche Gefühle die Zurückweisung bei ihr ausgelöst hätten, richtet Lydia jedoch ihren Blick auf Nadine und sagt, dass deren Verhalten nichts anderes als »Selbstverleugnung« sei. Durch diesen Perspektivwechsel entsteht der Eindruck, dass sie keinen Zugang zu ihren Gefühlen hat und diese nur über die Charakterisierung und Analyse von Nadines Verhalten und Psyche beschreiben kann. Jedoch wird ihre Verletztheit und Wut durch die nachfolgende Äußerung, dass Nadine das mit ihr nicht machen könne, offenkundig. Sie habe dann versucht, nochmals mit Nadine zu reden und habe aber auch ihren Standpunkt »in einer Handlung rübergebracht«. Mit dieser Formulierung wird ein physischer Übergriff angedeutet. Da die Interviewerin diese Formulierung auch dahingehend interpretiert, fragt sie nach, ob es zu physischen Attacken gekommen sei. Lydia bejaht ihre Frage und berichtet, dass sie, wenn sie glaube, dass Nadine »aus dem Kontakt« gehe, »totale Wutanfälle« bekäme. Der Ausdruck »aus dem Kontakt gehen« weist auf Lydias Gefühl hin, dass sich ihre Partnerin ihr entzieht. Sie empfindet dies als Kontrollverlust gegenüber ihrer Partnerin, reagiert darauf mit Wut und verliert schließlich die Kontrolle über ihr eigenes Verhalten. Das wiederum bestärkt ihre Auffassung, dass diese Situation mit einem epileptischen Anfall vergleichbar sei. Die Analogie zu einer Krankheit ermöglicht es ihr zugleich, sich von ihrem Tun zu distanzieren. In der folgenden Sequenz beschreibt Lydia ihr Verhalten während der Tat näher: (186) Lydia: Ich werde dann stinkwütend und schreie dann und, und meine Lieblingsbeschäftigung dann ungefähr, was ich nicht mitkriege, aber weiß, ist einfach dann Sachen irgendwie von der Wand nehmen oder Sachen aus den Schränken zu reißen oder so, aber was alles noch reparabel ist. Lydia erzählt, dass sie »stinkwütend« sei, Sachen von der Wand nehme oder aus den Schränken reiße. Sei bekäme in diesem Moment nicht mit, 316
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was sie tue, wisse es aber. Es kann daher angenommen werden, dass sie aufgrund der Erzählungen von anderen Menschen um ihr Handeln weiß. Ihre Formulierung »Lieblingsbeschäftigung« zur Beschreibung ihrer Handlungen deutet nicht nur darauf hin, dass sie häufiger derart reagiert hat, sondern auch, dass sie ihre Attacken als nicht schwerwiegend erachtet. Auch ihre Äußerung, dass es sich um Dinge gehandelt habe, die »noch reparabel« seien, kann als Milderung des Verhaltens gelesen werden. Außerdem trägt ihre Wahrnehmung, dass ihr Tun außerhalb ihrer Kontrolle liegt, dazu bei, dass sie dies nicht als gewalttätig beurteilt. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass sie nicht zu den aktiven Anteilen ihrer Gewalttätigkeit stehen kann. Obgleich Lydia eigene gewalttätige Anteile in der Partnerschaft beschrieben hat, ist sie – wie bereits dargestellt – der Auffassung, dass vor allem Nadine in der Beziehung gewalttätig geworden sei. Sie beschreibt mehrere Begebenheiten, in denen diese übergriffig geworden sei.
Lydias Wahrnehmung von Nadine als gewalttätige Person Psychische Gewalt Lydia berichtete zuvor, dass sie Nadine in einer Kampfsportschule kennen gelernt habe, in der Nadine Win Tsun unterrichtete. Lydia war von ihr begeistert und erzählt, dass sie ihre eigene Stärke »erst mal über dieses Bild der Trainerin umfunktioniert« habe (200,2). Am Anfang der Beziehung sei das »toll« gewesen und sie sei »immer größer« geworden (200,3). Sie kommentiert diesen Satz mit den Worten »ta, ta, ta«. Das Problem sei jedoch gewesen, dass sie nicht daran gearbeitet habe, dieses Bild »herauszukriegen«, da es immer weiter »gefüttert« wurde (200,4). Da sie auch ihr Selbst in dieser Stärke hatte, sei dann, als Nadine »nicht mehr stark« gewesen sei, auch ihre »innere Stärke« angegriffen worden (200,6). Nadine habe sich aber »nie wirklich« die »Macht« angeschaut, die sie als Trainerin hatte (202,5). Lydia sei eine Weile nicht ins Anfängerinnen-Training gegangen, weil sie nicht in den Stadtteil fahren wollte, in dem das Training stattgefunden habe. Nadine habe ihr deshalb vorgeschlagen, in ein von ihr geleitetes »autonomes Training« zu gehen. Lydia interpretierte diese Antwort derart, dass ihr »da wieder einmal reingedrückt wurde, dass sie genau die richtige Antwort darauf hatte« (206,7). _______________________ Es zeigt sich, dass Lydia sich anfänglich mit der Stärke, die Nadine aufgrund ihres Berufes verkörpert, identifizierte und ihre eigene innere 317
