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German Pages 648 Year 2016
Manfred Brauneck und das ITI Zentrum Deutschland (Hg.) Das Freie Theater im Europa der Gegenwart
Theater | Band 79
2016-07-28 13-05-50 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0296436095435338|(S.
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Manfred Brauneck und das ITI Zentrum Deutschland (Hg.)
Das Freie Theater im Europa der Gegenwart Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik
2016-07-28 13-05-51 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0296436095435338|(S.
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Gefördert von der Internationalen Stiftung Balzan Preis
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Liebe Leserinnen und Leser
Die Internationale Balzan Stiftung setzt sich für die Förderung der Kultur und der Wissenschaften ein und unterstützt Initiativen, die den Idealen der Humanität, des Friedens und der Brüderlichkeit dienen. 2010 verlieh die Stiftung ihren Preis in Rom zum ersten Mal an einen Theaterwissenschaftler. Professor Manfred Brauneck aus Hamburg wurde mit dem Premio Balzan für sein Lebenswerk geehrt. Entsprechend den Preisregeln stiftete Prof. Dr. Manfred Brauneck die Hälfte des Preisgeldes einem Forschungsprojekt für Nachwuchswissenschaftler. Er trug an das deutsche ITI-Zentrum, dessen Mitglied er seit vielen Jahren ist, die Durchführung dieses Projektes heran, das in Ergänzung seiner theatergeschichtlichen Studien auf die Untersuchung der sich seit Beginn der 1990er Jahre vollziehenden Strukturveränderungen des Theaters in Europa zielte. Einem durch die Herausbildung der europäischen Union geprägten Europa, in dem internationales Produzieren, Vernetzung, Digitalisierung, projektbasiertes Arbeiten, Hybridisierung der Formen, aber auch Ökonomisierung von immer mehr Lebensbereichen und Kommerzialisierung öffentlicher Güter prägende Faktoren sind. Gemeinsam mit vier Nachwuchswissenschaftlerinnen, den Mentorinnen Prof. Dr. Gabriele Brandstetter, Freie Universität Berlin, und Dr. Barbara Müller-Wesemann vom Zentrum für Theaterforschung der Universität Hamburg wie den Mentoren Prof. Dr. Günther Heeg, Universität Leipzig, und Prof. Dr. Wolfgang Schneider von der Universität Hildesheim wurde das Forschungsvorhaben »Die Rolle der Freien Theater im europäischen Theater der Gegenwart: Studien zu strukturellen und ästhetischen Veränderungen« entwickelt. Die Absteckung des Forschungsfeldes und die umfassend geführte Methodendiskussion erfolgten maßgeblich während der regelmäßig stattfindenden Symposien und Colloquia. Es war zwingend notwendig sowohl einen regionalen Fokus zu legen als auch die zu beschreibenden Praktiken einzugrenzen. So lud das Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig zu einem Symposium im Rahmen des Festivals euro-scene Leipzig 2012 ein. Unter dem Titel »Kunst und Leben. Metamorphosen im Freien Theater (Ost)Europas« tauschten sich Experten aus Kunst und Wissenschaft mit den Teilnehmern
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Das Freie Theater im Europa der Gegenwar t
über Fragen gegenwärtiger Strukturen und Entwicklungen in den darstellenden Künsten (Ost-)Europas aus. Im März 2013 fand im Goethe Institut London die Konferenz Post-Migrant Perspectives on European Theatre statt. Ausgehend von den jeweiligen nationalen Szenen in Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden wurde während der Konferenz aus künstlerischer, wissenschaftlicher und kulturpolitischer Perspektive über die Auswirkungen der europäischen Migrationsgesellschaften und die besondere Rolle von postmigrantischen Theaterkünstlern nachgedacht. Der Austausch diente außerdem dazu, neue Perspektiven und Netzwerke für ein Post-Migrant Theatre in Europe zu eröffnen. Der vorliegende Band stellt die im Rahmen des Forschungsvorhabens entstandenen Studien vor, die sich mit jeweils eigenen Fragestellungen verschiedenen Bereichen von zeitgenössischem Theater und Tanz sowohl sektoral als auch spartenübergreifend nähern. Die Autorinnen und Autoren untersuchten das Wechselspiel der sich ändernden Produktions- und Distributionsweisen und die sich wandelnde Inhalt-Form-Dialektik und führten zahlreiche Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern. Für das Internationale Theaterinstitut ist das umfangreiche Forschungsvorhaben, das in dieser Art erstmals länderübergreifend ansetzt, ein herausragendes Projekt. Es trägt dazu bei, die Arbeit der Theatermacher und die Rolle des Theaters als öffentliches Gut genauer zu verstehen und in den internationalen Auseinandersetzungen um den Erhalt der kulturellen Vielfalt angesichts des zunehmenden globalen Ökonomisierungsdrucks der letzen Jahrzehnte zu stärken. Wir danken Prof. Dr. Manfred Brauneck für diese Initiative, für seine kritische und umsichtige Leitung und für das Vertrauen in die Arbeit der Autorinnen und Autoren sowie des ITI. Andrea Zagorski, Dr. Thomas Engel ITI Zentrum Deutschland
Inhalt
Manfred Brauneck Vorwort | 13
Petra Sabisch Für eine Topologie der Praktiken Eine Studie zur Situation der zeitgenössischen, experimentellen Tanz-, Choreografieund Performancekunst in Europa (1990-2013) | 45 Einleitung | 45 1. Zur Situation der internationalen, freischaffenden Tanz-, Choreografie- und Performancekunst in Europa | 52 1.1 Forschungsstand | 52 1.2 Kritik und Entwicklung der Fragestellung | 77 1.3 Warum Praktiken? Zur Methode | 93 1.4 Zur Methode dieser Studie | 101 2. Praktiken: Fallstudien | 104 2.1 Special Issue/Edition Spéciale in Aubervilliers et al. (2011-2012) | 104 2.2 Das Festival In-Presentable in Madrid (2003-2012) | 114 2.3 The Double Lecture Series, Stockholm (28.9.-2.10.2011) | 126 2.4 Performing Arts Forum (PAF, St. Erme, seit 2005) | 135 2.5 sommer.bar (Berlin 2006-2011) | 148 3. Konklusion in Form eines Prolegomenons | 161 Literatur und Quellen | 163
Andrea Hensel Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas Neue Produktionsformen und theaterästhetische Kreativität | 191 1. Einleitung | 191 2. Die Freien Theater nach den politischen Umbrüchen 1989/1991 | 195 2.1 Ehemalige sozialistische Volksrepubliken | 197 2.2 Postjugoslawische Staaten | 214 2.3 Postsowjetische Staaten | 225 2.4 Exkurs: Die Freie Tanzszene | 231 3. Voraussetzungen der künstlerischen Arbeit | 235 3.1 Kulturpolitik und Förderung | 235 3.2 Produktions- und Präsentationsbedingungen | 239 3.3 Ausbildung | 242 3.4 Internationale Vernetzung | 244 4. Exemplarische Analysen | 247 4.1 Die Gruppen DramAcum und TangaProject – Rumänien | 247 4.2 Romania! Kiss me! – Rumänien | 252 4.3 Reasons to be happy – Slowenien | 255 4.4 They live (in search of text zero) – Serbien | 258 4.5 Lili Handel – Bulgarien/Niederlande/Belgien | 262 4.6 Szutyok – Ungarn | 264 4.7 Magnificat – Polen | 266 4.8 Mŕtve duše – Slowakei | 268 5. Zusammenfassung und Ausblick | 270 Literatur und Quellen | 274
Henning Fülle Theater für die postmoderne in den Theaterlandschaften Westeuropas | 285 Neues Theater aus der Krise der Moderne? | 285 Zur Vorgeschichte: Theater als Kunst | 289 Theaterschrift – Reflexion und Impulse zum Theater der Postmoderne | 293 Szenografie – The Written Space | 297 Welthaltigkeit und ästhetische Forschung | 298 Die Dramaturgie des neuen Theaters | 302 Schauspiel – Performance | 304 Theaterlandschaften und neues Theater in Europa – strukturelle und kulturpolitische Verhältnisse und Impulse | 307 Modelle Niederlande und Belgien | 309 Theater (fast) ohne Staat: Großbritannien | 313 Theaterkultur als Dienstleistung des Wohlfahrtsstaates – Schweden, Norwegen, Dänemark | 316
Professionelle und Amateure – Finnland | 319 Kulturelle Modernisierung der Grande Nation – Frankreich | 320 Theater als Erbauung des Bürgertums – die Schweiz | 323 Kulturstaat Österreich | 324 Theaterland Italien | 326 Post-Postmoderne? | 327 Literatur und Quellen | 329
Azadeh Sharifi Theater und Migration Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater | 335 1. Einleitung | 335 1.1 Einordnung in den Kontext | 335 1.2 Theoretische Kontextualisierung in bestehende Diskurse | 338 1.3 Historische Zäsuren der Migration | 344 1.4 Forschungsüberblick | 347 1.5 In eigener Sache | 348 2. Länderüberblick | 349 2.1 Deutschland | 350 2.2 Österreich | 356 2.3 Schweiz | 359 2.4 Niederlande | 362 2.5 Frankreich | 365 2.6 Großbritannien | 369 2.7 Schweden | 372 2.8 Italien | 376 3. Theater der Minderheiten | 383 3.1 Theoretische Überlegungen | 383 3.2 Roma in den europäischen Gesellschaften und das Theater der Roma | 385 3.3 Deutsch-Sorbisches Volkstheater und das Sorbische National- Ensemble Bautzen | 388 3.4 Bimah – jüdisches Theater Berlin | 389 3.5 Das Theater der Minderheiten und postmigrantisches Theater | 390 4. Strukturelle Veränderungen | 392 4.1 Kulturpolitische Maßnahmen am Beispiel des Arts Council und seines Programms Cultural Diversity | 393 4.2 Strukturelle Veränderungen auch in den staatlichen Theaterhäusern | 398 4.3 Institutionalisierung und eigene Strukturen | 400 4.4 Ausbildung | 404 5. Ästhetische Tendenzen und Einflüsse auf das europäische Theater | 409
5.1 Metapher der Migration, Metapher des Displacement | 411 5.2 Postmigrantische Perspektiven im Theater | 416 5.3 Formate des empowerment: Dokumentarisches Theater | 420 5.4 Einflüsse auf ästhetische Diskurse | 422 6. Ausblicke für ein europäisches Theater | 426 6.1 Theater und Migration: Von der Freien Szene hin zur Institutionalisierung | 426 6.2 Postmigrantische Perspektiven auf europäisches Theater | 427 Literatur und Quellen | 430
Tine Koch Freies Kindertheater in Europa seit 1990 Entwicklungen — Potenziale — Perspektiven | 440 1. Einleitung | 440 1.1 Ziele | 440 1.2 Methodisches Vorgehen | 440 1.3 Quellenlage | 442 1.4 Arbeitsdefinition Freie Szene | 445 1.5 Grenzen der Untersuchung: »Freies Kindertheater in Europa«? | 445 1.6 Exkurs: Polen und Russland – »No Practice« | 447 2. Erscheinungsformen, Diskurse, Entwicklungen | 450 2.1 Strukturelle Emanzipation des (Freien) Kindertheaters | 448 2.2 Freies Kindertheater in Europa ist heute … kulturelle Bildung! | 463 2.3 Freies Kindertheater in Europa ist heute … ein ›Theater von Anfang an‹! | 473 2.4 Freies Kindertheater in Europa ist heute … interdisziplinär! | 479 2.5 Tanztheater für Kinder: Der Königsweg kultureller Bildung? | 481 2.6 Zwischenfazit I: Risiken der aufgezeigten Entwicklungen | 492 3. Kritische Reflexion der Verhältnisse | 499 3.1 Prekäre Produktions- und Präsentationsbedingungen | 499 3.2 Ökonomisierung | 512 3.3 Paradoxe Förderkriterien | 522 3.4 Zwischenfazit II: Möglichkeiten und Grenzen der Freien Szene | 529 4. Fünf Forderungen an die Kulturpolitik | 535 4.1 Beendigung der finanziellen Unterversorgung des Freien Kindertheaters! | 535 4.2 Umgestaltung und Revision hinderlicher Förderkriterien! | 536 4.3 Mehr Spielstätten und Produktionshäuser für das Freie Kindertheater! | 536
4.4 Keine unverhältnismäßige Bevorzugung von Partizipationsformaten! | 539 4.5 Wider die marktwirtschaftliche Vereinnahmung von Kunst und Kultur! | 541 Literatur und Quellen | 545
Matthias Rebstock Spielarten Freien Musiktheaters in Europa | 559 1. Begriffe und Strukturen | 563 1.1 Was heißt »Musiktheater« | 563 1.2 »Frei« oder »independent«? | 567 1.3 Genres und Diskurse | 569 1.4 Akteurinnen/Akteure und Strukturen | 573 2. Innovationslinien im Feld des Freien Musiktheaters | 584 2.1 Arbeitsprozesse | 584 2.2 Andere Orte und Räume | 587 2.3 Andere Formen und Formate | 591 2.4 Interaktivität und Intermedialität | 595 2.5 Verkörperte und körperlose Stimmen | 598 2.6 Musiker/-innen als Darsteller/-innen | 601 2.7 Konzeptualisierung, Wirklichkeitsbefragung, Forschung | 603 2.8 Oper als Material | 605 3. Abschluss | 607 Literatur und Quellen | 608
Wolfgang Schneider Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft Kulturpolitische Überlegungen zur Förderung der darstellenden Künste | 613 Theater entwickeln und planen | 616 Theaterkooperationen als europäische Impulse | 618 Theater und Interkulturalität | 620 Kindertheater und Jugendtheater | 623 Freies Theater braucht Kulturpolitik | 626 Theaterförderung im europäischen Vergleich | 629 Theaterentwicklungsplanung als Modell | 633 Die Top Ten der Förderung des Freien Theaters | 635 Literatur und Quellen | 639 Autoren | 643
Vorwort Manfred Brauneck »Die Wahrheit im Theater ist immer auf Wanderschaft.« (Peter Brook: Der leere Raum. 1968)
Freies Theater findet außerhalb der etablierten Institutionen statt, der Repertoiretheater oder, wie Otto Brahm sie nannte, der »ständigen Bühnen«. Es konstituierte sich als Alternative und im Widerspruch zu diesen. In den meisten europäischen Ländern bildet es noch heute eine eigene theaterkulturelle Sphäre, in seinen Anfängen – in den 1960er Jahren – eine überwiegend politisch virulente, mitunter auch subkulturelle Sphäre. Stets aber fordert es Zeitgenossenschaft ein, geht neue Wege, auch über Grenzen und Konventionen hinweg. 1 1 | Im englischsprachigen Bereich wird diese Theatersphäre als Independent Theatre bezeichnet. Daneben existiert im Englischen auch die Bezeichnung Fringe Theatre. Sie kam auf, als Anfang der 1950er Jahre »am Rande« (on the fringe) des Edinburgh Festival of Music and Drama (seit 1947) eine kaum überschaubare Zahl kleiner, unabhängiger, experimenteller Theatergruppen eine Art Alternativprogramm veranstaltete: »amüsant und anarchisch« (Brian McMaster). Daraus entstand das inzwischen ausserordentlich populäre Edinburgh Festival Fringe. Aus den 1960er Jahren stammt der Begriff Underground Theatre. Er bezeichnet ein Theater, das sich in einem eher diffusen Sinn als radikal oppositionell versteht, unabhängig und subversiv; grell und vielfach obszön in seinen ästhetischen Mitteln. Anders als der Begriff Freies Theater – Théâtre Libre, Teatro Libero,Teatro Livre – akzentuiert die Bezeichnung Independent Theatre in erster Linie die Distanz zu kommerziell geführten Bühnen, dem Theatergeschäft, wie es an den Londoner Westend-Bühnen betrieben wird. Von ähnlicher Bedeutung sind die im Amerikanischen geläufigen Begriffe Off-Broadway-Theatre bzw. Off-Off-Broadway-Theatre. Beides sind Sammelbegriffe für eine Strömung, die sich programmatisch von der Kommerzialisierung des Theaterbetriebs am New Yorker Broadway absetzt zugunsten experimenteller, auch politischer Ambitionen, vor allem aber mit neuen Produktionsstrukturen. Die vornehmlich im deutschsprachigen Raum übliche Bezeichnung Freies Theater schließt das weite Be-
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Seit diesen Anfängen hat das Freie Theater allerdings einen deutlichen Wandel vollzogen, strukturell, in seiner künstlerischen Ausrichtung und in seiner gesellschaftlichen Positionierung. Dieser Wandel hat in den veränderten Zeitverhältnissen der Jahrzehnte nach 1980/90, auch des theaterkulturellen Umfelds, seine Ursachen; nicht zuletzt aber in den gegenüber den Anfangsjahren doch wesentlich anderen, den neuen Generationen- und Lebenserfahrungen der Personen, die heute in dieser Theatersphäre arbeiten. Dies gilt auch für das Publikum des Freien Theaters. In den vormals sozialistischen Ländern ging es seit dem Umbruch in den 1990er Jahren um eine Neukonstituierung dieser Theatersphäre im öffentlichen Theaterleben – nach einer Zeit staatlicher Gängelung und Zensur. Auch in jenen europäischen Ländern, in denen bis Mitte der 1970er Jahre Diktaturen an der Macht waren, in Portugal, Spanien und Griechenland, existierte Freies Theaters unter sehr spezifischen Bedingungen, und seine Geschichte nahm in diesen Ländern einen jeweils eigenen Verlauf. In nahezu allen Ländern aber hat sich das Verhältnis Freier Theater zu den Repertoiretheatern verändert. Haben doch die meisten »ständigen Bühnen« im gleichen Zeitraum auf ihre Weise auf die veränderten Zeitverhältnisse reagiert, einige auch einen vergleichbar gravierenden Wandel vollzogen. Spielorte des Freien Theaters sind zumeist nicht die herkömmlichen Theatergebäude, sondern eher ›alternative Spielstätten‹: aufgelassene Fabrikhallen oder ähnliche, zu diesem Zweck umgewidmete Baulichkeiten samt den Spuren ihrer ursprünglichen Nutzung. Gerade diese Spuren aber prägen die Ästhetik dieser Räume, desgleichen das Raumgefühl des Publikums und dessen Blick auf das Spielgeschehen. Aufgehoben ist vielfach – auch in den inzwischen entstandenen ›Produktionshäusern‹ und ›Kulturfabriken‹ – die Staffelung der Eintrittspreise und die damit verbundene Rangordnung der Plätze. So kommt das Freie Theater den Erwartungen des Publikums auf ein ›anderes Theater‹ entgegen, auch in seiner künstlerischen Form, die mitunter das Sperrige, das Unperfekte zulässt, die Ungewöhnliches erprobt, experimentiert und dies seinem Publikum auch zumuten kann. In den Anfängen der Freien Theaterbewegung verband ›Bühne‹ und Zuschauer zudem – auch in sozialistischen oder autoritär regierten Ländern – eine weitgehend gemeinsame oppositionelle Einstellung. In Spanien und Portugal waren Studentenbühnen die Keimzellen deutungsspektrum dieser Begriffe ein, verweist aber auch auf den Widerstand gegenüber Zensur oder anderen staatlichen Repressionen. In der vorliegenden Übersetzung unserer Studien ins Englische wurde der heute international geläufige Begriff Independent Theatre übernommen. Alle diese Begriffe aber machen deutlich, dass diese Theatersphäre nur im Kontext der Gesamtheit der theaterkulturellen Strukturen und Traditionen der einzelnen Länder zu verstehen und darzustellen ist.
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einer oppositionellen Theaterbewegung. Heute ist der Zusammenhang von ›Bühne‹ und Publikum weitaus differenzierter zu sehen, offener. Unstrittig ist, dass das Freie Theater jungen Menschen die Möglichkeit bietet, ihrem Hang nachzugehen, am Theater zu arbeiten, auch wenn diese eine für das Theatergewerbe erforderliche Ausbildung, wie sie für ein Engagement an einer »ständigen Bühne«, einem Ensembletheater, als Voraussetzung angesehen wird, nicht absolviert haben. Dies ist allerdings keineswegs die Regel, zu unterschiedlich sind die Gegebenheiten des Freien Theaters in den einzelnen europäischen Ländern. Auch zwischen den Gruppen des Freien Theaters ist der Unterschied im Ausbildungsstandard der dort arbeitenden Personen erheblich. Generell aber ist in den letzten zwei, drei Jahrzehnten in vielen Ländern eine zunehmende Professionalisierung dieser Szene festzustellen. Für manche Nachwuchskünstler freilich, Schauspieler oder Regisseure – oft sind es Berufsanfänger, unmittelbar nach Abschluss ihrer Ausbildung an einer Schauspielschule – mag die Arbeit im Freien Theater ein Sprungbrett sein für eine Karriere an einem Repertoiretheater. Das Freie Theater geht auf sein Publikum zu. In manchen seiner Formate ist die Grenze zwischen Zuschauen und Beteiligtsein offen. In den 1960er/70er Jahren fanden Aufführungen Freier Gruppen – ›im Westen‹ – gelegentlich in Werkhallen oder vor Fabriktoren statt, in Krankenhäusern, Altenheimen oder gar in Gefängnissen, auf der Straße, in Parks – an Orten, an denen herkömmlicherweise Theater nicht erwartet wird. Mobilität war stets ein Prinzip der Arbeit Freier Gruppen. Manche dieser Aufführungen standen in der Tradition des Arbeitertheaters oder der sowjetisch-russischen Agitprop-Kollektive der 1920er/30er Jahre. Einige Freie Gruppen orientierten sich – vornehmlich in den politisch turbulenten 1960er/70er Jahren – an diesen Traditionen und verstanden sich als Speerspitze im Kampf um politische Aufklärung. Heute stammt das Publikum des Freien Theaters überwiegend aus gesellschaftlichen Kreisen, die sich im weitesten Sinn wohl als ›fortschrittlich‹ verstehen, die an spezifischen gesellschaftlichen Problemfeldern interessiert sind, die vor allem aber auch aufgeschlossen sind für Arbeiten junger Künstler. Ein Teil des Publikums gehört vermutlich dem akademischen Milieu an, wie dies für das Sprechtheater – darum geht es hier vorwiegend – generell zutrifft. Zumeist aber sind es jüngere oder, wie es oftmals heißt, ›jung gebliebene‹ Menschen, die sich Aufführungen Freier Theatergruppen ansehen. Manche der älteren Zuschauer standen wohl auch den Protestbewegungen der 1960er/70er Jahre, in deren Umfeld die internationale Freie Theaterbewegung entstanden ist, mehr oder weniger nahe. Eine jüngere Generation wird ihre eigenen Lebenserfahrungen, ihre Sprache, ihre Musik und ihre Bilderwelten im Theater der Freien Szene entdecken. Vertraut sind den Jüngeren zumeist auch die Spielstätten, an denen diese Aufführungen stattfinden.
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Inzwischen ist das Freie Theater in nahezu allen europäischen Ländern eine Facette am Rande des öffentlichen Theaterwesens. Spätestens seit den 1980er/90er Jahren ist es ein fester Bestandteil der europäischen Theaterkultur, Resultat auch des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In Ländern, in denen ein traditionelles (staatliches oder kommunales) Theaterwesen heute kaum noch – oder nicht mehr – existiert, bestreiten das Freie Theater oder Freie Produktionen nahezu ausschließlich das öffentliche Theaterleben. Überwiegend ist Freies Theater allerdings ein Phänomen im kulturellen Leben der größeren Städte, vernetzt durch einen regen Tourneebetrieb, der für die meisten Freien Gruppen eine essentielle ökonomische Basis bildet. Vielfach auch ist das Freie Theater von seinem emanzipatorischen Anspruch her eingebunden in eine Alternativszene, die sich von der Mehrheitsgesellschaft tendenziell abgrenzt. So stehen die meisten Gruppen des Freien Theaters dem vorherrschenden Kulturbetrieb der eigenen Gesellschaft eher kritisch gegenüber, zumal in Ländern, in denen ein von der öffentlichen Hand weitgehend subventioniertes staatliches oder kommunales Theaterwesen existiert, deren prominente Bühnen auch in der Berichterstattung der Medien entsprechend präsent sind. Die Kritik der Freien richtet sich auch gegen den Anspruch dieser Bühnen und ihrer Wortführer, Theater – als Institution – in seiner kultur- und bildungspolitischen Bedeutung für die Gesellschaft vorrangig zu repräsentieren, letztlich als vermeintlich unverzichtbare Bastionen einer Hochkultur. In dieser Kritik scheint sich die überwiegend junge Künstlerschaft des Freien Theaters einig zu sein. Keineswegs aber richtet sich die Kritik der Freien nur auf die Verhältnisse im öffentlichen Theaterwesen, auf die künstlerische Ausrichtung der Staatsund Repertoiretheater. Diesen allerdings wird von den Freien mitunter allzu pauschal eine generelle Resistenz gegenüber Neuerungen unterstellt. Waren es doch in den 1970er/80er Jahren vornehmlich Regisseure und Theaterleiter »ständiger Bühnen«, die mit manchen ihrer Inszenierungen für Furore sorgten, so manches Tabu brachen und überkommene Konventionen über Bord warfen. In einigen europäischen Ländern kam es auch in der staatlichen Kulturpolitik zu Reformen. Dabei ging es vornehmlich um den Abbau zentralistischer Strukturen im Theaterwesen, so vor allem in Frankreich. Dessen Kulturminister Jack Lang wurde zur Symbolfigur dieser Reformen. Thema war immer wieder auch die Beteiligung des Staats an der Subventionierung der öffentlichen Theater, auch der Freien Gruppen. Wohl zu Recht aber sahen diese in den Konventionen des herrschenden Theaterwesens eine Spiegelung jener sozialen Strukturen, die der Ausgrenzung sogenannter ›bildungsferner‹ gesellschaftlicher Kreise aus dem öffentlichen kulturellen Leben Vorschub leisten.
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Dabei ist das Spektrum der künstlerischen Richtungen, die sich in der Arbeit des Freien Theaters wiederfinden, vielfältig. Es spiegelt sich darin auch der Wandel wider, den viele Gruppen der Freie Szene in den letzten Jahrzehnten des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollzogen haben. Dieses Spektrum reicht – vornehmlich in der Anfangszeit, den 1960er/70er Jahren – von der Adaption der politischen Ästhetik des Brecht-Theaters, von Erwin Piscators agitatorischem Dokumentarismus, dem Rückgriff auf die Arbeitertheaterbewegung der 1920er/30er Jahre, dem Straßentheater, dem politischen Kabarett und dem Happening, bis zu einigen Richtungen jener US-amerikanischen Theaterbewegung, die als Theater der Erfahrung (Jens Heilmeyer, Pea Fröhlich) apostrophiert wird. In den 1980er/90er Jahren folgte das Freie Theater weitgehend der generellen Entwicklung des Theaters an diesem Jahrhundertende. Die sich zunehmend professionalisierende Freie Szene orientierte sich an den neuen Tendenzen im Sprechtheater, erprobte experimentelle multimediale Projekte, räumte den künstlerischen Intentionen den Vorrang ein vor den politischen Statements der Jahrzehnte zuvor und übernahm das gesamte Spektrum postdramatischer Entwicklungen und neuer performativer Formate. Das Engagement jedoch für spezifische gesellschaftliche Gruppen, etwa für Migranten, Arbeitslose oder andere Minderheiten, blieb ein Merkmal des Freien Theaters über den gesamten Verlauf seiner Geschichte; so auch das Arbeiten im Kollektiv, der bis heute vorherrschenden Produktionsform der meisten Gruppen der Freien Szene. Wenn heute gegenüber den Anfangsjahren der Freien Theaterbewegung eine gewisse Entpolitisierung dieser Theatersphäre wahrzunehmen ist, so spiegelt sich darin – seismografisch gewissermaßen – der Zeitgeist der letzten Jahrzehnte wider, ein Befund, der wohl für die Entwicklung des Theaters generell zutrifft. Das Freie Theater wünscht sich – wie wohl jedes Theater – den aktiven Zuschauer und entscheidet sich, wo immer es die räumlichen Verhältnisse zulassen, für Spielanordnungen, die das starre Gegenüber von Bühne und Publikum vermeiden. Gerade in dieser Hinsicht sind die Möglichkeiten ›alternativer Spielstätten‹ größer als die standardisierten Raumverhältnisse der herkömmlichen Theater, deren Architektur das frontale Gegenüber von Bühne und Publikum weitgehend vorgibt. Vor allem schafft sich das Freie Theater Produktionsbedingungen, die es von staatlicher Hilfe, aber auch von kommerziellen Verwertungszwängen weitgehend unabhängig macht, und versucht, sich auf diese Weise eine gewisse Autonomie zu bewahren. Zumindest war dies die ursprüngliche Idee der Freien. Über Aufführungsverbote setzt es sich mitunter hinweg. Dementsprechend kann die Arbeit für Künstler der Freien Szene durchaus auch risikoreich sein, insbesondere unter den Bedingungen von Diktaturen, totalitärer oder autokratischer Regime, zumal wenn es um politische Inhalte geht.
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Was die sozialen Verhältnisse der in der Freien Szene arbeitenden Künstler betrifft, ist deren Lage überwiegend prekär. Dies trifft für nahezu alle europäischen Länder zu, insbesondere aber für die Länder des einstigen Ostblocks, die seit den 1990er Jahren die Transformation von der – auch den kulturellen Bereich massiv tangierenden – Plan- in die Marktwirtschaft zu verkraften hatten. In manchen dieser Länder ist das Freie Theater allerdings noch heute zudem staatlichen Repressionen ausgesetzt. So muss die Mehrheit der Freien Künstler einer Nebenbeschäftigung – zum Broterwerb – nachgehen. Nur eine verschwindend kleine Anzahl der Freien vermag mit ihrer Theaterarbeit den Lebensunterhalt zu bestreiten. Nicht zuletzt die Bereitschaft, in ihrer künstlerischen Arbeit eingefahrene Wege aufzugeben und sich jenen Repräsentationserwartungen zu entziehen, denen die etablierten Bühnen in aller Regel nachkommen, verschärft diese Situation. Sozialpolitische Regelungen für den Bereich der ›Kunstschaffenden‹ schließen die Künstler der Freien Szene vielfach aus oder marginalisieren diese Theatersphäre insgesamt. Der Freiheitsanspruch, den das Freie Theater erhebt, mag aus der Sicht derer, die in dieser Sphäre arbeiten, in erster Linie zwar ein künstlerischer sein, ein persönlich motivierter Anspruch, mitunter ein gesellschaftskritischer, oft aber ist es auch ein politischer Anspruch. Dementsprechend sind die Antriebe, die die Freien bewegen, durchaus vielfältig. Für junge Menschen ist das Arbeiten in der Freien Szene ein Lebensentwurf, wenn auch nicht unbedingt auf Dauer gedacht. Es ist eine Entscheidung für kollektives Arbeiten zusammen mit Gleichgesinnten, zumeist auch in einer altersmäßig und hinsichtlich ihrer politischen und künstlerischen Vorstellungswelt weitgehend homogenen Gruppe. Dies dürfte die Regel sein, und es gilt dies auch für Gruppen, deren Mitglieder unterschiedlicher kultureller und ethnischer Herkunft sind. Prominente internationale Ensembles wie das von Peter Brook oder Eugenio Barba praktizierten diesen künstlerischen Multikulturalismus von Beginn an und setzten die ethnischen Prägungen einiger ihrer Schauspieler als produktives Moment in der künstlerischen Arbeit ein, irritierten damit aber auch tradierte (Rollen-)Erwartungen des Publikums. Auch deswegen wurden sie zu Vorbildern für viele Gruppen des Freien Theaters. Dass der Freiheitsanspruch der Freien aber nicht nur in der künstlerischen Sphäre verbleibt, wird seit jeher auch von deren Kritikern wahrgenommen. Dies mag ein Grund dafür sein, dass der Umgang offizieller kulturpolitischer Institutionen mit dem Freien Theater noch heute – trotz aller Beteuerungen hinsichtlich dessen nie offen in Frage gestellter gesellschaftlicher Bedeutung – belastet ist. Aus deren Sicht sind die Freien nicht wirklich integrierbar in jene Vorstellungen von Theaterkultur, wie sie vornehmlich bei der Verteilung der für die Theater zur Verfügung stehenden Fördergelder zugrunde gelegt werden, selbst wenn die Erfordernisse der großen, kostenintensiven Reper-
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toiretheater mit den flachen betrieblichen Strukturen Freier Gruppen nicht vergleichbar sind. Nicht zu Unrecht werden – so etwa in Deutschland – die flexibleren Produktionsstrukturen des Freien Theaters oder freier Produktionen in die Diskussion gebracht, wenn es darum geht, über eine grundlegende Reform des Theatersystems nachzudenken, nicht zuletzt unter fiskalpolitischem Druck. In den Niederlanden bestreiten Freie Gruppen oder Freie Produktionen nahezu ausschließlich das öffentliche Theaterleben – zumal nach den vom niederländischen Parlament beschlossenen kulturpolitischen Kürzungen im Jahre 2011. Der kulturpolitische Umgang mit dem Freien Theater – auch der Umgang der professionellen Theaterkritik mit dieser Sphäre – ist offenbar eine Herausforderung auch im Hinblick auf ein Verständnis von Theater, das sich an vermeintlich unverzichtbaren künstlerischen Standards und einem mehr oder weniger politisch und weltanschaulich neutralen Kulturbegriff orientiert. In der Folge einer weitgehenden Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens ist das Aufklärungs- und Provokationspotenzial der meisten Aufführungen des Freien Theaters heute allerdings ohnehin gering, zumal für dessen Publikum. Eine Resonanz, die über diesen Kreis hinaus geht, kommt vermutlich kaum zustande. Darin aber unterscheidet sich das Freie Theater heute wohl auch nicht mehr von den »ständigen Bühnen«. Anders freilich war die öffentliche Wahrnehmung des Theaters – als Institution – in den zentralen westeuropäischen Ländern in den 1960er/70er Jahren. In diesen Jahren trug die Freie Theaterbewegung wesentlich dazu bei, dass das Theater als Forum öffentlicher Auseinandersetzungen wahrgenommen wurde. Getragen war diese Bewegung in ihren Anfangsjahren von der Dynamik einer internationalen Protestbewegung, die die Grundwerte der westlichen Industriegesellschaften, auch deren Kulturverständnis in Frage stellte. Die meisten Freien Gruppen verstanden sich als Teil dieser politischen Bewegung und nahmen den Bruch mit dem traditionellen Kulturgefüge in Kauf. Auch trug das Freie Theater dazu bei, dass die Grenzen zwischen den Kunstbereichen durchlässiger, gar verwischt wurden, etwa zwischen dem Theater und der bildenden Kunst. Zur Disposition gestellt wurde auch das Verhältnis von Kunst und dem Alltag; erprobt wurden neue Produktions- und Kommunikationsformen. Waren die Entwicklungen in der bildenden Kunst denen des Theaters zwar knapp ein Jahrzehnt voraus, so gingen sie doch in die gleiche Richtung. Es entstanden neue bildnerische, auch hybride Genres, deren Aktionscharakter sie an der Schnittstelle zum Theater ansiedelte. Mit diesem teilten sie zwar dessen ephemeres Wesen, trugen aber auch zur Veränderung des Theaters bei. Dieses adaptierte Entwicklungen aus dem Bereich der bildenden Kunst vor allem bei der Konzeption neuer Spielräume. Entscheidend für diese neue Richtung der Bühnenästhetik war die Rezeption der per-
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formance art, von Fluxus, der Objekt- und Aktionskunst, der Pop-Art und jenen medialen, interdisziplinären Mischformen, die auch in der bildenden Kunst zu einer Art ›Theatralisierung‹ geführt haben. Von Beginn an hatte diese Bewegung eine internationale Dimension. Die Documenta 6 (1977) in Kassel gab einen Überblick über die Entwicklungen der performance art in den 1970er Jahren. 1979 fand in Hamburg, parallel zum Festival Theater der Nationen, die von Bühnenbildnern konzipierte Ausstellung Inszenierte Räume statt, die das Zusammenspiel von Theater und bildender Kunst, aber auch deren »Grenzen und Übergänge« (Ivan Nagel) thematisierte. Wenngleich diese Entwicklungen nicht unmittelbar im Bereich des Freien Theaters stattfanden, so hatte dieses doch wesentlich dazu beigetragen, dass die Grenzen zwischen den Kunstgattungen durchlässig wurden. Existierte bis Ende der 1950er Jahre ein einigermaßen stabiler Konsens darüber, was Kunst – was Theater als Kunst – sei, und welche Bedeutung Kunst und Theater für die Gesellschaften haben sollten, so wurde dieser Konsens im Zusammenhang dieses Umbruchs aufgekündigt, nahezu alle ästhetischen Paradigmata wurden überprüft, die soziale Funktion der Kunst neu definiert, vor allem erweitert. Auch in dieser Hinsicht nahmen die bildenden Künste eine Vorreiterrolle ein. Das Theater konnte die dabei in Gang gekommene Auflösung des ästhetischen Normengefüges aufnehmen und profitierte von einer auf den Bruch mit der Tradition, auf Neuerungen und Rebellion gestimmten kreativen Atmosphäre. Die Verbindlichkeit des Mimetischen, die lange hin der genuine Realitätsbezug des Theaters war, desgleichen viele der tradierten künstlerischen Standards waren bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vom Theater der historischen Avantgarden aufgegeben worden. Bereits um 1900 hatte ein Prozess der Entliterarisierung und der Entpsychologisierung des Theaters und der Schauspielkunst eingesetzt. Die Theateravantgarde radikalisierte diese Entwicklung. Lichtexperimente, Installationen, die Protagonisten der Avantgarde selbst waren die neuen ›Bühnenakteure‹. Sie lösten den Schauspieler ab, der sich an der Rolle, die er spielte, einfühlend oder diese in ›epischer‹ Distanz kommentierend, abarbeitete. Dadaisten und Futuristen hatten – durchweg in freien Produktionen – das Bürgertum aufgeschreckt und nannten ihre Artefakte Antikunst. Es sollte eine Kunst sein, nicht für die Ewigkeit geschaffen, vor allem auch untauglich für eine Verwertung im Kulturbetrieb. Dass sich diese Provokationsstrategie allerdings bald schon als wirkungslos erwies, macht die Rezeptionsgeschichte der Avantgardekunst deutlich. Nach nur wenigen Jahren fanden deren Artefakte ihren Weg in die Museen, wo sie als Devotionalien rebellischer Jahre neutralisiert und bewundert wurden. Obwohl diese Entwicklungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts künstlerischen Intentionen folgten und auf Zeitverhältnisse reagierten, die mit dem konkreten politischen Ansatz der Freien Theaterbewegung der 1960er/70er
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Jahre nur wenig zu tun hatten, verstanden sich die Freien dennoch als ›zweite Avantgarde‹. Mit den provokanten Aktionen ihrer historischen Vorgänger und den radikalen kulturkritischen Manifesten Antonin Artauds, einer Kultfigur des avantgardistischen Theaters im Umfeld des französischen Surrealismus, konnten sich weite Teile auch der Freien Theaterbewegung in den 1960er/70er Jahren identifizieren. Das von dem Bühnenbildner Julian Beck und der Schauspielerin Judith Malina, einer einstigen Assistentin Erwin Piscators an dessen Dramatic Workshop an der New Yorker New School for Social Research, bereits Anfang der 1950er Jahre in New York gegründete Living Theatre, war eines der ersten autonomen Theaterkollektive, von dem eine Initialzündung für spätere Entwicklungen auch in Europa ausging. Es war Theater, in dem sich nicht nur eine Fundamentalkritik am American Way of Life Luft machte, sondern auch ein neues Lebensmodell praktiziert wurde, das – mit einem radikalen Freiheitsanspruch – im kollektiven Arbeiten die Einheit von Life, Revolution and Theatre zelebrierte. The Living Theatre zählte zu den profiliertesten Theaterkollektiven der New Yorker Off-Off-Broadway-Szene und beschäftigte die Polizei und die Gerichte beinahe von Beginn an. Rechneten die frühen, eher eskapistischen Produktionen (etwa bis 1963) des Living Theatre weniger mit der Anwesenheit eines Publikums, so manifestierte sich in den Straßenaktionen des 1961 von Peter Schumann ebenfalls in New York gegründeten Bread & Puppet Theatre (seit 1965 unter diesem Namen) mit seinen spektakulären, überdimensional großen Stabpuppen eine neue Richtung des politischen Volkstheaters. In den 1960er Jahren waren beide Theaterkollektive – The Living Theatre (erstmals 1961) und Schumanns Theatertruppe (erstmals 1968) – auf Festivals und Tourneen in Europa. Seit Mitte der 1950er Jahre zeigte Joseph Papp auf einer provisorischen Wagenbühne im Central Park und in anderen New Yorker Parks seine experimentellen Shakespeare-Inszenierungen und verstand auch diese Open-Air-Veranstaltungen (mit freiem Eintritt) als eine neue Form des politischen Volkstheaters. Seit 1960 wurde dieses Projekt als New York Shakespeare Festival von der New Yorker Stadtverwaltung subventioniert. Das von Joseph Chaikin 1963 gegründete Open Theatre vertrat über die Jahre hin wohl am konsequentesten von allen Off-Off-Broadway-Gruppen eine eindeutige politische Linie. Seine gegen den Krieg der USA in Vietnam gerichteten Produktionen zeigte Chaikins Theaterkollektiv in den 1960er Jahren auch in Europa. Der 1964 von Ellen Stewart in New York gegründete LaMama Experimental Theatre Club wurde Anfang der 1970er Jahre durch internationale Workshops, unter anderem von Regisseuren, die in Europa Leitfiguren der Freien Szene waren – so etwa die polnischen Regisseure Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor, ebenso Peter Brook, Eugenio Barba und der rumänische Regisseur
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Andrei Șerban –, aber auch durch die Arbeit von Künstlern aus mehr als 70 Ländern zu einem Zentrum der Diskursentwicklung jenes Umbruchs in den verschiedenen Kunstsparten, zumal des Theaters. LaMama war vor allem auch ein Forum für junge Dramatiker. Seit 1965 trat Ellen Stewart mit ihrer Repertory Troupe jährlich auch in Europa auf. Dependancen von LaMama wurden in Amsterdam, London, München, Spoleto und in Paris eingerichtet. 1977 übersiedelte das bereits 1969 von Peter Halász und Anna Koos in Budapest gegründete Kassák -Theater – unter dem Namen Squat Theatre – nach New York. Es war dies ein Theaterkollektiv, dessen anarchische Environments die Unterscheidung von Kunst und Alltag tendenziell aufhoben und das bei zahlreichen Festivals in Europa auftrat, um »Theater jenseits von Kunst zu realisieren« (Squat Theatre). Seit Ende der 1970er Jahre tourten auch die beiden kalifornischen Arbeitertheaterkollektive, die bereits 1959 gegründete San Francisco Mime Troupe und das anlässlich eines Landarbeiterstreiks 1965 gegründete Teatro Campesino, durch Europa. Es war das erste Mal in der Geschichte des europäischen Theaters, dass dieses durch die Rezeption US-amerikanischer Theaterentwicklungen wesentliche Impulse erhielt, vergleichbar der Pop-Art, dem wohl wichtigsten Beitrag der USA in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Auch dies war eine Rebellion der Jungen gegen die Generation ihrer Eltern, ein Frontalangriff auf deren Geschmack und deren kulturelle Standards. Schließlich kam es auch in Europa in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre – verstärkt durch die Eskalation der Studentenunruhen in Paris 1968 – zu einer Gründungswelle Freier Theatergruppen, überwiegend mit einer politischen Ausrichtung. Mit seinem allerdings schon 1959 in Opole übernommenen Teatr 13 Rzędów übersiedelte Grotowski 1965 nach Wrocław, konstituierte sich dort als Teatr Laboratorium zur Erforschung der Theater- und Schauspielkunst. Projekte wie Der standhafte Prinz (nach Calderón und Słowacki; die erste Fassung wurde 1965 gezeigt) und Apokalypsis cum Figuris (1968/69), gleichermaßen aber auch Grotowskis 1965 in polnischer Sprache erschienene Text Ku teatrowi ubogiemu, der 1969 erstmals in Buchform unter dem Titel Towards a Poor Theatre in Englisch erschienen ist, waren von größter Ausstrahlung in der Freien Szene. Projekte dieser Art ergänzten die bis dahin vorwiegend politische Ausrichtung des Freien Theaters um den Aspekt der »Erfahrung«. Es war dies auch der Beginn einer von einigen Gruppen exzessiv praktizierten Subjektivierung der Theaterarbeit. In weltweiten Tourneen, fast jährlich von 1966 bis 1970, und in zahllosen Workshops verbreiteten Grotowski und seine führenden Mitarbeiter die Idee des »armen Theaters« in der Freien Szene, vermittelten dessen spirituelle Vorstellungswelt und führten in dessen Schauspieltechniken ein. Seit Anfang der 1970er Jahre wurde Grotowski als einer der einflussreichsten Theaterkünstler seiner Zeit mit offiziellen Ehrungen überhäuft.
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Bereits 1956 hatte Tadeusz Kantor in Krakau das Teatr Cricot 2 gegründet und führte damit die Tradition des ›Malertheaters‹ Cricot aus den 1930er Jahren fort. Wie sein Vorgänger war auch das Cricot 2 ein Experimentiertheater, dessen hermetische Ästhetik stark von Kantors eigener bildnerischer Arbeit, dem Happening, der Pop-Art und dem Surrealismus geprägt war. Wenngleich Kantors Theater zwar eine der profiliertesten Positionen im Theater des 20. Jahrhunderts repräsentierte, blieb dessen Theaterarbeit letztlich ohne unmittelbare Auswirkung auf die Freie Theaterbewegung. Was Kantor dieser jedoch vermittelte, war die Auffassung des Theaters als einer autonomen Bilderwelt und die kompromisslose Subjektivität seiner künstlerischen Arbeit. Eugenio Barba verlegte 1966 sein Odin Teatret, das er 1964 – im Anschluss an eine Studienreise nach Kerala, Indien – als Amateurtheatergruppe in Oslo gegründet hatte, nach Holstebrø, Dänemark, und betrieb es bald darauf als Nordisk Teaterlaboratorium – gefördert von der dortigen Stadtverwaltung. Anfangs war Barbas Arbeit vor allem auf die Erforschung fernöstlicher Schauspieltechniken fokussiert. Die Entstehung dieser autonomen Theaterlaboratorien – geografisch weit weg von den politischen Brennpunkten dieser Jahre – hatte zwar nicht unmittelbar mit den politischen Protestbewegungen am Ende dieses Jahrzehnts zu tun, dennoch wurden deren Konzepte und Arbeitsmethoden von der internationalen Szene des Freien Theaters – in Europa wie in den USA – geradezu ›aufgesogen‹ und dies offenbar deswegen, weil diesen Theaterideen ein radikaler Freiheitsbegriff immanent war: ein Gegenentwurf auch zum abendländischen Verständnis von Theater und Schauspielkunst. Während Kantor sein Theater des Todes in der Auseinandersetzung mit den hauptsächlichen Richtungen der Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts, zugleich aber auch im Rückgriff auf das rituelle Maskenspiel am mythischen Ursprung des europäischen Theaters konzipierte, glaubten Grotowski und Barba, später auch Peter Brook, in der fernöstlichen Spiritualität, in der Aufhebung des dem westlichen Denken eigenen Dualismus von Körper und Geist, eine neue Grundlage für die Kunst des Theaters entdeckt zu haben. Diese galt es zu erforschen und in der künstlerischen Arbeit zu erproben. Dass das Theater auch ein Ort neuer spiritueller Erfahrungen sei, darauf vertraute die überwiegend junge Anhängerschaft der Freien Theaterbewegung ohnehin. Eine der radikalsten Polemiken gegen die westliche, die »geschriebene Tradition«, vertrat Richard Schechner mit seiner 1967 in New York gegründeten Performance Group. Schechners Inszenierung von Dionysos in ’69, einer freien Adaption von Euripides’ Bakchen (1968 erstmals aufgeführt), war die wohl konsequenteste Form einer ausschließlich über den Körper als Medium inszenierter, rituelle und therapeutische Techniken einsetzender Gruppenperformance.
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Schechner zeigte seine Produktionen auch auf einer Europa-Tournee und wurde mit seiner Performance Group zu dem Internationalen Theaterfestival (BITEF) nach Belgrad, Jugoslawien, eingeladen. Es waren derartige Thesen, die die westliche Art von literarisch-dramatischem Theater in Frage stellten, die weltweit von Freien Gruppen als Inspiration für ein als authentisch geltendes Theater rezipiert wurden; für ein Theater, das von seinem Ansatz her vor allem auch eines war: transkulturell. Dass dies allerdings ein Weg war, der das ursprüngliche politische Engagement der Freien Theaterbewegung entkonkretisierte, entsprach der Entwicklung, die die internationalen Protestbewegungen gegen Ende der 1970er Jahre insgesamt nahmen. Auch war der Krieg der USA in Vietnam, der zentrale Ansatzpunkt aller politischen Proteste dieser Jahre, 1975 beendet worden. Das politische Engagement, das die Freie Theaterbewegung lange hin auch künstlerisch so sehr inspiriert hatte, wurde deutlich zurückgenommen. An dessen Stelle trat eine ideologisch mehr oder weniger offene Alternativbewegung. Schon seit 1964 bestand die Theaterkooperative von Ariane Mnouchkine in Paris, das Théâtre du Soleil, das Sonnentheater, das »Licht ins Dunkel bringen«, das aufklären sollte. Seit 1960 betrieb Mnouchkine ein Studententheater, inspiriert von der französischen Tradition des »théâtre populaire«. Nach einer längeren Ostasienreise (1963), während der Mnouchkine sich mit dem traditionellen indischen und dem japanischen Theater, vor allem dem Kathakali, dem Nō und dem Kabuki, auseinandersetzte, nahm das Théâtre du Soleil schärfere programmatische Konturen an. Mnouchkine orientierte sich nun an der Theaterarbeit von Roger Planchon, wie dieser sie in seiner »Volkstheaterfabrik« (Simone Seym) in Villeurbanne, einer Arbeitervorstadt von Lyon, mit großem Erfolg praktizierte. Von Jean Vilar, dem engagiertesten Vertreter eines neuen, ›nationalen Volkstheaters‹ in Frankreich, stammt das Wort, dass das Theater eine staatliche Dienstleistung sein müsse »wie Gas, Wasser oder Elektrizität«. Peter Brook, der 1970 mit seiner Inszenierung von Shakespeares Ein Sommernachtstraum (noch in Stratford, England) den Bruch mit dem traditionellen Theater vollzogen hatte, gründete 1968 in Paris das Centre International de la Création Théâtrale, das 1970 in Centre International de Recherches Théâtrales umbenannt und zu einem Zentrum angewandter Theaterforschung wurde. Brooks Buch The Empty Space (1968), in dem eine Auffassung von Theater beschrieben wird, die sich von allem Dekorativen löst – auch jedweden belehrenden Gestus zurückweist – und sich ausschließlich auf den Schauspieler konzentriert, wurde gleichsam zur ›Bibel‹ der Freien Theaterbewegung. In der Bundesrepublik Deutschland gründete Rainer Werner Fassbinder in München – in der Nachfolge des Action Theaters – das Antiteater (1968). Fassbinders Theaterkollektiv zählte zu den frühesten Gründungen autonomer Theatergruppen in Deutschland. Die kulturkritischen Statements von Artaud
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und die Fundamentalopposition des New Yorker Living Theatre gegen jedwede bürgerliche Lebensform inspirierten Fassbinders frühe Theaterarbeiten, aber auch den exzessiven antibürgerlichen Lebensstil seines Kollektivs. Ebenfalls in München entstand 1970 aus einem Workshop von LaMama das Theaterkollektiv Rote Rübe; im gleichen Jahr das Freie Theater München, das mit spektakulären Straßenaktionen ein von allen bürgerlichen Tabus befreites Leben feierte. Alsbald aber wurde West-Berlin zum Zentrum der Freien Szene. Dort war die Theatermanufaktur (1972 gegründet) das wichtigste Volkstheater-Kollektiv dieser Jahre, das vornehmlich politisch-historische Stoffe in Szene setzte. In Italien inszenierte (1968/69) der Regisseur Luca Ronconi mit seiner Gruppe Teatro Libero beim Festival Zweier Welten in Spoleto L’Orlando Furioso (nach dem gleichnamigem Epos des Renaissancedichters Ludovico Ariost). In dieser Inszenierung waren die Grenzen zwischen allen Kunstsparten zugunsten eines bunten Environments aufgehoben, auch stand dieses Spektakel in der Tradition des italienischen Jahrmarkt-Theaters. Ronconis Inszenierung wurde nach dem Festival in Spoleto noch auf vielen öffentlichen Plätzen in Italien gezeigt, anschließend auch auf einer Tournee durch Europa und in den USA. Es war dies auch das Jahr, in dem sich der ungemein populäre italienische Schauspieler, Stückeschreiber und Regisseur Dario Fo von seinem bisherigen Publikum, dem »aufgeklärten Bürgertum« (Dario Fo), verabschiedete, für das er so lange als Spaßmacher und Satiriker aufgetreten war. Zusammen mit seiner Frau, der Schauspielerin Franca Rame, gründete Fo 1968 das Theaterkollektiv La Nuova Scena. Seit 1970 nannte er sein Kollektiv La Comune, engagierte sich für die Ziele der kommunistischen Partei Italiens und trat vorwiegend in Fabriken und den Arbeiterbezirken der Städte im Norden des Landes auf. Fo verstand seine Theaterarbeit als satirisch-politisches Volkstheater. Es war ein Theater der Provokationen, aber auch der Improvisation im Stil der mittelalterlichen Vaganten, der giulari. Fo hatte damit eine radikale Kurskorrektur gegenüber seinen Anfängen vollzogen. Im folgenden Jahrzehnt wurde Italien von einer Welle terroristischer Anschläge heimgesucht. Die Entführung und Ermordung des konservativen Politikers Aldo Moro (1978) durch die Roten Brigaden wurde zu einem Trauma in der neueren italienischen Geschichte. 1970 kam es in Amsterdam zur Gründung des Theaterkollektivs Het Werkteater. Ebenfalls in Amsterdam waren das Shaffyteater und das Mickeryteater Spielstätten, die Theatergruppen aus aller Welt Auftrittsmöglichkeiten boten. Insbesondere das Mickery wurde zu einem Vermittlungsforum für die aktuellen Theaterentwicklungen in New York (LaMama), London (The People Show, The Pip Simmons Theatre Group) und dem japanischen underground-Theater (Terayama Shujis Tenjo Sajiki). Große Aufmerksamkeit in der Freien Szene fand in den 1970er Jahren auch der brasilianische Regisseur Augusto Boal mit
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seinen in Lateinamerika entwickelten subversiven Spieltechniken eines Theaters der Unterdrückten. Seit 1976 lebte der Regisseur im Exil in Europa. Henry Thorau hat Boals Experimente mit dem sogenannten »unsichtbaren Theater« die dieser 1978 in Workshops in Frankreich und in Italien durchgeführt hatte, dokumentiert. Das Freie Theater dieser Jahre war überwiegend politisches Theater und trat für radikal-sozialistische, mitunter anarchistische Ideen ein. Den meisten Gruppen ging es auch um eine neue Form des politischen Volkstheaters, das im Sinne von Bertolt Brecht unterhaltsam, realistisch, vor allem aber nicht ›volkstümelnd‹ sein sollte. Brechts Theaterästhetik wurde vornehmlich in ihren experimentellen Aspekten rezipiert: der epischen Spielweise und der Dialektik von Darstellung und Kommentar. Jean-Paul Sartre, prominenteste Leitfigur und Vordenker vieler linker Protestbewegungen in Europa, hatte »Wahrheit« und »Radikalität« als die wesentlichen Merkmale intellektueller Gesellschaftskritik bezeichnet. Viele Freie Gruppen orientierten sich an solchen Parolen. Ein Blick zurück in die Geschichte! – »Frei« sein zu wollen – diese Forderung taucht in der europäischen Theatergeschichte erstmals Ende des 19. Jahrhunderts im Namen zweier Bühnen auf: dem Théâtre Libre in Paris, das 1887 von André Antoine, dem Angestellten einer Pariser Gasgesellschaft und engagierten Mitglied einer Amateurtheatergruppe, gegründet wurde, und der Freien Bühne in Berlin (1889). Dort war der Schriftsteller Otto Brahm die treibende Kraft bei der Gründung dieser privaten Vereinsbühne. Beide Bühnen scherten aus den bestehenden Theaterkonventionen ihrer Länder aus. Und auch in London gründete der Impresario und Theaterkritiker Jacob Grein 1891 die Independent Theatre Society, einen privaten Theaterverein, der ähnliche Ziele verfolgte wie die beiden Neugründungen in Paris und Berlin wenige Jahre zuvor. Die Aufführungen dieser Bühnen fanden freilich nicht in ›alternativen Spielstätten‹ statt. In Paris gründete Antoine ein eigenes, privat betriebenes Theater. In Berlin mietete der Verein Freie Bühne für seine Aufführungen kleinere private Theater an; ebenso die Independent Theatre Society in London. Im ersten Jahr waren die Aufführungen der Society vornehmlich im Royalty Theatre zu sehen. Frei sein zu wollen, war zu dieser Zeit eine Kampfansage nicht nur im Bereich der Kunst, sondern auch gegenüber den aktuellen Gegebenheiten des Politischen und den wirtschaftlichen Zwängen des Spielbetriebs der kommerziellen Bühnen, deren Betreiber sich Neuerungen gegenüber weitgehend verschlossen, da sie um den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Betriebe bangten. Insbesondere in Deutschland war im 19. und noch im frühen 20. Jahrhundert eine leidenschaftlich geführte Diskussion entbrannt, in der dem Geschäftstheater die Forderung der Reformer nach einem vom Staat weitgehend subventionierten Kulturtheater – so lauteten die kontroversen Begriffe – entgegengehalten
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wurde. Es war dies aber auch eine Zeit, in der die öffentliche Kommunikation, zumal die Theater, der Kontrolle durch die Organe der staatlichen Obrigkeit unterlagen. Gesetzgebung und die von den herrschenden Kreisen der Gesellschaft favorisierte Kunstrichtung bildeten eine fatale Allianz, deren Funktionieren durch die Zensur sichergestellt werden sollte. So war es das vorrangige Ziel der Freien Bühnen – ebenso der Independents – unter Annahme eines Vereinsstatus, der ihre Aufführungen als nicht öffentliche deklarierte, die bestehenden Zensurgesetze, die nur bei öffentlichen Aufführungen zur Anwendung kamen, zu umgehen. In Frankreich und in Deutschland bedeutet dies für die Autoren wie für die Theaterbetreiber allerdings, permanent mit den Ordnungsbehörden, der Polizei und den Gerichten, in Konflikt zu geraten. Und auch die Mehrheit der konservativen Theaterkritiker reihte sich in die Schar der Gegner der Freien Bühnen ein. Sich von den Zwängen des ›Geschäftstheaters‹ unabhängig zu machen, war auch das Ziel von Greins Independent Theatre Society – und dies im hoch kommerzialisierten Londoner Theaterwesen, das sich gegenüber den neueren kontinentaleuropäischen Entwicklungen nahezu vollständig abgeschottet hatte, da sich diese Theaterrichtungen nach Ansicht der privaten Theaterunternehmer nicht ›rechnen‹ würden. Künstlerisch ging es in dieser Zeit um den Naturalismus, die damalige Moderne, und um eine realistische Bühnenkunst. Es galt, die Stücke von Henrik Ibsen und Leo Tolstoi, von Émile Zola und Gerhart Hauptmann auf den europäischen Bühnen durchzusetzen. Diese Autoren und ihre Gefolgschaft kämpften darum, Theater wieder »zeitgemäß« sein zu lassen und die »Wahrheit« auf die Bühne zu bringen. Um 1880/90 waren dies vor allem in Deutschland die Schlagworte einer Gruppe junger Schriftsteller. Zudem schien die neue naturalistische Dramatik im Grenzbereich von Wissenschaft und Kunst angesiedelt zu sein. Auch dies galt in jenen wissenschaftsgläubigen Jahrzehnten den fortschrittlichen Geistern als »zeitgemäß«. Der französische Kritiker und Autor Émile Zola hatte dafür die Richtung vorgegeben: Wie die Naturwissenschaftler so sollten auch die Literaten »experimentieren«. Die Fronten waren also klar abgesteckt: Auf der einen Seite standen jene, die den Kampf um die Moderne auf ihre Fahnen geschrieben hatten, auf der anderen Seite die Traditionalisten, die entschlossen waren, die Sphäre der Kunst vor jedwedem Gegenwartsbezug abzuschirmen, vor allem vom Politischen; in jenen Jahren hieß das: von der »sozialen Frage«. Eben diese aber brachten die naturalistischen Stücke auf die Bühne. Die konservativen politischen Parteien sahen darin Umsturz und Anarchie vorbereitet. Die konservativen Kritiker sprachen dieser Richtung schlichtweg den Kunstcharakter ab. Tendenzkunst war deren Kampf begriff. Die Konflikte eskalierten derart, dass der Naturalismus gar zum Thema im französischen Parlament (1894, dort im Zusammenhang mit Anarchismusdebatten) wurde; ebenso im Deutschen Reichstag (1894, im Zusammenhang mit einer Umsturzvorlage) und beim
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Gothaer Parteitag der deutschen Sozialdemokraten (1896). Letzteren war die neue Dramatik allerdings nicht kämpferisch genug; ihnen fehlte das Positive, wie es die großen Dramen der Klassiker zu vermitteln schienen. Zum Verständnis des Freien Theaters – vom letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an bis heute – mögen diese Anmerkungen zur Geschichte der Freien um 1890 durchaus hilfreich sein, wenngleich sich die politischen und sozialgeschichtlichen Verhältnisse seitdem gravierend verändert haben. Auch ist die Zensur – zumindest in den Gesetzbüchern – heute längst abgeschafft. In den europäischen Ländern wurde dies in sehr unterschiedlicher und zeitversetzter Weise vom Gesetzgeber verfügt. In England etwa bestand die Zensur noch bis in die 1960er Jahre. Seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aber hatten Diktaturen neue, weitaus gravierendere Formen der staatlichen Repression eingeführt, um die kulturelle Sphäre in ihrem Machtbereich »gleichzuschalten«, wie es im Jargon der NS-Diktatur hieß, letztlich dem Diktat ihrer politischen Doktrin zu unterwerfen. In den Jahren um 1890, in denen frei sein zu wollen sich vorwiegend auf die in jener Zeit bestehenden Verhältnisse im Theaterwesen bezog, wurde auch eines deutlich, nämlich das Interesse der naturalistischen Autoren, nicht nur die »soziale Frage«, sondern ein neues Menschenbild auf die Bühne zu bringen. Thematisiert wurde die Abhängigkeit des Menschen von jenen elementaren Faktoren, die Biologie und Soziologie gerade erst entdeckt hatten: durch Vererbung bedingte psychopathologische Dispositionen, desgleichen die scheinbar zwanghafte Prägung durch das Milieu, das soziale Lebensumfeld der Menschen. Beides entsprach den materialistischen Denkschulen dieser Zeit und stand dem idealistischen Menschenbild, wie es der klassischen Dichtungstradition zugrunde lag, diametral entgegen. Erkennbar schien bei den naturalistischen Autoren auch eine gewisse Parteinahme für jene Menschen zu sein, die an den Rändern der Gesellschaft oder in psychischer Verelendung lebten – oder Opfer jener »Lebenslüge« waren, die Henrik Ibsen als die vorherrschende Befindlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft an diesem Jahrhundertende diagnostiziert hatte. Gerade unter diesem Aspekt war in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine im weitesten Sinn vergleichbare Situation entstanden. Sieger wie die Besiegten hatten das Trauma der Kriegskatastrophe mehr verdrängt, als dass es aufgearbeitet worden wäre. In Ländern, die in den sowjetrussischen Machtbereich geraten waren, wurde zwar ein sozialistischer Neuanfang propagiert, aber eben auch gewaltsam durchgesetzt unter der Kontrolle und Lenkung kommunistischer Parteien. Der Hang der westeuropäischen Gesellschaften aber war unübersehbar, mit dem Wiederauf bau die alten Verhältnisse mehr oder weniger fortzusetzen, wie sie sich vor dem Krieg scheinbar bewährt hatten. In Ländern, in denen faschistische Regierungen an der Macht waren, ging der Systemwechsel weitgehend glatt über die Bühne. Die
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re-education-Kampagne der Amerikaner in Westdeutschland und in Österreich lief weitgehend ins Leere. Beschworen wurde nun, nach den materiellen und psychischen Verwüstungen des Kriegs, die humanistische Tradition Europas. Stücke, die Toleranz und aufgeklärte Menschlichkeit zum Thema hatten, beherrschten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren die Spielpläne der großen Bühnen. Der Versuch eines Neubeginns wurde zur ›Stunde des Theaters‹. Die Proteste junger Menschen, die in diesen Nachkriegsjahren allerdings bald aufkamen, richteten sich gegen diese Haltung der Kriegsgeneration, vornehmlich der ›Väter‹, gegen deren Verdrängung von Schuld und Mitverantwortung. In Frankreich und in den Niederlanden spaltete das Thema der Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht die Nation. In England machte sich Ende der 1950er Jahre die Frustration einer jungen Generation und deren Protest gegen den Materialismus und die Hohlheit bürgerlicher Konventionen im Theater der Angry Young Men Luft. Wenig später artikulierte sich in den Stücken von Edward Bond eine noch weitaus vernichtendere moralische Analyse der britischen Gesellschaft. In der Bundesrepublik Deutschland stellte das Dokumentartheater in den 1960er Jahren die Frage nach Schuld und Verantwortung bei der Vernichtung der Juden und ›ermittelte‹ die Täter der NS-Verbrechen. Auch in diesen Stücken ging es darum, eine Wahrheit, die so lange verdrängt worden war, auf die Bühne zu bringen. Es waren dies allerdings Positionen politisch-moralischer Gesellschaftskritik, die in den westeuropäischen Theaterzentren im Repertoire der »ständigen Bühnen« vorgetragen wurden, nicht in der Freien Szene. Die Heftigkeit der Debatten, die dadurch ausgelöst wurden, waren jedoch Anzeichen dafür, dass die Zeit reif war für grundlegende Veränderungen; auch dafür, dass sich der Konflikt zwischen den Generationen verschärfte. Diese Irritationen erfassten auch weite Kreise der bürgerlichen Gesellschaft. Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich nannten diesen Befund, bezogen auf die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft: »Die Unfähigkeit zu trauern« (1967). So auch lautete der Titel ihres viel beachteten Buches. Letztlich aber stand die politische Moral der westlichen Gesellschaften insgesamt zur Disposition. Durchaus ähnliche Entwicklungen, was die Zielrichtung und die Radikalität der Gesellschaftskritik angeht, fanden in Japan statt, das sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den westlichen Industriegesellschaften angepasst hatte. Auch dort kam Ende der 1960er Jahre eine alternative, in ihrer ästhetischen Manifestation extrem radikale Theaterszene auf, die mit dem Begriff Angura – was in etwa dem englischen Wort underground entspricht – beschrieben wurde. Das negative Bild, das sich viele junge Menschen vom Zustand der japanischen Gesellschaft machten, hatte diese Bewegung ausgelöst. Inhaltlich übernahmen sie die Statements der Protestbewegungen in Europa und den USA. Einer der
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profiliertesten Vertreter dieser Richtung war Terayama Shuji. Seine schockierenden Installationen mit der Gruppe Tenjo Sajiki zeigte er auch in den USA und in Europa und verbreitete in zahlreichen Workshops der Freien Szene seine Vorstellung eines subversiven Theaters. Es war ein radikaler Gegenentwurf zu Brechts politischem Aufklärungstheater: Theater sei – so Terayama – die »einzige Zone, in der Gesetzlosigkeit geduldet wird«. Das Aufkommen der internationalen Protestbewegung in den 1960er Jahren hatte im intellektuellen Milieu der Universitäten von Kalifornien seinen Ursprung; in den USA, jenem Land, in dem das Zusammenwirken von Kapitalismus, Imperialismus und Rassismus im öffentlichen Leben, in der Rechtsprechung und in der politischen Sphäre offenbar besonders eklatant zu sein schien. Anfang der 1960er Jahre eskalierten diese Proteste. Historische Eckpunkte waren: rassistisch motivierte Unruhen in einigen der großen Städte der USA, die zur Solidarisierung und einer radikalen Politisierung der schwarz-amerikanischen Minderheiten führten; massenhafte Protestaktionen gegen die amerikanische Kriegsführung in Südostasien und die politischen Morde der Jahre 1963 (John F. Kennedy), 1965 (Malcolm X, Sprecher der BlackMuslims-Bewegung) und 1968 (Martin Luther King und Robert Kennedy), die die westliche Welt erschütterten. In Europa wirkte die Eskalation der Studentenrevolte im Mai 1968 in Paris wie ein Fanal für eine Fundamentalkritik an den autoritären Strukturen der westlichen Nachkriegsgesellschaften, nicht nur der Universitäten, von denen dieser Protest ausging. Eine Vielzahl neu gegründeter Studententheater nahm Impulse dieser Proteste auf. In Paris wie in Los Angeles brannten die Straßen. In Prag, einem Zentrum aufkommender Liberalisierungstendenzen im sowjetischen Machtbereich, marschierten die Truppen des Warschauer Pakts ein (1968), die schon 1956 einen Volksaufstand in Ungarn niedergeschlagen hatten, und bereiteten dem ›Prager Frühling‹ ein abruptes Ende. In der Bundesrepublik Deutschland radikalisierte sich die außerparlamentarische Opposition: 1967 kam es zu einer Massendemonstration anlässlich eines Besuchs des Schahs von Persien in Berlin, in deren Zusammenhang ein Student erschossen wurde; 1968 demonstrierten Tausende gegen die Verabschiedung der sogenannten Notstandsgesetze, Großdemonstrationen fanden in West-Berlin statt. Ein Attentat (1968) auf den Wortführer der außerparlamentarischen Opposition Rudi Dutschke war der vorläufige Höhepunkt dieser phasenweise bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen; ein Vorspiel allerdings nur für den Deutschen Herbst 1977, als die Terroraktionen der RAF den bundesrepublikanischen Rechtsstaat ins Wanken brachten. Für die Aktivisten der Protestbewegungen der 1960er/70er Jahre waren die Revolutionen in Kuba und Vietnam, vor allem aber die Kulturrevolution in China Vorbilder. Mao Tse-tung, Ho Chi Minh und Che Guevara wurden als Vordenker und Helden dieser Revolutionen gefeiert.
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Von Beginn an trugen viele dieser Protestaktionen aber auch ausgesprochen theatrale, gar poetische Züge. Der Slogan der französischen Studentenrevolte – »Die Phantasie an die Macht!« – stand für eine Haltung, die zur totalen Freisetzung von Kreativität aufforderte: in der Politik, auf der Straße und in der Kunst. Auf den »Happening-Charakter der Pariser Mai-Ereignisse« hatte bereits Werner Hofmann in seiner Aufsatzsammlung Gegenstimmen (1979) hingewiesen. 1972 erklärte Joseph Beuys auf der Documenta 5 in Kassel lapidar, dass »jeder Mensch ein Künstler« sei. In ihren Happenings propagierten Beuys und Wolf Vostell die Einheit von Kunst, Politik und Leben als Gesamtkunstwerk. Ein frühes Anzeichen für eine sich Ende der 1970er Jahre abzeichnende Kurskorrektur der ursprünglich politischen Protestbewegung war das Popmusikfestival in Woodstock, New York State, im August 1969, bei dem mehr als 500.000 junge Menschen zusammen kamen, um den Frieden, die Musik und die Liebe zu feiern: »Fuck the System!« wurde zur Parole einer neuen, alternativen Gegenkultur. Ziel dieser jugendbewegten Proteste war es stets auch, das vermeintlich affirmative Verhältnis von Kunst und Gesellschaft zu zerschlagen. Der in Kalifornien lehrende Sozialphilosoph Herbert Marcuse hatte seiner intellektuellen Gefolgschaft dafür die Stichworte vorgegeben. Frei sein zu wollen, verwies in diesem Kontext stets auch auf das Lebensgefühl einer jungen Generation. Der Skandalauftritt des Living Theatre beim Festival in Avignon und das Statement der New Yorker Gruppe – ihr »unconditional No to the present society« – war eines der spektakulärsten Ereignisse im Theater des Jahres 1968. Die zahllosen Freien Theatergruppen, die inzwischen in den USA und in Westeuropa entstanden waren, artikulierten zwar in erster Linie ihren politischen Protest, forderten eine neue Kunst: »Kunst für alle« war für viele das Stichwort. Vor allem aber ging es dabei um die Rechtfertigung neuer Lebensentwürfe, die vornehmlich eines sein sollten: antiautoritär. Authentizität wurde zur verklammernden Kategorie von Kunst und Leben. Der Werkbegriff, der so lange im Zentrum kunsttheoretischer Diskurse gestanden hatte, schien obsolet geworden zu sein. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen und in deren weltanschaulichem Umfeld kam allerdings auch ein neuer Akzent in die Geschichte des europäischen Theaters: die intensive künstlerische und theoretische Auseinandersetzung einiger Regisseure mit außereuropäischen, vor allem mit den fernöstlichen Theaterkulturen. Erstmals erhielt das europäische Theater dadurch eine globale Dimension. Ansätze dazu hatte es bereits um 1900 und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gegeben, als Gastspiele des Ensembles von Kawakami Otojiro in den USA und in Europa das traditionelle japanische Theater bekannt machten. Auch die Tanzentwicklung und die bildende Kunst
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in Europa profitierten von diesen Gastspielen, die weit über den Theaterbereich hinaus das Bild einer gänzlich anderen Kunstauffassung vermittelten. Um 1910/12 entdeckte Wsewolod Meyerhold die verfremdenden Effekte der ostasiatischen Schauspieltechniken im Zusammenhang mit seinem »bedingten Theater«. Und Bertolt Brecht wies in den 1930er Jahren auf die Nähe der chinesischen Schauspielkunst zu seinem Verfremdungstheater hin. Sein Verdikt, dass die westlichen Schauspieler durchweg Dilettanten seien, da sie auf der Bühne nur das Ausdrucksverhalten ihres Alltags reproduzieren würden – chinesische und japanische Darsteller dagegen ein streng kodifiziertes Zeichensystem als Grundlage ihrer Kunst erlernen müssten –, war typisch für die Richtung dieser frühen Rezeption fernöstlicher Schauspielkunst. Einen schärferen Ton hatte Antonin Artaud mit seinem Essay über Das balinesische Theater (1931) in diese Diskussion gebracht. Seine Thesen inspirierten die Freien bei ihrer Suche nach einem nicht von den literarischen Meisterwerken verstellten Theater. Schluss mit den Meisterwerken (1933) – hatte Artaud apodiktisch gefordert. Ideologischer Hintergrund dieses Statements war eine radikale Kritik am westlichen Kulturmodell. So wurde es in den 1970er Jahren geradezu eine Obsession junger Menschen, Grenzen zu überschreiten, nicht nur – mithilfe von Drogen und psychedelischen Techniken – die des eigenen Bewusstseins, sondern eben auch kulturelle Grenzen, vornehmlich in Richtung des Fernen Ostens. Transkulturalität schien das Heilmittel für die vermeintlichen Erstarrungstendenzen westlicher Kunst zu sein. Es galt offenbar, das europäische Theater »aufzufrischen«. So formulierte es die französische Regisseurin Ariane Mnouchkine, die ohnehin erklärte: Theater sei nun mal »orientalisch«. Zudem sahen einige westliche Regisseure im Spiritualismus des Zen-Buddhismus eine Quelle der Inspiration für die eigene künstlerische Arbeit. Auch in der bildenden Kunst kursierte diese Idee. Nun galt es, diese Spiritualität zu erschließen – nicht zuletzt durch Reisen in die entsprechenden Regionen. Peter Brook, Ariane Mnouchkine und Eugenio Barba, die die Hinwendung zu den fernöstlichen Theaterkulturen angestoßen hatten, recherchierten systematisch die anthropologischen Grundlagen von deren Schauspielkunst. Jerzy Grotowski und Eugenio Barba erforschten in Indien und Japan die Stimmund die Körpertechniken orientalischer Schauspieler. Dass der Körper des Schauspielers, dessen bio-mechanischen Möglichkeiten die eigentlichen Gestaltungsmittel der Schauspielkunst seien, darüber herrschte in diesen Jahren auch in der Freien Szene weitgehend Einigkeit. Damit schien allerdings die traditionelle Schauspielerausbildung, die letztlich auf die »Arbeit an der Rolle« (Konstantin Stanislavski), auf die Auseinandersetzung mit den Figuren eines dramatischen Werks, vorbereitete, ausgedient zu haben. Die Freien Gruppen betrieben die Ausbildung für ihr ›anderes‹ Theater zumeist in Form von Workshops. Im Freien Theater war dies
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der Beginn einer Professionalisierung eigener Art. Ziel dieser Ausbildung war nicht mehr der Charakterdarsteller ›alter Schule‹, sondern der authentische ›Performer‹. In letzter Konsequenz ist dies einer, der auf der Bühne von sich erzählt und dessen Bühnenauftritt durch keine Kunstübung verstellt ist: der Laie. Für den Zuschauer ist damit jedwede ästhetische Distanz aufgehoben, die langehin die Voraussetzung dafür war, dass das Bühnengeschehen einen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen vermochte. Stattdessen gibt es vor, ›das Leben‹ selbst zu zeigen, nicht (nur) dessen mimetische Repräsentation: eine Art Hypernaturalismus also. »Experten des Alltag« nennt die deutsche Gruppe Rimini Protokoll konsequenterweise diesen Typus des Bühnenakteurs. Heute haben längst auch Repertoiretheater den Laien als Bühnenakteur entdeckt. »Authentizität« ist das neue Zauberwort. Eugenio Barba gründete 1979 eine International School of Anthropology. Aber bereits die schauspieltechnischen Reflexionen und die Trainingsmethoden von Brook und Grotowski in den 1960er Jahren gingen in die Richtung eines ›anderen‹, eines neuen Theaters. Brook sprach in diesem Zusammenhang gar vom »heiligen Theater« und dessen »wortloser Sprache«. Deutlich unterschied sich diese Auffassung der Schauspielkunst auch von der epischen Spielweise des Brechtschen Lehrtheaters. Es relativierte sich dabei generell die Bindung des Theaters an die westlichen Literatur- und Theatertraditionen, wie sie zuvor durchaus bestanden und sich in mehr oder weniger ›werktreuen‹ Inszenierungen manifestiert hatte. In den 1980er/90er Jahren kam es schließlich zu einer Reihe von Inszenierungen großer klassischer Werke. Allerdings waren diese als ›Projekte‹ aufbereitet, deren künstlerische Faszination in einer Synthese von westlicher Dramaturgie und orientalischer Ästhetik und Schauspielkunst lag. So etwa war Peter Brooks neunstündige Inszenierung von Episoden aus dem altindischen Epos Mahābhārata (1985) in einem Steinbruch in der Nähe von Avignon einer der künstlerischen Höhepunkte des europäischen Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts. Gleiches trifft zu für den Shakespeare- und den Atriden-Zyklus, die Ariane Mnouchkine Anfang der 1980er und Anfang der 1990er Jahre mit dem Théâtre du Soleil inszenierte. Auch diese Aufführungen kombinierten bei den Kostümen, der Choreografie und der Musik orientalische Stilmittel mit den großen literarischen Vorlagen europäischer Provenienz. Mnouchkine plädierte in diesem Zusammenhang dafür, die Werke Shakespeares in eine »Sprache der Körper« zu übersetzen. Die Darbietungen von Brook und Mnouchkine wurden an vielen Orten der Welt gezeigt. Brooks Mahābhārata-Inszenierung wurde nach dieser Tournee auch verfilmt. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre kam es zu einem epochalen Umbruch, der sich auch auf die kulturelle Sphäre der westlichen Industrienationen auswirkte. Auch die Freie Theaterbewegung reagierte auf diesen Umbruch. Nach dem Wegfall der ideologischen Konfrontation zwischen ›West‹
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und ›Ost‹ wurde deutlich, wie sehr diese doch in der Kunst auch ein produktiver Faktor gewesen war. Auf der Ebene des Politischen, der Ökonomie wie in den meisten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens kam es zu gravierenden Veränderungen, nicht nur in den Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks. Die Gründung der polnischen Gewerkschaft Solidarność hatte im Jahr 1980 dessen Zerfall eingeleitet. Fünf Jahre später kündigte Michail Gorbatschow den Umbau – perestroika – der Gesellschaft und der Politik der UdSSR an. Der Unfall am Kernkraftwerk Tschernobyl 1986 hatte einer breiteren Öffentlichkeit in den westlichen Gesellschaften erstmals die Möglichkeit einer ökologischen Katastrophe bewusst gemacht und nachhaltig deren Glauben an eine durch die Entwicklungen der Technik gesicherte Zukunft erschüttert. Verschärft wurden die europäischen Volkswirtschaften in diesen Jahrzehnten mit den Problemen der Globalisierung konfrontiert. Etwa zur selben Zeit kam in den westeuropäischen Gesellschaften ein Bewusstsein davon auf, wie sehr sich diese durch die enorm angestiegene Zahl von Migranten verändert hatten, wie präsent Konventionen aus anderen Kulturen waren, die das ›alte‹ Europa allenfalls von Bildern seiner Kolonialgeschichte her kannte. Reaktionen darauf führten in einigen Ländern zu nationalkonservativen Ressentiments, die politische Unruhe erzeugten. 1989 fiel die Berliner Mauer, die (seit 1961) das Symbol der Teilung Europas gewesen war. In allen europäischen Staaten nahm die Ökonomisierung des Kulturbereichs drastisch zu, was die ohnehin prekäre Situation der Freien Theater besonders verschärfte. Zudem verlor das Theater generell an Boden, nicht nur die Freie Szene. Es war dies vermutlich auch eine Folge der massenhaften Verbreitung der elektronischen Medien im Unterhaltungswesen. Gleichzeitig kam es zu einem politisch offenbar gewollten Abbau traditioneller Bildungsinhalte, was für die im kulturellen Konsens der westlichen Gesellschaften ursprünglich fest verankerte Institution Theater schwerwiegende Folgen hatte. Theoretische Diskurse, die die Rolle des Theaters in den rasant sich verändernden Gesellschaften zum Thema machten, fanden innerhalb der künstlerischen Sphäre kaum statt. Die programmatischen Schriften, an denen sich die Freie Theaterbewegung jahrzehntelang orientiert hatte, stammten durchweg aus den 1960er Jahren. Von der Wissenschaft wurden die neueren Entwicklungen im Theater mit dem Begriff des Postdramatischen beschrieben, wodurch eine weitreichende Zäsur in der europäischen Theaterkultur konstatiert wurde. Offensichtlich war das postdramatische Theater ein Versuch, auf die komplexen zeitgeschichtlichen Veränderungen zu reagieren; ein Versuch auch, Theater im Umfeld von Massenmedien und Popkultur neu zu positionieren. Optimal bediente der amerikanische Regiestar Robert Wilson mit seinen opulenten, bedeutungsfreien Schaustücken, deren Texte und Bilder sich der Festlegung auf eine Interpretation verweigerten, den Zeitgeist dieser 1980er/90er Jahre.
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So setzte auch das Freie Theater am Ende des 20. Jahrhunderts neue Akzente. Es war dies eine Konsequenz, die sich aus den veränderten Lebenserfahrungen der jungen Menschen in diesen Jahrzehnten ergab. Vor allem aber kam ein Prozess der Professionalisierung der Freien Szene in Gang. Zahlreiche neue Gruppen wurden gegründet, die sich nicht mehr über einen politischen Anspruch definierten. In den meisten europäischen Ländern war diese Theatersphäre nun auch mehr oder weniger in die Förderprogramme der öffentlichen Hand integriert – was bei den Freien in den Jahrzehnten zuvor in aller Regel nicht der Fall war. Allein herausragende international agierende Ensembles eines »neuen Theaters« erhielten bereits in den 1970er Jahren eine Förderung, etwa durch Stiftungen; einigen wurden feste Spielstätten zugewiesen. Ein paar prominente Beispiele nur: Ariane Mnouchkine bezog 1970 mit ihrem Théâtre du Soleil die leerstehenden Hallen einer Munitionsfabrik, die Cartoucherie in Vincennes. Der Stadtrat von Paris hatte diesem Umzug zugestimmt. Ebenfalls 1970 übernahm die Stadt Amsterdam eine Teilfinanzierung des Mickeryteaters. Auch die Berliner Schaubühne, ein Privattheater zwar, doch in ihrer Arbeitsweise und den Umständen ihrer Gründung nach einem freien Theaterkollektiv durchaus ähnlich, erhielt bereits Anfang der 1970er Jahre beträchtliche Subventionen vom Berliner Senat, der alles daransetzte, das überaus erfolgreiche Ensemble unter der Führung von Peter Stein an die Stadt zu binden. Peter Brooks CIRT erhielt 1974 mit dem zum Abbruch bestimmten Théâtre des Bouffes du Nord, einer ehemaligen Music Hall, eine feste Spielstätte. Diese und Mnouchkines Cartoucherie lagen allerdings in typischen Arbeitervierteln von Paris. Gleiches gilt für die Berliner Schaubühne, die in ihrer Anfangszeit am Halleschen Ufer, in einer ehemaligen Mehrzweckhalle der Arbeiterwohlfahrt im Stadtteil Kreuzberg, untergebracht war. 1981 erfolgte schließlich der Umzug der Schaubühne in den Mendelsohn-Bau am Kurfürstendamm, in zentralere Lage der Stadt. In Hamburg wurde Anfang der 1980er Jahre in dem ehemaligen Eisenwerk Nagel & Kaemp eine Spielstätte für Freie Theatergruppen eingerichtet. Seit 1985 subventioniert der Hamburger Senat den Spielbetrieb dieser Internationalen Kulturfabrik GmbH – so lautet inzwischen der offizielle Name. Auch in anderen europäischen Großstädten existieren alsbald ähnliche Spielstätten. Diese wenigen Beispiele, bei denen es gelungen war, mit kommunaler Unterstützung das Problem der Auftrittsmöglichkeiten autonomer Ensembles ohne feste Spielstätte zu lösen, dürfen jedoch keineswegs den Befund relativieren, dass die Frage der Spielstätten – die Voraussetzung für kontinuierliche und planbare Arbeit – heute eines der brennendsten Probleme ist, mit dem sich auch das Freie Theater auseinandersetzen muss, und dies in allen europäischen Ländern. Seit den 1990er Jahren und deutlicher noch seit Beginn der Finanzkrise 2008 beherrschen Finanzierungsprobleme nahezu ausschließlich die Debat-
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ten um das Theater, auch innerhalb der Freien Szene. Dies trifft vornehmlich für jene Länder zu, in denen ein von der öffentlichen Hand subventioniertes Theaterwesen existiert. Demgegenüber müssen Freie Theatergruppen ihre Produktionen in aller Regel von Projekt zu Projekt beantragen. Die notorisch geringe mediale Aufmerksamkeit, die dem Freien Theater ohnehin zuteil wird, hat entsprechend fatale Auswirkungen auf die Bereitschaft, deren Arbeit zu fördern. Offenbar fehlen der Freien Szene aber auch so charismatische Regisseure, wie sie das Bild eines ›anderen‹ Theaters in der Öffentlichkeit von Beginn an geprägt haben. Regisseure wie Peter Brook oder Ariane Mnouchkine, Luca Ronconi oder Dario Fo stehen mit ihrem Namen für künstlerische Innovationen und einen hohen professionellen Standard ihrer Gruppen. Sie werden heute zu Recht nicht als Repräsentanten des Freien Theaters wahrgenommen, waren es nie und bilden ein eigenes Establishment innerhalb des europäischen Theaters. In ihrer künstlerischen Lauf bahn gingen sie einen eigenen Weg. Aber auch in der Sphäre des Freien Theaters haben sich heute neue neue Hierarchien herausgebildet, so dass die Arbeitsbedingungen einzelner Freier Gruppen oder Freier Produktionen – auf nationaler wie auf europäischer Ebene – kaum noch miteinander vergleichbar sind. Deutlich mehr allerdings als in den 1960er/70er Jahren ist das Freie Theater heute international aber auch mit Repertoiretheatern durch Kooperationen vernetzt. In Deutschland fördert unter anderen das von der Bundeskulturstiftung unterstützte Programm Doppelpass derartige Formen der Zusammenarbeit. Auch hat sich in der Freien Theatersphäre ein reger internationaler Festivalbetrieb etabliert. An beiden Entwicklungen ist jedoch nur eine verschwindend kleine Anzahl Freier Gruppen beteiligt. Längst auch hat sich für das Freie Theater ein weltweit aktives Verbands- und Organisationswesen entwickelt. Gegenüber den 1960er/70er Jahren spielt der Einfluss US-amerikanischer Gruppen auf das Freie Theater in Europa heute keine Rolle mehr. Ein Grund dafür mag sein, dass sich das Freie Theater, aber nicht nur dieses, aus den weltpolitischen Konfliktfeldern weitgehend heraushält. Kritiker sprachen gar davon, dass sich um die Jahrhundert- bzw. Jahrtausendwende generell »der Abstand des Theaters zur Gesellschaft vergrößert« (Peter Iden) habe. An den Schnittstellen von bildender Kunst und dem Theater hat sich ein breites Feld hybrider Formen durchgesetzt; ebenso im Bereich der experimentellen Musik und dem experimentellen Tanz. Die Kunstbereiche haben sich aufeinander zu entwickelt – ein Prozess, der heute keineswegs mehr die Züge einer Rebellion trägt. In der bildenden Kunst sind Performances und Installationen längst ›museumswürdig‹ geworden. Die Zeit der Happenings und des Straßentheaters allerdings ist vorbei.
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Eine Konstante scheint sich jedoch durch die Geschichte der Freien vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute zu ziehen: Es ist dies das ambivalente Verhältnis der Repertoiretheater – schon um 1890/96 – zu den Freien Bühnen aber auch zum Freien Theater heute. Die Trennwand zwischen diesen beiden theaterkulturellen Sphären war offenbar durchlässiger, als dies auf den ersten Blick zu sein schien. In der Praxis dauerte die vermeintliche ›Gegnerschaft‹ zumeist nur wenige Jahre. War doch der Hang der etablierten Bühnen stets erkennbar, sich jene Neuerungen anzueignen, sie gar zu kopieren, die in der Freien Szene entwickelt wurden, soweit sie denn Zuspruch bei einem größeren Publikum fanden oder dem veränderten Zeitgeist entgegenkamen. Bemerkenswert ist auch der Wechsel von Regisseuren der Freien Bühnen, ebenso aber der Freien Szene heute in die gesicherteren Gefilde »ständiger Bühnen«; offenbar auch deswegen, weil sie dort die besseren Arbeitsbedingungen vorfinden und dennoch ihren künstlerischen Ambitionen einigermaßen treu bleiben können. Festzuhalten ist allerdings auch, dass sich die Theaterästhetik im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – beschleunigt noch seit den 1980er/90er Jahren – grundlegend verändert hat. Manche Inszenierungen an den avancierten Repertoiretheatern unterscheiden sich heute konzeptionell kaum noch von Projekten der Freien Szene. Kooperationen zwischen Freien Gruppen und den Repertoiretheatern wurden durch diesen Prozess der Annäherung, aber auch durch Veränderungen im theaterkulturellen Umfeld der »ständigen Bühnen« möglich. Nicht nur für eine jüngere Generation hat der Theaterbesuch heute mehr oder weniger den Charakter einer Freizeitgestaltung – analog einem Kinobesuch – angenommen; hat jene Exzeptionalität weitgehend verloren, die ihn langehin vom Alltagsgeschehen abhob. Noch einmal also ein kurzer Blick auf die Geschichte der Freien Bühnen: André Antoine, der mit dem Ensemble des Théâtre Libre bald nach dessen Gründung auf Tourneen gefeiert wurde – in Paris allerdings mit seinem Theater bereits nach wenigen Jahren (1894) in Konkurs ging, übernahm zwei Jahre später die Direktion des bereits zu dieser Zeit hoch etablierten Théâtre de l’Odeon in Paris, das heute eines der französischen Nationaltheater ist. Otto Brahm, der in Berlin 1889 die Freie Bühne mit Gerhart Hauptmanns Skandalstück Vor Sonnenaufgang eröffnet hatte, übernahm ebenfalls 1896 – nachdem die Freie Bühne ihre Funktion als Vorreiter der Moderne erfüllt hatte – die Direktion des renommiertesten Berliner Privattheaters, des Deutschen Theaters am Gendarmenmarkt. Mit einem vorzüglichen Ensemble konnte er dort seine Arbeitsweise fortsetzen, gar perfektionieren. Zudem garantierte das kommerziell solide geführte Haus eine gewisse Kontinuität dieser Arbeit. Und auch Jacob Grein wurde acht Jahre nach der Gründung der – anfangs heftig kritisierten – Independent Theatre Society für seine Verdienste um die Erneuerung des britischen Theaters mit hohen Auszeichnungen geehrt.
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Nach nur knapp einem Jahrzehnt also waren die einstigen ›Aussteiger‹ – oder ›Verweigerer‹ – wieder in jener Theatersphäre angekommen, der sie sich ein paar Jahre zuvor entzogen hatten – die sich in ihrer künstlerischen Ausrichtung in diesem Jahrzehnt aber auch wesentlich verändert hatte. Für diese Veränderungen am Ende des 19. Jahrhunderts – für die Öffnung des Theaters gegenüber der Moderne – waren Persönlichkeiten wie Antoine, Brahm und auch Grein Wegbereiter gewesen. Recht ähnlich verlief die Entwicklung nicht viel mehr als ein Jahrzehnt nach der Theaterrebellion zwischen 1960 und 1980. Eine beträchtliche Anzahl von Regisseuren, die ihre ›Handschrift‹ in der Freien Szene entwickelt haben, besetzen seitdem Direktionen und Intendanzen großer Staats- und Stadttheater – legitimiert offenbar durch die »politische Mission« (Christoph Schmidt), mit der sie sich in den 1970er Jahren profiliert hatten. Übersehen darf freilich nicht werden, dass bereits in den 1960er/70er Jahren auch an prominenten Repertoiretheatern Positionen vertreten wurden, die sich in ihrer Zielsetzung und in der Wahl ihrer ästhetischen Mittel von der Freien Theaterbewegung kaum unterschieden. Beispiele für einen solchen Wechsel der ›Lager‹ ließen sich in den meisten europäischen Ländern benennen. Längst auch sind vormals als ›alternativ‹ geltende Spielstätten heute in den Spielbetrieb vieler Repertoiretheater integriert. Eine bereits seit den Anfängen der Freien Theaterbewegung für diese typische Praxis, die bald auch von einigen Repertoiretheatern übernommen wurde, war die Tendenz zur Erarbeitung und Inszenierung von ›Projekten‹, anstelle der Inszenierung von Stücken. Anlass für dieses projektorientierte Arbeiten der Freien Gruppen waren ursprünglich Recherchen in sozialen Problembereichen, eine Art kritische Feldforschung, aus deren Ergebnissen die Spielvorlagen – zumeist kollektiv – erarbeitet wurden. Daneben aber lagen dieser Arbeitsweise aber immer wieder auch experimentelle künstlerische Intentionen zugrunde. Von dieser Art waren die Projekte, an denen Peter Brook in den Anfangsjahren am CIRT gearbeitet hat, oftmals mit einer sich über Jahre hinziehenden wissenschaftlichen und künstlerischen Vorbereitung. Das erste dieser Projekte war Orghast (1971), das in Persepolis, Iran, erstaufgeführt wurde. Es war ein Experiment, das die Erforschung interkultureller Kommunikation zum Ziel hatte und dies auf der Grundlage einer neuen Kunstsprache. Ausgangsmaterial waren Fragmente griechischer und persischer Mythen; ebenso aber gingen anthropologische und neurologische Forschungshypothesen zur Sprache als Ausdruckssystem in diese Projektarbeit ein. Ein halbes Jahrzehnt zuvor hatten Brook und Charles Marowitz – noch in England – mit der experimentellen Freien Gruppe Lamda Artauds Erstes Manifest des Theaters der Grausamkeit – mit dem Ziel theaterästhetischer Grundlagenforschung – als Theatre of Cruelty in Szene gesetzt.
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Mit einer anderen Zielsetzung verbunden waren die Projekte des Het Werkteater in Amsterdam. Dieses Theaterkollektiv recherchierte in den 1970er Jahren in Bereichen, die in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurden: Zustände in Gefängnissen, in Alten- und Jugendheimen und in psychiatrischen Kliniken, Aus dem dabei recherchierten Material erarbeitete das Kollektiv seine Bühnenprojekte. Aber auch Biografisches, persönliche Erfahrungen einzelner Mitglieder der Gruppe dienten als Grundlage szenischer Arbeiten. Ut bent mijn Moeder (1981) war eines der meist aufgeführten Projekte dieser Art. In den Zusammenhang künstlerischer Projektarbeit gehören auch die aufs Engste mit der Tradition polnischer Literatur- und Geistesgeschichte zusammenhängenden Inszenierungsarbeiten von Jerzy Grotowski in Wrocław und von Tadeusz Kantor in Krakau. Grotowski erarbeite zusammen mit seinem Dramaturgen Textcollagen aus unterschiedlichen literarischen Quellen, die ihm als Spielvorlagen dienten. Kantor entwickelte seine Projekte auf der Grundlage von Erinnerungsbildern, fremden und eigenen poetischen Texten und seinen bildnerischen Arbeiten. Eugenio Barbas ethnokulturellen Theaterexkursionen nach Süditalien und ins Amazonasgebiet von Venezuela waren künstlerische und wissenschaftliche Forschungsprojekte zugleich. Zur Disposition gestellt wurde dabei das eigene Verständnis von Theater, das westliche, als mimetische Repräsentation. Die Schauspieler des Odin Teatret wurden auf diesen Exkursionen mit einem Publikum konfrontiert, das Theater in diesem Sinn noch nie gesehen hatte. Ein Projekt mit ähnlicher Zielsetzung war Peter Brooks auf 100 Tage angelegte Theatersafari durch Afrika, von der John Heilpern eine eindrucksvolle Dokumentation (1977) publiziert hat. Die Berliner Schaubühne setzte mit ihren Antiken-Projekten (1974 und 1980) ebenso Maßstäbe wie Ariane Mnouchkine mit ihren Revolutionsstücken (1970 und 1975). In Prato, Italien, hatte Luca Ronconi 1977 in einem ehemaligen Zementwerk das Laboratorio di Progettazione Teatrale eingerichtet, eine experimentelle Spielstätte, in der er zusammen mit einer Architektin die Interdependenzen von Bühneninszenierung und dem Raum, der Werkhalle des einstigen Zementwerks, erforschte. »Das Stück ist der Raum« – so lautete Ronconis Fazit dieses Experiments. Merkmal aller dieser ›Projekte‹ ist, dass sie erst im Prozess recherchierenden, forschenden Arbeitens ihre künstlerische Form finden, mitunter auch neue theatrale Formate entwickelt werden. Der Dramaturgie kommt dabei eine besondere Aufgabe zu: Der Dramaturg wird quasi zum Autor. So entgeht heute auch kaum einer der populäreren Romane der Weltliteratur seiner Bearbeitung – als ›Projekt‹ – für die Bühne. Voraussetzung für diese Arbeitsweise ist allerdings eine weitgehende Flexibilisierung der Produktionsstrukturen. Für die Situation des Freien Theaters heute hat die Verwischung der Grenzen zu den Repertoiretheatern nicht unbeträchtliche Auswirkungen. So ge-
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lingt es nur noch wenigen Freien Gruppen oder Freien Kollektiven, ein künstlerisches Profil zu entwickeln, das sich mit deren Namen verbindet und der Gruppe eine in der nationalen Theaterlandschaft bemerkenswerte, gar international wahrgenommene Position verschafft. Die beiden deutschen Gruppen, Rimini Protokoll und das Performance-Kollektiv She She Pop, ebenso die belgische Gruppe Need Company oder die Gruppe Forced Entertainment aus Großbritannien – um nur diese zu nennen – sind Beispiele dafür, wie sich Freie Kollektive, die eine künstlerisch originelle, unverwechselbare Arbeitsweise entwickelt und sich auf ein spezifisches – offenbar auch markttaugliches – Format konzentriert haben, durchaus erfolgreich behaupten können. In den großstädtischen Theaterzentren existiert an den führenden Repertoiretheatern heute ein vielfältiges Spielplan-Angebot, mitunter auf hohem künstlerischen Niveau, oft auch von Regisseuren verantwortet, die zuvor in der Freien Szene gearbeitet haben oder an Bühnen, die ihnen vergleichbare Freiräume ermöglichen konnten. Diesem Standard gegenüber können sich die meisten Freien Gruppen mit ihren durchweg prekären Arbeitsbedingungen kaum als Sphäre künstlerischer Innovationen behaupten, gar mit dem Anspruch, Avantgarde zu sein. Und dies nicht nur aufgrund der weitaus besseren finanziellen und technischen Ausstattung der etablierten Bühnen, sondern auch deswegen, weil sich die Entwicklung der Theaterästhetik generell in eine Richtung bewegt hat, in der viele jener lange hin geltenden Konventionen aufgegeben wurden, mit denen sich vormals die Freie Szene von den Repertoiretheatern deutlich unterscheiden ließ. Gleichzeitig aber haben sich dadurch aber auch die Unterschiede innerhalb der Freien Szene verstärkt zugunsten jener Kollektive, deren professionelle Arbeitsweise und deren künstlerisches Innovationspotenzial sie Kooperationen mit den Stadt- und Staatstheatern eingehen lassen; oder aber: die aufgrund großen Zuspruchs durch das Publikum mit den Repertoiretheatern – im offenen Markt des Kulturbetriebs – erfolgreich zu konkurrieren vermögen. Es war das Festival Theater der Nationen im Jahr 1979 in Hamburg, bei dem das Internationale Theaterinstitut (ITI) Zentrum Bundesrepublik Deutschland erstmals neben acht so hoch etablierten Bühnen wie dem Wiener Burgtheater, der Peking Oper, dem Theatron Technis aus Athen, der Royal Shakespeare Company aus Stratford/London oder dem Maxim Gorki Theater aus Leningrad auch 16 Freie Gruppen aus aller Welt, dazu neun sogenannte Ein-Mensch-Theater, darunter Marcel Marceau aus Paris, den Clown Jango Edwards aus Amsterdam und Dario Fo aus Mailand, eingeladen hatte. An diesem Festival war erstmals ›Theater der Welt‹ in der Vielfalt seiner Erscheinungsweisen präsent; stellte sich professionelles Freies Theater als selbstverständlicher Teil einer Welttheater-Kultur dar.
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Das Aufkommen der Freien Theaterbewegung in den 1960er Jahren – nur anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – war Symptom eines gesellschaftlichen und künstlerischen Umbruchs von epochalem Ausmaß, in dessen ideologischem Zentrum ein weit über den ästhetischen Bereich hinausgehendes Freiheitsverständnis stand. Die Entwicklungen in den folgenden Jahrzehnten – Regietheater, Autorentheater oder Bildertheater – haben das Theater nicht nur in künstlerischer Hinsicht verändert, sondern auch dessen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, auch die der »ständigen Bühnen«. Unter sehr unterschiedlichen Bedingungen vollzog sich in den postsozialistischen Ländern der Auf bau des Freien Theaters. In einigen dieser Länder konnte es an eine experimentelle, avantgardistische Theaterszene anknüpfen, die in den 1920er Jahren und noch Anfang der 1930er Jahre dort existiert hatte. In Ländern wie dem vormaligen Jugoslawien hatten die Theater auch unter sozialistischen Regierungen weitaus größere Freiräume als in den Staaten des Ostblocks. Wie der gesamte Kulturbereich war auch das Theater in allen diesen Ländern in den Jahrzehnten vor dem großen Umbruch der 1990er Jahre den wechselnden Phasen von politischem ›Tauwetter‹ und rigorosen Kontrollen durch die Parteiadministration, ›Eiszeiten‹, ausgesetzt. Unterschiedlich geregelt war auch das Verhältnis Freier Gruppen – soweit solche existierten – zu den Staatstheatern, unterschiedlich auch in den einzelnen Ländern die administrativen Vorgaben, denen Freies Theater unterworfen war. Dies gilt sowohl für die Zeit vor wie auch für die Zeit nach dem Umbruch in den 1990er Jahren. In den postsozialistischen Ländern war in diesen Jahren die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit, dem Leben in den Jahren der Diktatur, das zentrale Thema der Theater. Zudem gaben die Probleme der Anpassung an das westliche Wirtschaftssystem und die Neuordnung des kulturellen Lebens die Themen vor, auch für das Freie Theater. Generell wird von diesem eine größere Nähe zum Zeitgeschehen erwartet als von den Repertoiretheatern, die langehin den nationalen Literatur- und Bildungstraditionen mehr oder weniger verpflichtet waren. Die Idee der Nationaltheater stand für diese seit dem 19. Jahrhundert in nahezu allen europäischen Theaterkulturen geltende Traditionsbindung. Das stets sehr international aufgestellte Freie Theater jedoch bietet seinem Publikum – öfter wohl als die etablierten Bühnen – die Möglichkeit, im Rahmen ihrer Festivals Theater aus anderen Ländern und anderen Kulturen kennenzulernen. Diesem Publikumsinteresse kommt es vor allem in einigen postsozialistischen Ländern nach, in denen dieser ›Nachholbedarf‹ einen regelrechten Festivalboom ausgelöst hat. Im Bereich des experimentellen Tanzes ist es fast ausschließlich die Freie Szene, in der die Vielfalt zeitgenössischer Entwicklungen zur Geltung kommt – im Gegensatz zum Tanztheater und dem Bühnentanz an den Repertoiretheatern. Ähnlich sind die Gegebenheiten im Bereich der experimentellen Musik.
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In diesen Bereichen sind die internationalen Produktionen der Freien heute die eigentliche Avantgarde. Auch ist die Freie Szene jene Theatersphäre, in der – im künstlerischen Bereich – vermutlich ungleich mehr Menschen als an den meisten Repertoiretheatern arbeiten, die ihre familiären Wurzeln nicht in der europäischen Kultur haben, Migranten etwa, längst auch eine postmigrantische Generation; Menschen mit anderer ethnischer und kultureller Prägung als die Mehrheitsgesellschaft. Für die Freie Theaterbewegung aber waren Internationalität und Multikulturalität stets selbstverständlich. Nicht zuletzt auch erleichtern die offeneren Gruppenund Produktionsstrukturen der Freien den Zugang zur Arbeit am Theater auch für Künstler mit einem Ausbildungshintergrund, der nicht den gängigen Voraussetzungen für ein Engagement an einem Repertoiretheater entspricht. In unserem Forschungsprojekt hat Azadeh Sharifi den Zusammenhang von Freiem Theater und Migration auf europäischer Ebene untersucht. Thematisiert werden in ihrer Studie auch die Probleme, denen Künstler ausgesetzt sind, deren ethnische Prägung nicht den Erwartungen entspricht, die das Publikum mit dem Bild einer Rolle verbindet. Nur zu oft verstellt die Erscheinung des Darstellers – insbesondere als ›artist of color‹ – den Blick des Publikums auf dessen künstlerische Leistung. Das Freie Theater vermag solchen Erwartungen eher entgegenzuarbeiten, als dies die Repertoiretheater – auch im Hinblick auf ihr Publikum – riskieren. Ein besonderer Schwerpunkt der Recherchen von Azadeh Sharifi ist das postmigrantische Theater. Andrea Hensel hat die Situation des Freien Theaters in den postsozialistischen Staaten untersucht: die Positionierung dieser Theatersphäre im Theaterwesen der jeweiligen Länder, die sehr unterschiedlich auf die Veränderungen reagiert haben, die der Zusammenbruch des sowjetischen Staatenverbunds und die Auflösung der staatlichen Einheit Jugoslawiens zur Folge hatten. Sie gibt einen Überblick über die Vielfalt der Themen und ästhetischen Richtungen des Freien Theaters in diesen Ländern. War es doch insbesondere auch diese Theatersphäre, die unter den politischen Verhältnissen vor dem Umbruch in den 1990er Jahren in einigen Ländern eine Vorreiterrolle übernommen hatte für freiheitlicherer Entwicklungen innerhalb der sozialistischen Gesellschaften. Die Untersuchung von Tine Koch ist dem Kinder- und Jugendtheater in Europa gewidmet. Ihre Recherchen zeigen, dass im europäischen Kontext gerade im Theater für ein sehr junges Publikum die kreativsten Entwicklungen im Freien Theater stattfinden. Die etablierten Bühnen dagegen pflegen in den seltensten Fällen ein kontinuierliches Theaterprogramm für dieses Publikum. Von Seiten der Politik, einschließlich der UNESCO, wird die besondere ge-
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sellschaftliche Bedeutung des Kindertheaters zwar immer wieder beteuert, die Förderung desselben steht dazu jedoch in keiner Relation. Die Studie von Petra Sabisch entwirft ein Bild von den Zusammenhängen von Produktionsbedingungen und Ästhetik im experimentellen Tanz, skizziert dessen künstlerische Richtungen, stellt die wichtigsten Diskussionsforen vor und erläutert die aktuellen Theoriediskurse. Desgleichen ist die experimentelle Musik nahezu ausschließlich eine Domäne Freier Gruppen. Matthias Rebstock gibt einen Überblick über »Genres, Diskurse und Traditionslinien«, über »Akteure und Strukturen« und »Innovationslinien« des Freien Musiktheaters. In dem Beitrag von Henning Fülle Theater für die Postmoderne in den Theaterlandschaften Westeuropas werden theoretische Grundlagen eines »neuen«, des postmodernen Theaters im Zusammenhang einer »Krise der Moderne« diskutiert. Im zweiten Teil seiner Studie skizziert Fülle die »strukturellen und kulturpolitischen Verhältnisse« in einigen westeuropäischen Theaterlandschaften mit besonderem Bezug auf die Mitte der 1990er Jahre entstandenen neuen Formen des Theaters. Wolfgang Schneider plädiert in seinem Essay Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft. Kulturpolitische Überlegungen zur Förderung der Darstellenden Künste für eine neue Theaterpolitik und erläutert in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Freien Theaters in den sich verändernden europäischen Gesellschaften. In diesen Studien sind zentrale Arbeitsbereiche des Freien Theaters thematisiert, zudem dessen Stellung im Theaterwesen der einzelnen europäischen Länder. Grundlage dieser Darstellungen sind – neben der eigenen Anschauung – eingehende Recherchen bei Künstlern, die in der Freien Szene arbeiten, bei Kulturpolitikern und Wissenschaftlern; ebenso die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschungsliteratur. Die zunehmende Konsolidierung dieses Theaterbereichs seit den 1980er/ 90er Jahren hat gravierende strukturelle und ästhetische Konsequenzen für die europäische Theaterkultur insgesamt zur Folge gehabt, erweiterte das Verständnis von Theater und dessen experimentelle Spielräume. Dabei wird vor allem deutlich, wie sehr sich die ästhetischen und theaterkulturellen Entwicklungen von Freiem Theater und den Repertoiretheatern heute einander angenähert haben, – nicht jedoch der kulturpolitische Umgang mit diesen beiden Theaterbereichen. Das Freie Theater bildet die soziale Vielschichtigkeit und den Wandel der europäischen Gesellschaften besonders prägnant ab: in den Themen, die es aufgreift, in seiner über die nationalen Theaterkulturen hinausreichenden Vernetzungen und in der Erprobung neuer, flexibler Produktionsstrukturen. Seiner Geschichte verpflichtet, ist es auch heute ein gesellschaftskritisches Fo-
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rum eigener Art. Es ist offener gegenüber anderen, außereuropäischen Kulturen als dies die Repertoiretheater aufgrund ihrer doch überwiegend noch gepflegten Orientierung an der nationalen und der europäischen Literaturtradition zu sein vermögen. Seinem Wesen nach ist das Freie Theater letztlich eine internationale Community junger Künstler. Mit ihrer Vorstellung von Freiheit verbinden sie Ideale wie kollektives, von Hierarchien weitgehend freies Arbeiten mit Gleichgesinnten, die Lust am Experiment und am Ausprobieren der eigenen künstlerischen Möglichkeiten, nicht zuletzt auch das engagierte Eintreten für brisante gesellschaftliche Probleme. Diese jungen Künstler verbindet aber auch – über die nationalen Grenzen hinweg – ein gewisser Widerspruch, zumindest ein Unbehagen an dem real existierenden, von politischem Pragmatismus mitunter deformierten Wertegefüge der europäischen Gesellschaften. Ermöglicht wurden dieses Forschungsprojekt und die vorliegende Publikation durch die großzügige Finanzierung der Fondazione Internazionale Balzan, entsprechend den Regularien der Verleihung des Balzan-Preises im Jahr 2010 an mich. Die Durchführung dieses Forschungsprojekts, dessen Zielsetzung und dessen Verlauf in einem weiteren Vorwort erläutert sind, erfolgte in enger Kooperation mit dem Internationalen Theaterinstitut (ITI) Zentrum Bundesrepublik Deutschland und mit den Universitäten Leipzig, Hildesheim und der Freien Universität Berlin. Diesen Institutionen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Ohne deren Engagement und ihrem Beitrag zur wissenschaftlichen Betreuung der zentralen Forschungsbereiche, vor allem aber auch ohne die umsichtige konzeptionelle und organisatorische Hilfe des ITI wäre dieses Forschungsprojekt nicht zu realisieren gewesen. Manfred Brauneck Hamburg, im März 2016
Für eine Topologie der Praktiken Eine Studie zur Situation der zeitgenössischen, experimentellen Tanz-, Choreografie- und Performancekunst in Europa (1990-2013) Petra Sabisch »… we can learn to examine situations from the point of view of their possibilities.« Stengers, Isabelle: »The Care of the Possible« (interviewed by Erik Bordeleau), in: Scapegoat 1 (2011), S. 12 aus dem Französischen übers. von Kelly Ladd [Original: »Le soin des possibles«, in: Les nouveaux cahiers de socialisme 6 (2011)].
E inleitung Der Künstler-Report von Karla Fohrbeck und Andreas Johannes Wiesand aus dem Jahre 1975 ist als eine erste umfassende, methodenbündelnde Studie bekannt, die sich sowohl mit dem Selbstverständnis von Künstlerinnen und Künstlern der damaligen Bundesrepublik Deutschland auseinandersetzte als auch mit den Abhängigkeiten ihrer Arbeitsverhältnisse. Untersuchungsgegenstand waren dabei vor allem die soziale und wirtschaftliche Lage, »die rechtliche und die Marktsituation«, wobei der Schwerpunkt auf Selbstständigen und freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern lag.1 In diesem Report wird das Berufsbild »Tänzer/Ballett-Angehörige« unter der Oberkategorie »Darsteller/Realisatoren« mit folgenden Berufsbenennun1 | Fohrbeck, Karla/Wiesand, Andreas Johannes: Der Künstler-Report. Musikschaffende, Darsteller/Realisatoren, Bildende Künstler/Designer, München/Wien: Hanser 1975, S. 421. Dieser Studie liegt bereits eine Genderdifferenzierung zugrunde, die sich jedoch nicht im damaligen Sprachgebrauch spiegelt.
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gen umschrieben: »Tänzer, Ballett-Tänzer, Ballettinspizient, Ballettmeister, Ballettregisseur/Choreograf, Ballett-Direktor, Tanzpädagoge«.2 Die Tätigkeitsmerkmale dieser Berufsgruppe werden wie folgt dargestellt: »Tänzer interpretieren durch die Gestaltung von Tanzrollen Inhalt und Form von Ballettmusiken/musikalischen Tänzen; sie wirken in diesem Rahmen auch bei der szenischen Gestaltung von Opern-, Operetten- oder Musical-Aufführungen mit; ggf. führen sie Gesellschaftstänze vor (›Klassifizierung der Berufe‹). Als Tätigkeitsbereiche kommen u. a. das Klassische Ballett, der Jazz-Tanz, der Freie Tanz, der Ausdruckstanz in Frage. Bei Ballettmeistern bzw. -Assistenten, Tanzpädagogen etc. stehen anleitende/schulende, entwerfende und organisatorische Tätigkeitsaspekte im Vordergrund der Arbeit; Choreografen erfinden, gestalten und/oder bearbeiten künstlerische Tänze und inszenieren ihre Aufführung. Der Arbeitsablauf von Ballett-Tänzern gliedert sich in Trainings-, Proben- und Vorstellungsdienste (Entwicklung: von der zunehmend automatisierten Kontrolle der einzelnen Bewegungsabläufe zu differenzierter künstlerischer Darstellung und selbstschöpferischer Arbeit). Vier Stunden Training am Tag, zusätzliche Statisterie in Oper und Operette sind normal. Die Schwerarbeit und der Stress, die von Tänzern geleistet bzw. ausgehalten werden müssen, werden häufig unterschätzt.«
Angesichts dieser Beschreibung von 1975 wird heute unmittelbar ersichtlich, dass sich die Charakteristika der choreografischen, tänzerischen und performativen Profession im freiberuflichen Bereich seitdem vehement verändert haben. Diese Veränderungen seien skizziert anhand folgender künstlerischer Selbstbeschreibung von Praktiken aus dem Jahre 2001: »Abhängig von den verschiedenen kulturellen Umfeldern, in welchen wir arbeiten, können unsere Praktiken mit einer Vielzahl von Terminologien beschrieben werden. Unsere Praktiken können bezeichnet werden als ›Performancekunst‹, ›Live art‹, ›Happenings‹, ›Events‹, ›Körperkunst‹, ›Zeitgenössischer Tanz/Theater‹, ›Experimenteller Tanz‹, ›Neuer Tanz‹, ›Multimedia-Performance‹, ›Site specific‹, ›Körperinstallation‹, ›Physical theatre‹, ›Laboratorium‹, ›Konzeptueller Tanz‹, ›Independance‹, ›Postkolonialer Tanz/Performance‹, ›Street dance‹, ›Urban dance‹, ›Tanztheater‹, ›Tanzperformance‹ – um nur einige wenige zu nennen … Eine derartige Liste von Begriffen repräsentiert nicht nur die Variationsbreite von Disziplinen und Herangehensweisen, die in unseren Praktiken eingebunden werden, sondern sie ist auch symptomatisch für die Problematik des Versuchs, solche heterogenen und in der Entwicklung begriffenen Formen der Performance zu definieren oder zu beschreiben. Jedoch gerät – heute mehr denn je – der Druck kultureller Institutionen und des Kunstmarkts, zeitgenössische Kunstpraktiken zu fixieren und zu kategorisieren, oft in
2 | Ebd. Das folgende Zitat bezieht sich ebenfalls auf diese Stelle.
Für eine Topologie der Praktiken Konflikt mit der fließenden und beweglichen Natur eines Großteils unserer Arbeit, ebenso wie mit ihren Bedürfnissen. Unsere Praktiken sind synonym mit Subventionsprioritäten in Hinblick auf Innovation, Risiko, Hybridität, Publikumsentwicklung, soziale Einbindung, Teilnahme, neue kulturelle Diskurse und kulturelle Vielfalt, kulturelle Unterschiede. Sie bieten neue Sprachen an, artikulieren neue Formen der Subjektivierung und der Präsentation, um mit den kulturellen und sozialen Einflüssen zu spielen, die uns durchdringen, um neue kulturelle Landschaften zu erschaffen. Wir sprechen Thematiken der kulturellen Unterschiedlichkeit an. […] Wir betrachten die Grenzen zwischen Disziplinen, Kategorien und Nationen als fließend, dynamisch und osmotisch. Wir produzieren Arbeit, die Partnerschaften, Netzwerke und Kollaborationen hervorbringt, nationale Grenzen außer Acht läßt und aktiv zu den lokalen, europäischen und transnationalen Kontexten beiträgt.« 3
Dieser Katalog an zeitgenössischen Praktiken im Bereich der Tanz- und Performancekunst findet hier deswegen so ausführlich Erwähnung, weil es sich bei diesem Dokument um das 2002 veröffentlichte Manifesto for a European Performance Policy handelt, eine Mitteilung an die Europäische Kommission und deren kulturpolitische Vertreter/-innen. Konkreter Ausgangspunkt dieses Manifests war die Initiative von Jérôme Bel, Maria La Ribot, Xavier Le Roy und Christophe Wavelet für ein selbstorganisiertes Treffen von Künstlerinnen und Künstlern vom 13. bis 18.10.2001 im Tanzquartier Wien, bei dem das Manifest erarbeitet und in Folge von zahlreichen europäischen Kunstschaffenden unterzeichnet wurde.4 Wie schon am Titel erkennbar, bestehen wesentliche Veränderungen der Berufsmerkmale im qualitativen Wandel des Feldes (welcher sowohl die Modi der Wahrnehmung bzw. Ästhetik betrifft wie auch die Organisationsstrukturen), der damit zusammenhängenden Erweiterung und Transformation der Tätigkeitsbereiche sowie – ganz entscheidend – der Internationalisierung der Beziehungen im Bereich der performing arts und dabei insbesondere des Tanzes und der Choreografie. Den wesentlichen Bezugspunkt in dieser von Künstler/-innen manifestierten zukunftsoffenen Selbstbeschreibung bildet nun keineswegs mehr die Institution Ballett, die, darf man den sozio-empirischen Daten glauben, 1975
3 | Manifesto for a European Performance Policy, 2003, veröffentlicht in Englisch und Deutsch, http://www.freietheater.at/?page=kulturpolitik&detail=61304&jahr=2002 vom 27.7.2013. Das vollständige Manifest ist in der deutschsprachigen Version einsehbar im Annex 1, S. 179. 4 | Vgl. zu den Erstunterzeichnern dieses Textes Annex 1, S. 181.
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für Deutschland noch weitgehend berufsprägend zu sein schien, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher zeitgenössischer und internationaler Praktiken.5 Genannt werden dazu Innovation, Risiko und hybride Formen, die Auseinandersetzung mit und die Entwicklung des Publikums sowie das Ausbilden neuer Diskurse. Des Weiteren treten Partizipation, soziale Kohäsion und differenzielle Vielfalt sowie das Erschaffen von Arbeit als manifeste Züge zeitgenössischer Praktiken auf. Ganz zentral ist jedoch das eingangs formulierte Anliegen, über die eigenen Produktionsmittel unabhängig entscheiden zu können sowie aktiv an den Entscheidungsprozessen etwa bei der Vergabe von Förderung und der transparenten Entwicklung ihrer Kriterien teilzuhaben. So heißt es eingangs des angesprochenen Manifestes: »Contemporary performance artists are increasingly concerned with being able to decide on their means of production independently. As citizens, they also actively take part in the process of decision-making in terms of cultural policies. Their demands aim first and foremost at transparency in support policy, and call for such policy to address artists’ extremely varied forms of production today.«
Ein übersichtlicher Forderungskatalog schließt sich an: »Wir verlangen innovative künstlerische Strukturen, aber auch einen neuen sozialen Status, der neue Arbeitskonzepte anerkennen würde, welche die Unterscheidung zwischen sogenannten ›produktiven‹ und ›unproduktiven‹ Phasen verändert haben. Wir fordern Anerkennung für unsere professionellen künstlerischen Tätigkeiten, einschließlich jener, die in der Zukunft sichtbar sein werden und die dem eine Stimme verleihen werden, was noch nicht artikuliert wurde.
5 | Diese dürften sich wohl in den seltensten Fällen mit den Beschreibungen des Deutschen Bühnenvereins decken, die ein im besten Falle als veraltet einzustufendes Berufsbild einer/-s Choreografen/-in bzw. einer/-s Tänzer/-in zeichnet. Vgl. Deutscher Bühnenverein, Webseite, http://www.buehnenverein.de/de/jobs-und-ausbildung/32. html?view=7 vom 27.7.2013. Praktiken freiberuflicher Choreografinnen und Choreografen werden in dieser Beschreibung von Tätigkeiten, Voraussetzungen und Ausbildung unzureichend gespiegelt, während die Entwicklungen des internationalen zeitgenössischer Tanzes, folgt man dem Text, wohl noch erfunden werden müssten. Vgl. hierzu auch den Hinweis von Gabriele Schulz, dass der Deutsche Bühnenverein seine 53 Berufsbilder nicht an der gesellschaftlichen Realität der in der KSK versicherten 114 Berufsgruppen oder der im AIM-MIA-Portal identifizierten 178 Medienberufe ausrichtet. Schulz, Gabriele: »Bestandsaufnahme zum Arbeitsmarkt Kultur«, in: dies./Zimmermann, Olaf/Hufnagel, Rainer, Arbeitsmarkt Kultur. Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Kulturberufen, Berlin: Deutscher Kulturrat 2013, S. 29-201, hier S. 48f.
Für eine Topologie der Praktiken Diese erhöhte Anerkennung des sozialen Status des Künstlers wird zur Qualität der sozialen Relevanz künstlerischer Aktivitäten beitragen und sie unterstreichen. Das ist der Kern jeder demokratischen Kulturpolitik. Wir wollen, dass die Europäische Gemeinschaft • Künstler ebenso sehr unterstützt wie die Kunst, • in die laufenden Bedürfnisse und das langfristige Wachstum unabhängiger Künstler investiert, • Künstler aktiv unterstützt bei Forschung, Entwicklung und dem laufenden Prozess ihrer Praktiken, und zwar im gleichen Maß wie bei der Hervorbringung und Vorstellung neuer Werke, • die Beziehungen zwischen und über innovative zeitgenössische Praktiken anerkennt und fördert, • die Strategien für interdisziplinäre Dialoge, Kollaborationen und Subventionsinitiativen vereinfacht, • neue Strategien zur Erhöhung des Bewusstseins und der Akzeptanz des Publikums unterstützt, • ein wahrhaftes Engagement für Innovation, Risiko und Hybridität zeigt, • eine nennenswertere Anzahl aktiver, flexibler und erfindungsreicher künstlerischer Strukturen und Infrastrukturen aktiv entwickelt, anerkennt und unterstützt, • und sich auf einen Dialog einlässt, um die Bedingungen für eine neue Diskussion hinsichtlich dieser Fragen festzulegen.«
Stellt man beide Aussagen nebeneinander – auf der einen Seite das Dokument einer engagierten, umfassenden empirischen Studie mit Handlungsempfehlungen und auf der anderen Seite den von Künstlerinnen und Künstlern initiierten Appell einer Zahl engagierter europäischer performing artists – dann stellt sich die Frage, was sich eigentlich genau verändert hat in den dazwischenliegenden 30 Jahren bzw. 40 Jahren bis heute. Welche strukturellen Veränderungen gab es bezüglich eines europäischen Performancestatus, innovativer Kulturpolitiken, der Förderung der Kunst sowie bezüglich der Mitbestimmung an wesentlichen Entscheidungsprozessen? Die vorliegende Studie will sich mit dieser Frage auseinandersetzen, indem sie zunächst die Situation der freischaffenden Künstler/-innen im Bereich europäischer Tanz- und Performancekunst vor dem Hintergrund wesentlicher Stationen in Kulturpolitik und Forschung in den letzten 20 Jahren evaluiert. Wie im Titel versucht wurde zu verdeutlichen, kann sich eine solche Evaluation nur als ein erster Beitrag zum Zusammenführen europäischer Forschungen aus tanz- und performancespezifischer Sicht verstehen, da eine systematische, europäische Erforschung der künstlerischen Arbeitsrealität von freischaffenden Tänzer/-innen, Choreograf/-innen und Performancekünstler/ -innen bislang noch aussteht.
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Dennoch schien es mir wesentlich, angesichts der existenziellen Dringlichkeit der gegenwärtigen Situation für die Künstler/-innen diesen Versuch zu unternehmen, der hoffentlich, trotz unumgänglicher Aussparungen in diesem Rahmen, zu einer weiteren Diskussion beitragen kann. Generell wurde bei der Evaluation versucht, insbesondere auch die jüngste Forschungsliteratur mit zu berücksichtigen. Wenngleich es mir ein Anliegen war, viele Perspektiven aus unterschiedlichen Ländern einzubeziehen, spiegelt sich im ersten Teil dieser Arbeit sicherlich auch mein eigener Erfahrungsraum als freischaffende Choreografin und Philosophin wider, die vor allem lange in Frankreich und Deutschland ansässig war. Diese Tatsache, welche die eigene Perspektivik transparent gestalten möchte, leitete sich aus dem Bedürfnis her, wesentliche Diskussionspunkte und Problemlagen exemplarisch konkretisieren zu wollen. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand und der Evaluation der Situation von Künstlerinnen und Künstlern im Bereich von Tanz, Choreografie und Performance soll in einem zweiten Schritt die eingangs aufgezeigte Fragestellung dieser Studie nach den strukturellen und ästhetischen Veränderungen entwickelt und präzisiert werden. Sie sei an dieser Stelle vorweggenommen: Wie stellt sich das komplexe Zusammenspiel zwischen künstlerischer Produktion, Arbeitsweise und Ästhetiken im freischaffenden, internationalen, experimentellen und zeitgenössischen Tanz, in Choreografie und Performance dar?6 Hintergrund dieser Fragerichtung ist der aus Sicht einer sinnstiftenden Kunstpraxis verblüffende Tatbestand, dass das irreduzible Zusammenspiel dieser Bereiche in den meisten Studien in disziplinäre Einzelgebiete aufgelöst wird – eine Tatsache, die sich in der Forschungsliteratur deutlich widerspiegelt und den Prozess des Kunstschaffens auf einen abgekoppelten Ästhetiksektor reduziert. Anstelle einer Analyse der Wirkungsverhältnisse und des spezifischen Ineinandergreifens von Bedingungen, Vorgehen und Ästhetik erscheint so eine Summe von Einzelteilen.7 Eine Konsequenz dieses spartenspezifischen Vorgehens ist damit eine methodologisch induzierte Reduktion der Wirksamkeit der ästhetischen Dispositive auf den ›reinen‹ Bereich der künstlerischen Darstellung.8 6 | Vgl. Kapitel 1.2 Kritik und Entwicklung der Fragestellung, insbesondere S. 77ff. 7 | Diese Aufteilung und Zuordnung dessen, was als Sinnliches gilt und so wahrgenommen wird, hat Jacques Rancière zur Jahrtausendwende thematisiert, vgl. Rancière, Jacques: Le Partage du Sensible: Esthétique et politique, Paris: La Fabrique-Editions 2000. 8 | In eine ähnliche Richtung argumentiert die interessante, jüngst erschienene Studie Artistic Lives, in der Kirsten Forkert versucht, den Einfluss der materiellen Bedingungen
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Demgegenüber sucht die vorliegende Studie nach Möglichkeiten, dieses Zusammenspiel genauer zu analysieren. Dazu folgt sie der Hypothese, dass die ästhetischen Darstellungsformen der Kunst sowohl von den materiellen Bedingungen, Ressourcen und Methodologien beeinflusst werden, als sie letztere auch mit formen.9 Eine bestimmte Ästhetik, hier verstanden als Ineinandergreifen von Wahrnehmung und Darstellung, kann insofern eine direkte Intervention in diese Umstände sein – oder aber ein Vorschlag ihrer Neuordnung. Nur mit einer solchen Hypothese im Gepäck können die bislang unterbelichteten Wirkungsweisen zwischen künstlerischen, sozialen und ökonomischen Strukturen überhaupt ins Blickfeld treten.10 Ein drittes Kapitel wird den Forschungsgegenstand der »Praktiken« in seinen begrifflichen und methodologischen Implikationen reflektieren und das konkrete Vorgehen dieser Studie darlegen, das neben der Dokumentenanalyse, einer Statistik zur Internationalität der besprochenen Praktiken, wesentlich auf den im Rahmen dieser Studie durchgeführten qualitativen Interviews beruht. Der zweite Teil dieser Studie antwortet auf die Frage nach relationalen Wirkungsverhältnissen mit der konkreten Analyse von fünf ausgewählten Praktiken/Fallstudien, die der Begrenzung des Untersuchungsfeldes auf internationale, experimentelle, zeitgenössische, diskurs- und kontextgenerierende und von Künstlerinnen und Künstlern initiierte bzw. an der künstlerischen Entwicklung ausgerichtete Praktiken entsprechen. Aufgespannt werden soll so die Komplexität dieser Wirkungsverhältnisse, und zwar anhand von Special Issue in Frankreich und später Europa; dem Maauf die Möglichkeiten der Kunstausübung am Beispiel von Künstlerinnen und Künstlern in London und Berlin aufzuzeigen: »There has been a long-standing tendency within the art field to ignore the social and economic conditions of cultural production, because these issues are seen to be irrelevant to aesthetic discussions.« Forkert, Kirsten: Artistic Lives. A Study of Creativity in Two European Cities, Farningham: Ashgate Publishers 2013, S. 3. 9 | Zur Rolle des Ästhetischen als formender Kraft äußert sich auch Andrew Hewitt: »The historical claims I make in this volume […] are claims for the historical agency of the aesthetic as something that is not merely shaped but also shaping within the historical dynamic.« Hewitt, Andrew: Social Choreography. Ideology as Performance in Dance and Everyday Movement, Durham/London: Duke University Press 2005, S. 2. 10 | Einen umfangreichen, wenngleich sprachlichen Einblick in die jeweiligen ästhetischen Erscheinungsformen, Tendenzen und Stilprägungen bietet das für diese Studie erstellte umfangreiche Interviewmaterial. In meinem derzeitig in Arbeit befindlichen Folgeprojekt, A Topology of Practices – The Book of Interviews, finden sich diese Einzelperspektiven kontextualisert und verdichten sich zu einer Art fragmentarischer Kulturgeschichte des Tanzes in Europa von den neunziger Jahren bis heute.
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drider Festival In-Presentable (2003-2012), der Double Lecture Series (2011) in Stockholm, dem Performing Arts Forum in Frankreich (seit 2005) sowie der sommer.bar in Berlin (2006-2011).
1. Z ur S ituation der internationalen , freischaffenden Tanz -, C horeogr afie - und P erformancekunst in E uropa 1.1 Forschungsstand Was ist in der europäischen Kulturpolitik passiert? Angesichts der eingangs skizzierten Differenz der Praktiken im professionellen freiberuflichen Feld von Tanz und Choreografie von 1975 bis heute, 2013, stellt man fest, dass diverse europäische Konventionen verabschiedet wurden, kulturpolitische Studien in Auftrag gegeben, kulturpolitische Handlungsempfehlungen und Stellungnahmen sowie einige wissenschaftliche Problematisierungen zur allgemeinen Situation der Künstler/-innen entstanden sind, und zwar insbesondere zu deren sozialem und wirtschaftlichem Status. In einem kurzen Forschungsüberblick seien daher an dieser Stelle einige wesentliche Studien und Erhebungen mit Auswirkungen für den Bereich Tanz, Choreografie und Performance im europäischen Raum kurz dargestellt. Im Rahmen internationaler Studien zum allgemeinen Stand der Künstler/ -innen in der Gesellschaft sind dabei vor allem die 1980 verabschiedeten weitreichenden Empfehlungen der UNESCO zum Status der Künstler/-innen zu erwähnen.11 Diese sahen die Künste als einen integralen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens an, deren Ausdrucksfreiheit nicht nur ermutigt werden soll, sondern für die auch die materiellen Voraussetzungen zur Ermöglichung der künstlerischen Arbeit geschaffen werden sollten.12 Einige der umfassenden Forderungen, welche die Besonderheit künstlerischer Praktiken anerkannten und Änderungen für bestehendes Arbeitsrecht einforderten, seien hier erneut in Erinnerung gerufen:
11 | Zu europäischen Debatten und Statements zur Kunst in Europa vgl. Europaparlament (Hg.): Monitoring der Aktivitäten zu Kunst und Kultur. Webseite, http://www.eu roparl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P6-TA-2007-0236&format= XML&language=EN vom 9.4.2014. 12 | UNESCO (Hg.): Recommendation Concerning the Status of the Artist, Adopted by the General Conference at its 21st Session, Belgrad, 27.10.1980, http://portal.unesco.org/ en/ev.php-URL_ID=13138&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html vom 12.8. 2013.
Für eine Topologie der Praktiken »Recognizing that the arts in their fullest and broadest definition are and should be an integral part of life and that it is necessary and appropriate for governments to help create and sustain not only a climate encouraging freedom of artistic expression but also the material conditions facilitating the release of this creative talent, Recognizing that every artist is entitled to benefit effectively from the social security and insurance provisions contained in the basic texts, Declarations, Covenant and Recommendation mentioned above, Considering that the artist plays an important role in the life and evolution of society and that he should be given the opportunity to contribute to society’s development and, as any other citizen, to exercise his responsibilities therein, while preserving his creative inspiration and freedom of expression, Further recognizing that the cultural, technological, economic, social and political development of society influences the status of the artist and that it is consequently necessary to review his status, taking account of social progress in the world, Affirming the right of the artist to be considered, if he so wishes, as a person actively engaged in cultural work and consequently to benefit, taking account of the particular conditions of his artistic profession, from all the legal, social and economic advantages pertaining to the status of workers, Affirming further the need to improve the social security, labour and tax conditions of the artist, whether employed or self-employed, taking into account the contribution to cultural development which the artist makes, Recalling the importance, universally acknowledged both nationally and internationally, of the preservation and promotion of cultural identity [...].«.13
Diese von der General Conference herausgegebenen Empfehlungen waren mit der Aufforderung verknüpft, sie allen Autoritäten, Institutionen und Organisationen der Mitgliedsstaaten zu unterbreiten, welche in der Lage sind, zur Verbesserung des Künstlerstatus beizutragen und die Teilnahme am kulturellen Leben und an kultureller Entwicklung zu fördern.14 Wenngleich diese UNESCO-Empfehlungen bis 2011 von 55 Mitgliedsstaaten verabschiedet wurden und unter anderem zur länderspezifischen Datenerhebung in vielen Mitgliedsstaaten führten sowie zu einigen sozialversicherungsrechtlichen Verbesserungen (so wurde beispielsweise in Deutschland 1983, vor allem auch anlässlich des Künstler-Reports, die Künstlersozialkasse eingeführt), blieben doch viele der Empfehlungen, wie unter anderem die qualitative Verbesserung sowohl der beruflichen Situation als auch der Partizipa13 | Für den ersten Teil der UNESCO-Empfehlungen vgl. Annex 4, S. 186. 14 | »The General Conference recommends that Member States bring this Recommendation to the attention of authorities, institutions and organizations in a position to contribute to improvement of the status of the artist and to foster the participation of artists in cultural life and development.« Ebd., S. 189.
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tion von Künstlerinnen und Künstlern an Entscheidungsprozessen in ihrem beruflichen Feld zunächst unerfüllt.15 Auf dieses Desiderat machte zum Beispiel ein 1997 im französischen Kerguehennec (Bretagne) stattfindendes Arbeitstreffen aufmerksam, bei dem sich ca. 50 Tänzer/-innen, Choreograf/-innen und Forscher/-innen im Verein der Signataires du 20 août zusammenschlossen und ihren Unmut über die implementierte Kulturpolitik Frankreichs in einem offenen Brief an das französische Kulturministerium, in persona Dominique Wallon, dem damaligen Directeur der Direction de la Musique, de la Danse, du Théâtre et des Spectacles (DMDTS), artikulierten.16 In diesem Brief wurden die institutionellen Praktiken der französischen Kulturpolitik bezüglich des Tanzes ob ihres »choreografischen Nepotismus«, ihrer »sklerosierten« Starrheit, ihrer fragwürdig gewordenen Vorstellungen gegenüber künstlerischer Werke (Hierarchie der Arbeitsbeziehungen) und vor allem ob der strukturellen, wiederholten Nichtbeteiligung der betroffenen choreografischen Künstler/-innen an den Diskussionen um die Arbeitsbedingungen des eigenen professionellen Feldes kritisiert.17 Ebenso wurde auch die Unverhältnismäßigkeit in der Mittelzuweisung 15 | UNESCO (Hg.): »Consolidated Report on the Implementation by Member States of the 1980 Recommendation Concerning the Status of the Artist« (Monitoring Report der General Conference in Paris vom 21.10.2011), http://unesdoc.unesco.org/images/ 0011/001140/114029e.pdf#page=144 vom 29.7.2013. 16 | In diesem Verein waren Patrice Barthès, Alain Buffart, Thierry Bae, Marion Mortureux-Bae, Christian Bourigault, Laure Bonicel, Hélène Cathala, Boris Charmatz, Julia Cima, Nathalie Collantès, Catherine Contour, Dimitri Chamblas, Fabienne Compet, Fabrice Dugied, Jeannette Dumeix, Laura De Nercy, Matthieu Doze, Hella Fattoumi, Olivia Grandville, Emmanuelle Huynh, Dominique Jégou, Latifa Lâabissi, Catherine Legrand, Eric Lamoureux, Isabelle Launay, Anne Karine Lescop, Samuel Letellier, Bertrand Lombard, Alain Michard, Véra Noltenius, Alice Normand, Julie Nioche, Rachid Ouramdane, Pascale Paoli, Laurent Pichaud, Cécile Proust, Sylvain Prunenec, Annabelle Pulcini, Pascal Quéneau, Fabrice Ramalingom, Dominique Rebaud, Christian Rizzo, Loïc Touzé, Donata d’Urso, Christine Van Maerren, Marc Vincent, Christophe Wavelet, Claudine Zimmer. Zur DMTDS: Die frühere DMDTS (Division de la Musique, de la Danse, du Théâtre et des Spectacles) – seit 2007 DGCA (Direction Générale de la Création Artistique) – ist dem französischen Ministère de la Culture (damalige Kulturministerin Cathérine Trautmann) unterstellt. 17 | Vgl. Les Signataires du 20 août: »Lettre ouverte à Dominique Wallon et aux danseurs contemporains«, in: Mouvement 3-4 (1999-2000), S.1-5; und dies.: »Etat de grève à Kerguéhennec«, in: Mouvement 2 (1999); hier zitiert nach: http://www.danse.univparis8.fr vom 29.7.2013). Für eine Darstellung dieser Debatten vgl. auch Roux, Céline: Danse(s) performative(s). Enjeux et développement dans le champs chorégraphique français 1993-2003, Paris: L’Harmattan 2007, S. 55-78.
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zwischen Tanz und Theater thematisiert und die Tatsache, dass Tanz dem Theater subsumiert werde.18 Die ursprüngliche Frage, was unternommen werden kann, wenn die Kluft zwischen der Logik institutioneller Strukturen und künstlerischen Praktiken sich weiter und weiter auseinanderentwickelt, wurde dabei wie folgt beantwort: »Si l’Etat démocratique et les élus ont la responsabilité des nominations de leurs fonctionnaires et responsables de structures, la responsabilité de la profession est de débattre des contenus de leurs projets respectifs. Elle est en effet devenue suffisamment structurée, suffisamment experte et consciente d’elle-même pour que de tels débats contradictoires puissent avoir lieu. Qu’est-ce qu’une légitimité si elle n’est fondée que sur un savoir-faire politicien et communicationnel, et non sur l’adhésion des danseurs contemporains à un projet artistique et politique? Pourquoi la possibilité de débattre des contenus est-elle à ce point absente du milieu de la danse en France?«19
Mit anderen Worten wurden hier, noch im Vorfeld des eingangs zitierten Manifests für eine europäische Performance-Politik Stimmen vernehmbar, welche eine partizipative Demokratisierung dieses Feldes forderten und die Legitimität rein politischer, nicht inhaltlich motivierter und nicht kompetenzorientierter Entscheidungsprozesse für die Entwicklung des Feldes infrage stellten. Ebenfalls 1997 wurde das UNESCO Observatory on the Status of Artists im Anschluss an den World Congress on the Implementation of the Recommendation Concerning the Status of the Artist als praktisches Monitoringtool und als Datenbank eingerichtet.20 18 | Adolphe, Jean-Marc: »Des moyens pour mieux faire«, in: Mouvement 4 (1999), S. 8: »Entre le théâtre et la danse, les différences restent toujours aussi flagrantes. Là où 45 Centres dramatiques nationaux reçoivent 326,5 millions de francs (soit 7,25 MF en moyenne), les 18 Centres chorégraphiques doivent se contenter de 60 millons de francs (en moyenne 3,3 MF).« 19 | Les Signataires du 20 août: »Lettre ouverte«, S. 2: »Wenn dem demokratischen Staat und seinen Gewählten die Verantwortlichkeit für die Ernennung ihrer Beamtinnen, Beamten und Strukturverantwortlichen zukommt, dann obliegt es der Verantwortlichkeit der Profession, die Inhalte ihrer jeweiligen Projekte zu diskutieren. Die Profession [Tanz, Anm. P.S.] ist in der Tat genügend strukturiert, verfügt über hinreichend Expertise und ist selbstbewusst genug, dass solche widersprüchlichen Diskussionen stattfinden können. Was ist das für eine Legitimität, wenn letztere weder auf einem politischen bzw. kommunikativen Know-how basiert noch auf der Zugehörigkeit der zeitgenössischen Tänzer/-innen zu einem künstlerischen und politischen Projekt? Warum ist die Möglichkeit, im Milieu des Tanzes zu diskutieren, in Frankreich zu einem solchen Grad abwesend?« (Übers. P.S.) 20 | Vgl. World Observatory on the Social Status of the Artist (Hg.), http://portal.unesco. org/culture/en/ev.php-URL_ID=38716&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html
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2001 verabschiedete die UNESCO die Universal Declaration of Cultural Diversity, die 2005 durch die bindende Convention for the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expression komplementiert wurde.21 In beiden Texten werden die zentralen Themen der kulturellen Vielfalt, des kulturellen und natürlichen Erbes, des beweglichen geistigen Eigentums wie auch zeitgenössischer künstlerischer Ausdrucksweisen hervorgehoben. Ganz entscheidend für Kunst und Kultur erweisen sich dabei die Bestimmungen, dass kulturelle Werke – entgegen der von der Welthandelsorganisation (WTO) beschlossenen Abkommen zur Liberalisierung der Märkte, die zwischen sonstigen Gütern und künstlerischen Aktivitäten keinen Unterschied machen – nicht als rein ökonomische Güter zu behandeln seien: »Being convinced that cultural activities, goods and services have both an economic and a cultural nature, because they convey identities, values and meanings, and must therefore not be treated as solely having commercial value.« 22
Ein weiteres Novum war die eindeutige Schlüsselrolle, welche der kulturellen Vielfalt für Frieden, Sicherheit und sozialen Zusammenhalt zugeschrieben wird 23, und ebenso den Akteurinnen und Akteuren, die sich für die kulturelle
vom 23.7.2013. Vgl. auch das 1998 eingerichtete Informationsportal Compendium of Cultural Policies and Trends in Europe vom European Institute for Comparative Cultural Research (ERICarts), das 2013 in der achten Auflage erscheint und Maßnahmen und Statistiken sowie Länderprofile und übergreifende Themen der Kulturpolitik darstellt: European Institute for Comparative Cultural Research (ERICarts, Council of Europe) (Hg.): Informationsportal Compendium of Cultural Policies and Trends in Europe, 82013 (online unter: http://www. culturalpolicies.net/web/index.php bzw. http://www.culturalpolicies.net/web/compendi um.php vom 25.8.2013). 21 | Vgl. UNESCO (Hg.): Universal Declaration on Cultural Diversity, 2.11.2001, http:// por tal.unesco.org/en/ev.php-URL _ID=13179&URL _DO=DO_TOPIC&URL _SECTION =201.html vom 12.8.2013. UNESCO (Hg.): Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions, Paris, verabschiedet am 20.10.2005 (33. Sitzung), http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/cultural-diversity/diversity-ofcultural-expressions/the-convention/convention-text/ vom 12.8.2013. 22 | Ebd. 23 | Ebd.: »Recalling that cultural diversity, flourishing within a framework of democracy, tolerance, social justice and mutual respect between peoples and cultures, is indispensable for peace and security at the local, national and international levels«. Vgl. ebd.: »Emphasizing the importance of culture for social cohesion in general, and in particular its potential for the enhancement of the status and role of women in society«.
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Entwicklung zum Fortschritt der Gesellschaft einsetzen.24 Ebenso wurde beschlossen, dass in Zeiten der Globalisierung die Gewährleistung eines »freien Flusses von Idee und Werken« den Mitgliedsstaaten obliegt, wozu internationale Vereinbarungen und Kooperation unabdingbar und unterstützenswert erschienen.25 Auf europäischer Ebene wurde dieser internationalen Dimension durch einige Maßnahmen entsprochen. 2006 erscheint das von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft in Auftrag gegebene Green Paper: Modernising Labour Law to Meet the Challenges of the 21st Century.26 Dieser Bericht benennt unter dem Stichwort der flexicurity den Bedarf einer Kombination von Flexibilität und sozialer Sicherheit sowie die Notwendigkeit einer Innovation und Veränderung fördernden, inklusiven und dialogisch-responsiven Politik: »In the context of globalisation, ongoing restructuring and the move towards a knowledge-based economy, European labour markets need to be both more inclusive and more responsive to innovation and change. Potentially vulnerable workers need to have a ladder of opportunity so as to enable them to improve their mobility and achieve successful labour market transitions. Legal frameworks sustaining the standard employment relationship may not offer sufficient scope or the incentive to those on regular permanent contracts to explore opportunities for greater flexibility at work. If innovation and change are to be successfully managed, labour markets will need to address three main issues: flexibility, employment security and segmentation issues. The purpose of this Green Paper is to promote a debate about whether a more responsive regulatory framework is required to support the capacity of workers to anticipate and manage change regardless of whether they are engaged on indefinite contracts or nonstandard temporary contracts.« 27
Zentral für die Lage der Künstler/-innen ist vor allem die vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebene Studie Die Situation der Künstler in Europa von 2006.28 Ausgangspunkt dieser Studie ist die Tatsache, dass Künstler/-innen 24 | Ebd.: »Emphasizing the vital role of cultural interaction and creativity, which nurture and renew cultural expressions and enhance the role played by those involved in the development of culture for the progress of society at large«. 25 | UNESCO (Hg.): Universal Declaration on Cultural Diversity, 2001, Annex 1, Artikel 9-11. 26 | Vgl. Commission of the European Community (Hg.): Green Paper: Modernising Labour Law to Meet the Challenges of the 21st Century, Brüssel, 22.11.2006, http://eur-lex. europa.eu/LexUriServ/site/en/com/2006/com2006_0708en01.pdf vom 12.8.2013. 27 | Ebd., S. 9. 28 | Vgl. Europäisches Parlament, Ausschuss für Kultur und Bildung (Hg.): Die Situation der Künstler in Europa, verf. vom European Institute for Comparative Cultural Research
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zwar einen »beträchtlichen Teil der Arbeitskräfte in Europa« ausmachen, aber trotz florierender Wirtschaft nicht ausreichend sozial- und existenzgesichert seien, geschweige denn Teilhabe an diesen Prozessen hätten: »Obwohl die Märkte im Bereich Kultur/Kreativbranche florieren, lebt dieser Personenkreis in weitaus unsichereren Verhältnissen als Angehörige anderer Berufsgruppen. Atypische (projektbasierte) Beschäftigung und Gelegenheitsarbeit, unregelmäßiges Einkommen, dessen Höhe nicht vorhersehbar ist, unbezahlte Recherche- und Entwicklungsphasen, beschleunigter physischer Verschleiß und ein hohes Maß an Mobilität sind einige der wichtigsten Merkmale, denen die bestehenden Rechts-, Sozialversicherungs- und Steuerstrukturen nicht Rechnung tragen.« 29
Vor dem Hintergrund der »abnehmende[n] Rolle des Staates« und der »marktwirtschaftlichen Globalisierung« mit umfassenden Privatisierungen untersucht die Studie Die Situation der Künstler in Europa bestehende (nationale) Rahmenbedingungen und stellt »innovative nationale Maßnahmen« zur Verbesserung der Lage der Künstler/-innen in fünf Bereichen vor: 1. individuelle Arbeits- und Vertragsverhältnisse, 2. berufsständische Vertretung, 3. soziale Sicherung, 4. Besteuerung und 5. Fragen der Mobilität.30 Obschon Die Situation der Künstler in Europa die konkrete Situation der Künstler/-innen sehr kenntnisreich und kritisch prüft, kommt sie im Ergebnis der zur Erörterung entwickelten Szenarien de facto zur Abweisung des Vorschlags vom Europäischen Parlament (2003), einen umfassenden Künstlerstatus in Form einer EU-Richtlinie einzuführen. Die Begründung dazu lau(ERICarts), Suzanne Capiau und Andreas Johannes Wiesand in Zusammenarbeit mit Danielle Cliche, zusätzliche Beiträge von Vesna Čopič, Ritva Mitchell und einem europäischen Expertennetzwerk, Brüssel, November 2006, www.europarl.europa.eu/.../IPOLCULT_ET(2006)375321_DE.pdf vom 10.10.2015. 29 | Ebd., S. iii. Gemäß der EUROSTAT-Studie aus dem Jahr 2004 (kreuztabellierte kombinierte Datensätze aus NACE – der Systematik der Wirtschaftszweige in der Europäischen Gemeinschaft – und ISCO – der International Standard Classification of Occupations) chiffriert die Studie zur Situation der Künstler in Europa die Zahl der Beschäftigten im Kulturbereich in der EU-25 für 2002 auf 4,2 Millionen, was einem Anteil von 2,5 Prozent der Gesamtbeschäftigung entspricht. 30 Prozent davon sind Selbstständige, freischaffende »Kulturakteure« und Arbeitgeber/-innen/Unternehmer/-innen (im Vergleich zu 15 Prozent auf dem Arbeitsmarkt insgesamt), ebd., S. 10. Vgl. hierzu auch die von Gabriele Schulz ausgewerteten Daten der Künsterlsozialkasse (KSK), die für die Gruppe der Künstler/-innen unter den Kulturberufen weitaus aussagekräftiger und genauer sind, vgl. dies.: »Arbeitsmarkt Kultur. Eine Analyse von KSK-Daten«, in: dies./Zimmermann, O./ Hufnagel, R., Arbeitsmarkt Kultur (2013), S. 241-323, hier S. 308. 30 | Ebd. S. 13. Zur Kritik derzeitiger Mobilität-Diskurse vgl. S. 85.
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tet, dass dieser Vorschlag als »nicht sehr realistisch eingestuft« werde, und zwar »angesichts der Komplexität der Probleme, der sehr unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der zwei wichtigsten untersuchten Berufsgruppen (d. h. der Autoren und der darstellenden Künstler) und der innovativen Lösungen in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten«.31 Gleichzeitig wird die Bewahrung des derzeitigen Status quo, sprich atypischer, prekärer Beschäftigungsverhältnisse innerhalb einer ›Projektwirtschaft‹ mit struktureller Unsicherheit, als nichtgangbare Option ausgeschlossen und für eine neue Entschließung des Europäischen Parlaments mitsamt eines pragmatischen Maßnahmenpakets plädiert (das unter anderem eine Gemeinschaftscharta vorsieht, ein Weißbuch zur Mobilität und die Einrichtung einer zentralen Onlinekontaktstelle).32 Angesichts dieses Forschungstands sind hier einige prinzipielle Bemerkungen notwendig: Insgesamt ist für die europäische Datenlage festzustellen, dass nunmehr zwar einige Daten zur allgemeinen sozioökonomischen Lage vorliegen, für die Vergangenheit jedoch oftmals kein Vergleichsmaterial vorhanden ist, was die langfristige und aussagekräftige Analyse von sozioökonomischen Entwicklungen der künstlerischen Berufe relativ unmöglich macht.33 Außerdem ist anzumerken, dass ein kontinuierliches europäisches Monitoring entlang einer differenzierten und nachvollziehbaren Unterteilung in spezifische Berufe bzw. Tätigkeitsfelder fehlt.34 Die uneinheitlich gehandhabten 31 | Europäisches Parlament (Hg.): Die Situation der Künstler in Europa, S. iv. Die begriffliche Unterscheidung der Studie von »schaffenden« und »ausübenden« Künstler/-innen ist meines Erarchtens problematisch. 32 | Ebd., S. 13: »In den letzten Jahren haben sich die abnehmende Rolle des Staates und die marktwirtschaftliche Globalisierung auf den Erwerbsstatus vieler Personengruppen ausgewirkt, darunter auch auf die Berufskünstler. Die künstlerische Kreativität entfaltet sich mittlerweile im Rahmen einer Projektwirtschaft, die überwiegend im Zeichen kleiner und mittlerer Unternehmen steht, während im Vertriebsbereich große nationale und internationale Konzerne den Markt beherrschen. Während einige Berufsgruppen, z. B. Autoren, weniger von diesen Veränderungen betroffen sind, empfinden sie andere, so etwa die ausübenden Künstler, vielfach als tiefe Eingriffe in ihre Vorstellungswelt und Berufspraxis, was sogar dazu führen kann, dass sie eine Änderung ihrer Tätigkeit oder ihres Erwerbsstatus ins Auge fassen.« Vgl. auch ebd., S. 14: »Die Künstler leiden heute mehrheitlich unter einer strukturellen Unsicherheit ihrer Beschäftigungsbedingungen, für die in der Regel kein Ausgleich erfolgt.« 33 | Ebd., S. 10: »Trotz dieser Bemühungen liegen keine vergleichenden europäischen Statistiken vor, die ein Gesamtbild der künstlerischen Berufe […] vermitteln würden.« 34 | Wenngleich die Klassifizierung von Berufsgruppen sicherlich kein Leichtes ist, ist die Typologie der UNESCO aus der Perspektive der Tanzwissenschaft mehr als ungeeig-
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Zuschreibungen zu Berufsgruppen führen erstens dazu, dass sich präzise sozioökonomische Aussagen zum Tanz im europäischen Bereich kaum machen lassen, da Tanz hier wahlweise der Berufsgruppe Performance (auf UNESCOLevel zusammen mit der Musik, jedweder Art von Festen und Messen) zugeschlagen wird und auf nationaler Ebene oft der darstellenden Kunst (also in eins gesetzt mit Theater).35 Aufgrund von länderspezifischen Einzeluntersuchungen und Erfahrungswerten, zum Beispiel angesichts der unterschiedlichen Genderdifferenzierung in Tanz und Theater oder auch angesichts der Internationalisierung und Mo-
net, um Auskunft über die Aktivitäten im Bereich Tanz zu geben. In UNESCO (Hg.): »2009 Framework for Cultural Statistics (FCS)«, Montréal 2009 (online unter: http://www.uis. unesco.org/culture/Pages/framework-cultural-statistics.aspx) vom 28.3. 2013, S. 26, definiert die Organisation die »Berufsgruppe B Performance and Celebration« wie folgt: »Performance and Celebration include all expressions of live cultural events. Performing Arts includes both professional and amateur activities, such as theatre, dance, opera and puppetry. It also includes the celebration of cultural events – Festivals, Feasts and Fairs – that occur locally and can be informal in nature. Music is defined in this domain in its entirety, regardless of format. As such, it includes live and recorded musical performances, music composition, music recordings, digital music including music downloads and uploads, and musical instruments.« Nicht nur ist die Zusammenfassung zweier Künste, hier von Musik und Performance, also einer Sparte mit einer starken Industrie und einer ganz ohne, äußerst erklärungsbedürftig, sondern auch die von professionellen und nichtprofessionellen Aktivitäten. Darüber hinaus ist jedoch das simple Zusammenwerfen von »creative, arts, and entertainment activities« (im CPC2 und ISIC4, S. 52), des Weiteren der Celebration-Aspekt von Festen und Messen bemerkenswert und sicherlich der ökonomischen Perspektive geschuldet, aus der heraus offensichtlich die meisten Klassifizierungen entstanden sind (S. 51). Für den engeren Bereich der eigentlichen Kunstproduktion zeigt sich die Absurdität der unterschiedlichen Klassifizierungssysteme zum Beispiel in den Codes des »Harmonised System« (HS) 2007, demzufolge zum Beispiel der Verkauf von Glocken (S. 65) in den Bereich »B. Performance and Celebration« fällt genauso wie nach der jetzigen UNESCO-Klassifizierung auch jeglicher Verkauf von Weihnachtsschmuck (S. 70). Die eigentlichen künstlerischen Aktivitäten werden damit de facto unsichtbar gemacht. 35 | Vgl. hierzu auch Céline Roux, die diese Entwicklung auch für Frankreich zeigt und unter anderem an der Zusammenlegung der Abteilungen von Musik, Theater und Tanz (DMTDS) festmacht, und zwar trotz der 1984 von Jack Lang geforderten »Dix nouvelles mesures pour la danse«, dies.: Danse(s) performative(s). Enjeux et développement dans le champs chorégraphique français 1993-2003, Paris: L’Harmattan 2007, S. 56.
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bilität, liegt hier die Vermutung einer für beide Bereiche (Tanz und Theater, Tanz und Musik bzw. celebration) überaus verzerrten Darstellung nahe.36 Wenngleich hier enge sparten-ontologische Grenzziehungen – gerade aufgrund der Ausweitung der Praktiken im Tanz (Stichwort: Entgrenzung der Künste bzw. choreography as expanded practice37 ) sowie aufgrund der ästhetischen Freiheit der künstlerischen Allianzen – perspektivisch unangemessen erscheinen, ist doch die seit Jahren fehlende Differenzierung erstens von den künstlerischen Akteuren und den im weiteren Sinne kulturell damit assoziierten Tätigkeiten sowie zweitens von Tanz und Theater bzw. Musik absolut ungeeignet, um die spezifischen Entwicklungen beider Bereiche bzw. ihrer konkreten Bezüge untereinander nachzuzeichnen und zu analysieren.38 Durch diese mangelnde Differenzierung bzw. Subsumption des Tanzes unter das Theater wird die vollkommen unterschiedliche Mittelausstattung zwischen Tanz und Theater unsichtbar gemacht, was zum Beispiel daran ersichtlich wird, dass es in Deutschland kaum mehr als eine Handvoll öffentlich geförderter Häuser gibt, die mehr oder weniger ausschließlich Tanz und Performance und internationale Tanzgastspiele zeigen und die nicht Spielstätten nur einer company sind.39 Diese Zahl, die auch im Verfügungsetat genauer auszubuchstabieren wäre, steht 140 von öffentlicher Hand geförderten Stadt- und 36 | Gegenüber dramatischen Theaterformen, die ja oftmals sprachlich gebunden sind, sind zumindest nichtsprachliche Tanz- und Choreografieformen international zirkulierfähig, ohne damit Tanzperformances auf nonverbale Praktiken reduzieren zu wollen. Historisch betrachtet mag diese Tatsache dazu beigetragen haben, dass sich ein Teil der freischaffenden Tanzszene international organisiert hat. Ein anderer wesentlicher Grund für die Internationalisierung des Tanzes scheint mir darin zu liegen, dass aufgrund der im Vergleich zum Theater prozentual sehr viel geringeren Anzahl von Spielorten für die freischaffende Tanzszene in Europa sich die Notwendigkeit ergab, sich international aufzustellen, so der Lebensunterhalt mit Tourneen bestritten werden soll. 37 | Zum Konzept der Choreografie als expanded practice, vgl. S. 75f. 38 | Vgl. hierzu die Definition der darstellenden Kunst als jedwedes Live-Event umfassendes Spektakel inklusive Feste und Messe bis hin zu Musikdownloads in dem von der UNESCO-Kommission in Auftrag gegebenen, rein quantitativen Monitoring von Söndermann, Michael: Kultureller Beschäftigungsmarkt und Künstlerarbeitsmarkt. Kulturstatistische Analyse zum Anhang des Staatenberichts, im Auftrag der Deutschen UNESCO-Kommission, mit einem Redaktionsstand vom 26.3.2012, S. 8. Da Söndermanns Monitoring hier als Test für die Praxistauglichkeit fungiert, sei an dieser Stelle dringend Einspruch dagegen erhoben. 39 | Genannt seien hier beispielsweise Pact Zollverein in Essen und das gerade von akuten Kürzungen betroffene Tanzhaus NRW in Düsseldorf sowie K3, Zentrum für Choreografie auf Kampnagel Hamburg, das ein Residenzprogramm für junge Choreograf/-innen bietet oder auch die Tanzfabrik Berlin.
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Staatstheatern gegenüber, die sich oftmals keineswegs, auch nicht prozentual, dem freiberuflichen Tanz verpflichtet fühlen.40 Im Vergleich dazu gibt es in Frankreich beispielsweise das Centre National de la Danse in Paris sowie 18 choreografische Zentren. Und doch ist selbst in Frankreich, wie dem Bericht zur Zukunft des »spectacle vivant« von 2004 zu entnehmen ist, die Lage des Tanzes nicht gleichrangig mit der der anderen Künste: »Toujours, il a manqué à la danse de pouvoir établir avec les autres arts une relation d’égalité et non plus de dépendance, si bien intentionnée soitelle.«41 Unter diesem Aspekt der eigenen Spielorte darf man für Deutschland die Anerkennung der Autonomie des Tanzes als Kunstform durchaus noch infrage stellen.42 Zur allgemeinen Situation der Künstler/-innen in puncto Genderdifferenzierung sei an dieser Stelle die zweiphasige Studie von Reine Prat genannt, welche vom französischen Ministère de la Culture in Auftrag gegeben wurde und in den Jahren 2006 und 2009 in Frankreich die Umsetzung der konstitutio-
40 | Der Deutsche Bühnenverein beziffert die Zahl der deutschen Bühnen mit 140 öffentlich getragenen Theatern, 200 Privattheatern, etwa 130 Opern-, Sinfonie- und Kammerorchestern, ca. 70 Festspielen und rund 150 Theater- und Spielstätten ohne festes Ensemble sowie um die 100 Tournee- und Gastspielbühnen ohne festes Haus. Vgl. Deutscher Bühnenverein, Webseite, http://www.buehnenverein.de/de/theater-und-orches ter/19.html vom 4.8.2013. 41 | Latarjet, Bernard: »Pour un débat national sur l’avenir du spectacle vivant«, Compte rendu de mission, im Auftrag des Ministre de la Culture et de Communication, Jean-Jacques Aillagon, 2004, S. 111. 42 | Auch in Frankreich gibt es einen Mehrbedarf an Räumen, vor allem im Bereich Arbeits- und Forschungsorte, vgl. Bachacou, Delphine: De nouveaux espaces pour la danse contemporaine d’aujourd’hui, DESS (développement culturel et direction de projet), Université Lumière Lyon II, ARSEC 2003-2004, S. 50: »Nous pouvons donc penser que ces ›nouveaux‹ lieux, Ramdam, le TNT, les Laboratoires et d’autres que nous n’avons pas encore cité tels que l’Espace Pier Pasolini à Valenciennes, L’Echangeur à Fère en Tardenois, (Aisne) ou encore Mains d’Oeuvres à Saint Ouen, sont en train de créer un nouveau dispositif de création, parallèle à celui existant et dominant. Ces lieux ont vu le jour pour pallier le manque, en France, de lieux de travail destinés à la danse contemporaine et à la création contemporaine de manière générale. Ils se sont aussi créés pour mettre en place d’autres modes de fonctionnement, pour instaurer d’autres axes de travail que ceux développés dans les institutions qui pourraient conduire d’après eux, à des ›pratiques sclérosées‹.«
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nell verankerten Gleichheit zwischen den Geschlechtern im Bereich der Kunst prüft, und zwar mit erschütterndem Ergebnis.43 Für Deutschland sehen die geschlechterdifferenzierenden Analysen zum Einkommen und zur Partizpation an Führungsrollen sowie sozialer Absicherung inklusive Altersvorsorge ebenso unverändert verheerend aus.44
Studien zur sozioökonomischen Situation von Tanzschaffenden in Deutschland Ein wenig präziser nimmt sich die Datenlage für die sozioökonomische Situation der Künstler/-innen im Bereich Tanz, Choreografie und Performancekunst auf nationaler Ebene aus; in Deutschland allerdings auch erst in den letzten Jahren. 2007 erschien hier der Abschlussbericht der Enquête Kommission Kultur, der, anders als der Künstler-Report, sein Augenmerk nicht in erster Linie auf 43 | Prat, Reine: Mission EgalitéS. Pour une plus grande et une meilleure visibilité des diverses composantes de la population française dans le secteur du spectacle vivant – 1- Pour l’égal accès des femmes et des hommes aux postes de responsabilité, aux lieux de décision, à la maîtrise de la représentation, Rapport d’étape 1, Ministère de la Culture et de la Communication/Direction de la Musique de la Danse et des Spectacles (DMDTS), Mai 2006, http://www.culture.gouv.fr/culture/actualites/rapports/prat/ega lites.pdf vom 6.8.2012. Dies.: Arts du spectacle: Pour l’égal accès des femmes et des hommes aux postes de responsabilité, aux lieux de décision, aux moyens de production, aux réseaux de diffusion, à la visibilité médiatique. 2: De l’interdit à l’empêchement, Rapport d’étape 2, Ministère de la Culture et de la Communication/DMDTS, Mai 2009, http://www.culturecommunication und gouv.fr/Actualites/Missions-et-rapports/ Acces-des-femmes-et-des-hommes-aux-postes-de-responsabilite-n-2-De-l-interdit-al-empechement.-ReinePrat/(language)/fre-FR vom 6.8.2012. Vgl. hierzu auch Sabisch, Petra: Drängende Veränderungen in der Darstellenden Kunst – Ein feministischer QuasiSurvey, in: Gareis, Sigrid/Schöllhammer, Georg/Weibel, Peter (Hg.), Moments. Eine Geschichte der Performance in zehn Akten, aus dem Englischen übers. von Holger Wölfle, zweisprachiger Katalog zur Austellung im ZKM Karlsruhe/Museum für Neue Kunst, Köln: Walther König 2013, S. 331-338. 44 | Nach Gabriele Schulz ist das Jahresdurchschnittseinkommen in der Berufsgruppe der darstellenden Künstlerinnen 2012 32 Prozent geringer als das ihrer männlichen Kollegen – ein Unterschied, der sich mit zunehmendem Alter noch verschärft. Diese Kluft ist im Übrigen die höchste in den gesamten Künsten: vgl. dies.: »Arbeitsmarkt Kultur. Eine Analyse von KSK-Daten«, vor allem S. 292ff., bzw. dies.: »Bestandsaufnahme«, S. 45. Vgl. auch Keuchel, Susanne: »Die empirische Studie«, in: Fonds Darstellende Künste/Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater und Tanzschaffenden in Deutschland. Studien – Diskurse – Internationales Symposium, Essen: Klartext Verlag 2010, S. 29-174, hier S. 52f.
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die Kunst bzw. die soziale Lage der Künstler/-innen richtet, sondern auf das gesamte Feld der Kultur.45 Trotz dieses allgemeinen Kulturbegriffs findet hier der Tanz als eigene künstlerische Profession Berücksichtigung in einem knappen Kapitel zur »Sondersituation Tanz«. Darin heißt es einleitend: »Tanz war und ist unverzichtbarer Bestandteil unseres kulturellen Lebens, eine eigene Kunstform, ohne sprachliche oder nationale Barrieren.«46 Erwähnung findet beispielsweise der Tanzplan Deutschland aus dem Jahr 2006 wie auch das Problem der beruflichen Transition. Auch die wachsende Kluft zwischen dem Wachstum der Kulturbranche und der rückläufigen, absolut desolaten Einkommensentwicklung in der darstellenden Kunst kommt zur Sprache: »Aus Sicht der Vermittler und Verwerter stellt sich der Kunstmarkt als stabil und prosperierend dar. […] Im Bereich der darstellenden Kunst hätten – so die Experten – Schauspieler und Tänzer in den letzten zehn Jahren einen Einkommensverlust von ca. 30 bis 40 Prozent hinnehmen müssen. Die Arbeitsmarktsituation sei für alle angespannt, insbesondere aber für diejenigen, die an den ›großen Häusern‹ des Theaterbetriebs nicht festangestellt arbeiteten. Die Einschätzungen der Entwicklungen in diesem Bereich reichten bis hin zur Charakterisierung als einen ›verheerenden Kahlschlag‹.« 47
Ebenfalls 2007 erscheint anlässlich eines Symposiums zu Förderstrukturen (Januar 2006, Berlin) der Band Freies Theater in Deutschland, der zwar nicht auf die tanzspezifische Situation eingeht, aber doch aktuelle Probleme von international agierenden Künstlerinnen und Künstlern aufnahm.48 2010 erscheint der vom ITI und dem Fonds für Darstellende Künste initiierte Report Darstellende Künste mit empirischen Erhebungen zur wirtschaftlichen, sozialen und arbeitsrechtlichen Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland und unter anderem mit einem an der zunehmenden Inter-
45 | Vgl. Deutscher Bundestag (Hg.): Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, Regensburg: ConBrio 2008. Vgl. hierzu auch Zimmermann, Olaf: »Arbeitsmarkt Kultur. Einführung und methodisches Vorgehen«, in: Schulz, G./ders./Hufnagel, R., Arbeitsmarkt Kultur (2013), S. 9-27, hier S. 11. 46 | Deutscher Bundestag (Hg.): Kultur in Deutschland, S. 474. 47 | Ebd., S. 428f. 48 | Vgl. Fonds Darstellende Künste (Hg.): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Essen: Klartext Verlag 2007. Der unter meinem Namen erscheinende Artikel »Arbeitsgruppe Berlin« ist kollektiv von einer Gruppe Berliner Künstler/-innen erarbeitet worden, an der unter anderem Xavier Le Roy und Thomas Lehmen beteiligt waren. Die Namen aller Beteiligten liegen mir leider nicht mehr vor, nachdem die kollektive Autorschaft trotz wiederholtem Protest dem Rotstift der Redaktion aus »Platzgründen« zum Opfer fiel.
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nationalisierung ausgerichtetem Dokumentenüberblick.49 Auch in der empirischen Studie von Keuchel wird erneut festgestellt, dass das Einkommen freiberuflicher darstellender Künstler/-innen sich seit 1975 vehement verschlechtert hat und deutlich unter dem Einkommensmittel der Bevölkerung liegt, und zwar keineswegs aufgrund der Wirtschaftskrise, sondern als stetig regressive Größe.50 Zudem sind hier die Geschlechter bezüglich der Einkommen, wie für Deutschland bestens bekannt, unterschiedlich bedient, und zwar trotz der hohen akademischen Abschlussquote: Frauen verdienen 30 bis 42 Prozent weniger als Männer; ihre Altersarmut ist vorprogrammiert.51 Abschließend sei noch die jüngst erschienene, vom Deutschen Kulturrat herausgegebene quantitative Studie zum Arbeitsmarkt Kultur (2013) vorgestellt, welche eine dezidierte Bestandsaufnahme des Arbeitsmarkt Kulturs vornimmt (Schulz), die Möglichkeiten des sozioökonomischen Panels aufzeigt (Hufnagel), eine Auswertung der KSK-Daten vornimmt (Schulz) und diese sowohl methodisch begründet wie auch historisch situiert (Zimmermann und Schulz/Zimmermann).52 Verdienst dieses umfangreichen Berichts ist nicht nur das Aufzeigen der Komplexität des Arbeitsmarktes Kultur, sondern auch eine kritische Stellung49 | Vgl. Fonds Darstellende Künste/Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.): Report Darstellende Künste. Vgl. ebd. Bach, Konrad/Engel, Thomas/Freundt, Michael/Welke, Dieter: »Der Status der Künstler im Bereich der Darstellenden Künste. Recherche des deutschen Zentrums des ITI«, S. 243-272. 50 | Vgl. S. Keuchel: »Die empirische Studie«, S. 49ff. 51 | Vgl. ebd., S. 52. 52 | Vgl. Schulz, G./Zimmermann, O./Hufnagel, R.: Arbeitsmarkt Kultur. Für die Bestandsaufnahme von Schulz wäre allerdings dringend eine Binnendifferenzierung zwischen Tanz und Theater zu ergänzen, da die Kategorie der darstellenden Kunst die Besonderheiten von Tanz und Choreografie in Bezug auf das Theater aus dem Blick geraten lassen. Das ist insbesondere anzumerken im Hinblick auf die sich in den letzten Jahren multiplizierenden Studiengänge im Bereich Tanz/Choreografie und Tanzwissenschaft, die so nicht auftauchen, wie auch auf das Einbeziehen der Tanzwissenschaft (bei Schulz scheint die Tanzwissenschaft der Theaterwissenschaft untergeordnet) und vor allem auf die unterschiedliche Genderdifferenzierung, vgl. S. 120. Mittels der KSK-Daten ist ersichtlich, dass sich die Zahl der in der KSK Versicherten im Bereich der darstellenden Kunst in den letzten 20 Jahren um 173 Prozent erhöht hat: Künstlersozialkasse, Webseite, http://www.kuenst lersozialkasse.de/wDeutsch/ksk_in_zahlen/statistik/versichertenbestandsentwick lung.php vom 12.8.2013. Wie Schulz zwar nicht verbalisiert, aber doch tabellarisch ausgearbeitet hat, gab es im Bereich Regie und Choreografie von 1995 bis 2010 einen Anstieg der Versicherten um 199 Prozent bei den Männern und um 342 Prozent bei den Frauen, G. Schulz/O. Zimmermann/R. Hufnagel: Arbeitsmarkt Kultur, S. 287, eine Zahl, die erklärungsbedürftig ist.
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nahme zur Position der Künste im Bereich der Kultur.53 Zwischen Kunst und Kultur zu differenzieren beschreibt Olaf Zimmermann dabei als Anliegen des Deutschen Kulturrates, wenngleich sich das auch in Bezug auf den Titel nicht widerspruchsfrei liest: »Wird über den Arbeitsmarkt Kultur gesprochen, ist eine Differenzierung dringend erforderlich. Den Arbeitsmarkt Kultur schlechthin gibt es nicht, dazu sind die Branchen, die Rechtsformen, die Ausbildungen und die Beschäftigungsverhältnisse zu unterschiedlich. Ein wesentliches Anliegen ist es, zu verdeutlichen, dass der Arbeitsmarkt Kultur mehr ist als ein Arbeitsmarkt nur für Künstler. Eine solche Herangehensweise schmälert die Bedeutung von Künstlern für den Arbeitsmarkt Kultur in keiner Weise. Im Gegenteil, Künstler sind die Voraussetzung für den Arbeitsmarkt Kultur. Ohne Künstler werden keine neuen zeitgenössischen Werke geschaffen, ohne Künstler sind keine neuen Aufführungen, Einspielungen oder Interpretationen möglich. Künstler bilden den Kern des Arbeitsmarktes Kultur; um ihre Arbeiten und um ihre Arbeit bilden sich die weiteren Kreise des Arbeitsmarktes Kultur. Ein wesentliches Anliegen dieses Buches ist es daher, zu differenzieren zwischen der künstlerischen Arbeit und den künstlerischen Berufen auf der einen Seite und denjenigen Beschäftigten auf der anderen Seite, die Kunst und Kultur lehren, vermitteln, verkaufen, verbreiten.« 54
Die Notwendigkeit dieser Differenzierung sei aus Sicht dieser Studie mit Nachdruck hervorgehoben, gerade um die strukturellen Veränderungen und Umverteilungen zwischen den Bereichen der Kunstproduktion, der Kunstver53 | »Auslöser, sich intensiver mit dem Arbeitsmarkt Kultur zu befassen, sind zeitgleich geführte, teils sehr gegensätzliche, kulturpolitische Debatten. Auf der einen Seite wird von der ›Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung‹ die wirtschaftliche Bedeutung dieser Branche hervorgehoben. Ihr wird ein Stellenwert zwischen der chemischen und der Automobilindustrie eingeräumt. Sie wird als Zukunftsbranche gesehen, die in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden soll. Auf der anderen Seite ist in den Gremien des Deutschen Kulturrates die Rede davon, dass viel zu viele Menschen für den Arbeitsmarkt Kultur ausgebildet werden und nur ein Bruchteil der Absolventen künstlerischer Ausbildungsgänge tatsächlich eine Chance im angestrebten Arbeitsmarktsegment hat. Hier wird von einer Verknappung der Ausbildungskapazitäten gesprochen. Auf wiederum einer dritten Seite wird die Bedeutung der Kulturellen Bildung hervorgehoben und erwartet, dass sich hier neue Chancen für Künstler/-innen und andere in Kulturberufen Tätige ergeben. Diese Erwartung kollidiert wiederum mit der vierten Seite, den bereits vorhandenen und zum Teil anstehenden Kürzungen in den kommunalen Haushalten bei der Grundfinanzierung von Kultur- und Bildungseinrichtungen. Dem stehen zeitlich begrenzte groß angelegte Projekte wie ›Kulturagenten für kreative Schulen‹ entgegen, die eine Leuchtturmwirkung haben.« Ebd., S. 20. 54 | Ebd., S. 328.
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mittlung, der kulturellen Bildung und dem weiteren Kreis der Kulturberufe überhaupt sichten zu können.55 Auf die stetige Nichtdifferenzierung und die damit faktisch ausgeübte Indifferenz gegenüber künstlerischen Praktiken in einem allgemeinen Kultur-/ Unterhaltungs- und Kreativitätsbegriff weist auch die New Yorker Kunstkritikerin Claire Bishop in ihrer Kritik an neoliberalen Kreativitätskonzeptionen hin, wie sie sich etwa im rechten kulturpolitischen Report Our Creative Capacity Hollands (2005) wiederfinden. Bishop konstatiert: »[W]e find that the authors of this paper acknowledge no difference between ›creative industry‹, the ›culture industry‹, ›art‹ and ›entertainment‹.«56 Auch der 2002 fertiggestellte Creative Europe Report ist in dieser Hinsicht kritisch zu erwähnen: Der Report stellt Maßnahmen der europäischen Regierung dar und Modi der Partnerschaften zur Unterstützung kreativer Konzepte. Dabei wird das »atypische« Beschäftigungsverhältnis der Kunst zwar zur Kenntnis genommen und erwogen, inwieweit hier Sondergesetzgebungen erfolgen könnten; dennoch liegt der Fokus, trotz der bemühten »Stimmen aus dem Feld«, auf der governance der sogenannten Kreativwirtschaft.57 55 | Hier ist als Beispiel der Streik der französischen intermittents zu nennen, der 2003 zum Ausfall des Theaterfestivals in Avignon führte. Dieser Streik hatte gezeigt, inwiefern der allgemeine Arbeitsmarkt (nicht nur der der Kultur) in Wirklichkeit von der Kunstproduktion profitiert; die bezifferten finanziellen Ausfälle von Gastronomie und Tourismus machten dabei das Ausmaß der Nichtbeteiligung von Künstlerinnen und Künstlern an dieser ›Wertschöpfungskette‹ deutlich. Zu den Diskussionen dieser Zeit vgl. unter anderem die ebenfalls gerade von Kürzungen bedrohte Zeitschrift Mouvement (revue indisciplinaire des arts vivants) 23 (2003) (»Qu’ils crèvent les artistes«) und 24 (2003) (»L’art d’en sortir«). 56 | Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London/New York: Verso 2012, S. 15. 57 | Cliche, Danielle/Mitchell, Ritva/Wiesand, Andreas: Creative Europe:
On Governance and Management of Artistic Creativity in Europe, in Kooperation mit Ilkka Heiskanen und Luca Dal Pozzolo (ERICarts Report to the Network of European Foundations for Innovative Action), Bonn: ARCult Media 2002, S. 30: »In comparison with the ›typical‹ groups of professionals and other wage earners or entrepreneurs, professional artists may need – and deserve – special support systems and special legal provisions within the economic and social frameworks protecting their professional rights and guaranteeing social security to employees and entrepreneurs which reflect their ›atypical‹ status. Related and crucial questions are: how should these special support systems and legislative provisions be designed in a manner that is responsive and impartial to their varying sectoral (art form) needs, local and regional conditions? Could they be easily altered to respond to wider economic and social changes that effect the position and status of the artists/ creators throughout Europe?« Zur Kritik an einem solchen Kreativmanagement vgl. auch
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Die nachhaltige Förderung freier Strukturen von Kunst und Kultur, die Entwicklung der freischaffenden Kunst- und Kulturlandschaften sowie die für eine demokratische Gesellschaft wesentliche Möglichkeit fachspezifischer Mitbestimmung und Teilhabe verschwinden im marktkompatiblen, kreativen Allerlei. Bishop beschreibt diese Ideologie des Kreativitätsdiskurses als Extraktion der genuinen Aufgaben von Kunst wie etwa der der Kritik und der des Aufspannens von Ambivalenzen: »What emerges here is a problematic blurring of art and creativity: two overlapping terms that not only have different demographic connotations but also distinct discourses concerning their complexity, instrumentalisation and accessibility. Through the discourse of creativity, the elitist activity of art is democratised, although today this leads to business rather than to Beuys. The dehierarchising rhetoric of artists whose projects seek to facilitate creativity ends up sounding identical to government cultural policy geared towards the twin mantras of social inclusion and creative cities. Yet artistic practice has an element of critical negation and an ability to sustain contradiction that cannot be reconciled with the quantifiable imperatives of positivist economics. Artists and works of art can operate in a space of antagonism or negation vis-à-vis society, a tension that the ideological discourse of creativity reduces to a unified context and instrumentalises for more efficacious profiteering.« 58
In der Reihe der kritischen und sich aktiv für die Verbesserung der Situationen von Künstlerinnen und Künstlern einsetzenden Positionen sind des Weiteren die Aktivitäten des Deutschen Kulturrates zu nennen, die sich in zahlreichen kritischen Positionspapieren, einer Bibliografie zum Thema Arbeitsmarkt Kultur und vielen Handlungsempfehlungen widerspiegeln.59 Erwähnenswert sind darüber hinaus auch einige Initiativen und Stellungnahmen der in Deutschland noch sehr jungen Berufsverbände, wie etwa dem Dachverband Tanz – Ständige Konferenz Tanz (seit 2006 bundesweit)60, dem Zeitgenössischen Boltanski, Luc/Chiapello, Eve: Le nouvel esprit du capitalisme, Paris: Gallimard 2011, S. 638. Vgl. auch Zimmermann, Olaf/Schulz, Gabriele (Hg.): Zukunft Kulturwirtschaft. Zwischen Künstlertum und Kreativwirtschaft, unter Mitarbeit von Stefanie Ernst, Essen: Klartext Verlag 2009. 58 | Bishop, C. : Artificial Hells, S. 16. 59 | Vgl. Deutscher Kulturrat, Webseite, http://www.kulturrat.de/text.php?rubrik=4 vom 4.8.2013. 60 | Es sei hier jedoch kritisch angemerkt, dass sich der als gemeinnützig verstehende Dachverband Tanz, der wie das Internationale Theaterinstitut im Kunstquartier Bethanien in Berlin-Kreuzberg residiert, in erster Linie einem Netzwerk von Verbänden und Institutionen verpflichtet fühlt. Einzelpersonen wie etwa Tanzschaffende werden laut Satzung als
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Tanz Berlin (gegründet 2000)61 und nicht zuletzt der Koalition der Freien Szene (2012).62 Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Studie kritisiert die Berliner Initiative Koalition der Freien Szene die Berliner Kulturpolitik mit Vehemenz, und zwar aufgrund ihrer »Strukturen, die künstlerische Arbeit und Produktivität eher behindern als fördern«. Konkret gemeint ist damit die »Konzentration auf den institutionellen Bestand«, die mit einer absolut unzureichenden Mittelvergabe an Freie einhergeht sowie mit fehlender Planungssicherheit und Nachhaltigkeit« und dem »Raubbau an der künstlerischen Arbeitskraft und Produktivität«.63
Europäische Studien und dokumentarische Ressourcen zu Tanz, Choreografie und Performance Darüber hinaus sind für Tanz, Choreografie und Performance wesentliche Berichte, Studien und dokumentarische Ressourcen aus den europäischen Nachbarländern zu erwähnen, wenngleich an dieser Stelle aufgrund der Breite des Spektrums weder eine systematische noch eine vollständige Übersicht gegeben werden kann.64 Bei dieser exemplarischen Auswahl lag der Schwerpunkt auf jüngst erschienener Literatur und Studien zu strukturellen VeränderunMitglieder nur zugelassen, so es sich um »Persönlichkeiten« handelt, die sich um den Tanz in besonderer Weise verdient gemacht haben, was nach schriftlicher Antragstellung und Beitragszahlung der Vorstand entscheidet. Vgl. Dachverband Tanz, »Satzung«, Webseite, http://www.dachverband-tanz.de/pdf/Satzung_DTD_2010-03-06.pdf vom 12.8.2013. 61 | Zum Dachverband Zeitgenössischer Tanz Berlin – ebenfalls ansässig am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg – und vergleichsweise offeneren Strukturen vgl. die deutschenglische Website Dachverband Zeitgenössischer Tanz Berlin, http://www.ztberlin.de/ vom 23.7.2013. 62 | Die Koalition der Freien Szene engagiert sich spartenübergreifend für eine neue Kulturpolitik und kritisiert die »eklatante Fehlentwicklung im Berliner Kulturhaushalt«. Sie wehrt sich gegen eine Politik, welche »die Künste in freien Strukturen zunehmend Verwertungszwängen aussetzt bzw. der Verdrängung preisgibt und damit die Autonomie der Kunst beschädigt sowie die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst marginalisiert.« Koalition der Freien Szene, Webseite, http://www.berlinvisit.org/ vom 22.8.2013, vgl. ebd. auch die jüngsten Pressemitteilungen und Kampagnen zum provokativen Haushaltsentwuf Berlin 2014/2015. 63 | Berufsverband bildender Künstler Berlin e.V., Webseite, http://www.bbk-berlin.de/ con/bbk/front_content.php?idart=2085&refId=199 vom 28.8.2013. 64 | Vgl. auch die europäischen Ressourcen Lab for Culture, einer vernetzenden Webseite, die Zugang zu europäischen Fördermöglichkeiten bietet, Lab for Culture, Webseite, http://www.labforculture.org/ vom 4.6.2013; und On the Move. Informationsportal zur Mobilität, Webseite, http://on-the-move.org/ vom 4.6.2013.
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gen in der Tanz- und Performancekunst; des Weiteren wurde ausgesprochen dezidierten und kontinuierlich über Jahre erstellten Berichten der Vorrang gegeben. Einen sehr guten Überblick über die aktuelle Landschaft des Tanzes in Belgien/Flandern bietet der 2013 erschienene Bericht Performing Art Flanders: Perspective Dance, herausgegeben vom VTI (Flämisches Theater-Institut) und dem Institute for the Performing Arts in Flanders, mit Interviews, der Präsentation ausgewählter, geförderter Künstler/-innen, Ausbildungs- und Trainingsmöglichkeiten sowie einer Darstellung intermediärer bzw. tanzfördernder Institutionen.65 Zu qualitativen Veränderungen des Feldes in den letzten 20 Jahren sei die Studie von Joris Janssens und Dries Moreels: Metamorphoses. Performing Arts in Flanders since 1993 genannt.66 Ebenso liegt für Serbien das von TKH/Walking Theory herausgegebene Raster – Yearbook of the Independent Performing Arts Scene 2008, 2009 vor, das, gefördert vom Kultursekretariat Belgrads, die unabhängige Performing-Arts-Szene Serbiens als zentralen Akteur der kulturellen Landschaft Serbiens würdigt und mittels kritischer Themenberichte und eines ausgewählten Produktionsverzeichnisses sowohl aktuelle Probleme und Arbeitsbedingungen bespricht als auch zur Systematisierung von Daten und der Darstellung von Veränderungen in diesem Bereich beiträgt.67 In diesem Rahmen seien auch die in Zagreb und Ljubljana herausgegebenen internationalen Performing-Arts-Zeitschriften Frakcija und Maska genannt, die seit Jahren (Frakcija seit 1996, Maska seit 1990) zweisprachig (kroatisch/ englisch und slowenisch/englisch) erscheinen und damit einen sehr guten Überblick über internationale zeitgenössische Diskussionen und Veränderungen im Feld von Tanz, Theater und Performance bieten.68 Ebenso ist hier an herausragender Stelle der Versuch des englisch-deutschen Onlinemagazins Corpusweb zu nennen, das sich durch jahrelange Kontinuität in Aufführungsbesprechungen, aber auch durch eigene Themenset65 | Vgl. VTI/Institute for the Performing Arts in Flanders (Hg.): Performing Arts Flanders: Perspective Danse, Brüssel: vti 2013 (online unter: http://vti.be/en vom 31.7.2013). 66 | Vgl. Janssens, Joris/Moreels, Dries: Metamorphoses. Performing Arts in Flanders since 1993, Brüssel: vti 2007 (online unter: http://www.vti.be/metamorfose vom 31.7.2013). 67 | Vgl. TKH (Walking Theory): Raster 2008#1 und Raster 2009#2 – Yearbook of the Independent Performing Arts Scene, Belgrad 2008 und 2009, http://www.tkh-genera tor.net/files/raster1eng_0.pdf vom 2.8.2013. 68 | Vgl. Frakcija. Performing Arts Magazine, Webseite, http://www.cdu.hr/frakcija/ shop/index.php vom 2.3.2013; und Maska. Slowenisch-englische Plattform und Journal for Performing Arts in Ljubljana, Webseite, http://www.maska.si/index.php?id=161&L=1 vom 2.3.2013.
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zungen und kulturpolitische Kritik zu einem interessanten Archiv gestaltet hatte, bevor es weggespart wurde.69 Noch vor der Kürzung sei daher auf die vernetzend wirkende spanische Video- und Diskussionsplattform tea-tron der »libre comunidad escénica« hingewiesen, die neben Blogs auch Aufführungsankündigungen, Interviews und Podcasts enthält.70 Für Österreich sind die jüngsten Veränderungen (Wiener Theaterreform 2003) ebenfalls relativ gut dokumentiert.71 Die jüngste Studie zur Situation der Künstler/-innen in Irland bietet neben der sozialen Lage auch einen dezidierten Einblick in Arbeitsbedingungen und nutzerdefinierten Entwicklungsbedarf.72
Tanzwissenschaft: Zur Situation von Tänzer/-innen und Choreograf/-innen Wenn Andrew Hewitt 2005 über die Performance der Ideologie im Tanz als Social Choreography schreibt, Laurence Louppe im zweiten Band ihrer Poétique de la danse contemporaine die Produktionsweisen der »neuen Tendenzen« seit den neunziger Jahren im zeitgenössischen Tanz anspricht und wenn Bojana Cvejić und Ana Vujanović 2010 die erschöpfenden Folgen der immateriellen Arbeit im Performing-Arts-Sektor diskutieren, dann findet die soziale und wirtschaftliche
69 | Vgl. Corpus. Internet-Magazin für Tanz, Choreografie und Performance, Website http://www.corpusweb.net/ vom 19.8.2013. 70 | Vgl. Tea-tron. Unabhängige Online-Plattform zu den szenischen Künsten, Website, http://www.tea-tron.com/teatron/Portada.do vom 19.8.2013. 71 | Vgl. Schober, Christian/Schmidt, Andrea/Sprajcer, Selma: Tanz- und Theaterszene in Wien. Zahlen, Daten, Fakten unter besonderer Berücksichtigung der Effekte der Wiener Theaterreform 2003, im Auftrag der Stadt Wien an das NPO Kompetenzzentrum der Wirtschaftsuniversität Wien, Wien 2012 (online unter: http://epub.wu.ac.at/3634/) vom 21.3.2013; sowie Kock, Sabine: Prekäre Freiheiten. Arbeit im freien Theaterbereich in Österreich, hg. von der IG Freie Theaterarbeit, Wien: o.V. 2009; und Schelepa, Susanne/ Wetzel, Petra/Wohlfahrt, Gerhard: Zur sozialen Lage der Künstler und Künstlerinnen in Österreich, unter Mitarbeit von Anna Mostetschnig, im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur an die L&R Sozialforschung, Wien: 2008. Vgl. ebenso Cerny, Karin: »Die Evaluation der Theaterreform ist abgeschlossen«, 7.7.2012, http://www. profil.at/articles/1227/560/333790/die-evaluation-theaterreform und Arctor, Fred: »Die Evaluation. ›Tanz- und Theaterszene in Wien‹ – Eine Studie im Auftrag des Kulturamts der Stadt: Erste Begutachtung«, http://www.corpusweb.net/die-evaluation.html vom 7.3.2013. 72 | Vgl. McAndrew, Clare/McKimm, Cathie: The Living and Working Conditions of Artists in the Republic of Ireland and Northern Ireland, im Auftrag des Arts Council of Northern Ireland und des Arts Council An Chomhairle Ealaíon, 2010.