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Stärke mit dieser verwoben hat. In dem Moment, in dem Nadine das Bild einer starken Trainerin nicht verkörperte, sondern Schwäche zeigt, hat Lydia das gleichermaßen als Angriff auf ihre Stärke interpretiert. Zugleich fühlt sie sich Nadine unterlegen. Daher empfindet sie deren Lösungsvorschlag für ihr Problem zugleich als Machtausübung, die ihr Selbstwertgefühl verletzt. _______________________ Im Folgenden berichtet Lydia, dass sie das Training nicht mehr nötig gehabt habe, weil sie ihre innere Stärke gefunden habe (214,2). Sie erzählt, dass sie Nadine inzwischen nicht nur als starke Frau erlebt habe, sondern dass diese »auch mal schlecht drauf war« (216,1). Lydia wollte das Machtungleichgewicht der Beziehung auflösen (216,5). Deshalb nahm sie eine Äußerung Nadines zum Anlass, ihr vorzuschlagen, selbst Training zu geben (216,6). Daraufhin habe Nadine sie »niedergemacht«, »was sie sich einbilden« würde (216,7). Das sei soweit gegangen, dass Nadine eine andere Trainerin angerufen und gefragt habe, ob diese glaube, dass Lydia ein Training geben könne. Nadines Kollegin war der Meinung, dass das »totaler Schwachsinn« (222,4) sei. Nadine habe das genutzt, um sie »klein zu machen«, und Sprüche geäußert wie »na, das greift wohl dein Ego an« (222,6). _______________________ Lydia möchte das von ihr wahrgenommene Machtungleichgewicht in der Beziehung auflösen, indem sie versucht, in dem Bereich, in dem sie das größte Machtungleichgewicht empfindet, nämlich im Kampfsport, Gleichheit herzustellen: Ihr Vorschlag beinhaltet einen Wechsel ihrer Position von der Schülerin hin zur Trainerin. Dadurch würde eine »Ebenbürtigkeit«, d.h. Gleichheit hergestellt werden. Nadines ablehnende Reaktion empfindet Lydia nicht nur als abwehrend, sondern auch als herabsetzend. Indem Nadine zudem eine Kollegin anruft, erhält Lydias Vorschlag eine Öffentlichkeit; da die Kollegin Lydias Anliegen ebenso ablehnend gegenübersteht wie ihre Partnerin Nadine und sich zudem abfällig äußert, erfährt sie eine weitere Kränkung ihres Selbstwertgefühls. Durch die ablehnende Haltung Nadines wird das von Lydia empfundenen Machtungleichgewicht aufrechterhalten und fortgeschrieben. _______________________
Physische Gewalt Lydia erzählt mehrere Begebenheiten, bei denen sich ihre Partnerin ihrer Auffassung nach physisch übergriffig verhalten habe:
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AUSGEWÄHLTE INTERVIEWS – REKONSTRUKTION VON BEZIEHUNGSDYNAMIKEN
Sie knüpft an den Konflikt um ihren Vorschlag an, als Trainerin zu arbeiten. Nachdem ihr Anliegen von Nadine zurückgewiesen worden war, sei sie erst einmal hinausgegangen sei, um »da nicht sofort reinzuhauen« (222,9). Als sie zurückkam, habe ihre Partnerin bereits geschlafen. Das sei für sie »doof« gewesen (226,3), worauf sie Nadine geweckt habe und sagte, dass sie noch miteinander reden müssten (228,1). Daraufhin habe Nadine versucht, sie zu treten, wobei sie aber noch rechtzeitig ausweichen konnte (232,1). Dann habe Nadine zwei Minuten mit einem »Augenstecher« vor ihr gestanden (232,2). Lydia wollte aus der Wohnung flüchten, doch Nadine habe sie nicht hinaus gelassen. Lydia versuchte, sich verbal zu wehren, indem sie schrie: »Fass mich nicht an!« und »Lass mich raus!« (234,4-5). Im Folgenden habe Nadine Lydia gepackt und geschüttelt (236,1). Lydia sagt, dass sie nicht mehr weiß, wie die Situation schließlich geendet sei, das sei ihr »entfallen« (236,4). Es sei für sie zu traumatisch gewesen (236,5). Am nächsten Morgen habe Nadine jedoch abgestritten, diese Techniken angewendet zu haben (252,2). Danach habe es von ihr keine körperlichen Angriffe mehr gegeben (242,6). In der nachstehenden Erzählsequenz schildert Lydia ihre Wahrnehmung des Geschehens: (242) Lydia: Und dann, ich weiß nicht, also ich weiß einfach nicht mehr, ob ich dann gegangen bin oder sie gegangen ist oder ob ich mich ins andere Zimmer gelegt habe. Ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall gab es danach keine körperlichen Angriffe mehr. Aber was, sage ich mal, für mich an und für sich noch schlimmer war als diese Angriffe von außen, ist halt genau dieses mit diesem verinnerlichten Bild, weil ich (mich) auch von innen heraus aus meiner Stärke heraus angegriffen wurde. Und das bei mir erst mal ein komplettes Blanko gemacht hat. Und das war an und für sich für mich wesentlich schlimmer als die Angriffe von außen, weil, die hören irgendwann mal auf. Und das andere zerscheppert erst mal ziemlich alles. (-) Lydia erzählt, dass sie sich nicht mehr an das nachfolgende Geschehen erinnern kann. Sie begründet dies damit, dass sie die physische Attacke eher verwunden hat als den Angriff auf ihre Psyche. Nadines Übergriff habe ihre innere Stärke angegriffen, was zu einem »kompletten Blanko« geführt habe. Diese Formulierung kann nicht nur als Begründung für die Erinnerungslücke gelesen werden, sondern auch als Hinweis auf das Gefühl, in dieser Situation das Selbstwertgefühl verloren zu haben. Daher kann angenommen werden, dass sich Lydia in diesem Moment sehr verletzbar und ihrer Partnerin völlig ausgeliefert sieht. Während der »An319