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Realität von Tanzschaffenden, Choreograf/-innen und Performer/-innen in der deutschen Tanzwissenschaft bis auf wenige Ausnahmen kaum Beachtung.73 Noch gibt es, im Unterschied zum Beispiel zu Frankreichs starker Kunstsoziologie74, keine ähnlich etablierte Tanzsoziologie.75 Dennoch weisen einige jüngere Forschungsansätze, oftmals inspiriert durch die Choreografien Xavier Le Roys, in Richtung einer kritischen Auseinandersetzung mit den konkreten Bedingungen der künstlerischen Produktion sowie auf das Potenzial von künstlerischer Forschung als eigenständig theoriebildender Alternative zu dem von Husemann 2009 kritisierten »in der Regel praxisferne[n] akademische[n] Diskurs«.76 Von den wenigen tanzwissenschaftlichen Positionen, die sich mit den Produktionsbedingungen bzw. der prekären Situation von Künstlerinnen und Künstlern beschäftigen, seien hier drei wesentliche Symposien als Beispiele genannt: 2010 veranstaltet die Kölner Professorin für Tanzwissenschaft Yvonne Hardt zusammen mit Friederike Lampert das Symposium Choreografie und Institution, das die aktuellen Herausforderungen der Choreografie an der Schnittstelle von zahlreichen, den Kunstmarkt Tanz bestimmenden institutionellen Praktiken diskutiert und die Möglichkeiten von Tanz als institutionskritischer Praxis untersucht.77
73 | Vgl. Hewitt, A.: Social Choreography; Louppe, Laurence: Poétique de la danse contemporaine, la suite, Brüssel: Contredanse 2007, S. 8. In einer gemeinsam mit den Laboratoires d’Aubervilliers herausgegebenen Sondernummer Exhausting Immaterial Labour konstatieren die Autorinnen die Erschöpfung der Freelancerszene in den performing arts angesichts der Transformationen in der Arbeitswelt und formulieren den Bedarf nach Konkretion und präziser Observation der Veränderungsprozesse in den künstlerischen Produktionsverhältnissen: »What kinds of transformations of labour and production have the performing arts undergone in the past decade and how specifically different are they from other institutional practices or media?« Cvejić, Bojana/Vujanović, Ana: »Exhausting Immaterial Labour (editor’s note)«, in: TKH Journal of Performing Arts Theory 17 (2010) (= Exhausting Immaterial Labour, Sonderheft), S. 4f., hier S. 4. 74 | Vgl. Thévenot, Laurent: »Die Person in ihrem vielfachen Engagiertsein«, in: Trivium 5 (2010) (online unter: http://trivium.revues.org/3573); und ders./Boltanski, Luc: »Sociology of critical capacity«, in: European Journal of Social Theory 2 (1999), S. 359-377. 75 | Für eine Einführung in die Kunstsoziologie vgl. Danko, Dagmar: Kunstsoziologie, Bielefeld: transcript 2012. 76 | Husemann, Pirkko: Choreografie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009, S. 246. 77 | Vgl. Hardt, Yvonne/Stern, Martin (Hg.): Choreografie und Institution. Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik, Produktion und Vermittlung (Tagung des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz an der Hochschule für Musik und Tanz Köln), Bielefeld: transcript 2011. In-
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2012 erscheint der gemeinsam von Gabriele Brandstetter, Bettina BrandlRisi und Kai van Eikels herausgegebene Sammelband Prekäre Exzellenz. Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen im Anschluss an die gleichnamige Tagung im Juni 2010, welche gemeinsam mit dem Forschungsprojekt Die Szene des Virtuosen (SFB Kulturen des Performativen) und der Volksbühne Berlin veranstaltet wurde und dem Nexus von prekären Virtuositäten und ökonomisierten Exzellenzstrategien nachgeht.78 In kritischer Reflexion auf die letzten zehn Jahre im zeitgenössischen Tanz initiierten Stefan Apostolou-Hölscher und Gerald Siegmund 2011 das internationale Symposium Dance, Politics and Co-Immunity in Gießen, das die internationalen Tanzwissenschaften mit der politischen Philosophie an einen Tisch brachte. Der entstandene und jüngst erschienene Sammelband fragt – anknüpfend an Paolo Virnos Performancekünstler als postfordistischen Virtuoso79 –, wie sich das Verhältnis von Tanz und Politik heute gestalten und reflektieren lässt, ohne neoliberale Anforderungsprofile einfach zu wiederholen: »Dance and its artistic communities have indeed become a model for neo-liberal flexibility and self-exploitation. Given these circumstances, how can we think about the relation between dance and politics today without repeating neo-liberal demands and constraints? This volume focuses on recent developments in contemporary dance and the production of new spaces for collaboration and exchange.« 80
Die zentrale Bedeutung von Auseinandersetzungen mit Formen der künstlerischen Arbeit, die in den letzten Jahren vielmals unter dem Stichwort der »immateriellen Arbeit« diskutiert wurde oder auch als Reflexion von Arbeitsweisen und Formen der Zusammenarbeit, sei deshalb an dieser Stelle mit Ausdruck markiert.81 zwischen, so sei zu diesem Zeitpunkt angemerkt, wurde das Zentrum für Zeitgenössischen Tanz, welches erst 2009 noch reformiert wurde, selbst von akuter Schließung bedroht. 78 | Vgl. Brandstetter, Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/Eikels, Kai van (Hg): Prekäre Exzellenz. Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen, Freiburg i.Br./Wien/Berlin: Rombach 2012. 79 | Vgl. Virno, Paolo: A Grammar of the Multitude. For an Analysis of Contemporary Forms of Life, New York/Los Angeles: Semiotext(e) 2004, S. 52. 80 | Apostolou-Hölscher, Stefan/Siegmund, Gerald (Hg.): Communications: Dance, Politics and Co-Immunity. Thinking Resistances (Current Perspectives on Politics and Communities in the Arts, Bd. 1), Berlin/Zürich: diaphanes 2013, S. 8. 81 | Vgl. hier die jüngst erschienene Habilitation von Eikels, Kai van: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, München: Wilhelm Fink 2013; sowie Dissertation von Apostolou-Hölscher, Stefan: Vermögende Körper: Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik und Biopolitik anhand von Parabeln zu Sasa Asen-
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Neben diesen eher einzelnen Vorstößen zu den Produktionsbedingungen von Künstlerinnen und Künstlern gibt es in der Tanzwissenschaft bzw. der ästhetischen Theorie der Choreografie auch neuere Auseinandersetzungen mit künstlerischen Arbeitsweisen, Öffentlichkeiten und konkreten Aufführungsanalysen sowie eine breite Beschäftigung mit ästhetischen Thematiken und historischen Aspekten des Tanzes.82 Was jedoch gerade in Bezug auf die Fragestellung dieser Studie fehlt, und das sei hier deutlich markiert, sind Arbeiten, die wie zum Beispiel Daniel Burens wegweisender Text The function of the studio den Zusammenhang zwischen Produktions- und Distributionsformen, Arbeitsweisen und Ästhetiken systematischer als Wirkungsverhältnis erkunden.83
Künstlerischer Diskurs Eine wesentliche Veränderung der letzten zehn bis 20 Jahre hinsichtlich der Literatur zum Tanz liegt in der zunehmenden Zahl der Veröffentlichungen von Künstlerinnen und Künstlern im Bereich künstlerische Forschung bzw. tic, Jérôme Bel, Mette Ingvartsen, Jefta van Dinther, Ivana Müller, Dissertation, Bielefeld: transcript 2015; und ders.: »Let’s Work Differently! 6 MONTHS 1 LOCATION and the Resonances Between Production, Labor, Thought, Dance, and Community«, in: Instytut Muzyki i Tańca Warszawa (Hg.), Communitas and the Other: New Territories of Dance in Europe after 1989, London/New York: Routledge 2013 (im Erscheinen). Zu dem Projekt 6 months 1 location, vgl. auch S. 118f. 82 | Zur Frage der Öffentlichkeiten vgl. Cvejić, Bojana/Vujanović, Ana: Public Sphere by Performance, Berlin: bbooks 2012. Zur Frage von Arbeitsweisen vgl. zum Beispiel: Ruhsam, Martina: Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung und ihre Aufführung, Wien/Berlin: Turia & Kant 2011; und Hecquet, Simon/Prokhoris, Sabine: Fabriques de la Danse, Paris: PUF 2007. Zu Fragen der Wahrnehmung seien hier angeführt die Arbeiten von Fontaine, Geisha: Les danses du temps: Recherches sur la notion du temps en danse contemporaine, Pantin: Centre National de la Danse 2004; sowie von Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld: transcript 2006; Lepecki, André: Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement, New York: Routledge 2006; Föllmer, Susanne: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript 2009; Brandstetter, Gabriele/Hofmann, Franck/Maar, Kirsten (Hg.): Notationen und choreographisches Denken, Freiburg i. Br./Berlin/Wien: Rombach 2010. Zur Tanzgeschichte vgl. zum Beispiel Lambert-Beatty Carrie: Being Watched: Yvonne Rainer and the 1960s, Cambridge/London: The MIT Press 2008. 83 | Zur Fragestellung vgl. Kap. 1.2 Kritik und Entwicklung der Fragestellung, vor allem S. 92; sowie Buren, Daniel: »The Function of the studio«, in: October 10 (1979), übers. von Thomas Repensek, S. 81 [Original: »Fonction de l’atelier« verfasst 1971, veröffentlicht 1979]. Für eine choreografische Kritik solcher Funktionen, vgl. auch S. 139.
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künstlerischer Diskurs.84 Um dieses Feld angemessen darstellen zu können, bedürfte es eines wesentlich breiteren Rahmens, sodass auch hier leider nur beispielhaft und nicht systematisch einige für den Untersuchungsbereich dieser Studie relevante, kollektive Veröffentlichungen hervorgehoben werden können. Als Beispiel für ein von Künstlerinnen und Künstlern initiiertes Symposium aus dem letzten Jahr sei dafür die Konferenz Choreography as Expanded Practice. Situation, Movement, Object zitiert, welche anlässlich der Ausstellung Retrospective von Xavier Le Roy vom 29. bis 31.3.2012 in der Fundació Antoni Tàpies in Barcelona stattfand.85 Kuratiert von Mårten Spångberg in Zusammenarbeit mit Le Roy und Cvejić konzipierte diese Konferenz den Choreografiebegriffs vor dem Hintergrund aktueller zeitgenössischer künstlerischer Praktiken neu: »In the last few years the term ›choreography‹ has been used in an ever-expanding sense, becoming synonymous with specific structures and strategies disconnected from subjetivist bodily expression, style and representation. Accordingly, the meaning of choreography has transformed from referring to a set of protocols or tools used in order to produce something predetermined, i.e. a dance, to an open cluster of tools that can be used as a generic capacity both for analysis and production. Choreography is today emancipating itself from dance, engaging in a vibrant process of articulation. Choreographers are experimenting with new models of production, alternative formats, have enlarged the understanding of social choreography considerably and are mobilizing innovative frontiers in respect of self-organizing, empowerment and autonomy. Simultaneously we have seen a number of exhibitions concerned with choreography often placed in a tension between movement, situation and objects. Choreography needs to redefine itself in order to include artists and others who use choreo84 | Dies lässt sich sicherlich auf neue, digitale Tools und Print-on-demand-Verfahren zurückführen, welche wesentlich preisgünstiger und zugänglicher wurden. Gleichzeitig ist hier jedoch zu bemerken, dass diese Publikationen in Deutschland bedauerlicherweise nicht gefördert werden, da das kurzfristig vom Tanzplan Deutschland eingerichtete Instrument der Publikationsförderung, das Tanzschaffende und Tanzwissenschaften als Zielgruppe hatte, weder fortgeführt noch durch ein anderes Förderprogramm ersetzt wurde. 85 | Vgl. dazu die Webseite http://choreographyasexpandedpractice.wordpress.com/ vom 28.8.2013. Dieses Event wurde unterstützt von der University of Dance and Circus Stockholm, MACBA, Fundació Antoni Tàpies, Mercat de les Flors, dem Swedish Research Council und dem Swedish Arts Grants Committee. Teilnehmer/-innen waren: Bojana Cvejić, Dorothea von Hantelmann, Graham Harman, Ana Janevski, André Lepecki, Xavier Le Roy, Maria Lind, Isabel de Naverán, Luciana Parisi, Goran Sergej Pristas, Mårten Spångberg, Francisco Tirado und Christophe Wavelet. Das folgende Zitat bezieht sich ebenfalls auf diese Konferenz.
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Petra Sabisch graphic strategies without necessarily relating them to dance and, at the same time, it needs to remain inclusive of choreographers involved in practices such as engineering situations, organization, social choreography and movements as well as expanding towards cinematic strategies, documentary and documentation and are rethinking publication, exhibition, display, mediatization, production and post-production.«
Im Bereich der Publikationen ist die von Mårten Spångberg und Inpex (International Performance Exchange) initiierte und kollektiv editierte The Swedish Dance History 1-4 (2009-2012) zu nennen sowie die in Folge entstandene, international agierende Romanian Dance History 1-5, die sich durch performative Interventionen auszeichnet.86 Auch sei hier die von José Antonia Sánchez herausgegebene spanisch-englische Zeitschrift Cairon erwähnt, in der sowohl Künstler/-innen zu Wort kommen als auch die Probleme der künstlerischen Forschung diskutiert werden.87 Darüber hinaus sind hier die szenischen Arbeiten und Buchpublikationen der internationalen Plattform Everybodys zu nennen, die seit 2005 versucht, Dis-
86 | Vgl. The Swedish Dance History, dessen vier Ausgaben (2009-2012) jeweils von einem unterschiedlichen und breiten editorialem Board (Inpex) ehrenamtlich realisiert wurden und oft vom Swedish Arts Council (Konstnärsnämnden) und der Stockholmer University of Dance unterstützt wurde, vgl. Inpex (Hg.): The Swedish Dance History, Bd.e 1-4, Stockholm: Inpex 2009-2012. Diese zum Teil mehr als 1000-seitigen Bände mit SchwarzWeiß-Fotos aus dem Feld und mit zahlreichen Texten von Künstlerinnen und Künstlern ist zu einer diskursiven europäischen Plattform ersten Ranges geworden, die bemerkenswerterweise gratis verteilt wird, ohne jedoch genügend finanzielle Unterstützung auch auf internationaler Ebene zu erhalten. Zur Romanian Dance History vgl. den »Skandal« der höflichen Programmstörung im Impulstanz Festival in Wien, die Verleihung des Berlin Art Prize 2012 an Manuel Pelmus oder die Einladung zur Biennale in Venedig, vgl. Romanian Dance History, Webseite, http://rodancehistory.blogspot.de/ vom 24.8.2012. Zur Geschichte der Romanian Dance History vgl. auch Manuel Pelmus im Interview mit Tom Engels, das im Rahmen dieser Studie durchgeführt wurde, insbesondere MP36f.TE. 87 | Vgl. hierzu die von Victoria Pérez Royo und Cuqui Jerez herausgegebene zweisprachige Ausgabe der tanzwissenschaftlichen Zeitschrift Cairon 14: Pérez Royo, Victoria/ Jerez, Cuqui (Hg.): »to be continued – 10 textos en cadena y unas páginas en blanco« (Cairon – Revista de Estudios de Danza/Journal of Dance Studies 14), Madrid: Aula de Danza Estrella Casero-Universidad de Alcalá 2012. Zum Thema von künstlerischer Praxis als Forschung, vgl. auch Pérez Royo, Victoria/Sánchez, José Antonio (Hg.): »Practice and Research« (Cairon – Revista de Estudios de Danza/Journal of Dance Studies 13, Sonderheft vom Institut del Teatre de la Diputación de Barcelona y del CENAH de la Universidad de Alcalá), Alcalá: Servicio de Publicaciones Universidad de Alcalá 2010.
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kurs und Austausch sowohl performativ als auch diskursiv zugänglich zu machen und weiterzuentwickeln.88 Das Feld ist hier jedoch wesentlich breiter gestreut; es umfasst Monografien von Künstlerinnen und Künstlern, Diskussionen zu Arbeiten und Arbeitsweisen sowie den zunehmend bedeutsamen Ressourcenbereich von digitalen Plattformen, Videodatenbanken, sozialen Netzwerken und Archiven.89 Insgesamt ist hier positiv zu verzeichnen, dass viele Künstler/-innen im Bereich Tanz, Choreografie und Performance ihre Praktiken, Forschungen und spezifischen Arbeitsweisen öffentlich artikulieren; und zwar trotz einer europaweit mangelnden Förderung von Publikationen im Bereich von Tanz, Choreografie und Performance.90 Im Vergleich etwa zur Katalogkultur der bildenden Kunst ist jedoch die Anzahl der künstlerischen Publikationen und Forschungen in Tanz und Performance verschwindend gering, was angesichts der auf die Gegenwart bezogenen Präsentationsform von Performances insgesamt zu einer eher schlechten dokumentarischen Lage führt.
1.2 Kritik und Entwicklung der Fragestellung Dieser knappe Einblick in die Situation im professionellen freischaffenden Tanz, der Choreografie und der Performance macht die besonders prekäre Lage deutlich, welche sich aufspannt in einem weiten institutionellen Feld von europäischen Konventionen, nationalen und föderalen Gesetzgebungen, 88 | Vgl. hierzu die Webseite und zahlreichen performativen Dispositive der 2005 gegründeten offenen internationalen Plattform: Everybodys, Webseite, http://everybody stoolbox.net/ vom 9.7.2013; sowie die Veröffentlichungen von Chauchat, Alice/Ingvartsen, Mette (Hg.): Everybodys Self Interviews (Everybodys Publications), lulu: books on demand 2008; dies. (Hg.): Everybodys Group Self Interviews (Everybodys Publications), lulu: books on demand 2009; dies. (Hg.): Everybodys Performance Scores (Everybodys Publications), in Zusammenarbeit mit Zoë Poluch, Kim Hiorthøy, Nadja Hjorton und Stina Nyberg, lulu: books on demand 2010; und Ingvartsen, Mette (Hg.): 6 months 1 location (6M1L) (Everybodys Publications), lulu: books on demand 2009. 89 | Vgl. hier etwa das von Marlon Barrios Solana gegründete Videoportal und digitale Netzwerk http://www.dance-tech.net vom 20.3.2013; sowie das Projekt PERFmts (Performance More Than Special) von Jan Ritsema und Valentina Desideri http://www. perfmts.net/about.asp vom 28.4.2013; vgl. S. 147. 90 | Eine sehr positive Ausnahme war hier die Publikationsförderung des Tanzplans Deutschland, die jedoch mittlerweile nicht mehr existiert; wobei hier angemerkt sei, dass selbst in ihrer kurzen Dauer auch diese Förderung institutionalisiert wurde, was die Zugänglichkeit zur Förderung von den ursprünglich anvisierten Autorinnen und Autoren hin zu den Verlagen verschob.
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kulturellen Besonderheiten, kulturpolitischen Institutionen, Kurator/-innen sowie Koproduzent/-innen, Förderprogrammen, Spielorten, Wissenschaft, Presse und medialer Dokumentation, Aus- und Weiterbildung, autodidaktischem Lernen und nicht zuletzt der jeweiligen juridischen Handlungsbasis von Künstler/-innen (zum Beispiel als Unternehmen, freiberuflich oder mit arbeitnehmerähnlichen Charakteristika). Diese prekäre Situation von Künstlerinnen und Künstlern ist nicht nur seit Jahren bekannt, sondern hat sich, wenn man beispielsweise die Einkommensentwicklung in Deutschland von den siebziger Jahren bis heute evaluiert – trotz aller Bemühungen – sogar katastrophal verschlechtert. Wolfgang Schneider, Professor für Kulturpolitik in Hildesheim, bringt diese Situation als (menschen-)rechtsverachtende auf den Punkt: »Die Einkommensverhältnisse haben sich dramatisch verschlechtert und das, obwohl die öffentliche Förderung um ein Vielfaches gestiegen ist. Wo versickern denn die mehr als zweieinhalb Milliarden Euro, die sich Steuerzahler in Deutschland alljährlich leisten, um das ›Weltkulturerbe‹ Theaterlandschaft zu pflegen? Warum leisten wir uns ein solch unsoziales System? Ein System, das durch Selbstausbeutung geprägt ist, das die Lebenskunst predigt, aber die Lebensverhältnisse unwürdig sein lässt, dass die kreativen Potentiale unserer Gesellschaft bei jeder Sonntagsrede beschmust, aber im Alltagshandeln die (Menschen-)Rechte der Künstler mit Füßen tritt?« 91
Allen konstitutionellen Verankerungen zum Trotz ist auch die profunde Ungleichheit der Geschlechter im Bereich des Tanzes und der Kunst insbesondere in Deutschland seit Jahren gesellschaftliche Realität, sowohl in Einkommenslage als auch in der Partizipation an führenden Positionen.92
91 | Schneider, Wolfgang: »Es geht um die Zukunft unserer Theaterlandschaft. Eine kulturpolitische Polemik aus gegebenem Anlass«, in: Fonds Darstellende Künste/Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), Report Darstellende Künste (2010), S. 21-25, hier S. 21f. 92 | Für den Bereich der Geschlechterdiskriminierung in der Kunst in Deutschland, vgl. unter anderem Knöfel, Ulrike: »Geschlechtertrennung«, in: Der Spiegel vom 18.3.2013, S. 138ff., hier S. 140: »90 Prozent der Werke, die von deutschen Museen angekauft werden, sind von Männern produziert worden, 10 Prozent von Frauen – so schätzt es Anne-Marie Bonnet, eine in Bonn lehrende Professorin für Kunstgeschichte. Bonnet ist Französin, sie sagt, Deutschlands Kunstszene stecke in der Geschlechterfrage in den fünfziger Jahren. Immer noch seien die meisten Direktorenposten von Männern besetzt.« Vgl. auch Europäisches Netzwerk von Rechtsexpertinnen und Rechtsexperten auf dem Gebiet der Gleichstellung von Frauen und Männern (Hg.): Europäische Zeitschrift für Geschlechtergleichstellungsrecht 1 (2010); sowie Angerer, Marie-Luise/Hardt, Yvonne/Weber, AnnaCarolin: Choreographie – Medien – Gender, Berlin/Zürich: diaphanes 2013.
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Man kann hier prägnant werden: Die Aktenlage ist eindeutig, allein es passiert nichts, und das seit Jahren. Angesichts dieser desaströsen sozioökonomischen Bestandsaufnahme und des realen Scheiterns von adäquaten Schutzmaßnahmen für Kunst und Kultur, welche die gesellschaftliche Situation von Künstlerinnen und Künstlern real, strukturell und nachhaltig verbessern und ihre Entwicklung fördern würden, stellt sich die prinzipielle Frage nicht nur nach dem Umsetzungvermögen und -willen der Politik, sondern damit verbunden auch nach der dringenden Notwendigkeit der Überprüfung von Kompetenzen, Zuständigkeiten sowie von Handlungs- und Verwaltungsstrukturen. Dies scheint umso mehr dann angebracht, wenn selbst die gesetzlich ratifizierten Maßnahmen, zum Beispiel hinsichtlich der Künstlersozialkasse (KSK) in Deutschland oder auch hinsichtlich der Schutzbedürftigkeit künstlerischer Produkte im geplanten Freihandelsabkommens mit den USA, in ihrer konkreten Durchführung de facto immer wieder in Frage gestellt werden. Derzeit geschieht dies zum Beispiel im Falle der KSK, bei der die Verpflichtung der Deutschen Rentenversicherung zur regelmäßigen Überprüfung abgabepflichtiger Unternehmen schlichtweg nicht ausgeführt wird.93 Weitreichende Konsequenzen sind jedoch auch von dem derzeit in der fünften Runde geheim tagenden transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zwischen Europa und den USA zu befürchten, das die Schutzbedürftigkeit künstlerischer Produkte aufzuheben und Kunst zur Ware zu erklären droht. (Dabei scheinen aktuell unter anderem die Subventionspolitik der Kultur und die Buchpreisbindung zur Disposition zu stehen). Wenn es dabei bleiben sollte, dass die gewählten nationalen parlamentarischen Gremien in einem reinen Freihandelsabkommen nicht in die Diskussion einbezogen werden und wenn Unternehmen in Zukunft staatliche Entscheidungen bezüglich ihrer eigenen Bilanzierung einklagen können, so werden, laut dem Deutschen Kulturrat, die »Grundfesten der Demokratie« infrage gestellt.94 93 | In einem Artikel zur aktuellen Diskussion, kommentiert Klaus Staeck, wiedergewählter Präsident der Akademie der Künste in Berlin, dies folgendermaßen: »Das stürzt die KSK in eine Schieflage und ist ein Signal an alle, die sich ihrer Abgabepflicht entziehen wollen. Wer trotz gesetzeswidrigen Verhaltens keine Sanktionen mehr befürchten muss, klinkt sich umso leichter aus der Solidargemeinschaft aus.« Staeck, Klaus: »Neue Kämpfe um kulturelle Vielfalt«, in: Berliner Zeitung vom 20.6.2013, S. 5. 94 | Deutscher Kulturrat (Hg.): Olaf Zimmermann und Gabriele Schulz: »Keine Liberalisierung um jeden Preis TTIP – Ausnahme für den Kultursektor notwendig«. Hintergrundbericht des Deutschen Kulturrates vom 20.5.2014, http://kulturrat.de/pdf/2840.pdf vom 21.5.2014. Vgl. ebenfalls die kontinuierliche und gut recherchierte Berichterstattung von Deutschlandradio Kultur, zum Beispiel in der Sendung: Deutschlandradio Kultur (Hg.):
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Was aber soll man von einem Rechtsstaat halten, wenn bestimmte Gesetze fraglos durchgesetzt werden, andere aber nicht? Wie kann es sein, dass Künstler/-innen in eine Arbeitslosenversicherung einzahlen und trotzdem keinen Anspruch auf Leistungen haben?95 Wie kann es sein, dass berufliche Entwicklung und Existenzweisen im freischaffenden Feld des Tanzes, der Choreografie und der Performance in Europa so wesentlich von den kurzfristigen Legislaturperioden nationaler Politiken abhängen? Und wie kann es dazu kommen, dass die Entwicklung der Zukunft von Kunst und Kultur im TTIP von Unternehmen anstatt von demokratischen Verfahren bestimmt wird? In der bereits erwähnten Konferenz Dance, Politics and Co-Immunity resümiert Randy Martin, Professor of Art and Public Policy und assoziierter Dekan der New York Tisch School of the Arts, das aktuelle Verhältnis zwischen Tanz und Politik wie folgt: »Politics today suffers a crisis of evaluation.«96 Woran aber liegt es, dass die Politik ihrer Verantwortung und ihrem Mandat in Hinsicht auf die Kunst und Kultur nicht angemessen nachkommt? Keineswegs sollen hier legitime demokratische Auseinandersetzungen kritisiert werden und dass diese sich selten als Ultima Ratio einer Umsetzungseffizienz herausstellen, sei dahingestellt. Wenn aber die Demokratie hier immer wieder als Grund bemüht wird, um die Nichtumsetzung von bestehenden Gesetzen oder bindenden Konventionen zu rechtfertigen, dann muss die Frage der Signataires du 20 août nach einer Evaluation der institutionellen Funktionsweisen inklusive aller intermediären Instanzen dringend erneut aufgegriffen werden: »Autrement dit, si ce n’est pas la création en danse contemporaine qui se porte mal mais plutôt ses modes de fonctionnements, institutionnalisés depuis le début des années
»Freihandelsabkommen: Kultur als Ware? Was die TTIP Verhandlungen für die kulturelle Vielfalt bedeuten« vom 19.5.2014, http://www.deutschlandradiokultur.de/freihandelsabkommen-kultur-als-ware.1895.de.html?dram:article_id=285820 vom 21.5.2014. 95 | Vgl. Zimmermann, O.: »Arbeitsmarkt Kultur«, S. 13; und die Stellungnahmen des Deutschen Kulturrats: Deutscher Kulturrat (Hg.): »Resolution: Rahmenfrist zum Bezug für Arbeitslosengeld I den Anforderungen des Kulturbereichs anpassen« vom 31.05.2006; sowie ders.: »Resolution: Der Deutsche Kulturrat fordert die Bundesregierung zu einer schnellen Änderung der entsprechenden Regelungen des § 123 SGB III (Arbeitslosengeld I) auf« vom 21.12.2011. 96 | Martin, Randy: »Mobilizing Dance: Toward a Social Logic of the Derivative«, in: Apostolou-Hölscher, S./Siegmund, G. (Hg.), Communications: Dance, Politics and CoImmunity (2013), S. 209-225, hier S. 209.
Für eine Topologie der Praktiken quatre-vingt, quels actes pourraient combler l’écart qui se creuse entre la logique des structures institutionnelles et les dynamiques artistiques?« 97
Momentan lassen sich an dieser Stelle nur Vermutungen anstellen und es muss offen bleiben, inwiefern hier eventuell ein Zusammenhang besteht mit jener ›Starre‹ des Arbeitsmarktes Kultur, die der Deutsche Kulturrat insbesondere für öffentliche Kultureinrichtungen konstatiert und die das an Künstler/ -innen herangetragene Profil der Dauerflexibilität scharf kontrastiert.98 In diesem Sinne kritisieren auch Therese Kaufmann und Gerald Raunig vom European Institute for Progressive Cultural Policies die rückschrittliche Tendenz europäischer Kulturpolitiken zur »Institutionalisierung« bzw. zur überwiegend vorherrschenden Unterstützung von Institutionen (versus freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern) und stellen dieser Tendenz den eigenen Versuch entgegen, europäische Kulturpolitiken mit Perspektive zu entwickeln: 97 | Les Signataires du 20 août: »Lettre ouverte«, S. 2: »Anders gesagt, wenn es nicht den Schaffensprozessen des zeitgenössischen Tanzes schlecht geht, sondern eher den seit Anfang der achtziger Jahren institutionalisierten Funktionsweisen des Tanzes, welche Handlungen müssten dann vollzogen werden, um die Kluft zwischen der Logik institutioneller Strukturen und den künstlerischer Dynamiken zu schließen?« (Übers. P.S.) 98 | Schulz, Gabriele/Zimmermann, Olaf: »Arbeitsmarkt Kultur. Hoffnungsträger oder Abstellgleis – Bewertung und Schlussfolgerungen«, in: Schulz, G./Zimmermann, O./Hufnagel R., Arbeitsmarkt Kultur (2013), S. 325-335, hier S. 330: »Der Arbeitsmarkt Kultur ist teilweise starr – das gemeinsame Altern von Belegschaften ist die Folge: In einigen Teilbereichen des Arbeitsmarktes Kultur entwickelt sich der Anteil der jüngeren und der älteren Mitarbeiter auseinander. Es steigt der Anteil der Mitarbeiter über 50 Jahren an der Gesamtzahl der Mitarbeiter. Der Anteil der Mitarbeiter in jüngeren Alterskohorten sinkt entsprechend. Hier liegt die Vermutung nahe, dass nur wenige Neueinstellungen in den letzten Jahren vorgenommen wurden. Im Ergebnis altern Belegschaften gemeinsam. Neben der Erstarrung des Arbeitsmarktes in diesen Feldern folgt daraus, dass ein Know-how-Transfer von älteren und erfahrenen Kollegen an die nachwachsende Generation von Entscheidungsträgern kaum möglich ist. Zugleich fehlt der sprichwörtliche ›frische Wind‹ in den Institutionen, den junge Mitarbeiter mitbringen. Auf Dauer geht diese Entwicklung zu Lasten der Zukunftsfähigkeit. Diese Entwicklung ist insbesondere im öffentlichen Kultursektor zu beobachten. Stellenabbau und die Nichtwiederbesetzung von Stellen, wenn Mitarbeiter ausscheiden, machen sich nunmehr bemerkbar. Da im nächsten Jahrzehnt viele Mitarbeiter das Rentenalter erreichen werden und dann ausscheiden, steht die Nagelprobe an, wie dieser Generationenwechsel von den Institutionen bewältigt werden wird. In diesem Zusammenhang muss sich auch erweisen, ob genügend ausgebildete Fachkräfte sozusagen in der ›zweiten Reihe‹ stehen, die geeignet und willens sind, eine Führungsposition zu übernehmen. Es könnte sein, dass sich im Arbeitsmarkt Kultur trotz eines regen Zustroms an Studierenden zumindest in einigen Regionen ein Fachkräftemangel ergeben könnte.«
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Die vorliegende Studie möchte Konsequenzen aus diesem Umsetzungsdebakel ziehen, indem sie sich nicht weiter um die Erfrischung der Evidenzen von bekannten Fakten bemüht. Sie will sich nicht darin erschöpfen, der Politik die Korrekturfahnen hinterherzutragen, um noch im Beanstanden und Ausmessen der Defizite eine Aufgabe der Politik zu übernehmen und selbst darin ungehört zu bleiben. Stattdessen möchte sie sich mit künstlerischen Praktiken im Bereich des Tanzes und der Choreografie befassen, die sich trotz dieser eklatanten Situation für eine inhaltliche Weiterentwicklung des Feldes eingesetzt haben. Dabei sollen strukturelle und ästhetische Veränderungen beobachtet, Zusammenhänge und Netzwerke dargestellt und die für ein sinnhaftes Handeln konstitutiven relationalen Parameter im Berufsfeld Tanz und Choreografie besser erforscht werden. Damit möchte die vorliegende Arbeit diskursiv den Weg bahnen für eine an den künstlerischen Bedürfnissen ausgerichtete, konstruktive Entwicklung der Profession, die ihr Berufsfeld partizipativ mitgestalten kann. Auf diesem Weg wird auch versucht, gegenwärtige konkrete Probleme in bestimmten Wirkzusammenhängen der Künstler/-innen mit in den Blick zu bekommen und als Herausforderung zu erkennen.100 Bevor dieser Forschungshorizont genauer ausbuchstabiert wird, sollen mit Blick auf das vorhandene Material zunächst Erklärungshintergründe zur Auswahl des präzisen Feldes und zu den Grenzziehungen dieser Studie dargestellt werden.
99 | Kaufmann, Therese/Raunig, Gerald: Anticipating European Cultural Policies, Europäische Kulturpolitiken vorausdenken, hg. vom European Institute for Progressive Cultural Policies, mit einem Kommentar von Stefan Nowotny, Wien: eipcp 2003, S. 75. Zum Europäischen Institut für progressive Kulturpolitik vgl. European Institute for Progressive Cultural Policies, Webseite, http://eipcp.net vom 13.8.2013. 100 | Zum konkreten Vorgehen dieser Studie, vgl. Kapitel 1.4 Zur Methode dieser Studie«, S. 101f.
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Wenn eingangs dieses Kapitels die Spannungsverhältnisse benannt wurden, innerhalb derer sich Künstler/-innen bewegen, so fallen dabei umgehend die komplexe Vielfalt und die unterschiedlichen Qualitäten und Formen der Bezüge ins Auge. Diese Komplexität der Beziehungsgefüge, innerhalb derer Tanz stattfindet, wird in ihrer realen Konkretion und in ihren konkreten, qualitativen Veränderungen für die Beteiligten, und das sei an dieser Stelle ausdrücklich unterstrichen, keineswegs ausreichend mit sozioökonomischen Eckdaten und deren arbeits- oder wirtschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen erfasst. Wenngleich die Erhebung sozioökonomischer Daten notwendig ist, kann sie lediglich ein Bestandteil einer Analyse der gegenwärtigen Arbeitssituation sein. Ebenso ist die Skizzierung der Rahmenbedingungen unerlässlich, aber auch Rahmenbedingungen sind nicht mit Produktionsbedingungen zu verwechseln und Letztere sind nicht deckungsgleich mit der Arbeitsrealität, geschweige denn mit der Weiterentwicklung der Profession. Wenn es nun also eine sicherlich ergänzungsbedürftige, aber immerhin in Ansätzen vorhandene Datenlage zur sozialen und wirtschaftichen Situation des kulturellen Sektors gibt, was ist es dann, was neben den zahlreichen ästhetischen Analysen von Performances so dringlich fehlt? Ein kurzer und schematischer Blick auf das methodische Vorgehen zur ›statischen‹ Erhebung vieler sozioökonomischer Analysen soll das veranschaulichen: Bei einer punktuellen Erhebung von Daten zu mindestens zwei unterschiedlichen Zeitpunkten werden der dazwischenliegende Zeitraum und die meisten darin statthabenden vielfältigen Beziehungen zwischen einzelnen Parametern ausgeblendet, um so den Bezug zwischen den beiden Zeitpunkten umso deutlicher zu fokussieren. In diesem Sinne werden in einer solchen ›statischen‹ Aufnahme von Daten qualitative Beziehungen zwischen Parametern, das Entstehen von Beziehungen sowie die Praktiken, die zur Herstellung dieser Beziehungen und Parameter führen, unzureichend berücksichtigt.101 In 101 | Eine ausführliche Kritik dieser Methodik der Augenblicksentnahme und ihrer philosophischen Hintergründe, zum Beispiel in Deleuze und Guattaris Philosophie und in Bergsons Begriff der Dauer (einer Kritik der méthode cinématographique), habe ich in meiner Dissertation anhand der ›statischen‹ Analyse von Bewegung diskutiert, vgl. Sabisch, Petra: Choreographing Relations: Practical Philosophy and Contemporary Choreography in the Works of Antonia Baehr, Gilles Deleuze, Juan Domínguez, Félix Guattari, Xavier Le Roy and Eszter Salamon, München: epodium 2011, u. a.S. 184. Die Kritik richtet sich darauf, dass qualitative Veränderungen so nicht angemessen erfasst werden. Brian Massumi hat diese Substraktion qualitativer Veränderungen als logische Folge einer positionalen Analyse ebenfalls kritisiert, und zwar im Kontext der Darstellung von körperlicher Bewegung: »The very notion of movement as qualitative transformation is lacking.
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der Methodik der Augenblicksentnahme findet so eine Fokussierung der Beziehungsvielfalt statt, das ist eine Reduzierung auf Suchdaten. Das heißt, das neu auftretende Sachverhalte mit den gegebenen und regelmäßig abgefragten Suchdaten (wie etwa Personenstand, Einkommen, Arbeitssituation etc.) kaum angemessen erfasst werden können. Insofern bedürfte es, wenn es um die adäquate qualitative Untersuchung der empirischen Wirklichkeit von Künstlerinnen und Künstlern geht, – parallel zu dem regelmäßigen Monitoring von ausgewählten Suchkategorien – einer ebenso regelmäßigen, kontinuierlichen Erforschung neuer Aspekte und Parameter, die sich am Bedarf der künstlerischen Produktion ausrichtet. Eine reine Verstetigung der Suchkategorien führt ansonsten zu Verzerrungen in der Darstellung der sozioökonomischen Situation sowie in der Ausrichtung der Forschung selbst. Ein Beispiel für eine solche Verzerrung durch die Übernahme von Suchkategorien sei hier am Stichwort der Mobilität skizziert: In den letzten Jahren wurde in zahlreichen Studien versucht, die internationale Mobilität, auch und gerade im Performing-Arts-Sektor zu erkunden, Hindernisse und Probleme zu benennen und so diese Mobilität zu fördern.102 Dieses äußerst verdienstvolle Unterfangen transformierte sich jedoch zur oftmals unhinterfragten Gleichsetzung von Mobilität mit einem positiven Wert an sich, der sich heutzutage zum Teil gegen diejenigen Akteurinnen und Akteure verkehrt, die oftmals Pioniere internationaler Berufsmobilität und eines gelebten Europas waren. Die Verkehrung findet genau dort statt, wo die Kunstschaffenden diese Entwicklung nicht mehr mitbestimmen und mitgestalten können und Mobilität so gewissermaßen zum Zwang wird: Fast jedes geförderte Projekt dürfte mittlerweile an Reisen gebunden sein, ob durch Koproduktion oder Residenzen; und was vorher Mittel zur künstlerischen Erkundung und Kooperation waren, ist heute zu einer unumgehbaren Bedingung des Metiers geworden. Dieses ultramobile Workforce-Dasein wirkt sich selbstredend wiederum auf die soziale, wirtschaftliche und politische Situation der Künstler/-innen aus.
There is ›displacement‹, but no transformation; it is as if the body simply leaps from one definition to the next. Since the positional model’s definitional framework is punctual, it simply can’t attribute a reality to the interval, whose crossing is a continuity (or nothing).« Massumi, Brian: Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation, Durham/London: Duke University Press 2002, S. 3f. 102 | Vgl. die Studie von Polacek, Richard: Study on Impediments to Mobility in the EU Live Performance Sector and on Possible Solutions, hg. von PEARLE (Performing Arts Employers Association League Europe), Brüssel: Finnish Theatre Information Centre Mobile Home 2007; sowie von Theatre Info Finland: Mobility Infopoint: Mapping in Finland, Helsinki 2011.
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Allein die Evaluierung der Sicht der Betroffenen könnte hier verhindern, dass zukünftige Studien nicht nur danach fragen, inwiefern Mobilität ermöglicht wird, sondern auch danach, inwiefern ein Arbeiten am Wahl- bzw. Domizilort überhaupt noch möglich ist. Diese Situation nimmt zum Teil bizarre Auswüchse an, so etwa, wenn es viel günstiger und zeitsparender wäre, am eigenen Aufenthaltsort zu proben. Hier sind entsprechend geeignete Instrumente gefragt, die erlauben, ein Prinzip der Verhältnismäßigkeit einzuführen und die beruflich forcierte Migration sowohl wissenschaftlich in den Blick zu bekommen als auch sozial, arbeitsrechtlich, und wirtschaftlich für die Betroffenen zu adjustieren und mitgestaltbar zu machen. Neben dieser Veranschaulichung zur Reduzierung komplexer Beziehungsverhältnisse auf Einzelaufnahmen und das Beispiel zur Verstetigung von Suchkategorien zeigt sich die immanente Begrenztheit der ›statischen‹ Methode, welche die Grundlage für viele empirische Erhebungen und statistischen Verfahren bildet und sich auch in der bestehenden Datenlage zur sozioökonomischen Lage der Künstler/-innen widerspiegelt. Gemeint ist damit keineswegs eine pauschale Methodenschelte, sondern die schlichte Tatsache, dass jede Methode ihre eigene Perspektivik birgt und damit auch spezifische Grenzen transportiert.103 Anders ausgedrückt, liegt das Verdienst der ›statischen‹ Methode darin, messbare und quantifizierbare Parameter wie etwa das Einkommen in ihrer Entwicklung darstellbar zu machen. Vor diesem methodologischen Hintergrund ist zu konstatieren, dass die Erfassung der Beziehungsgefüge in den vorhandenen Daten zum professionellen Feld des Tanzes, der Choreografie und der Performance gerade die korelationalen Verbindungslinien und die qualitativen Veränderungen komplexer Beziehungen nur unzureichend widerspiegelt und darüber hinaus, methodenimmanent, auch keine unbekannten Datenfelder erschließen hilft. Ganz konkret fällt in der qualitativen Betrachtung der Forschung auf, dass die vorhandenen Daten, auch bei Korelationierung einzelner Datensätze, kaum Aufschluss über Abhängigkeitsverhältnisse, Wirkungsbezüge oder Kräfteverhältnisse geben, geschweige denn über Entscheidungsprozesse und Organisationsstrukturen. Wenngleich dies sicher nicht allein auf die ›statische‹ Methode zurückgeführt werden kann, bleibt hier jedoch zu bedenken, dass die Gewährleistung der Freiheit des Ausdrucks immer auch auch die Freiheit der Organisation dieses Ausdrucks einschließen muss. Gerade in Organisationsund Entscheidungsprozessen nämlich, so stellte Félix Guattari schon vor dem
103 | Vgl. auch Kapitel 1.3 Warum Praktiken? Zur Methode.
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derzeitigen Aufschwung der Organisationstheorien fest, zeigen sich die wirklichen Probleme.104 Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Auslassung, gerade auch hinsichtlich der bereits attestierten sozioökonomischen Missstände und (kultur-)politischen Umsetzungsschwierigkeiten, frappierend und mindestens erklärungsbedürftig; aus der Perspektive einer demokratischen Gesellschaft wirft dies weitreichendere Fragen auf. An erster Stelle steht dabei die Frage, wie es eigentlich um die Demokratie im professionellen Bereich des Tanzes bestellt ist. An diese zentrale Frage anschließend, ruft es folgende Fragestellungen auf den Plan: Welche Partizipationsmöglichkeiten gibt es für professionelle Tänzer/-innen, um bestehende Entscheidungsprozesse konstruktiv mitzugestalten? Welche Responsitivität gibt es zwischen den Freiberuflern und institutionellen Praktiken? Welche Interdependenzen, welche Hierarchien gibt es in dem Feld? Wie sind diese organisiert? An welche Kompetenzen sind sie geknüpft? An welche Transparenz? Welche Formen von Kritik sind möglich? Wie sieht die Autonomie des Tanzes eigentlich de facto aus? Welche Ansprechpartner/-innen gibt es für inhaltliche und auch strukturelle Anregungen? In einem im Rahmen dieser Studie durchgeführten Kolloquium in Hamburg hat sich Amelie Deuflhard, die Intendantin von Kampnagel Hamburg und vordem Leiterin der Sophiensäle in Berlin, eindeutig zur Frage nach strukturellen 104 | Vgl. Guattari, Félix: »On Capitalism and Desire«, in: Deleuze, Gilles: Desert Islands and Other Texts, 1953-1974, hg. von David Lapoujade, übers. von Michael Taormina, New York/Los Angeles: Semiotext(e) 2004, S. 262-273, hier S. 264: »The same goes for traditional political structures. It‹s always the same old trick: a big ideological debate in the general assembly, and the questions of organization are reserved for special committees. These look secondary, having been determined by political options. Whereas, in fact, the real problems are precisely the problems of organization, never made explicit or rationalized, but recast after the fact in ideological terms. The real divisions emerge in organization: a particular way of treating desire and power, investments, group-Oedipuses, group-super-egos, phenomena of perversion....«. Zur institutionellen Analyse und Kritik im Frankreich der siebziger Jahre vgl. ebenso Guattari, Félix: L’intervention institutionnelle, Paris: Payot 1980; sowie ders.: Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Für einen Überblick über die Geschichte der Institutionellen Analyse, vgl. Malo de Molina, Marta: »Gemeinbegriffe, Teil 2: Von der institutionellen Analyse zu gegenwärtigen Erfahrungen zwischen Untersuchung und Militanz«, übers. von Birgit Mennel, veröffentlicht auf der Webseite des Europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik: http://eipcp.net/transversal/0707/malo/de vom 3.2.2011; sowie Nowotny, Stefan/Raunig, Gerald: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien: Turia & Kant 2008.
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Veränderungen im Feld positioniert, in dem sie eine ausgeprägte Hierarchisierung im Vergleich zu den neunziger Jahren feststellte, die sie neben der zunehmenden inhaltlichen Einflussnahme von kuratorischen Konzepten und Formaten unter anderem an der Abhängigkeit antragstellender Künstler/-innen vom Spielstättennachweis verdeutlichte.105 Während sich zuvor die Theater um die Einzelprojekte bemühen mussten, sind es heute die Theater, die damit nicht nur über die Auswahl der Projekte für ihre Spielzeit entscheiden, sondern auch über die generelle Vergabe der Produktionsmittel verfügen. Inwieweit diese Abhängigkeiten fortgeschritten sind, thematisiert der schwedische Choreograf und Tänzer Mårten Spångberg in seinem zunächst als Blog, dann als Buch erschienenen Spangbergianism unter anderem, wenn er das Verhältnis zwischen Künstler/-innen und Veranstalter/-innen beschreibt: »A dance programmer comes up to me and asks: ›So what do you think about the program?‹ ›What can I say? We know that under the regime we live today, it is unthinkable to object. The first rule of the contemporary artist: Don’t ever dispute, never get angry, avoid conflict at any price. If I’m in the program, it is obviously perfect and if I’m not, any objection will be understood as narrow-minded or greedy. Metaphorically my answer is always: – ›I’m available‹ – ›Whatever you propose, I’m in‹.«106
Weiter beschreibt Spångberg, dass das Argument des restriktiven Budgets, mit dem Veranstalter/-innen im Bereich Tanz zumeist Kritik am aufgestellten Programm auf die Umstände abwenden, für Künstler/-innen gleichermaßen nicht gilt. »No way, the artistic act is supposed to exist independently of budgets and if there are any cuts or missing funding, the artist is supposed to come up with some brilliant idea; change the format, fire the producer, save money on costumes […] hire faster dancers, anything – anything – […]. But who would expect a programmer to have a brilliant or even acceptable idea; to sack the assistant, change the format, skip the big companies, change the marketing strategy, or why not, double as a ticket girl, work in the bar, or… Hey give up a part of his salary? Programmers are victims of external circumstances, whereas artists only have themselves to blame.«107
Neben den einseitigen Abhängigkeiten der Tanzschaffenden von Spielorten, Theaterintendanzen und dem Verleih von Spielstättenanträgen in Deutschland wäre an dieser Stelle aber auch die Akademisierung der Kunst genauer
105 | Das Kolloqium fand am 27.1.2012 in Hamburg, Kampnagel, statt. 106 | Spångberg, Mårten: Spangbergianism, Gargzdai (Litauen): Print-It 2011, S. 21. 107 | Ebd., S. 22f.
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zu evaluieren, die Didier Lesage infolge der Bologna-Erklärung von 1999 als »Verpflichtung, akademisch zu werden«, beschreibt: »Arts academies were being requested neither to engage in critical self-analysis nor to recall the highlights of their histories. The academies were instead required to listen to their big other, the universities, who in some countries and regions in Europe proposed to tell academies how to become academic. Universities which had no experience of teaching practice-based arts in the many decades or even centuries of their venerable existence supposed that they could assess whether art academies had reached an acceptable academic level in teaching art. Though the universities stressed that the evaluation of teaching and research can only qualify as academic if it is undertaken by peers, they failed to see that university academics without any experience of practicebased arts education or artistic research could not properly be considered as ›peers‹ of academies on their own terms. The universities, though unqualified as peers, were not about to disqualify themselves as the proper institutions to evaluate the academization of academies. Indeed, universities were very happy to be able to evaluate academies, and to play a decisive role in the procedural machine which in time would accredit programmes at academies as being academic. In some countries, universities also took it upon themselves to deliver the newly created doctoral degree in the arts.«108
Auch die Bedingungen und Ergebnisse zur inhaltlichen Weiterentwicklung der performing arts wären hier zu untersuchen, insbesondere auch infolge der Umsetzung des Bologna-Prozesses. Laut Marijke Hoogenboom von der Amsterdam School of the Arts ist dabei ein deutlicher Rückschlag für zeitgenössische inhaltliche Entwicklungen zu konstatieren, der statt Anreizen zur Förderung eher zur Verdrängung innovativer Kunstformen führe: »Beyond Bologna, these research groups have been a response to a worrying development at art schools and universities of applied sciences, which are increasingly defining themselves according to the current labour market and dedicating too much of their application-oriented teaching to concrete vocational training. In theatre, for example, this means that courses in stage direction, acting, dance or dramaturgy become stuck in traditional occupational images, barely contributing to contemporary developments, let alone provoking innovative art forms.«109
108 | Lesage, Didier: »PaR in Continental Europe: A Site of Many Contests«, in: Nelson, Robin (Hg.): Practice as Research in The Arts. Principles, Protocols, Pedagogies, Resistances, New York/Hampshire: Palgrave Macmillan 2013, S. 142-151, hier S. 142f. 109 | Hoogenboom, Marijke: »If artistic research is the answer, what is the question?«, in: Cairon – Revista de Estudios de Danza/Journal of Dance Studies 13 (2010) (Sonderheft »Practice as Research«, hg. von Victoria Pérez Royo und José Antonio Sánchez vom
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Anhand dieser grundlegenden, wissenschaftlich bislang unerforschten inhaltlichen Umstrukturierungen des Berufsfeldes Tanz- und Performancekunst und der sich darin ausdrückenden Dependenzen wird deutlich, dass es hier einer umfassenderen Evaluation bedürfte, die nicht allein die Marktfähigkeit und Wertschöpfungsketten eines ›kreativen‹ Europas untersucht, sondern auch die Organisations- und Entscheidungsstrukturen inklusive ihrer (Inter-) Dependenzen, Durchlässigkeiten und Partizipationsformen.110 Bislang liegt meines Wissens keine einzige Studie in dieser Richtung für den Bereich Tanz vor. In einem beim österreichischen Kulturrat veröffentlichten Artikel unterstreicht Therese Kaufmann in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Frage nach Demokratie und Mitbestimmung: »Die zentrale – kaum gestellte – Frage in diesem Kontext ist jene nach dem Verhältnis von Kultur und Demokratie bzw. konkreter, von Kulturpolitik und Demokratiepolitik in der EU. Welche Rolle kommt dem kulturellen Feld im Demokratisierungsprozess Europas zu? Wie können Strategien entwickelt werden gegen die aktuelle Tendenz, Kulturpolitiken ausschließlich zum Austragungsort neoliberaler Gouvernementalität zu machen, in dem so hippe Begriffe wie ›interkulturelle Kompetenz‹ nichts anderes als BusinessTools auf dem internationalen Markt oder zeitgenössische Kontroll- und Regulierungsmechanismen bezeichnen? Was kann unternommen werden gegen die Reduzierung des kulturellen Sektors auf ein Experimentierfeld für die ›kreative Wettbewerbsfähigkeit‹ postindustrieller Arbeitskräfte, in dem KünstlerInnen als Modelle für das flexible, selbstverantwortliche, unabhängige, projektorientierte und zukunftsweisende Subjekt der New Economy dienen sollen?«111
In einem Interview zu seinem Buch Moments politiques kritisiert Jacques Rancière die Transformation der repräsentativen Institutionen zu willfährigen Agenten der Logik des freien Marktes, was laut Rancière eine doppelte Option hinsichtlich der Demokratie eröffne: Entweder man erklärt die Demokratie zu einer gescheiterten Illusion oder aber sie muss mit einer anderen Teilhabe an Entscheidungsprozessen aufs Neue ausgeübt werden: »In Europe we have got used to identifying democracy with the double system of representative institutions and those of the free market. Today this idyll is a thing of the past: the free market can be seen increasingly as a force of constriction that transforms Institut del Teatre de la Diputación de Barcelona y del CENAH de la Universidad de Alcalá), S. 115-124, hier S. 117. 110 | Zur Kritik des Kreativitätsdiskurses vgl. S. 67. 111 | Kaufmann, Therese: »Strategien der (Selbst-)Ermächtigung«, 12.9.2006, http:// kulturrat.at/debatte/zeitung/politik/kaufmann vom 10.8.2013.
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Petra Sabisch representative institutions into simple agents of its will and reduces the freedom of choice of citizens to variations of the same fundamental logic. In this situation, either we denounce the very idea of democracy as an illusion, or we rethink completely what democracy, in the strong sense of the word, means. Democracy is not, to begin with, a form of State. It is, in the first place, the reality of the power of the people that can never coincide with the form of a State. There will always be tension between democracy as the exercise of a shared power of thinking and acting, and the State, whose very principle is to appropriate this power. Obviously states justify this appropriation by citing the complexity of the problems, the need to the long term, etc. But in truth, politicians are a lot more subjected to the present. To recover the values of democracy is, in first place, to reaffirm the existence of a capacity to judge and decide, which is that of everyone, against this monopolisation. It is also to reaffirm the necessity that this capacity be exercised through its own institutions, different from those of the State. The first democratic virtue is the virtue of confidence in the capacity of anyone.«112
Eine solche Gesamtevaluation des Feldes sei hier als Forschungsdefizit und dringender Forschungsbedarf markiert. Sie bedürfte einer umfassenden und konsequenten empirischen Erforschung der europäischen Gegebenheiten und Praktiken sowie sicherlich mehrerer fokussierter Untersuchungen zu den realen Interdependenzen, den uni- und multilateralen Bezügen und den Mitbestimmungsmöglichkeiten, aber auch den Möglichkeiten von künstlerisch autonomer Innovationsgestaltung im Bereich der Tanz- und Performancekunst. Vor diesem Hintergrund kann es in der vorliegenden Studie nur um eine erste Annäherung an dieses Desiderat gehen, die das vielfältige und dynamische Zusammenspiel der Interaktionen in ihrer Komplexität anders als rein ›statisch‹ charakterisiert und das sozioökonomische Suchfeld um Fragen der Kunst und der Kunstwahrnehmung, um künstlerische Arbeitsweisen und Dispositive, um Ästhetiken und Wirkbezüge erweitert.113
112 | Vgl. das Interview von Paula Corrotto mit Jacques Rancière anlässlich der Veröffentlichung seines Buches (Rancière, Jacques: Moments politiques. Interventions 19772009, Paris: Editions La Fabrique 2009): Rancière, Jacques/Corrotto, Paula: »Entrevista a Jacques Rancière: ›Hablar de crisis de la sociedad es culpar a sus víctimas‹«, in: El Publico vom 15.1.2012, S. 22-25 (online unter: http://www.publico.es/culturas/416926/ hablar-de-crisis-de-la-sociedad-es-culpar-a-sus-victimas vom 23.7.2013, ins Englische übers. von democracities, http://democracities.com/2013/08/18/jacques-ranciere-in terview-democracy-is-not-to-begin-with-a-form-of-state/ vom 12.8.2013). 113 | Vgl. die zu ähnlichen Ergebnissen kommende Studie von Bishop, C.: Artificial Hells, S. 16. Vgl. auch Bishops Kritik an der Instrumentalisierung der Kunst als »social engineering« in der britischen Politik von New Labour im Vereinigten Königreich.
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Ein erster Schritt besteht daher in der Erforschung künstlerischer Arbeitsrealitäten. Dabei wird der These nachgegangen, dass es für die künstlerische Arbeit im Tanz, in der Choreografie und Performance einen komplexen Zusammenhang zwischen künstlerischer Produktion, künstlerischer Arbeitsweise und den jeweiligen Wahrnehmungsweisen (Ästhetiken im Sinne von aisthesis) gibt, der bislang nicht systematisch erforscht ist. Die sozioökonomischen Parameter der Situation von Künstlerinnen und Künstlern werden von daher lesbar als wichtiger Baustein zur Beschreibung des ersten Faktors, den Bedingungen der Produktion, stehen aber in einer nichtauflösbaren Relation zu den jeweiligen Arbeitsweisen und der Vielschichtigkeit sensibler Wahrnehmungsprozesse. In einem Artikel zur Publikation des Selbstinterviewbandes von Everybodys hat Martina Ruhsam auf diesen Zusammenhang hingewiesen, für den sie zu Recht auf die wegweisende Bedeutung Xavier Le Roys rekurriert: »Seit die Performance als – für ein Publikum zur Schau gestelltes – künstlerisches Endprodukt den Status des kontextunabhängigen und abgeschlossenen Status verloren hat und in der Folge erkannt wurde, dass es die Inszenierung und die Umstände eines spezifischen Arbeitsprozesses sind, die zu bestimmten Resultaten führen und andere ausschließen, ist das Sichtbarmachen der Produktionsbedingungen und Arbeitsprozesse in den Choreografien selbst ein großes Thema. Die Arbeitsweise erscheint mindestens so interessant wie das von ihr hervorgebrachte Resultat. Verschiedenste Methoden wurden erprobt, mit denen die Produktionsbedingungen und Prozesse in den Choreografien ausgestellt werden können. Xavier Le Roy, der dieser Fragestellung mehrere Projekte gewidmet hat, hat mit seinem heute in der Performance-Szene schon beinahe als klassisch zu bezeichnenden Self-Interview zur Reflexion des von ihm initiierten Research-Projekts E.X.T.E.N.S.I.O.N.S den Auftakt für das eigene Befragen von selbst entworfenen Praktiken in choreografischen Prozessen geschaffen.«114
Um diesen Zusammenhang genauer zu erforschen, bedarf es eines ästhetischen Diskurses, der in der Lage ist, die Besonderheiten der künstlerischen Praktiken des Tanzes, der Choreografie und der Performance in ihren sinnkonstituierenden Qualitäten sowie in ihren (zwangsläufig immer über die Ästhetik hinausweisenden) Kontexten, methodischen, organisatorischen und technischen Bezügen, historischen Traditionen sowie politischen und sozialen Dimensionen zu verstehen und darzustellen.
114 | Ruhsam, Martina: »Everybodys Selbstinterviews. Ein Buch als nutzerfreundliche Kartografie choreographischer Gegenwartspraktiken«, 28.12.2009, in: Corpus (Internet Magazin für Tanz, Choreografie, Performance), http://www.corpusweb.net/everybodysselbstinterviews-4.html vom 9.7.2013. Vgl. auch Chauchat, A./Ingvartsen, M.: Everybodys Self-Interviews.
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Aus diesem Grund soll hier ein Anfang gemacht werden für eine notwendig unabgeschlossene Topologie internationaler zeitgenössischer künstlerischer Praktiken, die sich dem konkreten Tun von Künstlerinnen und Künstlern zuwendet, welche sich aktiv in den letzten Jahren für die Entwicklung des professionellen Feldes von Tanz, Performance und Choreografie eingesetzt haben. Im Kontrast zu einer defizitären Bestandsaufnahme dessen, was in der (Kultur-)Politik nicht umgesetzt werden konnte, und zu den zahlreichen ungeschriebenen track records in der Tanzgeschichte besteht das Motiv dieser Untersuchung insofern darin, aufzuzeigen, was in internationalen, zeitgenössischen und experimentellen künstlerischen Arbeiten und Forschungen der letzten 20 Jahre eigentlich entstanden ist.115 Eine genauere Beschreibung mit Überlegungen zur Methode und zum konkreten Feld der Untersuchung wird im nächsten Kapitel dargelegt. Zunächst einmal sei jedoch die Fragestellung konkretisiert. Sie lautet: Wie stellt sich das relationale Zusammenspiel zwischen künstlerischer Produktion (und Distribution), Arbeitsweise und Ästhetiken im freischaffenden, internationalen, experimentellen und zeitgenössischen Tanz, der Choreografie und Performance dar? Weitere Fragen sind darin impliziert: Welche Wirkungsverhältnisse und Interdependenzen sind für die künstlerische Arbeit konstitutiv; welche erlauben die Entwicklung künstlerischer Arbeit? Welche Entscheidungsstrukturen, Zuständigkeiten und Mitbestimmungsmöglichkeiten im Feld gibt es? Welche Auseinandersetzungen und Anliegen? Welchen Bedarf? Gibt es eine Responsitivität zwischen den unterschiedlichen institutionellen Praktiken der Arbeit? Wie organisiert sich die künstlerische Arbeit und in welchem Verhältnis stehen diese Organisationsformen zu institutionellen Strukturen? Können die bestehenden institutionellen Förderinstrumente innovative Impulse der Tanz- und Performancekunst auch zeitnah, flexibel und unbürokratisch unterstützen? Welche Bedeutung haben Kontinuität, Struktur und Entwicklung für zeitgenössische künstlerische Schaffensprozesse? Wie können diese auch angesichts der zunehmenden Verwertung nicht nur künstlerischer Praktiken 115 | An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine Geschichte des Tanzes – einerseits aufgrund der vieldiskutierten ephemeren bzw. immateriellen Natur der tänzerischen oder choreografischen Arbeit, andererseits aber auch aufgrund der zunehmenden Kurzlebigkeit von Projekten und Strukturen – sich nicht allein in retrospektiver Dokumentenanalyse erschöpfen kann, sondern im Aufzeichnen der heutigen Strömungen beginnen muss. Derzeit lässt sich hier das inhaltliche Auseinanderklaffen von künstlerischen Aufzeichnungen und einer wissenschaftlich verfassten Tanzgeschichte konstatieren, in der letztere riskiert, die zeitgenössischen Veränderungen qua Nichtbeachtung ganz dem Vergessen anheim zu geben.
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wirksam hergestellt werden? Inwiefern ist Kritik auf den unterschiedlichen Ebenen der Entscheidungsprozesse möglich? Wie können Anliegen und konkrete Problemlagen von Künstlerinnen und Künstlern geortet werden? Zielvorgabe ist daher eine qualitative Untersuchung sinnkonstituierender Praktiken, die eine relationale und dynamische Betrachtung der Komplexität ermöglicht, ohne dabei Wahrnehmungsprozesse von Handlungen und ihren Umgebungen zu trennen und ohne dabei Wirkungsverhältnisse auf Kausalverhältnisse zu verkürzen und damit die Instrumentalisierung der Kunst fortzuführen.
1.3 Warum Praktiken? Zur Methode Den Schwerpunkt der Betrachtung auf Praktiken zu legen, ist in methodischer Hinsicht ein dringlich geratenes kritisches Korrektiv zur ›statischen‹ Methode, erlaubt es doch zuvörderst, die konkreten Dynamiken des Tuns in ihrer Komplexität zu erfassen. Eine solche praxisorientierte Methode befragt Gegebenheiten auf ihr Gemachtsein und somit auf ihre Veränderbarkeit. Gerade dort, wo Dinge unveränderlich erscheinen, wie hier etwa die sozioökonomische Lage oder eine zum Teil inadäquate Kategorienübernahme sozioempirischer Erhebungen, müssten diejenigen Praktiken analysiert werden, die zur alltäglichen, wiederholten Aufrechterhaltung und Reproduktion dieser Sachlagen führen. Genau diesen Impetus kritischer Reflexion bescheinigt auch die 2012 von Robert Schmidt erschienene Soziologie der Praktiken, die, inspiriert unter anderem von Bourdieu, Goffmann und Kant, sich mittlerweile aus vielen unterschiedlichen Ansätzen speist und die wechselseitige Verschränkung von Theorie und Empirie hervorhebt. »Die Praxissoziologien beanspruchen eine besondere Form von Theorie. Sie soll so gebaut sein, dass sie sich vom Empirischen fortlaufend verunsichern, irritieren und revidieren lässt. Ein solcher Theorietyp versucht sicherzustellen, dass theoretische Annahmen (nicht zuletzt auch jene, die schon in die Erhebung von Daten eingehen beziehungsweise die festlegen, was überhaupt als Datum auftauchen kann) nicht der Infragestellung durch Empirie entzogen werden.«116 116 | Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 31. Vgl. ebenso Bourdieu, Pierre: Esquisse d’une théorie de la pratique, précédé de trois études d’ethnologie kabyle, Genf: Droz 1972; ders.: Raisons pratiques. Sur la théorie d’action, Paris: Editions Seuil 1996; Goffmann, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980; Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart: Reclam 1986. Zu den unterschiedli-
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In Hinsicht auf die institutionellen Praktiken der verschiedenen agencies im Bereich Tanz und Performance ist ein solch praxistheoretischer Hintergrund überfällig, um Entscheidungen bezüglich von Mittelverteilung, Repräsentation und Ämtervergabe transparent zu gestalten und Prozesse der Institutionalisierung, Mängelverwaltung, Bürokratisierung, Akademisierung sowie Geschlechterdiskriminierung überhaupt sichtbar machen zu können. Ein solches Unterfangen übersteigt allerdings den Rahmen der vorliegenden Studie um ein Weites. Um der Schieflage in der Forschungssituation zu den Arbeitsrealitäten von Tanzschaffenden ein Gegengewicht zu verleihen und sinnstiftende, komplexe und dynamische Zusammenhänge zwischen künstlerischen Produktionen, Arbeitsweisen und Ästhetiken ins Sichtfeld zu rücken, widmet sich die vorliegende Studie künstlerischen Praktiken im Bereich des Tanzes, der Choreografie und der performing arts. Im Stil eines knappen Resümees sei daher hier ein Überblick über meinen Zugang zu künstlerischen Praktiken, einer praxisorientierten an der Kunst ausgerichteten Theoriebildung und ihrer Relevanz für eine zeitgenössische und kritische gesellschaftliche Analyse gegeben, den ich unter anderem im Rahmen meiner internationalen Lehrtätigkeit, dem von mir initiierten und kokuratierten Practice Symposium in Stockholm (2012) und meiner aktuellen Lecture Series Art and Practical Philosophy ausführlicher besprochen habe.117 Hatte der performative turn schon eine Verschiebung der Analyse hin auf eine Verzeitlichung der Prozesse nahegelegt, welche John Langshaw Austin zufolge auch die Konventionen des performativen (Sprech-)Akts auf den Plan chen Ansätzen wird bei Schmidt der synthese-leistende Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen der Freien Universität Berlin genannt und das von Gunter Gebauer geleitete Teilprojekt zur Aufführung der Gesellschaft in Spielen, vgl. Schmidt, R.: Soziologie der Praktiken, S. 274. 117 | Vgl. das Practice Symposium, Stockholm 29. bis 30.9.2012, das ich mit Stina Nyberg (Schweden), Zoë Poluch (Kanada) und Uri Turkenich (Israel) durchgeführt habe, dank der Einladung und Unterstützung des International Dance Programme vom Swedish Arts Grants Committee (Konstnärsnämnden), in persona Anna Efraimsson. Zu meiner lecture series vgl. Sabisch, Petra: Lecture Series on Art and Practical Philosophy II: »What Can Practice Mean Today?«, Kopenhagen: Danish National School of Performing Arts am 23.4.2013. Zur Lehrtätigkeit sei hier verwiesen auf die Seminare, die ich im Rahmen meiner Vertretungsprofessur in der Tanzwissenschaft an der Justus-Liebig Universität Gießen gehalten habe (u. a. Mapping Practices und Experimental Practices) sowie zum Beispiel auf meine Arbeit mit Studierenden des B.A. Dance in der Danish National School of Performing Arts in Kopenhagen, Dänemark.
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ruft, so hat Judith Butler am Beispiel von Geschlecht und Materialität eindrücklich zeigen können, wie sich essenzialisierte gesellschaftliche Zustände durch performative Wiederholung konstituieren und aufrechterhalten.118 Über die einfache ritualisierte oder routinierte Wiederholung diskursiver Zuschreibungen hinaus liegt jedoch die Kraft der performativen Reiteration nicht allein in der Aufrechterhaltung von Gegebenheiten; sie ist selbst realitätserzeugend. Diesen Aspekt hat Dorothea von Hantelmann in ihrem Buch How to Do Things with Art betont, um unter anderem am Beispiel Tino Sehgals und James Colemans zu zeigen, inwiefern der klassische Bruch künstlerischer Avantgarden mit Konventionen zum performativen Verwenden eben dieser Konventionen transformiert wurde.119 Wenn der performative turn nun insofern das Augenmerk auf das Vollzugsgeschehen gesellschaftlicher Konventionen legt und diese durch artifizielle (Re-)Inszenierungen sozusagen der gesellschaftlichen Verfügbarkeit auch wieder zuführt, so verstärkt der practice turn, in dem Marx’ Praxisbegriff und Hannah Ahrendts Unterscheidung zwischen Herstellen, Handeln und Arbeiten mitschwingen, den Fokus auf konkrete relationale, materielle und gesellschaftlich situierte Praktiken, in denen unter anderem Know-how sowie praktisches Können (implizites Wissen) transferiert und geteilt werden.120 Insofern umfasst der practice turn einen empirical turn, und erlaubt Embodiment-Phänomene und materielle Aspekte mit in den Blick zu bekommen, genau wie die »situative Kontingenz« der Praktiken.121 Damit ist eine Kritik 118 | Vgl. Austin, John Langshaw: How to Do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University 1955, hg. v. James Opie Urmson and Marina Sbisà, Cambridge: Harvard University Press 1997; Butler, Judith: Gender Trouble, New York/London: Routledge 1990; dies.: Bodies that matter. On the discursive limits of ›sex‹, New York/London: Routledge 1993. Vgl. auch Sabisch, Petra: Lecture Series on Art and Practical Philosophy I: »Was kann performative Philosophie in Zeiten des artistic turns in den Geisteswissenschaften tun?«, Vortrag im Rahmen der Tagung Performative Philosophie, Berlin, Uferhallen, 6.4.2013. 119 | Vgl. Hantelmann, Dorothea von: How to Do Things with Art. On the Significance of the Performativity of Art, Zürich/Berlin: diaphanes 2007. 120 | Für einen umfassenden Überblick über den practice turn und die derzeitigen Debatten in der zeitgenössischen Theorie, vgl. Schatzki, Theodore R./Knorr-Cetina, Karin/ Savigny, Eike von (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York: Routledge/Taylor & Francis 2001. Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 2002; und Marx, Karl: »Thesen über Feuerbach«, in: ders./Engels, Friedrich: Werke, Bd. 3, Berlin: Dietz 1978, S. 5ff. 121 | Schmidt, R.: Soziologie der Praktiken, S. 59. Schmidt definiert die drei grundlegenden Charakteristika von sozialen Praktiken als Temporärität, Köperlichkeit und der Materialität. Dabei ist insbesondere die »Unumkehrbarkeit der Aufeinanderfolge von Ge-
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des klassischen Handlungsbegriffs wie auch der Vernunft verbunden, indem, infolge zum Beispiel der Akteur-Network-Theorie, auch nichtmenschliche agencies, wie etwa Artefakte und Objektbezüge, miteinbezogen und auf ihre Affordanzen reflektiert werden.122 Die practice theory führt insofern sehr unterschiedliche theoretische Richtungen und Forschungsansätze zusammen, ohne einem vereinheitlichten Grundprogramm zu folgen oder einen gemeinsamen Nenner zu bilden; vielmehr erscheint sie als heteroforme Quintessenz verschiedener Forschungsrichtungen. Wenngleich Schmidt eine interessante Übersicht von Soziologien der Praktiken entwirft, so erschließt sich mein Zugriff auf künstlerische Praktiken eher durch die Kunst selbst sowie vor dem Hintergrund der Theorien des Pragmatismus (Peirce, James, Dewey), der process philosophy (Whitehead, Stengers) sowie der Assemblage-Theorie, insbesondere von Deleuze und Guattari.123 Letztere fließen in Schatzkis Sammelband The Practice Turn in Contemporary Theory in Anklängen mit ein, während sie in Schmidts Soziologie der Praktiken nicht an allen Stellen in ihrer Konsequenz auf die klassischen soziologischen Begriffsbildungen (wie etwa diejenigen Bourdieus) reflektiert werden. Die Ausrichtung eines Begriffs der Praktiken, der sich innerhalb einer assemblage von Beziehungen vollzieht, hin auf eine pragmatische Analyse hat aber weitreichende Implikationen. Die vielen Diskussionen, ob Praktiken entweder kollektiv oder individuell seien, ob sie notwendig sozial sind (shared practices) oder ob sie die Gewohnheit eher als Habitus, Routine, Ritual oder als produktive und verändernde Kraft definieren, werden mit einer solchen schehnissen« interessant, die einer bestimmten »sinnbildenden Richtung« folgt, ebd., S. 52. 122 | Ebd., S. 23 und S. 65; und Pickering, Andrew: »Practice and Posthumanism: Social theory and a history of agency«, in: Schatzki, T. R./Knorr-Cetina, K./Savigny, E. v. (Hg.), The Practice Turn, S. 163-174, hier S. 165. Des Weiteren Latour, Bruno: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network Theory, Oxford/New York: Oxford University Press 2005; und die Arbeit von Jane Bennett zu materiellen agencies von Dingen, Bennett, Jane: Vibrant Matter: A Political Ecology of Things, Durham/London: Duke University Press 2010. 123 | Zu Alfred North Whiteheads process philosophy vgl. Whitehead, Alfred North: Process and Reality: An Essay in Cosmology, korrigiert und hg. von David Ray Griffin und Donald W. Sherburne, New York: The Free Press 1979. Zu dem Begriff der assemblage bei Deleuze, Parnet und Guattari, vgl. z.B. Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: Dialogues, übers. von Hugh Tomlinson und Barbara Habberjam; »The Actual and the Virtual« übers. von Eliot Ross Albert, mit einem Vorwort von Gilles Deleuze, London/New York: Continuum 2006, S. 52; und Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia, Bd. 2, übers. und mit einem Vorwort von Brian Massumi, London/New York: Continuum 2004, S. 97f.
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Konzeption nicht im Vorhinein entschieden.124 Stattdessen ist das Gefüge aus heterogenen Parametern und Beziehungen, innerhalb derer sich Praktiken situieren, als ein dynamisches entworfen, in dem eine unterschiedliche Gewichtung und Variation einzelner Parameter schon sinnfällige Auswirkungen für die Erscheinungsform von Praktiken haben. 1878 hat Charles Sanders Peirce formuliert, dass die wirkliche Unterscheidung der Bedeutung von Gedanken sich darin ermesse, welchen praktischen Unterschied sie machen.125 Daraus entwickelte er 1905 die bekannte pragmatische Maxime, die er im Folgenden als pragmaticism kennzeichnete: »Consider what effects that might conceivably have practical bearings you conceive the objects of your conception to have. Then, your conception of those effects is the whole of your conception of the object.«126 Im zweiten Vortrag seiner Vortragsreihe Pragmatism, betitelt als What Pragmatism Means, griff William James diese Idee im Sinne einer pragmatischen Methode auf: »The pragmatic method in such cases is to try to interpret each notion by tracing its respective practical consequences. What difference would it practically make to anyone if this notion rather than that notion were true? If no practical difference whatever can be traced, then the alternatives mean practically the same thing, and all dispute is idle.«127
In seinen Essays on Experimental Logic entwickelt John Dewey dieses pragmatische Verständnis weiter, das für die vorliegende Untersuchung künstlerischer Praktiken maßgeblich ist und deshalb kurz skizziert werden soll.128 124 | Vgl. die Argumentation von Barnes, Barry: »Practice as Collective Action«, in: Schatzki, T. R./Knorr-Cetina, K./Savigny, E. v. (Hg.), The Practice Turn, S. 17-28; aber auch die Differenzierung von Joseph Rouse zum regulären und normativen Charakter von Praktiken: Rouse, Joseph: »Two concepts of practices«, in: T. R. Schatzki/K. Knorr-Cetina/ E. v. Savigny (Hg.), The Practice Turn, S. 189-198. 125 | Vgl. Peirce, Charles Sanders: »How To Make Our Ideas Clear«, in: Popular Science Monthly 12 (1878), S. 286-302, CP 5.400: »Thus, we come down to what is tangible and conceivably practical, as the root of every real distinction of thought, no matter how subtile it may be; and there is no distinction of meaning so fine as to consist in anything but a possible difference of practice.« 126 | Ders.: »Issues of Pragmaticism«, in: The Monist 15 (1905), S. 418-499; ders: »What Pragmatism Is«, in: The Monist 15 (1905), S. 161-181. 127 | James, William: Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking, Mineola/New York: Dover Publications 1995 (zuerst 1907); und ders.: Essays in Radical Empiricism, Mineola/New York: Dover Publications 2003 (zuerst 1912). 128 | Dewey, John: Essays in Experimental Logic, Chicago: University of Chicago Press 1916, insbesondere S. 335-349. Für den im Folgenden zitierten Ausdruck »incomplete
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Zunächst einmal wird darin ein praktischer Vorschlag (der im hiesigen Kontext auch den künstlerischen Vorschlag und nicht nur den philosophischbegrifflichen meint) als Antwort auf eine »unvollständige Situation« charakterisiert, mit dem hinreichenden pragmatischen Grund, dass er sonst nicht unternommen werden müsste. Der Vorschlag (proposition) ist dabei gleichzeitig ein determinierender Faktor für das, was bei der Vervollständigung dieser Situation herauskommt. Dewey zufolge impliziert dieser Vorschlag, dass es für die Komplettierung der Situation einen sinnfälligen Unterschied macht, wie die Situation ausgeführt wird, sodass der objektive Einsatz des Vorschlags selbst fassbar wird.129 Angesichts der Spannbreite möglicher Konsequenzen des Vorschlags, wird die Adäquatheit des Verhältnisses von Mittel und Ziel erwogen. Gleichzeitig wird die Geltung des Vorschlags aber erst anhand der empirischen Evidenz überprüf bar. Insofern ist der Vorschlag so lange hypothetisch, bis er ausprobiert wird. Für die folgenden Beschreibungen und Analysen von künstlerischen Praktiken ist dieser Hintergrund der pragmatischen Theorie- und Methodenbildung prägend, da sie allein auf methodologischer Flur in der Lage ist, jenes Anfangsmoment zu fassen, dass experimentelle Praktiken erst einmal gemacht werden müssen. Methodisch gesehen lässt sich dieses Moment anhand der prinzipiell verschiedenen Dimensionen zweier Fragen zeigen: Während die erste Frage (Was ist vorhanden?) auf eine rückwärtsgewandte Bestandsaufnahme des aktualisierten Ist-Zustands zielt, ist die Richtgröße der zweiten und pragmatischen Frage die Zukunft und das Entwicklungspotenzial. Sie fragt entsprechend: Was kann getan werden, um konstruktive Entwicklungen zu ermöglichen?130 Genau dieses Moment, das die Wahrnehmung der Situation an ein potenzielles Handeln zurückbindet und somit das Handeln als Option methodisch impliziert, artikulierte Peirce als Movens der Veränderung von Gewohnheiten und Verhalten.131 situation« vgl. S. 337. Zur Bedeutung dieser Arbeit vgl. auch Sabisch, P.: Lecture Series on Art and Practical Philosophy II (Vortrag): »What Can Practice Mean Today?« Kopenhagen, Danish National School of Performing Arts am 23.4.2013. 129 | Dewey, J.: Essays in Experimental Logic, S. 39: »The subject-matter implies that it makes a difference how the given is terminated: that one outcome is better than another, and that the proposition is to be a factor in securing (as far as may be) the better. In other words, there is something objectively at stake in the forming of the proposition.« 130 | Zu diesem methodischen Unterschied, den Deleuze infolge Spinozas ausarbeitete, vgl. Sabisch, Petra: »What Can Choreography Do?«, in: Inpex (Hg.), Swedish Dance History, Bd. 3, Stockholm: Inpex 2011, S. 82-103. 131 | Peirce, C. S.: »How To Make Our Ideas Clear«, CP 5.400: »What the habit is depends on when and how it causes us to act. As for the when, every stimulus to action is derived from perception; as for the how, every purpose of action is to produce some sensible
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Es ist dieses proaktive Moment des Initiierens und Involviertseins, des nachhaltigen Engagements und nicht der anteilslosen Indifferenz, durch welches die pragmatische Methode die situative, prozessorientierte und produktionsästhetische Perspektive der künstlerischen Situationen erfassen kann.132 Ähnlich diesem Impetus charakterisiert die Tänzerin und Professorin für Tanz an der Stockholmer Tanz-Universität Chrysa Parkinson in ihrem illustrierten Videoessay Self-Interview on Practice den Begriff der Praktiken unter anderem als »active thought«, durch den, wie durch einen Filter, Informationen prozessiert werden. Gleichzeitig sind Praktiken das, was ausprobiert werden muss, und das, was Gewohnheiten formt.133 Allein aus dieser Perspektive erschließen sich die künstlerischen Praktiken als sinnkonstituierende, bedeutungsgenerierende und engagierte Navigationen in dem Gefüge aus Parametern, Bedingungen, Bezügen, Entscheidungen, Hindernissen und Möglichkeiten, Wahrnehmungen und Wirkungen der jeweiligen Situation. Zu Deleuze und Guattaris Aufforderung »penser par le milieu« gibt es hinsichtlich künstlerischer Praktiken kaum eine Alternative, denn, wie anders als in der Verwobenheit des relationalen Gefüges, des Milieus, würden überhaupt
result.« Hier zitiert nach der Onlineausgabe: ders., »How To Make Our Ideas Clear«, http:// www.cspeirce.com/menu/library/bycsp/ideas/id-frame.htm vom 2.2.2013. 132 | Zum Begriff des engagement vgl. auch Thévenot, Laurent: »Pragmatic Regimes Governing the Engagement with the World«, in: Schatzki, T. R./Knorr-Cetina, K./Savigny, E. v. (Hg.), The Practice Turn, S. 56-73; ders./Boltanski, Luc (Hg.): Justesse et justice dans le travail, Paris: PUF/Centre d’Etudes de l’Emploi 1989; sowie die Konferenz Artistic Practices des Research Network Sociology of the Arts an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien (5. bis 8.9.2012), wo sich in erster Linie Soziologinnen und Soziologen über Kunst verständigten, v. a. Heinich, Nathalie: »Practices of Contemporary Art: a Pragmatic Approach to a New Artistic Paradigm«, Vortrag auf der Konferenz Artistic Practices des Research Network Sociology of the Arts an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien (5. bis 8.9.2012), 5.9.2012; und über eine Arbeit von Yves Mettler: Thévenot, Laurent: »Artists Engaging the Public in Participation: a View from the Sociology of Engagements«, Vortrag auf der Konferenz Artistic Practices des Research Network Sociology of the Arts an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien (5. bis 8.9.2012), 7.9.2012. 133 | Parkinson, Chrysa: Self-Interview on Practice, Juni 2009 (Text, Illustrationen und Performance von Chrysa Parkinson), http://vimeo.com/26763244 vom 9.3.2013. Vgl. auch die Printversion auf der belgischen Plattform zu forschender Kritik Sarma (Laboratory for criticism, dramaturgy, research and creation): http://sarma.be/docs/1336 vom 21.8.2013.
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die Einsätze von agencies und von den Akteurinnen und Akteuren sichtbar?134 Wie die Hindernisse und Wirkungen anderer Praktiken? Genau um diese Sichtbarkeit künstlerischer Praktiken und ihr beständiges Involviertsein in plurale Öffentlichkeiten, kritische Diskursivität und die extradisziplinäre Ausweitung der Praktiken soll es in den folgenden fünf Fallstudien gehen.135 Wenn oben schon anhand der ›statischen Methode‹ sozialwissenschaftlicher und kulturpolitischer Forschungsansätze zur Situation der Künstler/-innen aufgezeigt wurde, inwiefern einer wissenschaftliche Methode selbst eine bestimmte Perspektive eignet, dann kann man das aus pragmatischer Hinsicht neu formulieren: Angewandte Methoden sind Forschungspraktiken. Methoden sind Modi Operandi der Forschung, welche als wissenschaftliche ihre eigene, spezifische Perspektive intersubjektiv nachvollziehbar machen und reflektieren. Genau darin besteht aber ein weiterer Vorteil der Praxistheorie, den Michael Lynch für die »Logik der Praxis«, in Zurückweisung von Garfinkels Darstellung des Problems der praktischen Objektivität, treffend vor dem Horizont der ethnomethodologischen Forschung dargestellt hat: »The lesson I derive from this example is that it is pointless to seek a general methodological solution to ›the vexed problem of the practical objectivity and practical observability of practical actions and practical reasoning,‹ because any abstract account of the logic of practice immediately reiterates the problem. The investigative task for ethnomethodology is therefore to describe how the logical accountability of practice is itself a subject of practical inquiry; an inquiry that can involve struggles and fragile agreements.«136
134 | Zum Begriff des environment und Involviertseins bei Isabelle Stengers vgl. Stengers, Isabelle: »Introductory Notes on An Ecology of Practices« (ANU HUmanities Research Centre Symposium in early August 2003), in: Cultural Studies Review 11 (2005), S. 183196, hier S. 187: »In the same way, I would venture there is no identity of a practice independent of its environment. This emphatically does not mean that the identity of a practice may be derived from its environment. Thinking ›par le milieu‹ does not give power to the environment. The obstinate work and research of ethologists to discover what kinds of relations with their apes would be the right ones for those apes to learn, whatever they learn is sufficient to lend support to the paint that the issue is not one of power but of involvement.« 135 | Vgl. Kaufmann, T./Raunig, G.: Anticipating European Cultural Policies, S. 74: »Was zählt, ist nicht die Forderung nach oder die Konzeptualisierung einer einzelnen Öffentlichkeit […], sondern die permanente Konstituierung vieler Öffentlichkeiten, nicht statisch vorgestellt, sondern als das Werden artikulatorischer und emanzipatorischer Praxen.« 136 | Lynch, Michael: »Ethnomethodology and the Logic of Practice«, in: Schatzki, T. R./ Knorr-Cetina, K./Savigny, E. V. (Hg.), The Practice Turn, S. 131-148, hier S. 147.
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1.4 Zur Methode dieser Studie Vor dem Hintergrund einer praxisbasierten Methode seien an dieser Stelle das Abstecken des genauen Forschungsfeldes, die Auswahlkritierien für die untersuchten Praktiken sowie das Vorgehen in Bezug auf Datenmaterial und Erhebung dargestellt. An erster Stelle ist zu reflektieren, dass der Fokus der vorliegenden Studie auf künstlerische Praktiken (und nicht etwa Performances) der Überlegung geschuldet ist, dass eine Performanceanalyse nur wenige Arbeiten Einzelner angemessen berücksichtigen könnte und so Gefahr liefe, die punktuelle Rahmung der ›Projektwirtschaft‹ zu wiederholen. Dabei würden unmittelbar diejenigen Praktiken aus dem Blick geraten, die gerade in Differenz zu vorherrschenden szenischen Präsentationsformaten entwickelt wurden bzw. die von vornherein mit neuen Formaten experimentierten und inhaltliche Prozesse zum Gegenstand ihrer Arbeit machten. Vor diesem Hintergrund wurde das Untersuchungsfeld begrenzt auf internationale, zeitgenössische, experimentelle und erneuernde Praktiken im Bereich des Tanzes, der Choreografie und Performance, welche den bislang unzureichend erforschten Zusammenhang von Produktionsbedingungen, Arbeitsweisen und Ästhetiken artikulieren, reflektieren und sinnkonstituierend entwickeln. Des Weiteren wollte diese Arbeit aber die kollektive Dimension solcher künstlerischer Praktiken erfassen, die über die Herausbildung des eigenen Werks hinaus, wohl aber mit und vor dem Hintergrund von Performances Auseinandersetzungen mit dem Sinn von Choreografie und Performancekunst initiieren und damit Kontexte generieren.137 Gleichzeitig war ein wesentlicher Parameter, das diese Praktiken von Künstlerinnen und Künstlern initiiert wurden bzw. sich an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten künstlerischer Praktiken orientieren.138 Zusammengefasst stellten sich mir die Parameter für die Auswahl insofern als ein Gefüge aus internationalen, zeitgenössischen, experimentellen, erneuernden, diskurs- und kontextgenerierenden Praktiken dar, die von Künst-
137 | Es ging also um jenes initiatorische Moment der Praktiken, das die Situation des Tanzes aus der Praxis heraus analysiert und nach den konkreten, sinnkonstitutiven Bedürfnissen fragt. Mit Dewey sind diese Praktiken als Vorschläge (propositions) bestimmbar, für die es einen sensiblen Unterschied macht, wie sie ausgeführt werden, vgl. S. 98f. 138 | Damit sollte der Tatsache der Selbstbestimmung der Kunst Respekt gezollt werden, ohne jedoch enge identitäre Zuschreibungen zu produzieren. Um fixe Etiquettierungen kann es auch gar nicht gehen, insbesondere angesichts der eingangs thematisierten Vielfältigkeit künstlerischen Praktiken, welche sich in ständig changierenden und gleichzeitig stattfindenden Rollen sowie in intermittierenden Arbeitsverhältnissen reflektiert.
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ler/-innen initiiert wurden oder eng an der künstlerischen Praxis ausgerichtet sind. Vor diesem Hintergrund wurden fünf Fallbeispiele mit unterschiedlicher diachroner und geografischer Reichweite ausgesucht: erstens, das zunächst als performative Sonderausgabe präsentierte Wochenende Special Issue in Aubervilliers, das im Anschluss zu einem europäischen Format wurde (2011-2013); zweitens das zehnjährig in Folge stattfindende spanische Festival In-Presentable (2003-2012), das von dem Choreografen Juan Domínguez initiiert und geleitet wurde; drittens die einwöchige Stockholmer Double Lecture Series, die im Herbst 2011 von Mårten Spångberg und Mette Ingvartsen veranstaltet wurde; viertens das 2005 von Jan Ritsema et al. gegründete Performing Arts Forum in St. Erme in Frankreich; und fünftens die von 2006 bis 2011 stattfindende sommer.bar, welche im Rahmen des Festivals Tanz im August von Kerstin Schroth kuratiert wurde. Erforderliche methodische Voraussetzung für die wissenschaftliche Einschätzung der inhaltlichen Relevanz der künstlerischen Praktiken war die teilnehmende Beobachtung dieser Praktiken und ihrer Modi Operandi. Die Risiken der jeweiligen Perspektivik in der Wahrnehmung der Situation, die für alle an der Empirie des Lebens ausgerichteten Wissenschaften gleichermaßen gilt (dies ist die ästhetische Dimension der Empirie), sind meiner Ansicht nach hinreichend thematisiert worden. Eine pragmatische Wissenschaft gibt jedoch, neben der Sorge um eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Transparenz dieser Perspektivik, auch zu bedenken, dass diese Risiken ins Verhältnis gesetzt werden müssen zu dem Risiko einer Wissenschaft, die gar nicht erst versucht, einen praktischen Unterschied zu machen. Im vorliegenden Fall basiert die Erforschung der dargestellten Praktiken auf der Analyse von Dokumenten, einer erstellten Statistik zur Internationalität der jeweiligen Praktiken und einer qualitativen Befragung.139 Dazu wurden intensive qualitative Interviews mit den fünf Initiatorinnen und Initiatoren dieser Praktiken (Alice Chauchat, Juan Domínguez, Mette Ingvartsen, Jan Ritsema, Kerstin Schroth) durchgeführt, und anhand von fünf Spiegelinterviews mit teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern aus dem Bereich Tanz, Choreografie und Performance (Blanca Calvo, Paz Rojo, Christine De Smedt, Valentina Desideri und Hermann Heisig) reflektiert. Des Weiteren wurde mit geplanten sechs weiteren Interviews versucht, den Blick auch auf auf andere Regionen Europas zu lenken, was mit einem Rücklauf von vier Interviews (Halla Ólafsdóttir, Emma Kim Hagdahl, Manuel Pelmus, Cristina Rizzo) auch für den skandinavischen Bereich, für Rumänien
139 | Vgl. Annex 2: Statistiken zur Internationalität der Fallstudien, S. 178.
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und Italien gelang. Geplant waren hier weiterhin die Region des Balkan sowie Portugal.140 Maßgeblich für die explorativen Interviews war die Fragestellung, wie sich das komplexe Zusammenspiel zwischen künstlerischer Produktion, Arbeitsweise und Ästhetiken im freischaffenden, internationalen, experimentellen und zeitgenössischen Tanz, der Choreografie und Performance für die Befragten darstellt. Bei den durchgeführten Interviews handelt es sich um nichtstandardisierte, offene, teilstrukturierte und fokussierte Experteninterviews, die anhand einer Leitfragebogenmatrix entwickelt und mit einer jeweils spezifischen Recherche zu Erfahrungsraum und Hintergründen der Interviewten verbunden wurde.141 Gefragt wurde entsprechend nach der Spezifizität und den Eigenschaften der jeweiligen Praktiken, nach den zugrundeliegenden Anliegen und den sich daraus entwickelnden Entscheidungen und Vorgehensweisen, nach der Verbindung zu jeweiligen Institutionen, nach dem Zusammenhang von Produktions- und Präsentationsformen, nach den Konzepten für das Verhältnis von künstlerischen Praktiken und Publikum, aber auch nach konkreten Problemen und Schwierigkeiten, Differenzziehungen, Eigendefinitionen der zur Auswahl verwendeten Kategorien, nach Ausbildungssituation und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie nach den strukturellen und ästhetischen Veränderungen der letzten 20 Jahre. Die Methoden zur Durchführung der zeitintensiven Interviews von zumeist zweieinhalb Stunden bestanden in live oder über Skype geführten Interviews sowie in schriftlich geführten Interviews bei gleichzeitiger Präsenz (circa acht Stunden) sowie in anschließender Transkription und Redaktion eines Fließtextes in Rücksprache mit den Interviewten. Es sei angemerkt, dass das verschriftlichte Interviewmaterial zeitlich situierte Gedanken und Perspektiven darstellt. Angesichts des großen Zeit- und Materialumfangs führte ich diese Studie gemeinsam mit Tom Engels und Bettina Földesi durch, die ich zunächst als Studierende des Masterstudiengangs »Choreografie und Performance« während meiner Vertretungsprofessur für Tanzwissenschaft am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig Universität Gießen kennenlernte. Eine gemeinsame Arbeits- und Diskussionswoche diente dabei der Einführung in die Studie und der Erarbeitung eines gemeinsamen Arbeitsstandes.
140 | Zur Zitierweise der Interviews, vgl. »Interviews und Siglen«, S. 178. Die Grundlage der Verweise auf Interviews bietet in der vorliegenden Studie die Manuskriptfassung der Interviews. 141 | Vgl. Annex 3: Leitfragenmatrix zur Codierung der Interviews, S. 184.
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Das Material der Interviews, das die nachfolgende Darstellung der Praktiken speist, hat sich dabei als so reich und aussagekräftig hinsichtlich der Fragestellung erwiesen, dass sich für mich, im Anschluss und als Konsequenz aus der vorliegenden Studie, ein Folgeprojekt ergibt (A Topology of Practices – The Book of Interviews), welches die plurale Artikulation der konkreten Wirkungsverhältnisse in den künstlerischen Praktiken weiterentwickelt und für weitere Untersuchungen zur Verfügung stellen möchte.142
2. P r ak tiken : F allstudien 2.1 Special Issue/Edition Spéciale in Auber villiers et al. (2011-2012)
Abbildung 1: Programm Edition Spéciale 2011, Foto: Petra Sabisch
142 | Vgl. Sabisch, Petra (Hg.): A Topology of Practices – The Book of Interviews (voraussichtlich 2016).
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Edition Spéciale/Special Issue # Aubervilliers: 29.4. bis 1.5.2011 Edition Spéciale bzw. Special Issue # Aubervilliers ist ein von den Laboratoires d’Aubervilliers143 (Frankreich) initiiertes Wochenende, das vom 29.4. bis zum 1.5.2011 im Norden von Paris in Aubervilliers stattfand und in Form einer Sonderausgabe internationale zeitgenössische performative Praktiken zeigte; ähnlich einem Printjournal, in dem das Papier durch Livearbeiten ersetzt worden ist.144 Das von der Teamleitung der Labos – Alice Chauchat, Grégory Castéra und Nataša Petrešin-Bachelez – initiierte Wochenendfestival legte dabei einen dezidierten Schwerpunkt auf diskursive Praktiken und Dispositive, die sich als performative Auseinandersetzung mit der künstlerischen Arbeit und als experimentelle Weiterentwicklung verstanden. Eingeladen waren internationale Künstler/-innen, oftmals mit professioneller Provenienz, aus den Bereichen Tanz und Choreografie, wie etwa Jennifer
143 | Die im Nordosten von Paris gelegenen Laboratoires d’Aubervilliers wurden 1993 von dem französischen Choreografen François Verret und einer Künstler-Gruppe gegründet als Antwort auf die Einladung des damaligen Bürgermeisters von Aubervilliers zur Nutzung dieses Orts. Von 2001 bis 2006 hatten die Laboratoires eine Kodirektion, bestehend aus den Kunstkritikern Yvane Chapuis und François Piron sowie dem Choreografen Loïc Touzé, die das Projekt als ein künstlerisches Laboratorium entwarfen, das sich auf Forschung und Experiment bezog und mehrere Künste umfasste. Von 2007 bis 2009 übernahm Yvane Chapuis diese Leitung zusammen mit dem Choreografen Joris Lacoste; von 2010 bis 2012 waren es Grégory Castéra, Alice Chauchat und Nataša Petrešin-Bachelez. Seit 2013 (bis voraussichtlich 2015) werden die Labos weiterhin im Team geleitet: Alexandra Baudelot, Dora Garcia und Mathilde Villeneuve. Für weitere Informationen zur Geschichte der Labos vgl. Les Laboratoires d’Aubervilliers, Webseite, http://archives.leslaboratoires.org vom 23.10.2013. Die Konzeption der Laboratoires beschreibt die Tänzerin und zum Zeitpunkt von Edition Spéciale verantwortliche Kodirektorin Alice Chauchat wie folgt: »Les Laboratoires d’Aubervilliers is a very particular arts centre in the north of Paris. It is non-disciplinary (hosting projects stemming from whichever artistic practice), and it is constantly re-organising itself around the necessities of the artistic projects hosted there (thereby excluding conventional programming systems or the setting of any standard concerning budget, duration, mode of visibility or concerning any other preconceived parameter for the projects hosted). It was founded by an artist (French choreographer François Verret) and is always directed by several people at a time, including an artist.« Alice Chauchat im Interview mit Petra Sabisch, AC1PS. 144 | Zum Programm der ersten Ausgabe Edition Spéciale in Aubervilliers vgl. Webseite, http://www.specialissue.eu/special-issue-0-program vom 28.6.2013.
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Lacey145, die Gruppe W146, Everybodys147, Laurent Pichaud und Rémy Héritier148, Krõõt Juurak149, Mårten Spångberg150, Noé Soulier151, Juan Domínguez152 sowie Natascha Sadr Haghighian153, Bojana Cvejić154 und Studierende der Kunsthochschule ENSA Paris Cergy sowie des CNEAI. Wesentlicher Bestandteil von Special Issue # Aubervilliers waren dabei die moderierten Tables Rondes, an denen alle Beteiligten spezifische Aspekte dieser Praktiken diskutieren konnten. Die Themen der Diskussionstische waren entsprechend: »zur Konzeption von diskursiven Set-ups«, »zur Performanz diskursiver Dispositive«, »die Formen der Partizipation in der Diskursproduktion (Zuhören statt Lesen)«, »zur Technik und Virtuosität (ein Raum für 145 | Jennifer Lacey lud zu dramaturgischen Consultingpraktiken ein: Guided Consultations in the Archives of Amateur Dramaturges To Resolve Problems of Life and Creation. 146 | Die diskursive Praxis The Bloc besteht in einer regelgeleiteten und doch improvisierten Konferenz in Echtzeit, vgl. W., Webseite, http://www.1110111.org/ vom 10.7.2013. 147 | Everybodys war mit mehreren Praktiken vertreten, so stellten Alice Chauchat, Mette Ingvartsen und Petra Sabisch die neu entwickelte kollektive Lecture mit dem Titel Co-lecture vor. Darüber hinaus wurde das Impersonation Game für die Performance Blue von Juan Domínguez (s. Fußnote 152) durchgeführt und Générique gezeigt, vgl. Webseite, http://www.everybodystoolbox.net/ vom 12.4.2013. 148 | Inspiriert von OuLiPo fordern die Choreographic Games von Héritier und Pichaud die Diskursivierung von Stilen und Ästhetiken anhand von Stückausschnitten heraus. 149 | Scripts for Smalltalk ist eine Performance, bei der das Publikum ready-made-Texte liest, die Gedankenprozesse und Liveinterferenzen performativ in Bewegung setzen. 150 | Double Speak O Field fokussiert die diskursive Besonderheit von Partys. 151 | Idéographie in progress zeigte den Arbeitsstand einer Performance, welche philosophische Gedankengänge durch choreografische und musikalische Perspektiven filtert, analysiert und aufführt. 152 | Die Performance Blue (2009) von Juan Domínguez, eine Zusammenarbeit mit den Performern Luis Miguel Felix, Maria Jerez, Arantxa Martínez, Naiara Mendioroz und Emilio Tomé, war für die Special Issue # Aubervilliers in mehrfacher Hinsicht relevant: Sie war Bezugspunkt des Impersonation Games von Everybodys wie auch der Running Commentaries. Zur Performance vgl. auch Domínguez, Juan, Webseite, http://juandominguezrojo. com/performance/blue-2/ vom 17.10.2013. 153 | Die deutsche Künstlerin Haghighian kreiiert in Looking Awry die Erfahrung des Schielens als performatives Wahrnehmungsdispositiv. Zu Arbeiten von Haghighian vgl. Haghighian, Natascha Sadr, Webseite der Galerie Johannes König, http://www.koenig galerie.com/artists/7589/natascha-sadr-haghighian/works vom 10.7.2013. 154 | Das Format der Running Commentaries ist eine simultane Livekommentierung von auf Video übertragenen Performances, bei der das Publikum zwischen den einzelnen Kommentarstimmen per Kopfhörer auswählen kann.
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Praktiken?)«, eine Toolbox zur Diskursproduktion sowie die Diskussion um Dokumentationen diskursiver Praktiken. Die Ankündigung für diese Nullnummer der Edition Spéciale stellt den Anlass und die Motivation der Veranstalter/-innen als ein Bedürfnis dar, bestehenden künstlerischen Praktiken einen Rahmen zu geben, um sich zu artikulieren, die eigene Arbeit zu reflektieren und die performativen Praktiken als theoriebildendes, künstlerisches Forschungsinstrument ernst zu nehmen: »While the performative dimension of artistic practices is currently one of the main subjects of theoretical and critical investigation, numerous artists do not always recognize the models of analysis that are applied to them. They end up constructing their own theoretical tools, by means of performance. […] These observations are at the origin of Special Issue, a publication that brings together a series of dispositifs for the production of live discourse. It is performed from time to time in varied contexts, is produced by performance practitioners and is dedicated to discourse as produced by performance.«155
Im Interview beschreibt Alice Chauchat das Anliegen von Edition Spéciale # Aubervilliers als Antwort auf den vermehrt auftretenden künstlerischen Bedarf der performativen Diskursivierung, der bislang keine angemessene Sichtbarkeit oder institutionelle Unterstützung erfahren habe: »My co-directors Grégory Castéra and Nataša Petrešin-Bachelez and I were very sensitive to the existence, in the performing arts field, of various practices that artists were developing out of necessity and without institutional support. These practices are discursive and performative; they structure performance in order to foster discourse as much as they structure the discourse for the sake of performance. We wanted to find a way of supporting these practices as an institution. The first step was to make them visible, to create an event or a mini-festival where we invited about thirty artists to show and discuss this phenomenon and ways of supporting it further. In order to insist on its function as a place of discourse, we decided to call it a magazine. For three days, about 623 persons took part in about fifteen performative setups.«156
Im Anschluss an dieses kleine Festival, in dem erstmalig internationale diskursive performative Praktiken auf diese Weise präsentiert und reflektiert wurden, weitete sich die Nullnummer von Special Issue # Aubervilliers schnell als europäisches Projekt aus. Auf Initiative der Veranstalter/-innen wurden 155 | Les Laboratoires d’Aubervilliers, Webseite, »Edition Speciale Zéro«, http://www. leslaboratoires.org/projet/edition-speciale-0 vom 21.5.2013. 156 | A. Chauchat, Interview mit P. Sabisch, AC1PS.
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weitere Künstler/-innen und freie Strukturen eingeladen, den Vorschlag aufzugreifen und ausgehend von der gleichen Frage »Wie veröffentlichen die performing arts heutzutage Diskurse?« neue, lokale Ausdrucksformate zu entwickeln. Aus diesen Diskussionen erwuchs ein von der Europäischen Union gefördertes Projekt mit sechs weiteren Ausgaben, an dem die folgenden, zumeist von Künstlerinnen und Künstlern initiierten Strukturen, teilnahmen: das spanische Festival In-Presentable in Madrid157, die Laboratoires d’Aubervilliers (Frankreich), Station (Belgrad), Mugatxoan in San Sebastián (Baskenland), Hybris Konstproduktion (Stockholm), BIS (Istanbul) und erneut die Laboratoires d’Aubervilliers.158 Diese Sonderausgaben fanden vorwiegend zwischen Juni und Dezember 2012 statt. Sie seien hier kurz aufgeführt unter Nennung der beteiligten Strukturen und der jeweiligen Schwerpunkte der Praktiken: • 20. bis 22.6.2012: # Festival In-Presentable, Madrid, Spanien: Emisiones Cacatúa. Eine Radiosendung mit 13 field-recordings von Arantxa Martínez und Nilo Gallego, die zuerst im Rahmen des Festivals In-Presentable von Juan Domínguez stattfand, bevor sie transformiert wurde in das Open Mic Istanbul, im Rahmen der Special Issue # Istanbul (Santiye), das von Eylül Fidan Akıncı koordiniert und von Body Process Arts Association organisiert wurde. Am 1.2.2013 wurde Open Mic Istanbul als Livestream über das Institut Français ausgestrahlt.159
157 | Zu In-Presentable vgl. die folgende Fallstudie sowie Juan Domínguez im Interview mit Petra Sabisch, JDPS. Vgl. ebenfalls das von Tom Engels geführte Interview mit der spanischen Tänzerin und Choreografin Paz Rojo, welche ab 2013 einen neuen Rahmen in Madrid entwarf, der unter dem Namen Y si dejamos de ser (artistas)…? das Festivalformat hinterfragt, Paz Rojo im Interview mit Tom Engels, PR3TE. 158 | Vgl. auch A. Chauchat, Interview mit P. Sabisch, AC7PS. Für eine detaillierte Beschreibung sowohl der Geschichte als auch der aktuellen Situation des interdisziplinären Projekts Mugatxoan, geleitet von Blanca Calvo und Ion Munduate, vgl. Blanca Calvo im Interview mit Bettina Földesi, BC3BF, BC9BF, BC11BF, BC22BF. Zum Festival Desviaciones unter der Leitung von Blanca Calvo mit Maria La Ribot und José A. Sánchez vgl. ebenso S. 122f. 159 | Folgende Künstler/-innen nahmen daran teil: Arantxa Martínez, Nilo Gallego, Eylül Fidan Akýncý, Başak Günak, Volkan Ergen, Seçil Demircan, Erdem Gündüz, Erol Babaoğlu, Berna Kurt, Defne Erdur, Korhan Erel, İlyas Odman, Dilek Champs, Steven Champs, Ekim Öztürk, Gizem Aksu, Mustafa Kaplan, Damla Ekin Tokel, Hande Topaloğlu, Aslý Bostancý. Vgl. http://specialissue.eu/editions/emisiones-cacatua; zum Download des Livestreams vgl. https://archive.org/details/Emisionescacatuaistambul vom 11.6.2013.
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• 10. bis 22.9.2012: # Les Laboratoires d’Aubervilliers, Frankreich: The Mountain of Aubervilliers, initiiert von Laurent Pichaud, Rémy Héritier, umfasste ein 14 Tage lang performtes Magazin, das täglich in Form eines Blogs aus der Forschungspraxis berichtete.160 • 4. bis 11.10.2012: # Mugatxoan, San Sebastián, Spanien: A Disembodied Voice, Towards Love, initiiert von Blanca Calvo und Ion Munduate, befragt den Liveaspekt von Performances und inspiziert, wie man die Wahrnehmung einer Performance auf einen abwesenden Zuschauer übertragen kann.161 Diese Special Issue # Donostia/San Sebastián umfasst eine Radiosendung, eine Publikation und zwei Workshops (mit Peio Aguirre und Manuel Cirauqui).162 • 15. bis 27.10.2012: # Magacin, Belgrad, Serbien: Ein kollaboratives Laboratorium zur »Choreografie der Aufmerksamkeit« von Station Service for Contemporary Dance, einer kollektiven Initiative von Künstlerinnen und 160 | Eingeladene Künstler/-innen waren Mathieu Bouvier, Marcelline Delbecq, Anne Kerzerho, OfficeAbc, Gilles Saussier. Vgl. die Webseite »The Mountain of Aubervilliers«, http://specialissue.eu/daily-publications-in-laboratoires-dauber villiers vom 11.6. 2013. 161 | Vgl. Special Issue, Webseite, »A Disembodied Voice«, http://www.specialissue. eu/editions/a-disembodied-voice-towards-love vom 11.6.2013. Zur Idee des abwesenden Zuschauers und der Ausweitung des performativen Milieus beschreibt Calvo ihr Interesse als, »how to shift the perception of performance to another milieu, on how the absent spectator can share from another place (e.g. the radio) what is produced live.« Calvo, Blanca (Hg.): Cuaderno 1: Una voz sin cuerpo, hacia el amor/A Disembodied Voice, Towards Love, San Sebastián: Mugatxoan 2012, S. 106. 162 | Vgl. hier auch Blanca Calvos Beschreibung der Special Issue # Donostia/San Sebastián und der Idee des Radios, BC6BF: »A Disembodied Voice, towards Love is a radio broadcast program including performances, lectures, conversations and interventions, which are simultaneously performed in San Telmo Museo and in a free radio, through the presentations by the invited artist. […] What do we perceive from a performance, when we don’t see it and only hear it? […] We believe that, when the displacement between what happens and what one perceives, which normally occurs through sight, is only perceived by way of the sound it makes, it poses interesting questions to the notion of performance. The idea for the radio program emerged from the interviews with the artists who have passed through Mugatxoan in the last ten years. The interviews sought to reflect the places, position and autonomy, from which they worked ten years ago up to where they are now. The vocabulary of an encounter quickly emerged and the terminology was used to depict and express situations, and the work processes of each one were also defined and discussed. This caused us to turn our attention and purpose to the sound medium due to its intangibility, while setting up a line of publications tackling the problem of ›translating‹ an artistic process into the written word.«
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Künstlern und kulturellen Arbeiter/-innen für die Produktion und Sichtbarmachung von Wissen im Tanz.163 • 12. bis 16.11.2012: # Dilettant, Stockholm, Schweden: The Public Office, initiiert von den Choreografen Anders Jacobson und Johan Thelander aus der Gruppe Dilettant (vormals Hybris Konstproduktion), mit Myriam Mazzoni und Victor Saiz. In diesem fünftägigen Treffen wurden Fragen von Öffentlichkeit, Diskurs und Gemeinschaft im Rahmen des langfristig geplanten ›öffentlichen Büros‹ diskutiert.164 • September 2011 bis Januar 2013: BIS, Istanbul, Türkei: Santiye (übersetzt: Baustelle) wurde von der Choreografin Özlem Alkış und der Theoretikerin Eylül Fidan Akıncı als Veranstaltungsreihe initiiert mit dem Ziel, die Praktiken der performing arts in der Türkei zu evaluieren, bestehende Diskurse (zum Beispiel im Festival iDANS) und praktische Erfahrungen in Workshops weiterzuentwickeln sowie den Nexus von Produktion und Kritik in der noch jungen Geschichte des zeitgenössischen Tanzes in der Türkei zu untersuchen.165 Vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Studie zeigt sich in Special Issue das besondere Ineinandergreifen von Produktionsweisen, Arbeitsweisen und Ästhetiken: Die Wahrnehmung (aisthesis) einer vermehrten Produktion diskursiver Praktiken führte, vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Unsichtbarkeit dieser künstlerischen Auseinandersetzung in konventionellen Tanzfestivals, zu dem Versuch, ihnen in Form eines diskursgenerierenden performativen Festivals eine Sichtbarkeit und einen Kontext zu geben (Edition Spéciale # Aubervilliers), durch den diese performativen Praktiken in ihrer Besonderheit öffentlich in Austausch miteinander treten können. Aus mehreren künstlerischen Arbeitsweisen heraus wird so ein spezifisches Präsentationsformat, welches durch die (finanzielle) Produktion dieser Praktiken eine inhaltliche, performative Weiterentwicklung ermöglicht, deren Zirkulation (nach Frankreich, Schweden, Serbien, Spanien, in die Türkei) die konkreten Auseinandersetzungen mit einem lokalen Publikum einschließt. 163 | Dieses Laboratorium wurde initiiert von Isin Onol, Marko Milic, Katarina Popovic, Maja Ciric, Ljiljana Tasic, Ana Dubljevic, Malin Elgan, Roger Rossell, Larraitz Torres and Mathilde Chénin. Vgl. Dance Station, Webseite, http://www.dancestation.org/; sowie »Laboratory«, http://specialissue.eu/laboratory und »Choreography of Attention«, http:// specialissue.eu/editions/choreography-of-attention# alle vom 11.6.2013. 164 | Vgl. http://www.specialissue.eu/editions/the-public-office; und The Public Office, Webseite, http://thepublicoffice.se beide vom 11.6.2013. 165 | Vgl http://specialissue.eu/editions/santiye#; sowie die Webseite des seit 2007 bestehenden Tanz- und Performancefestival iDANS in Istanbul: http://www.idans.info/; und den Blog http://idansblog.org/ alle vom 11.6.2013.
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Das Präsentationsformat Special Issue wird des Weiteren jedoch nicht als einmal getesteter Rahmen zum Standard etwa eines jährlichen Festivals gemacht, sondern seine Grundidee zirkuliert international in diversen Formen und Schwerpunktsetzungen. Dabei knüpft es an künstlerische Eigeninitiative an, oft in Kooperation mit vorhandenen Strukturen, und zwar in Ausrichtung auf die jeweiligen kontextuellen Bedürfnisse, die selbst wiederum einen experimentellen Ausdruck suchen für inhaltlich und formell offene, künstlerisch sinnkonstituierende Arbeitsformate. Alice Chauchat beschreibt das Vorgehen wie folgt: »The way we worked together was rooted in the demand to realise a format that didn’t exist in order to give a concrete answer to an abstract problem. It meant agreeing on a common object, recognising it as potent for our field, and at the same time discarding the first format that had been proposed for its realisation (the three-day showcase) in order to try out other forms. This way, it was more or less impossible to repeat something we already knew. Trying and experimenting was more important than success or confirmation.«166
Im Interview mit Bettina Földesi weist Blanca Calvo, die gemeinsam mit Ion Munduate das Projekt Mugatxoan in San Sebastián leitete und im Anschluss an ihre Teilnahme an Special Issue # Aubervilliers in dieser Funktion die Special Issue # San Sebastián ausrichtete, auf diese recht offene und autonome Formgestaltung der jeweiligen Ausgabe hin: »More than a format, Special Issue was for us an invitation. It was open and a dialogue starting from the question: How does performance produce discourse today? It is for this reason that each guest structure, knowing how Special Issue developed the number zero, could answer this question from their own way of doing and formulate a program. So it was the implicit social and cultural context, in which each frame was inscribed. I mean, there were no rules to fit to a format. All collaborating artists were free to propose their own program. From my point of view, this makes a finding of a very rich diversity, concerning the results of each program. It is this diversity of responses, in which we are interested, because you learn a lot from watching, from practice and from the conceptual resolution of each collaborating artist in their own context. This is the interesting thing of networking.«167
So entwickelt sich eine internationale Plattform der Kooperation mit potenziell strukturbildenden Effekten zwischen sehr unterschiedlichen künstlerischen Arbeitsansätzen, die für jede neue Ausgabe lokale Bedürfnisse wahrnimmt 166 | Alice Chauchat, Interview mit P. Sabisch, AC10PS. 167 | B. Calvo, Interview mit B. Földesi, BC2BF.
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und im Zusammenspiel von performativer Entwicklung, spezifischen Arbeitsweisen, Wahrnehmungsweisen und Formen der Publikumsadressierung neue Kontexte und Diskurse erzeugt. Wie aus einem Festival eine diskurs- und kontextgenerierende europäische Plattform wurde, schildert Alice Chauchat: »By announcing a form that is not yet determined, although it might seem paradoxical, the project of a performed publication allows artists to leave aside, for a moment, the question of medium. For example, the suspension of parameters often understood as constitutive elements of performance, such as co-presence, the visibility of bodies or the determination of a finite temporal framework, makes way to the constitution of custom-made spaces for specific interrogations and affirmations. Indeed, motivations rather than form redefine practice. The very nature of Special Issue demands a constant crossing over different scales. The artists engaged with Special Issue work across countries and form together a transnational community. This community develops a discourse, a set of questions, notions and articulations that feed and constitute it. In the same time these artists live ›somewhere‹ and each one’s political, economic, social, professional and personal context differs greatly depending of the place they inhabit. The public of each issue, with its expectations and concerns, varies as well. The meeting of practices and concerns that are shared on a transnational level with the particularity of each context informs the very nature of the issue that it hosts. This back-and-forth movement between forms and stakes of discourse, between local and transnational engagements is the very matter of the experimentations that Special Issue puts at play. For we are not interested in stabilizing a structure or assuring the permanence of a new frame; we strive to maintain in a state of questioning the possible lives of a discourse that is produced in public.«168
Entscheidend für Special Issue ist die Ausrichtung auf die künstlerische Entwicklung sowie die Wahrnehmung und das Verständnis von künstlerischen Praktiken im Feld von Tanz, Choreografie und Performance, die Herstellung eines spezifischen Rahmens zur Produktion und Entwicklung von künstlerischen Praktiken, der sein eigenes Format reflektiert und sich im Anschluss unter lokalen und selbstbestimmten Vorzeichen differenziert redistribuiert. Während sich ansonsten Künstler/-innen in bestehende Formate einfügen müssen, konnte mit Special Issue ein Rahmen produziert werden, der das Augenmerk auf die künstlerische Auseinandersetzung mit eigenen Fragen, Bedürfnissen und Wünschen zu diskursiven performativen Praktiken legt: 168 | Les Laboratoires d’Aubervilliers, Webseite »Edition Speciale Projet Européen«, http://www.leslaboratoires.org/en/projet/edition-speciale-projet-europeen/editionspeciale-projet-europeen vom 2.4.2013.
Für eine Topologie der Praktiken »Maybe the most important impact of the project was to frame, defend and finance on a larger scale these contemporary forms of performance and discourse production as the main dish, instead of a by-product or side-show activity accompanying more ›conventional‹ productions. Such an attention and support gave artists and structures the capacity to rethink in a radical way, what they want to be doing, freeing them from the usual necessity to adapt to existing frameworks and enabling them instead to invent the frameworks that fit their work.«169
Während in herkömmlichen Produktionsorten also das Präsentationsformat oftmals relativ starr vorgegeben ist (zum Beispiel ein abendfüllendes Programm von 40 bis 90 Minuten Länge) und sich dadurch ganz klar auf die Parameter der Ästhetik, der Arbeitsweise und auch der Produktionsweise auswirkt, sichtete Special Issue aktuelle Praktiken und die damit verbundenen Anliegen von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, um den Rahmen daran auszurichten.»We all strive to maintain this relation through which the frame derives from a practice rather than the opposite.«170 Diese unterschiedliche Ausrichtung auf den künstlerischen Sinnhorizont, auf den diagnostizierten Bedarf einer Entwicklung von diskursiven, performativen Praktiken durch Austausch, Aufführung, gemeinsame Diskussionen verbunden mit der darauffolgenden Weiterentwicklung des Präsentationsformats hin zu mehreren in Europa zirkulierenden Sonderausgaben erklärt, wie Special Issue zu einem anregenden Beispiel diskurs- und kontextgenerierender Praktiken und experimenteller Formate in der internationalen Tanz- und Performancekunst werden konnte. Letztendlich waren allein in dem europäischen Projekt Institutionen aus fünf europäischen Ländern und Künstler/-innen aus 14 Ländern der ganzen Welt involviert (Brasilien, Deutschland, Estland, Frankreich, Italien, Iran, Kroatien, Norwegen, Österreich, Serbien, Schweden, Spanien, Türkei, USA).171
169 | A. Chauchat, Interview mit P. Sabisch, AC8PS. 170 | Les Laboratoires d’Aubervilliers, Webseite, »Edition Spéciale«. 171 | Vgl. Annex 2: Statistik zur Internationalität der Fallstudien, S. 181.
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2.2 Das Festival In-Presentable in Madrid (2003-2012)
Abbildung 2: Programmblatt In-Presentable 2012, Foto: Petra Sabisch In-Presentable ist ein von dem spanischen Tänzer und Choreografen Juan Domínguez Rojo initiiertes internationales Festival, das in zehn Folgejahren, von 2003 bis 2012, in der ehemaligen Bank La Casa Encendida in Madrid stattfand.172 Auftakt für In-Presentable war die Einladung der damaligen Programmkoordinatorin für performing arts in La Casa Encendida, Laura Gutiérrez Tejón, an Domínguez, seine Performance All Good Spies Are My Age (2002) zu zeigen
172 | Zu Juan Domínguez’ Arbeiten vgl. Domínguez, Juan, Webseite, http://juandominguezrojo.com/ vom 3.5.2013; sowie das Interview mit Domínguez, das im Rahmen des Forschungsprojektes Escenas Discursivas von Ana Vujanović and Marta Popivoda (TkH: Walking Theory) zu kritischen Diskursen der zeitgenössischen Performing-Arts-Szene in Madrid am 22.4.2011 durchgeführt wurde: ders., Interview mit TkH/Walking Theory, »Escenas Discursivas«, Madrid, 22.4.2011, http://escenasdiscursivas.tkh-generator. net/2011/04/interview-juan-dominguez/ vom 22.6.2013. Die Webseite des Festivals http://www.in-presentableblog.com/ wurde leider im Juni 2013 vom Netz genommen. In Bezug auf den Spielort von In-Presentable, der ehemaligen spanischen Bank La Casa Encendida, sei hier auf die besondere Geschichte der spanischen cajas verwiesen, welche vor der Bankenkrise und dem Untergang der Caja Madrid, im sogenannten Obra Social, verpflichtet waren, 40 Prozent des Einkommens in Soziales, Erziehung, Kultur und Umwelt zu investieren, vgl. dazu J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD26PS; sowie das derzeitige Veranstaltungsprogramm, nach Umwandlung der Bank in eine Stiftung: La Casa Encendida, Webseite, http://www.lacasaencendida.es vom 22.6.2013.
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und diese Arbeit mit einem einwöchigen Programm weiterer experimenteller Praktiken zu kontextualisieren.173 Vor diesem Hintergrund entschied sich Domínguez zunächst, das Projekt P5 einzuladen; ein Projekt von fünf Künstlerinnen und Künstlern mit Tanzhintergrund, welche in regelmäßigen Treffen einen Austausch über ihre jeweiligen Arbeitsprozesse hergestellt hatten und sich mit dem Prozess als Resultat im choreografischen Kontext auseinandersetzten.174 2003 fand so, unter dem Namen Procesos (Coreográficos) die erste Ausgabe von In-Presentable statt, begleitet von einem theoretischen Programm des Tanzkritikers und Leiters der Aula de Danza Estrella Casero der Universität in Alcalá, Jaime Conde-Salazar. Aufgrund der spezifischen Situation von zeitgenössischem Tanz, Choreografie und Performance in Madrid setzte Domínguez die zunächst nichtgeplante, freiberufliche kuratorische Arbeit fort, um einen kontinuierlichen Kontext für künstlerische Praktiken in Madrid in Form eines Festivals zu schaffen.175 Die Grundzüge des Programms von In-Presentable kann man als ein durchgehendes Anliegen in einem jährlich sich verändernden bzw. neu befragten Format beschreiben. In einem Artikel im Movement Research Performance Journal schreibt Christiane Bouger: »Since then, every year a different program is conceived. The programs created have no specified content or theme, but a concept that deals with the artistic necessities Domínguez identifies in Madrid and abroad. Even though, Juan Domínguez does not consider himself to be a curator, since In-Presentable does not count on budget to cover travel expenses for him to visit festivals in other countries. For this reason, he considers it to be more accurate to think of himself as a programmer. The independence of the European conventional market is another central characteristic of In-Presentable.«176
173 | Die 2002 entstandene Soloperformance All Good Spies Are My Age/Todos los buenos espías tienen mi edad von Juan Domínguez, durchgeführt mit der künstlerischen Assistenz von Cuqui Jerez, wurde koproduziert von Espace Pier Paolo Pasolini in Valenciennes, Frankreich, und La Consejería de Promoción Cultural (La Comunidad de Madrid), mit Unterstützung von Xavier Le Roy, in situ productions. Das Stück war Teil des P5Projektes, welches von der Tanzwerkstatt
(Berlin), Podewil (Berlin), Vooruit (Gante) und Stuk (Leuven) unterstützt wurde. Zur Literatur vgl. u. a. Lepecki, A.: Exhausting Dance, S. 36f.; und Sabisch, P.: Choreographing Relations, S. 209-235. 174 | P5 umfasste Arbeiten von Eva Meyer Keller, Mette Edvardsen, Cuqui Jerez, Alexandra Bachzetzis und Juan Domínguez. Vgl. auch JD1PS. 175 | Ebd. 176 | Bouger, Christiane: »In-Presentable: where Cross-Cultural Artistic Practices Meet in Madrid«, in: Movement Research (Performance Journal 34 (2009)), S. 31f., hier S. 31.
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In In-Presentable macht Domínguez gewissermaßen ein Anliegen zum Programm, indem künstlerische Belange, Notwendigkeiten, Wünsche, Fragen und Diskurse den Ausgangspunkt und Fokus dessen bilden, was im Festival gezeigt wird. In Anknüpfung an einen direkten Dialog mit den Künstlerinnen und Künstlern versuchte In-Presentable insofern, die jeweilige Arbeit zu ermöglichen und zu unterstützen; eine Art von »support policies«, so die spanische Dozentin, Tanzwissenschaftlerin und Mitbegründerin der unabhängigen Forschungsgruppe ARTEA, Isabel de Naverán.177 Gleichfalls war es wesentlich, dieses Verständnis des Ermöglichens künstlerischer Praktiken in ein Verhältnis zum Publikum zu setzen und die Anliegen der Künstler/-innen selbst durch ihre Präsentationen, wie Domínguez beschreibt, für ein Publikum zugänglich zu machen: »I try to be in a constant dialogue with the artist, not only about the production of the work, but about the content, about the research, about where the work fits, about what that work means nowadays and how it can be accessible, about the repercussions of the work… This dialogue was very important. Of course, I also invited people with their finished work, but I tried to be very close to the discourse of the artist. I was inviting artists rather than their works.«178
Entgegen den produktorientierten Einkaufspraktiken herkömmlicher Festivals ging es in diesem Sinne darum, Kontexte auch zwischen künstlerischen Praktiken und dem Publikum zu generieren, einen gemeinschaftlichen Austausch zu fördern und Arbeitsbedingungen sowie Wirkungsweisen zu reflektieren.179 Die spanische Tänzerin und Choreografin Paz Rojo, die, nach langjährigem Arbeitsaufenthalt in Amsterdam an der letzten Ausgabe von In-Presentable teilnahm und als Kuratorin des nachfolgenden Projektes Y si dejamos de ser
177 | Naverán, Isabel de: »Reproducing Before Adulthood. Support Policies at In-Presentable«, in: Domínguez, Juan (Hg.), In-Presentable 03-07, Madrid: La Casa Encendida 2007, S. 63-73, hier S. 67: »This policy is not based on establishing specific procedural models, but on promoting encounters between artists, intellectuals, students, spectators and passers-by.« Vgl. auch J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD8PS: »Considering the festival as a platform that could help.« Zur unabhängigen Forschungsgruppe ARTEA, welche sich aus Künstler/-innen und Forscher/-innen zusammensetzt und sowohl die weitere Erforschung von Kunst zum Ziel hat als auch, ein entsprechend geeignetes Umfeld für Kunst zu schaffen, vgl. ARTEA, Webseite, http://www.arte-a.org vom 15.8.2013. 178 | J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD5PS. Vgl. ebd., JD6PS: »It was more about the artist’s needs and how to make them accessible.« 179 | Vgl. J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD6PS.
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(artistas)…?180 im Rahmen dieser Studie ebenfalls interviewt wurde, spiegelt hierzu: »Throughout these ten years, it [In-Presentable] really built up an audience, and a kind of community of practitioners, performance artists and people from various disciplines I would say. It addressed questions about artistic modes of production. It also facilitated a framework that supported local artists, creating exchanges with contexts from abroad. There was an engagement with experimental practices of various sorts and tools and methodologies that were till then not known by the local scene.«181
Diese Verschiebung des Schwerpunkts vom Produkt zu international wirksamen und vernetzten Praktiken, vom reinen Vertrieb (diffusion) zu einem komplexeren experimentellen und diskursiven Geschehen führte jedoch nicht etwa dazu, dass keine Performances produziert oder gezeigt wurden oder dass das Nichtbeenden eines choreografischen Prozesses selbst zum Ziel wurde. Vielmehr lag der Fokus darauf, ein weiteres Erfahrungsfeld aufzumachen und entsprechend zu produzieren; was Domínguez – aus meiner Perspektive mit verblüffender Einfachheit – hinsichtlich der bestehenden Praktiken einer Mehrzahl konventioneller europäischer Tanzfestivals im Interview erklärt: »[P]ieces are not at all the only format of producing experience in the performing arts«.182 Neben diesem grundsätzlichen Anliegen des Wahrnehmens künstlerischer Fragen und der damit zusammenhängenden differenten Strategie des Festivals führt Domínguez drei wesentliche Parameter bzw. Vektoren für sein kuratorisches Konzept an: erstens das Sichtbarmachen von unterschiedlichen (lokalen und internationalen) Praktiken, die bis dato in Madrid nicht gezeigt wurden; zweitens das Formen von Kontexten und diskursivem Austausch sowie das Unterstützen insbesondere von jüngeren Künstlerinnen und Künstlern aus Madrid (da die älteren vielmals aus Spanien abgewandert waren); und drittens die Bedeutung des Publikums, das Erkunden unterschiedlicher Öffentlichkeiten und die Zugänglichkeit des Programms für diese.183 180 | Zu Y si dejamos de ser (artistas)…? vgl. auch S. 121. 181 | P. Rojo, Interview mit T. Engels, PR2TE. 182 | J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD9PS. 183 | Vgl. ebd., JD1PS. Vgl. hierzu auch Domínguez im Rückblick auf die ersten fünf Jahre, in Domínguez, Juan: »Introduction«, in: ders. (Hg.), In-Presentable 03-07 (2007), S. 9-27, hier S. 15: »Over these five years, the festival’s main activties have focused on: Contextualising and exhibiting small- and medium-format works whose authors bring new tools and possibilities of applying projects to the advancement of understanding and reflection, and who generally have a difficult time entering the market in our country; Creating a space where artists working in different areas (dance, visual arts, performance, theatre, architecture, etc.) can coexist and connect with the intention of creating a critical and
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Paz Rojo beschreibt diesen Ansatz des Sichtbarmachens auch lokaler künstlerischer Praktiken als wesentlich für den Erfolg von In-Presentable: »What In-Presentable did was to gather and give visibility to artists that would otherwise been unknown, invisible and isolated from each other, which is more than enough actually.«184 Die neun sehr unterschiedlichen Folgejahre lösten Domínguez’ Programm eines anderen Festivalformats ein, »that is flexible enough to change constantly, in relation to what we think is needed«185. Zur gemeinsamen Evaluation dieses Bedarfs und zur Verteilung von Verantwortlichkeiten weg von der alleinigen Entscheidungsrolle des Kurators wurde Domínguez von dem Kollektiv El Club unterstützt, bestehend aus Amalia Fernández, Bárbara Bañuelos, Cristina Blanco, Emilio Tomé, Fernando Quesada, Ismeni Espejel, Laura Bañuelos, Maral Kekejian, María Jerez und Tania Arias. Viele der Künstler/-innen von El Club waren in den Anfangsjahren des Festivals selbst unterstützt worden und wirkten so, in sozusagen heterogener Form, aber gemeinsam geteilter Verantwortung, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch mit.186 Beispielhaft seien an dieser Stelle lediglich die letzten Ausgaben erwähnt; so 2009, wo Domínguez das Projekt 6M1L von Xavier Le Roy mit insgesamt 17 beteiligten Künstlerinnen und Künstlern nach Madrid einlud.187 2010 lag generative discourse. Supporting the works of young artists. Establishing workshops that combine the artistic processes of invited artists with those of the participants, while also serving as working references for both. Collaborating with other organisations and festivals that generate projects, encourage exchanges between artists and facilitate resources for creation and promotion. Involving the public in the entire project through seminars and colloquia and encouraging the active participation of spectators/artists in different activities, drawing everyone into the creative processes, thus facilitating an understanding of the new codes and vocabularies and consequently of the contents presented.« 184 | P. Rojo, Interview mit T. Engels, PR6TE. 185 | P. Rojo, Interview mit Tom Engels, JD8PS. 186 | Vgl. z. B. das im Rahmen von Escenas Discursivas geführte Interview mit Kekeijan, Maral: Interview mit TkH/Walking Theory, »Escenas Discursivas«, Madrid, April 2011, http://escenasdiscursivas.tkh-generator.net/2011/04/interview-maral-kekejian/ vom 22.7.2013. 187 | Das Projekt 6M1L (6 Months 1 Location), initiiert von Xavier Le Roy und Bojana Cvejić, fand zwischen Juli und Dezember im Centre Chorégraphique National in Montpellier, Frankreich, statt und umfasste mit den Initiatoren 15 eingeladene Künstler/-innen, wovon acht im Programm ex.e.r.ce waren: Sasa Asentic, Younès Atbane, Eleanor Bauer, Kelly Bond, Juan Domínguez, Luís Miguel Félix, Thiago Granato, Mette Ingvartsen, Gérald Kurdian, Inès Lopez Carrasco, Neto Machado, Chrysa Parkinson, Nicholas Quinn, Eszter Salamon, Jefta van Dinther. Mit kompilierten Beiträgen der Beteiligten beschreibt Eleanor Bauer die spezifische Arbeitsweise dieses Projekts, in dem alle Teilnehmer/-
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der Fokus auf lokalen, spanischen Künstlerinnen und Künstlern; 2011 wurde die Ausnahme einer thematischen Auswahl anhand des Themas »Humor« als politisches, innovatives und Wahrnehmungswerkzeug neu befragt und gestaltgebend für den Rahmen umgesetzt. Die allerletzte Ausgabe von In-Presentable fand im Juni 2012 statt mit dem Prinzip: »100 artists, 10 days«. Während der zehn Tage entwickelte sich hier ein außerordentlicher internationaler Austausch, der sich neben den zahlreichen Veranstaltungen (Ausstellungen, Performances, Diskussionen, lectures) täglich mit künstlerischen Praktiken auseinandersetzte und die für viele Künstler/-innen drängende Frage nach Kontinuität und Entwicklung von Kunst aktiv aufwarf. Das Festival endete mit dem von Hannah Hurtzig ausgeklügelten und hier von Domínguez lizenzierten Format des Schwarzmarktes für nützliches Wissen und Unwissen, welcher in monatelangen vorangegangenen E-Mail-Diskussionen mit den 100 involvierten Künstlerinnen und Künstlern, dem krisengeprägten Gefühl von grundlegenden strukturellen Veränderungen und wenig Zukunftsmöglichkeiten Ausdruck gab: »An encounter at the end of the world as we know it«.188 Wesentlich für die Spannung zwischen lokalen und internationalen Praktiken, aber auch zwischen künstlerischen Arbeiten und Publikumsbezügen, zwischen Arbeitsbedingungen und Formen des Austauschs und der Zusammenarbeit ist sicherlich auch der geschichtliche Hintergrund des zeitgenössischen Tanzes, der Choreografie und der Performance im Spanien des beginnenden 21. Jahrhunderts. Angespielt ist damit auf das erst seit relativ kurzer Zeit postfranquistische Spanien, in dem zeitgenössischer Tanz und Choreografie erst in den achtziger Jahren überhaupt entstand, und zwar nach einer absoluten Zäsur; das heißt ohne Anknüpfungspunkte, ohne bestehende Traditionslinien wieder aufnehmen zu können.189 innen »led one project and participated in at least two others. The working model was designed to challenge the known paradigms in artistic production and education simultaneously. The usual mobility and time efficiency of a performance-making process in the international coproduction scheme was altered by working on several projects at once over an extended period of time in one place.« Bauer, Eleanor: »6M1L/EX.E.R.CE 08«, in: Chauchat, A./Ingvartsen, M. (Hg.), Everybodys Group Self Interviews (2009), S. 34-38, hier S. 34. Vgl. auch das Buch von Ingvartsen, M.: 6 months 1 location. 188 | Zum Konzept und Archiv des Schwarzmarktes vgl. Mobile Academy, »Blackmarket Licence Madrid«, http://www.mobileacademy-berlin.com/englisch/copyleft/madrid_ 2012.html vom 22.7.2013. 189 | J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD1PS: »So, there was no real history of contemporary dance and choreography in Madrid; only flamenco and the tradition folklore of Spain.«
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Domínguez rekurriert auf dieses Nichts und die damit zusammenhängende Isolation Spaniens in Bezug auf die künstlerische Entwicklung des Tanzes und der Choreografie und erzählt, wie – nach einer ersten Generation einiger zeitgenössischer Choreografinnen und Choreografen in den achtziger Jahren, die oftmals abwanderten, weil es kaum wirkliche Möglichkeiten gab, den Beruf in Spanien auszuüben – eine Folgegeneration entstand, die im Anschluss an ihre Ausbildung sozusagen relationslos mit dieser Leere an Strukturen konfrontiert wurde.190 Paz Rojo, die selbst Spanien verließ, reflektiert dieses Erzeugen eines sinnkonstitutiven spezifischen Kontexts sowohl im Hinblick auf die Ausbildungssituation wie auch auf das Publikum von In-Presentable als historisch relevant: »Although it [In-Presentable] was limited to a specific audience, it made sense historically. It makes sense that there was such an audience, because there was not such an audience before anyway. People in Madrid would study at the conservatory or the drama school, where all of these issues were not treated. This context had to be created and in that sense In-Presentable was necessary and relevant to happen.«191
Erst vor diesem historischen Hintergrund lässt sich die Bedeutung von In-Presentable und dem vorausgegangenen, ebenfalls international und zeitgenössisch orientierten Festival Desviaciones wohl ermessen. Desviaciones wurde 1997 von Maria La Ribot und Blanca Calvo gegründet und fünf Jahre lang bis 2001 in Zusammenarbeit mit José A. Sánchez fortgeführt.192 In dem 2007 erschienenen Buch In-Presentable, einer Rückschau auf die ersten vier Jahre des Festivals, skizziert Blanca Calvo die Zielsetzung von Desviaciones als internationale Kontextualisierung und Einführung neuerer Wahrnehmungsformen infolge veränderter, zeitgenössischer Arbeitsweisen:
190 | Vgl. ebd., JD1PS. Vgl. hierzu auch Paz Rojos Perspektive, P. Rojo, Interview mit T. Engels, PR5TE. 191 | P. Rojo, Interview mit T. Engels, PR4TE. 192 | Zu Desviaciones und ihrer zeitgleichen Arbeit in dem zusammen mit Ion Munduate geführten interdisziplinären baskischen Residenz- und Arbeitsprojekt Mugatxoan, vgl. B. Calvo, Interview mit B. Földesi, BC13f.BF; sowie das virtuelle Archiv der szenischen Künste: Artes Escénicas, Webseite und virtuelles Archiv, hier: »Contextos: Desviaciones (Festival)« http://artesescenicas.uclm.es/index.php?sec=conte&id=7 vom 25.8.2013. Der Forscher, Professor und Schriftsteller José A. Sánchez leitete ebenso von 1999 bis 2002 das Festival Situaciones in Cuenca, Spanien, vgl. dazu J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD3PS. Vgl. auch Sánchez, José A./UVI (Hg.): Desviaciones, Madrid: La Inesperada y Cuarta Pared 1999; sowie ders./Conde-Salazar, Jaime (Hg.): Cuerpos sobre blanco, Cuenca: UCLM-Desviaciones/Communidad de Madrid 2003.
Für eine Topologie der Praktiken »Desviaciones was designed with an international focus, primarily because we felt isolated and invisible and we knew that our individual practices were an experience shared by others, although the places and functions in Madrid were all pre-determined. The codes that we proposed were not fully understood, because people did not identify them with dance, and we had to invent a context that would promote a change in the orders of perception.«193
2001 wurde Desviaciones aufgrund mangelnder Subventionierung beendet.194 Nach zwei Jahren Unterbrechung setzte In-Presentable 2003 für die folgenden zehn Jahre neue Vorzeichen und im Juni 2013 initiierte Paz Rojo die erstmalig stattfindende »Serie experimenteller Milieus« unter dem Titel Y si dejamos de ser (artistas)…? (YSDDSA).195 Wenngleich es sich bei allen drei Festivalansätzen um unterschiedliche künstlerische und kuratorische Strategien handelt, ist allen drei Programmen gemeinsam, dass sie von choreografischen Künstlerinnen und Künstlern initiiert und durchgeführt wurden und sich aktiv und erneuernd zu der gesellschaftlichen Situierung von neuerer Tanz- und Performancekunst in Spanien verhalten haben.196 Darüber hinaus lässt sich, so viel kann an dieser Stelle zu193 | Calvo, Blanca: »Nine«, in: Domínguez, J. (Hg.), In-Presentable 03-07 (2007), S. 51-61, hier S. 53. 194 | Zur Finanzierung von In-Presentable durch La Casa Encendida, vgl. J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD3PS sowie ebd., JD22f.PS. 195 | Die Intention von Y si dejamos de ser (artistas)…?, was zu deutsch so viel heißt wie Und wenn wir losließen, (Künstler/-innen) zu sein …? liegt laut Rojo darin, die »speziellen, zeitlichen und strukturellen sowie repräsentationalen Grenzen eines Festivals der szenischen Künste auszuweiten«, Y si dejamos de ser (artistas)…?, Webseite, http:// www.ysidejamosdeserartistas.com/pagina-ejemplo/ vom 12.6.2013 (Webseite mittlerweile diskontinuiert, Übers. P.S.). Zum Vokabular des Titels, vgl. http://www.ysideja mosdeserartistas.com/vocabulatorio/; zum Workshop Vocabulaboratories von Paz Rojo und Manuela Zechner in der Amsterdam School for the Arts 2008, vgl. Doruff, Sher: »A Vocabulary of Doing«, 27.6.2008, http://old.researchcatalogue.net/upload/data/A%20 Vocabulary%20of%20Doing.pdf vom 12.6.2013. Zu Paz Rojos Reflektionen auf das einmalig in dieser Form stattfindende YSDDSA vgl. P. Rojo, Interview mit T. Engels, PR17TE. 196 | Im Interview betont Domínguez die unterschiedliche Mittelausstattung von Desviaciones und In-Presentable (JD3PS) und die damit zusammenhängenden unterschiedlichen künstlerischen Strategien, die er als »einfordernd« und »affirmierend« differenziert. Damit ist für Domínguez aber auch ein Verhältnis zur Kritik angesprochen, demzufolge es nicht genügt, Kritik als Defizitnachweis zu betreiben, sondern als Alternativvorschlag. Vgl. dazu das im Rahmen der Escenas Discursivas durchgeführte Interview mit J. Domínguez: Interview mit TkH.
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mindest für In-Presentable gezeigt werden, das Festival als ganz spezifische Antwort auf die Traditionsbrüche und die damit zusammenhängende Isolierung spanischer Tanzschaffender verstehen, wenn es durch sein kontext- und diskursgenerierendes Programm das Spektrum von Tanz, Choreografie und den artes escénicas neu aufspannt, weiterentwickelt und durch internationale Vernetzung und arbeitsweisenspezifische Kontextualisierungen die Isolierung zu überwinden sucht, ohne dabei die besondere lokale Situation aus den Augen zu verlieren.197 Befragt zur Bedeutung des Festivals hinsichtlich seiner zehnjährigen Kontinuität, unterstreicht Rojo: »In the last festival’s edition he invited many people and I decided to take part. In Madrid’s context it was quite remarkable that an artistic proposal like his could last for such a long time. I must admit that this never had happened before. In-Presentable supported local artists, especially in the first editions. It introduced the relationship between theory and practice and the understanding of critical artistic practices and discourse. I think one of the most relevant things In-Presentable generated was a discursive and artistic research development and experimentation, which at the time was not present in Madrid’s performing arts context.«198
Wenn insofern die Bedeutung und Reichweite von In-Presentable gerade in dem diskursiven, öffnenden, experimentellen Ansatz lag, der inhaltlich und vernetzend Neuland beschrieb und eine forschende Entwicklung für die künstlerischen Praktiken plante, dann wird der Stellenwert des dafür notwendigen Zusammenhangs von Kontinuität und Entwicklung der künstlerischen Praktiken nur zu deutlich.199 Im Interview weist Domínguez wiederholt auf diesen Konnex hin, den er in seiner konstanten Auseinandersetzung mit der Form des Festivals gen Ende seiner Tätigkeit gerne mit einem anderen Format, und zwar einem durchgän197 | Zur inter- bzw. innerdisziplinären Öffnung vgl. ebenfalls P. Rojo, Interview mit T. Engels, PR8TE: »For me it [In-Presentable] belongs to the scheme of other festivals or initiatives in Europe. But in the context of Madrid, of course, it had different resonances such as the impact of certain methodologies that were unknown and the crossings between disciplines, theory, practice, visual arts, choreography and performance were made possible. Until then, the dance and theatre community were completely separated and In-Presentable could broaden up and entangle these disciplines. Juan also stayed in close relationship with his own artistic processes, for example by inviting fellow participants of 6Months1Location to join him in the curatorial team.« 198 | Ebd., PR1TE. 199 | Vgl. hierzu auch die Überlegung, das Festival jedes Jahr anders zu benennen: J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD34f.PS.
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gigen, kontinuierlichen Laboratorium mit konstanter Entwicklungsmöglichkeit und einer anderen Sichtbarkeitsstruktur weiterentwickelt hätte; was letztendlich jedoch nicht möglich war.200 Domínguez machte auf diese Grenzen des Sporadischen, des Eventcharakters eines Festivals aufmerksam: »But for me, the problem lies in the concept of the festival itself. A festival is great, but what happens during the rest of the year? When this knowledge and experience is generating continuity? And when, in a way, this continuity can grow? Festivals have these dynamics: they are goal-oriented, although they can also be trying to give access to other parts of the process. But in the end – even when they offer this openness to the process or other kinds of experience or knowledge that the process can produce – it takes place only in this moment of the festival. That is also what happened with In-Presentable. So, the audience also goes there to consume this in a very sporadic way, I think.« 201
Infolge dieser Hervorhebung eines einzelnen Moments, der eine bestimmte Form der Wahrnehmung von Kunst mitbestimmt, tauchte entsprechend der Plan eines ganzjährlich stattfindenden Arbeitsortes auf, mit einer anderen Sichtbarkeitsverteilung von Experimenten, Vorträgen und künstlerischen Praktiken.202 Eine solche Kontinuität hätte, laut Domínguez, eine Veränderung auch der Gewohnheiten der ästhetischen Auseinandersetzung erzeugen können. In diesem Zusammenhang kritisiert Domínguez mit Erstaunen, dass sich viele Festivals zumeist reaktiv zu bestehenden sozialen Gewohnheiten verhalten, anstatt diese verändern bzw. neu entwerfen zu wollen: »I think festivals follow social patterns more than proposing new ones. A festival should be part of how we contract reality, not affirming how reality is.«203 Insbesondere vor dem Hintergrund der Krise in Spanien, in der durch den Kollaps der kulturell verpflichteten cajas (Banken) Kunst und Kultur (und selbstredend auch andere gesellschaftliche Bereiche) aufs Empfindlichste getroffen wurden und neben unfassbar unsozialen Kürzungsmaßnahmen öffentlicher Gelder die Projektförderung der sogenannten öffentlichen Hand im Bereich Performance durch absolut unerreichbare Auflagen gänzlich unzugänglich wurde; vor dem Hintergrund, dass der gesamte Forschungsetat gestrichen wurde und zum Beispiel die vormals siebenprozentige Umsatzsteuer für Kulturgüter um ein dreifaches angehoben wurde, sodass mittlerweile auch fast alle Programmkinos in Madrid geschlossen wurden –angesichts dieser unglaublichen Wegrationierung von Kunst und Geist ist es alles andere als 200 | Zu Domínguez’ Vorstellung des Labors vgl. ebd., JD8f.PS und JD17PS. 201 | Ebd., JD16PS. 202 | Vgl. ebd., JD67PS. 203 | Ebd., JD17PS.
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Zufall, dass Domínguez die Notwendigkeit eines kontinuierlich geführten Diskurses immer wieder hervorhebt.204 Konsequenterweise war diese drängende Frage des »Was nun?« auch zentraler Schwerpunkt der letzten Ausgabe von In-Presentable, sei es in dem fast wahnsinnigen Versuch, im Vorhinein eine E-Mail-Debatte mit 100 Leuten zu führen, sei es in den zahlreichen Diskussionen mit ebenso vielen Leuten vor Ort, in denen mit ständiger spanisch-englischer Übersetzung zumindest der Versuch unternommen wurde, die unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen künstlerischen Positionen aufzufächern und zu verstehen. Diese Frage war aber nicht nur eine Frage an die Zukunft, sondern sie war zehn Jahre lang eine auf die Zukunft gerichtete Dimension von Domínguez’ kuratorischer Praxis. Und sie spiegelt sich noch im Programm und den Titeln der letzten Ausgabe von In-Presentable wider, wenn Xavier Le Roy nach Project und 6M1L seine Retrospektive zeigt; wenn die zahlreichen Last Minutes205 oftmals zu dieser Frage und zur Diskontinuität der Situation Stellung bezogen wie etwa Amaia Urra, Cuqui Jerez, Ismeni Espejel, Emilio Tomé, Sergi Faustino, Uri Turkenich, Rebecca Stillman und Mårten Spångberg, Dario Facal, Lilia Mestre; wenn Bea Fernández, Silvia Sant Funk, Aimar Pérez Galí und Jorge Dutor Paradigma & Crisis und Cristina Henriquez Materia Cris thematisieren; wenn María Jerez mit vielen Performern und Performerinnen gemeinsam The Movie dreht, das die kontinuierliche Weitergabe des Dialogs mit vielen beteiligten Künstler/-innen praktizierte; wenn Arantxa Martínez, Lola Rubio und Eduard Mont de Palol The Present aufführen, Valentina Desideri So What fragt, Neto Machado sein Stück Agora zeigt; wenn Jorge Alencar das Souvenir thematisiert, Mette Edvardsen ihre ›Bücher‹ in Time has fallen asleep in the afternoon sunshine vorstellt; wenn Isabel de Naverán und Victoria Pérez Royo einen Dialog mit anderen Mitteln performen, Jorge Dutor und Guillem Mont de Palol ihre Performance And why Juan Celda? Globoflexia, Body Painting y Transformismo aufführen; wenn die BADco danach fragt Is There Life On Stage?, Luís Miguel Félix und Sidney Leonie den War of Fictions anzetteln, während Eleanor Bauer in ihrem gleichnamigen Solo von 2005 das zeitgenössische Künstlerprofil als »postfordistische Kunst-Prostituierte« darstellt und – neben vielen
204 | Ebd., JD11PS, JD17f.PS und JD63PS. 205 | Im Programm von In-Presentable 2012 hatten viele Präsentationen den Titel Last Minute, was einerseits auf die beständige Eile und das Grad-noch-so-geschafft-Gefühl im performativen Arbeitsprozess verweisen kann, wie es andererseits auch, in einem eher ganz literalen Verständnis, auf die Erfahrung einer »letzten Minute« vor dem Aus der performing arts hinweisen könnte.
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Veranstaltungen, denen ich nicht beiwohnen konnte – Eszter Salamon und Christine De Smedt ihren fulminanten Dance #2 aufführen.206 Auch die Genregrenzen zwischen Choreografie, Tanz, Performance, Film, Radio, diskursiver Praxis, Dialog, Intervention, Schwarzmarkt etc. waren in In-Presentable offen, was viele Arbeiten belegten wie etwa die Pradoführungen von Jaime Conde-Salazar und die Arbeiten von Leo França, Sky lab, und Alejandra Pombo Suárez, Experimentación con una misma, oder auch die öffentlichen Radiosendungen der Emisiones Cacatúa.207 Sicherlich weist die Frage nach der Kontinuität mit einer jeweils unterschiedlich gewichteten Parametrierung der Trias Produktionsmittel, Arbeitsweise und Ästhetik aber längst über Spanien hinaus. Wie kann man in einer solchen Situation überhaupt noch Kunst betreiben?208 Wie können inhaltliche Weiterentwicklungen und kritische Positionierungen stattfinden, gerade auch vor dem Hintergrund von international sehr unterschiedlichen Produktions- und Existenzbedingungen? Welches Zusammenspiel von Wahrnehmung und Darstellung, materiellen Bedingungen und Arbeitsweisen wäre angemessen ob der nunmehr in Spanien offensichtlichen Kargheit der Mittel? Nach Abschluss von In-Presentable führt Domínguez diese Kontinuität und Weiterentwicklung choreografischer diskurs- und kontextgenerierender Praktiken derzeit in der eigenen künstlerischen Arbeit fort, zum Beispiel in der Serie Clean Room (Season 1), aber auch in den Picnic Sessions.209 Im Rückblick auf die zehn Jahre In-Presentable lässt sich jedoch feststellen, wie sehr dieses Festival, einzigartig in seiner Art, zu dieser inhaltlichen Entwicklung einer Kontinuität selbst beigetragen hat. Was an kontinuierlichen Strukturen daraus weiterhin erwachsen wird, bleibt momentan sicherlich noch abzuwarten. Einen ersten Schritt in Richtung Kontinuität hat Paz Rojo gemeinsam mit 206 | Eleanor Bauer in ihrer 2005 entstandenen Debüt-Performance Eleanor!, welche künstlerische Self-Promotion und Distributionsbedingungen des Marktes kritisch und humorvoll hinterfragt und als »A Portrait of the artist as a ›postfordist art prostitute‹« charakterisiert, vgl. Eleanor Bauers’ Webseite, »Eleanor!«, http://www.goodmove.be/ ELEANOR vom 17.5.2013. 207 | Vgl. auch S. 108. 208 | J. Domínguez, Interview mit P. Sabisch, JD40PS und JD43PS. 209 | Zur Idee der Serie in Clean Room, Season 1, im Rahmen von Tanz im August 2012 vgl. http://juandominguezrojo.com/performance/clean-room-4/ vom 17.10.2013; sowie die von Domínguez wöchentlich organisierte Serie Picnic Sessions (La Odisea del Deseo) vom 23.5. bis 11.7.2013 im Centro de Arte Dos de Mayo vgl. http://www.ca2m.org/es/ picnic-sessions vom 27.4.2013 (diskontinuiert). Vgl. hierzu JD63PS.
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einer Gruppe von 30 lokalen Künstlerinnen und Künstlern unternommen, als sie 2013 mit dem experimentellen Rahmen von Y si dejamos de ser (artistas)...? diese Fragen nach diskursiver Kontinuität kollektiv neu aufgriff und in Richtung einer ›undisziplinären‹ Entwicklung der Kunst mit den eigenen Vorstellungen zu einem ›festival as practice‹ verband, erforschte und ausstellte.210
2.3 The Double Lecture Series, Stockholm (28.9.-2.10.2011)
Abbildung 3: MDT-Plakat The Double Lecture Series 2011, Foto: Petra Sabisch
210 | Zum Konzept von YSDDSA vgl. P. Rojo, Interview mit T. Engels, PR13TE; und zum Konzept des ›festival as practice ‹ vgl. ebd., PR33TE.
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The Double Lecture Series ist eine von Mårten Spångberg und Mette Ingvartsen initiierte, fünftägige internationale Veranstaltung, welche vom 28.9. bis zum 2.10.2011 im MDT Stockholm stattfand, und zwar als eine Extraausgabe von Special Issue.211 Als recht unverzügliche Antwort auf die Nullnummer der Special Issue in Aubervilliers griff The Double Lecture Series erneut die Situation diskursiver performativer Praktiken in Tanz und Choreografie auf. Befragt wurde dabei der Stellenwert zeitgenössischer Tanzdiskurse innerhalb der heutigen Wissensgesellschaft sowie die Möglichkeiten und Perspektiven diskursiver und performativer Dispositive. Der Programmtext stellt diese Fragestellung vor: »Has dance and choreography any place in the knowledge society? Are these practices that operate in parallel with so-called cognitive capitalism? Can performative practices produce specific kinds of knowledge or even disrupt established modes of knowledge production and issue alternative forms of experience? Five evenings with related seminar program, where meetings between movement and production of knowledge will be explored in relation to representation and expression. Dance in the first place in respect of production of knowledge in front of, or in conjunction with the spectator, i.e. in and through experience. Five internationally renowned choreographers will present their perspectives on what has been called ›performative discursive dispositives‹, a still weak style that emerged in tandem with phenomena such as artistic research and practice-based choreography.« 212
Das Prinzip der Double Lecture Series, die im Rahmen dieser Studie das kleinste bzw. kürzeste Programm darstellt, bestand darin fünf Künstler/-innen einzuladen, die jeweils wiederum eine andere Person für den zweiten Teil des Abends, die Double Lecture, einluden. »For each evening, the choreographers have invited an autonomous voice that in the form of a lecture will replicate, comment, continue, listen to the performances and speak from their own discipline.«213 Welcher Art also der Bezug zwischen den beiden Lectures war, blieb insofern offen; ebenso wie das, was die Eingeladenen (siehe die Programmübersicht 211 | Unter der Leitung von Danjel Andersson hat sich das seit 1986 bestehende Theater MDT in Stockholm zu einer führenden, koproduzierenden Plattform für zeitgenössische Choreografie und Performance entwickelt, die offen für neue künstlerische Praktiken ist und darüber hinaus in der offenen Politik des Hauses Residenzen anbietet und Vernetzung möglich macht, vgl. MDT, Webseite, http://mdtsthlm.se/ vom 15.4.2012. 212 | MDT, Auszug aus dem Programmtext, http://mdtsthlm.se/artists/the-double-lec ture-series-curated-by-mette-ingvartsen-and-maarte/ vom 17.8.2013. 213 | Ebd.
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unten) unter »Lecture« jeweils verstanden bzw. ausprobieren wollten. Entscheidend war vielmehr die Einladung, sich dem Lecture-Format selbst als Choreografie zu nähern und die Performativität und Bewegungen von diskursiven Parametern zu erkunden. Ergänzt wurde die Double Lecture Series durch tägliche Seminare (unter anderem von dem Berliner Theater- und Kulturwissenschaftler Kai van Eikels, von Julian Reid, Professor für International Relations an der Universität Lappland, Finnland, von Petra Sabisch sowie von Mårten Spångberg). Programmübersicht: The Double Lecture Series 28.9.2011
Xavier Le Roy: Product of Other Circumstances Kai van Eikels: What does Xavier Le Roy make easier for me?
29.9.2011
Christine De Smedt: Untitled 4 – Jonathan Burrows Olav Westphalen: Lecture
30.9.2011
Mårten Spångberg: Spangbergianism Julian Reid: Curious Orange: Paranoid
1.10.2011
Mette Ingvartsen: Thoughts for the Future Reza Negarestani: Skype direct Lecture from Kuala Lumpur
2.10.2011
Eleanor Bauer: Severe Tripping in Context/Space Time Continuum Pierre Rubio: SPELLBINDINGSPELLBREAKING
In einem noch innerhalb des Rahmens der Double Lecture Series durchgeführten Interview mit Mette Ingvartsen erklärt diese ihr künstlerisch-kuratorisches Interesse am Experiment mit dem Rahmen: »Within the lecture-series we were experimenting with what this format of a Double Lecture Series is and, I think, that we are in some sort of second or even third generation of how people approach the idea of lecturing about movement.«214 Befragt daraufhin, warum es ihr wichtig sei, Diskurs zu produzieren, antwortet Ingvartsen: »Well, I think there are several reasons, why this is important. One reason is of course to insist on the discourse production in the community, which is extremely important for the field to go further. But then, in proposing it as a series and as a festival, there is another reason that is about giving visibility to these practices as performative practices and not as something you do next to the real performances. To actually say that this is a form of performance that should be as accepted and normal as any other type of performance. Because even when discourse-performances are shown in other festivals, they are very often shown as an appendix to the main program, like the small thing that is 214 | Mette Ingvartsen im Interview mit Petra Sabisch, 2011, MI21PS_2011.
Für eine Topologie der Praktiken shown in the little theatre, not even a theatre, but in the foyer… Thus, they are not properly understood as works. You could say, that this type of work that has been developed over the last fifteen years, has started to form a sort of movement, where language is used and plays an important role without falling into the trap of being dramatic theatre. And the line between discursive and theatrical is a very delicate line to draw.« 215
Aus der Sicht zeitgenössischer Tanzgeschichtsschreibung ist diese Auseinandersetzung mit diskursiven Praktiken und mit der performativen Erkundung ihrer Wirkungsweisen höchst verständlich, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Tanz immer wieder als nonverbale Bewegungskunst definiert wurde und der Vorwurf des Konzeptuellen, nicht nur in den neunziger Jahren, wie in keiner anderen Kunstsparte quasi einem ontologischen Rausschmiss aus der Zunft gleichkam.216 Eine experimentelle Kunst aber spielt mit den ihr zugeschriebenen Grenzen, hinterfragt sie und verändert sie, und das nicht erst seit Austins performativem Sprechakt, in dem ja die (verkörperten) Konventionen der Bedeutungserzeugung und die Wirkmächtigkeit ihrer (kulturellen) Performanz deutlich wurden. Für die Tanzgeschichte im ausgehenden 20. Jahrhundert markiert hier sicherlich die Lecture-Performance von Xavier Le Roy Product of Circumstances (1999) einen wesentlichen Einschnitt, welche die Darstellungsweisen der Lecture-Performance bis heute prägt.217 Dieser Einschnitt wird nicht zuletzt auch durch Le Roys neue Choreografie Product of Other Circumstances (2009) perspektiviert, die im zeitlichen Abstand von zehn Jahren diese explizite Auseinandersetzung mit den Produktionsbedingungen und der Methode wieder aufnimmt und in der Double Lecture Series in Stockholm gezeigt wurde.218
215 | Ebd., MI15PS_2011. 216 | Vgl. hierzu Sabisch, P.: Choreographing Relations, S. 157-166; und, zum verzögerten Echo dieser Debatte in Schweden, Halla Ólafsdóttir im Interview mit Bettina Földesi, HO40BF: »Not only is the discussion happening twenty years later than in the rest of Europe, but it feels like such a restrictive and uninteresting categorisation. The discussion of ›conceptual choreography‹, which apparently isn’t dance, versus ›dance dance‹, which apparently is dance, is in my opinion quite descriptive of dividing the field into two teams.« Zur breiteren Auseinandersetzung mit dem Konzept in der Kunst vgl. die Konferenz The Art of the Concept, die im Rahmen der Conjuncture-Reihe von Nathan Brown und Petar Milat im Juni 2012 in MaMa Zagreb stattfand: Brown, Nathan/Milat, Petar (Hg.): »The Art of the Concept«, Frakcija 64/65 (2012), S. 6-10 (online unter http://artofconcept. mi2.hr/ vom 22.3.2013). 217 | Vgl. Le Roy, Xavier, Webseite, http://www.xavierleroy.com/ vom 20.7.2013. 218 | Ebd.
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Zur Erinnerung sei hier noch einmal Foucaults Definition für »diskursive Praktiken« angeführt, welche keineswegs nur den sprachlichen Akt, sondern eben die Bedingungen für die Operationen der Äußerungsfunktionen meint: »Lastly, what we have called ›discursive practice‹ can now be defined more precisely. It must not be confused with the expressive operation by which an individual formulates an idea, a desire, an image; nor with the rational activity that may operate in a system of inference; nor with the ›competence‹ of a speaking subject when he constructs grammatical sentences; it is a body of anonymous, historical rules, always determined in the time and space that have defined a given period, and for a given social, economic, geographical, or linguistic area, the conditions of operation of the enunciative function.« 219
Gerade diese Bedingungen sprachlicher Artikulationen aufzuzeigen und mit ihren Konventionen, ihrer Aussage- und Wirkkraft sowie der Gleichzeitigkeit von Sagen und Zeigen bzw. Sprache und Bühnengeschehen zu experimentieren, ist ein Einsatz jener diskursiven Praktiken, um die es in den Double Lecture Series ging. In Ingvartsens Choreografie Thoughts for the Future, die später den Titel Speculations bekam und in Form einer Performance mit der Projektion auf eine zukünftige Performance spielt, verwendet Ingvartsen realitätserzeugende Aussagen, indem sie Situationen beschreibt und teilweise performativ mitvollziehbar macht und das Präsenz der Aussage gleichzeitig auf die Fiktion eines anderen Raums bzw. einer anderen Zeit hin verdoppelt. Auf diese Weise öffnet sich die szenische Gegenwart, indem Abweichungen in der Beschreibung der Szene gegenüber dem realen Bühnengeschehen zur Imagination von anderen Szenen einladen und zur Spekulation auf die Zukunft der Performance werden. »[I]t’s a show that was thought as a preparation for another show, but with the idea of working on it as a public presentation in itself. So, to think of it as another materialization of the ideas that I am working on, for the future, rather than as a work in progress or a less elaborate version of the show to come. What I did was to work a lot on sources and materials that I’m anyway busy with since a while. There’s lots of book references, also references to images from the media, and references to other artworks and so on. The whole performance is built through three different modes of expression: describing, speculating and imagining situations that are not actually there. Most of the situations come from real sources, like a film scene
219 | Foucault, Michel: Archeology of Knowledge, London/New York: Routledge 2002, S. 131.
Für eine Topologie der Praktiken and a book, or, from a concrete place. I try to create a fiction with these preexisting materials.« 220
Der zweite Part der Double Lecture nach Ingvartsens Thoughts for the Future war eine via Skype übertragene Lecture des zeitgenössischen Schriftstellers und Philosophen Reza Negarestani, der unter dem Stichwort »spekulativer Realismus« bekannt wurde, insbesondere mit seiner Theoriefiktion Cyclonopedia.221 Negarestanis wortgewaltige Ausführungen zur Funktion von Universalien heute und seine Theorie zur Natur stellten dabei, für sich betrachtet, eine Choreografie theoretischer Referenzen und Sinnbildungen her, wie sie gleichzeitig auch – in Beziehung gesetzt zu Ingvartsens Choreografie – die Differenzen der jeweiligen szenischen Konzeptionen und Präsentationsformate selbst diskursivierbar machten.222 Genau durch diese Bezugnahme der Double Lecture entstand quasi eine dritte Ebene der Reflexion, welche auf beide Einzelbeiträge sehr spezifisch zurückwirkte und ihr heterogenes Verhältnis diskursiv ausstellte. Ein weiteres Beispiel aus der Double Lecture Series war das zu diesem Zeitpunkt noch als Untitled 4 – Jonathan Burrows titulierte Porträt von Christine De Smedt, welches eins von vier Porträts der Choreografen Jonathan Burrows, Alain Platel, Xavier Le Roy und der Choreografin Eszter Salamon ist. Diese Porträtserie heißt heute Four Choreographic Portraits, wird bevorzugt an einem Abend zusammen aufgeführt und hat jeweils spezifische Titel: I would leave a signature (für Alain Platel), The son of a priest (für das Porträt von Jonathan Burrows), A woman with a diamond (für das von Eszter Salamon) und Self-Reliance (Xavier Le Roys Porträt).223 Im Interview mit Christine De Smedt wird deutlich, inwiefern auch hier eine diskursive Auseinandersetzung mit den sehr unterschiedlichen choreografischen Praktiken und Arbeitsweisen stattfand. War diese Auseinandersetzung ursprünglich im Hinblick auf ein Selbstporträt motiviert, führte sie im weiteren Verlauf dazu, in Interviews mit den Choreografinnen und Choreografen die jeweils persönlichen Arten und Weisen des Denkens als Choreografie (und damit auch als Inszenierung) sichtbar zu machen.
220 | M. Ingvartsen, Interview mit P. Sabisch, MI1PS_2011. 221 | Negarestani, Reza: Cyclonopedia. Complicity with anonymous materials, Melbourne: re.press 2008. 222 | Vgl. M. Ingvartsen, Interview mit P. Sabisch, MI27f.PS_2011. 223 | Vgl. hierzu auch das Buch zur Performance mit Beiträgen von Christine De Smedt, Pieter Van Bogaert, Ana Vujanović und Sarah Vanhee: De Smedt, Christine (Hg.): Four Choreographic Portraits: »I would leave a signature«, »The son of a priest«, »A woman with a diamond« and »Self-Reliance«, Brüssel: Les Ballets C. de la B. 2012.
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Petra Sabisch »For me, Untitled was a research on the relation between choreographic practices, methods and artistic interests which I explored by having a dialogue or a conversation with colleague choreographers. This research questioned the relation with the concept of the personal. What do you consider as personal? What is related to your history or biography and how do you relate your own artistic work to the idea of the personal? Or don’t you do so? This investigation came along with the understanding that the personal is a very blurry concept to use, but it’s also very important, it’s related to this idea of authorship, the identity of a person, the author, and the identity of the work itself. The research started from a statement: ›No‹ to biographic elements in my work.« 224
In ihrer Arbeit zu Jonathan Burrows wendet De Smedt beispielsweise das bei Burrows starke Prinzip des Kontrapunktes auf ihre eigene Diktion von aus dem Interview resultierenden Textfragmenten an, sodass gewissermaßen eine Denkweise zu einem choreografischen Rhythmus verlängert wird. De Smedt dazu: »[…T]he whole research is precisely about the liminal point between the choreography and the personal; how the personal is choreographed and how choreography is individuated in ways of thinking.«225 Interessant ist hier, wie Produktion, Arbeitsweise und Ästhetik zusammenspielen. So erklärt Ingvartsen Überlegungen aus dem Vorfeld der Double Lecture Series, in denen sich die beiden Kuratoren gemeinsam dafür entschieden, ihr künstlerisches Interesse zum Ausgangspunkt des Rahmens zu machen: »When Mårten and I spoke about the Double Lecture Series, they responded to a need of both of us, also in our practice. It was not only about thinking what other people need to see, but also about what WE would actually like to experience as a curatorial form. Eventually we both took part in the Double Lecture Series, which, at a certain point, was of course under discussion, whether or not that is good when the organizers are also taking part in the event. But we decided that this engagement in the material in the making is also a good argument for our participation, since the concerns also come out of our own practices and the practices that we observe around us, with colleagues and friends who are closely connected to that kind of approach. Even though the idea of the whole project was to open up our own approach and to think about this relation between two lectures, for instance, towards the field of theory, or towards other fields (in one case, the second part was done by the visual artist, Olav Westphalen), it was important, on the one hand, to solidify aspects of our own practices, and, on the other hand, to consider how we could actually propose a context that could expand our own practices.« 226 224 | Christine De Smedt im Interview mit Petra Sabisch, CDS5PS. 225 | Ebd., CDS11PS. 226 | M. Ingvartsen, Interview mit P. Sabisch, MI2PS_2013.
Für eine Topologie der Praktiken
Das Rahmenprogramm der Double Lecture wird so zu einer Differenzproduktion, welche die Fragestellungen und Suchbewegungen der eigenen künstlerischen Praxis mit der Produktion anderer Arbeiten in diesem Umfeld verbindet, ein Format erfindet, das ein spezifisches, perspektivenerzeugendes Experimentieren ermöglicht, zu neuen Arbeitsweisen ebenso wie zur Auseinandersetzung einlädt und damit zu einem diskurs- und kontextgenerierenden Programm wird. Christine De Smedt spiegelt eben diese komplexe und sinnkonstitutive Vorgehensweise wider: »Of course, that’s why I think this Double Lecture Series was such a great project. Because it was creating a context, where then, of course in a concentrated way, these formats or these ways of discoursegenerating practices could be shown.«227 Entscheidend ist hier, dass die Double Lecture Series also nicht nur ein von Künstler/-innen initiiertes Event waren, sondern dass sie mit ihrem Format einen Rahmen gestaltet haben, der gleichzeitig für bereits existierende Arbeitsweisen neue Perspektiven aufmachte wie auch dazu herausforderte, mit den eigenen Praktiken neu zu experimentieren. Ingvartsen beschreibt dies auch im Hinblick auf das Ankurbeln konkreter Neuproduktionen: »Sharing is not only happening when we are doing a production for the realization of which we need help or comments from friends, but it is also something that we produce. For instance, among the works that were shown in the Double Lecture Series, some choreographers had actually performances made within the same type of understanding lecture performance or expanded lecture performance, whereas others really made up their propositions for the context. In that sense, the Double Lecture Series was also a way of thinking together about whether this format of lecture-performance properly exists, whether it’s still relevant, whether there is a common understanding or completely different ones and whether that triggers new works«. 228
Sowohl für Ingvartsen wie auch für De Smedt ist dabei der Austausch mit peers für die künstlerische Entwicklung wesentlich, und zwar sowohl diskursiv als auch im ganz konkreten physischen Zusammentreffen und Kreieren eines aktuellen Milieus der Auseinandersetzung.229 227 | C. De Smedt, Interview mit P. Sabisch, CDS21PS. 228 | M. Ingvartsen, Interview mit P. Sabisch, MI3PS_2013. 229 | Zur Bedeutung des nicht allein virtuellen Kontextes siehe C. De Smedt, Interview mit P. Sabisch, CDS23PS: »The context is there, but it’s kind of virtual, but if we do these festivals, as you did the Double Lecture Series, the fact that you physically come together, is also the fact that you can physically think together. Whether it’s reflecting on what you are doing or, on what you should do, or will do, or want to do. And that reflects different, political, cultural issues, with which you are confronted in the work.« Zur Erfahrung einer
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Der Austausch, der mit den Double Lecture Series initiiert wurde, wies insofern über gewöhnliche Festivals weit hinaus, weil er durch seinen spezifischen Rahmen vielmehr eine Art kollaboratives Weiterdenken in situ herausforderte. Damit zusammenhängend zeugt die sinnkonstitutive Dimension der Double Lectures Series in Bezug auf diskursive performative Praktiken aber auch von einer offeneren Arbeitsweise und Adressierung, welche, wie Christine De Smedt unterstreicht, weit über die Bedeutung von Einzelprojekten hinausreicht und von diesen allein wahrscheinlich gar nicht produziert werden könnte: »I think it’s important to think about ways of bringing certain works together. Not as festivals are usually composed and programmed, a series of big shots, besides some more risky or experimental work and some ›younger‹ work. Many festivals are of course a presentation of what is available on the market at that moment. But still differentiation is good. To link different works based on a particular content or format or concern and to allow a discourse to develop in the space between the works, that is interesting. As well for the work as for the viewer. It allows to go beyond the limit of the singular work and produces thoughts that a singular work maybe cannot produce. Through this mode of exchange between the works new perspectives and ideas can develop. In visual arts this is more common and the medium allows for that. With life performances you are confronted with the limitation of time and space. […] The importance is of showing these pieces together to create reflection inbetween and to create opportunities for artists to meet and exchange.« 230
Eine solche spezifische Öffnung hin auf ein Feld heißt, dieses Feld mitzukonstituieren.
Austausch generierenden Umwelt siehe CDS24PS: »So, it’s also a social thing. A social gathering with artistic intention, which I think, produces new thoughts and new developments. You see, this Double Lecture Series, the fact that you have seen Untitled there, that we are doing this interview now… Yes, for me, these context-generating situations, they produce experience, and not only experience of looking at a show, but an experience of an environment, in which exchange can happen on different levels, in many different ways. And I think that this exchange of thoughts and experience is very important, especially in a life that is so individual and locally disconnected.« 230 | Ebd., CDS22PS.
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2.4 Performing Arts Forum (PAF, St. Erme, seit 2005)
Abbildung 4: PAF 2006, Foto: Petra Sabisch Das Performing Arts Forum (PAF) ist ein ehemaliger Frauenkonvent im Nordosten Frankreichs (St. Erme), der 2005 von dem niederländischen Theaterregisseur Jan Ritsema erworben und mit ungefähr 30 eingeladenen Künstler/ -innen sowie Theoretiker/-innen als ein offenes, von Künstler/-innen geführtes Forum der performing arts ins Leben gerufen wurde.231 Der Konvent umfasst ein Gebäude mit 6400 Quadratmetern, ist umgeben von 1,2 Hektar Park und einem Garten mit fünf Pfauen. In einem jüngst in der österreichen Zeitschrift springerin: Hefte für Gegenwartskunst veröffentlichten Artikel beschreibt Nicolas Siepen, Professor für Bildende Kunst an der Academy of Contemporary Art der Universität Tromsø in Norwegen, das Experiment PAF: »Im Performing Arts Forum (PAF), nicht weit von Paris, hat Ritsema 2005 ein riskantes soziales Experiment gestartet und sein ganzes Hab und Gut mit einem Kollektiv geteilt, das es damals noch gar nicht gab. Ein virtuelles Investment in die Zukunft, ein Derivat in Form eines schönen, aber ausgedienten Konvents. Im Lauf der letzten acht Jahre haben sich das Wagnis und Begehren eines Einzelnen in eine temporäre autonome Zone, eine sich fast komplett selbstorganisierende, unabhängige, internationale und erstaunlich tragfähige Struktur verwandelt, von der man zwar sagen kann, nach welchen Gesetzen sie funktioniert und welche Bedürfnisse sie befriedigt, aber daraus nicht ihre gegen231 | Zur Geschichte der Entstehung von PAF vgl. Jan Ritsema im Interview mit Bettina Földesi, JR1BF.
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Petra Sabisch wärtige und zukünftige soziografische Form ableiten kann. Offensichtlich gibt es in der internationalen Kunstwelt im Allgemeinen und in der Performanceszene im Besonderen ein starkes Bedürfnis nach einem solchen Ort, in dem die üblichen Gesetze des Kunstbetriebs nur bedingt zur Geltung kommen und es sich lohnt, einen Teil des international sauer verdienten Kapitals kollektiv zu investieren. […] Vielmehr verknüpfen sich hier sehr unterschiedliche und widersprüchliche Ansätze zu einem komplexen Arbeitsort, den man erfinden müsste, wenn es ihn nicht schon gäbe und aus dem sich nur widerwillig ein Modell ableiten lässt.« 232
Wie groß dieser von Siepen festgestellte Bedarf nach einer solchen unabhängigen, nichtkunstmarktorientierten Struktur ist, lässt sich anhand eines im Rahmen dieser Studie erstellten statistischen Rückblicks auf die Nutzungsentwicklung in PAF von 2006 bis 2013 nur bestätigen: Über 5000 Personen aus 64 Ländern haben PAF seit 2006 besucht.233 Diese weltweite und über die Jahre stetig wachsende Nachfrage lässt keine Zweifel am Bedarf zu, genauso wie deutlich wird, dass man angesichts dieser Zahlen wohl kaum von nur einer »Szene« sprechen kann. Noch aussagekräftiger erscheinen diese Zahlen jedoch, wenn man in Betracht zieht, dass PAF weder ein Produktionshaus ist noch über Subventionen verfügt und insofern der kostenpflichtige Aufenthalt in PAF inklusive Reisekosten oftmals aus eigener Tasche bestritten wird: »Initiated and run by artists, theoreticians and practitioners themselves, PAF is a usercreated, user-innovative informal institution. Neither a production-house and venue, nor a research-center, it is a platform for everyone who wants to expand possibilities and interests in his/her own working practice.« 234
Worin also besteht diese Struktur? Um welches Experiment geht es hier? Zunächst ist konstitutiv für PAF, dass es von Künstler/-innen, Theoretiker/ -innen und Praktiker/-innen initiiert und betrieben wird und dass es eine Plattform bildet für alle, die sich mit ihren eigenen Arbeitsbedingungen und Prak-
232 | Siepen, Nicolas: »Free Popular Avantgarde. Die ewige Unruhe des Kunst-undPolitik-Zusammenhangs«, in: springerin: Hefte für Gegenwartskunst 2 (2013), S. 48-51, hier S. 49 (online unter: http://www.springerin.at/dyn/heft.php?id=80&pos=0&tex tid=0&lang=de vom 22.6.2013). 233 | Vgl. Annex 2: Statistik zur Internationalität der Fallstudien, S. 181. 234 | PAF, Webseite, Basic Infos, http://www.pa-f.net/basics vom 22.3.2006. Derzeit liegen die Kosten für eine Übernachtung in PAF bei 15 Euro, ein Tarif, der sich bei längerer Laufzeit reduziert und zu Zeiten der großen Meetings mitsamt Verpflegung kalkuliert wird.
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tiken auseinandersetzen wollen.235 Wenngleich der Referenzrahmen für viele Beteiligte anfangs bei Tanz, Choreografie und Performance lag, funktioniert PAF seit jeher genreoffen, und zwar mit stetig expandierenden Zuordnungen und Cross-overs unter den Praktiken.236 Die Webseite von PAF stellt das Selbstverständnis des Forums wie folgt dar: Erstens ist PAF ein Forum für das Produzieren von Wissen in kritischem Austausch und stetiger diskursiver Praxis, zweitens ein Ort für temporäre Autonomie und volle Konzentration auf Arbeit, drittens eine Mittelverfertigungsmaschine zum Entwickeln von Methoden, Werkzeugen und Verlaufsgeschehen von nicht notwendigerweise produktorientierten Praktiken und viertens ein Ort für das Experimentieren mit anderen als den bisher bekannten Modi der Produktion und der Arbeitsorganisationen wie zum Beispiel mit Open-SourceVerfahren.237 Bevor hier im Näheren auf die besonderen Operationsweisen und Funktionsmodi von PAF eingegangen wird, stellt sich jedoch angesichts des weltweiten Einzugsbereichs unmittelbar die Frage danach, wie sich dieser Bedarf und die massive Selbstorganisation eigentlich erklären. Wie kommt es zu diesem Wunsch, PAF aufzusuchen, am Laufen zu halten und immer wieder neu zu gestalten, obwohl es europaweit doch zahlreiche Residenzorte für Künstler/ -innen gibt, die zudem oftmals nicht kostenpflichtig sind? Die belgische Schriftstellerin und Forschungskoordinatorin von a.pass (Advanced Performance and Scenography Studies) in Antwerpen, Elke Van Campenhout, sieht in PAF eine temporäre Antwort auf die »Malaise einer ganzen Generation«: 235 | Vgl. ebd.: PAF »is a place for the professional and not-yet professional practitioners and activists in the field of performing arts, visual art, literature, music, new media and internet, theory and cultural production, and scientists who seek to research and determine their own conditions of work. PAF is for people who can motorize their own artistic production and knowledge production not only responding to the opportunities given by the institutional market.« 236 | Zur zunehmenden Einflussnahme von PAF auch auf die bildende Kunst und zeitgenössische Philosophie und Wissenschaft vgl. Valentina Desideri im Interview mit Tom Engels, VD2TE, VD5TE. Vgl. auch J. Ritsema, Interview mit B. Földesi, JR20BF: »The different art fields are slowly coming closer together. It’s a very nice development that the boundaries between the arts are dissolving. This might also be a reason why PAF can exist, because PAF isn’t only there for dance, although I came from dance. But it has always been there for all the arts, and in addition to that for scientists and media activists as well. We work in the direction of an increasing overlapping of the arts, which is far more interesting.« 237 | PAF, Webseite, »Basic Infos«.
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Petra Sabisch »In a way the self-description above echoes the concerns of the performing arts scene in the past ten years, which has little by little found itself squeezed between governmental compartmentation (through often ill-fitting and politically-motivated subsidy systems) and the seductive call of the enterprise-funded ›creative industries‹, paving the way for an understanding of the artist as either a well-prepared and policy-aware dossier-writer, or a self-proclaimed entrepreneur totally in line with the neo-liberal ethics of self-realisation, mobility and economic common sense. Countless artists have expressed the need and the urgency to escape these corsets of survival by pointing out their toxic by-products: the subsidy system in the well-founded European scene has started to create a way of working and an aesthetic that is not primarily based on artistic choice and necessity, but on the possibilities of touring (and reaching your minimum quota of presentations), networking (getting as many as possible prominent arts centres to back up your project), and formatting (ideally a performance should fit as many venues as possible, not be too costly, and be adaptable to the regular programming strategies of the field). The kind of work that escapes these constraints is often overlooked or doesn’t find its way into the regular programmation.« 238
Dieser Text veranschaulicht nicht nur die Komplexität der Parameter und Kräfte, zwischen denen sich eine künstlerische Praxis aufspannt, sondern er fördert auch eine deutliche Kritik gegenüber den gängigen institutionellen Organisationsformen der choreografischen Kunst zutage, welche künstlerische Produktions-, Arbeits- und Ausdrucksweisen auf die eigenen Profile zuschneiden, passend und nicht als Störfaktor zu den eigenen Funktionsweisen und Strukturen auswählen, marktkompatibel formatieren, mit entsprechenden administrativen Prozeduren und Repäsentationsstrukturen verbinden und damit die künstlerische Arbeit inhaltlich und ästhetisch homogenisieren, ohne sich überhaupt an künstlerischen Entscheidungen, Wünschen oder Ideen jenseits des Produktes auszurichten.239 Wie sehr das einfache Übernehmen von institutionalisierten »Gegebenheiten« aber formierend für die jeweilige künstlerische Arbeitsweise und Ästhetik ist, darauf hat nicht nur Daniel Buren im Hinblick auf die Funktion des Studios hingewiesen.240 Ein zeitgenössisches Beispiel für eine choreografische Neuauflage dieser Kritik an für selbstverständlich erachteten Konventionen bietet etwa die Entscheidung der Choreografinnen Halla Ólafsdóttir und
238 | Van Campenhout, Elke: »Spaces as Tools«, in: sh 2011 (Programmheft Steirischer Herbst vom 23.9.-26.10.2011), S. 87-91, hier S. 88. 239 | Eine interessante Beschreibung von strukturellen Kommunikationsproblemen selbst mit einladenden Institutionen gibt Paz Rojo in ihrem Interview mit Tom Engels, vgl. PR1TE. 240 | Vgl. S. 74, Fn. 83.
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Emma Kim Hagdahl, Kuratorinnen des Reykjavík Dance Festival: A Series of Event 2012, für ihr Tanzfestival erst gar kein Theater anzumieten.241 Obwohl diese Problematik des Einflusses institutionalisierter Konventionen ja spätestens seit den sechziger Jahren bekannt ist, scheint in institutionellen Organisationsformen die Auseinandersetzung mit sinnkonstitutiven Entwicklungen der professionellen Arbeit sowie mit der Lebensrealität von Künstlerinnen und Künstlern im Vergleich zu ihren Produkten oft keine wirklich relevante oder stabile Bezugsgröße der jeweiligen Eigenkonzeption zu bilden (im Gegensatz zur Zuschauerentwicklung, zur Auslastung der Theater, zur eigenen Profilbildung etc.). Genau diese Arbeitsumstände und Lebensrealitäten des nomadenhaften Projektemachens auf Antragsbasis sind aber für viele international agierende Künstler/-innen nicht nur existenziell prägend, sondern auch Bestandteil ihrer eigenen experimentellen künstlerischen Auseinandersetzung, in der die Produktionsmittel und Methoden ins Verhältnis gesetzt werden zu den jeweiligen Arbeiten, ihren modi operandi und ihren modi fingendi. Aus künstlerischer und insbesondere aus choreografischer Perspektive ist insofern das eigeninitiierte Gestalten von anderen Dynamiken und Organisationsformen sowie die Suchbewegung nach neuen, selbstorganisierten Assoziationsformen vielleicht nicht prinzipiell verwunderlich; wohl aber sind die durch solche Verbindungen entstehenden Kontexte, wie Christine De Smedt im Interview veranschaulicht, zumeist virtueller Natur; wie eine Art »mental space« ohne physische Gestalt. Befragt nach der Bedeutung von Kontexten, in denen künstlerische Praktiken miteinander in Austausch treten, antwortet De Smedt:
241 | Siehe hierzu Halla Ólafsdóttir, Interview mit B. Földesi, HO1BF: »As in most cases, our budget was too small for actually creating a festival, but we decided to rethink the ways of distributing the money that we actually had and then connect it to how we wanted to engage with each other and with an audience. For example, we decided not to spend money on renting a theatre. A theatre always has its own conditions: you are not free to come in and out as you want.« Zum Verständnis des Festivals als Choreografie siehe ebenso Emma Kim Hagdahl im Interview mit Bettina Földesi, EKH5BF: »We were interested in choreographing an experience and setting a situation in motion where artists and audience activated and became activated by it at the same time. Calling it choreography is a claim and attempt at expanding ideas and perspectives of choreography relating to organization of bodies in a time space. It was also really an attempt to question the assumptions of aesthetics than an audience might have about how a festival looks like, what a performance looks like, how it starts, how it ends, and so on. We tried to alter this perception and start to reconsider a social situation and rethink the interplays happening through the lens of movement and choreography.«
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Petra Sabisch »The first thing that comes into my mind is, that we are travelling all over the world. Actually, our context is not our neighbourhood. Our context actually is a kind of invisible international scene. Somehow, I think, if we make art these days, and in terms of performance, we live in a virtual space: you are in Berlin; this person is in Vienna; I mean, we are living so much apart, geographically, but actually our mental space, in which we relate to other people in our life, is international and virtual. These festivals, they are also not only context-generating, but I think they allow for a physical meeting, somewhere, in one place, by gathering, by allowing for the physcial meeting of different pieces together, in order to reflect on the practices, to meet and allow exchange to happen but also in order to be part of this community.« 242
Diesen Zusammenhang von der künstlerischen Auseinandersetzung mit Produktionsweisen, der zunehmenden Bedeutung von Austausch und Praktiken und der Notwendigkeit von künstlerisch autark bestimmbaren Räumen beschreibt Van Campenhout im Hinblick auf PAF: »Also, as makers, artists have expressed the need to think of other production systems than the ›typical‹ career model proposed to the artists in the 1980’s. The model of the sole author-artist, inventing his or her own aesthetics, has been replaced by a much more critical and historically-anchored view on how these artists themselves very quickly become commodities in a system that is in constant search for the ›new‹. […] Whereas the practice of the sole self-created artist was largely concerned with the uniqueness of his production, creating his value on the artist market on the basis of scarcity, newness and shock-value, the artists discussed in this text are rather concerned with the practices of sharing, of questioning themselves as the centre of gravity, of relating to other (historical, political, economic, discourse) realities. In these contexts, the practice becomes as important as the outcome, the way of organising the work as important as the work itself, the way of dealing with collaborators a significant part of the trajectory leading up (or not) to a public moment. But for this to become a viable artistic practice, another kind of space has to be created: spaces that are no longer governed by subsidy policies or economic (un)common sense, but by artists themselves. Places that are not under the reign of profiling and networking, not dubbed as subsidiary placeholders for artistic merit, but simply places to work, that take into account the simple but pressing needs of the artists and thinkers concerned.« 243
Vor diesem Hintergrund ist das Experiment PAF nicht nur in seinem Ausmaß, der Kontinuierlichkeit des Engagements und der Veränderlichkeit der Initiativformen beeindruckend, es scheint vielmehr in Bezug auf eine bestimmte Idee 242 | C. De Smedt, Interview mit P. Sabisch, CDS23PS. 243 | Van Campenhout, Elke: »Spaces as Tools«, S. 89f.
Für eine Topologie der Praktiken
und beständige Konkretion der Offenheit weltweit einzig zu sein.244 Valentina Desideri beschreibt diese Einzigartigkeit als Möglichkeit zu ungeplantem Austausch: »There are many places that offer the opportunity to meet, share and exchange, but what’s unique about PAF is that it’s not an institution. Other institutions would maybe offer the same possibility, but you would have to apply for a program with a project in which you plan to exchange. In terms of having the possibility to have unplanned exchange, I think PAF is unique.« 245
An dieser Seltenheit lässt sich jedoch die Schwierigkeit ablesen, mit der sich heutzutage eine kollektive Wunschproduktion im Experiment noch Bahn brechen kann.246 Wie gestaltet sich PAF nun konkret? Was sind die Funktionsweisen dieser »informellen Institution«? Wenn Jan Ritsema die gewünschte Adressierung von PAF zunächst spontan mit »art that thinks« umschrieben hatte, wurde diese Formel schon bald durch drei Regeln präzisiert: »Don’t leave traces. Make it possible for others. The doer decides.«247 Diese in der konkreten Anwendung nicht immer widerspruchsfreien Regeln ermöglichen, im Zusammenspiel mit den drei weiteren Prinzipien der Reversibilität, des Autauschs und des »Verflüssigens« von starr gewordenen Einschätzungen, Gewohnheiten, aber auch Strukturen, einen so verantwort-
244 | J. Ritsema, Interview mit B. Földesi, JR28BF: »I know a lot of artist residencies from Royaumont to Schloss Solitude. I have contacts with organisations, like the Association Centres culturels – Monuments historiques. There are eighty-five European artist residencies in monasteries, in chateaus or in industrial monuments, but they are all these instituted ones where you have to write an application and go through a selection process. So I don’t know a place with the idea of PAF […].« 245 | V. Desideri, Interview mit T. Engels, VD8TE. 246 | Zur Auseinandersetzung von Wunschproduktion und Institution am Beispiel von PAF vgl. Sabisch, Petra: »Zur Choreografie der Organisation: Zeitgenössische künstlerische Praktiken«, in: Hardt, Y./Stern, M. (Hg.), Choreografie und Institution (2011), S. 3552, insbesondere S. 48ff. 247 | J. Ritsema, Interview mit B. Földesi, JR4f.BF. Valentina Desideri ergänzt hierzu im Interview die Tatsache, dass PAF eine »self-sustaining structure« sei, also eine sich selbst tragende Struktur, V. Desideri, Interview mit T. Engels, VD13TE.
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lichen wie spielerischen Denkraum der Auseinandersetzung, den man als offen, dynamisch und veränderbar beschreiben kann.248 Diese offene Veränderbarkeit oder Verflüssigung von Eigentumsgrenzen drückt sich beispielsweise in dem von Valentina Desideri und Jan Ritsema kreierten Fundraisingprojekt Objects Without Property aus, das den Ankauf von 10.000 katalogisierten und in PAF befindlichen Objekten ermöglicht – Beispiel sind etwa ein Teelöffel, ein Dosenverschlussdeckel, ein altes Urinoir oder ein Klavier – welche jedoch allesamt in PAF verbleiben.249 Gerade diese offene Veränderbarkeit der Selbstorganisation ist wichtig, um die eigenen Gewohnheiten und Organisationsstrukturen in der Spanne zwischen privatem Eigentum und einer internationalen Plattform auf ihre Elastizität hin immer wieder neu zu testen und zu befragen.250 Darüber hinaus ist diese veränderliche Offenheit der Organisation jedoch entscheidend in Hinsicht auf jede künstlerische und intellektuelle Entwicklung, weil sie eine undeterminierte Gestaltbarkeit erzeugt, die weder vorab entschieden wurde noch wirklich kontrollierbar ist.251 Mette Ingvartsen thematisiert diesen Zusammen248 | Vgl. Ritsema, Jan: »The gravity of PAF, or how to be fluid«, in: sh 11 (Programmheft Steirischer Herbst, 23.9.-26.10.2011), S. 89f. 249 | V. Desideri, Interview mit T. Engels, VD37-40TE: »We were thinking about how to translate this principle of making property liquid, with PAF as property. The property of the house was too complicated, so then we thought we could stick to it on a symbolic level by selling all the objects in PAF. But then the owners were required to leave the bought object in PAF, so that it could be used by everybody. We took pictures of 10.000 objects, described 10.000 objects and categorised them […] It raised some funds, but there are still so many objects to be sold (laughs). There are a couple of rooms we managed to renovate with that money. But there’s so much more potential left, if you think that there are 10.000 objects and every object costs around ten euros. […] It’s a gesture towards PAF. Because if you bought a spoon, how do you know which spoon is yours? It’s always nice because then when you go to PAF, you might be eating with your spoon. There are a lot of jokes about this.« 250 | Zur Verbindung eines privaten Besitzes und Selbstorganisation vgl. ebd., VD27TE, VD31TE. 251 | Befragt daraufhin, was ein Ende des Experiments PAF für Austausch und Treffen der Freien Szene bedeuten würde, weist Jan Ritsema im Interview auf diese Notwendigkeit der ständigen Weiterentwicklung hin: »Yes [it has a huge impact on how artists can meet]. But in order to make it interesting it has to develop. If PAF would just continue for ten years and not renew itself, it will be over by then. But we also have to keep the principles up all the time, which are not principles that have to be permanent. We can change our principles, we can even do something against them«, J. Ritsema, Interview mit B. Földesi, JR19BF. Und weiter: »Maybe PAF is also a symbol for this direction, that the boundaries are unnecessary – another element of openness here.« Ebd., JR20BF.