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griff von außen«, »irgendwann mal« beendet sei, wirke die Attacke auf ihre innere Stärke jedoch nach. Das lässt vermuten, dass sie die Auswirkungen physischer Gewalt als weniger nachhaltig bewertet als deren psychische Folgen. Diese Sichtweise ist konsistent mit ihrer Wahrnehmung eigener physischer Attacken, die sie als nicht schwerwiegend erachtet bzw. abmildert. Nach Lydias Schilderung zieht sie sich nach Nadines Zurückweisung aus dem Konflikt zurück, »um da nicht sofort reinzuhauen«. Diese Formulierung lässt vermuten, dass sie in dem Moment wütend und verletzt war, und sich zurückzog, um möglichen eigenen aggressiven Anteilen zu entgehen. Als sie zurückkehrt, schläft Nadine bereits, was von ihr hier als weitere Demonstration der Überlegenheit und Macht angesehen worden sein könnte. Entgegen der Übereinkunft weckt sie Nadine, die daraufhin, wie dargestellt, aggressiv reagierte. Die Konfliktentwicklung weist eine Dynamik auf, in der sich Lydia zunehmend zurückgewiesen, »klein gemacht«, ihrer Partnerin unterlegen, ihres Selbstwertgefühls beraubt und schließlich ausgeliefert sieht. Das erweist sich für sie als besonders verheerend, denn sie wird ihrer psychischen Stärke durch diejenige Person beraubt, mit der sie ihr Selbstwertgefühl eng verwoben hat. Als Nadine am nächsten Morgen von Lydia auf ihr gewalttätiges Verhalten angesprochen wird, habe sie dies abgestritten. Ihre Antwort lässt vermuten, dass auch sie nicht zu ihren aggressiven Anteilen stehen kann. Der von Lydia geschilderte Konflikt stellt sich für die außenstehende Betrachterin derart dar, dass beide Frauen sich durch ihre Partnerin nicht hinreichend wertgeschätzt fühlen und es infolgedessen von beiden zu Grenzüberschreitungen gekommen ist, die schließlich in einem physischen Übergriff mündeten, der von Lydia nicht, aber von Nadine verwirklicht wurde. _______________________ Lydia berichtet vor der Beschreibung dieses Konflikts von weiteren Situationen, in denen Nadine physisch übergriffig geworden sei. Nachdem Lydia eine Fessel-Szene abgebrochen habe, habe Nadine einen Streit »provoziert« (186,5), in dessen Verlauf Lydia übergriffig geworden sei. Auch berichtet Lydia von einer weiteren Begebenheit, in der Nadine unverhältnismäßig reagiert habe. Die Folge sei gewesen, dass ihre Lippe »ein bisschen« aufgeplatzt gewesen sei, sie dies aber auch nicht als »körperliche Extremverletzung« empfunden habe (198,1). In dem nachfolgenden Ausschnitt schildert Lydia die Geschehnisse: (188) Lydia: Das war dann so, dass sie halt dachte, ich laufe jetzt Amok. Mich daraufhin beim Anziehen an sich genommen hat und auf das Bett 320
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geworfen hat und runtergehalten hat. Woraufhin ich natürlich erst richtig geschrien habe. Und das würde ich einfach ganz klar als körperliche Gewalt definieren, das eine, sage ich mal, mit Griffen von einer Trainerin, die so. Und das andere Ding war halt, das gab es dann ein paar Monate später, wo sie auch praktisch noch mal mit, wo klar war, dass ich jetzt hinter ihr herlaufe, wo sie auf der Flucht war. Wo sie mich auch geschlagen hat. Also wo ich sie dann von hinten angepiekt habe und sie halt mir den Ellenbogen in die Fresse gerammt hat. Die Sequenz wird damit eingeleitet, dass Nadine angenommen habe, Lydia »laufe jetzt Amok« und sie daher »genommen«, »auf das Bett geworfen« und »runtergehalten« habe. Lydia bezeichnet dieses Verhalten als »ganz klar körperliche Gewalt«, weil Nadine dafür Techniken aus ihrem Kampfsport angewendet habe. Es liegt die Vermutung nahe, dass sich Lydia in diesem Moment als unterlegen und daher Nadines Verhalten als Machtdemonstration wahrgenommen hat. Der Ausdruck »Amok laufen« legt jedoch auch nahe, dass Nadine befürchtete, Lydia könne in diesem Augenblick außer Kontrolle geraten, was einen physischen Übergriff ihrerseits hätte beinhalten können. Die zweite von Lydia geschilderte Situation stellt sich derart dar, dass sie ihrer Partnerin hinterhergelaufen und diese »auf der Flucht« gewesen sei. Die Formulierung »Flucht« lässt vermuten, dass Nadine in diesem Augenblick Angst vor Lydia hatte und deshalb vor ihr weggerannt ist. Im Folgenden beschreibt Lydia ihr Verhalten als »von hinten angepiekt«, während hingegen Nadine ihr »den Ellbogen in die Fresse gerammt« habe. Diese Beschreibungen lassen vermuten, dass sie ihr Tun nicht als gravierend erachtet, während sie Nadines Reaktion wiederum als schwerwiegend und unangemessen ansieht. Lydia stellt auch hier ihr Verhalten mittels einer abmildernden Sprache dar, während sie zur Charakterisierung von Nadines Tun eine martialisch und brutal wirkende Wortwahl heranzieht. Obgleich Lydia im nachfolgenden Satz das Ausmaß der Brutalität versucht zu relativieren, die Lippe sei nur »ein bisschen« aufgeplatzt, wird durch diese Gegenüberstellung ein Bild erzeugt, das Nadine als brutale Gewalttäterin erscheinen lässt.