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hang von künstlerischer Entwicklung, transformativen Qualitäten und Unvorhersehbarkeit in selbstorganisierten Prozessen: »The uncontrollability of such types of projects, I think that’s a very important aspect of how the art field is developing. It’s important that collective artist organized projects are given a space that is neither about accountability, nor about who’s doing what, but that is more about the needs of the people and how they can be fulfilled by the different strategies that have already been developed. And I think that PAF is another example of this: being initiated in the beginning by just a group of people, it is […] flourishing today. And currently a lot of people from all over refer to it: ›Ah but, I’ve heard about that thing during PAF‹. You know like five years later, it still exists and it’s still going on. I think the transformational qualities that self-organised projects can have, more than institutional projects, are very valuable. Such an unpredictability is very difficult to achieve in institutional structures, precisely because in institutional structures you have accountability and you have the name, who has to sign it. You also have responsibility and budgets that put the pressure in a different direction.« 252
Gerade die räumliche Größe von PAF erlaubt eine solche Organisation, in der Austausch und Entwicklung sowie das Ausprobieren von Projekten, von Formen der Zusammenarbeit möglich sind. So gibt es neben den vielen Zimmern zahlreiche Studios, ein Medienlabor mit einem unschätzbaren Archiv an mitgebrachten DVDs von eigenen Performances und Filmen sowie eine umfangreiche Bibliothek, die weit über den Bereich der performing arts und der Künste hinausreicht. Interessant ist weiterhin, wie diese räumliche Großzügigkeit, verbunden mit der entlegenen Lage von PAF und der sonst kaum existierenden Verbindung von Leben und Arbeiten als kollektiver Erfahrung an einem Ort, Zeit schafft. Wenn die Devise »time is money« längst auch den künstlerischen Alltag reguliert, erscheint PAF als eine unglaublich reiche Oase, weil nicht zuletzt auch durch die kollektive Organisation Zeit zum Arbeiten, Austauschen und Ausprobieren entsteht, ob dies nun die Form von Arbeitssitzungen, Yogastunden, Screenings, Technopraktiken, abendfüllenden Diskussionen, Feedbacksessions oder gemeinsamen Dinners annimmt. Das Gefühl von Zeit zum Ausprobieren und Erkunden jenseits des unmittelbaren Verwertungszusammenhangs und Marktkalküls ist jedoch von unschätzbarem Wert für die Entwicklung künstlerischer und theoretischer Arbeit. Im Interview stellt Jan Ritsema diesen Zusammenhang klar aus: »You have so much time in PAF, that you can try all kinds of things. You can try to do something with someone else you don’t know, or you can try to go for a direction with 252 | M. Ingvartsen, Interview mit P. Sabisch, MI6PS_2013.
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Petra Sabisch an uncertain result in your own work, but you have the time to try. Therefore you dare to face much more problems, instead of escaping them and looking for quick solutions. People dare and have the freedom to try something of which they are not sure about the outcome. You don’t have to calculate as much as you usually have to, when you make a project. Usually, when you enter a working process, you rent a studio for a few hours, you have to bring people together, you have to have results and you have to end the day well, because people leave again. Since people have to work efficiently, they have to think things like: ›I should not say this, I better do not try that, because I am not sure enough.‹ Here you can have a fight, go away for some hours and continue. You can easily go to the studio and work, then stop, maybe take a walk, and re-think what you are doing. There is much more space for real solutions, not short-term solutions, but for finding other ways than the one you thought you would take. When you have a problem, you have the chance to talk with others outside your group, which might also open up your work; or you just hear other people saying something, which helps or interests you. Consequently the work becomes more substantial.« 253
Neben diesen sich in der Arbeit auswirkenden Parametern von Raum und Zeit sind Austausch und Diskurs zentrale Charakteristika von PAF. Von Beginn an lag ein Schwerpunkt von PAF in der Gestaltung selbstorganisierter, spezifischer Formen der Wissensproduktion und experimenteller Weiterentwicklung von Praxis und Theorie des Tuns wie etwa das Spring Meeting, die Summer University und das Winter Update Meeting. Diese Veranstaltungen, oftmals selbst in ihrer Form experimentell (wie etwa die von Mårten Spångberg initiierten Seminarmarathons des Spring Meeting), genießen nicht nur internationale Beachtung, sondern haben crossdisziplinäre Verbindungslinien zwischen Kunst, Philosophie, Ethik, neueren Organisationsstudien, Feminismus, Kulturwissenschaften, Aktivismus, Informatik etc. selbst diskursiv hergestellt und konkret vernetzt. Sie bieten, wie etwa die gleich anfangs initiierte Public School im Ort oder im Jahr 2007 der »call for self-education«, eine Form selbstständig bestimmter Auseinandersetzung und Weiterbildung innerhalb eines präzisen Programms zur Wissensproduktion, die in dieser Freiheit seit Bologna seinesgleichen sucht.254 Valentina Desideri, die selbst längere Zeit in PAF gelebt hat, stellt im Interview detailliert dar, welchen Einfluss PAF auf ihren eigenen Bildungsweg hatte: »First of all, I consider PAF my real education. It’s the place where I met most of the people I work with, the place where I first met all the thinking and reading that has 253 | J. Ritsema, Interview mit B. Földesi, JR15BF. 254 | PAF, Webseite, »Call for Self-Education« (2007), http://www.pa-f.net/program/ call vom 22.8.2013.
Für eine Topologie der Praktiken influenced me. For me it was very clear. I was shocked that nobody else was living there, since we all share some sort of nomadic existence. Maybe I am a bit hyper-social, but being in this place where you can just go and stay is fantastic. It’s a place where it never stops. At that time I had just finished dance education in London, and I didn’t want to make dance pieces because I thought I would just copy-paste everything I learned and perpetuate that pain! I wasn’t sure what I wanted to do, but I was sure I didn’t want to do that. I didn’t want to go and work for companies. At that point, I was living in London, so a dance company job was about working with diagonals, or fall on the floor repeatedly and all these sorts of things. Not very interesting to me. I had seen a little bit of European dance, and I wanted to see and get to know it more. And I could develop professionally in PAF and at the same time learn a lot as a person as well. PAF is like a micro-society, so you really are confronted with yourself and your motivation for doing things all the time. And on top of that, you meet a lot of new people. For me it was an education on all levels. There I found the people that introduced me to certain thinkers, concepts and other collaborations. And I was free to do projects with or without all these people; everything was possible and exciting. Maybe it was a very selfish motivation to live there. It was a fantastic place to be at that moment. It transformed me into something else; during these first years everything was unclear and then slowly it became clearer what I wanted to do.« 255
Selbst im Rückblick auf ihre Zeit als Studentin im Masterstudiengang für »Bildende Kunst« des Sandberg Institute in Amsterdam stellt Desideri fest, dass ihr diese Ausbildung kein europäisches Programm im Bereich Tanz und Choreografie hätte bieten können: »I am pretty sure there’s nothing that I could have got out of an MA program that I wouldn’t have gotten in PAF. All these programs actually go to PAF.«256 Und damit hat Desideri Recht: Von P.A.R.T.S. in Brüssel über ex.e.r.ce in Montpellier bis zum Masterstudiengang »Choreography and Performance« in Gießen sind viele renommierte europäische Tanzausbildungen, aber auch andere Kunstinstitute und wissenschaftliche Projekte von Universitäten längst regelmäßige User von PAF. Seit Beginn ist PAF an der Artikulation und Herstellung von experimentellen, emanzipatorischen und kritischen Formen des Wissens in Kunst und Gesellschaft interessiert sowie daran, den Diskurs und künstlerischen Austausch im Feld zu entwickeln, zu schärfen und immer wieder neu herauszufordern.257 Diese Idee des Diskurses als Auseinandersetzung mit unterschied255 | V. Desideri, Interview mit T. Engels, VD24TE. 256 | Ebd., VD25TE. 257 | Vgl. hierzu Sabisch, Petra: »Die Zone und ihre Shareware: das Performing Arts Forum (PAF)«, in: Maar, Kirsten/Hardt, Yvonne (Hg.), Tanz – Metropolis – Provinz, unter Mit-
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lichen Positionen verhält sich konträr zu einem konsensuell geregelten oder dogmatischen Verständnis von Diskurs: »We think more about politics, philosophy and society in relation to the arts. We don’t want to talk vaguely about art, but rather processually, analytically and critically. In these terms PAF has an influence. We provide a notion of discourse and we keep it alive. In the dance world there has always been a separatist discussion between the intellectuals and the ›dance-dancers‹, which has become much more smoothed out. I think PAF has an influence in these ways, because we’re not an organisation that takes a position or secludes itself from others in the sense of being an intellectual bastion. PAF is very smooth, which makes it more absorbable for other people. Another huge influence PAF has is that people build networks here. Coming and meeting each other is much easier here. People who never thought they would work together do so. If you’re really engaging in PAF, you can make a lot of connections and that can be very profitable.« 258
Wie das Zitat selbst verdeutlicht, sind dabei die Überschneidung von Diskursproduktion, Austausch und Bildung fließend. Entscheidend ist, dass sie auf die Heterogenität von Ausdrucksformen, inhaltlichen Positionen und Ästhetiken ausgerichtet sind und sich darin deutlich vom allgemeinen Kreativitätsjargon unterscheiden. Schon bei dem ersten Treffen in PAF im Dezember 2005 war diese Heterogenität ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung, die zu der Entscheidung führte, dass, sollte die gemeinsame Plattform selbst zur Vereinheitlichung von Ästhetiken führen, das Experiment PAF als gescheitert erklärt werden müsse. Aus heutiger Sicht scheint diese anfängliche Sorge unbegründet, was sicherlich auch auf die vielen Differenzierungen im Diskurs zurückzuführen ist.259 Wie zentral die diskurs-generierende Rolle von PAF ist, schildert Christine De Smedt: »I feel that, for instance, by not going to the […] Spring Meeting or the Summer University in PAF – each time that I don’t go there […] that I miss half of the discourse happening in the scene. Because I’m not physically there, I will never be able to catch up the potential of such a meeting.«260 Eine andere Dimension dieses Diskurses auf Augenhöhe ist ebenfalls das Engagement für gegenseitigen Austausch und die reale Auseinandersetzung mit einem physischen Gegenüber sowie das Kreieren von unterschiedlichen Öffentlichkeiten für solche Zwecke. Wie schon mehrfach in den zitierten Interviewpassagen anklang, gewinnt diese Dimension in Zeiten zunehmender Individualisierung qua nomadenhafter und somit lokal dekonnektierter Produkarbeit von Sabine Kaross (Jahrbuch Tanzforschung Bd. 17), hg. von der Gesellschaft für Tanzforschung, Hamburg: Lit 2007, S. 205-212. 258 | J. Ritsema, Interview mit B. Földesi, JR13BF. 259 | Vgl. V. Desideri, Interview mit T. Engels, VD23TE. 260 | C. De Smedt, Interview mit P. Sabisch, CDS23PS.
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tions- und Existenzweisen an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund beschreibt Jan Ritsema die Idee von PAF als eine Art Refugium, das er in Parallele setzt zur Berghütte als Zufluchtsort für Wanderer: »[I]t is a kind of refuge, comparable to these huts in the mountains for mountain climbers. If things don’t work in your profession, when you have difficult times, you can always go to PAF and re-tank. Without PAF you would be much more alone. So the professional sector is less alone with PAF. This very much works on the level of a mental state. It is not tangible and you don’t know it, but I think this is how it works. The existence of PAF gives some base.« 261
Künstlerische Diskurse, die Kritik marktförmiger Produktions- und Umgangsweisen und die Herausforderungen einer »sozialen Choreografie« überschneiden sich in diesem Punkt. Diesen Aspekt markiert auch Alice Chauchat: »I think free-lance project-hopping activity produces loneliness and dependency on superficial relationships that one needs to multiply and maintain in order to keep constantly as many doors (work opportunitites) open as possible. The conventional company model has been criticised for its hierarchical structure, and since its loss of glamour, artists have continuously strived for possible models of solidarity, commitment and sharing. These attempts are located in the tension between market necessities and human/artistic necessities; PAF is an example, Everybodys another, and there are many more.« 262
Genau diese Art von inhaltlich ausgerichteter und kontextgenerierender Vernetzung plant auch das gerade angelaufene Projekt PERFmts (Performance More Than Special), das versucht, weltweit Veranstaltungshinweise zu irregulären Veranstaltungen, Performances, Symposien oder Praktiken, die von Interesse für ein weites Verständnis der Performance sind, in einer Sprache jenseits des Marketings vorzustellen.263 261 | J. Ritsema, Interview mit B. Földesi, JR13BF. 262 | A. Chauchat, Interview mit P. Sabisch, AC18PS. 263 | V. Desideri, Interview mit T. Engels, VD35TE: »After that project we started to think about PERFmts. We thought it would be nice to have some sort of e-flux newsletter for performing arts. We wanted to create a platform where we can develop a way to talk about the performing arts and add a certain language to it. Since PAF has been a crossing place for so many countries and locations, it would be great if we could update each other on different events that are taking place. It took us many years to develop this. […] The things we announce aren’t part of a regular program of institutions like, let’s say Théâtre de la Ville in Paris; they are events that are more special, that could challenge our understanding of what performance is. So there’s also the possibility for announcing something that’s probably not a performance as performance. I think it’s great to have a
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Vor dem Hintergrund weltweiter Vernetzung, Internationalität und Mobilität fügt Jan Ritsema einen weiteren Aspekt hinzu, wenn er mit Referenz auf das global village für PAF die Anordnung von Internationalität, Stadt und Reisen auf der einen Seite und Lokalität sowie Sesshaftigkeit auf der anderen spontan verkehrt und neuverteilt: »PAF is in the countryside and most people in the arts want to live in a city. But PAF is not a village, it’s an international village. It’s more exciting than when you live in the big city and go to the same bakery or the same pub everyday. One often makes a village out of the city one lives in. Here it changes all the time. New people come who define PAF differently. In principle, it’s very exciting. You don’t travel, but the world travels through PAF to you.« 264
Durch diese wechselnde Zusammensetzung von Leuten und Praktiken bleibt die Identität von PAF im Fluss. Oder, wie Jan Ritsema sagt: »The creation creates itself«.265 Darin zumindest besteht das Experiment PAF.
2.5 sommer.bar (Berlin 2006-2011) Die sommer.bar ist ein von Kerstin Schroth konzipiertes Programm, das von 2006 bis 2011 die zeitgenössische, internationale und lokale Choreografie- und Tanzszene im Berliner August anzog. Angesiedelt im Rahmen des größten Tanzfestivals Deutschlands Tanz im August, für das Schroth zunächst vier Jahre lang als Produzentin gearbeitet hatte, war die sommer.bar gewissermaßen ein Festival im Festival, das in den sechs Jahren nicht nur Künstler/-innen aus 33 Ländern zeigte266, sondern sich bald zu einem nachhaltig wirkenden, offenen und vernetzenden Arbeits- und Austauschort im Berliner Podewil entwickelte.267 tool that lets people know that somebody is organising a symposium. Maybe you’re not able to go there, but at least you get a text whose content is full enough and that gives you the feeling of being informed properly. In that sense it’s not like regular advertising or newsletters. We can situate the context more specifically.« 264 | J. Ritsema, Interview mit B. Földesi, JR34BF. 265 | Ebd.: »I try to make it so that when you have to go home, you cannot easily say what PAF is. That also keeps the openness and it keeps us away from the question of who the ›we‹ or the ›I‹ is. It is more the creation that creates itself. That’s also what’s going on here; that’s what everybody does. Everybody, from the friends in the beginning […] to the newcomers – they all contribute, maintain and change PAF by doing something.« 266 | Zu den statistischen Angaben, vgl. Annex 2: Statistik zur Internationalität der Fallstudien, S. 181. 267 | Der Berliner Tänzer und Choreograf Hermann Heisig, der im Rahmen dieser Studie im Spiegelinterview mit Bettina Földesi auf die sommer.bar zurückschaut, beschreibt die
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Abbildung 5: Umhängetasche der sommer.bar 2011, Foto: Petra Sabisch Im Interview beschreibt Kerstin Schroth den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zum Konzept:
Bedeutung des Podewils aus seiner Sicht: »Ursprünglich war das Podewil mal ein sehr wichtiger Ort, gegen Ende der neunziger Jahre, vor allem auch für eine Reihe von Künstlern wie Xavier Le Roy, Thomas Lehmen, René Pollesch und bildende Künstler und Musiker, die dort viel gemacht haben. Das wurde dann alles eingespart und Podewil war dann eigentlich schon länger tot gewesen, aber zur sommer.bar wurde dieser Spirit immer wieder ein bisschen erweckt«, Hermann Heisig im Interview mit Bettina Földesi, HH2BF. Auf die Geschichte des Podewil, die sehr eng mit der Geschichte des freischaffenden Tanzes, der Kunst und der Musik in Berlin verzahnt ist und Ende des letzten Jahrhunderts Arbeitsort für Choreografen wie zum Beispiel Xavier Le Roy und Thomas Lehmen war, kann an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden. Es sei so viel erwähnt, dass das Podewil heute zum traurigen Symbol geworden ist für eine beispiellose Verdrängung freischaffender Kunstproduktion, wie zuletzt des Tesla. Zur Webseite der heute im Haus ansässigen Kulturprojekte GmbH, vgl. Kulturprojekte, »Geschichte«, http://www.kulturprojekte-berlin. de/ueber-uns/podewil/geschichte-des-hauses.html vom 28.8.2013.
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Petra Sabisch »Als ich 2005 dem Festival Tanz im August das Konzept der sommer.bar vorschlug, hatte ich bereits vier Jahre für das Festival und fünf Jahre in Berlin gearbeitet; genügend Zeit, um die Struktur des Festivals zu analysieren und festzustellen, dass dem Festival ein Zentrum fehlt – ein Ort, an dem Austausch stattfinden kann zwischen den eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern, dem Publikum und der Szene der Stadt. Oft sah man die Künstler/-innen gar nicht, wenn man nicht in ihre Vorstellung ging, da das Festival im Prinzip keinen eigenen Spielort hat, sondern für die Festivalzeit Kollaborationen mit den unterschiedlichen Theatern in der gesamten Stadt eingeht. Ein anderer Aspekt interessierte mich: Warum fliegt man Künstler/-innen aus der ganzen Welt ein zu einem zweiwöchigen Festival in einer tollen Stadt mit einer lebendigen eigenen Tanzszene und setzt keinen Schwerpunkt auf die Interaktion der internationalen Künstler/-innen mit der Berliner Szene? Die Künstler/-innen blieben maximal vier Tage in der Stadt; ankommen, aufbauen, spielen, abreisen, schien mir ein Rhythmus, der Austausch und Kommunikation nur sehr oberflächlich erlaubte.« 268
Gerade im Hinblick auf das für diese Studie relevante Zusammenwirken von Produktionsbedingungen, künstlerischen Arbeitsweisen, Wahrnehmungsmodi und Ästhetiken war die sommer.bar in mehrerlei Hinsicht bedeutsam. Das erste prägende Charakteristikum der sommer.bar bestand darin, sich an den künstlerischen Praktiken auszurichten. Deutlich wurde dies gleich zu Beginn, als die erste sommer.bar 2006 viele Tanzschaffende, Choreograf/-innen und Künstler/-innen zeigte, die sich mit den performativen Aspekten von Konzerten auseinandersetzten. Angefangen mit dem amerikanischen und in Paris ansässigen Choreografen Mark Tompkins, der gemeinsam mit Nuno Rebelo sein Lost and Found zeigte, gab es Konzerte von The Musts sowie das After-SadeKonzert von aisikl und Mårten Spångberg.269 2007 setzte sich diese Auseinandersetzung mit konzertanten Formen der Performance in Arbeiten von Eszter Salamon und Arantxa Martínez: Without you I am nothing fort, in Molly and the Lunchboxes von Paul Gazzola, Molly Haslund und Catherine Hoffmann, in Volume von Vincent Dupont und Thierry Balasse, in Remake von Peter Lenaerts, Eszter Salamon, Ephraim Cielen, Your Van Uffelen und anderen oder aber in dem minimalen, objekterzählerischen Trip in Konzertform The Monster der Pariser Avant-pop-Soloband von Gérald Kurdian (aka This is the hello Monster).270 Bis zum Schluss blieb dieser Aspekt des Konzertes, aus immer wieder anderer Perspektive aufgenommen, eine konstante Dimension der sommer.bar.271 268 | Kerstin Schroth im Interview mit Petra Sabisch, KS1PS. 269 | Vgl. das Programmheft von 2006. 270 | Vgl. das Programmheft 2007-2011. 271 | Vgl. z. B. The Boys in Concert von Pieter Ampe und Guilherme Garrido, 2010, oder Tania Carvalhos’ Mud Lyrical; und Gérald Kurdians Experimental Amateur Choir, 2011.
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Im Interview beschreibt Schroth, wie sie entdeckte, »...dass Choreografen sich nicht zwangsläufig nur mit Choreografie in Form von Bühnenstücken beschäftigen, sondern Brücken schlagen und ihr Interesse und Wissen mit all den anderen performativen, den bildenden und schreibenden Künsten verknüpften. Zudem hat jeder künstlerische Arbeitsprozess seine left-overs, by-products und Themen, die innerhalb des Stücks nicht weiter bearbeitet werden konnten, aber nach wie vor im Raum stehen und in den Köpfen weitergeistern, zumeist Nebenprodukte, für die in einem normalen Festivalkontext/Theateralltag kein Platz zu finden ist. Ich begann mich sehr für diese kleinen Arbeiten zu interessieren, da sie mir einen ganz anderen Einblick in die künstlerische Arbeit erlaubten. Ich hatte den Eindruck, dass sie (kombiniert mit den Bühnenstücken und über herkömmliche Künstlergespräche nach den Vorstellungen hinaus) meinen Blick und mein Wissen der Arbeit eines spezifischen Künstlers vervollständigten. All diese Aspekte im Zusammenhang gesehen weckten mein Interesse und ich entwickelte das Konzept der sommer.bar.« 272
Diese künstlerische Auseinandersetzung mit Konzerten, ihren Aufführungsmodi, ihren kompositorischen Elementen und ihrer Dramaturgie erkundete das Genre, das heißt den Wahrnehmungsrahmen und Erwartungshorizont »Konzert«, der wiederum ein erfrischend neues Licht auf die gängigen Wahrnehmungskonventionen von Performances warf. Neben diesem Beispiel gab es viele andere Arbeiten – zum Beispiel die fast jedes Jahr auf unterschiedliche Weise präsenten by-products von Manon Santkin und Leslie Mannès an der Schnittstelle von Fashion und Performance, die Installation Abstractions von Emilio Tomé, die Videoinstallation Neverland von Andros Zins-Browne 2010 –, deren Form der Präsentation zumeist nicht dem Format klassischer Bühnenperformances entsprach. Genau dieses Moment machte aber die sommer.bar unmittelbar interessant für viele Künstler/-innen, weil die üblichen Konventionen des Zeigens infrage gestellt wurden.273 Eng damit ist der zweite Aspekt verknüpft, der die sommer.bar besonders prägte: Nicht nur wurde von künstlerischen Praktiken ausgehend gedacht, sondern es wurde ein Rahmen geschaffen, in dem das Experiment mit dem Format willkommen war. Schroth bemerkt dazu:
272 | K. Schroth, Interview mit P. Sabisch, KS1PS. 273 | Es sei angemerkt, dass es daneben sehr wohl Performances gab. Erinnert sei hier zum Beispiel an Tove Sahlins Dancing Barefoot, 2009, Roses and Beans, zusammen mit Dag Anderson, 2010, Undertone von Sidney Leoni mit vielen Gästen, 2010, Shichimi Togarashi von Juan Domíngez und Amalia Fernández, 2009, All the way out there von Guillem Mont de Palol und Mette Ingvartsen, 2010, What they are instead of von Jared Gradinger und Angela Schubot, 2010.
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Petra Sabisch »2006 gab es meines Wissen nach sehr wenige Festivals, die alternativen Formaten Raum gegeben haben. Es geht ja nicht nur um das Nachdenken über den klassischen Bühnenraum, sondern um den erweiterten Gedanken, der die Länge der Stücke bis hin zu Zuschauerzahlen betrifft. Ein Stück, das zum Beispiel 20 Minuten lang ist, wird nicht als abendfüllend begriffen, sondern da muss ein Doppelabend draus gemacht werden. Also werden zumeist Stücke unterschiedlicher Künstler/-innen kombiniert; sehr oft sehr pragmatisch und nicht bezogen auf inhaltliche Gesichtspunkte. Ich habe mich immer gefragt, warum man 20 gute Minuten nicht einfach so stehen lassen kann. Ich persönlich gehe oft sehr viel glücklicher nach 20 intensiven Minuten nach Hause als nach 60 halbgaren. Eins-zu-eins-Formate, Stücke für drei Zuschauer/-innen, für sechs Zuschauer/-innen sind eine Seltenheit in Festivals oder Theaterprogrammen, aus rein ökonomischen Gesichtspunkten. Die Stücke können nur von wenigen Menschen gesehen werden, darum zeigt man sie lieber gar nicht, statt ein paar wenigen die Möglichkeit zu geben. Und genau damit macht man einen sehr interessanten Teil künstlerischer Arbeit unsichtbar bzw. fordert die Künstler/-innen indirekt dazu auf, nach den geläufigen, oft rein ökonomischen Gesichtspunkten der Theater und Festivals ihre Stück zu produzieren. Das schließt ein Nachdenken über Formate von vornherein aus, vor allem bei jungen, noch unbekannten Künstlerinnen und Künstlern, bei denen auch immer die Angst mitschwingt, dass das Stück nicht gezeigt wird, wenn es nicht das klassische Bühnenformat bedient oder für eine beschränkte Zahl Zuschauer/-innen produziert wurde. So züchten sich die Festivals und Theater die klassischen Formate. Als junger Künstler macht man am besten Soli, maximal Trios, für einen Bühnenraum für 100 Zuschauer/-innen, maximal 60 Minuten Länge. Als bekannter Künstler kommen dann die großen, langen Stücke für die großen Bühnenräume mit vielen Tänzerinnen und Tänzern (bitte!). […] Insgesamt überwiegen die klassischen Formate in unseren Programmen. Die anderen sind die Exoten und werden oft auch so behandelt.« 274
Wie sich dieses Konzept in der Umsetzung darbot, schildert Hermann Heisig, der selbst seit 2008 mehrfach in der sommer.bar präsent war: »Also die sommer.bar hat auf jeden Fall Freiräume zur Verfügung gestellt und den Künstler/-innen erlaubt, ihre Arbeiten auch einmal anders einzurahmen. Insofern, würde ich sagen, war sie auf jeden Fall auch zeitgenössisch in dem Sinne, dass man nicht nur das Produkt selber als das Kunstwerk begreift, sondern auch die Rahmung des Produktes. Und die sommer.bar hat die Künstler/-innen auf jeden Fall dazu ermutigt, andere Sichtweisen einzunehmen oder mit der Einrahmung ihrer Werke zu experimentieren, was nicht so ein Fokus des Hauptfestivals war, glaube ich. Das war auch so, wenn man an die Begriffe ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹ denkt. Dieses Interesse der sommer.bar für Nebenprodukte kommt sicher auch daher, dass man versucht hat, die Hierarchien ein bisschen 274 | KS4PS.
Für eine Topologie der Praktiken aufzuheben, beispielsweise zwischen Künstler/-in oder Publikum, die etwa ein virtuoses Werk gezeigt bekommen und staunend davor sitzen sollen; oder auch Hierarchien zwischen bekannteren und unbekannteren Künstler/-innen; oder eben andere Präsentationsformate zu ermöglichen. Es ist ja schon so, obwohl sich das auch ein bisschen verändert hat, dass der Markt für Tanz und Performance nach einem bestimmten Muster von Stücken, zum Beispiel nach einer bestimmte Länge, verlangt. Deswegen wird man ja halb-bewusst darauf trainiert, solche Produkte zu produzieren, die dieser Markt eben auch vertreiben kann. Die sommer.bar hat da insofern einen Spielraum hergestellt, indem man eben, im Rahmen ihrer Eröffnung zum Beispiel, entweder eine Performance machen konnte, die sechs oder sieben Stunden gegangen ist, oder eine fünfminütige, die sich 20 Mal wiederholt hat.« 275
Diese Schilderung verdeutlicht, wie sehr Schroths Konzept, das wohlgemerkt in Kombination mit Performances stattfand, auch in der Realität aufging. Neben dieser Reflexion des Formats war drittens der Diskursfaktor ein wesentliches Element der sommer.bar. Ob die Dialog Demonstrationen von Janez Jansa, Olga Pona, Xavier Le Roy, Meg Stuart und Gisèle Vienne oder die Spiele Générique und das Impersonation Game von Everybodys, das im Folgejahr dann auch im Tanz im August im Anschluss an fast alle Performances stattfand; ob Künstlergespräch, Buchpräsentationen, books on the move oder Showings mit Aftertalks: Immer waren Auseinandersetzung und Diskurs ein wesentlicher Bestandteil der sommer.bar.276 Befragt dazu konstatiert Hermann Heisig: »[D]ie sommer.bar war auf jeden Fall einer der Motoren, die für Berlin eine andere Art von Reden über die künstlerischen Produkte angestoßen hat«.277 Mehrfach rekurriert Heisig auf diese längst nicht selbstverständliche Rolle:
275 | Hermann Heisig im Interview mit B. Földesi, HH28BF. Zu den Performances vgl. die Programmhefte 2008, Eröffnungsveranstaltung, 2009 Baden mit Frank Willens, eine Contact-Impro im Schlamm mit Text, 2009, oder auch Just Around the Corner zusammen mit Elpida Orfanidou, 2011. 276 | Vgl. die Programmhefte 2008-2011. Books on the Move ist der mobile, auf Tanz und Bewegung spezialisierte Buchladen von Agnès Benoit, der die Zugänglichkeit von englischen, französischen und deutschen Büchern und DVDs auch über das Internet erleichterte. Gerade künstlerische Bücher oder DVDs, oftmals selbst oder in kleinen Auflagen verlegt, fanden hier ihr Publikum. In Präsenz der tanzkennenden Eignerin war der Stand vielfach Anlass, um sich über neuere Literatur zu informieren oder Diskussionen über die Geschichte des Tanzes zu führen, Books on the Move, Webseite, http://www. booksonthemove.eu/ vom 15.8.2013. 277 | H. Heisig, Interview mit B. Földesi, HH22BF.
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Petra Sabisch » [... D]ie sommer.bar war wichtig für die Szene von zeitgenössischem Tanz und Choreografie. Also denke ich schon, dass es notwendig war und auch immer noch notwendig ist, einen Ort bereitzustellen, wo eine Auseinandersetzung stattfinden kann. Ich meine in dem Sinne, dass es in der sommer.bar einerseits ziemlich viele Gespräche und Diskussionen gab und es andererseits auch ziemlich viele Experimente und Spiele mit Publikumsgesprächen selbst gab. Es gab so etwas wie Konversationsspiele oder Rollenspiele über Aufführungen. Da musste man sich in die Rolle eines anderen Choreografen hineinversetzen und aus der Rolle dieses anderen heraus Fragen aus dem Publikum beantworten. Eines davon war Générique von Everybodys, aber es gab eine ganze Reihe dieser Geschichten und die sommer.bar war dafür ein gutes Pflaster, um damit zu experimentieren. […] Ich bin schon eine ganze Weile in Berlin, war aber zwischendurch mal ein Jahr in Montpellier am Centre Chorégraphique. Da gab es einfach eine ganz andere Form von Diskurs, von Auseinandersetzung über Stücke, als es damals in Berlin der Fall war. Und da denke ich, die Idee von der sommer.bar kam schon auch aus dem Bedürfnis heraus, den Diskurs noch einmal ein bisschen auf ein anderes Level zu bringen.« 278
Was die sommer.bar im Hinblick auf diskursive Eigenschaften prägte, war, dass diese Auseinandersetzung mit aufgeführten Performances oder sonstigen Themen nicht an der Bühnentür Halt machte, sondern ohne Trennlinie zur Bar verlief. Als belebter und beliebter Treffpunkt, der, unbemerkt von vielen Veranstalterinnen und Veranstaltern in dieser Form der Berliner Szene seit Jahren fehlte, entstanden intensive Gespräche und neue Begegnungen. Viele Künstler/-innen kamen oft auch einfach direkt zur Bar, um die Möglichkeit von Austausch auf allen Ebenen in Anspruch zu nehmen. Kerstin Schroth beschreibt den vierten Aspekt, den kontextgenerierenden Charakter der Bar, und wie sich das mit ihrem Ansatz, die künstlerische Situation zu reflektieren, verbindet: »Es ging auch darum, ganz speziell über unsere Szene nachzudenken; die Tanzszene ist eine sehr mobile; wir reisen, um zu arbeiten, fast ständig; wir leben in Berlin, Brüssel, Paris, arbeiten in Rennes, Essen, Zagreb und führen auf in ganz Europa. Wir treffen unsere Kollegen und Freunde selten, außer wenn wir zusammen arbeiten, was einen kontinuierlichen Austausch unmöglich macht. Sich persönlich treffen, sprechen und einen Abend zusammen verbringen, ist Luxus. sommer.bar hat genau diesen Luxus aufgetischt, sich zu treffen jeden Abend, zwei Wochen lang, und dem Sozialen einen großen Stellenwert gegeben. Kunst lebt vom Austausch und der Kommunikation und ist nichts Abgekoppeltes, Verstaubtes und Eingemottetes.« 279 278 | Ebd., HH10BF. Vgl. auch HH3BF. 279 | K. Schroth, Interview mit P. Sabisch, KS6PS. Vgl. auch KS5PS: »Der Bar-Gedanke, der Gedanke des Zelebrierens, des Feierns stand für mich sehr im Vordergrund. Vor allem aber auch, einen Rahmen zu finden, in dem Begegnungen entspannt möglich sind. Ich
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Kontext als Sinnkohäsion des professionellen Feldes sowie als gemeinschaftlicher Austausch mit der Möglichkeit auch koinzidentieller Begegnungen war prägend für die sommer.bar ebenso wie die Parties. Ein fünfter Aspekt, der schon mehrfach in den Interviewpassagen anklang, aber ob seiner Bedeutung nicht nur für die sommer.bar extra erwähnt werden soll, war die Vernetzung von internationaler und lokaler Szene. Auch dieser Gedanke gab dem Festival seine Farbe und Temperatur. Äußerst aufschlussreich in dieser Hinsicht sind Heisigs Einschätzungen der strukturellen Veränderungen der letzten 20 Jahre und der Auswirkungen auf das Feld des Tanzes in Berlin: die Verschiebung eines Verständnisses von Internationalität, demzufolge sich der internationale Charakter von Tanz im August zu Beginn des Festivals tendenziell eher durch den Import von Tanz und Choreografie herstellte, während heute, nicht zuletzt aufgrund günstigerer Luftfahrt und zunehmender Mobilität, die Berliner Szene nicht nur internationalen Zuwachs erfuhr, sondern längst selbst international arbeitet: »Ich glaube, das hat die Rolle von Berlin in den letzten 15 bis 20 Jahren auch sehr verändert. Es ist eine viel internationalere Kunstcommunity in Berlin entstanden, nicht ausschließlich im Bereich von Tanz, aber auch. Es gibt heute viel mehr Tänzer/-innen aus denke, eine Bar ist da der beste Ort für. Ich wollte gerne einen Rahmen schaffen, in dem man sich über die Füße stolpert, einfach ins Gespräch kommen kann nach den Vorstellungen. Die Bar war von mir aber auch als Rahmen gedacht, in einer anderen Atmosphäre über die gesehenen Stücke zu sprechen. Man begegnete dort den Künstlerinnen und Künstlern. Mir wird immer wieder erzählt, dass solche gesetzten Rahmen fehlen. sommer. bar war bekannt in Berlin als Ort. Man konnte was schauen kommen oder sich einfach auf ein Bier treffen und traf immer auf Leute, mit denen man sich über das Gesehene oder noch zu Sehende austauschen konnte. Es gingen einfach alle hin, lokale Künstler/-innen, die internationalen, Veranstalter, Presse, Publikum, so etwas wie ein Familientreffen mit sehr erweitertem Anhang ist da über die Jahre entstanden und so hatte ich mir das auch gedacht. Mir gefallen unvorhersehbare Begegnungen und es war mein Ziel, einen Rahmen zu schaffen, in dem nicht nur die miteinander sprechen, die sich kennen, sondern jeder mit jedem. Mir war es zudem wichtig, ein Bindeglied für die weit verstreuten Veranstaltungsorte für Tanz im August zu schaffen. Viele Künstler/-innen bekam man nie zu Gesicht, selbst als Mitarbeiter, wenn man es nicht zu den Aufführungen schaffte, die Bar sollte das verändern. Ich denke, dass eine solche Bar das Herz des Festivals sein kann und eigentlich ein jedes Festival genau so ein Herz benötigt, um sich in der Stadt und im eigenen Festival zu verankern, um da zu sein, präsent zu sein, sich zu zeigen und mehr anzubieten als Aufführungen. Wir haben es ja mit Menschen zu tun, die in unsere Stadt kommen und etwas zeigen, und schauen nicht gemeinsam einen Film. Es geht also auch im weitesten Sinne um Gemeinschaft, das Bilden von Gemeinschaft, das Zusammensein, zusammen erleben und das Teilen von Erlebtem.«
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Petra Sabisch viel mehr Ländern. Damit ist das Umfeld für zeitgenössischen Tanz in Berlin letztendlich immer heterogener geworden. Das hat auch damit zu tun, dass Berlin damals eigentlich günstig war (jetzt werden die Mieten hier natürlich teurer) und gleichzeitig ein sehr reiches kulturelles Umfeld zu bieten hatte. Das hat die letzten 10 bis 15 Jahre extrem viele Leute hierher gebracht. Würde ich mir jetzt eine Party von Tanz im August im Jahre 1995 vorstellen, wurde da sicher viel mehr Deutsch gesprochen als im Jahr 2010. Auch lag die Rolle von Tanz im August in den achtziger Jahren oder Anfang der neunziger Jahre bestimmt eher in der Tendenz, den zeitgenössischen oder modernen Tanz von woandersher nach Berlin zu bringen. Es ging sicher auch viel darum, die großen Namen aus Belgien, aus den USA oder aus vielen anderen Ländern hierher zu holen, damit man eben ein internationales Tanzfestival hatte, für das man aber die Produktion von Außen nach Berlin einlädt, um die Szene hier zu bereichern. Diese Unterscheidung ist eigentlich immer flüssiger geworden. Und viele Künstler/-innen und Beteiligte am Festival sind vielleicht in der Zwischenzeit auch nach Berlin gezogen. Es gibt also nicht mehr einen so starken Gegensatz zwischen global und lokal und ich glaube, diese Prozesse reflektieren sich in der sommer.bar.«
Die in den letzten Jahren von den Festivalkuratorinnen und -kuratoren von Tanz im August zum Teil explizit formulierte Abgrenzung gegenüber der Berliner Szene, die für viel Unverständnis und Diskussionen innerhalb des freischaffenden Tanzes in Berlin gesorgt hatte, fand so in Schroths Programm Gehör: »Für mich war es immer wichtig, die sommer.bar als Ort des Austausches für internationale Künstler/-innen mit der Berliner Szene zu verstehen, vor allem auch, weil die lokalen Berliner Künstler/-innen im Festival Tanz im August eine eher nebensächliche Rolle spielten und ich es absurd fand, dass ein Festival dieser Größe die sehr bunte und lebendige Berliner Szene einfach außen vor lässt.« 280
Viele Verbindungen wurden geknüpft, neue Allianzen entstanden, und es ist Schroths Verdienst, hier Prozesse unterstützt und initiiert zu haben, welche den künstlerischen Praktiken eine Dimension von Kontinuität und Entwicklung verlieh, die sich vom Shop-and-drop-Modell vieler herkömmlicher Festivals unterschied. Diese Dimension spiegelt auch Heisig, wenn er darstellt, wie die sommer.bar zu einem regelmäßigen, strukturgenerierenden Bezugspunkt wurde, der nicht nur nachhaltig auf die Szene wirkte, sondern auch die Nutzungsgewohnheiten des Publikums (inklusive der Künstler/-innen) veränderte:
280 | Ebd., KS2PS.
Für eine Topologie der Praktiken »Also es ging, wie gesagt, weniger darum, mit dem Festival Tanz im August zu konkurrieren, als es um eine neue Plattform zu ergänzen. Und ich hatte das Gefühl, dass das in den meisten Fällen sehr gut funktioniert hat. Ich meine, das Format hat sicher auch irgendwo seine Grenzen. Es ist manchmal sicher auch wichtig zu sagen, dass eine bestimmte Arbeit, die man machen will, die Präsenz von einer größeren Bühne oder die volle Aufmerksamkeit von einem Festival braucht. Das kann natürlich sein. Aber trotzdem, ich denke, die sommer.bar war so eine Art Inkubator. Damit meine ich, dass viele Ideen, die dort zum ersten Mal ausprobiert worden sind, später in Prozesse von anderen Stücken wieder eingeflossen sind. Insofern war die sommer.bar sicher nicht nur, als sie im Podewil stattgefunden hat, sichtbar oder spürbar, sondern sie hat sicher auch Impulse gegeben, die darüber hinaus sichtbar geworden sind.« 281
Vor dem Hintergrund der extrem schmal budgetierten Ausstattung der sommer.bar, die selbst von Jahr zu Jahr über keinerlei Planungssicherheit verfügte, ist dieses Engagement zur Entwicklung und Kontinuität künstlerischer Praktiken, – der sechste Aspekt für die sommer.bar – bemerkenswert.282 281 | H. Heisig, Interview mit B. Földesi, HH14BF. Vgl. auch HH26BF: »Dass man dann auch als Publikum wusste, da gibt es jeden Tag so eine Art Programm in der sommer.bar, verändert auf jeden Fall die Nutzungsgewohnheiten von einem Festival, würde ich sagen. […] Deswegen hilft natürlich Nachhaltigkeit, im Sinne von einer Wiederholung, auf jeden Fall.« 282 | Das Budget der sommer.bar betrug mit Schwankungen über die sechs Jahre 12.000 bis 15.000 Euro; das persönliche Salär von Schroth für Kuratieren und Durchführung der sommer.bar umfasste 5000 Euro. Zu Kontinuität, Entwicklung und Nachhaltigkeit vgl. K. Schroth, Interview mit P. Sabisch, KS8PS: »Künstlerische Entwicklungsmöglichkeit – Spielraum und Kontinuität sind neben Vertrauen wohl die für mich wichtigsten Begrifflichkeiten in Bezug auf die sommer.bar und meine sonstige Arbeit. Wenn ich mich entscheide, mit einem Künstler zusammenzuarbeiten, dann ist oft natürlich ein gesehenes Stück der Ausschlag oder eine Idee, die ich gehört habe; ein Gespräch, was wir geführt haben. Mich interessiert dann aber nicht diese eine Arbeit des Künstlers, sondern sehr die Entwicklung, was kommt danach, was kam davor. Für mich war es wichtig, auf diese Kontinuität mit einigen Künstlern in der sommer.bar zu bauen, sie immer wieder einzuladen und ihre Entwicklung zu verfolgen; sie immer wieder zu fragen: Was wollt ihr machen in diesem Rahmen? Was habt ihr für Ideen? Ich denke, das ist auch interessant für ein Publikum, so baut man ja letztlich auch eine Sichtbarkeit für einen Künstler beim Publikum. […] Man kann sagen, sommer.bar war ein Ort der Entwicklung. Projekte wurden hier sehr konkret und speziell für die sommer.bar entwickelt. Oft gab es nur eine Idee, einen Gedanken, ein Beiprodukt, einen Wunsch, der dann für die sommer.bar zum Leben entwickelt wurde. In diesem Zusammenhang spielte Vertrauen eine große Rolle. Die meisten Projekte, die ich in der sommer.bar gezeigt habe, hatte ich vorher nie gesehen, sondern nur mit den Künstlern darüber gesprochen. Ich hab sozusagen die Idee eingekauft.«
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Schroths eigener Background als Produzentin, unter anderem von der dänischen Choreografin Mette Ingvartsen, führt zur präzisen Kenntnis der Situation aus Künstlerperspektive. Befragt auf ihre eigene Planungssicherheit als Kuratorin und freie Produzentin antwortet sie, dass sie es als Hauptaufgabe ihrer Arbeit verstehe, diese Planungssicherheit für Künstler/-innen herzustellen. Auf welche Probleme sie bei einer strukturellen Planung immer wieder stößt, skizziert sie selbst: »Das ist nicht einfach und ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig Theater verstehen, dass es nicht nur wichtig ist, Projekte, neue Stücke einer Künstlerin zu unterstützen, sondern auch in die ›Struktur‹ zu investieren. Ich habe bisher kaum ein Theater gefunden, das in eine solche Richtung mit uns mitdenken wollte. Präsentieren ja, Aufbau, Nachhaltigkeit, Planungssicherheit nein. Was ich interessant finde, da es sich ja immer um Gegenüber mit einem festen Job handelt, die wiederum davon ausgehen, dass ich jedes Mal und nicht nur ›projektbezogen‹ antworte, wenn sie etwas von mir bzw. Mette Ingvartsen wollen.« 283
Ein Beispiel für den Fokus der sommer.bar auf die Gesamtheit und Entwicklungsmöglichkeit von künstlerischen Prozessen sind dabei die Residenzen, die Schroth in den letzten Jahren vermehrt und über den eigentlichen Festivalrahmen hinausgehend anbot und welche die eher schlecht als recht bezahlte Sichtbarkeit durch ganz konkrete Arbeits-, Entwicklungs- und Begegnungsmöglichkeiten ergänzte und interessant machte. Sicherlich muss man die Entwicklung von kleinen, besonderen Formaten für ein Festival äußerst kritisch betrachten, insbesondere vor dem generellen Trend, statt der strukturellen Förderung einer qualitativ hochwertigen Arbeit, die ihr Format selbst wählt, den Ausverkauf kleiner, künstlerischer Extraprodukte im Off-Format voranzutreiben. Oftmals wird die Ressourcenknappheit zum einseitigen Argument für die Beschneidung einer ernstzunehmenden künstlerischen Produktion, ohne dass auf der anderen Seite Theaterprofile eingeschränkt oder Festivalbetriebe reduziert würden. Diese einseitige Umverteilung der Lasten macht freischaffende Künstler/-innen oftmals zum Spielball des Bühnenbetriebs, wenn die Wahl von eigener Sichtbarkeit einhergeht mit der Aufgabe selbstbestimmter Arbeitsbedingungen. Die Grenzen zwischen der Initiative, mit dem Vorhandenen etwas möglich zu machen, oder aber die Verschlechterung der Arbeitssituation noch zu forcieren, sind oftmals schwierig zu ziehen und im Einzelfall zu prüfen. Kerstin Schroth war sich dieses Spagats sehr bewusst:
283 | Ebd., KS19PS.
Für eine Topologie der Praktiken »Sechs Jahre mit einem sich nichtverändernden Budget zu arbeiten, aber ein Festival zu kuratieren, das jedes Jahr wuchs und mehr und mehr Publikum anzog, wurde irgendwann wie eine Fessel. Wie erklärt man Künstlern, dass man ihnen nur 250 Euro Gage zahlen kann? Insbesondere wenn man sie dazu noch bittet, bei Freunden zu wohnen? Gleichzeitig möchte man aber ihr Projekt drei Mal zeigen, und dann stellt sich heraus, dass es alle drei Mal komplett überfüllt ist und viele Zuschauer es sogar nicht sehen können. Wie kann man das erklären? Die sommer.bar ist unglaublich gewachsen in den sechs Jahren. […] Irgendwann stand das Budget nicht mehr im Verhältnis zur Größe und zum stetig wachsenden Erfolg der sommer.bar.« 284
Auf eine erneute Anfrage des Kuratorenteams von Tanz im August, die sommer.bar auch 2012 durchzuführen, stellte Schroth moderate Bedingungen zur Aufstockung des künstlerischen Budgets sowie des eigenen Honorars.285 Nach einigem Zaudern und in offensichtlicher Verkennung des eigentlichen Problems wurden diese mit einem lapidaren persönlichen Angebot beantwortet, das sich angesichts der weitreichenden Bedeutung der sommer.bar für den zeitgenössischen Tanz einerseits und der Größenordnung der Förderung von Tanz im August andererseits nicht anders als skandalös ausnimmt. Konsequenterweise lehnt Schroth diesen Vorschlag aus politischen Gründen ab: »Wie schon gesagt, stand das Budget nicht mehr im Verhältnis zur Größe und zum Erfolg der sommer.bar. Tanz im August ist ein sehr gut gefördertes Festival und die sommer. bar war ein sehr lebhafter, sehr wichtiger Bestandteil des Festivals geworden. Es wurde aber von den Festivalkurator/-innen davon ausgegangen, dass ich die Künstler/-innen schon überzeuge, für wenig oder nichts im Rahmen der sommer.bar ihre Arbeiten zu zeigen. 2011 war ein sehr schwieriges Jahr, da mir kurz vor Abschluss des Programms noch 1000 Euro gestrichen wurden, die mir wirklich fehlten, um die Zusagen, die ich gegeben hatte, einzuhalten. Ich bettelte also bei Freunden und unterschiedlichen Institutionen nach ein bisschen Geld, um die 1000 Euro zurückzubekommen. Das war eine absurde Situation, wenn man sich die Größe von Tanz im August vor Augen führt. Ich arbeite für 284 | Ebd., KS20PS. 285 | Ebd., KS21PS: »Als ich dann gefragt wurde, ob ich 2012 noch eine Ausgabe machen möchte, sagte ich: Gerne, aber nur zu folgenden Bedingungen. Ich fragte nach 5000 Euro mehr Budget für die Künstler/-innen (plus die 1000 Euro gestrichenen) und 2000 Euro mehr für mein Honorar. Alles in allem gut begründet; für ein Festival dieser Größe kein Problem. Das Kuratorenteam dachte über meinen Vorschlag eineinhalb Monate nach und entschied sich dann, mir 0 Euro mehr für die Künstler/-innen anzubieten und 500 Euro für mein Honorar. Ich habe abgelehnt. Diesen Schlussstrich fand und finde ich nach wie vor richtig. Es kann einfach nicht sein, dass so über Kontinuität und künstlerisches Schaffen nachgedacht wird.«
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Petra Sabisch eine Choreografin und meine Hauptarbeit besteht darin, bei unseren Gastspielen Gagen gut zu verhandeln, sodass wir davon leben können, und den Theatern immer wieder klar zu machen, dass wir nicht diejenigen sind, die sonst noch ein festes Einkommen haben, dass wir tatsächlich leben von dem, was wir da verdienen. Vor diesem Hintergrund war 2011 für mich ein Jahr, in dem ich mir geschworen habe: So nicht noch mal. Ich kann nicht auf der einen Seite für eine/-n Künstler/-in kämpfen und auf der anderen Seite für meine eigene Veranstaltung Künstler/-innen schlecht oder gar nicht bezahlen und damit spielen, dass sie es für mich tun bzw. für die sommer.bar, um dafür auf der anderen Seite sichtbar zu sein. 2011 war für mich die letzte Ausgabe der sommer.bar.« 286
Unabhängig davon, welche kuratorischen Absichten seitens der Festivalleitung auch anfangs mit der sommer.bar verknüpft waren, fehlte hier jedes professionelle Augenmaß zur Einschätzung der qualitativen Bedeutung und Reichweite der sommer.bar für die lokale und internationale Tanzszene; eine Tatsache, die einer öffentlichen kulturpolitischen Diskussion bedurft hätte, aber wie so oft im Kunstumfeld, im Privaten verstummte. In den wenigen Artikeln, in denen die sommer.bar Erwähnung fand, erwies sich die Berliner Tanzpresse meist bis zum Schluss als kenntnisfrei darüber, dass es sich bei Tanz im August und der sommer.bar um unterschiedliche Konzepte, unterschiedliche Kuratorinnen und Kuratoren und zwei sehr unterschiedlich ausstaffierte Budgets handelte. Vor dem Hintergrund der allgemeinen dokumentarischen Situation des Tanzes sei hinzugefügt, dass schon heute, zwei Jahre später, das gesamte Archiv der sommer.bar wie auch das von Tanz im August nicht mehr online einsehbar sind.287 Eine Übergangssituation? Angesichts dieser Informationslage, die für die ephemere Kunst des Tanzes und der Choreografie schlicht und einfach bedeutet, dem Vergessen anheimzufallen, kann im Rahmen dieser Studie nur auf der Dringlichkeit einer zeitgenössischen Kritik und einer an der Gegenwart ausgerichteten Tanzgeschichtsschreibung insistiert werden. Allerdings kann dies nur der zweite Schritt sein, der auf eine nachhaltige, experimentierfreudige, diskurs- und kontextgenerierende Förderung des freischaffenden Tanzes und der Choreografie folgt.
286 | Ebd., KS21PS. 287 | Vgl. sommer.bar, Webseite, http://www.tanzimaugust.de/2010/seiten/sommer bar.html (diskontinuiert) am 1.9.2013. Ein Teil des Archivs der sommer.bar ist auf der gleichnamigen Facebookseite noch einsehbar, vgl. https://www.facebook.com/pages/ sommerbar/307078842271 vom 30.8.2013.
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3. K onklusion in F orm eines P rolegomenons Ein wesentliches Ergebnis dieser ersten Annäherung und kritischen Sichtung der gegenwärtigen Situation international agierender freischaffender Künstler/-innen im Bereich des Tanzes, der Choreografie und der Performance in Europa besteht, neben dem desaströsen Befund zur sozioökonomischen Lage, im herausgearbeiteten Desiderat eines an der sinnkonstitutiven Komplexität künstlerischer Arbeitsrealitäten ausgerichteten innovativen und zeitgenössischen kulturpolitischen Diskurses. Wenngleich die Bemühungen zur Erstellung europäischer Daten zu sozioökonomischen Rahmenbedingungen von Tanz- und Performanceschaffenden hier einhellig zu begrüßen sind, können sie eine auf professionelle künstlerische Entwicklung zielende sowie am aktuellen und strukturellen Bedarf unterschiedlichster künstlerischer Produktionen ausgerichtete Politik nicht ersetzen. Vor dem Hintergrund der Dringlichkeit dieser Situation führte mich dieser Sachverhalt dazu, das komplexe Zusammenspiel von Produktionsbedingungen, Arbeitsweisen und Ästhetiken im Kontext des internationalen, experimentellen und zeitgenössischen Tanzes und der Choreografie exemplarisch neu zu erheben und in seiner Komplexität darzustellen. Dies geschah anhand einer Analyse von fünf verschiedenen Fallstudien, welche aus dem bewusst eng gesteckten Feld des zeitgenössischen experimentellen und internationalen Tanzes ausgewählt wurden. Das waren die Initiativen von Special Issue in Frankreich und später Europa; das Madrider Festival In-Presentable (2003-2012), die Double Lecture Series (2011) in Stockholm, das Performing Arts Forum in Frankreich (seit 2005) sowie die sommer.bar in Berlin (2006-2011). Dieser Auswahl lag das Anliegen zugrunde, nicht nur einige wenige Performances zu besprechen, sondern eher jene kollektive Dimension künstlerischer Praktiken in den Blick zu bekommen, die sich trotz gegebener Verhältnisse für die sinnkonstitutive, diskurs- und kontextgenerierende Entwicklung von Tanz und Choreografie eingesetzt haben. Des Weiteren war für die Analyse maßgebend, auch die Verschiedenheit der Formen und Formate in Raum und Zeit zu berücksichtigen, welche vom punktuellen Programm und europaweitem Projekt über ein strukturförderndes Forum auf dem Land bis hin zu langjährigen Festivals in europäischen Hauptstädten reichen. Für diese Untersuchung wurden in Mitarbeit von Tom Engels und Bettina Földesi fünfzehn intensive Interviews mit Künstler/-innen aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Island, Niederlanden, Rumänien, Schweden und Spanien durchgeführt. Namentlich haben sich an dieser reichen und sehr zeitintensiven Auseinandersetzung beteiligt: Blanca Calvo, Alice Chauchat, Christine De Smedt, Valentina Desideri, Juan Domínguez,
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Hermann Heisig, Mette Ingvartsen, Emma Kim Hagdahl, Halla Ólafsdóttir, Manuel Pelmus, Jan Ritsema, Cristina Rizzo, Paz Rojo und Kerstin Schroth. Während die Interviews das Spektrum der qualitativen Vielförmigkeit künstlerischer Praktiken im Bereich von Tanz- und Performance zutage förderten, lassen sich die in dem vorliegenden Bericht analysierten Praktiken auch als strukturgenerierende Initiativen und komplexe Antworten auf die gegenwärtige Situation verstehen. Insbesondere vor dem Hintergrund der sich immer kürzer gestaltenden Zeiträume der Projektwirtschaft in der freiberuflich organisierten Tanz- und Performancekunst, in der die Praktiken kaum entstehen, so vergehen, ergibt sich für mich die Notwendigkeit von Folgeprojekten, welche die Situation nicht nur erforschen, sondern eines Tages auch verändern können. Insofern sei der vorliegende Bericht als Prolegomenon und Plädoyer für eine notwendig offene Topologie der Praktiken verstanden, welche in der zeitgenössischen, experimentellen Choreografie- und Performancekunst ihren Ausgangspunkt nimmt, ohne sich deshalb der Möglichkeiten neuer Allianzen und transversaler Quantensprünge zu entheben.
Für eine Topologie der Praktiken
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Inter views und Siglen Alice Chauchat im Interview mit Petra Sabisch, Juni 2013.
ACPS
Blanca Calvo im Interview mit Bettina Földesi, Mai 2013.
BCBF
Christine De Smedt im Interview mit Petra Sabisch, Mai 2013.
CDSPS
Cristina Rizzo im Interview mit Bettina Földesi, Mai 2013.
CRBF
Emma Kim Hagdahl im Interview mit Bettina Földesi, Juni 2013.
EKHBF
Juan Domínguez im Interview mit Petra Sabisch, Mai 2013.
JDPS
Jan Ritsema im Interview mit Bettina Földesi, April 2013.
JRBF
Hermann Heisig im Interview mit Bettina Földesi, Mai 2013.
HHBF
Halla Ólafsdóttir im Interview mit Bettina Földesi, Mai 2013.
HOBF
Kerstin Schroth im Interview mit Petra Sabisch, Mai 2013.
KSPS
Mette Ingvartsen im Interview mit Petra Sabisch, Oktober 2011
MIPS_2011
Mette Ingvartsen im Interview mit Petra Sabisch, Juni 2013
MIPS_2013
Manuel Pelmus im Interview mit Tom Engels, Juni 2013.
MPTE
Paz Rojo im Interview mit Tom Engels, Juli 2013.
PRTE
Valentina Desideri im Interview mit Tom Engels, April 2013.
VDTE
Erklärung zur Zitier weise Alice Chauchat im Interview mit Petra Sabisch, Juni 2013. AC5PS = Antwort 5 von Alice Chauchat. ACPS3 = Frage 3 von Petra Sabisch
Annex Annex 1: Manifest für eine europäische Performancepolitik Annex 2: Statistik zur Internationalität der Fallstudien Annex 3: Leitfadenmatrix zur Codierung der Interviews Annex 4: UNESCO-Recommendation concerning the Status of the Artist (Auszug) – 27.10.1980
Für eine Topologie der Praktiken
Annex 1: Manifest für eine europäische Performancepolitik »Manifest für eine europäische Performance-Politik/ Manifesto for a European Performance Policy Wir sind Europäer Wir sind Bürger Wir sind Arbeiter Wir sind Künstler Wir sind Performer Wir sind unabhängig Abhängig von den verschiedenen kulturellen Umfeldern, in welchen wir arbeiten, können unsere Praktiken mit einer Vielzahl von Terminologien beschrieben werden. Unsere Praktiken können bezeichnet werden als ›Performancekunst‹, ›Live art‹, ›Happenings‹, ›Events‹, ›Körperkunst‹, ›Zeitgenössischer Tanz/Theater‹, ›Experimenteller Tanz‹, ›Neuer Tanz‹, ›Multimedia-Performance‹, ›Site specific‹, ›Körperinstallation‹, ›Physical theatre‹, ›Laboratorium‹, ›Conzeptueller Tanz‹, ›Independance‹, ›Postkolonialer Tanz/Performance‹, ›Street dance‹, ›Urban dance‹, ›Tanztheater‹, ›Tanzperformance‹ – um nur einige wenige zu nennen … Eine derartige Liste von Begriffen repräsentiert nicht nur die Variationsbreite von Disziplinen und Herangehensweisen, die in unseren Praktiken eingebunden werden, sondern sie ist auch symptomatisch für die Problematik des Versuchs, solche heterogenen und in der Entwicklung begriffenen Formen der Performance zu definieren oder zu beschreiben. Jedoch gerät – heute mehr denn je – der Druck kultureller Institutionen und des Kunstmarkts, zeitgenössische Kunstpraktiken zu fixieren und zu kategorisieren, oft in Konflikt mit der fließenden und beweglichen Natur eines Großteils unserer Arbeit, ebenso wie mit ihren Bedürfnissen. Unsere Praktiken sind synonym mit Subventionsprioritäten in Hinblick auf Innovation, Risiko, Hybridität, Publikumsentwicklung, soziale Einbindung, Teilnahme, neue kulturelle Diskurse und kulturelle Vielfalt, kulturelle Unterschiede. Sie bieten neue Sprachen an, artikulieren neue Formen der Subjektivierung und der Präsentation, um mit den kulturellen und sozialen Einflüssen zu spielen, die uns durchdringen, um neue kulturelle Landschaften zu erschaffen.288 Wir sprechen Thematiken der kulturellen Unterschiedlichkeit an. Unsere Praktiken haben sich als eine aussagekräftige Plattform erwiesen, von der aus 288 | Vgl. Manifesto for a European Performance Policy, vgl. z.B. http://www.freiethea ter.at/?page= kulturpolitik&detail=61304&jahr=2002.
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die vorherrschenden postkolonialen Erzählungen und die traditionellen Repräsentationen des ›anderen‹ in Frage gestellt werden. Wir betrachten die Grenzen zwischen Disziplinen, Kategorien und Nationen als fließend, dynamisch und osmotisch. Wir produzieren Arbeit, die Partnerschaften, Netzwerke und Kollaborationen hervorbringt, nationale Grenzen außer Acht lässt und aktiv zu den lokalen, europäischen und transnationalen Kontexten beiträgt. Wir sind uns einer gemeinsamen Furcht vor dem Verlust ›kultureller Identitäten‹ im heutigen europäischen Kontext bewusst, haben aber keine Angst vor der ›Homogenisierung der Kulturen‹: da wir auf transnationaler Ebene arbeiten, entkräften unsere künstlerischen Praktiken dergleichen Konzepte und Logiken. Wir erachten Dialog, Denken, Forschung und Tun als gleichwertige Bestandteile unserer Arbeit. Diese Aktivitäten sind nicht nur die Suchmaschine für unsere Kunst und verwandte Praktiken, sondern auch für unsere Gesellschaften, unsere Kulturen. Wir verlangen innovative künstlerische Strukturen, aber auch einen neuen sozialen Status, der neue Arbeitskonzepte anerkennen würde, welche die Unterscheidung zwischen sogenannten ›produktiven‹ und ›unproduktiven‹ Phasen verändert haben. Wir fordern Anerkennung für unsere professionellen künstlerischen Tätigkeiten, einschließlich jener, die in der Zukunft sichtbar sein werden, und die dem eine Stimme verleihen werden, was noch nicht artikuliert wurde. Diese erhöhte Anerkennung des sozialen Status des Künstlers wird zur Qualität der sozialen Relevanz künstlerischer Aktivitäten beitragen und sie unterstreichen. Das ist der Kern jeder demokratischen Kulturpolitik. Wir wollen, dass die Europäische Gemeinschaft • Künstler ebenso sehr unterstützt wie die Kunst, • in die laufenden Bedürfnisse und das langfristige Wachstum unabhängiger Künstler investiert, • Künstler aktiv unterstützt bei Forschung, Entwicklung und dem laufenden Prozess ihrer Praktiken, und zwar im gleichen Maß wie bei der Hervorbringung und Vorstellung neuer Werke, • die Beziehungen zwischen und über innovative zeitgenössische Praktiken anerkennt und fördert, • die Strategien für interdisziplinäre Dialoge, Kollaborationen und Subventionsinitiativen vereinfacht, • neue Strategien zur Erhöhung des Bewusstseins und der Akzeptanz des Publikums unterstützt,
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• ein wahrhaftes Engagement für Innovation, Risiko und Hybridität zeigt, • eine nennenswertere Anzahl aktiver, flexibler und erfindungsreicher künstlerischer Strukturen und Infrastrukturen aktiv entwickelt, anerkennt und unterstützt, • und sich auf einen Dialog einlässt, um die Bedingungen für eine neue Diskussion hinsichtlich dieser Fragen festzulegen.«289
Annex 2: Statistik zur Internationalität der Fallstudien Special Issue => institutions from 5 countries (France, Serbia, Spain, Sweden, Turkey), => artists from 14 countries (Austria, Brazil, Croatia, Estonia, France, Germany, Italy, Iran, Norway, Serbia, Spain, Sweden, Turkey, United States) in two years In-Presentable => artists from 30 countries all together over the course of 10 years 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
from 4 countries (Germany, Norway, Spain, Switzerland) from 5 countries (France, Italy, Spain, Sweden, United Kingdom) from 11 countries (Argentina, Belgium, Brazil, France, Germany, Hungary, India, Israel, Spain, Switzerland, United Kingdom) from 9 countries (Austria, Brazil, Germany, France, Japan, Spain, Sweden, South Africa, United Kingdom) from 8 countries (Brazil, France, Hungary, Lebanon, Palestine, Spain, United Kingdom, Venezuela) from 8 countries (Brazil, Croatia, Norway, Portugal, Serbia, Spain, Taiwan, United States) from 11 countries (Brazil, Denmark, France, Germany, Hungary, Netherlands, Portugal, Serbia, Spain, United States, Morocco) all from Spain
289 | Dieses Manifest wurde erst unterzeichnet von: Jérôme Bel (Paris, Frankreich), Steven de Belder (Antwerpen, Belgien), Annabelle Hagmann (Paris, Frankreich, und Berlin, Deutschland), Xavier Le Roy (Berlin, Deutschland), Philippe Riéra (Wien, Österreich), Georg Schöllhammer (Wien, Österreich), Sabine Sonnenschein (Wien, Österreich), Oleg Soulimenko (Wien, Österreich, und Moskau, Russland), Christophe Wavelet (Paris, Frankreich).
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from 7 countries (Denmark, France, Germany, Italy, Sweden, Spain, United Kingdom) from 18 countries (Argentina, Belgium, Brazil, Croatia, France, Finland, Germany, Hungary, Italy, Netherlands, Norway, Portugal, Romania, Serbia, Spain, Sweden, Switzerland, United States) Double Lecture Series => artists/lecturers from 8 countries (Belgium, Denmark, France, Germany, Iran, Sweden, United States, United Kingdom) in one year
Performing Arts Forum => artists from 64 countries all together over the course of 7 years 2006 from 20 countries (Australia, Austria, Belgium, Croatia, Denmark, Estonia, France, Germany, India, Lebanon, Netherlands, Norway, Portugal, Serbia, Slovakia, South Korea, Spain, Sweden, United Kingdom, United States) 2007 from 26 countries (Argentina, Austria, Belgium, Brazil, Croatia, Czech Republic, Denmark, Dominican Republic, Estonia, France, Germany, Hungary, India, Italy, Japan, Netherlands, New Zealand, Norway, Portugal, Romania, Serbia, South Korea, Spain, Taiwan, United Kingdom, United States) 2008 from 34 countries (Argentina, Australia, Austria, Belgium, Brazil, Canada, Chili, Croatia, Denmark, Estonia, Finland, France, Germany, Greece, Iceland, India, Ireland, Israel, Italy, Japan, Macedonia, Mexico, Netherlands, Nigeria, Norway, Poland, Serbia, South Korea, Spain, Sweden, Switzerland, Turkey, United Kingdom, United States) 2009 from 37 countries (Argentina, Australia, Austria, Belgium, Bosnia, Brazil, Canada, Colombia, Croatia, Denmark, Estonia, Finland, France, Germany, Greece, Hungary, India, Indonesia, Ireland, Italy, Japan, Morocco, Netherlands, New Zealand, Nigeria, Norway, Paraguay, Poland, Portugal, Russia, Serbia, Slovenia, Spain, Sweden, Switzerland, United Kingdom, United States) 2010 from 42 countries (Argentina, Armenia, Australia, Austria, Belgium, Bolivia, Brazil, Canada, Chili, Croatia, Denmark, Estonia, Finland, France,
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Germany, Greece, Hungary, Iceland, India, Ireland, Israel, Italy, Japan, Mexico, Netherlands, Nicaragua, Norway, Philippines, Poland, Portugal, Romania, Russia, Serbia, Slovakia, South Korea, Spain, Sweden, Switzerland, Turkey, United Kingdom, United States, Uruguay) 2011 from 37 countries (Austria, Belgium, Bolivia, Brazil, Cameroon, Canada, Chili, Croatia, Denmark, Estonia, Finland, France, Germany, Greece, Ireland, Israel, Italy, Lithuania, Mexico, Netherlands, New Zealand, Philippines, Poland, Portugal, Romania, Russia, Slovakia, South Korea, Spain, Sweden, Switzerland, United Kingdom, United States, Uzbekistan) 2012 from 42 countries (Australia, Austria, Belarus, Belgium, Brazil, Canada, Chili, China, Croatia, Denmark, Estonia, Finland, France, Germany, Hungary, Iceland, India, Iran, Ireland, Israel, Italy, Japan, Malaysia, Peru, Lithuania, Mexico, Netherlands, Norway, Portugal, Romania, Russia, Serbia, Singapore, South Africa, South Corea, Spain, Sweden, Switzerland, Tadjikistan, Turkey, United Kingdom, United States)
sommer.bar => artists from 33 countries all together over the course of 6 years 2006 from 11 countries (Australia, Belgium, Brazil, Denmark, France, Germany, Portugal, Slovenia, Sweden, United Kingdom, United States) 2007 from 11 countries (Denmark, Belgium, Croatia, France, Hungary, Netherlands, Poland, Russia, Slovenia, Spain, United States ) 2008 from 12 countries (Australia, Belgium, Brazil, Bulgaria, France, Denmark, Germany, Indonesia, Spain, Sweden, United Kingdom, United States) 2009 from 14 countries (Argentina, Congo, Estonia, France, Germany, Italy, Japan, Poland, Portugal, Spain, Sweden, Switzerland, United Kingdom, United States) 2010 from 17 countries (Belgium, Denmark, France, Germany, Italy, Macedonia, Portugal, Serbia, Slovakia, South Korea, Spain, Sweden, Switzerland, Turkey, United Kingdom, United States)
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from 12 countries (Australia, Croatie, France, Germany, Japan, Netherlands, Norway, Slovenia, Spain, Switzerland, United Kingdom, United States)
Annex 3: Leitfragenmatrix zur Codierung der Inter views 100
Specificity of the Project at the Intersection of Conditions of Production, Way of Working and Aesthetics
100.1 specificity of the project/practice at the intersection of production and aesthetics (including motivation, history and (personal) background) 100.2 concern 100.3 format of presentation 100.4 specific core aspects of the project/practice 100.5 decision-making structures/organising structures 101
Categories/Concepts/Definitions for Ways of Working
101.1 exchange/sharing/role of the social 101.2 discourse-generating (sense1) 101.3 context generating (sense2) 101.4 artist-initiated, artist-led (self-organised) 101.5 continuity & sustainability / development & construction (sense3) 101.6 experiment & innovation (sense4) 101.7 contemporary 101.8 international 101.9 (open in format) generating new formats of presentation 101.10 forms of collaboration 101.10a collective 101.10b collaborative 101.10c changing 101.11 development/construction 102
Context of Production/ Interplay with Aesthetics and Forms of Presentation in Curatorial Concepts and Concepts of the Audience
102.1 budget 102.2 form of contract 102.3 curatorial concept + aesthetics 102.4 audience 102.5 planeability of the project/practice 102.6 planeability/security to plan as artist?
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Problems Encountered
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Social Conditions, Conditions of Production, Aesthetics, and Ways of Working
104.1 interrelation between conditions of production, aesthetics, ways of working 104.2 ways of working/method 104.3 research 104.4 aesthetics 104.5 social security 104.6 relations/comparison (art and science) 104.6a in comparison to science 104.6b in comparison to politics 105
Education (Emancipation/Accessibility/Payments)
105.1 105.2 105.3 105.4 105.5
current situation of dance education concerning learning the profession concerning impact of qualifications role of research teaching as a means of sustaining/developing professional life
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Participation in Decision-Making Structures – Critique and Power – Dependencies
106.1 who are addressees when dealing with problems in the field 106.1a as artist 106.1b as curator 106.2 possibilities to give constructive critique to processes and practices (addressees/dialogue partners) 106.3 evaluation of the impact of own contribution to the field in terms of articulation/critique and strengthening of positive effects (possibilities to articulate) 106.4 agency/effects related to artistic status (Do you think that you can have a say as an artist in the professional field/in society?) 106.5 shaping circumstances of production in your professional field 106.6 shaping aesthetic outcome of artistic work process 106.7 evaluation of funding structures 106.8 evaluation of your role in society 106.9 time spent on applications in a year
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107. Change/Diachrony/Genealogy 107.1 structural changes (changes in the circumstances of production) in the professional field in the last ten to twenty years 107.2 aesthetic changes in the professional field in the last ten to twenty years 108. Desire/professional needs/future 108.1 speculating about future: what would you like to change/improve (if you could)? 108.2 what do you think are the needs of your profession that are not yet met? 109. Other practices with the named categories (artists intiated/led, contemporary, experimental, discourse-generating, context-generating, international, self-organised…)
Annex 4: UNESCO-Recommendation concerning the Status of the Artist (Auszug) — 27.10.1980 »The General Conference of the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, meeting in Belgrade from 23 September to 28 October 1980 at its twenty-first session, Recalling that, under the terms of Article I of its Constitution, the purpose of the Organization is to contribute to peace and security by promoting collaboration among the nations through education, science and culture in order to further universal respect for justice, for the rule of law and for the human rights and fundamental freedoms which are affirmed for the peoples of the world, without distinction of race, sex, language or relation, by the Charter of the United Nations, Recalling the terms of the Universal Declaration of Human Rights, and particularly Articles 22, 23, 24, 25, 27 and 28 thereof, quoted in the annex to this Recommendation, Recalling the terms of the United Nations International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, particularly its Articles 6 and 15, quoted in the annex to this Recommendation, and the need to adopt the necessary measures for the preservation, development and dissemination of culture, with a view to ensuring the full exercise of these rights, Recalling the Declaration of the Principles of International Cultural Co-operation, adopted by the General Conference of UNESCO at its fourteenth session, particularly its Articles III and IV, which are quoted in the annex to this Recommendation, as well as the Recommendation on Participation by the People
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at Large in Cultural Life and their Contribution to it, adopted by the General Conference of UNESCO at its nineteenth session, Recognizing that the arts in their fullest and broadest definition are and should be an integral part of life and that it is necessary and appropriate for governments to help create and sustain not only a climate encouraging freedom of artistic expression but also the material conditions facilitating the release of this creative talent, Recognizing that every artist is entitled to benefit effectively from the social security and insurance provisions contained in the basic texts, Declarations, Covenant and Recommendation mentioned above, Considering that the artist plays an important role in the life and evolution of society and that he should be given the opportunity to contribute to society’s development and, as any other citizen, to exercise his responsibilities therein, while preserving his creative inspiration and freedom of expression, Further recognizing that the cultural, technological, economic, social and political development of society influences the status of the artist and that it is consequently necessary to review his status, taking account of social progress in the world, Affirming the right of the artist to be considered, if he so wishes, as a person actively engaged in cultural work and consequently to benefit, taking account of the particular ›conditions of his artistic profession, from all the legal, social and economic advantages pertaining to the status of workers, Affirming further the need to improve the social security, labour and tax conditions of the artist, whether employed or self-employed, taking into account the contribution to cultural development which the artist makes, Recalling the importance, universally acknowledged both nationally and internationally, of the preservation and promotion of cultural identity and of the role in this field of artists who perpetuate the practice of traditional arts and also interpret a nation’s folklore, Recognizing that the vigour and vitality of the arts depend, inter alia, on the well-being of artists both individually and collectively, Recalling the conventions and recommendations of the International Labour Organization (ILO) which have recognized the rights of workers in general and, hence, the rights of artists and, in particular, the conventions and recommendations listed in the appendix to this Recommendation, Taking note, however, that some of the International Labour Organization standards allow for derogations or even expressly exclude artists, or certain categories of them, owing to the special conditions in which artistic activity takes place, and that it is consequently necessary to extend their field of application and to supplement them by other standards, Considering further that this recognition of their status as persons actively engaged in cultural work should in no way compromise their freedom of creati-
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vity, expression and communication but should, on the contrary, confirm their dignity and integrity, Convinced that action by the public authorities is becoming necessary and urgent in order to remedy the disquieting situation of artists in a large number of Member States, particularly with regard to human rights, economic and social circumstances and their conditions of employment, with a view to providing artists with the conditions necessary for the development and flowering of their talents and appropriate to the role that they are able to play in the planning and implementation of cultural policies and cultural development activities of communities and countries and in the improvement of the quality of life, Considering that art plays an important part in education and that artists, by their works, may influence the conception of the world held by all people, and particularly by youth, Considering that artists must be able collectively to consider and, if necessary, defend their common interests, and therefore must have the right to be recognized as a professional category and to constitute trade union or professional organizations, Considering that the development of the arts, the esteem in which they are held and the promotion of arts education depend in large measure on the creativity of artists, Aware of the complex nature of artistic activity and of the diverse forms it takes and, in particular, of the importance, for the living conditions and the development of the talents of artists, of the protection of their moral and material rights in their works, or performances, or the use made of them, and of the need to extend and reinforce such protection, Considering the need to endeavour to take account as far as possible of the opinion both of artists and of the people at large in the formulation and implementation of cultural policies and for that purpose to provide them with the means for effective action, Considering that contemporary artistic expression is presented in public places and that these should be laid out so as to take account of the opinions of the artists concerned, therefore that there should be close co-operation between architects, contractors and artists in order to lay down aesthetic guidelines for public places which will respond to the requirements of communication and make an effective contribution to the establishment of new and meaningful relationships between the public and its environment, Taking into account the diversity of circumstances of artists in different countries and within the communities in which they are expected to develop their talents, and the varying significance attributed to their works by the societies in which they are produced, Convinced, nevertheless, that despite such differences, questions of similar concern arise in all countries with regard to the status of the artist, and that
Für eine Topologie der Praktiken
a common will and inspiration are called for if a solution is to be found and if the status of the artist is to be improved, which is the intention of this Recommendation, Taking note of the provisions of the international conventions in force relating, more particularly, to literary and artistic property, and in particular of the Universal Convention and the Berne Convention for the Protection of Literary and Artistic Works, and of those relating to the protection of the rights of performers, of the resolutions of the General Conference, of the recommendations made by UNESCO’s intergovernmental conferences on cultural policies, and of the conventions and recommendations adopted by the International Labour Organization, listed in the appendix to this Recommendation, Having before it, as item 31 of the agenda of the session, proposals concerning the status of the artist, Having decided, at its twentieth session, that this question should be the subject of a recommendation to Member States, Adopts this Recommendation this twenty-seventh day of October 1980: The General Conference recommends that Member States implement the following provisions, taking whatever legislative or other steps may be required -in conformity with the constitutional practice of each State and the nature of the questions under consideration to apply the principles and norms set forth in this Recommendation within their respective territories. For those States which have a federal or non-unitary constitutional system, the General Conference recommends that, with regard to the provisions of this Recommendation the implementation of which comes under the legal jurisdiction of individual constituent States, countries, provinces, cantons or any other territorial and political subdivisions that are not obliged by the constitutional system of the federation to take legislative measures, the federal government be invited to inform the competent authorities of such States, countries, provinces or cantons of the said provisions, with its recommendation for their adoption. The General Conference recommends that Member States bring this Recommendation to the attention of authorities, institutions and organizations in a position to contribute to improvement of the status of the artist and to foster the participation of artists in cultural life and development. The General Conference recommends that Member States report to it, on dates and in a manner to be determined by it, on the action they have taken to give effect to this Recommendation.
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DANK An dieser Stelle sei allen Interviewten mein herzlichster Dank ausgesprochen für ihre künstlerische Arbeit und ihr Engagement, die interessante und eindrucksvolle Auseinandersetzung mit dem Thema sowie den großen Zeiteinsatz, der damit verbunden war. Das waren: Alice Chauchat, Blanca Calvo, Christine De Smedt, Cristina Rizzo, Emma Kim Hagdahl, Halla Ólafsdóttir, Hermann Heisig, Jan Ritsema, Juan Domínguez, Kerstin Schroth, Manuel Pelmus, Mette Ingvartsen, Paz Rojo und Valentina Desideri. Ebenso möchte ich mich ganz herzlich bei Tom Engels und Bettina Földesi bedanken für die großartige Zusammenarbeit, die professionelle Durchführung ihrer Interviews sowie die zeitintensive Transkriptions- und Redaktionsarbeit, die für die Realisierung dieser Forschung unerlässlich waren. Des Weiteren bedanke ich mich ganz herzlich bei William Wheeler, für die hervorragende Übersetzung der Arbeit ins Englische sowie die zeitintensive sprachliche Überarbeitung der Interviews. Darüber hinaus bedanke ich mich bei Alice Chauchat für spezifische Recherchen und Diskussionen sowie bei João Fiadeiro für die freundliche Zusendung des Materials und bei Stéphane Noël für das interessante Gespräch zur Situation in der Schweiz. Weiterhin gilt mein Dank allen Freundinnen und Freunden, die mich in dieser Arbeit unterstützt haben. Nicht zuletzt sei ganz herzlich Prof. Dr. Gabriele Brandstetter gedankt, die diese Studie an mich herangetragen hat, Prof. Dr. Manfred Brauneck, dem sich die Initiative und Durchführung dieser Studie verdankt, sowie dem ITI, das in zahlreichen Kolloquien die Auseinandersetzung gefördert hat. Ermöglicht wurde diese Arbeit durch die Förderung der Balzan-Foundation.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas Neue Produktionsformen und theaterästhetische Kreativität Andrea Hensel
1. E inleitung Bis heute ist Osteuropa ein ›weißer Fleck‹ auf der Landkarte des Theaters in Europa. Die derzeitige Forschungslage zu den Theaterlandschaften Osteuropas ist zum Großteil dürftig; die Theater wurden theoretisch sowie in ihrer praktischen Arbeit nur marginal untersucht. Dies gilt für die institutionalisierten Einrichtungen, vor allem aber für die Freien Theater. Weder aus internationaler Sicht noch von Theaterpraktikern und Theaterwissenschaftlern in den Ländern selbst scheint Freiem Theater viel Aufmerksamkeit zuzukommen. So hält die polnische Kuratorin Marta Keil fest1: »[W]e discovered that, despite our common history, we have virtually no common experience. Not only do we have dissimilar development paths and systems, but we also know surprisingly little about each other.« 2 Bei näherer Betrachtung lassen sich in den letzten 20 Jahren jedoch zahlreiche künstlerische Innovationen der Freien Theaterszene Osteuropas erkennen. Diesen Entwicklungen geht die Studie nach. Sie erforscht die Geschichte und die aktuelle Lage der Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas. Im Zentrum der Studie stehen die ehemaligen sozialistischen Volksrepubliken Ungarn, Polen, Tschechien, die Slowakei, Rumänien und 1 | In vielen Fällen handelt es sich bei den für die vorliegende Studie konsultierten Experten nicht um englische oder deutsche Muttersprachler. Sämtliche Zitate werden in der jeweils von den Befragten gewählten Sprache (deutsch oder englisch) wiedergegeben und wurden geringfügig formal korrigiert. 2 | Keil, Marta: »Preface«, in: EEPAP – A Platform for the Development of Performing Arts in Central and Eastern Europe (Hg.): Studie 2011, http://www.eepap.org/web/english/ eepap.pl, S. 7f., hier S. 7.
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Bulgarien; sodann die postjugoslawischen Staaten Serbien, Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina und schließlich Russland, Belarus und die Ukraine als ehemalige Unionsrepubliken der Sowjetunion. Obwohl diese 13 Länder auf den ersten Blick ähnliche gesellschaftspolitische Entwicklungen aufweisen, werden auf den zweiten Blick deutliche Unterschiede in Geschichte, Politik und Gesellschaft sichtbar, welche die Kultur der einzelnen Staaten prägen. Diese Unterschiede zeigen sich auch in Bezug auf die Entwicklung der Freien Theater. Die Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses und neuer künstlerischer Arbeitsweisen der Freien Theater ist eng mit den ökonomischen, sozialen und politischen Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern verknüpft. Aus diesem Grund geht die Studie methodisch von Einzelanalysen aus. Sie erschließt die Entwicklung und die gegenwärtige Situation der Freien Theater jedes genannten Landes für sich. Gleichzeitig zeigt sie aber auch auf, inwiefern die vorgestellten Arbeitsweisen und Produktionsformen als paradigmatisch für die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten gelten können. Die Untersuchung wertet die Forschungen aus, die sich mit den Freien Theatern in Osteuropa beschäftigen. Dabei handelt es sich um einen uneinheitlichen Materialbestand. So gibt es zu den Theaterlandschaften in Polen, Slowenien und Ungarn eine aufschlussreiche Quellenlage und zahlreiche (Forschungs-)Literatur. Über die (Freien) Theater in Bosnien-Herzegowina, Belarus und der Ukraine sind dagegen nur wenige oder gar keine öffentlichen Quellen und/oder englischsprachige Literatur zu finden. Dementsprechend fallen auch die hier ausgeführten Einzelanalysen unterschiedlich aus. Vor dem Hintergrund des Forschungsstandes ist die Untersuchung der East European Performing Arts Platform (EEPAP) besonders hervorzuheben. Dieses Netzwerk von Theatermachern und -theoretikern veröffentlichte im Jahr 2011 ausführliche Berichte über die Theaterlandschaften in 17 osteuropäischen Ländern.3 Analysiert werden die Rahmenbedingungen der künstlerischen Arbeit und die Organisationsstrukturen der Theater nach den politischen Umbrüchen. Darüber hinaus stützt sich die vorliegende Darstellung auf eigene Recherchen vor Ort, die im Rahmen des Forschungsprojekts möglich waren. Die Nachforschungen umfassen Aufführungsbesuche in Polen, Bulgarien, Tschechien, Serbien, Slowenien, Kroatien und Belarus, verbunden mit einer Vielzahl von Gesprächen mit Theatermachern und -theoretikern vor Ort. Außerdem wurden Fragebögen an freie Künstler und Gruppen sowie an Kulturpolitiker 3 | Die Untersuchung bezieht Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Georgien, Kroatien, Mazedonien, Moldawien, Rumänien, Serbien, Slowenien, Tschechien, Ungarn, die Slowakei, die Ukraine und den Kosovo ein; vgl. EEPAP (Hg.): Studie 2011.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
und Theaterkritiker in den betrachteten Ländern versandt, in denen diese gebeten waren, sich mit der Situation der Freien Theater in ihrem Land auseinanderzusetzen. 17 Fragebögen liegen beantwortet vor und konnten in die Analyse eingearbeitet werden. Zudem fanden in Slowenien vier ausführliche Interviews statt. Die dort getroffenen Aussagen von Vertretern Freier Theater gingen ebenfalls in die Untersuchung ein. Die Fragebögen und die Interviews ergänzen die Darstellungen der Forschungsliteratur. Die Studie gliedert sich in drei Schwerpunkte: Im Mittelpunkt steht zunächst die Entwicklung der Freien Theater in den einzelnen osteuropäischen Ländern (Kapitel 2). Dabei werden diese gemäß der unterschiedlichen Ausprägung ihrer sozialistischen Regime als ehemalige sozialistische Volksrepubliken, postsowjetische und postjugoslawische Staaten zusammengefasst. Dargestellt wird sowohl die Lage der Freien Theater zur Zeit des Sozialismus als auch ihre Entwicklung nach den politischen Umbrüchen Ende der achtziger bzw. Anfang der neunziger Jahre. Das Kapitel enthält außerdem einen Exkurs zur Freien Tanzszene, denn für die Freien Theater spielt der Tanz eine große Rolle. Der folgende Schwerpunkt widmet sich den Rahmenbedingungen der freien Theaterarbeit (Kapitel 3). Hier konzentriert sich die Darstellung auf Veränderungen in der Kulturpolitik, in der finanziellen Förderung der Freien Theater und in den Produktions- und Präsentationsbedingungen. Außerdem geht es um die Frage, welche Restriktionen die Arbeit der Freien Theater behindern. Schließlich finden sich in dem Kapitel Ausführungen über die Ausbildung und die internationale Vernetzung der freien Künstler und Gruppen. Im dritten Schwerpunkt werden einzelne Produktionen vorgestellt, die exemplarisch wesentliche Arbeitsweisen und Themen der Freien Theater in den postsozialistischen Staaten beschreiben (Kapitel 4). Auch wenn die Analysen vorrangig vom Sprechtheater ausgehen oder Performances beschreiben, die einen besonderen Fokus auf musikalische Elemente legen, handelt es sich dabei in der Regel um transmediale Produktionen, die verschiedene Kunstmedien wie Musik, Tanz und Bild verbinden. Vor diesem Hintergrund geht die vorliegende Studie von keiner herkömmlichen Spartentrennung aus, sondern begreift Freies Theater als eine transmediale Praxis. Zeitlich endet die Darstellung im Jahr 2012. Spätere Entwicklungen konnten nicht mehr berücksichtigt werden. Sensibilität im Umgang mit dem Untersuchungsraum verlangt eine Befragung des Begriffs ›Osteuropa‹. Es soll hier nicht darum gehen, »die Länder Osteuropas zu einer einzigen Region zusammenzuwürfeln«4. Keines4 | Wolff, Larry: »Die Erfindung Osteuropas. Von Voltaire zu Voldemort«, in: Karl Kaser/ Dagmer Gramshammer-Hohl/Robert Pichler (Hg.), Enzyklopädie des europäischen
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wegs stellte Osteuropa in sozialistischer Zeit ein monolithisches Gebilde dar.5 Ehemalige Volksrepubliken wie Polen und Ungarn unterschieden sich vom Jugoslawien unter Tito und dieses wiederum von den Unionsrepubliken der Sowjetunion. Nach dem Sturz des Kommunismus schlugen die Staaten eigene Wege ein, auch wenn sie einige parallele Entwicklungen in politischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht aufweisen. Die vorliegende Studie verzichtet bewusst auf eine vereinheitlichende Sichtweise ›Osteuropas‹. Doch auch sie benötigt einen Zugang, der den Vergleich der einzelnen Länder ermöglicht. Dafür bietet sich der Begriff des ›Postsozialismus‹ an.6 Er bezieht sich gleichermaßen auf historische, geografische, ethnisch-sprachliche und politische Aspekte und betont die Uneinheitlichkeit der Geschichte und der gegenwärtigen Verfassung der einzelnen Staaten. Die ebenso heterogene Geschichte der Freien Theater in den einzelnen Ländern herauszuarbeiten, in denen die sozialistische Vergangenheit noch nachwirkt, ist das Anliegen der Untersuchung. Zur Vereinfachung der Lesbarkeit wird in der vorliegenden Studie auf geschlechterspezifische Schreibweisen verzichtet, die weibliche Form sowie weitere Formen seien stets mitgedacht.
Ostens. Europa und die Grenzen im Kopf, Klagenfurt u. a.: Wieser 2003, S. 21-34, hier S. 21. 5 | Vgl. zur Geschichte Osteuropas exemplarisch Emeliantseva, Ekaterina/Malz, Arié/ Ursprung, Daniel (Hg.): Einführung in die osteuropäische Geschichte, Zürich: Orell Füssli 2008; Buzogány, Aron/Frankenberger, Rolf (Hg.): Osteuropa. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Baden-Baden: Nomos 2007; Segert, Dieter: Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – Drei Versuche im Westen anzukommen. Frankfurt a. M.: Campus 2002; Roth, Harald (Hg.): Studienhandbuch Östliches Europa. Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1999; Szücs, Jenö: Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt a. M.: Neue Kritik 1990. 6 | »Der Begriff ›Postsozialismus‹ kennzeichnet keinen Systemtypus, sondern eine Vielzahl von politischen Systemen, deren Entwicklung nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft Parallelen, aber auch wesentliche Unterschiede aufweist«, Pelinka, Anton: »Vorwort«, in: Dieter Segert (Hg.), Postsozialismus. Hinterlassenschaften des Staatssozialismus und neue Kapitalismen in Europa, Wien: Braumüller 2007, S. VIIf., hier S. VII. Vgl. zum Postsozialismus auch Frącz, Stanisław: Im Spannungsfeld von Nationalismus und Integration. Zur Komplexität des Transformationsprozesses der postkommunistischen Gesellschaften unter den osteuropäischen Gegebenheiten, Bonn: Bouvier 2006; Groys, Boris/Heiden, Anne von der/Weibel, Peter (Hg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005; Beyme, Klaus von: Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
2. D ie F reien The ater nach den politischen U mbrüchen 1989/1991 Die politischen Entwicklungen in den hier einbezogenen ehemaligen sozialistischen Volksrepubliken und den postsowjetischen Staaten weisen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf.7 Wenn auch in unterschiedlichen Dimensionen, so war die kommunistische Herrschaft dennoch in allen diesen Ländern geprägt von staatlichen Repressionen, Zensur und einer bewussten Isolation gegenüber dem Westen. Gesellschaft, Bildung und Kultur waren politisch gleichgeschaltet. Die ›Tauwetterperiode‹ nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 brachte der Kultur eine vorübergehende Lockerung der Zensur und die Rehabilitierung von zuvor verfemten Künstlern, Intellektuellen und Politikern. Bereits nach kurzer Dauer war diese Zeit jedoch vorbei. Es folgten Jahrzehnte, in denen jegliche Versuche der Demokratisierung gewaltsam beendet wurden. Mit der symbolischen Durchtrennung des Stacheldrahtes an der österreichisch-ungarischen Staatsgrenze am 27. Juni 1989 war der ›Eiserne Vorhang‹ erstmals offiziell durchlässig. Nach und nach folgten nun die politischen Umbrüche in den einzelnen sozialistischen Volksrepubliken. Mit der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 verloren auch dort die kommunistischen Regierungen ihr Herrschaftsmonopol, der Zusammenschluss der sozialistischen Staaten zerfiel und einschneidende Transformationsprozesse setzten ein. Die Umgestaltung der kommunistischen Diktaturen und Planwirtschaften zu Demokratien und Marktwirtschaften brachte einen tiefgreifenden Orientierungsund Wertewandel mit sich. Für die Kultur und damit auch für die Freien Theater bedeutete dies zweierlei: Die staatlichen Zensurmaßnahmen entfielen und die Überwindung der kulturellen Isolation ermöglichte nun einen internationalen Austausch.8 7 | Vgl. zur Geschichte der ehemaligen Volksrepubliken und der postsowjetischen Staaten Wirsching, Andreas: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas unserer Zeit, München: C. H. Beck 2012; Kunze, Thomas/Vogel, Thomas: Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit. Eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken. Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin: Ch. Links 2011; Dalos, György: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München: C. H. Beck 2009; Bispinck, Henrik/Danyel, Jürgen/ Hertle, Hans-Hermann/Wentker, Hermann (Hg.): Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Berlin: Ch. Links 2004. 8 | Vgl. zu den allgemeinen Entwicklungen der Theaterlandschaften in Osteuropa Jestrovic, Silvija: Performance, Space, Utopia. Cities of War, Cities of Exile, Hampshire u. a.: Palgrave Macmillan 2013; Brauneck, Manfred: Europas Theater. 2500 Jahre Geschichte – eine Einführung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012; Kuftinec, Sonja Arsham: Theatre, Facilitation and Nation Formation in the Balkans and Middle East, Hampshire u. a.: Palgrave Macmillan 2009; Vannayová, Martina/Häusler, Anna: Landvermessungen. Theater-
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Zugleich begannen Zeiten ökonomischer Instabilität. Die Theater sahen sich mit der freien Marktwirtschaft konfrontiert und mussten ihren Platz in einer sich wandelnden Gesellschaft neu definieren. Bis heute sind die politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse nicht abgeschlossen. Sie verliefen trotz vieler Gemeinsamkeiten von Land zu Land verschieden und führten somit auch zu unterschiedlichen Entwicklungen der Freien Theater, was die einzelnen Länderdarstellungen zeigen werden. Anders als in den sozialistischen Volksrepubliken und den Unionsrepubliken der Sowjetunion verliefen die politischen Entwicklungen in den postjugoslawischen Staaten.9 Die frühere Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien wird häufig als ›Ostblockstaat‹ bezeichnet. Diese Zuschreibung ist jedoch falsch. Das ehemalige Jugoslawien war stets ein unabhängiger sozialistischer Staat, es gehörte nie dem Warschauer Pakt und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe an. Tito verfolgte einen von der Sowjetunion unabhängigen Weg zum Sozialismus. Im Gegensatz zu den anderen sozialistischen Ländern ließ sein Regime eine gewisse politische, wirtschaftliche und kulturelle Öffnung zum Westen zu. Die Teilrepubliken waren politisch gleichgestellt und lediglich mit geringer nationaler Eigenständigkeit ausgestattet, wodurch die bestehenden Nationalitätenkonflikte zwangsweise beschwichtigt wurden. Kulturell durften die Teilstaaten jedoch ein Stück weit unabhängig agieren und konnten sich unter anderem international vernetzen. So entstanden zahlreiche internationale Festivals wie das Sommerfestival in Dubrovnik (1950), das Theaterfestival Sterijino pozorje in Novi Sad (1956) und das Beogradski Internacionalni Teatarski Festival (BITEF), das 1967 in Belgrad gegründet wurde. Nach dem Tod Titos 1980 brachen die Nationalitätenkonflikte aus, der kommende Zerfall Jugoslawiens deutete sich an. Mit den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens im Jahr 1991 war das Ende Jugoslawiens besiegelt. Die folgenden Kriege: der Zehntagekrieg in Slowenien, der Krieg in Kroatien, in Bosnien und daran anschließend im Kosovo, brachten eine Zeit der gewaltsamen Auseinandersetzungen, der Menschenrechtsverletzungen, des Völkermords, der Massengewalt, systematischer Vertreibungen und ethnischer Säuberungen. In diesen Jahren kam das Theater fast zum Erliegen. Erst nach internationalen landschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa (= TdZ Recherchen 61), Berlin: Theater der Zeit 2008; Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Bd. 5, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007; Franz, Norbert/Schmid, Herta (Hg.): Bühne und Öffentlichkeit. Drama und Theater im Spätund Postsozialismus (1983-1993), München: Otto Sagner 2002. 9 | Vgl. Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2012; Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München: C. H. Beck 2010; Moritsch, Andreas/Mosser, Alois: Den Anderen im Blick. Stereotype im ehemaligen Jugoslawien, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2002.
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Interventionen wie dem Dayton-Abkommen, nach dem militärischen Eingreifen der NATO und nach der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag fand die Gewalt ein Ende. Die schwerwiegenden politisch-kriegerischen Ereignisse in den neunziger Jahren hatten gravierende Folgen für die Transformationsprozesse in den einzelnen postjugoslawischen Ländern. Mit Ausnahme Sloweniens setzten diese etwa zehn Jahre später als in den anderen ehemals sozialistischen Staaten ein. Dies wirkte sich auch auf die Entwicklung der Freien Theater aus, wie es in den Einzelanalysen der postjugoslawischen Staaten beschrieben wird. Die Studie verwendet den Begriff ›Freies Theater‹ auch für die Zeit der kommunistischen Regime. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass die freien Gruppen in diesen Jahrzehnten nicht ›frei‹ agieren konnten. Sie waren von den politischen Restriktionen und der Zensur betroffen. Jedoch wirkten die Freien Theater jenseits der institutionellen Einrichtungen und versuchten, die staatlich vorgegebenen künstlerischen Richtlinien zu umgehen, wo immer es möglich war.
2.1 Ehemalige sozialistische Volksrepubliken Am 23. Oktober 1956 kam es in Ungarn zum ›Volksaufstand‹.10 Der neu eingesetzte Ministerpräsident Imre Nagy wollte sein Land in die Demokratie und Neutralität führen. Ungarn trat aus dem Warschauer Pakt aus. Nur wenige Tage später marschierten sowjetische Truppen ein und schlugen diese Bewegung nieder. Imre Nagy wurde zum Tode verurteilt. Der prosowjetische Nachfolger János Kádár vertrat nach einer Phase der Härte einen liberalen politischen Kurs, der im Westen auch als »Gulaschkommunismus«11 bezeichnet wurde. Ungarn nahm damit eine Sonderstellung unter den sozialistischen Staaten ein. Dies hatte Auswirkungen auch für die Kultur, die zwar noch dem sozialistischen System zu dienen hatte und der staatlichen Zensur unterworfen war. Dennoch waren künstlerische Kontakte zum westlichen Ausland gestattet. Im Gegensatz zu den anderen Volksrepubliken bestand für die ungarischen Theater bereits zu Beginn der sechziger Jahre die Möglichkeit eines Austauschs mit internationalen Theatergruppen und -institutionen. 10 | Vgl. zur Geschichte Ungarns Hauszmann, Janos: Ungarn – vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg: Pustet 2004; Lendvai, Paul: Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte, München: Goldmann 2001. 11 | Die abgemilderte Form des Sozialismus in Ungarn hieß »Gulaschkommunismus«, weil sie stärker an den Konsumbedürfnissen orientiert war als die stalinistische Wirtschaftspolitik; vgl. Rahmig, Jürgen: Ungarns Rückkehr nach Europa. Vom Gulaschkommunismus zu Marktwirtschaft und Demokratie, Stuttgart: Deutsch-Ungarische Gesellschaft 1998.
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In diese Zeit fielen die ersten Gründungen freier Theatergruppen.12 So gingen Universitätsgruppen wie Szegedi Egyetemi Színház an der Jósef Attila Universität in Szeged und das Universitätstheater der Eötvös Loránd Universität in Budapest aus der Amateurtheaterbewegung hervor. Das Universitätstheater lernte durch erste Auslandsreisen neue Theaterformen kennen, so etwa Jerzy Grotowskis »Armes Theater«. Außerdem erlangte diese Gruppe durch die beiden Gründer Aufmerksamkeit: durch Péter Halász, der 1977 das weltbekannte Squat Theatre in den USA mitbegründete, und Tamás Fodor, der im Jahr 1974 das Freie Theater Stúdió K. ins Leben rief. Beide Theatermacher waren in den siebziger Jahren prominente Vertreter der Freien Szene in Ungarn. Sie behandelten regimekritische Themen in künstlerischen Happenings, die häufig in Privatwohnungen stattfanden. Diese Arbeitsweisen zeigten Wirkung; zu Beginn der achtziger Jahre führten neue alternative Gruppen sie fort. Zu diesen gehörten beispielsweise das Kollektiv Arvisura, die Gruppe Utsloó, die von Gábor Goda gegründete Tanzkompanie Artus und die Gruppe Vonal. Alle Gruppen arbeiteten in Budapest. Im Oktober 1989 wandelte sich Ungarn in eine parlamentarische Republik. Wegen der ausbleibenden staatlichen Subventionen und wegen des starken Publikumsrückgangs lösten sich danach viele der seit den siebziger Jahren bestehenden Gruppen auf, darunter auch das Theater Stúdió K. Zugleich traten in Ungarn ab Mitte der neunziger Jahre etliche junge Theatermacher und Gruppen erstmals in die Öffentlichkeit, unter ihnen Sándor Zsótér, Eszter Novák, Árpád Schillings freie Gruppe Krétakör (die ihre Arbeit 2008 einstellte) und Béla Pintérs Kompanie Pintér Béla és Társulata im Szkéné Theater der Technischen Universität in Budapest. Das Szkéné Theater, das bereits seit den siebziger Jahren besteht, und die 1998 von György Szabó in Budapest eingerichtete Bühne Trafó gelten heute als die wichtigsten Spielstätten für die Freie Theaterszene in Ungarn. Diese genannten Theatermacher zählen heute zu den bekanntesten Vertretern der ungarischen Freien Theater. Mit ihrer künstlerischen Arbeit, die soziale Realitäten in den Mittelpunkt stellt, sind sie nicht nur ästhetische Wegbereiter, sondern waren sie in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends auch Leitfiguren für weitere junge Künstler und Gruppen. Zu dieser neuen Generation zählen Zoltán Balázs, Kornél Mundruczó, Viktor Bodó und sein Kollektiv Szputnyik Shipping Company, Gábor Godas’ Artus Company, Pétér Kárpátis Sec-
12 | Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in Ungarn die Fragebögen Ungarn I und Ungarn II vom 30. September 2012 und 7. November 2012; Dalma, Szakmáry/Szabó, Attila: »Country Report Hungary«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 177-200; National Theatre Museum of Slovenia (Hg.): Occupying Spaces. Experimental Theatre in Central Europe 1950-2010, Ljubljana: National Theatre Museum of Slovenia 2010.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
ret Company, die von Anna Lengyel gegründete Gruppe PanoDrama, die KOMA Company und die Gruppe HoppArt. Im Unterschied zur Ausrichtung der in den siebziger Jahren entstandenen Kollektive, die sich gegen das politische System und gegen die ästhetische Ausrichtung der etablierten Theater Ungarns wandten, näherten sich in der jüngsten Vergangenheit die Freie Theaterszene und die festen Theater an. Zwar existieren weiterhin große strukturelle und finanzielle Unterschiede zwischen diese beiden Sphären, doch beeinflussen sie sich mittlerweile spürbar: »The two subsystems of established and alternative theatre, though structurally and financially very rigidly separated, in terms of artistic mobility are quite open and very much affecting each other. When the Krétakör, the internationally acclaimed independent theatre, was dismantled in 2008, many of the former actors became part of the National Theatre’s company led by Róbert Alföldi. The group Béla Pintér and Company produced Gyévuska in cooperation with the National Theatre and performed several times at the studio of the National. The other direction is also common: Viktor Bodó started as an actor and director at the Katona József Theatre, the most acclaimed drama theatre in Budapest, and then decided to found his own independent company, where he could fully develop his specific form of theatre.«13
Im Jahr 2010 gewann die rechtskonservative FIDESZ-Partei Ungarns eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament und Viktor Orbán übernahm zum zweiten Mal das Amt des Ministerpräsidenten. Ein Jahr später ließ er eine neue Verfassung verabschieden, welche die Besinnung auf nationale Werte fordert. Unter anderem sind seitdem die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt. Die neuen Bestimmungen haben dramatische Auswirkungen auf das öffentliche kulturelle Leben und damit auch auf die Theater in Ungarn.14 Ein wichtiges Instrument der staatlichen Lenkung der Kultur ist die Personalpolitik. In den vom Staat subventionierten Einrichtungen werden wichtige Leitungspositionen aus politischen Motiven neu besetzt. So übernahm etwa der als politisch rechtsstehend geltende Schauspieler György Dörner im Februar 2012 die Leitung des Theaters Újszínház in Budapest. Dem Regisseur Róbert Alföldi wurde die Intendanz des Nationaltheaters wegen »Verrats am Ungarn13 | Fragebogen Ungarn II. 14 | Vgl. zur Situation der Freien Theater- und Kulturszene unter der Regierung Victor Orbáns Verseck, Keno: »Zurück zu Blut und Heimat«, in: Zeit Online, http://www.zeit.de/ politik/ausland/2013-03/ungarn-verfassungsaenderung-orban; Eilers, Dorte Lena: »Achtung Kunst!«, in: Theater der Zeit 12 (2012), S. 18f.; Schneider, Lena: »Das beste Land der Welt. Warum es im Ungarn Viktor Orbáns wenig Platz für unabhängiges Theater gibt. Eine Spurensuche«, in: Theater der Zeit 4 (2012), S. 33ff.
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tum« entzogen. Und auch das Theaterzentrum Trafó ist betroffen. Dessen Gründer und Leiter György Szabó wurde 2012 von der als ›Nationalchoreografin‹ geltenden, der Regierung nahestehenden Yvette Bozsik abgelöst. Zudem setzt die Kulturpolitik die Freien Theater finanziell erheblich unter Druck und beraubt sie damit der Flexibilität als einer ihrer wesentlichen Arbeitsgrundlagen: »Während die politische Kontrolle über die großen Repertoiretheater über die so genannten ›Auswahlverfahren‹ bei der Besetzung von Leitungsfunktionen erfolgt […] lässt sich die freie Szene nur durch einschneidende Budgetkürzungen in Schach halten, die offiziell mit der Finanzkrise legitimiert werden.«15
Im Jahr 2012 strich die Regierung bis auf Weiteres alle Subventionen für die Freien Theater. Dabei richten sich die Maßnahmen nicht gegen einzelne freie Theatermacher, sondern gegen die gesamte Freie Kulturszene. Ihr wird kurzum der finanzielle Boden entzogen. Berichte in den Medien, Proteste, Petitionen, Demonstrationen und öffentliche Showcases setzen sich seitdem für den Erhalt der Freien Szene in Ungarn ein; bisher ohne Erfolg. Internationale Kooperationen oder Koproduktionen einzugehen oder ihre Gruppen aufzulösen, sind die Handlungsoptionen, die den Künstlern bleiben. Wenn überhaupt, dann arbeiten sie auf der Basis von Projekten weiter, oder sie sehen sich gezwungen, das Land zu verlassen: »The result is pretty much that companies are in deep debt, actors are technically unemployed (or decide to work for free), and many times are forced to leave the country – but this time because of economical and not political reasons (at least on the surface).«16 Ähnlich wie in den siebziger Jahren sehen sich die Freien Theater derzeit in Opposition zu einem politischen System, das zunehmend ästhetische Vorgaben macht. Ob die Freien Theater diese prekäre Lage überstehen werden, bleibt ungewiss. Auch in Polen entstanden bereits am Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre die ersten freien Gruppen.17 Im Unterschied zu Ungarn bildeten sich hier zwei Richtungen heraus, die für die weitere Entwicklung der 15 | Trompa, Andrea: »Gehen oder bleiben? Die darstellenden Künstler der Freien Szene Ungarns sehen sich vor dem Aus und suchen die Öffentlichkeit«, in: Theater heute 1 (2013), S. 20ff., hier S. 21. 16 | Fragebogen Ungarn II. 17 | Vgl. Szymanski, Berenika: Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989. Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarność, Bielefeld: transcript 2012; Kosiński, Dariusz: Polnisches Theater. Eine Geschichte in Szenen, Berlin: Theater der Zeit 2011; Kornás, Tadeusz: Between Anthropology and Politics. Two strands of Polish Alternative Theatre, Warschau: The Zbigniew Raszewski Theatre Institute 2007; Cioffi,
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
Freien Theater wichtig wurden: das politisch-künstlerische und das anthropologisch-künstlerische Verständnis von Theater. Die Vertreter der politisch-künstlerischen Richtung knüpften an die Studententheaterbewegung der fünfziger Jahre an. Zu ihnen gehörten in dieser poststalinistischen Zeit beispielsweise das Studencki Teatr Satyryków (STS) in Warschau, das Pstrąg Teatr in Łódź und die Gruppe Bim-Bom in Gdańsk. Diese Freien Theater arbeiteten im Kollektiv und brachten sozialkritische Themen mit den Mitteln der politischen Satire auf die Bühne. Ihre künstlerischen Arbeiten prägten die sechziger und frühen siebziger Jahre, die als Höhepunkt des politischen Theaters in Polen gelten. Es gründete sich eine Vielzahl freier Gruppen. Ein Beispiel für die Theaterkollektive, die einem politischen und sozialkritischen Ansatz folgten, ist die international bekannte oppositionelle Theaterformation Teatr Ósmego Dnia, die 1964 in Posen entstand: »Theatre of the Eighth Day, founded in 1964, called by the critics ›The Rolling Stones of theatre‹, is one of the oldest alternative theatres in the world, and it can be still found among the most interesting artistic phenomena. During the times of communism, due to plentiful conflicts with the authorities, the group was perceived as a phenomenon mostly political, it was rare to notice its artistic significance.«18
In dieser Zeit entstanden außerdem die Gruppe Akademia Ruchu unter der Leitung von Wojciech Krukowski in Wrocław, das von Leszek Mądzik geführte Ensemble Scena Plastyczna KUL, das Teatr Provisorium in Lublin und das Teatr Kana in Stettin. Ende der siebziger Jahre wurden viele der genannten Bühnen durch dauerhafte staatliche Finanzierung institutionalisiert. Die strikte Trennung von Freiem Theater und etablierten Häusern löste sich damit mehr und mehr auf. Bis heute ist eine scharfe Grenze zwischen den beiden Theaterformen nur schwer zu ziehen: »The formal borders between the repertoire theatre and alternative movement are blurred.«19 Die Impulse für die anthropologisch-künstlerische Theaterrichtung gingen von den beiden wichtigsten Vertretern der polnischen Theateravantgarde aus: von Tadeusz Kantor und Jerzy Grotowski.20 Kantor gründete im Jahr 1955 das Kathleen M.: Alternative Theatre in Poland 1954-1989, London/New York: Routledge 1996. 18 | Ostrowska, Joanna: »The rebellion does not fade, it gets settled …«, in: Teatr Ósmego Dnia, http://osmego.art.pl/t8d/main/en/. 19 | Instytut Polski: Polish Theatre/Dance, http://www.polishinstitute.org.il/en/polishculture/theater-dance/33-polish-theatre-of-the-21st-century.html. 20 | Vgl. zur künstlerischen Arbeit von Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor, Dudzik, Wojciech (Hg.): Theater-Bewusstsein. Polnisches Theater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ideen – Konzepte – Manifeste, Berlin: Lit 2011; Grotowski, Jerzy: Für ein Armes
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Teatr Cricot 2 in Krakau. Grotowski übernahm zusammen mit Ludwik Flaszen 1959 das Teatr 13 Rzędów in Opole (seit 1962 unter dem Namen Teatr Laboratorium 13 Rzędów), mit dem Grotowski 1965 nach Wrocław umzog. Dort erhielt das Theater 1966 offiziell den Status eines Forschungsinstituts für schauspielerische Methode. Kantor und Grotowski beeinflussten nicht nur die Theater in Polen, sondern das Theater im ganzen europäischen Raum sowie in den USA. Insbesondere Grotowskis programmatische Schrift Für ein Armes Theater erlangte großen Einfluss. In Gardzienice, einem Dorf in der Nähe von Lublin, gründete Włodzimierz Staniewski nach vierjähriger Zusammenarbeit mit Grotowski im Jahr 1977 das Zentrum für anthropologische Theaterforschung und Theaterpraxis, Ośrodek Praktyk teatralnych Gardzienice. Angelehnt an die Arbeitsweisen von Grotowskis Teatr Laboratorium beschäftigte sich das Zentrum Gardzienice mit den anthropologischen Grundlagen der Schauspielkunst. Es grenzte sich jedoch von den späteren Theaterexperimenten Grotowskis ab, die sich von der Aufführungspraxis entfernten und als sogenannte Special Projects auf dem Land stattfanden: »They tried to re-create the original bond between actors and audience which exists in primitive ritual, and thus to create a more profound sense of community between them. They worked in rural parts of Poland carrying on ›active culture‹ but not with specially hand-picked participants such as Grotowski used [...] but with simple people, peasants who, for the most part, were unused to ›artists‹, unfamiliar with ›theatre‹.« 21
Das Gardzienice erlangte zu Beginn der achtziger Jahre durch eindrucksvolle Produktionen wie beispielsweise Żywot Protopopa Awwakuma/The Life of Archpriest Avvakum internationale Aufmerksamkeit. In den neunziger Jahren gründeten ehemalige Mitarbeiter des Gardzienice eigene freie Gruppen, die dessen künstlerische Arbeit weiterführten. Heute ist das Gardzienice eines der bekanntesten alternativen Theater Polens. 1980 führte die Wirtschaftskrise in Polen zu öffentlichen Unruhen und Streiks. Lech Wałęsa gründete auf der Gdansker Werft die unabhängige Gewerkschaft Solidarność, die »zu einem Symbol des Auf bruchs der Reform-
Theater, Berlin: Alexander 2006 (zuerst 1970); Kłossowicz, Jan/Xander, Harald: Tadeusz Kantors Theater, Tübingen/Basel: Francke 1995; Institut für Moderne Kunst (Hg.): Tadeusz Kantor. Ein Reisender. Seine Texte und seine Manifeste, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 1988; Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986. 21 | K. M. Cioffi: Alternative Theatre, S. 206; zur künstlerischen Arbeit von Gardzienice vgl. auch Staniewski, Włodzimierz/Hodge, Alison: Hidden territories. The Theatre of Gardzienice, London/New York: Routledge 2012.
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kräfte im gesamten Ostblock«22 wurde. Die revolutionären Zeiten währten jedoch nicht lange. 1981 verhängte General Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen. Streiks waren untersagt, oppositionelle Intellektuelle wurden inhaftiert und die Solidarność wurde verboten. Die Restriktionen unter dem bis 1983 andauernden Kriegsrecht betrafen die Freien Theater nachhaltig: Grotowski und auch die Gruppe Teatr Ósmego Dnia verließen Polen, Kantor arbeitete hauptsächlich im Ausland und das Theaterzentrum Gardzienice brachte von 1983 bis 1990 keine einzige Inszenierung heraus. Dementsprechend waren die achtziger Jahre geprägt von dem Schaffen vorwiegend junger Regisseure wie Jerzy Jarocki und Jerzy Grzegorzewski, die das polnische Theater beeinflussten und die nachfolgenden Generationen von Theatermachern prägten. Nach dem politischen Umbruch im Jahr 1989 gründete sich in den neunziger Jahren trotz schwieriger ökonomischer Bedingungen eine bemerkenswert große Anzahl freier Theatergruppen.23 Diese waren oftmals von Grotowskis Theater beeinflusst oder nahmen ihren Ausgang im Zentrum Gardzienice. Beispiele sind das Studio Teatralne KOŁO, die Gruppe SUKA OFF und das 1995 von Piotr Borowski eingerichtete Studium Teatralne in Warschau, die Gruppe Komuna Otwock bei Warschau, das Teatr Pieśń Kozła, das Teatr ZAR und das bis 2006 existierende Instytut Grotowskiego, die in Wrocław ansässig waren, außerdem die Gruppe Stowarzyszenie teatralne Chorea in Łódź, das Teatr Węgajty und die Theaterschule Schola Teatru Węgajty in Węgajty bei Olsztyn, das von Leszek Bzdyl und Katarzyna Chmielewska gegründete Teatr DADA in Gdansk, das Theaterforschungszentrum Ośrodek Pogranicze – Sztuk, Kultur, Narodów in Sejny im Nordosten Polens an der litauischen Grenze und das Teatr Cinema in Michałowice (Piechowice), einer Kleinstadt in Niederschlesien. In Poznań war die Freie Theaterszene in den neunziger Jahren besonders aktiv. In Anknüpfung an die politisch-künstlerische Bewegung der Freien Theater in den siebziger Jahren entstanden hier beinahe zeitgleich das Teatr Biuro Podróży, das Teatr Strefa Ciszy, die Gruppe Porywacze Ciał und das Teatr Usta Usta Republika. Sie alle existieren auch heute noch und zählen zu den prominenten Vertretern der polnischen Freien Theaterszene. In den neunziger Jahren prägte der Regisseur und Bühnenbildner Krystian Lupa das Freie Theater in Polen in besonderem Maße. Er begriff das Theater als philosophisch-metaphysischen Erfahrungsraum und wurde vor allem durch seine Textbearbeitungen von literarischen Monumentalwerken auf der Büh22 | M. Brauneck: Die Welt als Bühne, S. 723. Siehe zur politischen Geschichte Polens Ziemer, Klaus: Das politische System Polens, Wiesbaden: Springer 2013; Borodziej, Włodzimierz: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München: C. H. Beck 2010. 23 | Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in Polen nach 1989 exemplarisch Plata, Tomasz (Hg.): Öffentliche Strategien, private Strategien. Das polnische Theater 19902005 (TdZ Recherchen 32), Berlin: Theater der Zeit 2006.
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ne bekannt. Internationale Aufmerksamkeit erlangte er beispielsweise durch Adaptionen wie Die Brüder Karamasow nach Dostojewski (1990) oder aber Der Mann ohne Eigenschaften nach Musil (1990). Häufig wird Lupa als Meister des polnischen Theaters der frühen postkommunistischen Zeit betitelt: »Lupa erschloss ein völlig neues Theater, er brachte neue Saiten der theatralischen Empfindlichkeit zum Schwingen. Er gestattete sich den Luxus und wandte sich von der Politik und der alles beherrschenden Publizistik ab, ließ den Zweiten Umlauf [die inoffizielle Weitergabe von Texten oder Musikaufnahmen, Anm. A. H.] und die Zensur in Vergessenheit geraten und ermöglichte es dem Zuschauer, sich mit dem wirklich Wichtigen, nämlich der Existenz, zu befassen, die man mit Leichtigkeit im Tumult der von den wesentlichen Bedeutungen weit entfernten Ereignisse verlieren konnte.« 24
Lupa arbeitete auch als Dozent an der Theaterhochschule Krakau. Dort beeinflusste er mindestens zwei Generationen junger Regisseure wie Krzysztof Warlikowski, Grzegorz Jarzyna, Anna Augustynowicz, Piotr Cieplak, Zbigniew Brzoza und Paweł Miśkiewicz. Als die sogenannten Jungen Begabteren waren sie die maßgeblichen Vertreter der polnischen Freien Theater nach der Jahrtausendwende. Sie sind noch heute über Polen hinaus bekannt, was sich an zahlreichen Gastspielen und Einladungen zu Festivals im Ausland zeigt. Darüber hinaus etablierte sich in der Mitte und gegen Ende des vergangenen Jahrzehnts in Warschau eine neue Generation freier Gruppen wie 52°43'N19°42'E Project, Koncentrat, Towarzystwo Prze-Twórcze und Teatr Bretoncaffe. Im Jahr 2007 entstand das transmediale Internettheater NeTTheatre in Lublin. Darüber hinaus wurden junge Theatermacher wie Jan Klata, Marta Górnicka, Maja Kleczewska, Łukasz Kos, Paweł Miśkiewicz, Agnieszka Olsten, Michał Walczak, Aldona Figura, Michał Borczuch und Michał Zadara bekannt. Diese Gruppen und Künstler prägen das Freie Theater in Polen heute. Der Theaterkritiker Łukasz Drewniak nennt mehrere Gemeinsamkeiten, welche diese Theatermacher verbinden: ihre »provokante politische Unkorrektheit« sowie ihre Arbeitsweise, sich im Theater mit der »Generation der Dreißigjährigen« zu befassen und »soziologische Beschreibungen der polnischen Wirklichkeit«25 zu erarbeiten.
24 | Piotr Gruszczyński, zit. in: Plata, Tomasz: »Persönliche Verpflichtungen«, in: ders. (Hg.), Öffentliche Strategien, private Strategien, S. 202-219, hier S. 205. Vgl. auch Schorlemmer, Uta: Die Magie der Annäherung und das Geheimnis der Distanz. Krystian Lupas Recherche »neuer Mythen« im Theater, München: Otto Sagner 2003. 25 | Alle Zitate aus Drewniak, Lukasz: »Der Tsunami der Jugend«, in T. Plata (Hg.): Öffentliche Strategien, S. 95-113, hier S. 99. Vgl. zu gegenwärtigen freien Gruppen außerdem Rembowska, Aleksandra: »Auf der Suche nach Gegenwart. Neue Regiehandschriften aus Polen«, in: Theater der Zeit 4 (2005), S. 24-27.
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Wie in Ungarn und in Polen lag die erste Phase der Gründung Freier Theater auch in der früheren Tschechoslowakei in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren.26 Insbesondere in Prag entstanden experimentelle Theater wie Laterna Magica, Divadlo za branou und Divadlo Na zábradli. Die Gruppen beriefen sich auf die tschechische Theateravantgarde der zwanziger Jahre und behandelten trotz der Zensur und trotz der politischen Repressionen gesellschaftspolitische Themen kritisch auf der Bühne. 1989/90 waren die Theater in der Tschechoslowakei an dem politischen Umbruch, der samtenen Revolution, durch ihre »insistierende Systemkritik«27 beteiligt. Wie in den anderen postsozialistischen Staaten traten nach den Umwälzungen auch hier – bzw. in Tschechien, nachdem 1993 aus der Tschechoslowakei zwei Staaten hervorgegangen waren – im Bereich der Kultur tiefgreifende Veränderungen ein. Einerseits mussten Bühnen wie das Theater Divadlo za branou schließen, prominente Theatermacher verließen das Land, unter ihnen Pavol Liska, der 1995 gemeinsam mit Kelly Copper in New York die Gruppe Nature Theatre of Oklahoma gründete. Andererseits hatte der Umsturz wie in den anderen postsozialistischen Ländern auch künstlerische Freiheiten zur Folge: »It brought freedom of expression to theatres. Banned authors could be performed, sidelined artists and emigrants could return, and theatres […] began freely to create their new era.«28 In den neunziger Jahren wurden weitere junge Theatermacher bekannt. Zu ihnen gehörte Petr Lébl, der als »the most dynamic director«29 der Freien Theater in Tschechien zu dieser Zeit bezeichnet wird. Darüber hinaus zählen Jan Antonín Pitínský, Hana Burešová, Vladimír Morávek, Jan Borna, Michal Dočekal, Jan Nebeský und Jakub Špalek zu diesen Regisseuren. Sie hatten bereits in den achtziger Jahren in kleinen Studiobühnen gearbeitet und neue Formen des tschechischen Theaters entwickelt. Einige von diesen Künstlern eröffneten in der Mitte der neunziger Jahre eigene kleine Bühnen, andere übernahmen die Leitung institutionalisierter Einrichtungen. So avancierte beispielsweise Petr Lébl 1993 zum Leiter des Theaters Divadlo Na zábradlí in Prag. Die Regisseure Hana Burešová und Jan Borna waren ab 1996 Direktoren des Theaters Divadlo v Dlouhé in Prag; der Schauspieler und Regisseur Michal Dočekal führte von 1994 bis 2002 die Bühne Divadlo Komedie und ab 2002 26 | Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in Tschechien den Fragebogen Tschechien vom 2. November 2012; Škorpill, Jakub: »Country Report Czech Republic«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 147-158; Arts and Theatre Institute (Hg.): Czech Theatre Guide, Prag: Arts and Theatre Institute 2011. 27 | M. Brauneck: Die Welt als Bühne, S. 719. Vgl. zur Geschichte Tschechiens Mauritz, Markus: Tschechien, Regensburg: Pustet 2002. 28 | Fragebogen Tschechien. 29 | Ebd.
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das Theater Národní divadlo und der Theater- und Filmregisseur Vladimír Morávek arbeitete von 1989 bis 1995 am Theater Divadlo Husa na provázku in Brno und ab 1995 als künstlerischer Leiter am Theater Klicperovo divadlo in Hradec Králové. Von ihnen unterschied sich die darauf folgende Generation von freien Theaterschaffenden zu Beginn der Nullerjahre: »Here, there is a greater tendency to found independent companies whose members share the same generational background and outlook. These companies often work with the poetics of various (intertwining) theatre genres, most of them emerge from the field of movement and dance theatre, but they also appear in the areas of drama, puppet and even opera and musical theatre.« 30
Nach der Jahrtausendwende beeinflussten junge Künstler in den Mittdreißigern vor allem das Freie Sprechtheater. Zu ihnen zählten beispielsweise Dušan Pařízek, Jan Mikulášek, Daniel Špinar, Jiří Havelka, Jiří Adámek, Martin Kukučka, Lukáš Trpišovský und Rostislav Novák. Gleichzeitig kam die Richtung des New Circus Theatre auf, das für die Freie Szene in Tschechien charakteristisch ist. Das tschechische Theater verwandte immer schon die Mittel der Zirkuskunst und -ästhetik. Dies zeigen bereits die künstlerischen Arbeiten von Theateravantgardisten wie Jiří Frejka, Jiří Voskovec und Jan Werich aus den 1920er Jahren. New Circus Theatre verknüpfte nun Zirkuspraktiken und Theaterarbeit: »Czech new circus is not so much based on circus technique as it is on theatre, on a story, on a theme.«31 Insbesondere die Wanderbühne Divadlo bratří Formanů sowie die Theater Divadlo Continuo in Malovice und Divadlo Krepsko in Prag arbeiteten mit den künstlerischen Mitteln des New Circus Theatre: »While in traditional circus the artist only stands for himself or herself, the theatre quality of new circus is based on the artist’s ability to enact a character, to represent a story, an idea on stage – in front of the audience. The artistic character of new circus is based on the individual’s creative potential. The performing artist is the bearer of meaning, the intermediary of communication: it is not the case with the traditional circus performer who is not an actor and who never doubles his or her identity.« 32
Zu Beginn des neuen Jahrtausends lässt sich darüber hinaus eine zunehmende Kooperation zwischen Freien Theatern und institutionellen Einrichtungen erkennen. Etliche Gruppen oder Künstler arbeiteten gleichzeitig oder abwech30 | Ebd. 31 | »New Circus in the Czech Republic«, in: Czech Dance Info, http://www.czechdance. info/dance-in-the-czech-republic/introduction/new-circus-in-the-czech-republic. 32 | Ebd.
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selnd an ihren freien Produktionen und an staatlich subventionierten Häusern. Diese Überschneidung ist auch heute häufig anzutreffen. Die freien Gruppen und Künstler sind vor allem in sogenannten stagione venues aktiv: in Theaterhäusern, Vereinen und Clubs, die nicht dauerhaft, sondern wie Produktionshäuser als gelegentliche Spielstätten genutzt werden können. Zu diesen Orten zählen in Prag Divadlo Archa, Meet Factory, Palác Akropolis, Experimentální prostor NoD Roxy, Alfred ve dvoře, La Fabrika und Divadlo Ponec. Außerhalb Prags gehören beispielsweise das Theater Divadlo Konvikt in Olomouc, die Bühne Club 29 in Pardubice und die beiden Spielstätten Skleněná louka und Multikulturní centrum Stadec in Brno dazu.
Abbildung 1: Pilsen 2012, Foto: Andrea Hensel Nicht nur wegen der Nutzung unterschiedlicher Orte und Räumlichkeiten zeichnet sich die Freie Theaterszene in Tschechien heute durch eine besondere Vielfalt aus. Auch die künstlerischen Arbeitsweisen sind breit gefächert. So befasst sich Jiří Adámeks Gruppe Boca Loca Lab beispielsweise mit gesellschaftskritischen Themen und collagiert dabei in den künstlerischen Produktionen die (Text-)Sprache mit musikalischen Klängen und Gesang. Die Gruppe Handa Gote Research & Development bringt in ihren Aufführungen installative Elemente mit Bewegungs- und Tanztheater sowie mit elektronischen Klän-
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gen und Livemusik zusammen. Die Gruppe SKUTR und die Spitfire Company arbeiten auf der Bühne mit den Mitteln des Puppenspiels, der Clownerie, der Akrobatik sowie mit Text und Musik. Und schließlich setzt Miroslav Bambušek in seinen ortsbezogenen Performances historische und gesellschaftspolitische Themen in Bezug zueinander und verwendet Praktiken des künstlerischen Reenactments. Allen genannten Gruppen ist gemeinsam, dass sie auf der Bühne unterschiedliche künstlerische Medien nutzen und sich mit sozialen Problemen in Geschichte und Gegenwart auseinandersetzen: »Independent theatres are more open to contemporary dramatic texts, the problems of the contemporary world, and documentary and social theatre. They often stage original works instead of classic stage plays.«33 Diese Richtung vertreten zahlreiche Freie Theater, darunter als bekannteste Gruppen mamapapa, Divadlo Vosto5 und Barevnŷ děti in Prag, Bílé divadlo in Ostrava, Divadlo Continuo in Malovice, Divadlo DNO in Hradec Králové und Divadlo Facka in Brno.34 In den letzten 20 Jahren bildeten sich in Tschechien zudem etliche kulturpolitische Organisationen zur Unterstützung der Freien Theater. Zu nennen sind Jedefrau, mamapapa public Association, das Kulturzentrum Johan – centrum pro kulturní a sociální projekty, Art Prometheus, Econnect, MOTUS, ProCulture und For a Cultural Czech Republic. Alle diese Einrichtungen haben ihren Sitz in Prag. Die Entwicklungen in der Slowakei bis zur Loslösung von Tschechien im Jahr 1993 ähneln sich in beiden Staaten. Eines der ersten Freien Theater, das in Bratislava gegründete Astorka Korzo, entstand 1969 noch zur Zeit des kommunistischen Regimes.35 Es wurde nach dreijähriger Arbeit aus politischen Gründen geschlossen. Nach der Konstituierung der Slowakei entwickelten junge Regisseure in den neunziger Jahren progressive Arbeiten. Zu diesen Künstlern gehörten Svetozár Sprušanský, Rastislav Ballek und Martin Čičvák. Die 33 | Fragebogen Tschechien. 34 | Weitere bekannte freie Gruppen in Tschechien sind in Prag Cirk La Putyka, Bohincká divadelní společnost, Décalages – divaldo v pohybu, Depresivní děti touží po penězích, Divadlo Mimotaurus, Farma v jeskyni, Damúza Studio, Stage Code und Veselé skoky; in Brno das Buranteatr, Divadlo Anička a letadýlko und Divadlo Neslyším; in Braník Divadlo Skelp und in České Budějovice Divadlo Kvelb. 35 | Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in der Slowakei die Fragebögen Slowakei I und II vom 22. November 2012 und 29. Oktober 2012; Fekete, Vladislava: »Country Report Slovakia«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 277-286; Hoflehner, Johannes C./ Vannayová, Martina/Vejtisek, Marianne (Hg.): Durchbrochene Linien. Zeitgenössisches Theater in der Slowakei (TdZ Recherchen 40), Berlin: Theater der Zeit 2007; Slovak Theatre Institute. Independent Theatres, http://www.theatre.sk/en/homepage/.
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freie Spielstätte Astorka Korzo wurde wiedereröffnet und es entstanden freie Gruppen wie S.T.O.K.A und das Theater Divadlo a.ha. in Bratislava. Allerdings führten unzureichende Reformversuche zu prekären Rahmenbedingungen im Bereich der Kultur. Als Folge entstand unter anderem eine scharfe Trennung zwischen etablierten Theaterhäusern und freien Theatergruppen, die bis heute besteht. Unter dem Ministerpräsidenten Vladimír Mečiar erstarkte im Jahr 1994 der slowakische Nationalismus. Die Kultur und mit ihr die Theater hatten in der Folge erneut unter politischer Instrumentalisierung und staatlicher Reglementierung zu leiden. Die Aktivitäten der Freien Theater kamen fast gänzlich zum Erliegen. Auch nach einem Regierungswechsel im Jahr 1998 blieben die erhofften und notwendigen Kulturreformen aus; die Arbeitsverhältnisse an den Theatern verschlechterten sich weiter. Die Freien Theater arbeiteten in den folgenden Jahren trotzdem. Sie gingen nun auch internationale Zusammenarbeiten ein und es kam zur Neugründung freier Gruppen, darunter die Kollektive Divadlo SkRAT und Moje experimentálne divadlo (MED) in Bratislava, die heute international bekannt sind. Erst ab 2004, dem Jahr des EU-Beitritts der Slowakei, brachte das Land erste Reformen im Kulturbereich auf den Weg. Sie werden in der Kulturpolitik jedoch nur zögerlich in die Praxis umgesetzt. Trotzdem existiert heute eine große Anzahl freier Gruppen und Spielstätten. Dazu gehören etwa das Theater Radošinské naivné divadlo in Bratislava, die Bühne Teatro Tatro in Nitra sowie die Gruppe J.A.eV in Žilina und das Theater Divadlo z Pasáže in Banská Bystrica. Eine Besonderheit der Freien Theater in der Slowakei besteht darin, dass diese weit überwiegend kollektiv arbeiten. Sie entwickeln ihre Produktionen meist in einem Probenprozess, in dem jeder Darsteller zum Mitautor der Aufführung wird. Bemerkenswert ist auch die häufige Nutzung der Musik als gleichwertiges dramaturgisches Element der Produktionen. Für diese Praxis stehen beispielsweise die Gruppe Divadlo SkRAT, die auf der Bühne musikalische Collagen einsetzt und transmediale Experimente wagt, und das Theater GUnaGU. Im Jahr 1985 in Bratislava gegründet, repräsentiert Letzteres bis heute eines der »erfolgreichsten und beliebtesten slowakischen Theater«36. Eine wichtige Rolle spielen heute auch die freien Gruppen und Bühnen Štúdio L & S, Divadlo Non.Garde, Tanečné divadlo Bralen und Slovenské divadlo tanca, s.r.o., die alle in Bratislava angesiedelt sind.37 Aber auch in anderen Städten der Slowakei arbeiten freie Theatergruppen. 36 | Šebesta, Juraj: »Erfolgsgeschichte mit Hindernissen«, in: J. C. Hoflehner/M. Vannayová/M. Vejtisek (Hg.), Durchbrochene Linien, S. 42-58, hier S. 47. 37 | Weitere Gruppen sind in Bratislava Teatro Wüstenrot, Asociácia súčasného tanca, Tanečná spoločnosť Artyci, P.A.T., ElleDanse, Arteatro, Biele divadlo, Prešporské divadlo, TANGERE Productions und Divadlo Meteorit; in Košice Staromestské divadlo, Divadlo V
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Die Freien Theater in der Slowakei nahmen somit in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung und sind derzeit im slowakischen Theater eine gewichtige Größe. Die Freien Theater in Rumänien lassen sich heute mit den Worten eines rumänischen Theatermachers als »strong, bold, free, new, fresh, unconventional, open in dealing with all kinds of issues or even taboos«39 beschreiben. Jedoch unterscheidet sich ihre Geschichte von den bereits beschriebenen Szenarien in den anderen ehemaligen sozialistischen Volksrepubliken. Während sich in Ungarn, Polen und in der damaligen Tschechoslowakei unter den kommunistischen Regimen freie Gruppen gründeten, geschah dies in Rumänien nicht. Zu stark waren die Repressionen unter der autoritären Herrschaft Ceauşescus und seines brutalen Sicherheitsdienstes Securitate.40 kufri, Divadlo Na peróne und Divadlo Maškrta; in Budmerice Teátro Neline; in Pezinok Divadlo PIKI; in Bátovce Divadlo Pôtoň; in Žilina Phenomenon Theatre; in Trnava Túlavé divadlo und Divadelné štúdio DISK Trnava; in Prešov Detské kočovné divadlo DRaK und Portál-komorné divadlo bez opony; in Senica Divadlo oProti; in Svätý Jur Divadlo Na kolesách. 38 | Fragebogen Slowakei II. 39 | Fragebogen Rumänien I vom 4. September 2012. Vgl. zur Entwicklung der rumänischen Theaterlandschaft außerdem die Fragebögen Rumänien II und III vom 4. Oktober 2012 und 29. Oktober 2012; Popovici, Julia: »Country Report Romania«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 241-262; Lamsa, Wolf: Transformation und Neubestimmung im Theateruniversum Rumänien. Das rumänische Theater nach 1989, in: gift – zeitschrift für freies theater 2 (2012), http://www.freietheater.at/?page=service&subpage=gift&detail=4 8918&id_text=16; Mazilu, Marina/Weident, Medana/Wolf, Irina (Hg.): Das rumänische Theater nach 1989, Berlin: Frank & Timme 2011; Pintilie, Ileana: »Romanian Artists before and after 1989«, in: Maska 4 (2006), S. 122ff. 40 | Vgl. zur Geschichte Rumäniens exemplarisch Kahl, Thede (Hg.): Kilometer Null – politische Transformation und gesellschaftliche Entwicklungen in Rumänien seit 1989, Berlin: Frank & Timme 2011; Scharr, Kurt: Rumänien – Geschichte und Geographie, Wien/ Köln/Weimar: Böhlau 2008; Thede, Karl (Hg.): Rumänien. Raum und Bevölkerung, Geschichte und Geschichtsbilder, Kultur, Gesellschaft und Politik heute, Wirtschaft, Recht und Verfassung, historische Regionen, Wien/Berlin/Münster: Lit 2006; Boia, Lucian: Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2003.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
Als das Land wirtschaftlich am Ende war, brach im November 1989 eine blutige Revolution aus, die mehr als 1000 Todesopfer zählte und das kommunistische Regime stürzte. Nach der jahrzehntelangen Diktatur und ihrer Misswirtschaft, Unterdrückung und Isolation kamen ökonomische Veränderungen in den neunziger Jahren nur langsam voran. Auch die Umstrukturierungen der Theaterhäuser gingen zäh vonstatten, es fehlten Subventionen und Reformen blieben aus: »The revolution pretty much changed the whole system and deeply affected the theatrical landscape […]. In short (and maybe a little overly dramatic, but just a little) soon after communism theatre was left with hundreds of jobless actors, not enough spectators and very few to no playwrights (the ones who had worked all their creative life in the communist system, so it was almost impossible to change). It was more and more obvious that theatre needed to change something in order to survive, but it took years before the first change appeared.« 41
Zu Veränderungen trug vor allem die Rückkehr von Regisseuren bei, die das Land während der Ceauşescu-Ära verlassen hatten. Theatermacher wie Andrei Şerban, Vlad Mugur und Lucian Giurchescu waren »lebensnotwendige Erneuerer von draußen«42 . Sie übernahmen zu Beginn der neunziger Jahre die Leitung institutioneller Einrichtungen in Bukarest und ermutigten junge Theaterkünstler durch progressive Inszenierungen zu experimentellen Arbeiten. Sie bestärkten auch die Arbeit der ersten freien Gruppen und Bühnen Rumäniens. So wurden in den neunziger Jahren das Teatrul Levantul in Bukarest, das allerdings noch in demselben Jahr wieder schloss, und das Teatrul ACT gegründet, das bis heute als Bukarester ›Kellertheater‹ von freien Gruppen genutzt wird. Die Entwicklung der Freien Theater verlief jedoch zögerlich. Durch die prekären Rahmenbedingungen, die die Arbeit der freien Gruppen massiv beeinträchtigten, etablierte sich die rumänische Freie Szene im Vergleich zu den bereits beschriebenen Theaterlandschaften erst wesentlich später. Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends kam es durch die Gründung der freien Gruppen DramAcum und TangaProject in Bukarest zu einem Auf bruch der Freien Theater: »Independent theatre means a new generation of artists who graduated after 1989.«43 Zu den jungen Regisseuren und Theatermachern, die nun in Erscheinung traten und heute international anerkannt sind, gehören Persönlichkeiten wie Gianina Cărbunariu, Radu Apostol, Alex Berceanu, An41 | Fragebogen Rumänien III. 42 | Modreanu, Cristina: »Wir haben geniale Ideen, wissen aber nicht, was wir damit anfangen sollen«, in: M. Mazilu/M. Weident/I. Wolf (Hg.), Das rumänische Theater, S. 51-58, hier S. 51. 43 | Fragebogen Rumänien I.
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dreea Vălean, Miruna Dinu, Bogdan Georgescu, Vera Ion, Ioana Păun, David Schwartz, Ana Margineanu und Radu Afrim. Alle genannten Künstler legen künstlerisch den Schwerpunkt darauf, sich mit sozialen Fragen zu befassen. »In artistic terms, the most interesting aspects are connected to the emergence of community art, socially committed theatre, political theatre, documentary theatre and site-specific theatre.«44 Diesem Verständnis von Theater folgen auch die Gruppen und Organisationen, die sich in den vergangenen Jahren bildeten, wie Figura Association in Gheorgheni, Dramafest Foundation in Tîrgu Mureş, The Magic Theatre in Râmnicu Vâlcea, die Gruppen Auăleu Garage, Courtyard Theatre und At4t Association in Timişoara und The Offensive of Generosity (O2G), Theatre without borders, 4Culture Association, Collectiva, Passe-Partout Company und D’AYA Company in Bukarest. Trotz ihrer Vielzahl verfügen die Freien Theater in Rumänien nicht über eigene Spielstätten oder Proberäume. Ausnahmen bilden einzig die Theater Teatrul ACT und Teatrul ARCA im La Scena Club in Bukarest sowie die Bühnen Teatrul 74 und Studio Yorick in Tîrgu Mureş. Der gravierende Raummangel hat zur Folge, dass freie Gruppen ihre Produktionen meist in (Alltags-)Räumen und an alternativen Orten wie Bars, Galerien, Cafés und Fabriken zeigen. In Bukarest handelt es sich beispielsweise bei Monday Theatre @ Bar Green Hours, Montage Gallery, Godot Café Teatru und Fabrica um solche von freien Theatergruppen genutzte Kunsträume. Die politische Entwicklung Bulgariens unterscheidet sich von der in den bisher beschriebenen Ländern:45 »Man sollte Bulgarien nicht auf einen Nenner mit den anderen Ländern des Ostblocks bringen – bei uns gab es nach 1944, nach Einführung des sowjetischen Modells, eigentlich keine Versuche, das System zu stürzen. In Bulgarien hat es nie Kräfte gegeben, die eine solche Dynamik entwickelt hätten wie in Tschechien, Ungarn oder Polen.« 46 44 | J. Popovici: »Country Report Romania«, S. 243. 45 | Vgl. zur Geschichte Bulgariens exemplarisch Baeva, Iskra/Kalinova, Evgenia: Bulgarien von Ost nach West. Zeitgeschichte ab 1939, Wien: Braumüller 2009; Dimitrov, Georgi P.: Kultur im Transformationsprozess Osteuropas. Zum Wandel kultureller Institutionen am Beispiel Bulgariens nach 1989, München/Berlin: Otto Sagner 2009. 46 | Javor Gardev, zit. in: Ein Gespräch mit Javor Gardev und Georgi Tenev der Triumviratus Art Group: »Das Ende der Ideologie. Neue Regieansätze für eine neue Zeit«., in: Eilers, Dorte Lena/Volkland, Anna/Schultze, Holger (Hg.), Die neue Freiheit. Perspektiven des bulgarischen Theaters (= TdZ Recherchen 83), Berlin: Theater der Zeit 2011, S. 74-83, hier S. 77. Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in Bulgarien außerdem Wagenstein, Kalina: »Country Report Bulgaria«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 111-124.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
In kommunistischer Zeit war das bulgarische Theater keine kritische Institution. Unmittelbar nach dem Ende des Kommunismus kam es jedoch zu zahlreichen Gründungen Freier Theater. Ein prominentes Beispiel ist die mittlerweile staatlich subventionierte Theaterwerkstatt Sfumato, aufgebaut 1989 von Margarita Mladenova und Ivan Dobčev in Sofia. Sie ist heute nach wie vor ein wichtiger Anlaufpunkt für freie Gruppen und Künstler. In den ersten Jahren nach der Revolution entstanden auch die von Tedi Moskov ins Leben gerufene Gruppe La Strada, das Kollektiv Credo von Nina Dimitrova und Vasil Vasilev-Zueka, die Triumviratus Art Group, gegründet von Javor Gardev, Georgi Tenev und Nikola Toromanov, sowie Krasen Krăstevs Aramant Dance Studio. Alle Gruppen waren in Sofia ansässig. Darüber hinaus wurden freie Regisseure wie Ivan Panteleev, Desislava Špatova, Valerija Vălčeva, Marius Kurkinski, Galina Borissova und Văzkresija Vihărova bekannt. Diese Theatermacher experimentierten mit neuen Arbeitsweisen und Dramaturgien. Damit legten sie den Grundstein für die Entwicklung der Freien Theater in Bulgarien: »Die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts blieben die stärkste, vielfältigste und kreativste Periode im zeitgenössischen bulgarischen Theater.« 47 Im Jahr 1997 verursachte die immer schlechtere Wirtschaftslage die bis dahin schwerste Staats- und Finanzkrise des Landes. Die einsetzende Hyperinflation führte zu Massendemonstrationen. Die Regierung sah sich gezwungen zurückzutreten. Freie Theater existierten kaum noch. Trotz dieser schwierigen Ausgangssituation wurden aber zu Beginn des neuen Jahrtausends zahlreiche freie Gruppen neu gegründet, die bis heute für die Freie Theaterszene Bulgariens richtungsweisend sind. Im Mittelpunkt der Produktionen dieser Kollektive steht der bulgarische Alltag, der kritisch behandelt wird. Dabei zeigt sich eine große Vielfalt der künstlerischen Richtungen: »vom psychologischen Theater, das auf einem Text basiert, bis hin zu Performances, in denen der Text von den Schauspielern bzw. Tänzern selbst entwickelt wird, von Body-Arts bis hin zu Performance-Installationen«48. Zu den wichtigsten Gruppen zählen heute das Brain Store Project, 36 Monkeys, das Derida Dance Centre, die Gruppe B+, das Garage Collective, die MOMO Theatre Company und die DUNE Dance Company. Sie sind alle in Sofia angesiedelt. Eine große Rolle für die Freien Theater Bulgariens spielen außerdem Theatermacher wie Gergana Dimitrova, Mladen Aleksiev, Veselin Dimov, Galina Borissova, Violeta Vitanova, Stanislav Genadiev, Vasilena Radeva, Alexander Georgiev, Dimitar Dimitrov, Martin Vangelov, Petar Todorov und Ida Daniel. Von Bedeutung ist auch die 2009 47 | Nikolova, Kamelija: »Der Aufstand der verspäteten Modernisten«, in: D. L. Eilers/A. Volkland/H. Schultze (Hg.), Die neue Freiheit, S. 54-62, hier S. 59. 48 | Gavrilova, Desislava: »Ausschwärmen und Ausweiten des Feldes«, in: D. L. Eilers/A. Volkland/H. Schultze (Hg.), Die neue Freiheit, S. 90-97, hier S. 94.
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gegründete kulturpolitische ACT-Organisation. Sie ist aus einem Zusammenschluss freier Künstler hervorgegangen, die sich für die Freie Szene einsetzen. Die Arbeitsbedingungen der freien Gruppen sind jedoch beschwerlich. Die finanzielle wie künstlerische Kluft zwischen den institutionellen Einrichtungen und den unabhängigen Künstlern wächst zunehmend. Räumlichkeiten stehen den freien Theaterprojekten nicht zur Verfügung. Zu den Produktions- und Aufführungsorten der Freien Theaterszene zählen in Sofia derzeit vor allem Kunst- und Alltagsräume wie das Rote Haus – Zentrum für Kultur und Debatte, das ehemalige Schwimmbad Poduene, der Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst und Performance The Fridge, die Galerie Industrialna 11, das Pro Rodopi Arts Centre und die Galerie Sklada.
2.2 Postjugoslawische Staaten Freie Theatergruppen in Serbien wurden erstmals in den fünfziger Jahren gegründet.49 Sie verstanden Theater meist als politisches Medium. Beispielhaft für diese Gruppen ist das 1956 in Belgrad entstandene Avantgardetheater Atelje 212. Es arbeitete mit zensierten künstlerischen Theaterpraktiken und führte verbotene Stücktexte auf, insbesondere Stücke des Absurden Theaters. Bemerkenswert ist auch die Gruppe KPGT50, die Ende der siebziger Jahre unter der Leitung von vier Theatermachern aus verschiedenen jugoslawischen Teilrepubliken entstand: Ljubiša Ristić stammt aus Serbien, Dušan Jovanović aus Slowenien und Nada Kokotović und Rade Šerbedžija kommen aus Kroatien. Der Name der noch heute bestehenden Gruppe setzt sich aus der kroatischen, der bosnischen, der slowenischen und der serbischen Bezeichnung für ›Theater‹ zusammen: kazalište, pozorište, gledališče, teatar. Das Kollektiv führt häufig internationale Projekte durch, die sich mit sozialen Missständen auseinandersetzen. Diesem Verständnis von Theater folgt auch das Teatar Mimart. Es wurde im Jahr 1984 von Nela Antonović in Belgrad als nonverbales Physical Theatre gegründet und zählt heute zu den bekanntesten Freien Theater in Serbien: »Mimart researches the answers to many axiom questions close to the facts of life, especially in Serbia which had witnessed cultural destruction for the past years. We hold that art educators need to work towards establishing more progressive, non-re49 | Vgl. zur Entwicklung des Theaters in Serbien die Fragebögen Serbien I und II vom 29. September 2012 und 5. September 2012; Jankovic, Andjelka: »Country Report Serbia«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 263-276; Andjelic, Jadranka: »Country Report Serbia«, in: IG Freie Theaterarbeit. Countryreports, http://www.freietheater.at/?page= europeanoffnetwork&subpage=country_report#13. 50 | Vgl. KPGT, http://www.kpgtyu.org/.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas pressive and non-manipulative ways of interpreting other cultures and other arts. We wish to implant the power of a non-verbal and interactive art process into intercultural communication.« 51
Die Kriege in den neunziger Jahren, die Zerstörung der Infrastruktur, die wirtschaftlichen Krisen, die ethnisch-kulturellen Konflikte und die internationale Isolation des Landes wirkten sich in starkem Maße auf die Lage der Freien Theater Serbiens aus.52 Viele Künstler verließen das Land, unter ihnen die prominente Performancekünstlerin Marina Abramović. Staatliche Einrichtungen wurden kaum mehr subventioniert. Zudem standen sie unter dem Druck, sich in ihren künstlerischen Arbeiten mit den Bürgerkriegen zu befassen und diese zu rechtfertigen. Freien Gruppen und Künstlern war die Arbeit beinahe unmöglich. Dennoch entstanden in den neunziger Jahren freie Theatergruppen. Dazu gehört beispielsweise das im Jahr 1991 von Jadranka Anđelić und Dijana Milošević gegründete DAH Teatar – Centar za pozorišna istraživanja in Belgrad. Auch erregten die Produktionen von Jagoš Marković und Gorčin Stojanović Aufmerksamkeit. Die Gruppen und Künstler setzten sich auf der Bühne kritisch mit den Kriegen ihres Landes auseinander; sie gehörten zur künstlerischen Opposition Serbiens. Mit ihren Produktionen ermutigten sie weitere freie Theaterkollektive, die sich in der Mitte der neunziger Jahre bildeten. Auch diese verstanden ihre Theaterarbeit in einem politischen Sinne, so etwa die Gruppe Ister Teatar, die von Dalija Aćin initiierte Kompanie INTRA für zeitgenössischen Tanz, die Gruppe Ad Hoc Lom, das ERGstatus plesni Teatar, das Theaterlaboratorium Plavo pozorište, das OMEN Teatar, das SVAN Teatar, das Splin Teatar (ehemals Popocatepetl), die Bühne Pozorište Ogledalo und die Gruppe Kraft Teatar. All die Gruppen hatten ihren Sitz in Belgrad. Sie legten den Grundstein für die Freie Theaterszene in Serbien und sind heute bekannte Freie Theater. In den letzten Jahren etablierten sich darüber hinaus junge Regisseure wie Bojan Đorđev, Kinga Mezei und Miloš Lolić. Die künstlerischen Arbeiten der Dramatiker Maja Pelević und Milan Marković gewinnen mehr und mehr auch international an Aufmerksamkeit.53
51 | Fragebogen Serbien I. 52 | Vgl. zur Geschichte Serbiens exemplarisch Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens 19.-21. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007; Boeckh, Katrin: Serbien, Montenegro. Geschichte und Gegenwart, München: Pustet 2002. 53 | Daneben bildeten sich die freien Organisationen und Gruppen BAZAART, DEZ.ORG, MUDRA Teatar und Corpus Artisticum, das DDT kreativni centar za pokret, das Teatar Projekat Objektivna Drama, das Kollektiv SubHuman Teatar, das PoToP (Deluge) Teatar und das SET-Studio, die ebenfalls allesamt in Belgrad angesiedelt sind. Vgl. für weitere Gruppen und Künstler: TkH Forum for Performing Arts Critique (Hg.): RASTER – Yearbook
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Abbildung 2: Belgrad 2012, Foto: Andrea Hensel Unterstützung erhalten die Freien Theater in Serbien durch kulturelle Organisationen sowie kulturpolitische Netzwerke und Plattformen, die zum Teil bereits in den neunziger Jahren gegründet wurden. Diese machen sich in der Kulturpolitik für die Freie Theaterszene stark. Zu den Einrichtungen gehören die Kulturzentren REX Cultural Center, Dom Omladine und CZKD (Centar za kulturnu dekontaminaciju), die Vereinigung für zeitgenössischen Tanz Stanica und der 2011 gegründete Verband für Freies Theater NKSS, die wiederum alle ihren Sitz in Belgrad haben. Zwei Tendenzen zeichnen sich in der Arbeit der Freien Theater in Serbien seit einiger Zeit ab: erstens die zunehmende theoretische Reflexion der eigenen künstlerischen Praxis. Dafür steht zum Beispiel die im Jahr 2000 entstandene künstlerische Plattform Walking Theory: »TkH (Walking Theory) is an independent (institutionally non-aligned, extra-academic) platform for performing theoretical-artistic activism. It is initiated and run by the editorial collective TkH whose members are theorists and artists coming from performance theory and practice, theatre, cinema, and visual arts.« 54
of the Independent Performing Arts Scene in Serbia, Belgrad: TkH Centre for Performing Arts Theory and Practice 2009. 54 | Walking Theory, http://www.tkh-generator.net/. Vgl. zu den beschriebenen Tendenzen außerdem TkH Forum for Performing Arts Critique (Hg.): RASTER; Šuvaković, Miško: »Theoretical Performance«, Maska 1 (2005), S. 67-72.
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Zweitens die immer größere Bedeutung von Tanz- und Performancetheater. Dafür kamen von der Gruppe Mimart in den achtziger Jahren wichtige Impulse. Derzeit etablieren sich junge Choreografen, Performer und Gruppen, die auf der Bühne vorwiegend mit Körperpraktiken experimentieren. In Slowenien ist das Zentrum Križanke in der Hauptstadt Ljubljana der Mittelpunkt der Freien Theaterszene.55 Es ist bis heute einer der beliebtesten kulturellen Veranstaltungsorte des Landes. Im 13. Jahrhundert als Kloster des Kreuzritterordens erbaut, gestaltete der Architekt Jože Plečnik die Ruine zu Beginn der fünfziger Jahre für das Festival Ljubljana um. Seitdem umfasst das Gelände eine Freilichtbühne und einen restaurierten Rittersaal (Viteška dvorana), der als Spielstätte für experimentelles Theater genutzt wird. Seit Mitte der fünfziger Jahre treten dort Freie Theater auf, so in der frühen Zeit beispielsweise das Ensemble Eksperimentalno gledališče von Balbina Battelino Baranovič, die Gruppe Oder 57, das von Draga Ahačič geleitete Gledališče Ad Hoc und das ebenfalls von Balbina Battelino Baranovič neu gegründete Mladinsko gledališče für Kinder- und Jugendtheater, das in den achtziger Jahren als Slovensko mladinsko gledališče internationale Bekanntheit erlangte. Die Gruppen orientierten sich an nichtsozialistischen Ideen von Theater: »As an opposition to the repertoire-driven, soc-realist, traditional theatre of consensus, the experimental theatre consciously staged contemporary, existentialist and absurdist drama, including contemporary politically engaged Slovene plays, and also revolutionised the stage in the sense of Artaud and re-theatralisation. This new theatre did not call itself political but experimental, exploratory.« 56
Eine große Bedeutung erlangte die neoavantgardistische Performancegruppe Gledališče Pupilije Ferkeverk. Sie entstand Ende der sechziger Jahre in Ljubljana. Sie setzte sich nicht nur aus professionellen Theatermachern zusammen, sondern zählte auch Laiendarsteller zu ihren Mitgliedern. Das Kollektiv wandte sich von literarischen Vorlagen ab und rückte die Beziehung zwischen Publikum und Akteuren in den Vordergrund. In Übereinklang mit der Bewegung der Zweiten Theateravantgarde in den sechziger und siebziger Jahren wollte 55 | Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in Slowenien die Fragebögen Slowenien I und II vom 3. November 2012 und 5. Oktober 2012; Toporišič, Tomaž: »Country Report Slovenia«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 289-294; National Theatre Museum of Slovenia (Hg.): Occupying Spaces; Culture from Slovenia worldwide, http://www.culture. si/en/Category:Theatre. 56 | Toporišič, Tomaž: »Spatial Machines and Slovene (No Longer-)Experimental Theatre in the Second Half of the 20 th Century«, in: National Theatre Museum of Slovenia (Hg.): Occupying Spaces, S. 418-468, hier S. 423.
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es durch anthropologisch-theatrale Verfahren zu spiritueller Grenzüberschreitung und (Selbst-)Erfahrung von Akteuren und Zuschauern führen. Tomaž Kralj, einer der Mitbegründer der Gruppe, hielt fest: »[I]n our group, the presentation of a text is not the main rule and performances are realised directly through theatrical visualisation which is devoted to theatre and not literature. The final form and consequence of a theatrical situation are not predictable or known in advance; when a situation is theatrically visualised, the simple and the total emerge. The author becomes researcher of his own theatre and research unfolds in practice.« 57
Eine wichtige Rolle unter den Freien Theatern dieser Zeit spielte auch die Gruppe Gledališče Pekarna. Lado Kralj, der gleichzeitig in der freien Gruppe Eksperimentalno gledališče Glej engagiert war, rief sie im Jahr 1972 ins Leben. Ihr Konzept bestand darin, sich in der Theaterarbeit mit rituellen Praktiken auseinanderzusetzen. Das Ensemble löste sich 1978 auf. Die erwähnte freie Bühne Eksperimentalno gledališče Glej wurde 1970 in Ljubljana von dem Regisseur und Dramatiker Dušan Jovanović gemeinsam mit Lado Kralj, Zvone Šedlbauer und anderen gegründet. Sie stellt das älteste nichtinstitutionelle Theater Sloweniens dar, das bis heute dauerhaft über eine eigene Spielstätte verfügt. Die künstlerischen Leiter der Bühne – Janez Pipan, Eduard Miller, Nevenka Koprivšek, Matjaž Pograjc, Bojan Jablanovec, Tomi Janežič, Sebastijan Horvat, Diego DeBrea, Jure Novak, Marko (Mare) Bulc und derzeit Marko Bratuš – üben bis heute einen starken Einfluss auf das slowenische Freie Theater aus. Die Spielstätte bietet freien Theaterschaffenden in Slowenien gute Rahmenbedingungen für die künstlerische Arbeit. Damit ist die Bühne ein bedeutender Ort des Landes, an dem freie Gruppen mit neuen Arbeitsweisen und Themen experimentieren können, wie es der ehemalige Leiter Marko Bulc beschreibt: »Glej always was a new contemporary, a young theatre. It is for directors, who want to get the space in Glej, who want to work in complete freedom, who want to have a lot of free space and some extra production money to do what they want. Glej is not so much focused on the product in the end but mostly we try to focus to think about the process much more than their results. We do also a lot of work-in-progress situations. Mistakes are allowed. […] We are trying to be a space for new ways of theatre, a space to explore the borders to the media and a space to find interesting stuff.« 58 57 | Tomaž Kralj, zit. in: ebd., S. 431. 58 | Interview der Verfasserin mit Marko Bulc am 27. Mai 2012. Vgl. zur künstlerischen Arbeit die Homepage des Theaters: Gledališče Glej, http://www.culture.si/en/Glej_ Theatre.
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Eine weitere, für freie Gruppen wichtige Spielstätte stellt das Theater Mladinsko gledališče in Ljubljana dar. Balbina Battelino Baranovič schuf hier 1955 das erste professionelle Kinder- und Jugendtheater. 1978 übernahm Dušan Jovanović die Leitung des Theaters und entwickelte das Slovensko mladinsko gledališče, wie der Name nun lautete, zu einer international angesehenen Bühne. Dort arbeiteten prominente Theatermacher wie Ljubiša Ristić, Vito Taufer, Dragan Živadinov, Janez Pipan, Eduard Miller und Tomaž Pandur. Sie waren in den achtziger Jahren wichtige Vertreter des slowenischen experimentellen Theaters und prägten die freien Gruppen und Künstler des Landes. Das heutige Konzept der Spielstätte Slovensko mladinsko gledališče ist folgendermaßen beschrieben: »Today, it [the Theater Slovensko mladinsko gledališče, author’s note A. H.] is known for a wide range of innovative poetics of various young directors and the phenomenon of ›ensemble energy‹ – the [Peter, author’s note A. H.] Brook approach, towards acting, which is not based on star hierarchy, but on an acting laboratory connecting individual bravura parts into a strong whole of the acting ensemble. In its performances, the Mladinsko Theatre strives to thematise universal paradoxes of the civilisation, with its programme based on the problematisation of new times and spaces. The Mladinsko Theatre will continue to develop the code of new theatrical practice, new visual paradigms, new views on the classics, modernism and postmodernism. At the Mladinsko Theatre, the actor, director, choreographer, set designer, musician … all research and develop, risk and create in order to develop a new spectator through their gestures.« 59
Das Slovensko mladinsko gledališče erhält staatliche Subventionen, verfügt über ein festes Ensemble und einen feststehenden Jahresspielplan. Gleichzeitig bietet es kollektivem Arbeiten, alternativen Dramaturgien und experimentellen künstlerischen Arbeitsweisen einen Ort. Im Jahr 1984 nahm die Bewegung des Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK) ihren Anfang.60 Das Gründerquartett bestand aus der Industrialband Laibach, dem Malerkollektiv IRWIN, dem Grafik- und Designstudio Novi Kolektivizem und der experimentellen Theatergruppe Gledališče Sester Scipion Nasice, die später unter dem Namen Kozmokinetični kabinet Noordung bekannt wurde. Die Kunst von NSK ist häufig provokant. In seinen künstlerischen Arbeiten verwendet das Kollektiv oft Symbole, Zeichen, Bilder oder Ikonen 59 | Slovensko mladinsko gledališče, http://en.mladinsko.com/home/. 60 | Vgl. Monroe, Alexei: Interrogation Machine. Laibach and NSK, London/Cambridge: The MIT Press 2005; Gržinić, Marina/Heeg, Günther/Darian, Veronika (Hg.): Mind the Map! History is not given, Frankfurt a. M.: Revolver 2004; Arns, Inke: Neue slowenische Kunst. Eine Analyse ihrer künstlerischen Strategien im Kontext der 1980er Jahre in Jugoslawien, Regensburg: Museum Ostdeutsche Galerie 2002.
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aus politisch-historischen Zusammenhängen wie den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts. Diese werden ihrem ursprünglichen Kontext entrissen, neu zusammengesetzt und dekonstruiert. Darüber hinaus schuf das Kollektiv zu Beginn der neunziger Jahre einen virtuellen NSK-Staat mit symbolischen Ausweisen, Reisepässen, Botschaften, Konsulaten und zeitweise mit einer fiktiven Währung. Laut Berichten, die allerdings nicht offiziell belegt sind, war es Mitgliedern der Bewegung wiederholt möglich, die internationalen Grenzen mit dem NSK-Reisepass zu überqueren. Aufgrund dieser kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen und historischen Themen wurde das Kollektiv auch als Katalysator für die kommende Unabhängigkeitsbewegung des Landes angesehen. Slowenien verfügte damit vor dem Zerfall Jugoslawiens über eine im Vergleich mit den anderen jugoslawischen Teilrepubliken außergewöhnlich lebhafte und reiche Freie Theaterszene. Viele der genannten freien Gruppen und Künstler sind auch heute noch aktiv. Sie gelten nach wie vor als wichtige Vertreter der Freien Theater Sloweniens. Im Juni 1991 löste sich das Land aus dem Verbund Jugoslawiens und erklärte seine Unabhängigkeit.61 Unmittelbar danach kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Jugoslawischen Volksarmee. Im Unterschied zu den jahrelangen Kriegen in den Nachbarländern Kroatien und Bosnien-Herzegowina endeten die Kämpfe aber bereits nach zehn Tagen. Die Demokratisierung und der ökonomische Auf bau des Landes konnten deshalb bereits früh beginnen. Dies spiegelt sich auch in der Entwicklung der Freien Theater wider. Schon in den neunziger Jahren trat eine Vielzahl junger Theatermacher an die Öffentlichkeit, unter ihnen heute international bekannte Künstler wie Matjaž Berger, Vlado Repnik, Davide Grassi (später umbenannt in Janez Janša), Igor Štromajer, Marko Peljhan, Emil Hrvatin (später auch umbenannt in Janez Janša), Tomi Janežič, Sebastijan Horvat, Matjaž Farič, Jernej Lorenci, Ivica Buljan, Nevenka Koprivšek und Diego de Brea. Gleichzeitig bildeten sich in Ljubljana freie Theaterkollektive wie Matjaž Pograjcs Gruppe Betontanc, das Muzeum Institute, das von Nevenka Koprivšek gegründete Bunker Institute, das international bekannte Maska Institute, die Gruppe Dejmo Stisnt Teater von Mare Bulc, En Knap unter Iztok Kovač, Bojan Jablanovecs Via Negativa und das international renommierte Projekt Dragan Živadinovs, Kozmokinetični kabinet Noordung. Die genannten Theatermacher und Gruppen arbeiten noch heute. Sie gelten als Vorreiter des experimentellen Theaters in Slowenien. Mit ihren Produktionen beeinflussten sie vor allem junge Theaterkünstler in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends. Zu diesen gehören Jelena Rusjan und ihre Gruppe Škrip Orkestra, Sebastian Roškarič und Polonka Červek mit der Grup61 | Vgl. Štih, Peter/Simoniti, Vasko/Vodopivec, Peter: Slowenische Geschichte. Gesellschaft – Politik – Kultur, Graz: Leykam 2008.
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pe Saltimbanko Magic World, Primož Ekart und sein Produktionshaus Imaginarni Institute sowie das Performancekollektiv Narobov, die alle in Ljubljana ansässig sind.62 Die im Jahr 1992 gebildete Organisation Asociacija in Ljubljana setzt sich kulturpolitisch für die freien Gruppen und Künstler Sloweniens ein. Die Freien Theater Sloweniens nahmen auch nach dem politischen Umbruch eine sehr vielfältige Entwicklung. Die Ausgangslage war dabei am Ende der sozialistischen Ära im Vergleich mit den anderen Teilstaaten gut. Heute ist die künstlerische Bandbreite der freien Gruppen und Theatermacher in Slowenien groß. Allerdings schränken zwei Gegebenheiten die Arbeit der Freien Theaterszene ein: zum einen die Konzentration des kulturellen Lebens auf die Hauptstadt Ljubljana und zum anderen die zunehmend schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen. Wegen der immer schlechteren wirtschaftlichen Lage des Landes können sich seit Mitte der Nullerjahre Theatermacher und freie Gruppen kaum neu etablieren. »The theatre and the contemporary dance have been in decline since 2004. The charm of which the Slovenian culture used to be recognised in Ex-Yugoslavia is gone. And NGO sector had been drying out, self-destroying and slowly drowning.«63 Mit diesen Worten beschreibt eine freie Theaterkritikerin die Lage der Freien Theater in Slowenien in den letzten Jahren. Wie sich das Freie Theater in diesem Land in den nächsten Jahren entwickelt und ob sich unter diesen Umständen neue freie Gruppen etablieren, bleibt abzuwarten. Die jugoslawische Teilrepublik Kroatien erlebte in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren politisch den ›kroatischen Frühling‹, als eine breite nationaldemokratische Bewegung eine größere Eigenständigkeit des Landes und mehr nationale Rechte forderte.64 Die jugoslawische Regierung unter dem Staats- und Parteichef Tito schlug den Protest nieder. In diese politisch bewegte Zeit fielen die ersten Gründungen freier Theatergruppen in Kroatien.65 Diese gingen aus der Amateurtheaterbewegung hervor, deren künstlerische Verfahren sie fortführten. Zu den bekanntesten Namen dieser Zeit zählen die Gruppe Kugla glumište (heute Damir Bartol Indoš) und das von Davor Mojaš 62 | Zu nennen sind weiterhin Theatermacher wie Sabina Schwenner, Marko Bratuš, Boris Kadin, Peter Kus, Miha Nemec, Mala Kline, Irena Tmažin, Maja Delak, Mateja Bu čar, Matija Solce, Andreja Kopač, Katarina Stegnar, Mare Bulc, Jure Novak und Urška Brodar. 63 | Fragebogen Slowenien I. 64 | Vgl. zur Geschichte Kroatiens exemplarisch Steindorff, Ludwig: Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg: Pustet 2001. 65 | Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in Kroatien Kovačić, Jelena: »Country Report Croatia«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 125-146; Borojević, Nebojša: »Country Report Croatia«, in: IG Freie Theaterarbeit, http://www.freietheater.at/?page=european offnetwork&subpage=country_report#2.
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gegründete Studententheater Lero, die beide in Zagreb ansässig waren, sowie Nebojša Borojevićs Kollektiv Daska in Sisak. Weil ihnen keine Spielstätten zur Verfügung standen, präsentierten die Gruppen ihre Produktionen meistens auf Festivals in Kroatien. Dadurch erlangten sie große Aufmerksamkeit im eigenen Land sowie über die Landesgrenzen hinaus. In den achtziger Jahren gründeten sich weitere wichtige Theatergruppen, so Romano Bogdans Kollektiv Kazališna družina Pinklec in Čakovec, die Gruppe Dr. Inat unter der Leitung von Branko Sušac in Pula, Borut Šeparović’ Performancegruppe Montažstroj in Zagreb, das Ensemble Tranzicijsko-fikcijsko in Rijeka und das erste freie Kinderund Jugendtheater Mala Scena, das im Jahr 1986 von Vitomira Lončar, Zvjezdana Ladika und Ivica Šimić in Zagreb ins Leben gerufen wurde. Die Gruppe KGPT, deren Bedeutung bereits beschrieben wurde, gehört ebenfalls zu diesen Neugründungen. Wie Slowenien erklärte auch Kroatien im Juni 1991 seine Unabhängigkeit. In den folgenden vier Jahren des Kroatienkrieges vertrieben die Jugoslawische Volksarmee gemeinsam mit serbischen paramilitärischen Verbänden die kroatische Bevölkerung in den von ihnen kontrollierten Gebieten des Landes und verübten Massenmorde im Zeichen ethnischer Säuberungen. 1995 konnte Kroatien den Krieg für sich entscheiden. Das Abkommen von Erdut regelte das künftige Zusammenleben mit der serbischen Minderheit. In den folgenden Jahren führte Kroatien zahlreiche Wirtschafts-, Justiz- und Sozialreformen durch. Die Arbeit der kroatischen Freien Theater war während des Krieges stark eingeschränkt. Trotz der prekären Lage wurden aber einige wenige freie Kollektive wie das HKD Teatar von Nenad Šegvić und Lary Zappia in Rijeka und das Teatar Exit in Zagreb gegründet. Die Bedeutung des Pula art Umjetnicki Festival (PUF) ist besonders hervorzuheben. Freie Theatermacher wie Davor Mojaš, Nebojša Borojević, Branko Sušac und Romano Bogdan riefen es 1994 als internationales Festival für Freies Theater in Pula ins Leben: »PUF was born as a direct commentary on Croatian theatre reality.«66 Die Gründung dieses Theatertreffens trug wesentlich zum Fortbestand der Freien Theater in Kroatien unter den Bedingungen des Krieges bei. Allerdings war die Ausstattung auf ein Minimum reduziert. Das Festival existiert auch heute noch. Es stellt nach wie vor eine wichtige Kommunikationsplattform der Freien Theater in Kroatien dar: »PUF functions as a communication channel; revealing the world from a new angle: not monologue and passive communication, but dialogue, frankness, identification, and participation. At the same time, it is obvious that PUF will be a site of encounters be-
66 | Ebd.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas tween artists who differ in their worldviews and inner necessities, yet not in their marginalized social position.« 67
In Kroatien ragen in den letzten Jahren drei experimentelle Theater heraus. Das Teatar & TD in Zagreb ist wegen des von Nataša Rajković und Marin Blažević initiierten Förderprogramms »kultura promjene« (Kulturwandel) eine wichtige Anlaufstelle für freie Künstler. Theatermacher wie Branko Brezovac, Damir Bartol Indoš, Anika Tomić und Oliver Frljić arbeiten dort. Auch nutzen freie Gruppen wie das bereits genannte Performancekollektiv Montažstroj und die von Goran Sergej Pristaš im Jahr 2000 gegründete Gruppe BADco dieses Theater. Die zweite wichtige Spielstätte ist das Theater Zagrebačko kazalište mladih (ZeKaeM) in Zagreb. Es wird von der Dramaturgin Dubravka Vrgoč geleitet, die dort seit 2005 eine Vielzahl internationaler Projekte von großer künstlerischer Bandbreite initiiert hat. Schließlich verfügt auch die Gruppe Teatar Exit der Begründer Matko Raguž und Nataša Lušetić in Zagreb seit 1998 über eine feste Bühne. Die Produktionen der Gruppe entstehen auf der Basis kollektiver und prozessorientierter Zusammenarbeit der Akteure. Die Gruppe versteht Theater »als eine […] gemeinschaftliche [...] Werkstatt, ein work in progress mit gleichberechtigter Autorschaft aller Beteiligten«68. Diesem Verständnis von Theater sind in der Vergangenheit zahlreiche Theatergruppen und junge Künstler Kroatiens gefolgt, so Bobo Jelčić, Nastaša Rajković, Matija Ferlin, Rene Medvešek, Saša Anočič und Lary Zappia. In neuester Zeit prägen weitere Gruppen die Freie Theaterszene des Landes. Zu ihnen zählen Boris Bakals Gruppe Bacači Sjenki sowie die Kollektive Act Lab, Bumerang, Gustl, Moruzgva, Planet Art, Teatar Rugantino, Teatar Svarog, Kazalište Merlin, Kazalište Hotel Bulić und Studio Kvak. All diese Theatergruppen arbeiten in Zagreb. In Split wurden die Theaterkollektive Room 100, Kazalište Licem u Lice, Play Drama und Malo Splitsko Kazalište gegründet. In Koprivnica, nahe der kroatisch-ungarischen Grenze, sind die freien Gruppen Ludens Teatar und Grupa Kugla ansässig. Die kriegerischen Auseinandersetzungen in den postjugoslawischen Staaten in den neunziger Jahren erschütterten auch Bosnien-Herzegowina. Nach der Unabhängigkeitserklärung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik 1992 brach ein drei Jahre dauernder Krieg zwischen Bosniern, Serben und der kroatischen Minderheit des Landes aus. Nach dem Kriegsende 1995 war die wirtschaftliche Lage des Landes verheerend: Wohngebäude, Industrieanlagen und
67 | Ebd. 68 | Ivanković, Hrvoje: »Zwischen Text und Kontext«, in: M. Vannayová/A. Häusler (Hg.), Landvermessungen, S. 63-74, hier S. 65.
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die Infrastruktur waren zerstört, die ethnisch motivierten Auseinandersetzungen fanden kein Ende. Angesichts dieser Lage wäre ein Zusammenbruch des Theaterlebens in der ersten Hälfte der neunziger Jahre in Bosnien-Herzegowina nicht verwunderlich gewesen. Das Gegenteil war jedoch der Fall: »Während der vier Jahre Besatzungszeit wurden mehr als hundert Premieren und Uraufführungen in Sarajevo gespielt.«69 Dabei kam dem Theater Sarajevski ratni teatar (SARTR) in Sarajevo eine wichtige Rolle zu. Es wurde gleich zu Beginn der Belagerung der Stadt von den Regisseuren Gradimir Gojer und Dubravko Bibanović, dem Ingenieur Đorđe Mačkić und dem Autor Safet Plakalo gegründet. Das SARTR galt als künstlerisches Zentrum für Schauspieler, Regisseure und Theaterangestellte, deren Theatereinrichtungen in Sarajevo wegen des Krieges geschlossen worden waren. Es war während des Krieges eine wichtige Anlaufstelle für viele Künstler und Ort für zahlreiche Aufführungen. Nach dem Krieg bekam das Theater den Status einer öffentlichen Einrichtung mit besonderer Bedeutung für die Stadt zugesprochen. Einige Theaterproduktionen, die in der besetzten Stadt Sarajevo gezeigt wurden, erlangten wegen ihrer politischen Botschaft eine besondere Bedeutung. Dazu gehört Susan Sontags Performance Warten auf Godot von 1993. Die Künstlerin rief in der Aufführung dazu auf, dass die westlichen Staaten in den Bosnienkrieg eingreifen müssten. Die Performance erregte internationale Aufmerksamkeit. Das gilt auch für die Inszenierungen Silk Drums des Theater- und Filmregisseurs Haris Pašović und die Produktion In the Country of the Last Things des Sarajevo Festival Ensemble, eine Romanadaption nach Paul Auster. Diese beiden Performances zählen zu den bekanntesten Aufführungen in Bosnien-Herzegowina während der Kriegsjahre. Allen genannten Produktionen kam über ihre politischen Aussagen hinaus eine wichtige symbolische Bedeutung zu: Sie standen für das Weiterleben des Theaters. »In this big area to be covered I can focus the theatre produced during the siege of Sarajevo 1992-1996. Under the inhuman conditions of life (24-hours mortal danger, shelling, snipers, hunger, no electricity, etc.), the artists produced theatre and the audience risked their lives to come to watch the show.« 70 69 | Bašović, Almir: »Theater im Transitbereich oder Dionysos auf Dienstreise«, in: M. Vannayová/A. Häusler (Hg.), Landvermessungen, S. 23-30, hier S. 24. Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in Bosnien-Herzegowina außerdem die Fragebögen BosnienHerzegowina I und II, beide vom 30. Oktober 2012; Orucevic, Tanja Miletic: »Country Report Bosnia and Hercegovina«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 95-110; After the fall. Europa nach 1989. Ein Theaterprojekt des Goethe-Instituts, http://www.goethe.de/kue/ the/prj/atf/the/sar/deindex.htm. 70 | Fragebogen Bosnien-Herzegowina I.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
Nach dem Ende des Krieges änderte sich die Lage. Die Bedeutung des Theaters nahm ab. Das Land hatte vorrangig mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Krieges zu kämpfen, denen die Kultur hintangestellt war. Das Interesse für Theater war gering und Gelder waren kaum vorhanden. Für viele Jahre, bis weit nach der Jahrtausendwende, existierten auch keine Freien Theater in Bosnien-Herzegowina. Im Vergleich zu den bisher beschriebenen Theaterlandschaften in den postsozialistischen Staaten bildete sich eine Freie Theaterszene somit viel später heraus. Erst 2005 rief der Regisseur Haris Pašović das Kulturzentrum East West Centar in Sarajevo ins Leben.71 Die Einrichtung versteht sich als eine NGO, die Dienstleistungen erbringt, ohne damit Gewinn zu erzielen. Sie zeigt eigene Performances und bietet Workshops mit internationalen Theatermachern an. Darüber hinaus kooperiert sie mit freien Künstlern aus mehr als 20 Ländern. Der Ort ist heute das am weitesten bekannte Kulturzentrum der postjugoslawischen Staaten. Im Jahr 2006 entstand darüber hinaus das Theater Gradsko pozorište Jazavac in Banja Luka. Die Spielstätte ist nicht nur ein Kinder- und Jugendtheater, sondern sie bietet auch Workshops und Ausbildungsprogramme für Schauspiel, Dramaturgie und Regie an. Außerdem ist sie ein wichtiger Ort für junge Theatermacher und Gruppen. Künstlerisch legen die dort gezeigten Produktionen den Schwerpunkt auf Alltagsthemen und befassen sich mit den sozialen Realitäten des Landes: »Mission of the Gradsko pozorište Jazavac is to discover and promote young artists and to offer to the public a theatre art as a communication and dialogue on current and everyday topics of their interest, with which they are faced with [sic].«72 Die genannten Theaterzentren fördern die Entwicklung der Freien Theater in Bosnien-Herzegowina. Sie sind wichtige Orte für Gruppen und Künstler, die sich bis heute nur sehr zögerlich etablieren.
2.3 Postsowjetische Staaten Das Theater in Russland blickt auf eine reiche Geschichte zurück.73 Theaterreformer wie Wsewolod Meyerhold, Jewgeni Wachtangow, Alexander Tairow, Konstantin Stanislawski und Sergei M. Eisenstein übten zu Beginn des 20. Jahrhunderts großen Einfluss auf das nationale wie das internationale Theater aus. In der Nach-Stalin-Ära prägten Regisseure und Theatermacher wie Oleg 71 | Vgl. East West Centar, http://eastwest.ba/. 72 | Gradsko pozorište Jazavac, http://gpj.ba/. 73 | Vgl. zur Entwicklung des Theaters in Russland exemplarisch Bryzgel, Amy: Performing the East. Performance Art in Russia, Latvia and Poland since 1980, London/New York: I. B. Tauris 2013; Laech, Robert/Borovsky, Victor: A history of Russian Theatre, Cambridge u. a: Cambridge University Press 1999; Theatre Institute Russia, http://www.teatr.ru/.
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Jefremow, Georgi Alexandrowitsch Towstonogow, Maria Knebel, Anatoly Efros, Anatoli Wassiljew und Lev Dodin das russische Theater. Sie arbeiteten vor allem an experimentellen Bühnen wie dem international bekannten Künstlertheater Moskovskiy Hudojestvenny Akademicheskiy Teatr (MChAT), dem von Juri Petrowitsch Ljubimow gegründeten Teatr na Taganke und dem Teatr Sovremennik in Moskau oder dem Teatr Mały in St. Petersburg. Nach der Auflösung der Sowjetunion traten in dem neu gegründeten Staat Russland schwere innenpolitische Konflikte auf.74 Die Privatisierung der Wirtschaft und die Versuche, Staat und Gesellschaft zu demokratisieren, schlugen fehl. Die Industrie brach zusammen, die Inflation stieg an und die Schere zwischen verarmten Bevölkerungsschichten und einflussreichen Oligarchen ging immer weiter auseinander. Ende der neunziger Jahre befand sich das Land in einer schweren Wirtschaftskrise. Es kamen Spannungen im Nordkaukasus hinzu, die zu den beiden Kriegen in Tschetschenien führten. Im Jahr 2000 übernahm Wladimir Putin das Amt des Staatspräsidenten, das er nach einer Unterbrechung von 2008 bis 2012 heute wieder innehat. Durch Steuerreformen, Kapitalrückfluss und den Export von Rohstoffen verbesserte sich die wirtschaftliche Lage. Zugleich ließ Putin die Verfassung ändern, sodass dem Staatspräsidenten nun umfangreiche Befugnisse zukommen. Trotz der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage entwickelte sich das russische Freie Theater in den neunziger Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends weiter. Insbesondere in Moskau entstanden neue Bühnen und Kollektive wie beispielsweise das Teatr na Pokrovke unter der Leitung von Sergei Arzibaschew, das von Michael Shepenko initiierte Teatr Kamernaya Scena, die Theaterwerkstatt Petr Fomenko Workshop, Alexander Kaliagins Teatr EtCetera, das Teatr Okolo unter Juri Porgrebnichko und Ljudmila Rasumowskajas Teatr Chevolek. Außerdem bildete sich nach der Jahrtausendwende die künstlerische Richtung des Novaya Drama heraus.75 Diese Entwicklung ging von den Freien 74 | Vgl. zur Geschichte Russlands Mommsen, Margareta: Wer herrscht in Russland? Der Kreml und die Schatten der Macht, München: C. H. Beck 2003; Schramm, Gottfried (Hg.): Russlands langer Weg zur Gegenwart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 75 | Vgl. zur künstlerischen Bewegung des Novaja Drama D. L. Eilers: »Achtung Kunst!«; Beumers, Birgit/Lipovetsky, Mark: Performing Violence. Literary and Theatrical Experiments of New Russian Drama, Bristol/Chicago: Intellect 2009; Dolschanski, Roman: »Kommerz und erfreuliche Ausnahmen«, in: Theater der Zeit 3 (2006), S. 23-26; Dürr, Carola: »Auf der Suche nach dem verlorenen Helden. Das Festival Neue Dramatik in Moskau«, in: Theater der Zeit 3 (2006), S. 33; dies.: »Der Aufbruch hat begonnen«, in: Theater der Zeit 3 (2006), S. 20ff.; Belenitskaja, Nina: »Kurswechsel. Ein Schlüssel für das Verständnis des Wertekanons in der russischen Gesellschaft«, in: Theater der Zeit 3 (2006), S. 16-19.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
Theatern aus. Das Novaya Drama wird heute von namhaften Gruppen und Künstlern vertreten. Zu ihnen gehören das 2002 von Michail Ugarov und Elena Gremina gegründete Teatr.doc, die Gruppe CDR – Tsentr dramaturgii i rezhissury von Michail Roshchin und Alexei Kazantsev, das 2005 von Eduard Boiakov geschaffene Teatr Praktika und das ebenfalls 2005 unter der Leitung von Wladimir Pankov entstandene Kollektiv SounDrama. Diese Gruppen, die in Moskau ansässig sind, beziehen sich auf das deutsche Dokumentartheater der sechziger Jahre und das britische In-Yer-Face-Theatre. Sie wollen für das Theater einen dokumentarischen Realismus entwickeln, der authentisches Quellenmaterial wie beispielsweise Interviews, Dokumente und Reportagen zum Ausgangspunkt nimmt. Dieses Material wird inhaltlich nicht verändert, aber in seiner Form künstlerisch bearbeitet, geschnitten und neu zusammengesetzt. Die Gruppe Teatr.doc fasst ihr künstlerisches Selbstverständnis in folgende Worte: »Teatr.doc ist ein Theater, in dem nicht gespielt wird.«76 Die Bewegung des Novaya Drama ist eine wichtige künstlerische Richtung der russischen Freien Theater. Sie ist auch außerhalb Russlands bekannt. Zu den jungen Regisseuren, die in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit traten, gehören Dimitri Krymow, Iwan Alexandrowitsch Wyrypajew, Kirill Serebrennikow, Andrei Mogutschi, Juri Butusow, Mindaugas Karbauskis und Dmitri Jegorow. International bekannt sind heute auch das Theater AKHE von Maxim Isajew und Pawel Semtschenko, das Teatr Oddance und das Kollektiv DNEVO, die alle in St. Petersburg arbeiten, sowie das Studio für Theaterkunst von Sergei Zhenovach, das Zentrum für Tanz und Performance TsEKh und das Teatr Liquid in Moskau. Im August 1991 konstituierte sich die Republik Belarus.77 Seit 1994 regiert Alexander Lukaschenko das Land als Staatsoberhaupt. Belarus verzeichnet zwar einen höheren Lebensstandard als Russland. Großstädte wie Minsk, Gomel und Mogiljow suggerieren Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung und es gibt lebhafte Subkulturen. Aber das Land lebt unter einer Diktatur. Es ist international isoliert, die Zensur greift hart durch und die Allmacht des Staatssicherheitsdienstes KGB schüchtert die Gesellschaft ein.
76 | Galachowa, Olga: »Archipel Moskau«, in: Theater der Zeit 12 (2012), S. 12-15, hier S. 15. 77 | Vgl. Akudowitsch, Valentin: Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen, Berlin: Suhrkamp 2013; Bohn, Thomas M./Shadurski, Victor (Hg.): Ein weißer Fleck in Europa …: Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West, Bielefeld: transcript 2011.
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Abbildung 3: Minsk 2013, Foto: Andrea Hensel Die staatlichen Theatereinrichtungen befinden sich in einer schwierigen Lage.78 Sie können nicht unabhängig von staatlichen Repressionen arbeiten. Seit Anfang des neuen Jahrtausends erhalten sie vom Staat lediglich Mittel für die Gehälter der Künstler und die Betriebskosten. Darüber hinaus werden nur Auftragsproduktionen staatlich finanziert, die als gesellschaftlich relevant und politisch genehm gelten: »In diese Kategorie gehören Aufführungen belorussischer und internationaler Klassiker sowie Stücke, die sich mit der belorussischen Geschichte auseinandersetzen.« 79 Die staatlichen Restriktionen beeinträchtigen die Gründung von Freien Theatern. »Experimental theatre and performance and the struggle for performance art, as an experimental art, are forbidden in a political context. An artist and freedom are considered to be contrary to each other, and art as a process is forbidden. Anything that is impossible to be understood by the government is forbidden.« 80
78 | Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in Belarus den Fragebogen Belarus vom 22. September 2012; Pietrow, Viktor: »Country Report Belarus«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 83-94; Fundacja Open Culture (Hg.): A report on the condition of culture and NGOs in Belarus, Lublin: Episteme 2011, auch http://fundacjaopenculture.org/. 79 | Komonowa, Tatjana: »Die Welt im Spiegel betrachtet«, in: M. Vannayová/A. Häusler (Hg.), Landvermessungen, S. 13-22, hier S. 13. 80 | V. Pietrow: »Country Report Belarus«, S. 91.
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Dennoch entstanden in den letzten Jahren in Belarus immer mehr freie Theatergruppen. Sie arbeiten im Untergrund in Privatwohnungen, Galerien und Cafés. Die Performances der Gruppen setzen sich mit verbotenen Themen wie Homosexualität, Geschlechterfragen, psychischen Krankheiten und Drogenkonsum auseinander. Künstlerisch experimentieren die Theatermacher mit neuen, meist zensierten künstlerischen Verfahren: »In my opinion, the main peculiarity is the tendency to go beyond the old theatrical style which still dominates in public theatres and to create a kind of new theatrical product according to modern times and today’s audience interests. This can be reached in several ways.« 81 Ein wichtiger Künstler ist Pawel Admatschikow. Als Schauspieler und Regisseur an der Staatlichen Akademie der Künste in Minsk gilt er als Wegbereiter der in Belarus wenig bekannten Richtung des Bewegungstheaters. Auch der Regisseur Wladimir Petrowitsch spielt im Freien Theater eine große Rolle. Er regt das Publikum in seinen Arbeiten an, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen, und konfrontiert die Zuschauer mit den sozialen Missständen des Landes. Schließlich ist auch der Regisseur Wladimir Schtscherban ein wichtiger Vertreter der Freien Theater. Seine Inszenierungen zeitgenössischer belorussischer und internationaler Dramatik werden immer wieder zensiert oder ganz abgesetzt. Seit 2005 ist Schtscherban Mitglied des Belarus Free Theatre, das die Menschenrechtsaktivistin Nikolai Khalezin und die Dramatikerin Natalia Koliada im selben Jahr in Minsk gründeten. Wegen der staatlichen Restriktionen richtete die Gruppe 2011 einen weiteren Sitz in London ein. Ihre international aufgeführten Performances befassen sich mit der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Situation in Weißrussland. In Minsk zählt das Free Belarus Theatre zu den bekanntesten Freien Theatern. Weitere freie Gruppen, die in dieser Stadt arbeiten, sind das von Evgeni Kornyag gegründete Kornyag Teatr, Alexander Tebenkows Tanztheater Gallery, die Gruppen Kryly Halopa, InZest und Zywaja Planet, die D.O.Z.SK.I-Kompanie, die Performancegruppen Jana Try Jon, Petli und Mechaniory kultury sowie das Teatr Psichicznaj neuraunawazanasci. In Vitebsk ist die Gruppe Parallels ansässig und in Grodno die Quadro-Company. Bei allen Unterschieden zwischen den Gruppen ist ihnen oft eine spartenübergreifende Arbeitsweise gemeinsam. So kooperieren die freien Theatermacher mit Kuratoren, bildenden Künstlern, Medienkünstlern und Journalisten der Freien Szene. Aus dem Dialog entwickeln sich neue künstlerische Formate an ungewöhnlichen Orten. Partner der Freien Theater sind auch Kulturmagazine, Galerien und Agenturen, so beispielsweise die Galerie Ỹ von Walentina Kiselieva, die von Sergei Shabothin initiierte Kulturzeitschrift Ar-
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taktivist, das Onlinemagazin pARTisan, die Fotogalerie Studio 67 und die Konzertagentur BOpromo in Minsk. In der Ukraine etablierten sich freie Künstler, Gruppen und Bühnen erst zu Beginn der neunziger Jahre:82 »At that time, ideological restrictions in theatrical and choreographic life were relaxed – after the abolishment of censorship, theatres could finally form their repertoires independently.« 83 Neben jungen Regisseuren wie Gregory Hlady, Mark Nestantiner und Yuriy Yatsenko machten sich besonders die Schüler des russischen Theaterreformers Anatoli Wassiljew wie Oleh Lipstyn, Andrij Zholdak und Valerij Bilchenko in der Freien Theaterszene einen Namen. Als bedeutende Spielstätte entstand 1988 das von Wolodymyr Kuchinski gegründete Milodyi Teatr in Lwiw, das später unter dem Namen Teatr Łeś Kurbas einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte und noch heute besteht. Nachdem die Ukraine 1991 unabhängig geworden war, prägten in den neunziger Jahren ökonomische Krisen das Land, die Bevölkerung war arm und die Kriminalität hoch.84 Gleichwohl entstanden neue freie Theatergruppen. So gründete Valerij Bilchenko zu Beginn der neunziger Jahre in Kiew das Straßentheater Kyivisky Teatr Uliczny KET. Zur gleichen Zeit etablierte Vitaly Malakhov dort das Kyivsky Teatr na Podoli. Gemeinsam mit dem Milodyi Teatr spielten diese beiden Gruppen in den neunziger Jahren unter den Freien Theatern in der Ukraine eine wichtige Rolle. Ihre künstlerische Arbeit war vor allem vom Theater Jerzy Grotowskis und Anatolij Wassiljews beeinflusst. Die schwierige wirtschaftliche Lage hatte jedoch auch auf die Freien Theater Auswirkungen. Bekannte Theatermacher wie Bilchenko, Oleh Lipstyn, Gregory Hlady, Mark Nestantiner und Yuri Yatsenko arbeiteten immer öfter im Ausland oder verließen ihre Heimat gänzlich. Aber es gründeten sich auch neue freie Gruppen und Bühnen. Dazu gehörten zum Beispiel Vladislav Troitskys Teatr Dakh und das Tanzlaboratorium in Kiew. In Charkiw bildeten sich Svitlana Oleshkos Kollektiv Arabesky und die Gruppe P.S. In Lwiw schufen Irina Volytska und Lydia Danylchuk das Teatr u Koshyku, in Dnipropetrowsk entstand die Gruppe Verim und in Zaporizhia Vie. Die Orangene Revolution im Jahr 2004 hatte tiefgreifende politische Umwälzungen in der Ukraine zur Folge. Wegen der instabilen politischen Lage 82 | Vgl. zur Entwicklung der Theaterlandschaft in der Ukraine die Fragebögen Ukraine I und II vom 28. Oktober 2012 und 11. Oktober 2012; Peresunko, Tina: »Country Report Ukraine«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 295-348; Fundacja Open Culture (Hg.): A report on the condition of culture and NGOs in Ukraine, Lublin: Episteme 2012, auch http://fundacjaopenculture.org/. 83 | T. Peresunko: »Country Report Ukraine«, S. 300. 84 | Vgl. Schneider-Deters, Winfried: Die Ukraine – Machtvakuum zwischen Russland und der Europäischen Union, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2012.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
wurden die Kultur und mit ihr die Freien Theater in Politik und Gesellschaft nur wenig beachtet. Gleichwohl entstanden in der Mitte der Nullerjahre freie Gruppen und neue Bühnen. Dazu gehören die Spielstätte Budynok aktora und die Gruppe Nowa Szena in Charkiw sowie das von Dmytro Bogomasow gegründete Kollektiv Wilna Szena, Anton Ovchinnikovs Tanztheater Black O!Range, das Vilnyi Teatr und das Teatr 19 in Kiew. Gemeinsam mit den Gruppen und Regisseuren, die ihre Arbeit bereits in den neunziger Jahren aufgenommen haben, und mit Theatermachern der jüngeren Generation wie Maxim Holenko und Igor Ladenko sind diese Gruppen heute die maßgeblichen Vertreter der ukrainischen Freien Theater. Derzeit befinden sich die Freien Theater in der Ukraine in einer schwierigen Lage: »There were more than 200 independent theatre companies in Ukraine in the beginning of the 1990s and now there are just few of them alive […] mostly they ceased to exist due to lack of funding, lack of space. They did a lot of experiment in the beginning of the 1990s but it didn’t change the Ukrainian theatre in general. Ukrainian theatre, as it was in the Soviet Union times, still remains traditional, inflexible, rigid.« 85
Ausbleibende Kulturreformen, veraltete Strukturen in der Kulturpolitik und unsichere ökonomische Rahmenbedingungen erschweren heute die Arbeit der Freien Theater in der Ukraine und beeinträchtigen die Entwicklung von neuen Gruppen massiv.