Paartherapie Lydia berichtet auch, dass beide Frauen schließlich eine Paartherapie aufgesucht hätten (280,2), um die Beziehungsstruktur zu durchbrechen (286,1). Diese sei anfänglich von beiden gewollt gewesen (292,2). Lydia glaubt aber, dass Nadine eigentlich nicht an den Strukturen arbeiten wollte, wobei sie das »wollte« sehr betont (290,1). Sie erzählt, dass sie
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den Eindruck hatte, dass Nadine sich letztlich gegen die Paartherapie gesperrt habe, weil sie ihre »Hausaufgaben« nicht gemacht habe und diese als »lapidar« empfand (292,2). Es liegt die Vermutung nahe, dass mit der Paartherapie die Beziehung aufrechterhalten bzw. ihr Fortbestand gesichert werden sollte. Da sich nach Lydias Wahrnehmung Nadine der Therapie entzieht, ist folglich der Fortbestand der Beziehung fraglich, was zu einer weiteren Verunsicherung von Lydia geführt haben könnte.
Trennung der Partnerschaft Nadine habe sich schließlich von ihr getrennt, weil diese der Auffassung gewesen sei, dass Lydia besser mit ihren Freundinnen umginge als mit ihr (486,2). Lydia erzählt, dass sie nicht loslassen konnte, weil der Zeitpunkt der Trennung für sie »fremdbestimmt« gewesen sei (486,4). Daher habe sie vor Nadines Wohnungstür gestanden, habe sie angerufen und schließlich mit Selbstmord gedroht (486,9). Nadine wiederum habe Lydias Sachen gepackt, die noch in ihrer Wohnung waren, und habe sie zu einer Freundin gebracht, wo Lydia sie abholen konnte (496,17-19). Nadine habe jedoch eine Kiste mit den persönlichen Sachen (»materialisierte Seelendinge«) von Lydia behalten (502,6-7), die Lydia erst von ihr einfordern musste. Durch den Tod ihrer Mutter hat Lydia Geld geerbt. Ihre Partnerin habe ihr zuvor in der Beziehung an bestimmten Punkten einen »Mittelschichtsumgang« unterstellt (503,5) und sagte jetzt, dass sie wohl von nun an nur noch »Tochter von Beruf« sei (518,8). Auch habe Nadine angefragt, ob Lydia ihr etwas zur Miete dazu geben könne, weil sie ja bei ihr gewohnt habe (520,1). Nadine sei extra zuvor zu einer »Mittelschichtsfreundin« gegangen, um zu fragen, ob das in Ordnung sei. Nadine definiert sich selbst als »Prol«, hätte aber einen höheren Stundenlohn als Lydia. Bei der Trennung habe Nadine die Wohnungskosten ausgerechnet und aufgeteilt. Lydia regt sich darüber auf, dass jede Kleinigkeit reingerechnet wurde: »… die hat da wirklich jeden Funz reingerechnet« (530,3). Sie erzählt, dass sie »richtig sauer« war, vor allem deshalb, weil Nadine das mit einer Freundin ausgerechnet habe (530,3). Dem gegenüber habe sie nie die Kosten des Lkws in Rechnung gestellt. Schließlich hatte Lydia keine Lust mehr, ihre Sachen zu holen. Letztlich sei sie wieder diejenige gewesen, die »blöd« sei und keine Grenzen einhielte (530,19). _______________________ Lydia schildert, dass sich Nadine von ihr getrennt habe, weil sie mit ihren Freundinnen »besser« umgegangen sei als mit ihr. Lydia wiederum 322
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habe die Trennung nicht akzeptiert, weil diese für sie »fremdbestimmt« gewesen sei. Das legt die Vermutung nahe, dass Lydia auch in der Trennung das von ihr wahrgenommene Machtungleichgewicht beibehalten sieht und sich wie bereits während der Partnerschaft dagegen stellt. Es kann vermutet werden, dass die von Nadine vollzogene Trennung für Lydia eine weitere Zurückweisung darstellt, die sie in ihrem Selbstwertgefühl (»Eigenmacht«) verletzt. Ihre Formulierung, die Trennung sei »fremdbestimmt« gewesen, weist zudem auf ihr Gefühl der Ohnmacht und des Verlustes an Kontrolle hin. Ihre nachfolgenden Reaktionen, vor Nadines Wohnungstür zu stehen oder mit Selbstmord zu drohen, können daher auch als Ausdruck ihrer psychischen Abhängigkeit gelesen werden. Ihre Androhung einer Selbsttötung kann zudem als extremer, letztmöglicher Versuch, eine »Kommunikation« zwischen den Frauen wiederherzustellen, erachtet werden, wodurch Lydia das Gefühl von Kontrolle zurückbekommen könnte. Der von Lydia geschilderte Klassenkonflikt stellt sich angesichts der dargestellten Beziehungs- und Konfliktdynamiken als weiterer Ausdruck des Machtkampfes der beiden Frauen dar. Nadine wiederum zieht nach Lydias Erzählung in der Trennungsphase eine Freundin zur Unterstützung heran. Lydias darauf folgende Äußerung, dass sie letztendlich wieder die »Blöde« gewesen sei, »die keine Grenzen« einhielte, lasse vermuten, dass sie befürchtet, gegenüber dieser Freundin als Täterin stigmatisiert zu werden, woraufhin sie sich zurückzieht.