2.4 E xkurs: Die Freie Tanzszene Mit Ausnahme Jugoslawiens, in dessen Teilrepubliken sich die Kultur verhältnismäßig autonom entwickeln konnte, basierten die Tanzproduktionen in den sozialistischen Ländern auf einem ideologisch aufgeladenen und politisch instrumentalisierten Körperbild. Der Tanz diente dazu, den kollektiven sozialistischen Körper zu inszenieren. Diese Vorgabe ließ keine individuellen Körperbilder auf der Bühne zu. »The collective body in its various hypostases (party structures, workers’ unions, local party organisations etc.) was hostile to all manifestations of personal corporeality – distinguishable appearances, sexual or emotional preferences or personal tastes. The nation was the ›virtual socialist body‹, which was not interested in individuality, but encouraged unification and large-scale formations […].« 86 85 | Fragebogen Ukraine I. 86 | Todorova, Mira: Body, Identity, Community. Dance in Bulgaria after 1989, o. O.: o. J., 11 Seiten, Manuskript im Besitz der Verfasserin, hier S. 2. Vgl. zur Entwicklung der
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Uniformierung und Kollektivierung kennzeichneten die Tanzproduktionen in den sozialistischen Ländern. Diese hatten die ästhetischen Vorgaben der Politik zu erfüllen. Das klassische Ballett und der Volkstanz waren staatlicherseits als diejenigen Tanzrichtungen angesehen, in denen sich diese Vorgaben am besten umsetzen ließen. Nach den politischen Umwälzungen Ende der achtziger Jahre bildete sich vor allem in Slowenien, Rumänien, Kroatien, Serbien und Bulgarien eine lebendige Freie Tanzszene heraus. Ihr hoher Entwicklungsstand ist bis heute kaum mit den anderen Tanzszenen in den postsozialistischen Staaten zu vergleichen. »In the remaining countries contemporary dance is at the beginning of its organisational stage, which can be compared to the Flemish scene in the early 1980s.«87 Dies ist in der EEPAP-Studie über die Entwicklung der Tanzszene in den anderen postsozialistischen Ländern festgehalten. In Slowenien, Rumänien und Kroatien erhielten die Tanzgruppen durch die Gründung von kulturellen Vereinen und die Einrichtung von Produktionsstätten tatkräftige Unterstützung. Beispiele sind der seit 1994 bestehende Verein Društvo za sodobni ples Slovenije in Ljubljana, das 2004 gegründete Centrul National al Dansului – Bucuresti (CNDB) in Bukarest und das im Jahr 2009 geschaffene Zagrebački Plesni Centar in Zagreb. Darüber hinaus wurde die Tanzkritik gefördert. Auch trug die Ausbildung von Tanzdramaturgen zu einer Professionalisierung der Freien Tanzszene bei. Über diese Schritte konnten sie sich einen festen Platz in den Kulturlandschaften der drei Länder erobern. In Serbien ging die Belebung der Freien Tanzszene zu Beginn des neuen Jahrtausends von Gruppen wie auch von einzelnen Choreografen und Tänzern aus: »It emerged and evolved mostly within the alternative theatre scene (mainly in Belgrade), as nonverbal, physical, dance theatre, and theatre movement – as well as in various other forms of experimental theatre and performance.«88 Es entstanden Kompanien wie das Dah teatar, das Ister teatar, Placo pozorište, Mimart, Omen und Erg Status. Als junge Choreografen und Tänzer erlangten Boris Čakširan, Ivana Vujić, Bojana Mladenović, Dalija Aćin, Isidora Stanišić, Dragana Alfirević, Dušan Murić, Olivera Kovačević und Saša Asentić Bekanntheit. In einem kollektiven Prozess wird der Körper künstlerisch erforscht. Dabei wird die künstlerische Tanzpraxis stets mit theoretischer Reflexion verknüpft. Eine serbische Choreografin beschreibt die Arbeit der Freien Tanztheater in ihrem Land mit den folgenden Worten:
Tanzszene in den postsozialistischen Staaten auch alle eingegangenen Fragebögen, alle »Country Reports« in EEPAP (Hg.): Studie 2011, sowie Płoski, Paweł: »Introduction«, in: EEPAP (Hg.): Studie 2011, S. 9-62. 87 | Ebd., S. 37. 88 | Fragebogen Serbien I.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas »Open process which creates body declarative art using interactive contemporary arts and interdisciplinary researching way, expanding the borders of theatre. Phenomena are intuitively explored in workshops with body because you can only enter the phenomenon using body. Research using auto-dramaturgy of body brings out new theatre aesthetics of signalise, with risk. […] Non-verbal theatre transcends all barriers: language, geographic, political, ethical, ethnic, social […].« 89
Die Gründung des Verbands für zeitgenössischen Tanz Stanica/Station in Belgrad und des Belgrader Tanzfestivals Beogradski festival igre im Jahr 2001 sorgen bis heute für internationale Aufmerksamkeit und fördern die länderübergreifende Vernetzung der serbischen Tanzgruppen. Darüber hinaus kam die Entwicklung der Tanzszene durch die Einrichtung der Plattform Walking Theory im Jahr 2000 und des TkH Centre for Performing Arts Theory and Practice im Jahr 2002 voran. Beide Einrichtungen unterstützen vor allem internationale Kooperationsprojekte serbischer freier Kompanien und fördern eine enge Verbindung von Praxis und Theorie. Im Jahr 2005 entstand in Belgrad zudem die Nomad Dance Academy. Sie trägt zu einer Professionalisierung der Freien Tanzszene bei, indem sie die Tanzausbildung fördert und länderübergreifende Projekte auf den Weg bringt. Darüber hinaus wirkt sie in die Kulturpolitik hinein: »Its activities have been aimed at creating a strong, recognisable Balkan scene of contemporary dance. NDA is a platform of cooperation, a tool of promotion, a programme of education and creation, and a self-reproducing organisation model.«90 Die Herausbildung von freien Tanzgruppen lassen sich auch in Bulgarien erkennen. Bereits in den achtziger Jahren bildeten sich die freien Tanzgruppen Ek Studio und Ego Group. Sie verknüpften bis dahin im Land unbekannte Tanzpraktiken mit dem politisch vorgegebenen Kanon der Körperinszenierung: »Their performances were marked by the aesthetics of expressionism, and by modernist interpretations of folk motifs, which came to reflect their attempt to ›modernise‹ dance.«91 Die beiden Kompanien lösten sich nach wenigen Jahren auf. Ihre Versuche der ästhetischen Öffnung des Tanztheaters zeigten keine Wirkung. Erfolgreicher war der Choreograf und Tänzer Krasen Krăstev, der 1993 in Sofia die freie Gruppe Amarant gründete. Die Kompanie erarbeitete ihre Produktionen in einem kollektiven Prozess und ging internationale Kooperationen ein. Die Gruppe experimentierte mit neuen Tanzpraktiken. Damit trug sie maßgeblich zur Weiterentwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Bulgarien bei:
89 | Ebd. 90 | P. Płoski: »Introduction«, S. 38. 91 | M. Todorova: Body, Identity, Community, S. 6.
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Weitere junge Choreografen, die in Bulgarien in den neunziger Jahren bekannt wurden, sind Mila Iskrenova, Tatyana Sokolova, Albena Atanassova, Galina Borissova und Rossen Mihaylov. Sie arbeiteten nicht nur in Bulgarien, sondern auch international. Zu Beginn und in der Mitte der Nullerjahre machten sich freie Choreografen wie Anna Doneva, Yuliana Siska, Stefan Shterev, Mila Odadjieva und Ivo Dimchev einen Namen. In dieser Zeit entstanden außerdem einige freie Tanzkollektive, unter ihnen die Gruppe Dance BG von Petya Stoykova und Marga Goranova in Burgas sowie die Kompanien Brain Store Project von Iva Sveshtarova und Villy Prager und Kinesthetic Project von Violeta Vitanova, Stanislav Genadiev, Diana Papazova, Ognyana Serafimova-Penava und Miroslav Yordanov in Sofia. Die Produktionen dieser Gruppen zeichnen sich »durch ihre Radikalität, eine spezifische künstlerische Attitüde und Individualität«93 aus. Im Jahr 2008 entstand in Sofia zudem das Derida Dance Centre, die erste und bis heute einzige Einrichtung für zeitgenössisches freies Tanztheater in Bulgarien. Die Gründung geht auf die Initiative des Choreografen Zhivko Zhelyazkov und des Kunstmanagers Atanas Maev zurück. Das Zentrum fördert die Tanzausbildung und bietet internationale Residenzprogramme an. Die ökonomische Lage der Freien Tanztheater ist in allen postsozialistischen Staaten schwierig. Außer an einer ausreichenden finanziellen Förderung fehlt es vor allem an Spielstätten. Die Kompanien arbeiten zumeist in angemieteten Räumen, nutzen kulturelle Zentren oder kooperieren mit Theaterhäusern. Allerdings fehlt es den etablierten Kultureinrichtungen oftmals an der Bereitschaft, Kooperationen mit freien Tanzgruppen einzugehen. Es existieren nur wenige oder – in etlichen Ländern – gar keine Förderprogramme, die eine Anmietung von Räumlichkeiten einschließen. Darüber hinaus findet der zeitgenössische Tanz in der Kulturpolitik kaum Beachtung. »Contemporary dance is practically absent from cultural policy in most of the countries. […] Most of the countries still lack a cohesive policy of support for dance despite the constant emergence of new dance companies.«94
92 | Ebd., S. 7. 93 | Iskrenova, Mila: »Nichts soll bleiben, wie es war …«, in: D. L. Eilers/A. Volkland/H. Schultze (Hg.), Die neue Freiheit, S. 105-112, hier S. 107. 94 | P. Płoski: »Introduction«, S. 42.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
Die unzureichenden Rahmenbedingungen engen die künstlerische Arbeit der Freien Tanzszene in den postsozialistischen Ländern stark ein. Kompanien und Künstler können sich deshalb nur mühsam etablieren. Aber: Wie geschildert ist in einigen postsozialistischen Ländern eine positive Entwicklung der Freien Tanztheater zu erkennen: »The Eastern European dance scene is evolving slowly. But some developments can be seen on the horizon.«95
3. V or ausse t zungen der künstlerischen A rbeit 3.1 Kulturpolitik und Förderung Nach den politischen Umbrüchen Ende der achtziger bzw. Anfang der neunziger Jahre änderte sich die Kulturpolitik in den postsozialistischen Staaten grundlegend.96 Überall kamen ihr nun ein anderer Stellenwert und eine andere Funktion als vorher zu, wenn sie sich in den einzelnen Ländern auch unterschiedlich entwickelte. Bis dahin hatte die Kultur dem Auf bau und der Legitimation des Sozialismus dienen müssen. Der politische Auftrag der Kultureinrichtungen entfiel nun; damit war allerdings auch die Zeit ihrer ökonomischen Sicherheit beendet. Die Kulturpolitik stand vor neuen Aufgaben. Ihre Transformation wird in einigen Ländern jedoch bis heute erschwert, weil Strukturen sowie Denk- und Handlungsmuster aus sozialistischer Zeit fortbestehen oder personelle Kontinuitäten herrschen. In allen postsozialistischen Staaten lassen sich zwei wesentliche Veränderungen ausmachen. Anstatt wie früher die Vorgaben von Staat und Partei durchzusetzen, fördert die Kulturpolitik nun die Vielfalt und die Eigenständigkeit der Kultur. Die Kultureinrichtungen und die gesellschaftlichen Akteure auf der lokalen Ebene sind an kulturpolitischen Entscheidungsprozessen beteiligt. Zweitens steht die Kulturpolitik vor der Herausforderung, für die Theater eine »Balance zwischen Stabilität und Flexibilität, Tradition und In95 | Ebd., S. 38. 96 | Vgl. für das gesamte Kapitel zum Thema Kulturpolitik alle eingegangenen Fragebögen sowie alle Country Reports in EEPAP (Hg.): Studie 2011; Davydchyk, Maria: Transformationen der Kulturpolitik. Kulturpolitische Veränderungen nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Mittel- und Osteuropa, Wiesbaden: VS 2012; Rauter, Wolfgang: Kulturpolitik und -finanzierung im osteuropäischen Raum, Saarbrücken: VDM 2008; Deutsche UNESCO-Kommission e. V. (Hg.): Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Magna Charta der Internationalen Kulturpolitik, Bonn: Köllen 2005; Kaufmann, Therese/Raunig, Gerald: Anticipating European Cultural Policies. Europäische Kulturpolitiken vorausdenken, Wien/Linz: European Institute for Progressive Cultural Policies 2003.
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novation«97 zu finden. Eine hohe Flexibilität der Kulturpolitik ist wichtig, um auf die häufigen Veränderungen der Rahmenbedingungen reagieren zu können. Gleichzeitig ist ein Mindestmaß an ökonomischer und kulturpolitischer Sicherheit notwendig. Diese Balance herzustellen, erweist sich als eine der größten Schwierigkeiten, denen sich die Kulturpolitik der postsozialistischen Staaten gegenüber sieht. In Bezug auf die Organisationsformen, die Transparenz und die Kohärenz der Kulturpolitik weisen die einzelnen postsozialistischen Staaten einen unterschiedlichen Entwicklungsstand auf. Folgt man der Studie der EEPAP aus dem Jahr 2011, so lässt sich die Lage zu diesem Zeitpunkt folgendermaßen beschreiben: Der Transformationsprozess von einer dem sozialistischen Staat untergeordneten Kulturpolitik hin zu einer eigenständigen, transparenten und stabilen Kulturpolitik ist in Slowenien und in den Staaten der Visegrád-Gruppe (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen) weit vorangeschritten oder die Kulturpolitik ist bereits an den Stand westlicher europäischer Staaten angeschlossen. Weit entwickelt ist auch Kroatien: »This group is joined by Croatia, whose cultural system and policy is closest to the achievements of the countries of Central Europe.«98 Die Kulturpolitik Rumäniens, Bulgariens und Serbiens befindet sich mitten im Veränderungsprozess. Rigorose staatliche Entscheidungsstrukturen bestehen hier fort und die Vernetzung kultureller Einrichtungen hat sich nur ansatzweise herausgebildet. Beide Merkmale sind Überreste der alten Systeme. Wie in den Einzelanalysen der Länder bereits beschrieben wurde, erweist sich die Kulturpolitik in Russland, Belarus und in der Ukraine als intransparent und inkohärent. Die Studie charakterisiert sie als »a conglomerate of socialist and capitalist tendencies results in a combination of both the good and bad aspects of both systems, including corruption and strong tendency toward introverted self-sufficiency«99. In Belarus und Russland herrscht außerdem immer noch eine strenge Zensur. Für Bosnien-Herzegowina fällt die Bilanz ebenfalls schlecht aus: Als Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen ist die Kulturpolitik nach wie vor von Instabilität, Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit geprägt. Gerade deshalb hält ein freier Theatermacher aus Bosnien-Herzegowina fest: »In no country of Europe is cultural policy more important than in Bosnia Herzegovina. Culture is both the cause and the solution to its problems. Cultural arguments were used to divide the country, yet culture might be able to bring people back together again
97 | M. Davydchyk: Transformationen der Kulturpolitik, S. 37. 98 | P. Płoski: »Introduction«, S. 12. 99 | Ebd.
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Ein wichtiger Gradmesser für die Demokratisierung der Kulturpolitik ist die Frage, inwieweit die Theater dezentral organisiert sind. Auch hier ist die Kulturpolitik in den postsozialistischen Staaten bisher unterschiedlich weit vorangekommen. Eine Dezentralisierung der Theater bedeutet, regionale und lokale Entscheidungsträger zu stärken. Damit liegen künstlerische und administrative Entscheidungen nicht in der alleinigen Hand der zentralen Stellen des Staates, wie es vor dem Zerfall der kommunistischen Systeme der Fall war, sondern sie werden auf lokale und regionale Ebenen übertragen. »Decentralization was understood as the state relinquishing direct management of cultural matters and handing them over to lower administrative levels.«101 Diese Verschiebung hin zu einer dezentralen Struktur birgt in erster Linie Vorteile für die Theater: Sie erhalten eine größere Eigenständigkeit, die Fördermittel auf lokaler und kommunaler Ebene erhöhen sich, die Theater entscheiden in Bezug auf Programmgestaltung und Finanzierung weitestgehend eigenständig und Institutionen rücken näher mit ihrem soziokulturellen Umfeld zusammen. Die Dezentralisierung bringt aber auch Nachteile für die Theater mit sich. Dazu gehören Unübersichtlichkeit und Unstimmigkeit bei der Aufteilung ihrer Belange auf zahlreiche lokale und regionale administrative Ebenen, fehlende theaterpolitische Beständigkeit und mangelnde Bereitschaft der politischen Ebene, die Theater effizient zu verwalten und zu unterstützen. Hinzu kommt erschwerend die Besetzung kultureller Ämter mit Verantwortlichen, denen die künstlerische Praxis weitestgehend fremd ist: »It’s a pity that cultural policy is increasingly being developed by professional ›culturologists‹ instead of experts from the individual fields of art.«102 Schließlich bestehen Kommunikationsschwierigkeiten und Konkurrenzen zwischen unterschiedlichen Theaterzentren. »Since the authorities resigned their control as a result of decentralization, everyone started looking for artistic freedom on their own, everybody started making their own contacts, their own space. We began to guard our own territory more than before.«103 Während die Theater in Slowenien, Kroatien, Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien, Serbien, in der Slowakei und in der Ukraine inzwischen dezentral organisiert sind, existieren in Bulgarien und Bosnien-Herzegowina zentrale und dezentrale Strukturen parallel: »In Bosnia and Herzegovina, which functions as an asymmetrical confederacy with undefined spheres of competence on the 100 | Fragebogen Bosnien-Herzegowina II. 101 | P. Płoski: »Introduction«, S. 13. 102 | Fragebogen Tschechien. 103 | Marek Waskiel, zit. in: P. Płoski: »Introduction«, S. 17.
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state level, centralist and decentralist tendencies clash with each other.«104 In Belarus und Russland sind dagegen bis heute zentralisierte Strukturen vorherrschend. Ein belorussischer freier Regisseur äußert sich dazu mit folgenden Worten: »As for state culture politics – in my opinion, they haven’t changed over the last 20 years. The government supports old traditional forms of culture that have existed for years.«105 Wie es bereits die Einzelanalysen vermuten ließen, fällt auch die Förderung freier Theatergruppen und Künstler in den postsozialistischen Staaten unterschiedlich aus. Hier sollen die wichtigsten Möglichkeiten angesprochen werden, die bestenfalls zur Verfügung stehen: Dazu gehört zunächst die Förderung durch das jeweilige Kulturministerium. Sie besteht aus Projekt-, Langzeit- und Kurzzeitförderung. Freie Theater und Theatermacher können sich bewerben, wobei in den einzelnen Staaten Unterschiede hinsichtlich der Voraussetzungen, der Entscheidungsstrukturen und der Handhabung der Förderung bestehen. Zweitens werden Fördermöglichkeiten auf kommunaler oder regionaler Ebene angeboten. Auch hier gelten unterschiedliche Bestimmungen für die Fördervoraussetzungen und die Entscheidungswege. Drittens kann eine Förderung durch Großunternehmen wie Telekom, MasterCard und andere beantragt werden. Private Förderung existiert viertens auch durch einzelne Sponsoren wie Marcel Iures in Rumänien oder Vladimir Filippov in der Ukraine. Fünftens stehen EU-Programme wie Culture 2007, Kaleidoskop, Theorem, PHARE und Culture 2000 zur Verfügung. Die Voraussetzung für eine Bewerbung ist eine EU-Mitgliedschaft, die jedoch nicht alle der hier betrachteten Staaten besitzen. Zu den Ländern, die nicht der EU angehören, zählen Russland, Belarus, Bosnien-Herzegowina und die Ukraine. Internationale Kultureinrichtungen wie das Goethe-Institut und der British Council bieten ebenfalls Fördermöglichkeiten an. Schließlich besteht die Option einer Teilfinanzierung durch den Kartenverkauf. Der Umsatz fällt bei den meisten Aufführungen jedoch nur gering aus, sodass lediglich von einem kleinen Zusatz zu einer weiteren Finanzierung gesprochen werden kann. Und zuletzt bieten auch (internationale) Kooperationen und Netzwerke die Chance, Fördermittel zu erhalten. Diese Finanzierungsform nimmt in den letzten 20 Jahren kontinuierlich an Umfang zu. Sie ist eine wichtige Perspektive für Freie Theater und betrifft die Frage der internationalen Zusammenarbeit, die an späterer Stelle erneut aufgegriffen wird. Speziell für die Entwicklung der Freien Theater in Osteuropa sind darüber hinaus seit vielen Jahren drei internationale Stiftungen wichtig.106 Sie konzent104 | Ebd., S. 16. 105 | Fragebogen Belarus. 106 | Vgl. zu den internationalen Stiftungen die jeweiligen Homepages der Open Society Foundation, http://www.opensocietyfoundations.org/; Stiftung Pro Helvetia, http:// www.prohelvetia.ch/; Visegrád Fund, http://visegradfund.org/.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas
rieren ihre Arbeit ausdrücklich auf die Region der postsozialistischen Staaten: Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterhält seit 1992 Niederlassungen in Polen, Ungarn, Tschechien und in der Slowakei. Nachdem sie zunächst vorrangig die demokratische Umgestaltung der Kultur in diesen Ländern förderte, setzt sich die Stiftung seit 1999 vor allem für den kulturellen Austausch ein. Die Soros-Stiftung, Anfang der neunziger Jahre von dem Amerikaner George Soros gegründet, wird seit 1994 durch die Open Society in New York koordiniert. Die Organisation legt ihren Fokus auf die mittel- und osteuropäischen Staaten. Sie unterhält dort zahlreiche Dependancen. Neben sozialpolitischen und kulturellen Aktivitäten unterstützt sie kulturelle, wirtschaftliche und soziale Reformen. Die Stiftung zählte bis Ende der neunziger Jahre zu den wichtigsten Unterstützern Freier Theater und Künstler in den postsozialistischen Staaten. Die Visegrád-Stiftung fördert seit ihrer Gründung im Jahr 2000 die wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit der Visegrád-Staaten. Dazu gehören auch internationale Kooperationen. Die Stiftung gilt im Raum der Visegrád-Staaten als ein wichtiger Förderer der Freien Theater.
3.2 Produktions- und Präsentationsbedingungen Trotz der bestehenden Fördermöglichkeiten bleiben die Produktions- und Präsentationsbedingungen der freien Gruppen und Künstler in allen postsozialistischen Staaten prekär. Die etablierten Theaterhäuser werden weitgehend oder sogar voll von Staat und Kommunen finanziert. Außerdem verfügen sie über feste Spielstätten. Im Unterschied dazu befinden sich die Freien Theater finanziell durchweg in einer instabilen Lage. So fehlt es in der Ukraine bis heute an deren staatlicher Förderung: »It becomes worse and worse here in Ukraine. The government and politicians are not interested in the development of culture. They support public theatres very badly. They don’t support independent companies at all. And there is no legislation of sponsorship. It is disadvantageous for sponsors to maintain a culture.«107
Die Freien Theater in Belarus erhalten erst seit 2010 staatliche Unterstützung: »In Belarus, private theatres still do not have any legal status, and it was not until 2010 that independent theatres gained some support from the government.«108 Für die Freien Theater in den weiteren postsozialistischen Staaten lässt sich eine ähnliche Lage festhalten. So heißt es in dem Fragebogen zur Situation in Rumänien: »There is a big discrimination and lack of any support interest in awareness towards the importance of independent theatre from the 107 | Fragebogen Ukraine I. 108 | P. Płoski: »Introduction«, S. 21.
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part of the state and public structures.«109 Über Serbien ist zu lesen: »Institutional, public theatres have a constant inflow of money, because of the state budget. They do not think about the problems of existence.«110 Für die Slowakei wird beschrieben: »Independent theatre in Slovakia chronically suffers from underfinancing.«111 Für Bosnien-Herzegowina gilt: »We have to work hard on fund-raising, the public theatres don’t have to do anything concerning the fundraising.«112 Über Slowenien ist festgehalten: »In public theatres everybody is getting regular salaries (including cleaning ladies) and they are not dependent on the programme; it is a direct transaction from the state.«113 Über Kroatien heißt es: »In Croatia the situation is similar: most independent theatres don’t have their own space.«114 Über Tschechien steht geschrieben: »It is difficult for independent theatres to obtain grants. The outlook for independent theatres is therefore very uncertain and their continuous operation is not secured.«115 Und über Ungarn kann man lesen: »Recently, the whole scene has been suffocating. The groups look for connections and collaboration to survive and help them out of this situation. But many of them must disappear.«116 Die Arbeitsbedingungen der freien Gruppen und Künstler sind durch drei Einschränkungen gekennzeichnet. Die erste wurde in diesem Kapitel sowie in den vorherigen Länderbeschreibungen bereits angesprochen: Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten verfügen nur selten über feste Spielstätten oder Proberäume. Die Anmietung von Räumlichkeiten können längst nicht alle Gruppen finanziell tragen. Keine eigene Spielstätte zu haben bedeutet jedoch, das Publikum nicht konstant ansprechen zu können und weniger öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Gravierend wirkt sich der Mangel bei der Beantragung von Fördermitteln aus, denn nicht selten ist eine feste Spielstätte die Voraussetzung für die Subventionierung. Dies zeigt das Beispiel der Freien Theater in Bosnien-Herzegowina: »In Bosnia, the theatre policy for the Sarajevo Canton, while recognizing theatres as non-governmental organisations, nevertheless forces them to act under strict and strange conditions. For example the policy states that it is necessary for a theatre to have an auditorium with seats fixed permanently to the floor.«117 109 | Fragebogen Rumänien I. 110 | Fragebogen Serbien I. 111 | Fragebogen Slowakei II. 112 | Fragebogen Bosnien-Herzegowina I. 113 | Fragebogen Slowenien II. 114 | P. Płoski: »Introduction«, S. 22. 115 | Fragebogen Tschechien. 116 | Fragebogen Ungarn I. 117 | P. Płoski: »Introduction«, S. 22.
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Ohne eine eigene Spielstätte zu arbeiten, hat aber auch positive Aspekte. Die Gruppen weichen auf Alltagsorte wie Cafés, Galerien und Fabriken aus und schaffen damit neue Kunsträume. Sie entwickeln flexible Strukturen, experimentieren mit innovativen Raumkonstellationen und gehen Kooperationen mit anderen künstlerischen Einrichtungen ein. Diese Entwicklungen sind charakteristisch für die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten. Das zweite Manko der Produktionsbedingungen ist der hohe administrative Aufwand. Ständig sehen sich die Freien Theater gezwungen, Mittel zu beantragen, Projektanträge zu schreiben und sich um finanzielle Unterstützung im In- und Ausland zu bewerben. Der Erfolg ist nie garantiert. Oft sind die Wartezeiten lang, Anträge werden abgelehnt oder Auszahlungen erfolgen mit erheblicher Verspätung und setzen eine Vorfinanzierung voraus. Der Druck, in den Anträgen immer innovative Ideen zu präsentieren, führt zwar zu einer andauernden Reflexion der eigenen künstlerischen Position. Gleichzeitig erschwert er jedoch eine kontinuierliche Arbeit. Die dritte Beeinträchtigung der Arbeitsbedingungen stellen staatliche Repressionen und ökonomische Restriktionen dar. Zwar wurde mit dem Ende des Sozialismus auch die Zensur weitgehend abgeschafft, welche die Arbeit der Freien Theater in den osteuropäischen Ländern in unterschiedlich starkem Maße eingeschränkt hatte, wie in den Länderdarstellungen beschrieben wurde. Verbotene Autoren standen wieder auf den Spielplänen und die Freien Theater konnten nun mit bis dahin unerwünschten künstlerischen Verfahren und Praktiken arbeiten. Nicht überall sind die Zeiten staatlicher Zensur jedoch vorbei. Sie existiert nach wie vor in Belarus und Russland. In einigen anderen Ländern sind indirekte Einschränkungen der Arbeit der Freien Theater erkennbar, die über ökonomische Restriktionen wirken und bis zur Zensur reichen können. Der Grund liegt in der weitgehenden Abhängigkeit der Freien Theater von den Entscheidungen der Geldgeber. So schildert ein bosnischer freier Künstler: »There was a cultural minister of Canton Sarajevo who I criticized very much in public. The result was that he was cutting our funds for four years. It was another way of censorship.«118 Auch das slowenische Projekt My name is Janez Janša aus dem Jahr 2007 war von Eingriffen seitens der Politik betroffen. Drei freie Künstler traten der konservativen Slowenischen Demokratischen Partei bei und ließen ihre Namen offiziell in denjenigen des amtierenden Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Janez Janša abändern. Damit weckten sie öffentliche Aufmerksamkeit: »While they renamed themselves for personal reasons, the boundaries between their lives and their art began to merge in numerous and unforeseen ways. Signified as an artistic
118 | Fragebogen Bosnien-Herzegowina I.
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Andrea Hensel gesture, this particular name change provoked a wide range of interpretations in art circles both in Slovenia and abroad, as well as among journalists and the general public.«119
Im Rahmen des Projekts drehten die Künstler den gleichnamigen Film My name is Janez Janša. Wenngleich die Produktion zu einem guten Ende kam, so gestaltete sie sich doch problematisch, weil die Fördergelder auf politischen Druck hin nicht ausgezahlt wurden. Um mit den Worten einer slowenischen Kritikerin zu sprechen: »Sometimes the politicians […] are producing the pressure directly or sometimes just indirectly with the financial procedures.«120 Die Lecture-Performance They live (in a search of text zero) aus dem Jahr 2012 von Maja Pelević und Milan Marković in Serbien, die an späterer Stelle beschrieben wird, erfuhr ebenfalls Einschränkungen.121 Den Künstlern wurde verboten, die Performance in einer etablierten Einrichtung aufzuführen. Die Zensur äußerte sich somit indirekt im Entzug der Räumlichkeiten. Unter staatlichen Repressionen und politisch motivierten Entscheidungen leiden derzeit insbesondere die Freien Theater Ungarns. Wie dargelegt richten sich die Maßnahmen in Ungarn nicht nur gegen freie Theatergruppen, sondern gegen die gesamte freie Kulturszene.
3.3 Ausbildung Bis 1989/91 stand auch die künstlerische Ausbildung von Schauspielern und Regisseuren unter ideologischen Vorzeichen.122 Die wichtigste Grundlage dafür stellte Stanislawskis Schauspielmethodik dar. Deren psychologischer Stil war von politischer Seite akzeptiert. Nach den politischen Umbrüchen Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre mussten sich die künstlerischen Ausbildungsstätten weiterentwickeln. Dies gelang nicht überall. Mancherorts herrschen auch heute noch die alten hierarchischen Strukturen, Lehrende vertreten die althergebrachte Theaterästhetik und experimentelle Theaterideen werden nur wenig beachtet. Es lassen sich gegenwärtig aber auch Ausbildungsstätten finden, die ihre Methoden und Inhalte veränderten. Hervorzuheben ist die Neue Bulgarische Universität (NBU) in Sofia, die kollektive Arbeitsweisen und experimentelle künstlerische Verfahren fördert. Wie bereits in dem Abschnitt über Belarus beschrieben, gibt der Schauspieler und Regisseur Pawel Admatschikow in der Staatlichen Akademie der Künste in 119 | »My name is Janez Janša«, http://www.mynameisjanezjansa.com. 120 | Fragebogen Slowenien I. 121 | Vgl. zu dem Projekt »They live (in a search of text zero)«, http://theyliveonline. wordpress.com/. 122 | Vgl. zur Schauspielmethodik exemplarisch Brauneck, Manfred: Klassiker der Schauspielregie. Positionen und Kommentare zum Theater im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988.
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Minsk wichtige Anstöße für eine Veränderung der Freien Theater, indem er die Praktiken des Bewegungstheaters vermittelt. Der junge Regisseur Evgeni Kornyag griff den Impuls auf und gründete im Jahr 2011 gemeinsam mit den Studierenden der Akademie in Minsk die freie Gruppe Kornyag Theatre. In Prag findet sich in dem vielfältigen Angebot der Akademie Divadelní fakulta AMU v Praze (DAMU) ein Lehrstuhl für experimentelle Theaterformen im Puppenspiel, die Katedra alternativního a loutkového divadla.123 Es gibt in allen Ländern keinen Unterschied zwischen der Ausbildung von freien Künstlern und der Ausbildung von Künstlern in den institutionalisierten Einrichtungen: »The separation of artists only comes after graduating.«124 Der Großteil der freien Theatermacher absolviert eine klassische künstlerische Ausbildung an einer Theaterhochschule. Etliche Freie Theater bieten aber auch eigene Aus- und Fortbildungen an. Die Anzahl der Kurse nahm in den letzten Jahren zu: »Due to the lack of funds and specific policies, professionals in the cultural field where there is a lack of education, are participating different retraining programmes or courses to improve their professional skills, sporadically, usually under the initiative of foreign donors or NGOs. The programme varies in the quality, genres as well as the length of the education they offer. Shorter educational programmes are organised by many NGOs taken different formats such as: seminars, workshops, coaching’s, lectures, talks, discussions. They are programming in the frame of festivals or not.«125
Die Kurse bieten auch Quereinsteigern und Autodidakten die Möglichkeit, sich vertieft mit künstlerischen Verfahren auseinanderzusetzen, eigene Ansätze zu entwickeln und Kontakte zu knüpfen. Die Workshops, Seminare und Foren der freien Gruppen und Künstler ergänzen die professionelle Ausbildung. Angebote wie technische Unterweisungen, Einführungen in Kulturmanagement und Schulungen in Verwaltung vermitteln Kompetenzen in denjenigen Bereichen, die in der klassischen künstlerischen Ausbildung fehlen. Schließlich existieren länderübergreifend angelegte Aus- und Fortbildungsprojekte von freien Gruppen oder Künstlern. Große Bedeutung kommt hier dem von Joanna Wichowska und Goran Injac initiierten Projekt DESANT zu. Das Projekt fand im Jahr 2012 zunächst in der Ukraine und anschließend in Belarus statt. Zwei Wochen lang boten Vertreter des Teatr Les Kurbas aus der Ukraine, des Konfrontacje Teatralne Festivals aus Polen, des Slovensko mladinsko 123 | Zu allen genannten Ausbildungsstätten und Initiativen: Kornyag Theatre, http:// korniag-theatre.com/index.html; NBU, http://www.nbu.bg/entrance.php?lang=1; Divadelní fakulta AMU v Praze, http://www.damu.cz/. 124 | Fragebogen Ungarn II. 125 | Fragebogen Slowenien I.
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gledališče aus Slowenien sowie des Theaters Atelje 212 und des Beogradski Internacionalni Teatarski Festivals aus Serbien in Kiew Seminare an. Die Themen beschäftigten sich mit Fragen der Organisation und Administration der freien Theaterarbeit, mit Vernetzungsmöglichkeiten sowie mit Inhalten aus Kunst, Kultur, Gesellschaft und Politik. Im zweiten Teil wurden in Minsk mehrtägige Workshops für Dramaturgen, Licht- und Tondesigner angeboten. Das Projekt DESANT stellt den Beginn einer internationalen Aus- und Weiterbildungsreihe dar, deren Organisation die EEPAP unterstützt. Die Vielseitigkeit der Angebote verdeutlicht den hohen Stellenwert der Ausbildung für die Freien Theater in den postsozialistischen Ländern. »Education is fundamental for the independent theatre work. Being open, curious, imaginative, learning all the time, being well informed with what happens in the market, in the artistic world, makes one’s work competitive, a good selling product. So independent work requires a good education and good education is best used in the quality of independent theatre work. As compared to public theatre, independent theatre can’t survive if it’s not of good quality. So education is a must from all points of view.«126
Die Ausbildung gilt als Voraussetzung für die künstlerische Arbeit. Sie ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal und nicht zuletzt die Bestätigung der eigenen Professionalität.
3.4 Internationale Vernetzung Die Umbrüche von 1989/1991 brachten den Freien Theatern Osteuropas die Öffnung zur internationalen Theaterszene. Wie bereits ausgeführt, hatten bis dahin nur die jugoslawischen Teilstaaten internationale Kooperationen eingehen und Festivals mit Gästen aus nichtsozialistischen Ländern veranstalten können. Nun waren Auslandsreisen, Kontakte zu ausländischen Theatern und die Organisation international besetzter Festivals in allen osteuropäischen Ländern möglich. Zudem entstand eine Vielzahl von Organisationen, Netzwerken und Förderprogrammen, die den internationalen Austausch unterstützen. So konnten sich die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten in den vergangenen 20 Jahren immer mehr über die eigenen Landesgrenzen hinweg vernetzen. Insbesondere beteiligen sich freie Theatergruppen und Künstler zunehmend an Kulturförderprogrammen der EU wie beispielsweise dem Programm Culture 2007-2013.127 Diese Programme fördern zumeist internationale Koope126 | Fragebogen Rumänien I. 127 | Das EU-Kulturförderprogramm Culture 2007-2013 lief Ende des Jahres 2013 aus. Seit 2014 schließt sich das Programm Creative Europe an, das bis zum Jahr 2020 reichen
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rationen. Jedoch ist eine Bewerbung dafür nicht in allen Ländern ohne Weiteres möglich. So können die Freien Theater und Künstler in Rumänien und Bulgarien kaum auf die notwendige lokale Kofinanzierung hoffen, was ihnen die Beantragung von EU-Mitteln nahezu unmöglich macht. Diejenigen Staaten, die nicht der Europäischen Union angehören, sind von deren Kulturförderung ausgeschlossen. Sie können nur als Partnerorganisation auftreten. Allerdings können sie seit dem Jahr 2010 das Kulturprogramm Eastern Partnership der EU nutzen. Es setzt sich für eine Reform der Kulturinstitutionen ein und ebnet den Weg zur Teilnahme an den regulären EU-Kulturförderprogrammen. Die Vernetzung der Freien Theater zeigt sich auch an der immer größeren Zahl von Mitgliedschaften in internationalen Organisationen und Netzwerken. Sei es das International Network for Contemporary Performing Arts (IETM) mit besonderem Fokus auf der Plattform Balkan Express128, sei es die Association Internationale du Théâtre pour l’Enfance et la Jeunesse (ASSITEJ), sei es die Union Internationale de la Marionnette (UNIMA), sei es die International Organisation of Scenographers, Theatre Architects and Technicians (OISTAT) oder die International Festivals & Events Association (EFEA) – sie alle stellen wichtige Foren des internationalen Austauschs für freie Gruppen und Künstler dar. Vor allem das schon mehrfach angeführte Netzwerk EEPAP setzt sich für die Entwicklung der freien darstellenden Künste in den postsozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas ein. Im Jahr 2010 von dem Adam Mickiewicz Institut in Warschau initiiert, ist die Arbeit des Netzwerks auf drei Schwerpunkte konzentriert: Erstens wird die Ausbildung von Theaterkünstlern gefördert und das internationale Ausbildungsprogramm DESANT fortgeführt. Zweitens unterstützt die Plattform den Informationsaustausch der Theater untereinanwird und mit MEDIA und MEDIA Mundus auch audiovisuelle Projekte fördert. Vgl. Bruell, Claudia: Kreatives Europa 2014-2020. Ein neues Programm – auch eine neue Kulturpolitik? Studie des Instituts für Auslandsbeziehungen, Stuttgart/Berlin: Edition für Kultur und Außenpolitik 2013, auch http://www.ifa.de/fileadmin/pdf/edition/kreatives-europa_ bruell.pdf. 128 | Vgl. IETM – International Network for Contemporary Performing Arts, http://ietm. org/ietm-balkan-express. IETM ist eine Mitgliederorganisation, die sich speziell für die internationale Vernetzung zeitgenössischer darstellender Kunst einsetzt. Ihre Aufgabe ist es, Qualität, Entwicklung und Rahmenbedingungen für zeitgenössische darstellende Kunst zu verbessern. Auch der genannte Balkan Express wurde von IETM initiiert. Hierzu ist auf der Internetseite der Plattform zu lesen: »Balkan Express is a platform that connects people interested in collaboration in and with the Balkans involved in contemporary art and complementary socially engaged practices. Balkan Express is a platform for reflection on the new roles of contemporary arts in a changing political and social environment. It builds new relations; encourages sharing and cooperation and contributes to the recognition of contemporary arts in the Balkans and wider.«
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der. Dafür werden über das Netzwerk Meetings und Workshops angeboten. Dieses Anliegen unterstützt auch die Internetseite, über die Theaterschaffende mit anderen Mitgliedern in Kontakt treten und sich über die Veranstaltungen informieren können. Drittens fördert EEPAP mit eigenen Residenzprogrammen die internationale Zusammenarbeit. Die Vielzahl internationaler Kooperationen, welche die Freien Theater der postsozialistischen Länder in den letzten Jahren eingingen, zeigt nicht nur das große inhaltliche Interesse an internationalen Begegnungen. Die schwierigen Bedingungen vor Ort lassen eine länderübergreifende künstlerische Zusammenarbeit oft überlebenswichtig werden, denn sie kann die Arbeit zumindest vorübergehend ökonomisch absichern. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass dies auch für Kooperationen mit den etablierten Theaterhäusern und mit anderen Gruppen im jeweils eigenen Land gilt, die stark zugenommen haben. Mittels der internationalen Kooperationen erlangen die Theater und Künstler oftmals im Ausland größere Bekanntheit als in der eigenen Heimat. Das lässt sich beispielsweise für Theatermacher wie Árpád Schilling, Kornel Mondruczó und Béla Pintér aus Ungarn, für Gruppen wie das Belarus Free Theatre in Belarus, für die Foreman Brothers in Tschechien sowie für die Regisseure Krzysztof Warlikowski und Gregorz Jarzyna in Polen sagen. Der internationale Erfolg trägt aber auch im eigenen Land zu einer breiteren Wahrnehmung bei. Besonders deutlich zeigt sich der hohe Grad an internationaler Vernetzung an der Festivalkultur. Denn auch für die postsozialistischen Staaten kann man von einem ›Festivalboom‹ sprechen, wie er sich in Europa in den beiden letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Die ausgeprägte Festivalkultur wird auch als »festivalisation of the cultural life of cities«129 bezeichnet. »On the one hand, the multiplication of festivals is the result of the global tendency for this form of cultural activity to expand. On the other hand, authorities have responded to the needs of creators and consumers and consequently have started to support a variety of cultural initiatives. Festivals have proved to be the relatively easiest way to support due to their unique features (a limited and short duration, the accumulation of events) as well as being attractive for the promotion of cities, regions and, last but not least, politicians.«130
In den postsozialistischen Ländern finden die Festivals, auf denen häufig mehrere künstlerische Sparten vertreten sind, in den urbanen Zentren ebenso wie an abgelegenen Orten der Peripherie statt. Für die Freien Theater sind sie wichtige Plattformen, um ihre künstlerischen Arbeiten zu präsentieren, wie 129 | So die Soziologen John Hannigan, David Harvey, Maria-Louisa Laopoldi, Greg Richards und Julie Wilson, zit. in: P. Płoski: »Introduction«, S. 34. 130 | Ebd.
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es auch die folgenden Analysen von Performances zeigen. Gleichzeitig werden die Festivals aber auch zunehmend von freien Künstlern und Gruppen selbst organisiert. Das ACT Independent Theatre Festival in Sofia, das Mladi Levi Festival in Ljubljana, das INFANT-Festival in Belgrad, das Apostrof Festival in Prag, das KioSK Festival im slowakischen Zilina und das PUF Festival in Zagreb seien hier exemplarisch für diese Initiativen genannt. Sie bringen den Freien Theatern internationale Aufmerksamkeit, transkulturellen Austausch und neue Netzwerke bzw. Kooperationen. Zunehmend umfassen die Festivals auch Diskussionsforen und Workshops zu künstlerischen Praktiken oder zu den administrativ-organisatorischen Rahmenbedingungen, die zur künstlerischen Qualität der Veranstaltungen beitragen. Allerdings erwachsen aus der extensiven Festivalkultur auch Nachteile. So sind die Veranstaltungsprogramme kritisch zu betrachten. Die freien Gruppen und Künstler sind abhängig von den Entscheidungen der jeweiligen Veranstalter, ob sie an einem Festival teilnehmen dürfen oder nicht. Hinzu kommt, dass die künstlerische Arbeit während eines Festivals kaum nachhaltig wirken kann, weil in kurzer Zeit eine hohe Zahl an Performances gezeigt wird.
4. E xempl arische A nalysen Das folgende Kapitel stellt einzelne freie Gruppen und Performances aus verschiedenen postsozialistischen Ländern vor. Ein wichtiges Kriterium für die Auswahl der Einzeldarstellungen ist die künstlerische Bedeutung der Produktionen in den einzelnen Ländern und deren Auswirkung auf die jeweilige Theaterlandschaft in den letzten Jahren. Die Auswahl stützt sich auf die Aussagen in den Interviews und in den Fragebögen sowie auf die Recherchen vor Ort. Damit zeigen die hier vorgestellten Gruppen und Performances die derzeitige Bandbreite der freien Theaterarbeit in den postsozialistischen Staaten auf. Dazu gehören auch drei Arbeiten, die einen besonderen Fokus auf musikalische Elemente legen. Alle beschriebenen Produktionen stehen stellvertretend für aktuelle künstlerische Tendenzen, die sich in den Ländern entwickelt haben. Die exemplarischen Analysen konzentrieren sich darauf, diese Strömungen anhand von konkreten Beispielen herauszuarbeiten. Sie beschreiben die künstlerischen Themen und Verfahren der Produktionen und filtern heraus, welche Theaterpraktiken den verschiedenen freien Gruppen trotz ihrer unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexte gemeinsam sind.
4.1 Die Gruppen DramAcum und TangaProject — Rumänien Im Jahr 2001 gründeten fünf junge Dramatiker und Regisseure in Bukarest die freie Theatergruppe DramAcum, auf Deutsch: DramaJetzt. Das Kollektiv sollte
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die Freie Theaterszene in Rumänien in den folgenden Jahren entscheidend prägen. Man kann DramAcum bis heute als die einflussreichste freie Gruppe des Landes bezeichnen. »They were young, and coming with no communist background, bringing a very fresh perspective and way of writing. DramAcum is the first organization formed by directors that appeared with the purpose of finding new playwrights and offer them a place to experience and grow.«131 Die Gründer der Gruppe, die Theatermacher Gianina Cǎrbunariu, Radu Apostol, Alex Berceanu, Andreea Vǎlean und Ana Margineanu, die inzwischen international bekannt sind, setzten sich ein wesentliches Ziel: Sie wollten das rumänische Theater an die internationalen Entwicklungen heranführen. Voraussetzung dafür war – so DramAcum – ein Wandel des rumänischen Gegenwartstheaters hin zu einem Theater, das »einen Querschnitt der Realität abbildet, nicht an Metaphern erstickt und auch nicht am politischen Haken hängt«132. Dafür waren neue künstlerische Arbeitsweisen nötig. Unter einem »Querschnitt der Realität« verstand DramAcum, dass die künstlerische Arbeit wieder stärker auf Alltagsthemen bezogen werden sollte. Die Gruppe begreift ihr Theater als künstlerische Praxis, die soziale Fragen aufgreift. Unter Mitwirkung aller am theatralen Prozess Beteiligten befasst sie sich in ihren Produktionen vor allem mit gesellschaftlichen Problemen und sozialer Realität. Hinzu kommt eine Neubewertung der Rolle und der Aufgaben des Dramatikers. Dieser wird in den Probenprozess eingebunden und gestaltet die Aufführung mit. Sein Text gilt nicht als vorweg abgeschlossen, sondern entsteht erst bei der Erarbeitung der Inszenierung. Ein weiteres Kennzeichen der Arbeit von DramAcum ist die Beteiligung des Publikums am Geschehen auf der Bühne. Die Zuschauer nehmen aktiv am theatralen Prozess teil, ihnen wird eine ›Rolle‹ zugewiesen. Gleichzeitig ist der Gruppe die Vernetzung ihrer Theaterarbeit über Rumänien hinaus wichtig. So veranstaltet DramAcum seit 2002 jährlich einen international ausgerichteten Wettbewerb für dramatische Autoren. Der Text des Gewinners wird in einer kollektiv erarbeiteten Produktion aufgeführt. Diese Wettbewerbe dienen der Förderung junger Autoren und lenken die Aufmerksamkeit auf neue Stücke. Darüber hinaus ermöglichen sie es der Gruppe DramAcum, Partnerschaften mit Theatern in anderen Ländern anzubahnen und auf diese Weise transnationale Netzwerke zu knüpfen. Gewinner des DramAcum-Wettbewerbs im Jahr 2004 war Bogdan Georgescu. Der dramatische Autor, soziale Aktivist und transmediale Künstler prägt die rumänische Freie Theaterszene bis heute maßgeblich. Angespornt durch die künstlerischen Projekte von DramAcum gründete er im Jahr 2005 die freie 131 | Fragebogen Rumänien III. 132 | Michailov, Mihaela: »Theater als Eingriff in den Alltag«, in: M. Mazilu/M. Weident/I. Wolf (Hg.), Das rumänische Theater, S. 109-114, hier S. 111.
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Performancegruppe TangaProject. Zu ihren Mitgliedern zählen unter anderem Vera Ion als Autorin sowie Miruna Dinu, Iona Paun und David Schwartz als Regisseure. Gemeinsam mit DramAcum gehört TangaProject zu den bekanntesten freien Gruppen in Rumänien. Die Projekte von TangaProject finden häufig im öffentlichen Raum statt, weisen mit künstlerischen Mitteln auf soziale Schieflagen hin und stoßen kritische Diskussionen an. Die Gruppe möchte mit ihren künstlerischen Projekten die Gesellschaft an ihren Rändern verändern und unterschiedliche Bevölkerungsschichten für die sozialpolitischen Entwicklungen ihrer Stadt sensibilisieren. Die Bewohner können an den theatralen Prozessen teilnehmen; sie werden selbst Mitgestalter der soziokulturellen (Stadt-)Projekte der Gruppe: »Die TangaProject-Interventionen ermöglichen ein Theater des Aufzeigens und der Reaktion, ein Theater, das unmittelbar funktioniert, das die Realität dazu bringt, die Schwachstellen zu entdecken. Die Künstler agieren dabei als Detektoren von gesellschaftlichen Problemen, die sie dokumentieren, um sie dann zu hinterfragen.«133
Diesem Anliegen folgten die Künstler auch in der 25-stündigen Performance RahovaNonstop aus dem Jahr 2006. Als site-specific project war diese in dem Bukarester Problemviertel Rahova-Uranus angesiedelt. Die Produktion thematisierte die schwierige Situation des Stadtteils und verarbeitete die Lebensgeschichten der Bewohner. Die Aufführung stellte das vorläufige Ergebnis einer einjährigen Recherche dar. Die Künstler hatten die Anwohner aufgefordert, auf öffentlichen Plätzen ihres Viertels ihre Biografien zu erzählen. Die Geschichten wurden von der Gruppe dokumentiert, in dramatische Texte umgeschrieben und anschließend künstlerisch bearbeitet und inszeniert. So entstand aus jeder einzelnen Lebensgeschichte eine dokumentarische Short-Performance von ungefähr zehn Minuten Dauer. In der 25-stündigen Aufführung wurden diese nacheinander gezeigt. Thematischer Schwerpunkt der dokumentarisch-fiktionalen Texte und der szenischen Präsentationen war die soziale Lage im Rahovaviertel. Während der Performance konnten Passanten scheinbar zufällig in eine öffentliche Rede des Bukarester Bürgermeisters geraten, der sich bei den Bewohnern für den prekären Zustand des Quartiers entschuldigte. Die Zuhörer reagierten wütend mit Buhrufen und Pfiffen. Schließlich zerrten sie den Bürgermeister von der Bühne. Daran anschließend organisierte TangaProject eine öffentliche Diskussion, um sich mit Änderungsvorschlägen der Anwohner zur Lebenssituation in dem Viertel auseinanderzusetzen. Die fiktive Rede des Bürgermeisters, entstanden auf der Grundlage der Erzählungen der Stadtbewohner, war für Umstehende nicht von der Realität zu unterscheiden. Die Reaktionen des 133 | Ebd., S. 113.
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Publikums waren authentisch. Die Performance und die folgende Diskussion bewirkten eine öffentliche Debatte, wie sie der Regisseur Bogdan Georgescu fordert: »Theater ist für mich mehr als ein Produkt, das man einfach nur konsumiert. Mit unserem Theater erschaffen wir eine neutrale Zone, in der man ehrlich über die wirklich großen Probleme reden kann, aber immer noch den Schutz der Theaterkonvention genießt.«134 Die Performance RahovaNonstop war Teil des Großprojektes Offensive of Generosity Initiative, das TangaProject von 2006 bis 2009 realisierte. In den drei Jahren wies die Gruppe durch öffentliche Diskussionsforen, Workshops und künstlerische Arbeiten wie RahovaNonstop immer wieder auf die bevorstehende Räumung von Wohnungen in dem Stadtviertel nach dem Verkauf an Investoren hin. Die Anwohner brachten der Gruppe in dieser Zeit großes Vertrauen entgegen: »Ihre Anteilnahme [der Gruppe TangaProject, Anm. A. H.] am sozialen Leben bei der Themensuche für ihre dokumentarisch-fiktionalen Texte wurde offensichtlich, als einer der jungen Autoren als Zeuge in einem Prozess der Bewohner gegen die Regierung geladen wurde: Die Stadt hatte mehrere während des Kommunismus verstaatlichte Gebäude räumen lassen, in denen Leute zur Miete gewohnt hatten, die jetzt auf der Straße standen.«135
Die sozialkritische Theaterarbeit in dem Projekt Offensive of Generosity Initiative umfasste auch die Verbesserung der Lebensqualität in dem Stadtviertel, indem beispielsweise der Rahovapark bepflanzt wurde. Um Platz für eine große Wahlveranstaltung des Bukarester Bürgermeisters zu schaffen, waren in der Grünanlage im Jahr 2005 alle Bäume gefällt worden. Übrig geblieben war eine kahle Fläche, aus der vereinzelt Baumstümpfe ragten, die an Grabsteine erinnerten. Ringsherum lag Müll. Plastikflaschen, Altglas und Papier waren »die einzigen Farbtupfer vor der dreckiggrauen Kulisse der heruntergekommenen Großstadthäuser«136. Genutzt wurde der Park kaum noch: »Geld für die Parkpflege ist sowieso nicht da«137, hieß es vonseiten der Stadt. Ein Jahr später, im Oktober 2006, erschienen plötzlich zahlreiche Bewohner des Viertels im 134 | Bogdan Georgescu, zit. in: Flender, Karl Wolfgang: »Die Walnuss-Revolution. Wie die rumänische Theatergruppe TangaProject in Bukarest öffentlichen Raum mit Kunst zurückerobert«, in: Neue Stücke aus Europa, http://newplays-blog.de/tag/tangaproject. 135 | Modreanu, Cristina: »Ankunft im dritten Jahrtausend«, in: M. Mazilu/M. Weident/I. Wolf (Hg.), Das rumänische Theater, S. 115-122, hier S. 111. Vgl zum beschriebenen Projekt auch Offensive of Generosity Initiative, http://ofensivagenerozitatii.blogspot. de/2009/02/rahova-uranus-community-centre-labomba.html. 136 | K. W. Flender: »Die Walnuss-Revolution«. 137 | Ebd.
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Park. Begleitet wurden sie von Mitgliedern der Gruppe TangaProject. Gemeinsam begannen Bewohner und Künstler den Abfall zu beseitigen. Sie pflanzten Walnussbäume als diejenige Baumsorte, die auch vor der Abholzung in der Grünanlage gewachsen war. Die Bewohner selbst belebten den Park neu. Sie eroberten ihn als urbanen Lebensraum zurück und nutzten ihn anschließend als öffentlichen Proben- und Aufführungsort für die künstlerische Arbeit mit TangaProject. Auch das Projekt Build Your Community! ging aus dem Unterfangen Offensive of Generosity Initiative hervor. In der Nachfolge von RahovaNonstop beschäftigte es sich im Jahr 2007 erneut mit der Lage des Stadtteils Rahova-Uranus und seiner Bevölkerung: »Das Großartige an dieser Form der Arbeit ist, dass das nächste Projekt immer aus dem vorigen entsteht. Unsere Gruppe entwickelt sich und wächst.«138 Im Mittelpunkt des Projekts Build Your Community! standen mehrere soziale Gruppen, die in dem Stadtviertel anzutreffen sind: Es ging um die »Bewohner der mit Werbebannern bedeckten Wohnblocks, die Mieter von verstaatlichten Häusern, die Blutspender, die Jugendlichen des Dienstleistungskomplexes für straffällig gewordene Jugendliche im Bukarester Viertel Titan«139. Wiederum als ein Projekt im öffentlichen Stadtraum angelegt, griff Build Your Community! Geschichten aus dem Quartier auf und verarbeitete sie künstlerisch. Außerdem umfasste das Projekt öffentliche Diskussionen, Dramawerkstätten, Kreativwerkstätten für Kinder und ein visuelles Archiv des Stadtteils und der Gegend. »TangaProject entwickelte Forschungstechniken und -prozeduren, die dem gesellschaftlichen Theater eigen, dem rumänischen Publikum aber weitgehend unbekannt sind. TangaProject kreierte ein schlagfertiges Theater, das Stellung bezieht, ein Theater, das auf eine doppelte gemeinschaftliche Konstruktion gesetzt hat: einerseits eine Kreativgemeinschaft (Dramatiker, Regisseure, Schauspieler), die eine Teamanalyse der anvisierten Gruppen voraussetzt, und andererseits eine Gemeinschaft, die soziotheatralisch erforscht wird.«140
Das Projekt Build Your Community! führte zu einer konkreten Verbesserung der Lebensqualität in dem Stadtviertel: Kurze Zeit nach dem Projektabschluss wurde ein Stadtteilzentrum gegründet. Die künstlerischen Workshops der Gruppe TangaProject finden bis heute in dem Quartier statt. Neben den beschriebenen soziokulturellen Projekten existieren andere Initiativen von TangaProject, so beispielsweise das 2005 entstandene Programm Radical Refresh zur Förderung junger Dramatiker oder das transkulturelle 138 | Bogdan Georgescu, zit. in: ebd. 139 | M. Michailov: »Theater als Eingriff«, S. 113. 140 | Ebd., S. 114.
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deutsch-rumänische Musik- und Theaterprojekt Muränien Muränien! aus dem Jahr 2012.141 Darüber hinaus schreiben und inszenieren die Mitglieder der Gruppe gemeinsam Stücke, wie es die folgenden Ausführungen zu der Inszenierung Romania! Kiss me! zeigen.
4.2 Romania! Kiss me! — Rumänien Bogdan Georgescu und David Schwartz von der Gruppe TangaProject zeichneten im Jahr 2010 für die Inszenierung Romania! Kiss me! verantwortlich. Diese wurde im Teatrul Naţional »Vasile Alecsandri« Iaşi in Bukarest uraufgeführt. Die Figuren in der Performance Romania! Kiss me! vereint ein Anliegen: Sie wollen Rumänien so schnell wie möglich verlassen. Es sind die 20-jährige Studentin, die den Jungennamen Vasile trägt und ihr Studium mit einem Stipendium der Soros-Stiftung in den USA weiterführen möchte, die paranoide Rentnerin Miss Renata, die sich mitsamt ihrer Katze bei den Verwandten in Deutschland eingeladen hat, und der arbeitslose alkoholabhängige Herr Neagoe, der aus Geldgründen illegale Aufträge annimmt, um das Land verlassen zu können. Die drei Menschen begegnen sich zufällig in einem Zugabteil. Es entfacht sich ein Wettstreit der Gründe, Rumänien zu verlassen. Die drei Figuren führen Klischees und Stereotype an, die sie im nächsten Moment widerrufen. Ihre Heimatverbundenheit prallt auf die »überfrachtete Utopie eines besseren Lebens im Westen«142. Ihre Hoffnung trifft auf Angst und Selbsthass. Und alles läuft auf ein tragikomisches Ende hinaus. Die Personen scheitern an dem Versuch, dem Land den Rücken zu kehren, alle drei bleiben in Rumänien. Als wesentliches Gestaltungselement der Inszenierung trat ein chorähnliches Orchester auf: »Fünf in schwarze Overalls gekleidete Gestalten, die, wie uns der Text mitteilt, den Soundtrack und den ›olfaktorischen Rahmen‹ ge-
141 | Zu den Projekten Radical Fresh und Muränien Muränien!: http://muraenien. wordpress.com; Art Act Magazine; http://artactmagazine.ro/participative-dramaturgytangaproject-radical-refresh.html. 142 | Gesellschaft Freunde der Künste: »Drei Rumänen möchten so schnell wie möglich raus – România! Te pup | Rumänien! Küss mich«, http://www.freundederkuenste.de/ empfehlung/theater-und-premieren/buehne/drei-rumaenen-moechten-so-schnell-wiemoeglich-raus-romania-te-pup-rumaenien-kuess-mich.html. Vgl. zum Inhalt des Stückes auch Stanescu, Saviana/Gerould, Daniel (Hg.): roMANIA after 2000. Five new Romanian Plays, New York: Martin E. Segal Theatre Center 2007; Neue Stücke aus Europa 2010: Stückbeschreibung, http://www.newplays.de/index.php?page=archive&content=archiv e_2010&content_sub=archive_2010_parts&id_event_cluster=542809.
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nerieren, und ganz nebenbei episierend die Handlung kommentieren«143, beschrieb es ein Kritiker. Dem Orchester kam eine Vielzahl von Aufgaben zu. Seine Klänge begleiteten die Einzelauftritte, das Aufeinandertreffen und das Scheitern der drei Protagonisten. Zudem war das Orchester ständig anwesend. Für die Zuschauer sichtbar gestaltete es den Bühnenraum, übernahm Nebenrollen und legte dadurch den theatralen Prozess offen.
Abbildung 4: Romania! Kiss me! Teatrul Naţional ›Vasile Alecsandri‹ Iaşi. Bukarest 2010, Foto: Catalin Gradinariu Ein separater Zuschauerraum; eine leere Bühne; an der Rampe befanden sich lediglich die ›Instrumente‹ des Orchesters: Plastikflaschen, Blechbüchsen, Dosen, leere Kanister, Drumsticks, Gläser, Tassen, Besteck und Küchenreiben. Das Orchester auf der Bühne saß und stand dem Publikum frontal gegenüber. Es beobachtete die Zuschauer und fixierte sie, sodass diese sich den Blicken und dem Gesehenwerden nicht entziehen konnten. Eine passive Haltung konnte das Publikum, das der kontinuierlichen Beobachtung durch die fünf Musiker im schwarzen Overall ausgesetzt war, kaum aufrechterhalten. Es schaute plötzlich nicht mehr nur zu, sondern wurde auch selbst betrachtet. So entstand eine Dopplung der Blicke: von Sehen und Gesehenwerden, von Blickewerfen und Zugeworfenbekommen. Der Blick auf den Anderen, das Orchester, wurde für den Zuschauer plötzlich zum Blick auf sich selbst. Auch die Auftritte der drei Protagonisten wurden von dem Orchester gelenkt. Vasile, Miss Renata und Herr Neagoe agierten auf rollbaren Podesten, 143 | Heller, Jakob C.: »Bis zur letzten Nase«, in: Neue Stücke aus Europa 2010, http:// newplays-blog.de/2010/06/19/bis-zur-letzten-nase/.
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die je nach Auftritt von einem Orchestermitglied in die Bühnenmitte geschoben wurden. Das Umfeld der drei Hauptfiguren war nur durch einzelne Requisiten angedeutet. Sie verharrten statisch auf den Podesten, während das bewegliche Orchester sie leitete und exponierte. Das Orchester bestimmte den Rhythmus und die Struktur der Performance. Durch die ständige Interaktion mit den Protagonisten sowie durch die Übernahme von Nebenrollen beeinflusste es die Handlung. Hinzu traten zwei weitere sinnliche Elemente: Zum einen ließen die ›Instrumente‹ des Orchesters Geräusche, Klänge, Rhythmen und Melodien entstehen. Zum anderen spielten Gerüche eine große Rolle. So begannen während der Szene im Zug zwei Orchestermitglieder parallel zu der Bühnenhandlung sichtbar an der Rampe Knoblauch, Zwiebeln und Speck zu schneiden. Die Gerüche erfüllten den Raum. Auch Dosenfisch, Parfüm und Alkohol waren zu riechen. Ein Ventilator wehte die Mischung der Gerüche in den Zuschauerraum. Das Publikum konnte sich diesen sinnlichen Eindrücken nicht entziehen. Es wurde geradezu überwältigt – sei es aus Faszination oder aus Ekel. Die Trennung von Bühne und Zuschauerraum, von Produktions- und Rezeptionssphäre war aufgehoben. So waren die Zuschauer in den theatralen Prozess integriert. Dabei waren sie vor allem mit ihren eigenen Klischees von scheinbar typisch rumänischen Gerüchen konfrontiert. Diese waren es, die ihnen vor Augen (und in diesem Fall auch vor die Nase) geführt wurden und die eine Auseinandersetzung mit dem auf der Bühne dargestellten Alltag bewirkten. Denn darum ging es den Theatermachern. Sie wollten auf der Bühne, mit ihren eigenen Worten, »eine atmosphärisch möglichst dichte, möglichst sinnliche Wiedergabe des rumänischen Alltags […] schaffen«144. Die Performance Romania! Kiss me! war transkulturell angelegt.145 Transkulturell meint eine kulturelle Praxis, die die Vorstellung von einem vermeintlich Eigenem und einem vermeintlich Fremden aufhebt. Man erkennt dabei, dass das Eigene durchsetzt ist von dem Fremden und das Fremde Anteile des Eigenen besitzt. In Romania! Kiss me! zeigte sich die Transkulturalität unter anderem in den beschriebenen akustischen und olfaktorischen Elementen, die das ›Fremde‹ sinnlich erfahrbar machten und es dabei zu einem Bestandteil des Eigenen werden ließen. Auch der ständige Blickwechsel zwischen dem Orchester und den Zuschauern trug dazu bei. Der Blick auf das vermeintlich ›Fremde‹ wurde damit zu einem Blick auf das eigene Selbst. Die erfolgreiche Inszenierung war mit übersetztem Text mehrfach im europäischen und außereuropäischen Raum zu sehen. Im Jahr 2010 erhielt sie eine Einladung zur Theaterbiennale NEUE STÜCKE AUS EUROPA nach Wiesbaden. 144 | Ebd. 145 | Vgl. Heeg, Günther: Das transkulturelle Theater, Berlin: Theater der Zeit (2014).
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Abbildung 5: Romania! Kiss me! Teatrul Naţional ›Vasile Alecsandri‹ Iaşi. Bukarest 2010, Foto: Catalin Gradinariu
4.3 Reasons to be happy — Slowenien Die Performance Reasons to be happy feierte im Dezember 2011 in Ljubljana Premiere. Sie fand in dem bereits genannten Theater Gledališče Glej statt, der ältesten nichtinstitutionellen Spielstätte Sloweniens, die einen wichtigen Ort des Experimentierens für die Freien Theater des Landes darstellt. Der ehemalige Leiter des Gledališče Glej, Jure Novak, erarbeitete die Produktion als Regisseur gemeinsam mit der Performerin Katarina Stegnar und der Dramaturgin und Übersetzerin Urška Brodar. Bemerkenswert an der Performance sind das spezifische Raumverständnis sowie der ungewöhnliche Umgang mit der Figur des Performers und mit dem Publikum. Die Aufführung beschäftigt sich mit dem Thema Depression. Sie fragt nach dem Verhältnis von psychischer Krankheit des Einzelnen und gesellschaftlichen Erwartungen an denselben. »It is our duty to be happy. Happy men, women and children on posters and in TV ads constantly show us easy ways to be happy. What is happiness, apart from its chemical makeup? Why is it so high on the ladder of contemporary values? And furthermore – why is happiness the only value that is not called into question that is inherently good? Have you felt bad in the past month, have you felt depressed, sad, tormented or even hopeless? Have you been finding it hard to do things you usually enjoy doing? We have the solution: Jure Novak: Reasons to be happy is a performance about depression, the
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Andrea Hensel performance for you. If you buy a ticket now, you will also receive instant gratification. Offer valid while supplies last.«146
Im Mittelpunkt steht die konstruierte Biografie des Regisseurs Jure Novak. Man kann sie als ›Spiel-Identität‹ bezeichnen. Diese Figur Jure Novak ist in Slowenien aufgewachsen und mit zwölf Jahren an Krebs erkrankt. Zwar kann sie die Krankheit besiegen, doch kommt ihr dabei die Fähigkeit abhanden, sich glücklich zu fühlen. Jegliche Therapien und Hilfeversuche scheitern. Jure Novak verliert die Arbeit und das soziale Umfeld. Es folgt die Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Erst die Behandlung des Schweizer Arztes Dr. Durani lässt auf eine Besserung hoffen: In der wissenschaftlich kaum erforschten Annahme, dass Gefühle durch chemische Prozesse im Körper ausgelöst werden und diese maschinell steuerbar sind, erhält Jure Novak ein Implantat in das Gefühlszentrum des Gehirns eingesetzt. Aber die Behandlung schlägt fehl und das Glücksgefühl bleibt weiterhin aus. Jure Novak kann nicht in die Gemeinschaft zurückkehren. Doch Dr. Durani macht ihm erneut Hoffnung. Neue medizinische Verfahren ermöglichen es, Gefühle von außen zu beeinflussen. Ein Gerät wird so eingestellt, dass Jure Novak per Knopfdruck entscheiden kann, zu welchen Zeitpunkten er positiv, negativ oder neutral empfinden möchte. Die Methode ist erfolgreich. Jure Novak kann gesellschaftliche Konventionen wieder einhalten, sein soziales Umfeld nimmt ihn wieder auf. Slowenien weist im osteuropäischen Vergleich eine außergewöhnlich hohe Zahl an Selbstmorden auf, die häufig auf Depressionen zurückgehen.147 Es mangelt jedoch an therapeutischen Einrichtungen und psychologischen Hilfestellungen. Zudem verdrängt die Gesellschaft die Krankheit, was die Behandlung erschwert. Die Performance Reasons to be happy bringt dieses aktuelle Problem auf die Bühne. Sie thematisiert das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von psychischer Krankheit und gesellschaftlicher Norm. Der gesellschaftskritische Diskurs stößt eine Auseinandersetzung des Zuschauers mit dieser Frage an. Die künstlerischen Verfahren der Performance fordern zudem die aktive Beteiligung des Publikums heraus. Die Besucher sind mit einem Theaterraum konfrontiert, der nicht der üblichen Anordnung entspricht. Die Trennung zwischen Publikumsraum und Bühne ist aufgehoben. Zuschauer und Akteure teilen sich die Bühne. Dort ist in der Mitte eine spartanische Kücheneinrich146 | »Reasons to be happy«. Programmbeschreibung, http://www.glej.si/en/events/ performances/144/128/jure-novak-reasons-to-be-happy. 147 | Vgl. European Radio Network (Hg.): »Hohe Selbstmordrate in Slowenien«, http:// www.euranet.eu/ger/Dossiers/Euranet-Schwerpunkte/Depressionen-in-Europa/HoheSelbstmordrate-in-Slowenien; Stiftung Depressionshilfe, http://www.deutsche-depres sionshilfe.de/stiftung/9751.php.
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tung mit Ablageflächen aufgestellt, auf denen Teller, Töpfe, Gläser, Pfannen, Gewürze und Lebensmittel stehen. Daneben befinden sich Sessel und Beistelltische, die sichtbar aus dem Möbelhaus Ikea stammen. Kleidungsstücke und Bücher liegen auf dem Boden verteilt, darunter auch Literatur von Sarah Kane, Edgar Allan Poe und Franz Kafka.
Abbildung 6: Reasons to be happy. Gledališče Glej. Ljubljana 2011, Foto: Urška Boljkovac Während die Zuschauer, maximal 15 an der Zahl, den Raum betreten, nimmt Jure Novak sie in Empfang. Sie werden mit Handschlag begrüßt, freundlich gebeten, Hausschuhe anzuziehen, und aufgefordert, auf den Sesseln Platz zu nehmen. Als ›Gastgeber‹ und einziger Akteur der Aufführung schildert Jure Novak (s)eine fiktive Lebensgeschichte. Dabei versucht er nicht, eine Rolle oder eine Figur zu verkörpern. Er greift durchweg auf seine eigene Person zurück und behauptet dadurch Authentizität. Er zeigt aber auch nicht einfach nur sich selbst. Er inszeniert sich selbst, er kreiert eine Spiel-Identität und dadurch eine künstlerische Rahmung, die sich von der Realität abhebt. Es geht allein um die Inszenierung des Selbst. Die Spiel-Identität und die behauptete Authentizität stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Der scheinbar authentisch agierende Novak bleibt dennoch immer Performer, eine Figur in einem künstlerischen Setting. Während Novak spricht, bekocht er das Publikum und bezieht es in die Handlung ein. Er bittet einzelne Teilnehmer um Hilfe, teilt Fragebögen über Symptome der Depression aus, setzt sich zu einzelnen Zuschauern und beginnt Gespräche mit ihnen. Der Zuschauer kann sich dem Geschehen nicht entziehen und kann keine nur beobachtende Position einnehmen. Vielmehr wird er zu einem Teilnehmer, der sich im theatralen Prozess als Zuschauer und gleichzeitig als Handelnder wiederfindet. Als der temporären Gemeinschaft zugehörig, bekommt er eine wesentliche Rolle zu-
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gesprochen. Das Ende der Performance bestärkt diese Zugehörigkeit erneut. Weder spenden die Zuschauer Applaus, noch verbeugt sich der Akteur. Es öffnen sich lediglich die Türen, während Jure Novak sich zu den Teilnehmenden setzt. Die Gespräche laufen fort, die Grenzen zwischen Akteur und Zuschauer verschwimmen mehr und mehr. Die Produktion wird bereits seit zwei Jahren in Ljubljana gezeigt und trifft bis heute auf eine äußerst positive Resonanz. Sie erhielt Einladungen zu mehreren Festivals, darunter das PRELET Overflight Theatre Festival 2012 in Ljubljana, das DRUGAJANJE Contemporary Arts Festival 2012 im slowenischen Maribor und das IMPACT International Theatre Festival 2012 in Veles in Mazedonien.
4.4 They live (in search of text zero) — Serbien Die Lecture-Performance They live (in search of text zero) entstand im Frühjahr 2012 nach einem Konzept der freien serbischen Theatermacher Maja Pelević und Milan Marković.148 Maja Pelević wurde 1981 in Belgrad geboren und studierte dort Szenisches Schreiben. Während ihrer Promotion belegte sie unter anderem Kurse bei Richard Schechner. Sie lebt nach wie vor in Belgrad und zählt zu den führenden Vertretern der gegenwärtigen serbischen Dramatik. Ihre Texte kamen in Deutschland, Kroatien, Slowenien, Russland und Montenegro zur Aufführung. Der Fokus ihres Schreibens lässt sich folgendermaßen beschreiben: »Pelevićs postdramatische Texte formulieren das Lebensgefühl einer Generation, die dank moderner Technologien mit der ganzen Welt vernetzt ist, die den Zugang zu Reizen aller Art hat – und die doch im Kern von Vereinsamung bedroht ist.«149 Auch Milan Marković ist einer der bekanntesten jungen Dramatiker Serbiens. 1978 in Belgrad geboren, wirkte er bisher als Dramaturg an deutschen, slowenischen, kroatischen und dänischen Theaterproduktionen mit. Seine Texte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und unter anderem in England aufgeführt. Die Performance They live (in search of text zero) stützte sich auf einen Text, der sich zwischen Fakt und Fiktion bewegt. Das Spiel mit beidem stand im Mittelpunkt der Performance. Im Februar 2012 traten Pelević und Marković in die sieben größten politischen Parteien Serbiens ein. Sie gaben dabei wahrheitsgetreu an, Theatermacher zu sein: »Milan Marković and Maja Pelević became members of seven leading parties in Serbia: the Democratic Party of Serbia, the 148 | Zur Biografie und zum künstlerischen Schaffen der beiden Theatermacher siehe auch Contemporary Performance Network, http://contemporaryperformance.org/profile/ MilanMarkovic?xg_source=activity; »Porträt Maja Pelevic«, in: Nachtkritik/Spielbetriebe, http://nachtkritik-spieltriebe3.de/index.php?option=com_content&view=article&id= 128&Itemid=43&lang=de. 149 | »Porträt Maja Pelević«.
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United Regions of Serbia, the Social Democratic Party, the Democratic Party, the Liberal Democratic Party, the Serbian Progressive Party, and the Socialist Party of Serbia.«150 Als Mitglieder stellten sie den Parteien das Kulturmarketingprogramm »Idea-Strategy-Movement« vor. Es erhielt breiten Zuspruch. So erfreulich diese positive Reaktion auf den ersten Blick erscheinen mag, als so irritierend erweist sie sich auf den zweiten, denn: Das Programm basierte nicht auf den Ideen der beiden Theatermacher. Vielmehr handelte es sich um Joseph Goebbels’ 1928 veröffentlichte Schrift »Erkenntnis und Propaganda«. Pelević und Marković änderten darin lediglich drei Begriffe. Anstelle von Adolf Hitler fügten sie den Namen des jeweiligen serbischen Parteivorsitzenden ein. Das Wort Nationalsozialismus ersetzten sie durch Demokratie und den Begriff Propaganda durch politisches Marketing. Keinem Parteifunktionär fiel die Herkunft des Manifestes auf. Vielmehr nahmen alle die Ausführungen mit großer Begeisterung auf: »The leaders of the parties liked the text so much that the two protagonists, who introduced themselves with their real identities, immediately became members of cultural boards and councils in the majority of the selected parties, and in some of them they were even shortlisted for the leading positions in Belgrade theatres.«151
Dieses Projekt schilderte die Lecture-Performance They live (in search of text zero). Sie stellte die Entstehungsgeschichte dar, trug Ausschnitte aus den Gesprächen mit den Parteipolitikern vor und zeigte Reaktionen von Parteimitgliedern. Dabei war es das Anliegen der Performance, die Macht der Parteien in Serbien herauszustellen und deren Klientelismus kritisch zu hinterfragen. So heißt es in der Beschreibung zu der Aufführung: »If you are not a member of a party, you are nothing. Become a member, this is your only chance.«152 Die Bedeutung dieser Aussage zeigte sich bereits in Bezug auf die Präsentation der Performance. Zwar ignorierten es die Parteien, als das Projekt aufgedeckt wurde. Jedoch gestaltete sich die öffentliche Vorführung der szenischen Lesung als schwierig. Die Premiere war zunächst im Belgrader Jugoslovensko Dramsko Pozorište geplant, einem staatlich subventionierten Theater. Wenige Tage vorher setzte das Haus die Aufführung allerdings wegen angeblich fehlender künstlerischer Innovation und schwerwiegender Provokation ab. Die Erstaufführung fand daraufhin im April 2012 im Kulturzentrum Dom Omladine in Belgrad statt. »The public reading of They Live was supposed to take place on 17 March, 2012, at the Yugoslav Drama Theatre. On 15 March the aut150 | »They live (in search of text zero)«. 151 | Jelesijević, Nenad: »Into the Paradox«, in: »They live (in search of text zero)«. 152 | »They live (in search of text zero)«.
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hors were informed that the reading was being postponed and they were invited to present the text to the management. After that the reading was cancelled.«153 In den folgenden Monaten wurde die Performance in mehreren freien Spielstätten außerhalb Serbiens gezeigt, so im Theater Gledališče Glej in Ljubljana, in der Kaserne in Basel, auf dem alljährlichen Theaterfestival Borštnikovo srečanje in Maribor und auf dem Beogradski Internacionalni Teatarski Festival (BITEF) in Belgrad. Dort erhielten Pelević und Marković unerwartet die Erlaubnis, die Lecture-Performance in den Räumlichkeiten des Belgrader Stadtparlaments zu zeigen. Sie fügten der szenischen Lesung für diesen Anlass einen ortsbezogenen Prolog und einen ebensolchen Epilog hinzu.
Abbildung 7: They live (in search of text zero). Gledališče Glej. Ljubljana 2012, Foto: Janko Oven Den Zuschauer erwarteten im Gebäude des Stadtparlaments repräsentative Räume, ausgestattet mit glänzenden Kronleuchtern, Marmorsäulen und roten Samtstühlen. Für die Aufführung waren Letztere einem Tisch in der Mitte gegenüberstehend angeordnet. Hinter dem Tisch waren die serbische Flagge, das Stadtwappen Belgrads und zwei Leinwände aufgestellt. Alles schien für eine feierliche Veranstaltung vorbereitet zu sein. Maja Pelević und Milan Marković betraten den Raum in schwarzer Kleidung und mit schwarzen Sonnenbrillen im Gesicht. Sie nahmen hinter dem Tisch Platz und eröffneten die Präsentation, indem sie den Prolog verlasen. Darin schilderten sie die Biografie des von 1941 bis 1944 amtierenden Belgrader Bürgermeisters Dragomir Dragi Jovanović, der enge Beziehungen zu den Nationalsozialisten gepflegt hat. Über die Figur Jovanović’ stellten sie somit einen Bezug zu der Schrift von Joseph Goebbels her. Die 153 | Ebd.
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Anleitungen zum Kulturmarketing standen im zweiten Teil der Performance im Mittelpunkt. Sie wurden abwechselnd verlesen oder per Tonaufnahmen eingespielt und mit Bildprojektionen unterlegt. Die vorgenommenen Änderungen des Originaltextes waren kenntlich gemacht. Zudem wurden Auszüge aus den Gesprächen mit den Politikern und deren Reaktionen auf die eigentliche Herkunft des Kulturmarketingprogramms wiedergegeben. Schließlich kamen auch die Reflexionen der beiden Künstler zur Sprache. Es entstand eine Textcollage, die sich aus unterschiedlichen Stimmen mit jeweils eigenem Sprechduktus zusammensetzte. Am Ende der Performance wurden aktuelle politische Maßnahmen der Belgrader Stadtregierung und die daraus folgenden sozialen Missstände thematisiert. Als Epilog erschienen auf den Leinwänden Bilder und Texte, welche die Zwangsräumung einer Romasiedlung in der Stadt dokumentierten, deren Folgen aufzeigten und die politischen Entscheidungen hinterfragten: »April 2012. The eviction of the Roma near the Belvil estate is coming to an end. Instead of 40 families as announced, the city authorities suddenly evict 250 families located in the range of the access roads. City employees, equipped with hygienic gloves, help the Roma to pack their belongings and enter buses, each of which have one of the five locations written on it. Most of the locations are far away from the places where the residents work, exercise social and health care rights or send their children to school. On top of that, the newly established settlements become targets of attacks by masked Nazis and unmasked neighbours. In the new Jabučki Rit settlement, only a week after the eviction, Roma are attacked by a group of Nazis with baseball bats shouting such slogans as: ›Serbia to the Serbs‹ and ›Get out‹. Regarding the attacks in Resnik, the Mayor of Belgrade declares: ›We are aware that citizens are afraid of the arrival of those who used to steal water, electricity and other things […]‹.«154
Ganz am Ende der Perfomance ging es wiederum um die verantwortlichen Politiker. Gezeigt wurde das Foto des amtierenden Bürgermeisters Dragan Đilas. Damit schloss die Präsentation den Kreis zum Beginn der Aufführung. Anliegen der Performance They live (in search of text zero) war es, mit künstlerischen Mitteln die soziale, politische und kulturelle Wirklichkeit des Landes zu betrachten. Die Theatermacher griffen zuerst in die Politik ein und verhandelten diese Intervention anschließend in ihrer Präsentation. Hierbei verbanden sie historische Ereignisse Serbiens mit den gegenwärtigen politischen Strukturen und Entscheidungen. Die beiden Akteure wollten eine breite politische Diskussion anregen. Deshalb gehörte zu ihrem Konzept auch, die Entstehung der Lecture-Performance im Internet zu dokumentieren und öffentlich zu zeigen:
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»Given the fact, that the presentation is available online – that is, it is freely accessible to anyone – the political image of the event as a whole is completed.«155
4.5 Lili Handel — Bulgarien/Niederlande/Belgien Der Schauspieler, Choreograf, Tänzer und Performancekünstler Ivo Dimchev ist einer der bekanntesten freien Künstler des Tanz- und Performancetheaters in Bulgarien.156 1976 in Sofia geboren, studierte er an der Dasarts Academy in Amsterdam Performative Künste und ist seit Januar 2013 als artist in residence am Kaaitheater in Brüssel ansässig. Neben seinen künstlerischen Aktivitäten ist Dimchev als Gastdozent an der Theaterakademie in Budapest, an dem Royal Dance Conservatory in Antwerpen und an der Hochschule der Künste in Bern tätig. Im Jahr 2004 gründete er in Sofia die Kulturorganisation NeMe Humarts und veranstaltet unter deren Dach jährlich einen Wettbewerb für zeitgenössische Choreografie. Dimchevs Performances zeichnen sich durch ihre transmedialen Arbeitsweisen aus. Er setzt auf der Bühne Elemente aus Tanz, Theater, Performance, bildender Kunst, Musik und Fotografie ein. Dimchev tritt häufig als Soloperformer auf. Ein radikaler Umgang mit dem eigenen Körper und eine fast beklemmende Nähe des Akteurs zum Publikum kennzeichnen seine Arbeiten: »His performances are marked by an intense emotional and personal presence, in his rough and therefore extremely powerful impulses, outbursts, different states that border the human and the animalistic, normalcy and madness. This overwhelming energy is placed on the stage through the highly sophisticated technique of the well-trained body, the cultivated voice, precise choreography.«157
Die Performance Lili Handel – Blood Poetry and Music from the White Whore’s Boudoir feierte im Jahr 2004 in Stockholm Premiere. Im Zentrum stand die Biografie der Figur Lili Handel, einer alternden Diva, die sich – einst bekannt, beliebt und geliebt – mit dem Ende ihrer Karriere und mit ihrem körperlichen Verfall konfrontiert sah. Die Performance gab das vergangene Leben der Diva aber nicht nur durch gesprochene Worte wieder. Vielmehr erzählte die Figur 155 | N. Jelesijević: »Into the Paradox«. 156 | Zu Ivo Dimchev und seinen künstlerischen Arbeiten exemplarisch die Homepage: Dimchev, Ivo, http://www.ivodimchev.com/index.htm; Archiv mime centrum berlin: Ivo Dimchev. Lili Handel – blood, poetry and music from the white whore’s boudoir, http:// archiv.mimecentrum.de/video/show/3132; Woetzinger, Julia: »Come on. Do something!«, in: Kulturen. Das Online-Magazin der KulturjournalistInnen an der UdK Berlin, http://194.95.94.164/wordpress/2012/12/come-on-do-something. 157 | M. Todorova: Body, Identity, Community, S. 9.
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ihre längst überlebte Lebensgeschichte durch ihren Körper. Im Moment des Niedergangs fiel die Maskerade, die Figur entblößte sich selbst. Sie rief sich einzelne Lebensstationen und -situationen nostalgisch ins Gedächtnis. In erschütternder Intensität wurde dabei die körperliche und zeitliche Vergänglichkeit deutlich. Betraten die Zuschauer den Bühnenraum im House of Dance in Stockholm, um die 40-minütige Soloperformance zu sehen, so befanden sie sich in einem konventionellen Setting. Zuschauerraum und Bühne waren klar voneinander abgegrenzt. Die Bühne war dunkel und weitestgehend leer, lediglich die Umrisse einzelner Requisiten und Möbelstücke waren sichtbar. Im schummrigen Licht ließ sich in der Bühnenmitte ein alter ramponierter Sessel erkennen. Darauf lag ein lederner Cowboyhut, rechter Hand zeichnete sich die Silhouette einer Tuba ab. An der linken Bühnenseite hingen die Überreste eines roten Samtvorhangs, die an ein früheres Künstlerleben erinnerten. Langsam erhellte sich der Bühnenraum. Aus dem Off ertönte ein leiser und hoher Gesang, der weder einer Frau noch einem Mann zuzuordnen war. Diese Irritation hielt an, als im zunehmenden Licht und bei der lauter und schriller werdenden Stimme die Figur die Bühne betrat: Ivo Dimchev als sein Alter Ego Lili Handel bzw. Lili Handel als ein glatzköpfiger nackter Mann, der – nur mit Perlenketten um den Kopf gewickelt und mit einem Stringtanga aus Perlen bekleidet – in schwarzen Stöckelschuhen auf die Bühne stakste. Das markante Männergesicht war eine Maske aus weißer Schminke, rotem Lippenstift und schwarzer Wimperntusche. Das Geschlecht der Figur war nicht eindeutig zu bestimmen. Da sie abgesehen von Schmuck und Tanga keine weitere Kleidung trug, richtete sich die Aufmerksamkeit auf den geschlechts- und gesichtslosen Körper, der das Zentrum der Performance bildete. »We are presented with an alien creature whose face looks as artificial as a masque of porcelain, a musician whose only instrument is his own body. We are witnessing the tragic and final outcome of a body that is both naked and helpless, shows signs of emotional torture, yet is beautiful.«158 Es folgten kurze Einzelszenen aus dem Leben Lili Handels. Eine chronologische (Lebens-) Geschichte wurde dabei jedoch nicht erzählt. Bis zum Ende der Performance erfuhren die Zuschauer auch nicht, wer oder was sich hinter dem weiblichen Namen Lili Handel verbarg. Und doch gelang es Dimchev, über die Körperlichkeit seiner Figur ein eindrückliches Bild ihrer Biografie und ihres körperlichen Verfalls zu zeichnen. So brachte die einst klare Divenstimme nur noch krächzende Töne hervor, die an Eunuchengesang erinnerten. Aufgesetzt erzählte Lili Handel von legendären Taten und behauptete sie als eigene Erlebnisse. Requisiten wie Pelzmantel, Cowboyhut und Perücke setzte sie auf, um sie sofort wieder abzulegen. Der kurzzeitigen Kostümierung 158 | Jaszay, Tamal: »Lili Handel«, in: I. Dimchev (Homepage).
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folgte immer wieder die Entblößung. Lili Handel wiederholte Tanzschritte, zitierte Gesten und deutete Bewegungen an, die sie wiederum abrupt abbrach. Der muskulöse Körper bäumte sich auf, er tanzte, rannte und sprang, dann sank er plötzlich, zerbrechlich wirkend, ermattet und atemlos auf dem Stuhl zusammen. Laute Bässe erschütterten den nackten Leib und ließen ihn bis zur Erschöpfung zucken. Schmerz und Verfall der Figur wurden ausgestellt. Dadurch waren sie nicht nur sichtbar, sondern für das Publikum in dem Sinne erfahrbar, dass es sich der Nähe und der ausgestellten Körperlichkeit der Figur kaum entziehen konnte. Dem Zuschauer bot sich ein mitreißendes Spiel von Verführung, Schmerz und Selbstauslöschung. Er war in mehrfacher Hinsicht zur (Selbst-)Reflexion aufgefordert: durch den sichtbaren körperlichen Verfall der Figur und dessen Projektion auf die eigene Person, durch die gleichzeitige Begegnung mit Maskierung und Entblößung, Nähe und Distanz und schließlich durch die körperliche Grenzüberschreitung des Performers. Die Kuratorin Renate Klett beschreibt die Performance in einer Rezension folgendermaßen: »Die Aufführung ist von perverser Aufrichtigkeit, man kann sie lieben oder hassen – entziehen kann man sich ihr nicht.«159 Zum Geschehen auf der Bühne gehörte eine reale Blutentnahme. Mit einer weißen Manschette schnürte sich Lili Handel den Oberarm ab, griff zu Nadel und Spritzbesteck und entnahm sich selbst aus der Ellenbogenvene eine Ampulle Blut. Diese versteigerte sie in einzelnen Dosen an das Publikum. Sie stellte mit dem buchstäblichen Ausverkauf des eigenen Blutes vor allem die Frage nach dem (Verkaufs-)Wert von Kunst und (Alters-)Körper in Gesellschaft und gegenwärtigem Kunstbetrieb. »Ivo Dimchev’s powerful solo exposes the body as a multi-expressive reality. It reminds us that the body is not merely a form, to be perceived mainly visually, but that it has a constitutive inside. Dimchev extends this interiority to the audience by all means, voice, movement, speech and even his blood, and engages them viscerally.«160
Die Produktion erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Einladungen zu Gastspielen im europäischen Raum, so nach Belgien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und in die Schweiz.
4.6 Szutyok — Ungarn Béla Pintér ist einer der bekanntesten Dramatiker, Regisseure und Schauspieler der Freien Theaterszene Ungarns. Er wurde 1970 in Budapest geboren. 159 | Klett, Renate: »Es fließt Blut!«, in: Zeit Online, http://www.zeit.de/2012/18/KSDimchev. 160 | Guru Ertem, zit. in: I. Dimchev (Homepage).
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Gegen Ende der achtziger Jahre arbeitete er als Mitglied der freien Gruppe Arvisura erstmals künstlerisch. Pintér absolvierte keine künstlerische Ausbildung, sondern kam als Laienschauspieler zum Theater. Er knüpfte zahlreiche Kontakte zu anderen freien Gruppen und Künstlern und gründete 1998 am Szkéne-Theater in Budapest seine eigene Gruppe mit dem Namen Pintér Béla és Társulata (Béla Pintér & Company). Zusammengesetzt aus Profi- und Laienschauspielern gelang der Kompanie zu Beginn des neuen Jahrtausends der internationale Durchbruch. Seitdem war sie auf zahlreichen Festivals vertreten, darunter in Deutschland bei dem Wiesbadener Festival NEUE STÜCKE AUS EUROPA, der euro-scene in Leipzig, den Berliner Festspielen oder dem Laokoon Festival Kampnagel in Hamburg. Im europäischen Raum gab die Gruppe beispielsweise in dem Chapter Arts Centre in Cardiff oder bei dem Festival d’automne in Paris Gastspiele. Béla Pintérs Performances kreisen stets um gesellschaftskritische Themen. Künstlerisch verarbeiten sie Texte, Tanzelemente und Musik. »In seinen Stücken hält Pintér oftmals der Gesellschaft einen Spiegel vor. Dabei vermag er vor allem mit Musik weitere theatralische Dimensionen zu eröffnen und verwendet dabei ebenso ungarische Filmmusik der 1940er Jahre, Anklänge an die spätromantische Oper, cembalobegleitete Rezitative aus Barockopern und immer wieder auch ungarische Volksmusik und -tänze, die ungewöhnlich eingesetzt und ironisch gebrochen werden.«161
Die Musik stellt in Pintérs Arbeiten ein wesentliches Medium dar. Sie entstammt vor allem der ungarischen Folklore, der Oper und der Filmmusik. Sie dient nicht nur der Untermalung der Bühnenhandlung. Pintér nutzt Musik als ein eigenständiges dramaturgisches Mittel. Er löst einzelne Musikstücke aus ihrem Entstehungszusammenhang und versetzt sie – teilweise neu zusammengemischt – in einen anderen Kontext. Die Musik irritiert in seinen Aufführungen die Zuschauer und unterbricht lautstark das Geschehen auf der Bühne. So ist es auch in der aktuellen Inszenierung Szutyok (Miststück) der Gruppe aus dem Jahr 2012.162 Das Stück handelt von dem Kinderwunsch des jungen Bauernpaares Irén und Attila aus der ungarischen Provinz. Wegen Iréns Unfruchtbarkeit entscheidet sich das Paar für eine Adoption. Da ihnen die Warte161 | Neue Stücke aus Europa 2012: Pintér Béla és Társulata, http://www.newplays. de/index.php?page=events&content=events_program&id_event_cluster=849037. 162 | Vgl. Hessisches Staatstheater Wiesbaden (Hg.): Béla Pintér: Miststück. Stücktext. Erschienen im Rahmen des Festivals NEUE STÜCKE AUS EUROPA, 14.-24. Juni 2012, S. 1-104; Theaterformen: Pintér Béla és Társulata – Miststück, http://www.theaterformen. de/Theaterformen_2011/miststueck/.