Der Tod von Lydias Mutter Lydias Beschreibungen der Konflikte zeigen, dass sie die Besonderheit ihrer Liebe nicht hinreichend wertgeschätzt, sich von ihrer Partnerin zurückgewiesen und sich ihr zugleich unterlegen fühlt. Auch hat sie ihr Selbstwertgefühl eng mit Nadines Präsentation von Stärke verwoben, so dass jede Schwäche von dieser zugleich Lydias Selbstwert in Frage stellt. Die von ihr gezeigte massive Verachtung gegenüber Nadines Opferstrukturen erweist sich daher auch als ebenso große Abscheu gegenüber dem eigenen Opfersein. Die Konflikte können als ein Ringen um Macht charakterisiert werden, in denen Lydia bestrebt ist, das von ihr empfundene Machtungleichgewicht auszugleichen. Der Tod von Lydias Mutter spielt in der Konfliktdynamik eine besondere Rolle, denn hier wird Lydia in ihrer Bedürftigkeit von Nadine zurückgewiesen. Lydia erzählt, dass ihre Mutter in der Zeit gestorben ist, in der Nadine die Beziehung »mit der anderen Frau« eingegangen sei und »Abstand« von Lydia wollte (276,5). Sie berichtet weiterhin, dass sie in der 323
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Nacht, in der ihre Mutter gestorben sei, »einfach nur heulen« wollte (274,5). Gegen »drei oder vier Uhr morgens« habe Nadine jedoch gesagt, dass Lydia sie »jetzt« am Schlafen hindere (274,7). Daraufhin habe Lydia geantwortet, dass sie gehen könne, was Nadine wiederum nicht tat. Durch den Konflikt sei sie aus ihrer »Trauer herausgekommen« (274,25) und habe »schließlich aufgehört zu weinen, um Nadine schlafen zu lassen« (274,27). Lydia ist der Auffassung, »entweder kann man da sein oder nicht« (274,30). Wenn man es nicht könne, solle »man sich auch tunlichst verpissen« (274,31). Sie beschreibt Nadines Verhalten ferner als »Egozentrik pur« (276,3). Im Folgenden ergänzt sie das Geschehen dahingehend, dass sie Nadine angerufen und gebeten habe zu kommen (276,4). _______________________ Lydia bedarf aufgrund des Todes ihrer Mutter der emotionalen Nähe und Zuwendung von Nadine und bittet diese daher, zu ihr zu kommen. Nadine kommt zwar ihrem Wunsch nach, aber möchte nach geraumer Zeit schlafen. Dadurch geraten Nadines Schlafbedürfnis und Lydias Bedürfnis nach Zuwendung in Konflikt miteinander. Lydia fühlt sich von Nadine nicht hinreichend unterstützt und ist der Meinung, dass sich Nadine dann »tunlichst verpissen« solle. Auch empfindet sie deren Verhalten als überaus egoistisch. Lydias Erzählung lässt die Vermutung zu, dass sich Nadine zu diesem Zeitpunkt emotional von Lydia zurückgezogen, und sich verstärkt ihrer anderen Partnerin zugewendet hatte. Ihr Bedürfnis, in dieser Situation schlafen zu wollen, lässt vermuten, dass sie von Lydias Bedürftigkeit überfordert war und deren Trauer nicht an sich heranlässt. Der Schlaf, aber auch der daraus entstehende Konflikt, dient daher auch dazu, Distanz zwischen den Frauen herzustellen. Lydias Erzählablauf wiederum zeigt, dass sie ihre Bedürftigkeit, d.h. ihre Bitte, dass Nadine kommen möge, erst nach Schilderung von Nadines Zurückweisung formuliert. Das lässt vermuten, dass ihre Verletztheit im Vordergrund steht und es ihr schwer fällt, zu ihrer Bedürftigkeit zu stehen. Lydias Beschreibung des Konflikts legt zudem nahe, dass dieser dazu dient, eine aufkommende Nähe zwischen den Frauen zu verhindern. Das Geschehnis steht jedoch in Widerspruch zu der von Lydia anfänglich geschilderten Rollenverteilung in der Partnerschaft von Bedürftiger und Fürsorgender. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass Nadine die an sie gerichtete Erwartung an Fürsorge nicht hinreichend erfüllt, weshalb sich Lydia zurückgewiesen fühlt.
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Lydias Vergewaltigung Lydia erzählt, dass sie mit 20 im Herkunftsland ihres Vaters vergewaltigt worden sei: (413) I: Diese Vergewaltigung, wie alt warst du da? (414) Lydia: 20. Also, das war aber auch für mich, sage ich mal, war nicht in dem Sinne ein schlimmes Erlebnis. So. Ist halt passiert, aber letztendlich hat es mich nicht groß berührt, weil ich auch vorher nichts mit Typen zu tun hatte, deshalb auch keine Erwartungen hatte groß da dran. Und danach auch nicht und ich habe letztendlich dadurch die [nordafrikanische] Kultur wesentlich besser noch mal kennen gelernt. Und insofern war es eigentlich auch, also ohne nicht jetzt, dass es dann toll war, aber trotzdem eine gute, ich gute Sachen daraus habe produziert oder gemacht. Insofern ist es auch nicht so, dass ich die jetzt, gibt denen sicherlich nicht das Recht, aber trotzdem würde ich es nicht als schlimm mehr definieren können für mich. Die Sequenz wird mit Lydias Feststellung eingeleitet, dass sie die erlebte Vergewaltigung nicht »in dem Sinne« als ein »schlimmes Erlebnis« betrachtet. Nachfolgend führt sie ihre Sichtweise näher aus: Die Vergewaltigung habe sie »nicht groß berührt«, weil sei mit den Tätern nichts »zu tun« hatte und daher auch »keine Erwartungen groß da dran« hatte. Ihre Äußerung kann derart gelesen werden, dass die Täter nicht zu ihrem sozialen Nahraum im Herkunftsland ihres Vaters gehörten und sie daher auch keine »hohen Erwartungen« an diese gehabt habe. Ihre Gleichsetzung von »hoher Erwartung« mit physischer und sexueller Unversehrtheit lässt vermuten, dass sie diese in ihrem Leben nicht oder nur eingeschränkt erfahren hat. Im Folgenden beschreibt sie die Vergewaltigung als einen Akt, durch den sie die Kultur des Landes »besser kennen gelernt« und sie daraus »gute Sachen produziert oder gemacht« habe. Lydia beschreibt hier ihren Umgang mit der sexuellen Gewalt: Indem sie in diesem Akt etwas Positives für sich sieht, d.h. als interkulturelle Erfahrung, und andere »gute Sachen« daraus gewonnen hat, nimmt sie ihm seine Brutalität und das Zerstörerische. Das ermöglicht es ihr, sich davon nicht »groß berühren« zu lassen, so dass sie die Vergewaltigung »nicht als schlimm« wahrnimmt. Es liegt die Vermutung nahe, dass Lydia sich emotional verschließt, um die Vergewaltigung in ihrem brutalen Ausmaß ertragen und tragen zu können. Dadurch entsteht auch der Eindruck, dass sie das Geschehen abmildert. Ihre abschließende Äußerung, dass sie weiß, dass diese Männer nicht das Recht haben, sie zu verge325
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waltigen, deutet zwar auf einen formalen rechtlichen Rahmen hin, der sie aber nicht vor dem Übergriff hat schützen können. Es scheint, als ob sie das Vertrauen in das Rechtssystem verloren hat. Lydias Sicht auf die Vergewaltigung lässt auch die Vermutung zu, dass ihre physische, psychische und sexuelle Integrität bereits durch den von ihr zuvor erfahrenen möglichen sexuellen Missbrauch verletzt wurde und die Vergewaltigung diese Verletzung fortführt. Ihr Umgehen damit, die Tat abzumildern und aus ihr etwas Positives zu gewinnen, ist daher vor allem Ausdruck ihrer tiefen Selbstentwertung, die ihre Wurzeln in dem vermuteten sexuellen Missbrauch hat.
Der Vorwurf der Vergewaltigung Lydia berichtet im Folgenden, dass sie die Berufsfachschule nicht beenden konnte, weil sie dort mit dem Vorwurf der Vergewaltigung konfrontiert worden sei (446,1). Das sei vor ca. drei Jahren gewesen. Nach Meinung von Lydia sei eine bestimmte Situation herausgegriffen worden, die zwar »scheiße« gewesen sei, aber in der diese Frau deutlich formuliert habe, dass sie das wolle, aber wiederum Lydia nicht gefragt habe, ob sie das wolle (448,1-2). Obgleich Lydia zuvor erzählt, dass sie einen »Vergewaltigungsvorwurf am Hals habe«, nimmt ihre Erzählung bezüglich der Situation eine Wendung, die vermuten lässt, dass das Geschehen eigentlich gegen ihren Willen erfolgt sei, d.h. letztlich sie vergewaltigt worden sei. Diese Wendung kann derart gelesen werden, dass sie sich in dem Geschehen als Opfer wahrnimmt und daher nicht zu ihren aktiven Täteranteilen stehen kann. Aufgrund des Vergewaltigungsvorwurfs habe sich Lydia ins »politische Exil« zurückgezogen (448,5). Infolge des Vorwurfs sei Lydia aus mehreren Veranstaltungen »herausgeflogen« (452,2). Ihrer Meinung nach sei das ein »typischer« Umgang der »Szene« mit so etwas (452,3). Lydia erzählt, dass das aber auch eine wichtige Erfahrung für sie gewesen sei, weil sie merkte, dass es noch andere Frauen gab, »denen Dinge vorgeworfen« worden seien (452,5). Das seien vor allem Frauen gewesen, die sich »den Normen widersetzt« hätten und »sehr eigenständig«, »zu eigenständig« gewesen seien (454,3). Möglichen Auseinandersetzungen mit den anderen Frauen wollte sich Lydia nicht stellen, weil diese ihrer Auffassung nach nur auf »Selbstjustiz« aus gewesen seien (462,4). Lydia erzählt, dass sie in dieser Zeit nur sehr wenig Unterstützung von Freundinnen gehabt habe, diese aber auch nicht gesucht hätte (468,1). Sie glaubt, dass ihr das »nicht umsonst passiert« sei (468,2). Zwei Jahre später habe sie diese Frau getroffen und angesprochen. Diese 326
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hätte daraufhin gesagt, dass sie nicht wüsste, wie der Vorwurf entstanden sei. Lydia glaubt aber, dass diese Frau sie angelogen habe, um herauszufinden, wie sie mit der Situation umgegangen sei (472,2). Eigentlich sei diese Frau nicht mit Lydias Vergewaltigung klar gekommen und habe das dann auf sie projiziert (472,3-4). _______________________ In Lydias Beschreibung der Vergewaltigung kommt es immer wieder zu Grenzverwischungen zwischen sich und der Frau, die angibt, von ihr vergewaltigt worden zu sein: So habe diese nach Lydias Wahrnehmung der Sexualität zugestimmt, aber wiederum Lydia nicht gefragt, ob sie einverstanden sei. Folglich hätte der sexuelle Kontakt gegen Lydias Einverständnis stattgefunden; jedoch wird ihr die Vergewaltigung vorgeworfen. Lydia argumentiert weiter, dass diese Frau offenbar von Lydias früherer Vergewaltigung wusste und nicht mit ihrem Wissen darüber klargekommen sei und sie deshalb auf sich projiziert habe. Lydias soziales Umfeld reagiert ablehnend und ausgrenzend, wodurch sie als Täterin stigmatisiert wird. Sie entzieht sich möglichen Konfrontationen, da sie befürchtet, dass diese Frauen »Selbstjustiz« verüben könnten. Zugleich charakterisiert sie andere ebenfalls ausgegrenzte Frauen als »eigenständig, zu eigenständig« und sich »der Norm« widersetzend. Diese Formulierungen lassen vermuten, dass Lydia die ausgegrenzten Frauen positiv betrachtet, wobei sie darüber zugleich eine Gemeinsamkeit entwirft. Die Spiegelung der eigenen Ausgrenzung durch die vorteilhafte Wahrnehmung anderer Frauen, die ebenfalls ausgegrenzt worden sind, deutet darauf hin, dass Lydia auf diese Weise ihr Selbstwertgefühl stärkt. Den Vorwurf der Vergewaltigung wehrt sie damit ab, dass eigentlich sie es gewesen sei, die vergewaltigt worden sei und die andere Frau etwas auf sie projiziere. In ihrer Auffassung, dass ihr das nicht umsonst passiert sei, wird erneut die massive Selbstentwertung und tiefe Verachtung gegenüber ihrem Opfersein deutlich.
Zusammenfassende Interpretation Die in dem Interview dargestellten Formen von Gewalt sind sowohl physischer, psychischer als auch sexualisierter Art. Lydia nimmt in ihrem narrativen Stil häufig eine distanzierte Perspektive ein und benutzt anstelle des Personalpronomens ›ich‹ das undefinierte Pronomen ›man‹ oder das Personalpronomen ›du‹. Zugleich weist ihre Charakterisierung der Beziehung zu Nadine darauf hin, dass sie ihren Selbstwert eng mit deren Präsentation von Stärke verwoben, d.h. diese quasi »einverleibt« und mit Fantasien und Gefühlen verknüpft hat. Ein weiterer Ausdruck 327
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dieser Verwobenheit sind die zahlreichen Grenzverwischungen, die sich in Lydias Erzählungen zeigen; so bleibt an manchen Stellen des Interviews undeutlich, ob sie sich oder Nadine meint, und gleichermaßen diffus erscheint ihre Wohnsituation. Auch in der Beschreibung der von ihr verübten Vergewaltigung verwischen sich Täterin und Opfer. Lydia projiziert ihr Bedürfnis nach emotionaler Stabilität und Stärke auf ihre Partnerin und sieht dieses in Nadine aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit als Kampfsportlehrerin verkörpert. Lydia hoffte, von dieser aufgefangen und umsorgt zu werden: Das, was sie als ihr »inneres Kind« bezeichnet, repräsentiert ihre verletzliche Seite, ihr Opfersein. Sie ist jedoch von Nadine enttäuscht, weil diese ihre Erwartungen nicht erfüllt und sich selbst als bedürftig erweist. Lydia bringt jeder vermeintlichen »Schwäche« oder »Opferstruktur« von Nadine große Verachtung entgegen. Da Nadines »Schwäche« zugleich das eigene Opfersein widerspiegelt, ist die ihr entgegengebrachte Verachtung auch Ausdruck einer tiefen Selbstentwertung. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass Lydia nicht zu ihrer vulnerablen Seite stehen kann und sich dafür zutiefst verachtet; sie möchte sich nicht als Opfer wahrnehmen. Ihr Verhalten gegenüber Nadine erscheint dementsprechend ambivalent: Sie sucht Nähe, was auch »Schwäche« signalisiert, und vermeidet diese gleichzeitig systematisch. Zugleich lassen sowohl die sprachliche Brutalität der Darstellung von Nadines Übergriffen als auch die abmildernde Beschreibung der eigenen Gewaltausübung und auch die geschilderte Grenzverwischung eine Selbstwahrnehmung als Opfer vermuten. Ihre Äußerung, dass sie ihre Beziehung zu Nadine aufgrund ihres vorhergehenden Lebens »verdient« habe, lässt auf eine tiefe Selbstentwertung und auf das Vorhandensein von starken Schuldgefühlen schließen. Nadine wiederum hinterlässt in Lydias Erzählungen das Bild einer stark verunsicherten Person, die möglicherweise mittels ihres Berufs als Kampfkunsttrainerin die traumatisierende Gewalterfahrung des sexuellen Missbrauchs kompensiert. Ebenso scheint die sadomasochistische Sexualpraktik für Nadine eine Möglichkeit zu sein, eine selbstbestimmte Sexualität in Abgrenzung zu dem erfahrenen Missbrauch zu leben. Die Sexualität erfüllt in der Beziehung von Lydia und Nadine zudem eine soziale Funktion, denn sie wird genutzt, um nach Konflikten erneut Nähe herzustellen. Auch beschreibt Lydia die von ihr und Nadine gelebten sadomasochistischen Settings als Reinszenierung eines tatsächlich erfolgten Missbrauchs. Da es sich um konsensuale und meist auch zeitlich und räumlich limitierte Settings handelt, kann die ›Bottom‹, d.h. die Masochistin, in einem geschützten Rahmen eine Sexualität leben, in der ihre ›Top‹, d.h. die Sadistin, ihre Grenzen respektiert. Sie erhält in dem S/M-Setting zudem eine formale Sicherheit in Form eines Codewortes, 328
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in der zeitlichen und räumlichen Begrenzung und darin, dass es sich um eine Inszenierung handelt. Mit der Position der Masochistin ist folglich eine Entscheidungsmacht verknüpft, die dem Opfer von sexuellem Missbrauch geraubt worden ist und die sich Nadine in der Reinszenierung wieder aneignen kann. Ein Zusammenhang zwischen der Missbrauchserfahrung und der Art von Sexualität, die sich Nadine wünscht, ist daher nicht auszuschließen. Eine weitere Möglichkeit, mit dem erlebten sexuellen Missbrauch umzugehen, könnten Nadines Abgrenzungsversuche gegenüber Lydia darstellen: Sie geht beispielsweise eine weitere Partnerschaft ein oder benutzt physische Gewalt, um Distanz herzustellen. Lydias Beschreibungen einzelner Konflikte legen jedoch auch die Vermutung nahe, dass Nadine sich von ihrer Partnerin nicht hinreichend wertgeschätzt fühlt. Sie empfindet Lydias Verhaltensweisen als grenzverletzend, herabsetzend und demütigend. Darauf reagiert sie mit Wut und gegebenenfalls auch mit physischer Gewalt. Schließlich ist es Nadine, die sich von Lydia trennt, weil diese mit ihren Freundinnen besser umgehe als mit ihr. Lydias Beschreibungen lassen die Vermutung zu, dass beide Frauen auf von ihnen empfundene Zurückweisungen und Herabsetzungen aggressiv reagieren. Auch kann angenommen werden, dass die Erfahrung von sexualisierter Gewalt die Biographien beider Frauen geprägt haben: Während Lydia den von Nadine explizit benennt, bleibt ihre eigene diesbezügliche Erfahrung unbenannt. Dennoch lassen die Beschreibung ihrer Vergewaltigung und die Vertrautheit der sexuellen Fantasie, vom Vater und Missbraucher ihrer Partnerin ein Kind bekommen zu wollen, vermuten, dass auch sie sexuell missbraucht wurde. Dieser Umstand macht ihre Täteridentifikation, ihre Selbstentwertung, ihre starken Schuldgefühle und ihre tiefe Verachtung für das Opfersein begreiflich. Nadine wiederum scheint mit dem von ihr erlebten sexuellen Missbrauch umzugehen, indem sie verstärkt Grenzen setzt und ebenfalls keine Nähe zulässt. Die Konflikte in der Beziehung dienen daher der Verhinderung einer möglichen Nähe zwischen den Partnerinnen. Beide suchen die Nähe, ertragen sie aber nicht. Durch Konflikte und Gewalt wird Distanz erneut hergestellt. Die von Lydia anfänglich dargestellte Charakterisierung der Partnerschaft als Fürsorgerin-Bedürftige-Dynamik lässt sich nicht als tragendes Moment ausmachen. Der Kampf um Nähe und Distanz ist vielmehr vor dem Hintergrund traumatisierter Gewalterfahrungen beider Frauen und den unterschiedlichen Weisen, damit umzugehen, zu betrachten.
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