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zeit für ein Baby zu lang erscheint, adoptieren sie Hals über Kopf die 15-jährige Rószi, die im städtischen Waisenhaus unter dem Namen Miststück bekannt ist. Rószi ist aber nur gemeinsam mit der gleichaltrigen Anita abzugeben, die »genau das ist, was man nicht haben wollte: eine Roma«163, wie es in der Stückbeschreibung heißt. Die jungen Eltern kehren mit den beiden Teenagern in ihr Heimatdorf zurück. Es beginnt ein zunächst sehr harmonisch wirkendes Zusammenleben, dessen Darstellung stets von der Musik untermalt wird: »Begleitet und kommentiert wird das Geschehen von einem barfüßigen Flötisten, der im Hintergrund auf einem Hochsitz hockt. Ohnehin wird viel gesungen und musiziert in diesem Stück, eine Folklore, von der man sich nicht täuschen lassen darf: Denn dies ist keine Provinzposse.«164 Die scheinbare Familienidylle zerbricht zunehmend und weicht den Machtverhältnissen und Missständen der Gesellschaft. Aus den anfangs unzertrennlichen Mädchen werden erbitterte Feindinnen. Egoismus und Gier der beiden Jugendlichen paaren sich nun mit Fremdenhass, Opportunismus und dem Mangel an jeglicher Empathie füreinander. Die Folklore klingt immer entstellter und verzerrter. Sie vermischt sich mit anderen musikalischen Formaten wie Popsongs. Auch in dieser Performance wird der Alltag sichtbar. Sie spiegelt »das Hier und Jetzt der ungarischen Gesellschaft«165 wider, wie es in einer Stückbeschreibung heißt. Gleichzeitig könnte es sich um jede andere postmoderne Gesellschaft handeln.
4.7 Magnificat — Polen Als ein weiteres Beispiel für die Entwicklungen der Freien Theater in den postsozialistischen Staaten, die verstärkt mit musikalischen Elementen arbeiten, sei Marta Górnickas Warschauer Produktion Chór Kobiet angeführt. 1986 in Warschau geboren, absolvierte die freie Musikerin, Sängerin und Regisseurin an der dortigen Theaterakademie eine Gesangs- und Regieausbildung. 2009 gründete sie ihren eigenen Frauenchor. Der Chór Kobiet besteht aus 23 Frauen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Berufen. Im Januar 2010 erarbeitete der Chor in gemeinsamen Workshops, die ein intensives Bewegungstraining und Gesangsunterricht einschlossen, seine erste Performance: THIS IS THE CHORUS SPEAKING: only 163 | Romanodialog: Pintér Béla és Társulata, http://www.romanodialog.org/ZTS%20 2012%20Bela%20Pinter.pdf. 164 | Boldt, Esther: »Gemeinschaft der Verlotterten«, in: Nachtkritik, http://www.nacht kritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=5819%253Aszutyok-mist stueck-nbela-pinter-schockt-bei-den-theaterformen-mit-zeitgenoessischer-gefuehlsver kommenheit&catid=623%253Atheaterformen&Itemid=99. 165 | Theaterformen: Pintér Béla és Társulata – Miststück.
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6 to 8 hours, only 6 to 8 hours. Die Aufführung feierte am 13. Juni 2010 im Instytut Teatralny in Warschau Premiere und erhielt in Polen die Auszeichnung als Musiktheaterinszenierung des Jahres 2010. Der Frauenchor befasst sich in seinen Performances mit drei wesentlichen Themen. Eine große Rolle spielt die Wiederbeschäftigung mit alten Texten, Mythen und Liedern: »[I]t recalls Polish songs, forgotten drama texts, as well as chorus songs from ancient dramas«166. Weiterhin experimentiert der Chor mit der Stimme: »[I]t searches for a chorus voice detached from the language, for example in rhythms, echolalia or in a drone«167. Ein drittes Thema ist die Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen. Der Chor hat das Ziel, die Stimmen von Frauen zu bestärken, und will mit seinen künstlerischen Mitteln zu einer Auseinandersetzung mit Gleichstellungsdiskursen in der heutigen Gesellschaft anregen. Das zeigt insbesondere die Produktion Magnificat, die im Januar 2011 entstand: »Das zweite Projekt Magnificat ist ein Statement zur Rolle der Frau im Machtsystem der Kirche – und verzichtet dabei völlig auf den Gebrauch von geistlicher Sprache/heiligen Worten. Es ist eine Post-Oper, die ein polyphones, popkulturelles Magnificat ermöglicht.«168
Abbildung 8: Magnificat. Instytut Teatralny. Warschau 2011, Foto: Marta Ankiersztejn
166 | Chór kobiet, http://www.chorkobiet.pl/en/page/1/. 167 | Ebd. 168 | Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr: Programmbeschreibung Magnificat, http:// www.ringlokschuppen.de/ringlokschuppen/produktionen/bisher-2012/gastspiele-bisher2012/frauenchor-chor-kobiet-marta-gornicka/.
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Die 23 Frauen des Chors standen in Magnificat frontal zum Publikum. Sie sprachen rhythmisch, flüsterten, zischten und stimmten sakral anmutende Gesänge an. Dabei variierten sie häufig die Konstellationen zueinander und ihre Gesten und Haltungen. Sie sprachen Texte von Elfriede Jelinek, Adam Mickiewicz und Judith Butler; ebenso waren Auszüge aus Euripides Die Bakchen, Bibelzitate, Werbeslogans, aktuelle Zeitungsartikel und Kochrezepte zu hören. So entstand ein Klang, der sich aus Einzelstimmen mit wechselndem Sprachduktus zusammensetzte. Das Ensemble von Texten und Stimmen thematisierte die Rolle von Frauen in der Gesellschaft und Kirche. Die Performance Magnificat erhielt die Auszeichnung des polnischen Theatermagazins Teatr als beste alternative Theaterperformance Polens der Spielzeit 2010/2011. Die Arbeit wurde zu zahlreichen Gastspielen im europäischen Raum eingeladen, so zu dem Theaterfestival Malta in Poznán, dem internationalen Theaterfestival MESS in Sarajevo und zur euro-scene in Leipzig.
4.8 Mŕtve duše — Slowakei Als Reaktion auf die schwierigen Rahmenbedingungen der slowakischen Freien Theater gründete sich im Jahr 2000 in Bratislava der Verein für zeitgenössische Oper Združenia Pre Súčasnú Operu. Die jungen Regisseure, Schauspieler, Choreografen und Komponisten erarbeiteten die Inszenierungen im Kollektiv. Jeder Einzelne brachte seine Erfahrungen und Kompetenzen in den theatralen Prozess ein und wurde zum Mitautor oder Koregisseur der Aufführung. Konzeptionell lag den Akteuren an einer Verflechtung von »Kammeroper und alternativem Theater«169. Sie entwickelten musikalische Collagen, wandelten vorliegende Kompositionen ab und ergänzten sie durch Popmusik. Der Zusammenschnitt von traditionellen Opernelementen und Alltagsmusik diente der Gruppe zur kritischen Parodie von künstlerischen Konventionen. Deutlich zeigt sich dieser Zugang an der Performance Smrt` v kuchyni aus dem Jahr 2000 und an den Aufführungen Okná, brehy, pozostalosti und Čo bude zajtra aus den Jahren 2000 und 2001. Aus dem Združenia Pre Súčasnú Operu ging 2004 die Gruppe Divadlo SkRAT hervor. Diese führte zunächst die Arbeitsweisen des Vereins fort, erweiterte die künstlerischen Verfahren jedoch nach und nach durch multimediale Elemente. Die neueren Performances von Divadlo SkRAT stellen transmediale Collagen dar. An die Stelle der Opernmusik treten elektronische Geräusche und Klänge, die die Aufführungen rhythmisch strukturieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Performance Mŕtve duše (Tote Seelen) aus dem Jahr 2008. Die Produktion griff namentlich wie inhaltlich den Klassiker »Dead Souls« der Rockmusikgruppe Joy Division sowie Nicolai Gogols Roman Die toten Seelen auf: 169 | J. Šebesta: »Erfolgsgeschichte mit Hindernissen«, S. 50.
Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas »Beside the title, the other thing these Dead Souls have in common with Googol’s novel is that they are a sharp satire of the existing socio-political system. We peep in block of flats on Bratislava’s housing estate quarter Petržalka, but it may be on any other such estate in Central or Eastern Europe.«170
Wie einen Voyeur ließ die Inszenierung den Zuschauer auf der Bühne in verschiedene Privatwohnungen eines Großstadthauses in Bratislava blicken. Menschen waren für Momente zu sehen: im Bett liegend, in der Badewanne sitzend, rauchend, trinkend, telefonierend. Hier waren Silhouetten einer Küche erkennbar, dort ein Bügelbrett, Trödel und Gerümpel. Gezeigt wurden »kahle Hochhäuser, Körper und Paare, die an die düster-avantgardistisch montierten Nachkriegs-Fotos etwa von Heinz Hajek-Halke erinnern und Verlorenheit, Unzugänglichkeit, Chaos vermitteln«171, war in einer Beschreibung der Inszenierung zu lesen. Gespannt erwartete der Zuschauer das Kommende, sei es Erheiterung, Gewalt oder Entgrenzung. Nichts dergleichen geschah. Es wurde kein einziges Wort gesprochen, kein Ton gesungen. Die Szenen waren allein von Licht und Musik oder von Geräuschkulissen erfüllt. Elektronische Musikfragmente waren zu hören. Bruchstücke von Melodien und Liedern erschallten, dann wieder Stimmengewirr, Bässe und rhythmische elektronische Klänge. Pausenlos unterlegten sie das fragmentierte Bild einer Gesellschaft und erschütterten es zugleich. Der Ton war dabei ein wesentliches theatrales Element in der transmedialen Performance: »eine spannende, atmosphärisch dichte Collage aus Bildausschnitten, Stimmengewirr, Geräuschen und Musikfetzen, melancholische Bilder und magische Sounds in einer zuckenden, zappenden Licht- und Tonregie. Im Focus: einsame, sehnsüchtige Leiber und tote, verlorene Seelen.«172 Die Performance gastierte bei zahlreichen Festivals, in der Slowakei beispielsweise bei dem KioSK Festival in Žilina und dem Theaterfestival Divadelná in Nitra. Darüber hinaus war sie zu dem Unidram Festival in Potsdam, dem DEMOULDY Festival in Olsztyn in Polen, dem East Gate Europe Festival in Aarhus in Dänemark und dem MittelFest Cividale im gleichnamigen Ort in Italien eingeladen.
170 | Divadlo SkRAT, http://www.skrat.info/en. 171 | Mayer, Gabriele: »Der Voyeur braucht Geduld, um zu fühlen und zu verstehen«, in: Mittelbayerische Zeitung, http://www.mittelbayerische.de/index.cfm?pid=10022&pk =467515 (online nicht mehr verfügbar). 172 | Kunstforum Ostdeutsche Galerie: Dead Souls. Verlorene Seelen, sehnsüchtige Leiber, http://www.freundederkuenste.de/stadtart/regensburg/kunst-veranstaltungen/ theater-skrat-aus-bratislava-folgt-einladung-der-donumenta-am-3102009.html.
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5. Z usammenfassung und A usblick Die Auseinandersetzung mit den einzelnen Gruppen und Performances konnte charakteristische Arbeitsweisen, Ästhetiken und Dramaturgien der Freien Theater in den postsozialistischen Staaten aufzeigen. Im Mittelpunkt standen Inszenierungen von freien Künstlern oder Gruppen verschiedener Herkunft. Die Arbeiten setzten sich mit unterschiedlichen Diskursen auseinander und entstanden durch unterschiedliche künstlerische Verfahren. Sie folgten unterschiedlichen Ideen von Theater. Dennoch kristallisierten sich Merkmale heraus, die als charakteristisch für die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten gelten können. Was die beschriebenen Gruppen und Performances verbindet, ist eine starke Konzentration auf Alltagsthemen. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Alltagsrealitäten, mit gesellschaftlichen Missständen oder sozialen Problemen ist oftmals die Basis der freien Theaterarbeit. Dabei wird Theater nicht als bloßes Inszenieren von Texten verstanden, sondern als ein künstlerischer Prozess, der den Blick des Publikums auf den Alltag schärft oder im besten Fall verändert. Dieses Theaterverständnis ist allen beschriebenen Gruppen gemein. Wie es aber die künstlerische Herangehensweise der Gruppe DramAcum und die Stadtteilprojekte der Gruppe TangaProject gezeigt haben, kann vor allem die freie Theaterarbeit in Rumänien als paradigmatisch für diese Auffassung gelten.173 Die Verknüpfung von künstlerischer Praxis mit gesellschaftskritischen und Alltagsthemen wirft die Frage nach der Rolle des Zuschauers auf. Ein Kennzeichen der freien Theaterarbeit ist hierbei die Beteiligung des Publikums am künstlerischen Geschehen. Das muss nicht heißen, dass die Zuschauer automatisch aktive Mitspieler werden. Bereits durch das Unterlaufen von herkömmlichen Seherfahrungen wird der Zuschauer verstärkt in den theatralen Prozess eingebunden. Dies kann beispielsweise durch die Nutzung von unkonventionellen Zuschauer- und/oder Bühnenanordnungen geschehen oder aber durch eine bestimmte Darstellung des Akteurs, wie es in der Performance Reasons to be happy der Fall war. Der Zuschauer kann sich dem Geschehen kaum entziehen und ist aufgefordert, eine Haltung zu dem Dargestellten einzunehmen.174 173 | Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin: Theater der Zeit 2002; ders.: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1999. 174 | Vgl. Czirak, Adam: Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens im Theater, Bielefeld: transcript 2012; Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.): Paradoxien des Zuschauens. Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater, Bielefeld: transcript 2008.
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Auch bei den Arbeitsweisen der freien Gruppen gibt es Gemeinsamkeiten. Sie arbeiten oft als ein Kollektiv. Der einzelne Regisseur rückt damit in den Hintergrund. Obwohl es keine feststehenden Hierarchien gibt, arbeiten die Gruppen dennoch in bestimmten Strukturen. Dabei liegt das Augenmerk auf den jeweiligen Kompetenzen der Einzelnen. Diese werden gleichwertig in den künstlerischen Prozess integriert. In die künstlerische Arbeit fließen somit die Erfahrungen, Qualifikationen und Begabungen der einzelnen Gruppenmitglieder ein.175 Anhand der exemplarischen Analysen wurde auch deutlich, dass Freies Theater in den postsozialistischen Ländern oft keiner eindeutigen Sparte zuzuordnen ist. Zwar repräsentierten die Einzeldarstellungen in erster Linie das Sprechtheater, dennoch lag der Fokus der Performances meist nicht allein auf dem Text. Vielmehr kann die freie Theaterarbeit als eine transmediale Praxis beschrieben werden. Die freien Gruppen nutzen unterschiedliche Genres und Medien und fügen diese im theatralen Prozess zusammen.176 Dies wurde besonders in den Einzeldarstellungen von Lili Handel, Szutyok oder Mŕtve/duše deutlich. Den freien Gruppen liegt außerdem daran, mit ihren kollektiven und transmedialen Arbeitsweisen künstlerische Praktiken zu erforschen. Die freie Theaterarbeit kommt Laboratorien gleich, welche die Intentionen der Theateravantgarden weiterführen und modifizieren. Eines von vielen Beispielen ist das genannte Theaterzentrum für anthropologische Theaterforschung und -praxis in Polen, Ośrodek Praktyk teatralnych Gardzienice. Eine andere wichtige Richtung ist das Verständnis von Theater als Alltagsrecherche. Auch dieses kann als Forschung gelten. Wie in den Analysen beschrieben, stehen im Mittelpunkt dieser Theaterarbeit soziale Problemlagen und Realitäten, die dokumentiert und in den Inszenierungen künstlerisch behandelt werden. Schließlich ist das große Interesse an internationaler Zusammenarbeit eine wesentliche Gemeinsamkeit aller freien Gruppen. Es zeigte sich, dass freie Gruppen der postsozialistischen Länder verstärkt an EU-Kulturförderprogrammen teilnehmen. Außerdem gründeten sich etliche internationale Plattformen sowie Organisationen und die internationalen Kooperationen nahmen zu. Insbesondere entwickelte sich eine länderübergreifende Festivalkultur. Die internationale Vernetzung trägt nicht nur zu einem transkulturellen Austausch, zu internationaler Aufmerksamkeit und zu einer vorübergehenden 175 | Vgl. dies. (Hg.): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld: transcript 2011; Kurzenberger, Hajo: Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper, Probengemeinschaften, theatrale Kreativität. Bielefeld: transcript 2009. 176 | Vgl. Heeg, Günther/Mungen, Anno (Hg.): Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text, Bild und Musik, München: Epodium 2004.
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Stabilisierung der Rahmenbedingungen bei. Über die Landesgrenzen hinaus Kooperationen einzugehen, lässt sich weit darüber hinausgehend als eine Überlebensstrategie der Freien Theater beschreiben. Sie unterstützen durch internationale Kooperationen den Erhalt ihrer Arbeit vor dem Hintergrund der schwierigen sozioökonomischen Bedingungen: »For non-commercial art, which has always struggled with the problem of insufficient funding, networks have become an opportunity to raise additional funding without having abandon ambitious artistic goals. […] ›Network‹ and ›networking‹ have become both a practice and a general philosophy of how to behave in the artistic market, as well as the basic strategy for a group or an institution to survive.«177
Alle freien Gruppen im postsozialistischen Raum befinden sich ökonomisch in einer prekären Lage. Diese beeinflusst nicht nur die künstlerische Arbeit, sondern auch den sozialen Status der Künstler. Sie ist mitverantwortlich für die oft nur zögerliche Entwicklung neuer Initiativen und erschwert die Etablierung freier Gruppen und Künstler. Erhebliche Kürzungen wie in Slowenien, Ungarn und in der Ukraine bedeuteten letztlich eine erhebliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Die restriktiven Strukturen führen dazu, dass sich freie Künstler zur beruflichen Umorientierung gezwungen sehen. Etliche Gruppen verlassen ihre Heimatländer, um im Ausland Fuß zu fassen. Die Freie Theaterszene in den postsozialistischen Staaten ist sehr wandlungsfähig. Verändert sich der politische und sozioökonomische Rahmen, dann wandeln sich auch die Freien Theater und stellen sich auf die neuen Bedingungen ein. Gleichzeitig fällt es aufgrund der länderspezifischen Rahmenbedingungen schwer, an dieser Stelle eine Zukunftsperspektive für die Gesamtheit der Freien Theater in den postsozialistischen Staaten zu formulieren. Wie in den letzten 20 Jahren werden sich die Theaterlandschaften auch weiterhin in unterschiedliche Richtungen entwickeln und dadurch unterschiedliche Perspektiven für die freien Gruppen bereithalten. Dies zeigen auch die Antworten der Theatermacher vor Ort, mit deren Worten die vorliegende Momentaufnahme schließen soll. So formuliert eine slowenische freie Kritikerin: »My vision is a bit pessimistic. More and more promising artists will leave the country, which is already happening and quite a few are already struggling with their lack of enthusiasm and are changing their professions.«178 Im Gegensatz dazu bemerkt eine slowakische Theaterwissenschaftlerin: »Independent theatre makers are more and more connected, experienced and educated. More and more they enter into public theatres as guests and influenced them.«179 Ein uk177 | Joanna Leśnierowska, zit. in: P. Płoski: »Introduction«, S. 29. 178 | Fragebogen Slowenien I. 179 | Fragebogen Slowakei II.
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rainischer freier Theaterkritiker äußert sich folgendermaßen: »If the government changes nothing, the most of independent theatres can disappear.«180 Und schließlich hält ein ungarischer freier Regisseur fest: »Important would be to build a domestic touring network.«181 DANK Die vorliegende Studie wäre ohne die Hilfe, die tatkräftige Unterstützung und die zahlreichen Anregungen anderer nicht zustande gekommen. Hierfür möchte ich mich ganz besonders herzlich bedanken bei: Nela Antonovic, Tania Arcimovič, Ingrid Beese, Franziska Benack, Urška Brodar, Mare Bulc, Manfred Brauneck, Gianina Cărbunariu, Stefan Çapaliku, Kamila Černá, Gergana Dimitrova, Bojan Djordjev, Annette Doffin, Thomas Engel, Rhonda Farr, Nastasja Fischer, Angelina Georgieva, Maximilian Grafe, Anna Grusková, Günther Heeg, Benno Kaehler, Tine Koch, Elisabeth Kohlhaas, Andreja Kopač, Anna Lengyel, Vitomira Lončar, Mario Lukajic, Atanas Maev, Ana Margineanu, Daniela Miscov, Jure Novak, Tanja Miletić Oručević, Haris Pašović, Ivan Pravdić, Inga Remata, Christiane Richter, Adrian Roman, Petra Sabisch, Kerstin Schmitt, Sara Schöbel, Elisabeth Schwarz, Marianne Seidler, Małgorzata Semil, Elena Seubert, Azadeh Sharifi, Marta Shvets, Viktor Sobiianskyi, Katja Somrak, Peca Ștefan, Anja Suša, Attila Szabó, György Szabó, Alexander Tebenkov, Tomaž Toporišič, Martina Vannayová, Andrea Zagorski, Jasmina Založnik und schließlich bei meiner Familie.
180 | Fragebogen Ukraine I. 181 | Fragebogen Ungarn I.
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6. L iter atur und Q uellen Fragebögen Die im Laufe der Recherchen eingeholten Fragebögen befinden sich im Archiv des Internationalen Theaterinstituts Berlin. Fragebogen Belarus. Erhalten am 22. September 2012. Fragebogen Bosnien-Herzegowina I. Erhalten am 30. Oktober 2012. Fragebogen Bosnien-Herzegowina II. Erhalten am 30. Oktober 2012. Fragebogen Rumänien I. Erhalten am 4. September 2012. Fragebogen Rumänien II. Erhalten am 4. Oktober 2012. Fragebogen Rumänien III. Erhalten am 29. Oktober 2012. Fragebogen Serbien I. Erhalten am 29. September 2012. Fragebogen Serbien II. Erhalten am 5. September 2012. Fragebogen Slowakei I. Erhalten am 22. November 2012. Fragebogen Slowakei II. Erhalten am 29. Oktober 2012. Fragebogen Slowenien I. Erhalten am 3. November 2012. Fragebogen Slowenien II. Erhalten am 5. Oktober 2012. Fragebogen Tschechien. Erhalten am 2. November 2012. Fragebogen Ukraine I. Erhalten am 28. Oktober 2012. Fragebogen Ukraine II. Erhalten am 11. Oktober 2012. Fragebogen Ungarn I. Erhalten am 30. September 2012. Fragebogen Ungarn II. Erhalten am 7. November 2012.
Inter views der Verfasserin mit … Marko Bulc, ehemals Leiter der Bühne Gledališče Glej in Ljubljana, am 27. Mai 2012 in Ljubljana, Slowenien Tomaž Toporišič, Dramaturg am Slovensko mladinsko gledališče in Ljubljana, am 28. Mai 2012 in Ljubljana, Slowenien Inga Remata, Programmleiterin des Gledališče Glej in Ljubljana, am 30. Mai 2012 in Ljubljana, Slowenien Andreja Kopač, freie Journalistin, Dramaturgin und Performerin aus Ljubljana, am 31. Mai 2012 in Ljubljana, Slowenien Die Aufzeichnungen der Interviews befinden sich im Besitz der Verfasserin.
Literatur Akudowitsch, Valentin: Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen, Berlin: Suhrkamp 2013.
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Theater für die Postmoderne in den Theaterlandschaften Westeuropas1 Henning Fülle
In Manfred Braunecks Darstellungen der (west-)europäischen Theaterlandschaften seit dem Zweiten Weltkrieg im fünften Band seines Opus Magnum Die Welt als Bühne 2 wird regelmäßig darauf verwiesen, dass in den sechziger und siebziger Jahren freie, unabhängige Theatergruppen entstanden seien. Dabei ist meist von »freien Gruppen« und »Freiem Theater« die Rede.
N eues The ater aus der K rise der M oderne ? Obschon die meist der gleichsam ‚magischen‘ Jahreszahl 1968 zugeordneten Jugend- und Studentenrevolten sich zwar in den nationalen Gesellschaften manifestieren, handelt es sich doch um Vorgänge, die mit ähnlichen Mustern, mehr oder weniger auch korrespondierend und mehr oder weniger heftig und militant in fast allen Gesellschaften der ,westlichen’ 3 Industriezivilisation vorkommen. Und ohne dass die Zusammenhänge schon wissenschaftlich erforscht wären, kann die Herausbildung von ‚Freiem‘ Theater in den westeuropäischen Gesellschaften, das heißt die Herausbildung von Produktionsweisen, Dramaturgien und ästhetischen Formen neuen Theaters seit den sechziger und siebziger Jahren, im weitesten Sinne als Moment dieser Vorgänge der Jugendrevolten verstanden werden. 1 | Dieser Essay ist nicht aus dem Balzan-Forschungsprojekt hervorgegangen, sondern wurde für diesen Band als ergänzende Perspektive beauftragt und konnte erst nach dem Abschluss des Manuskriptes der Dissertation (siehe Anm. 4) ab Juni 2015 erarbeitet werden. Daher müssen die Ausführungen thesenhaft bleiben. 2 | Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne: Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 5: Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2007. 3 | Westlich meint dabei die modernen, kapitalistisch und parlamentarisch-demokratisch organisierten Industriegesellschaften – in diesem Sinne auch Japan.
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Dabei ist allerdings im Hinblick auf die Begrifflichkeit voranzuschicken, dass die Rede vom ‚Freien Theater‘ (und seiner Ableitungen: Freie Szene, Freie Gruppen und Ähnlichem) aus der Spezifik der deutschen Theaterlandschaft stammt4; sie bezeichnet die Besonderheit, dass die Formen und Strukturen zeitgenössischer Theaterproduktion, in (West-)Deutschland erst spät und in deutlicher Abgrenzung gegen die Traditionsstrukturen des »Deutschen Systems« entstehen. Der Terminus »frei« meint diese Abgrenzung gegen die Strukturen der Stadt- und Staatstheater und wird in den ausländischen Theaterlandschaften, in denen es diese Strukturen jedenfalls nicht in dieser flächendeckenden Monopolfunktion gibt, häufig genug nicht (richtig) verstanden. Das Living Theatre, Peter Brook, Ariane Mnouchkine und George Tabori (beispielsweise) – und in gewisser Weise auch Christoph Marthaler – haben sich als ‚Freies‘ Theater weder bezeichnet noch verstanden, obwohl ihre Arbeit zentrale Referenzen für das sind, was wir in Deutschland als Freies Theater zu bezeichnen uns gewöhnt haben. Für die Herausbildung der neuen Formen – Produktionsweisen, Dramaturgien und Ästhetik – sind zwei Impulsfelder auszumachen, von denen die konkreten Gestaltungen geprägt werden: - zum einen die Dynamik der internationalen künstlerischen Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg, die in den unterschiedlichen Nationalkulturen und den entsprechenden Ausformungen der Theaterlandschaften unterschiedliche Realisierungsbedingungen vorfinden; - das andere Impulsfeld besteht in den – reformerischen und/oder konservativen – Bestrebungen der Kultur- und Gesellschaftspolitik, die zum einen auf künstlerische Entwicklungen reagieren oder eingehen oder aber, als traditionell politisch von Staats wegen oder von der öffentlichen Hand ausgehend, bestimmte Entwicklungs- oder Veränderungsziele mittels der klassischen Formen politischer und/oder administrativer (legislativer oder exekutiver) Intervention zu verwirklichen suchen. Insofern ist es im internationalen Kontext wenig sinnvoll – auch das wird dieser Essay zeigen – pauschal von ‚Freiem Theater‘ zu sprechen, wenn es um
4 | Vgl.: Fülle, Henning: Freie Gruppen, Freie Szene, Freies Theater und die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960-2010), Diss. Hildesheim 2015; und ders.: Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960-2010), Berlin 2016 (im Erscheinen).
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Abb. 1: »Zelt Schanzenpark«, Jango Edwards, Kampnagel Hamburg, 2001, Foto: Friedemann Simon diese Formen geht. Das wäre eine unzulässige Projektion der deutschen Verhältnisse, die auch zu missverständlichen Perspektiven und Bewertungen führen würde. Als ,independent’ werden diese Produktionsweisen und deren Produkte sinnvollerweise bezeichnet, die meist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der ‚westlichen Hemisphäre‘ (zu der wir aber kulturgeschichtlich auch Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und das übrige ‚Mitteleuropa‘ zählen) entstehen und von meist jungen, neuen Ensembles entwickelt werden, die sich häufig auch als ‚Kollektive‘ verstehen, die neues, anderes Theater für anderes Publikum produzieren. Die Begrifflichkeit ,Freies Theater’ bezeichnet dagegen ein deutsches Phänomen, dessen Bezeichnung mit dem Begriff ,frei’ erst vor dem Hintergrund der Bedeutung und Verfasstheit des »Deutschen Systems« der öffentlich finanzierten Stadt- und Staatstheater systematisch und historisch durch seine Verbindung zur Jugend- und Studentenrevolte von 1967/68 verständlich wird. Diese Beson-
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derungen erklären auch die vor allem in den achtziger und neunziger Jahren immer wieder anzutreffenden Verständigungsschwierigkeiten zwischen deutschen und Theaterschaffenden aus dem westeuropäischen Ausland. Von letzteren ist im Folgenden nahezu ausschließlich die Rede – was die deutschen Entwicklungen angeht, ist auf die demnächst erscheinende Studie5 zu verweisen. Hinsichtlich der Bedeutung der beiden genannten Impulsfelder für die Gestaltung der Entwicklungen der Theaterlandschaften soll als leitende These festgehalten werden, dass die künstlerischen Impulse, die auf Veränderungen der traditionellen Formen des dramatischen Texttheaters zielen, Bestandteile einer neuen Phase oder Ära der Zivilisations- und Kulturentwicklung sind, für die sich der Begriff der Postmoderne durchgesetzt hat. Deren Hintergrund bilden die Zivilisationskatastrophen des 20. Jahrhunderts, die globale Massenmedialisierung der Kommunikationsverhältnisse und das Auslaufen der Dominanz der industriellen Produktionsverhältnisse6, zunächst für die Regionen der kapitalistisch organisierten Industriezivilisation, mit denen die teleologisch-utopischen Fortschritts- und Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaften seit der Aufklärung zunehmend obsolet werden. Im Hinblick auf die theaterkünstlerischen Entwicklungen seit den sechziger Jahren ist dabei immer wieder von Peter Brook und seiner Arbeit die Rede, die in ganz Westeuropa als künstlerische Inspiration rezipiert wird und deren Überschreibungen der dramatischen Form, deren politische Zielsetzungen und deren Spezifik der Produktionsweise als prägende Impulse für die zeitgenössischen künstlerischen Entwicklungen wahrgenommen werden. In der Tat scheinen Brooks Arbeiten gerade auch, weil sie nicht aus den klassischen Theaterdiskursen und ihrer Reflexion abstammen, von besonderer Bedeutung für die Herausbildung der neuen, postmodernen Formen der Theatralität zu sein. Doch beginnt die Aufsprengung der Kanonik des dramatischen Theaters aristotelischer 7 Provenienz auch in seinen aufklärerischen Varianten weit früher. Ohne dass diese Entwicklungen hier auch nur annähernd vollständig aufgezeigt werden können, seien dazu folgende Hinweise gegeben.
5 | Siehe Anm. 4. 6 | Das ähnelt dem Vorgang, bei dem in diesen Weltregionen die industriellen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Dominanz der agrarischen und handwerklichen Produktionsverhältnisse abgelöst hatten. 7 | Lehmann hat schlagend gezeigt, dass die »aristotelische« Tragödie ein Ensemble von Regeln und Formen ist, ein Konstrukt, das als sich auch noch wandelnde Adaption in die kulturhistorischen Entwicklungen in Europa seit der Renaissance eingebettet ist. Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: »Einleitung«, in: ders.: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 15-32.
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Abb. 2: »Hotel Pro Forma«, Kirsten Dehlholm, Kampnagel Hamburg, 2000, Foto: Friedemann Simon
Z ur V orgeschichte : The ater als K unst Die Konzepte der Theaterreform um die Wende zum 20. Jahrhundert, die mit den Namen Craig, Appia, Dalcroze, Moholy-Nagy, Schwitters und anderen verbunden sind, korrespondieren mit jenen Prozessen der Entwicklung von Selbstreferenzialität der Künste, der Ausbildung der analytischen und methodologischen Perspektiven zum Beispiel des Impressionismus, die sowohl durch die Fortschritte der wissenschaftlichen Durchdringung von Welt und Materie als auch mit den Selbstreflexionen der klassischen optischen und akustischen Künste, die durch die Erfindungen der Fotografie, der Telegrafie, der Telefonie und Fonografie ausgelöst werden. Seit den »Meiningern«, über (beispielsweise) Max Reinhardt, Stanislavski, Brecht und Piscator, entwickelt sich das Theater in Mitteleuropa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als zunehmend autonome ‚Regiekunst‘, die zumindest neben die Funktion der Verkörperung des Dramas als Kern des auf der Bühne Vorgestellten tritt; Piscator experimentiert mit dem Theater als multimediales politisches Botschaftsspektakel, Brecht mit dem Lehrstück als theatralem Forschungsprozess, der eher zwischen den Akteurinnen und Akteuren stattfindet und vom Publikum wahrgenommen und nachvollzogen wird – und wer von beiden als Erfinder des episch genannten nichtaristotelischen Theaters gelten darf, muss hier dahingestellt bleiben.
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Folgen diese Entwicklungen der künstlerischen Neuerungen und Reformkonzepte bis in die dreißiger Jahre noch einem analytischen selbstreferenziellen Blick, der in gewisser Weise die analytischen Perspektiven der Naturwissenschaften – Relativität, Quantenphysik, Psychoanalyse – aufnimmt, werden schon – ausgelöst durch die Zivilisationskatastrophe des Ersten Weltkrieges – mit Dada und den Surrealisten die Themen der Abdankung von Vernunft und Aufklärung als Telos auch der Künste zu Gegenständen und Themen künstlerischer Praxis. Vor allem Antonin Artaud wird, was das Theater angeht, in den dreißiger Jahren zum Scheidepunkt der Entwicklung: Seine – allerdings begrifflich etwas diffuse – Wendung zum tendenziell introspektiven Forschungstheater, das vom Spiel auch die Mit-teilung – im Sinne von partager, share – von Erfahrung und Erleben der Innenwelten unterhalb des Firnis positiver Moralphilosophien fordert, ist wenigstens theoretisch ein zentraler Ausgangspunkt für das Theater der Postmoderne. Postmoderne in diesem Sinne meint die Abdankung jener systemischen Zukunfts-, Heils- und Glücksversprechen des Selbstverständnisses der bürgerlichen Gesellschaft, die sich damit von den prästabilisierten göttlichen Weltordnungen welcher Provenienz auch immer emanzipiert und die System und Teleologie benötigte, um der Mächtigkeit der theologischen Konzepte etwas ungefähr gleich oder ähnlich Mächtiges entgegenzusetzen. Diese Systeme – ob sie nun von Lessing, Kant, Fichte, Hegel oder Marx herkommen – beruhen bei allem Vernunft- und Wissenschaftspathos in ihren Letztbegründungen auf einem Prinzip des Glaubens; aber es ist eben nicht das ‚Säurebad der Kontingenz’, das Stegemann gern zitiert, sondern vor allem die vernunftgeleitete Reflexion selbst, die – in ihrer elaboriertesten und vermutlich bittersten Weise mit der »Dialektik der Aufklärung« der Frankfurter Schule – die Abdankung dieser Systeme als nicht länger – kaum noch – verhandelbar notifiziert. Inwieweit und in welcher Weise hierbei künstlerische und die philosophische Prozesse aufeinander bezogen sind, wäre philologisch und diskurshermeneutisch zu erforschen, muss hier aber dahingestellt bleiben; doch jedenfalls kann das Schreiben Albert Camus’ und Jean Paul Sartres, John Osbornes’, Tennessee Williams’, Samuel Becketts … für das Theater als Reflexe auf die zunehmende Abdankung der Vernunfthoffnungen und -versprechen, die Zivilisationskatastrophen und die globale Medialisierung der Kommunikationsverhältnisse gelesen werden. Nach zwei Weltkriegen, dem Versuch des industriellen Genozids an der europäischen Judenheit und dem Aufscheinen des wissenschaftlich elaborierten Potenzials zur Vernichtung des Planeten mit Bordmitteln seiner Bewohner und Bewohnerinnen und der Transporttechnologien zur Überwindung der Gravitation ist der Himmel leer und der Mensch offenbar wirklich frei. Doch die Freiheit ist kein Versprechen mehr, sondern erscheint als Verhängnis, das Sartre und Camus ausbuchstabieren.
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Was das Theater nach dem Zweiten Weltkrieg angeht, wird in Deutschland nach einer kurzen Phase mit Versuchen des Neuanfanges unmittelbar nach Kriegsende in der Bundesrepublik die Tendenz zur Restauration der Theaterkunst als Vorstellung der conditio humana durchgesetzt; und während jenseits des ‚eisernen Vorhanges‘ in der SBZ/DDR die Behauptung eines Theaters des »sozialistischen Realismus« bzw. für das »wissenschaftliche Zeitalter«, das die ‚Veränderbarkeit der Welt’ im Schilde führt, erarbeitet wird, zeigen sich in den westlichen Industriezivilisationen die Vorboten der künstlerischen Auseinandersetzungen mit der postmodernen Zivilisation. Dass in die Emigration gezwungene Protagonisten – wie zum Beispiel Brecht und Piscator – mit ihrer forschenden Entwicklung der autonomen Theaterkunst der Moderne prägende Einflüsse ausüben, kann hier nur erwähnt werden: Jedenfalls waren Julian Beck und Judith Malina durch Piscators New Yorker Dramatic Workshop gegangen, bevor sie 1947 dort das Living Theatre gründeten. Auf dessen Arbeit, die in den fünfziger und sechziger Jahren in ganz Europa gezeigt wird, gehen hier einige der wesentlichen Impulse für die Prozesse der zeitgenössischen Erneuerung der Theaterkunst in Produktionsweise, Dramaturgie und Ästhetik zurück. Ähnliches gilt für das Bread & Puppet Theatre und die LaMama Group, die auf der Grundlage zeitgenössischer gesellschaftspolitischer Erkenntnis eigene Formen der Theaterpraxis entwickeln. Neben neuen Formen der Produktionspraxis und Dramaturgie gehen auch einige Autoren neue Wege von Theatertexten jenseits des Dramas: mit größter Radikalität Samuel Beckett, aber auch Eugène Ionesco und die französischen Absurden, Jean Genet und die Briten Harold Pinter, Edward Bond und Arnold Wesker, während in Osteuropa neben dem sozialistischen Realismus vor allem in Polen Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor von Artaud inspirierte Formen der Theaterarbeit entwickeln. In diesem Umfeld tauchen dann in den sechziger und siebziger Jahren Peter Brook, Eugenio Barba, Robert Wilson, Ariane Mnouchkine, Luca Ronconi und andere auf, die neu über Theater für ihre Zeitgenossen nachzudenken und zu probieren beginnen. Sie gründen (oder erobern) Forschungs- und Produktionsorte: in Prato, Wien (Dramatisches Zentrum), Paris (Centre International de Recherches Théâtrales [C.I.R.T.], ‚Bouffes du Nord’, Cartoucherie), Holstebro, Opole/Oppeln, Wrocław/Breslau, wo sie an ihren Visionen von Theater arbeiten und gleichzeitig immer wieder junge Leute ausbilden und formen. Ihre Leitmarke ist: Forschende Theaterkunst für heutiges Publikum, das auf ihre Zeit und den Zeitgeist bezogen ist und dabei mit dem Anspruch um
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Abb. 3: »Accions«, La Fura dels Baus, Kampnagel Hamburg, 1986, Foto: Friedemann Simon geht, die Themen gegenwärtiger Wahrnehmung zu behandeln und ihrem Publikum Erfahrungen zu ermöglichen und zu vermitteln. So wie sich die Popkultur und -kunst den Erfahrungswelten und Wahrnehmungsweisen der ‚Massen‘ zuwendet, beginnt, deren Sprache zu sprechen, und den Gestus der Belehrung und Verbesserung und Kultivierung im Sinne ‚höherer Werte‘ verlässt, stellen sich die Künstlerinnen und Künstler der Postmoderne der Aufgabe, die Traditionen der Bühnenkünste ins jeweilige Heute zu führen, Geschichten der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verarbeiten und die Kunst der Wahrnehmung als zentrale, für die Bewältigung der postindustriellen Kulturen entscheidende Zivilisationstechnik zu entwickeln.
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The aterschrif t 8 – R efle xion und I mpulse zum The ater der P ostmoderne Einen einzigartigen konzentrierten Überblick über die Dimensionen postmoderner Theaterkunst vermittelt die in vier Sprachen – Englisch, Französisch, Deutsch und Niederländisch – gedruckte Zeitschrift Theaterschrift, die von 1992 bis 1998 mit insgesamt 13 Ausgaben erschien.9 Sie wurde herausgegeben von dem europäischen Produktions- und Koproduktionsnetzwerk, das sich in den späten achtziger Jahren um das Hebbel Theater in Berlin, das (neue) Theater am Turm in Frankfurt a. M., das Kaaitheater in Brüssel, Felix Meritis in Amsterdam und die Wiener Festwochen formierte.10 Schon Jahre vor dem Erscheinen von Hans-Thies Lehmanns Opus Magnum Postdramatisches Theater 11, das diese internationalen künstlerischen Entwicklungen auf den Begriff bringt, werden hier mit Texten von und in Gesprächen mit den Akteurinnen und Akteuren selbst die Dimensionen der neuen zeitgenössischen Theaterkunst diskutiert und entwickelt. Die Zeitschrift ist gleichsam ein Protokoll der Suche nach den Formbestimmungen der neuen Theaterformen und darin liegt ihr besonderes Verdienst und ihre Bedeutung als Quelle: In Originalbeiträgen, Interviews und Gesprächen kommt ziemlich genau das Spektrum derjenigen Künstlerinnen und Künstler, Theaterleiter, Dramaturginnen und Theoretiker zu eigenem Wort, deren Beobachtung und 8 | Thomas Tylla vom Berliner Hebbel Theater ist herzlich dafür zu danken, dass er dem Autor unbürokratisch einen Satz der Gesamtausgabe ausgeliehen hat. Auch wenn die Chefredakteurin Marianne Van Kerkhoven in der zweiten Ausgabe vom September 1992 die Postmoderne bereits als vergangene Epoche behandelt – »[i]n der vergangenen Epoche – die man für gewöhnlich mit dem Epitheton ‚postmodern‘ umschreibt« (Van Kerkhoven, Marianne: »Der geschriebene Raum«, in: Theaterschrift 2 (1992), S. 6-36, hier: S. 18) – halten wir für die in der Theaterschrift zusammengetragenen Erkundungen des ‚neuen‘ Theaters am Begriff postmodern fest – schon allein deswegen, weil kulturhistorisch bislang keine neuere Epochenbezeichnung absehbar ist. 9 | Eine Übersicht über die Schwerpunktthemen und die Autoren aller 13 Hefte findet sich unter http://www.archiv.hebbel-am-ufer.de/archiv_hebbel_theater/seiten/ archiv/theaterschrift/haupt.html (14.7.2015). 10 | Später treten noch das ATEM-Atelier Théâtre et Musique, Nanterre, das Bayerische Staatsschauspiel mit dem Marstall (ab Heft 7 [1994]), Kampnagel Hamburg (ab Heft 8 [1994]) und das ICA – Institute für Contemporary Art, London (Heft 10 [1995]) bei. Die »New Edition«, in neuem Format und neuer grafischer Aufmachung (Hefte 11-13 [1997-1998]) wird nunmehr im Künstlerhaus Bethanien in Berlin von Felix Meritis, Kaai Theater, Hebbel Theater, dem Festival Theaterformen, der EXPO 2000, den Wiener Festwochen und dem Künstlerhaus Bethanien herausgegeben. 11 | Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999.
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Analyse auch den Fundus für Lehmanns Werk bilden.12 Auch ein Großteil der Kategorien, in denen Lehmann das postdramatische Theater fasst, werden als thematische Schwerpunkte der Heftreihe behandelt. Es geht um eine »Vertiefung der dramaturgischen Arbeit, die die künstlerische Arbeit begleitet«, darum, »[d]ie Arbeit der Künstler in und um die beteiligten Theater in einen Kontext und eine Zeit [zu] stellen«, beschreibt Marianne Van Kerkhoven die selbstgestellte Aufgabe der Zeitschrift.13 Ein »gemeinsamer Nenner« für alle Künstlerinnen und Künstler, die hier zu Wort kommen oder besprochen werden, sei es, »für die größtmögliche Freiheit [zu] plädieren und die Vereinnahmung durch den ‚laufenden Betrieb‘ ab[zu]lehnen«.14 Allerdings bedinge »die Entscheidung, sich nicht in Institutionen zurückzuziehen«, dass »andere Mittel und Wege gefunden werden müssen, um jene Beständigkeit zu erreichen, die für die Arbeit dieser Künstler notwendig ist und auf die sie ein Recht haben«.15 Ausgangspunkte für die redaktionelle Arbeit sind zwar »Institutionen« – allerdings solche, die »sich alle mehr oder weniger am Rande der Theaterlandschaft ihres jeweiligen Landes [bewegen]; […] Theaterschrift ist für sie daher eines der Instrumente, um zu einer ‚Selbstdefinition‘ zu gelangen.«16 Es geht also um eine reflektierende Begleitung der künstlerischen Arbeit sowohl der Theaterkünstlerinnen und -künstler als auch der Häuser. Die grundlegende dramaturgische und ästhetische Ausgangssituation bestünde für die Künstlerinnen und Künstler darin, dass »der theatrale Basiscode – nämlich die wesentliche Dialektik zwischen Fiktion und Wirklichkeit […] heute, am Ende des 20. Jahrhunderts eine fundamental andere Interpretation zu erfahren [habe] als beispielsweise zu Beginn dieses Jahrhunderts«17. Das »Verhältnis von ‚echt‘ und ‚unecht‘ [werde] zu einem ihrer wichtigen Anliegen«18; die »Geschichte der Welt [könne] nur noch in Brüchen und Sprüngen erzählt werden«, wobei aber »die Sehnsucht nach Einheit spürbar« bliebe.19 Die »Kraft des Traumes scheint die einzige Macht zu sein, über die die Kunst heute noch verfügt«, wobei »beinahe ohne Ausnahme […] die Machtlosigkeit des Theaters
12 | Vgl. den Abschnitt »Namen« in: ebd., S. 24f. 13 | Van Kerkhoven, Marianne: »Jenseits der Gleichgültigkeit«, in: Theaterschrift 1 (1992), S. 8-34, hier S. 10. 14 | Ebd. 15 | Ebd. 16 | Dies: »Über Dramaturgie«, in: Theaterschrift 5-6 (1994), S. 8-34, hier S. 18. 17 | Dies: Jenseits der Gleichgültigkeit, S. 16. 18 | Ebd. 19 | Ebd., S. 30.
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Abb. 4: »Woyzeck«, Pip Simmons, Theater der Welt Hamburg, 1979, Foto: Friedemann Simon zugegeben [wird]. Der Künstler sieht sich selbst nicht mehr als Weltverbesserer.«20 Als weitere Leitmotive der neuen Theaterformen werden deren von vornherein europäische – also nicht zuvörderst nationalstaatliche21 – Dimensionen erörtert, das stete Beieinander von künstlerischer Praxis und theoretischer Reflexion, die somit »Theorie der Praxis«22 sei, und das Ziel, mittels der Kunst Erfahrungen zu vermitteln: »Sie [die Erfahrung, Anm. H.F.] wird als [einziger] Weg betrachtet, um sich Wissen über Wirklichkeit anzueignen. Erfahren bedeutet ‚am eigenen Leibe erleben‘, bedeutet ‚betroffen sein‘; […] Die Wahrnehmung ist das grundlegende Werkzeug für dieses Erfahren und die Künstler scheinen sich durchaus der Tatsache bewusst zu sein, dass Wahrnehmung heutzutage mehr oder weniger tiefgreifend beeinflusst oder gar manipuliert wird […], mehr noch, sie versuchen in ihrer Arbeit mit diesen Gegebenheiten umzugehen.«23
Es geht also um die Näherung an neue Bestimmungen des Verhältnisses des Theaters, der Theaterkunst zur Welt und ihren Verhältnissen und Geschehnis20 | Ebd. 21 | Vgl. ebd., S. 20. 22 | Ebd., S. 18. 23 | Ebd., S. 28.
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sen. Hierzu werden in der Zeitschrift durchaus unterschiedliche Vorschläge gemacht: Es frage sich, »ob Theater heute, im Kontext weitgehender Mediatisierung, Entwirklichung und Fiktionalisierung der Wirklichkeit (siehe etwa die Rolle der Medien im Golfkrieg) noch als rein ‚fiktionales‘ Medium bestimmt werden kann. Bereits seit geraumer Zeit spürt man bei fortschrittlichen Künstlern im Theater das Bedürfnis, ‚mehr Wirklichkeit‘, ‚mehr Materialität‘ auf die Bühne zu bringen. Gerät das alte Paradigma des Theaters, nämlich innerhalb eines definierten Zeit- und Raumgefüges ‚zu tun als ob‘, und die Akzeptanz dieses Paradigmas beim Publikum hierdurch ins Wanken?«, fragt Marianne Van Kerkhoven vermutlich rhetorisch.24 Nahezu entgegengesetzt konstatiert Anatolij Vassiliev: »In den letzten Jahren ist der Prozess aber so, dass ich aufgehört habe, das Leben außerhalb des Theaters zu studieren. Ich habe mich nur noch mit dem Studium des Lebens im Theater befasst, mit dem Leben in der Kunst. […] Nicht das Leben selbst, sondern der Zustand der Gedanken in diesem Leben (hat mich noch interessiert). […] In dieser Situation habe ich natürlich das Theater geschlossen und je mehr man die Türe zumacht, desto mehr erinnert das Theater an ein Kloster.«
– Anders könne man eine gesellschaftliche Idee nicht erforschen.25 Im Sinne des Erfahrungsbegriffes als Zentrum der Wahrnehmungs- und Wirkmöglichkeiten des Theaters konstatiert Ritsaert ten Cate, dass »zu meinem Erstaunen […] die Veränderungen innerhalb unseres gesellschaftlichen Umfeldes mein Leben und Werk bisher nicht sehr beeinflusst«26 haben. Die »eigentliche Erfahrung […] geht wohl eher von solchen Entwicklungen wie der des CNN aus: Die physische Wahrnehmung, dass die Neuigkeiten der Welt näher rücken, wie oberflächlich auch immer.«27 Auch für Laurie Anderson ist die seinerzeit noch relativ neue Form des Aktualitätsfernsehens nahezu in Echtzeit, das jederzeit die ganze Welt als LiveEreignis verfügbar macht – aber eben doch redaktionell gestaltet ist und damit prinzipiell Manipulation –, ein zentraler Ansatzpunkt für ihre künstlerische Arbeit: »Wir sehen die ganze Welt gefiltert durch CNN«, und sie versucht, »die Dinge sehr genau zu beobachten. Das ist mein Job.«28 Und der Performer Tom 24 | Ebd., S. 10. 25 | Vassiliev, Anatolij: »Theater als klösterliche Gemeinschaft, Gespräch mit Michael Haerdter«, in: Theaterschrift 1 (1992), S. 46-78, hier S. 64. 26 | Cate, Ritsaert ten: »So dass es in sich in Bewegung bleibt. Gespräch mit Marianne Van Kerkhoven«, in: Theaterschrift 1 (1992), S. 88-112, hier S. 88. 27 | Ebd., S. 90. 28 | Anderson, Laurie: »Die Geschwindigkeit der Veränderung. Gespräch mit Tom Stromberg«, in: Theaterschrift 1 (1992), S. 118-132, hier S. 126 (Herv. i. O.).
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Janssen formuliert: »Das Fernsehen hat unsere Lebensweise auf Dauer verändert, wie die Fotografie das auch gemacht hat.«29 Die offene Form, die Beobachtung der neuen Formen der Theaterkunst zu präzisieren und dazu im Gespräch mit den Künstlerinnen und Künstlern Arbeitshypothesen zu gewinnen, erste Beobachtungen oder theoretische Fassungen zu verdichten oder zu vertiefen, prägt die redaktionelle Arbeit der Zeitschrift und wird auch weitgehend konsequent durchgehalten; und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass kurz vor dem Erscheinen von Lehmanns gleichsam kanonischer Begriffsbildung des »Postdramatischen Theaters« 1999, die die »interne Diskussion« gleichsam obsolet erscheinen lässt, im September 1998 die letzte Ausgabe der Theaterschrift erscheint.30
S zenogr afie – The W rit ten S pace In dieser offenen Form werden in den insgesamt 13 Heften jeweils ästhetische und dramaturgische Themenkomplexe des neuen, postmodernen europäischen Theaters behandelt. Heft 2 mit dem Titel The Written Space diskutiert Neubestimmungen des Verhältnisses der Theaterkunst zum Raum, und zwar sowohl zum Arbeitsund Aufführungsort des Theaters als auch zur Bühne im engeren Sinne, als dem ‚Geschehensort’ der einzelnen Arbeiten. Auch hier ist bemerkenswert, dass neben der radikalen Infragestellung der zentralperspektivischen Renaissancebühne31 durch Achim Freyer32, Robert Wilson33 und die Bak-Truppen34
29 | Janssen, Tom: »Wir sehen es mit trockenen Augen und kochen unsere Suppe. Gespräch mit Elske van de Holst und Marianne Van Kerkhoven«, in: Theaterschrift 1 (1992), S. 136-156, hier S. 144. 30 | Das Thema war »Utopie: Spiritualität«. 31 | »Unsere traditionellen Theater sind die Erben des Renaissancetheaters, eines Raums, in dem alle perspektivischen Linien an dem einen zentralen Mittelpunkt zusammenkamen, dem Ort, von dem aus der Fürst das […] Geschehen betrachtete. Heute sitzt dort niemand mehr. ‚Der Kern der Welt ist leer.‘ (Italo Calvino)«, Van Kerkhoven, M.: »Der geschriebene Raum«, S. 26ff. 32 | Freyer, Achim: »Hintern den Spiegel der Erscheinungen blicken. Gespräch mit Bettina Masuch«, in: Theaterschrift 2 (1992), S. 114-130. 33 | Wilson, Robert: »Die Architektur des theatralischen Raumes. Gedanken von Robert Wilson. Gespräch mit Bettina Masuch und Tom Stromberg«, in: Theaterschrift 2 (1992), S. 102-106. 34 | Bak-Truppen: »Gedanken«, in: Theaterschrift 2 (1992), S. 108-112.
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auch ein »Plädoyer für die Guckkastenbühne« von Urs Troller35 abgedruckt wird. Dabei ist Trollers Plädoyer alles andere als konservatives (oder aus der Perspektive der postmodernen Künstlerinnen und Künstler vielleicht sogar reaktionäres) Beharren auf dem Hergebrachten: »Ich denke«, sagt er, »dass die Frage, was kann Theater innerhalb der – oder im Ensemble der anderen – Medien noch leisten? Wo ist das, was es gegenüber anderen Ausdrucksfeldern unverwechselbar macht? am Guckkasten untersucht werden kann: der Kasten ist antinaturalistisch und antirealistisch.«36 Auch wenn das »berühmte Diktum von Artaud, dass Theater etwas ganz anderes sei als die niedergeschriebene Sprache, die es dann auf dem Theater umzusetzen gelte«, richtig wäre, sei doch der »rituelle Raum, von dem Artaud träumte, nicht mehr restituierbar«; und das »liegt nicht an unserer Form des Theaters, sondern an den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen wir Theater zu machen haben«37, formuliert Troller gegen die postmodernen Bestrebungen zur Überwindung einer »Hierarchisierung der Mittel« des Theaters und zur Ablösung der Sprache an der »Spitze der Pyramide«.38 Doch insgesamt und überwiegend weisen die Beiträge in die Richtung der Entwicklung von ‚Szenografie’ anstelle von Bühnenbild: »Wenn das räumliche Bild im Theater nicht mehr dazu dienen muss, dem Zuschauer eine getreue und erkennbare Kopie der Wirklichkeit zu vermitteln, kann es sich mit inneren Bedeutungen, externen Verweisen, abstrakten Konnotationen füllen. Dass Kunst eine ‚Illusion der Wirklichkeit‘ erzeugen müsse, ist ein Anliegen, das den hier anwesenden Künstlern vollkommen fremd bleibt. Der so geschriebene oder beschriebene Raum kann ‚gelesen‘ werden, nicht als ein Verweis auf die Welt, sondern als eine autonome Entität.« 39
W elthaltigkeit und ästhe tische F orschung Dabei wird mit den ersten beiden Heften der Theaterschrift deutlich, dass auf der Seite der künstlerischen Impulse zur zeitgenössischen Erneuerung des Theaters ebenfalls zwei Strömungen zu verzeichnen sind: Zum einen die Ansätze, mit denen Künstler auf gesellschaftliche, politische oder kulturelle Entwicklungen reagieren und sich damit auseinandersetzen – die Herstellung von
35 | Troller, Urs: »Plädoyer für die Guckkastenbühne. Gespräch mit Gerhard Ahrens«, in: Theaterschrift 2 (1992), S. 88-100. 36 | Ebd., S. 92. 37 | Ebd., S. 96ff. 38 | Ebd., S. 96. 39 | Van Kerkhoven, M.: »Der geschriebene Raum«, S. 18.
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»welthaltigem« Theater –, und zum anderen die Ansätze der gleichsam ‚kunstimmanenten’ ästhetischen Forschung. Die Texte im dritten Heft der Zeitschrift unter dem Titel Border Violations bewegen sich auf den Schnittstellen zwischen beiden Tendenzen: Es geht um die Identifizierung des Momentums, das die künstlerischen Entwicklungen treibt: »Wie umschreibst Du die innere Notwendigkeit, die Dich dazu bringt, etwas zu erschaffen? Was treibt Dich dazu, auf einer Bühne zu stehen? Welche Risiken (künstlerische und andere) nimmst Du dabei? Inwieweit musst Du Dir und Deinem Publikum ‚Gewalt‘ antun?«40, sind die Fragen, die »im Mittelpunkt der Interviews/Texte/Statements« von oder über Arbeiten von Peter Greenaway, Reza Abdoh, René Pollesch, Romeo Castellucci, Hans-Thies Lehmann, Jan Fabre, Marina Abramovic, Truus Bronkhorst, Lloyd Newson, Josse de Pauw, Tom Jansen, Einar Schleef und Ivan Stanev stehen. Dabei reagieren Künstler zum einen auf Grenzüberschreitungen der Populärkultur, in der mit spektakulären Filmen wie The Chainsaw Massacre oder Terminator bisherige Tabus der Gewaltdarstellung verletzt werden. Dazu meint Peter Greenaway, »dass alle guten Kunstwerke notwendigerweise Bereiche der Sensibilität und des Tabus in sich tragen müssen, welche die Grenzen der menschlichen Erfahrung aufs Äußerste strapazieren«41. Greenaway und die anderen Autorinnen und Autoren des Heftes bestehen aber auch darauf, dass es bei Grenz- und Tabuverletzungen ihrer Arbeiten nicht um die Provokation des Publikums und seiner Geschmacksgrenzen (oder seines Voyeurismus) geht, sondern um kompromisslos radikale Blicke in das Innere der Verhältnisse von Körperpolitik. Greenaway referiert sowohl auf Fälle von vermeintlichem oder realem Missbrauch von Kindern als auch auf die Anzeigenkampagne der Textilfirma Benetton, in der »dieses nackte, frischgeborene Kind« ins Bild gebracht wurde, »was in England einen derartigen Aufruhr verursachte, dass alle diese Plakate entfernt werden mussten«.42 Auch Reza Abdoh bezieht sich für seine Arbeiten auf die Aktualitäten des ersten Golfkrieges und die Berichterstattung von CNN sowie auf die Mordtaten des Sexualmörders Jeffrey Dahmers in den USA43 und bestätigt auf Nachfrage, dass er mit seinen Referenzen auf die gesellschaftlichen Gewaltphänomene ein Konzept von Katharsis verfolgt: Er glaube dabei nicht so sehr an eine Läuterung als »Kraft des inszenierten Schreckens«, sondern benutzt den Be40 | Dies.: »In der Nähe eines Geheimnisses«, in: Theaterschrift 3 (1993), S. 6-20, hier S. 8. 41 | Greenaway, Peter: »Die Zuschaustellung von Menschen. Gespräch mit Brigitte Fürle«, in: Theaterschrift 3 (1993), S. 24-42, hier S. 28. 42 | Ebd., S. 40. 43 | Abdoh, Reza: »Gewalt – Tod – Theater. Ein Gespräch mit Hortensia Völckers und Martin Bergelt«, in: Theaterschrift 3 (1993), S. 48-64.
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Abb. 5: »M7 Catalonia«, Els Joglars, Kampnagel Hamburg, 1979, Foto: Friedemann Simon griff »eher im Sinne einer Feier der Gefühle. Ich möchte das Publikum nicht durchs Fegefeuer schicken, sondern eine feierliche Stimmung der Gefühle erreichen.«44 Krieg, Gewalt, Sexualität und Pornografie sind in den neunziger Jahren sowohl aktuelle Themen der Öffentlichkeit, auf die Künstler und Künstlerinnen reagieren, als auch Momente der conditio humana, denen sich die künstlerische Forschungspraxis zuwendet: zumal im Fall von Jan Fabre und Marina Abramovic45, die in ihren Arbeiten reale Verletzung und Schmerz an den eigenen und den Körpern der Bühnenakteurinnen und -akteure als künstlerische Aktionen zeigen und damit auch auf die Irrealität der Menschenbilder und -darstellungen in den darstellenden Künsten verweisen, die sich an Geschmackskonventionen und Tabus anpassen:
44 | Ebd., S. 48. 45 | Abramovic, Marina: »Den Moment festhalten. Gespräch mit Ilse Kujkens«, in: Theaterschrift 3 (1993), S. 104-120.
Theater für Postmoderne in den Theaterlandschaf ten Westeuropas »Schmerz, Gewalt, Tod und die davon ausgelösten Gefühle, Furcht und Mitleid, standen seit der Antike im Zentrum des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Heute übersetzen wir ‚eleos‘ und ‚phobos‘ eher als ‚Jammer‘ und ‚Schaudern‘. Sie sollen beim Zuschauer der attischen Tragödie, Aristoteles zufolge, ‚Katharsis‘ bewirken, eine Reinigung von eben diesen Zuständen des Jammers und Schauders. Ob man das nun als Befreiung von solchen Gefühlen, als ihre Mäßigung, als ihre Verfeinerung oder als Abreagieren versteht, in jedem Fall impliziert diese Prozedur der Reinigung eine Art psychologische Attacke auf den Zuschauer. Theater ist nicht Gegenstand kontemplativer Betrachtung, sondern nimmt den Zuschauer mit. Und zwar auf eine Reise, die ihn verändern könnte. Das Reich des Scheins ist nicht abgesondert von der Lebenswelt, sondern ihr Bestandteil«, erklärt und verteidigt Lehmann diese künstlerische Praxis.46
Riskante Grenzerfahrungen und der Einsatz der eigenen Person in der künstlerischen Praxis spiegeln dabei ebenso sehr die Radikalität von künstlerischen Forschungsinteressen wie auch die Situation, dass nach 1989 in Westeuropa nach einer längeren Periode der relativen Friedlichkeit des Kalten Krieges Gewalt und Terrorismus wieder als gesellschaftliche Erfahrungen näherrücken. Dabei zeigen die Äußerungen der Künstlerinnen und Künstler zweierlei: Zum einen geben sie Auskünfte über die Ideen, Gedanken und Reflexionen, die ihre künstlerische Arbeit initiieren, begleiten und mit denen sie abgeschlossenen Arbeiten nach-denken; inhaltlich machen sie eine besondere Qualität dieser künstlerischen Arbeiten deutlich: Sie befassen sich mit Themen und Phänomenen der unmittelbaren kulturellen, politischen oder gesellschaftlichen Gegenwart – und zwar auch des Publikums. »Tua res agitur« – von Deinen Dingen wird hier gehandelt! – könnte als Motto über diesen Arbeiten stehen. Der stete Flow von Echtzeitnachrichten, die Enttabuisierung des Zeigens, ja Ausstellens von Gewalt, Tod, Sexualität, die Wiederkehr des Krieges in Europa, der Umgang mit Unterhaltung und Entertainment – jenseits der Verkörperung des Dramas bzw. der dramatischen Literatur gehen die Theatermacherinnen und -macher mit ihren Arbeiten direkt in die Auseinandersetzung mit den politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und Kommunikationsverhältnissen, deren Erfahrung sie mit ihrem Publikum teilen. Ihre Arbeit gilt damit der Analyse und der Orientierung in diesen Verhältnissen: Wahrnehmungskunst, Erfahrungskunst, Orientierungskunst. Das gilt zumal für die Hefte Nummer 4 (1993) mit dem Titel The Inner Side of Silence und Nummer 9 (1995), das das Thema Theater und Musik behandelt, die in gewisser Weise reziprok die Allgegenwart von Geräusch und Musik und die Technologien der Tonerzeugung und -übertragung reflektieren und den künstlerischen Umgang damit beschreiben: 46 | Lehmann, Hans-Thies: »Wenn Wut zur Form gerinnt … Über Jan Fabres ‚Ästhetik der Vergiftung‘«, in: Theaterschrift 3 (1993), S. 90-102, hier S. 92.
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Henning Fülle »Wozu aber dient im Grunde genommen Theater (oder Tanz)? Vielleicht um uns über eine Arbeit an den äußersten Grenzen in der Gesellschaft (im Politischen) einen Platz zuordnen zu können, indem wir den Wortlaut der Herausforderung, die uns durch die Massenkommunikation aufgezwungen wird, ablehnen und – im Gegenteil – nach den Prämissen eines neuen Vertrags (zwischen dem kulturellen Akt und der Gesellschaft) suchen.« 47
»Aber auch Sarajevo« – das heißt nach den Balkankriegen in den neunziger Jahren – ist ein Reflexionspunkt für den Umgang mit Stille: »Natürlich gibt es Stille und Stille. Die komplizenhafte Stille der Politiker. Die beschämende Stille der Intellektuellen. Die resignierte Stille der öffentlichen Meinung. Aus Sarajevo sprechen die Medien zu uns, beim Nachtisch, um uns nichts anderes als sozusagen eine Konstatierung der Machtlosigkeit mitzuteilen, verbunden mit der perversen Einimpfung eines Schuldgefühls, eben gerade, weil man nichts tut. Sarajevo ist belagert, wie auch wir von Tönen belagert sind, von Informationen, denen wir lediglich unsere feige Passivität entgegensetzen.« 48
D ie D r amaturgie des neuen The aters Eine zentrale Gelenkstelle der Bemühungen, die neuen Formen der Theaterkunst genauer zu fassen und zu beschreiben, bildet das vom 25. bis 29.8.1993 am Felix Meritis in Amsterdam organisierte Symposium Context 01: Active Pooling New Theatre’s Word-Perfect, aus dessen Kontext eine Reihe von Beiträgen im Doppelheft 5-6 der Theaterschrift dokumentiert sind.49 Marianne Van Kerkhoven fasst in ihrer Einleitung die wesentlichen Merkmale und Tendenzen der Dramaturgie des »neuen Theaters« zusammen: • Es handele sich um eine »prozessorientierte Arbeitsweise; die Bedeutung, die Intentionen, die Form und der Inhalt einer Vorstellung entstehen während des Abeitsprozesses, an dem die Schauspieler durch das Material, das sie während der Proben einbringen, nicht selten großen Anteil haben.«50 • »Dramaturgie ist […] nicht mehr Mittel, um in einer Aufführung die Bedeutungsstruktur zum Ausdruck zu bringen, sondern (das Suchen nach) einer vorläufigen/möglichen Ordnung, der der Künstler jene Elemente unterwirft, die er aus einer für ihn chaotischen Welt zusammenträgt. In einem solchen 47 | Adolphe, Jean Marc: »Fragmente, der Stille entrissen, um nicht ganz zu schweigen«, in: Theaterschrift 4 (1993), S. 184-202, hier S. 194. 48 | Ebd., S. 196. 49 | Vgl. Van Kerkhoven, M.: »Über Dramaturgie«. 50 | Ebd., S. 20.
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Weltbild verlieren Kausalität und Linearität ihren Wert, werden Erzählstruktur und psychologisch erklärbare Figuren in Frage gestellt, gibt es zwischen den verwendeten künstlerischen Bausteinen keine Hierarchie mehr«51. »Das ‚einzelne‘ Individuum hat keinerlei strukturelle Mittel mehr zur Verfügung, um die Komplexität der Wirklichkeit zu bewältigen.«52 Das führt zu den Versuchen mit Simultaneität von Handlungen, kreisförmiger Erzählstruktur, Multiperspektivik und auch zu dem Bedürfnis nach »einer anderen organisatorischen Struktur, um Repertoiretheater spielen zu können […]: Nicht bloß der Blick eines einzigen Regisseurs oder Dramaturgen auf das historische Erbe des Theaters, sondern eine Vielzahl von Blicken, ein Repertoire, an dem jeder Schauspieler seinen Anteil hat«53, »die Mitarbeiter selbst und ihre Erfahrungen [werden] zu ‚Bausteinen‘ einer Produktion: Die persönliche Biographie der Schauspieler gewinnt innerhalb dieser neuen Dramaturgie beachtlich an Bedeutung.«54 »[D]er individuelle Autor einer Vorstellung [hat] die Tendenz zu verschwinden; er wird durch ein Kollektiv ersetzt; andererseits aber besitzt dieses Kollektiv einen anderen Charakter als jenes, das wir aus den siebziger Jahren kennen: Damals neigten Gruppen dazu, sich hinter eine einzige (politische) Auffassung zu stellen; heute bestehen diese Kollektive […] eher aus einer Summe von Individuen, von der man sich gerade eine ‚Mehrstimmigkeit‘ verspricht.«55 »Die ‚neue Dramaturgie‘ ist […] auf der Suche nach einem anderen Verhältnis zu ihrem Publikum; dieses Theater möchte sein Publikum an der mehrfachen Blickrichtung teilhaben lassen oder zumindest seine ‚normalen‘ Sehgewohnheiten verfremden. […] Die Dramaturgie des Raumes und seiner Gliederung wird damit unweigerlich auch zu einer Dramaturgie des Publikums und des Kontextes, in dem sich eine Vorstellung abspielt. Wenn die Wirklichkeit zu einem unentwirrbaren Knäuel geworden ist, oder zu einem Turm von Babel, in dem alle Sprachen durcheinander gesprochen werden, ist Übersicht und ein Standpunkt des Zuschauers, von dem aus diese Übersicht möglich wäre, nicht mehr zu realisieren«56.
Dieses Substrat der Dramaturgie des »neuen Theaters«, für dessen Beschreibung Hans-Thies Lehmann auf dem schon zitierten Kongress in Amsterdam 51 | Ebd. 52 | Ebd. 53 | Ebd., S. 22. 54 | Ebd. 55 | Ebd., S. 22ff. 56 | Ebd., S. 24.
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die Erarbeitung einer Art Thesaurus, eines enzyklopädischen ‚Wortschatzes’ von Stichworten/Denkbildern/Bestandteilen vorgeschlagen hatte57, wird in diesem Heft der Theaterschrift in Beiträgen von Erwin Jans, Josette Féral, Jan Kott, Eda Cufer und Emil Hvratin, Mira Rafalowicz, Marianne Van Kerhoven, Norman Frisch, Elisabeth LeCompte, Robert Lepage, den Bak-Truppen, David Mayaan, Jan Joris Lamers und Alexander Kluge entwickelt.
S chauspiel – P erformance Nachdem also die Bausteine Bühne (Raum) und Ton (Geräusch, Musik) sowie die Dramaturgie des »neuen Theaters« behandelt worden sind, liegt es geradezu nahe, die Aufmerksamkeit dem traditionellen Zentrum der Performanz, dem Spiel zuzuwenden, was im 7. Heft der Theaterschrift 58 unter dem Titel Der Schauspieler geschieht. Dabei wird auf die Tradition der Konzeption des Schauspielens Bezug genommen: »Als wir 1991 die allererste, noch ausschließlich niederländische Theaterschrift ‚Über Schauspielen‘ herausgaben, haben wir versucht, darin eine neue Variante des Schauspielens zu definieren, die sich seit dem Beginn der 80er Jahre in Flandern und den Niederlanden entwickelt hat. Faktisch beschrieben wir diese Form als eine Art ‚dritte‘ Variante: neben dem ‚Stanislawski-Schauspieler‘, dessen Arbeit auf Einfühlung in die Figur basiert, und dem ‚Brecht-Schauspieler‘, der seine Figur dem Publikum zeigt, will der ‚Dritte-Variante-Schauspieler‘ vor allem sich selbst zeigen, mehr oder weniger durch eine Figur hindurch.« 59
Diese »dritte Variante«, die zunächst hauptsächlich mit flämisch-niederländischen und amerikanischen Beispielen – und hier vor allem der Arbeit der
57 | Vgl. ebd., S. 12ff. 58 | Das Heft vom Juni 1994 ist dem Performer der New Yorker Wooster Group, Ron Wawter, gewidmet, der am 16. April 1994 »hoch in der Luft, während er von Europa nach Amerika gebracht wurde […] an den Folgen von Aids« gestorben war. Auch dieses neue Syndrom, das 1981 als eigenständige Infektionskrankheit definiert wurde, ist ein wesentlicher gesellschaftlich-kultureller Referenzpunkt für die Künstlerinnen und Künstler des »neuen Theaters«, nicht zuletzt für Reza Abdoh und seine Truppe dar a luz. Abdoh starb am 12. Mai 1995 in New York an den Folgen von AIDS. Vgl. Wikipedia, Reza Abdoh, https://en.wikipedia.org/wiki/Reza_Abdoh vom 14.7.2015. 59 | Van Kerkhoven, Marianne: »Der Schauspieler«, in: Theaterschrift 7 (1994), S. 8-30, hier S. 10 (Herv. i. O.).
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Wooster Group – entwickelt worden sei60, wird in diesem Heft in Gesprächen mit vier amerikanischen, vier deutschen, drei flämischen, einem niederländischen, einem englischen und einem französischen Spieler61 weiter untersucht. Mit Reflexionshintergründen von Hans-Thies Lehmann und der Regisseure Christoph Marthaler, Jan Lauwers und Gerardjan Rijnders entsteht das differenzierte Bild einer oder eines »höchstwahrscheinlich u.a. von der ‚Performance‘ beeinflusst[en]«62 Schauspielerin oder Schauspielers, die oder der »nicht mehr in die Haut der Figur« schlüpft, sondern die »imaginäre Figur in sich leben« lässt: die »Figur ‚verschwindet‘ also fast; ‚echt sein auf einer Bühne‘ bedeutet an erster Stelle, man selbst sein, was mit sich bringt, dass die Persönlichkeit des Schauspielers wichtiger ist als seine technischen Qualitäten: nicht selten werden dann auch ‚Amateure‘ mein einer interessanten szenischen Präsenz in den Arbeitsprozess integriert.«63 Dies – und hier findet sich wieder ein Ausblick auf die veränderte Produktionsweise des »neuen Theaters« – »verändert […] natürlich auch die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler; der Schauspieler ist einerseits ‚das wichtigste Material‘, anhand dessen ein Regisseur seine Geschichte erzählt, andererseits erlangt der Spieler als bestimmendes Element der Vorstellung eine größere Autonomie: er ist kein Interpret mehr, sondern ein MitSchöpfer des Geschehens. – Das hat auch seine Rückwirkungen auf die Art und Weise, auf die Ensembles von Schauspielern zustande kommen, auf die Art und Weise, auf die Schauspieler auf der Bühne miteinander umgehen, und auf die Art und Weise, auf die das Publikum diese Art zu spielen anschaut.« 64
Und fast nebenbei wird bemerkt, dass »Ron Vawter, [der] seine Rollen in den bis ins kleinste Detail festgelegten Vorstellungen von Elisabeth LeCompte ausbaute […] glücklich [war], nach 9 Jahren die endgültige Version von Frank Dell’s ‚The Temptation of Saint Anthony‘ erreicht zu haben – während sein eher traditionell eingestellter Kollege Ulrich Wildgruber »sich nach drei Jahren frustriert und kaputtgespielt fühlt, wenn er noch mit derselben Vorstellung umherziehen muss«.65 60 | Vgl. ebd., S. 14. 61 | Ebd., S. 26; es handelt sich um Ulrich Wildgruber, Hermann Beyer, Margarita Broich, Martin Wuttke, Ron Vawter, Frank Vercruissen, Juliana Francis, Tom Fitzpatrick, Tom Pearl, André Wilms, Viviane de Muynck, Frieda Pittors sowie die Tänzerin und Choreografin Wendy Houstoun und den Musiker Paul Koek. 62 | Ebd., S. 12. 63 | Ebd. 64 | Ebd., S. 12ff. 65 | Ebd., S. 28.
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Das Heft 9 zum Thema Theater und Musik vom Juli 1995 bildet de facto den Abschluss der Reihe der Arbeitshefte, die die Formen des »neuen Theaters« explorieren. Es behandelt freilich nicht so sehr die ‚Theatermusik‘, sondern vor allem die neueren Interpretationen des Genres »Musiktheater« und ihr Verhältnis zur Oper sowie ihre Traditionen.66 Mit den Heften 8 – Das Gedächtnis 67 – und 10 Stadt/Kunst/Kulturelle Identität 68 werden klassisch dramaturgische Themen für das Theater bzw. die Theaterkünstlerinnen und -künstler aufgeworfen. Und ab dem elften Heft, das im Februar 1997 erscheint, ändern sich nicht nur das Format und das äußere Erscheinungsbild der Zeitschrift, sondern auch das Redaktionsbüro wechselt von Brüssel nach Berlin (in das Künstlerhaus Bethanien, das auch in den Kreis der Herausgeber eintritt) und anstelle von Marianne Van Kerkhoven übernimmt Sabine Pochhammer die Redaktion. Auch wenn die einzigartige parallele Viersprachigkeit erhalten bleibt, Hugo De Greef, Direktor des Kaaitheaters, und Tom Stromberg, der inzwischen in die Position des Leiters des Kulturprogramms der EXPO 2000 in Hannover gewechselt war, die Kontinuität behaupten und die »Qualität« der früheren Hefte auch für die New edition69»garantieren«70, ist ein Richtungswechsel deutlich auszumachen: Der Gestus der Selbsterforschung und Diskussion des »neuen Theaters« verblasst zunehmend zugunsten einer wissenschaftlichen und feuilletonistischen Behandlung dramaturgischer Themen: Die Rückkehr der Klassiker? (mit Schwerpunkt auf Shakespeare) – Heft 11 (1997) –, Zeit – Heft 12 (1997) – und Utopie:Spiritualität? – Heft 13 (1998) –, das auch erst im September erscheint. Es soll hier nicht weiter über das Ende der Zeitschrift spekuliert werden – wobei es sicher interessant wäre, die internen Diskussionen dazu nachzuvollziehen – aber so viel ist deutlich: Die Phase der ‚Selbstfindung‘ der neuen Kunstformen, zumindest was ihre ‚Durchsetzung‘ und ihre institutionelle Stabilisierung in Europa angeht, ist weitgehend abgeschlossen – und das Erscheinen des kanonischen Werkes hierzu: Hans-Thies Lehmanns Postdramatisches Theater, steht unmittelbar bevor.
66 | Vgl. den Beitrag von Matthias Rebstock in diesem Band. 67 | Es erschien im Dezember 1994. 68 | Es erschien im Dezember 1995, 69 | So heißt es ab Heft 12 (1997). 70 | De Greef, Hugo/Stromberg, Tom: »Editorial«, in: Theaterschrift 11 (1997), S. 8.
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The aterl andschaf ten und neues The ater in E uropa – struk turelle und kulturpolitische V erhältnisse und I mpulse Der Rückblick auf die Synopse der theoretischen Selbstfindung des neuen, postmodernen Theaters in Europa zeigt seine Herkunft aus den Auseinandersetzungen mit den traditionellen Formen des dramatisch-literarischen Theaters und dem Anspruch, über sie hinauszugehen und das Theater direkt als Medium der künstlerischen Beschäftigung mit den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Zeit zu nutzen: Gesellschaftliche, politische und kulturelle Relevanz, Augenhöhe mit dem Publikum und im Hinblick auf die Formierung der medialen Kommunikation sind die wichtigsten Perspektiven der Entwicklungen, die von Künstlerinnen und Künstlern vorangetrieben werden. In der Mitte der neunziger Jahre sind diese neuen Theaterformen, deren Bezeichnung als postdramatisches Theater sich sehr rasch – auch schon vor dem Erscheinen von Lehmanns Arbeit – durchsetzt, weitgehend konsolidiert. Bei jährlichen internationalen Nachwuchsfestivals wie Junge Hunde auf Kampnagel in Hamburg (1993-2001), reich und berühmt im Podewil in Berlin (1996-2001) und Hope and Glory im Theaterhaus Gessnerallee in Zürich (1997-2004) zeigt sich bereits die nächste Generation postmoderner Theaterkünstlerinnen und -künstler, mit dem belgischen Kunstenfestivaldesarts, beim niederländischen Holland-Festival, dem »Fringe«-Festival in Edinburgh, dem Zürcher Theaterspektakel aber auch bei den Wiener Festwochen, dem Pariser Festival d’Automne und in den Programmen der einschlägigen Festivals und Produktionshäuser von Bergen in Norwegen bis nach Zagreb und Polverigi werden die neuen Theaterformen regelmäßig gezeigt und entstehen im Rahmen mehr oder weniger stabiler nationaler und internationaler Kooperationen und Koproduktionen. Das 1981 gegründete Informal European Theatre Meeting (IETM) genießt seit 1989 den Status einer internationalen Non-Profit-Organisation, die auch kulturpolitisch die Interessen der Träger den neuen Theaters vertritt.71 Doch die Ausbildung dieser Formen, die vor allem künstlerischen Impulsen entspringt, findet in den europäischen Theaterlandschaften sehr unterschiedliche Bedingungen vor, die deren Gestaltungen in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Dabei ist zu bemerken, dass die bislang beschriebenen Entwicklungen das Feld der neuen Formen in den Theaterlandschaften keineswegs vollständig und umfassend beschreiben. Die in der Theaterschrift behandelten und von Hans-Thies Lehmann herangezogenen Künstlerinnen 71 | Vgl. Informal European Theatre Meeting (IETM), https://www.ietm.org/sites/default/files/ ietmbrochure_pages.pdf vom 14.7.2015.
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und Künstler sind so etwas wie eine ‚Avantgarde‘: Leitfiguren für neue Produktionsweisen, Dramaturgien und Ästhetiken von Theater, das vor allem Ansprüche auf Zeitgenossenschaft, Relevanz, Authentizität und Publikumsnähe verfolgt und sich darin von den Institutionen der Hochkultur und ihren Produktionen unterscheidet, die den klassischen Kanon der Dramatik repräsentativ ausstellen. Neben den Künstlerinnen, Künstlern und Truppen, die in der Theaterschrift ihr Forum finden, betreten aber in ganz Europa in den sechziger und siebziger Jahren eine Vielzahl junger Gruppen und Truppen die Bühnen und die Theaterlandschaften, die diesen Avantgarden nacheifern oder aber von sich selbst aus beginnen, mit künstlerischen, kulturellen und politischen Motiven neue Theaterarbeit für neues Publikum in anderen Produktionsweisen zu kreieren. Die Bedingungen für die Herausbildung von neuen Formen der Theaterkunst, in denen Leitmotive sich kristallisieren, sind dabei in den nationalstaatlichen Theaterlandschaften sehr unterschiedlich – wie Manfred Brauneck gezeigt hat. Dabei sind seine Darstellungen dadurch geprägt – und werden deshalb auch etwas unübersichtlich und bleiben als nationalstaatlich gefasste ‚Theaterlandschaftsbilder‘ einigermaßen unvergleichbar –, dass die Elemente: Strukturen der Produktion und Präsentation von Theater (in Verbindung mit ihrer Gestaltung und Finanzierung durch die öffentliche Hand auf staatlicher und kommunaler Ebene) – theaterliterarische und theaterkünstlerische Produktion – je nach ihren unterschiedlichen Gewichtungen in den jeweiligen Landschaften behandelt werden. Insofern sind Braunecks Beschreibungen mit einem eher rhapsodisch-diffusen Terminus »Theaterwesen« zu fassen. Der Überblick über die von Brauneck beschriebenen Theaterlandschaften Westeuropas zeigt, dass in den meisten westeuropäischen Ländern 72 nach dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichem Umfang und in unterschiedlicher Weise meist von staatlicher Seite Anstrengungen unternommen werden, die historisch im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstandenen Strukturen staatlichen ‚Nationaltheaters‘ auf der einen und bürgerlicher Stadttheater auf der anderen Seite zu reformieren und zu modernisieren. Es sind eben diese Reformanstrengungen, die die Entstehungsbedingungen der neuen, postmodernen Theaterformen bestimmen.
72 | Die deutschen Verhältnisse, das in der Weimarer Republik konsolidierte »Deutsche System«, dessen Herkunft aus der späten nationalstaatlichen Einigung und den Nachwirkungen der Kleinstaaterei bis heute eine Besonderheit darstellt, werden in diesem Essay nicht behandelt.
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Dabei kommen in allen westeuropäischen Ländern73 den gesellschaftlichen Protestbewegungen und der Entstehung von neuen, unabhängigen Theatergruppen, die sich kritisch bis rebellisch gegen die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse und Strukturen und das bürgerliche und hochkulturelle Theaterwesen absetzen, Impulsfunktionen zu.
M odelle N iederl ande und B elgien
Abb. 6: »Allemaal Indiaan«, Victoria & Les Ballets C de la B, Kampnagel, 2000, Foto: Friedemann Simon Als ein besonderer ‚Typus‘ des Theaterwesens kann das Modell der Niederlande 74 gelten, dessen Theaterlandschaft freilich bereits gleich nach dem Zweiten
73 | Spanien und Portugal werden hier nicht behandelt, da hier im Hinblick auf die Zeit der Jugendrevolten noch ‚besondere Bedingungen‘ – die diktatorischen Regime Francos und Salazars – herrschten. 74 | Vgl. Brauneck, Manfred: »Theater in den Niederlanden: von Reform zu Reform«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 842-860; sowie Frey, Martin: Creatieve Marge. Die Entwicklung des Niederländischen Off-Theaters (= Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, hg. vom Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Wien, Beiheft 14), Wien/Köln 1991.
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Weltkrieg in besonderen Strukturformen aufgebaut wurde – und das zum anderen seit 2011 wiederum sehr gründlich und folgenreich »reformiert« wird.75 Diese Strukturen, die in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die avanciertesten und erfolgreichsten Theatercompanies des postmodernen Theaters in Europa hervorbrachten, beruhten zum einen auf den spektakulären Aktionen und Verläufen der Modernisierungskrise in den Niederlanden in den sechziger Jahren, die nachhaltige Umwälzungen des nach dem Krieg aufgebauten Theaterwesens bewirkten: In den Niederlanden als im Kriege von deutschen Truppen besetztes Land, für dessen Reorganisierung nach der Befreiung die Abgrenzung gegen die deutsche Kultur eine wichtige Rolle spielte,76 wurde das Theaterwesen und dessen Förderung auf den beiden voneinander abgegrenzten Säulen der Förderung von Ensembles77 – also der Theaterproduktion – auf der einen und Spielstätten auf der anderen Seite gestaltet.78 Zum anderen hat die Actie Tomaat – eine Aktion von unabhängigen Künstlerinnen und Künstlern, die am 9. Oktober 1969 gegen die künstlerischen Verkrustungen des niederländischen Theaters protestierten, indem sie eine Vorstellung im Amsterdamer Stadttheater mit Tomaten bewarfen79 – nachhaltige Folgen als Impuls für die zeitgenössische Innovation der Förderpraxis.80 Das neue System ermöglichte den Einbezug und die Förderung von vielen Gruppen, die mit politischen und künstlerischen Motiven anderes Theater zu
75 | Theater der Zeit (Hg.): The Netherlands and Flanders. Theater der Zeit spezial, Berlin o.J. (2013); und Berg, Simon van den: »Mit dem Rücken zum Publikum? Theaterbrief Niederlande (1). Die Subventionskürzungen im niederländischen Kunstbetrieb«, http:// www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=ar ticle&id=5815:diesubventionskuerzungen-im-niederlaendischen-kunstbereich&catid=622:theaterbri ef-aus-den-niederlanden&Itemid=99 vom 15.7.2015; und ders.: »Zerstörerische Debatte. Theaterbrief Niederlande (2). Ein halbes Jahr nach den Subventionskürzungen wird das Ausmaß langsam deutlich«, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_co ntent&view=article&id=6687:theaterbrief-niederlande-2-ein-halbes-jahr-nach-densubventionskuerzungen-im-niederlaendischen-kunstbereich-wird-das-ausmass-langsam-deutlich&catid=622:theaterbrief-aus-den-niederlanden&Itemid=99 vom 15.7.2015. 76 | Das 1947 gegründete dezentrale Holland-Festival entstand nach Brauneck in expliziter Abgrenzung gegen Festivals wie Bayreuth oder Salzburg. Vgl.: Brauneck, M.: »Theater in den Niederlanden«, in ders. Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 845. 77 | Beispiele sind Amsterdams Toneelgezelschap, de Haagse Comedi, Rotterdams Toneel, Nederlandse Comedi und als Kindertheater das Ensemble Puck. Vgl. ebd., S. 844. 78 | Vgl. ebd. 79 | Vgl. ebd., S. 842f.; und Frey, M.: Creatieve Marge, S. 33f. 80 | Ebd., S. 43ff.
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produzieren und zu zeigen begannen 81 – Gruppen wie das Publiekstheater, Baal und Het Werktheater in Amsterdam82 und neuer Produktions- und Präsentationsstätten wie das Mickery, das Shaffy und Felix Meritis 83. Ohne die Vor- und Nachteile dieses ‚Systems‘ hier auszuloten, bietet es zweifellos für Künstlerinnen, Künstler und Truppen die Möglichkeit, sich eigenständig nach ihren Kriterien und Ansprüchen zu formieren und zu arbeiten und sich stetig neu zu erfinden; und die Theaterhäuser (und Festivals) können ihre Programme differenziert und vielfältig für das lokale und regionale Publikum gestalten und dabei unterschiedlichste Ansätze zu Gastspielen einladen. Seit 1947 werden die zentralen Förder- und Mittelvergabeentscheidungen von einem Raad voor de Kunst getroffen, der seit 1955 als unabhängiges Organ fungiert. Diese Struktur wird zwar immer wieder Revisionen unterzogen: zum Beispiel wird 1984 die Förderung auf vierjährige Perioden begrenzt;84 sie hat aber grundsätzlich bis in die unmittelbare Gegenwart (2015) Bestand. Zum Ende des 20. Jahrhunderts besteht die Theaterlandschaft der Niederlande auf der Spielstättenseite aus 125 städtischen Bühnen und 60 Studios85, die die Arbeiten von ca. 1000 Produzenten und Zusammenschlüssen zeigen.86 Dies ist die Basis für wesentliche künstlerische Innovationsentwicklungen, die nach ganz Westeuropa ausstrahlen 87, zumal seit der Gründung der Theaterschule DasArts 1994 in Amsterdam durch Ritsaert ten Cate und Marijke Hoogenboom88 und – siehe oben im Abschnitt zur Theaterschrift – die internationalen Kooperationen, Koproduktionen und Festivals. Seit der Erweiterung des Theatergesetzes 1973 werden alle Theater durch die öffentliche Hand gefördert, wobei ein wesentliches Förderinstrument in
81 | Frey beschreibt ausführlicher das politische Formingstheater (ebd., S. 49ff.) und die MIME-Bewegung (ebd., S. 63). 82 | Vgl. Brauneck, M.: »Theater in den Niederlanden«, in ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 850ff. 83 | Ebd., S. 849f.; und wesentlich ausführlicher: Frey, M.: Creatieve Marge, S. 54-122. 84 | Vgl. Brauneck, M.: »Theater in den Niederlanden«, in ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 859. 85 | Ebd. 86 | Ebd., S. 860. 87 | So stammt beispielsweise Hans Man in’t Veld, künstlerischer Leiter von Kampnagel Hamburg von 1990 bis 1994, aus der Truppe Het Werktheater. 88 | Vgl. Brauneck, M.: »Theater in den Niederlanden«, in ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 849; sowie DasArts – Amsterdams Hogeschool voor de Kunsten, http://www.ahk.nl/ theaterschool/opleidingen-theater/dasarts-master-of-theatre/about-dasarts/history/ vom 15.7.2015.
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der Subventionierung der Eintrittspreise besteht, von denen ca. 50 Prozent durch öffentliche Förderung aufgebracht werden.89 Doch das System, das Flexibilität und Dynamik ermöglicht, ermöglicht es eben auch, dass der Theaterlandschaft durch einfache Haushaltsbeschlüsse das Wasser abgegraben wird: »Am kommenden Montag, den 27. Juni (2011) wird das niederländische Parlament über tiefgehende Einschnitte im niederländischen Kulturetat befinden. Die Minderheitsregierung aus liberaler VVD und christlich-konservativer CDA, unterstützt durch die rechtspopulistische PVV (unter Vorsitz von Geert Wilders), beabsichtigt, den Kunstetat von rund 950 auf 750 Millionen Euro abzusenken. Diese Kürzungen sind nicht gleichmäßig verteilt. Insbesondere die darstellenden Künste (Performing Arts) werden von einer Kürzung ihres Budgets um circa 46 Prozent betroffen sein«, heißt es im Bericht von Simon van den Berg über die Theaterlandschaft »Niederlande (1)« auf Nachtkritik.de vom 23.6.2011.90 Da diese Kürzungen erst mit dem Ende der vierjährigen Bewilligungsphase im Jahre 2013 wirksam wurden, haben sich viele der Gruppen offenbar darauf eingestellt und suchen nach anderen Finanzierungsquellen zum Ausgleich der Ausfälle – jedenfalls scheint der zunächst befürchtete Kahlschlag nach 201391 nicht eingetreten zu sein. Grundsätzlich ähnliche Strukturen wie in den Niederlanden – allerdings mit zwei staatlichen Nationaltheatern in Brüssel und Antwerpen für das frankophone und das flämische Belgien – finden sich im Nachbarland, das vor allem in seinem flämischen Teil im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts mit Jan Fabres Troubleyn, Jan Lauwers’ Needcompany, der Tanzcompagnie Rosas und neuerdings der jungen Truppe FC Bergman92 eine Reihe von herausragenden Companien des internationalen postmodernen Theaters hervorgebracht hat.93 Auch Luc Perceval, der sich zum Ende der neunziger Jahre in Deutschland der Arbeit mit Stadttheaterensembles zuwandte, hatte seine ersten Arbeiten zunächst mit einer solchen Truppe (De Blauwe Mandaag, gegründet 198494) 89 | Ebd. 90 | Berg, S. v. d.: »Mit dem Rücken« (Onlinepublikation). 91 | »Es wird keine Erneuerung mehr geben. Die Avantgarde ist tot und begraben«, befürchtete Johan Simons in einem Interview von Kirsch, Sebastian: »Was macht das Theater, Johan Simons?«, in: Theater der Zeit (Hg.): The Netherlands and Flanders, Berlin o.J. (2013), S. 49. 92 | Vgl. Vorhaben, Jörg: »Arbeiten ohne Regisseur. Zur Geschichte der Schauspielerkollektive in Flandern und den Niederlanden«, in: Theater der Zeit (Hg.): The Netherlands and Flanders, S. 30-33, hier S. 32. 93 | Vgl. Brauneck, Manfred: »Theater in Belgien«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 861-872. 94 | Vgl. ebd., S. 865.
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entwickelt, bevor seine Produktion Schlachten95 ihm 1999 den Weg in die deutschen Stadttheater öffnete. Brauneck charakterisiert den »Trend« des flämischen und des niederländischen Theaters der achtziger und neunziger Jahre folgendermaßen: »Es war eine Entwicklung, die den in den Jahrzehnten vorher angestrebten, mitunter sehr direkten Bezug der Theaterarbeit zu den aktuellen Problemen der Gesellschaft zugunsten künstlerischer Autonomie und Themen allgemeineren Zuschnitts weitgehend aufgab. Verstärkt kamen generelle Menschheitsprobleme in den Blick, aber auch die Beschäftigung mit den Grundlagen der Bühnenkunst selbst, mit der Sprache und dem Körper des Schauspielers. Diese Haltung schlägt sich auch in neuen Produktionsstrukturen einiger Gruppen nieder. Nach dem Vorbild von Fabres Produktionsbüro Troubleyn schaffen sie sich eigene, untereinander kooperierende Zentren. Sie entwickeln ihre Projekte weitgehend außerhalb des etablierten Theaterbetriebes und richten auch eigene Ausbildungsstätten ein.« 96
The ater (fast) ohne S ta at : G rossbritannien
Abb. 7: »Enter Achilles«, DV8 Physical Theatre, Kampnagel Hamburg, 1998, Foto: Friedemann Simon 95 | Text von Tom Lanoye, uraufgeführt 1997 als Ten Orloog in Gent. Vgl. Wikipedia, Schlachten!, https://de.wikipedia.org/wiki/Schlachten! vom 15.7.2015. 96 | Brauneck, M.: »Theater in Belgien«, in ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 869.
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Als streckenweise perhorresziertes Gegenbild97 zum System der öffentlich – staatlich und kommunal – finanzierten Infrastruktur und Produktionspraxis in den Niederlanden und Belgien gilt das angelsächsische System weitestgehender staatlicher Zurückhaltung, was die Gestaltung von Kultur und Theater angeht.98 Freilich habe die überwiegende Selbstfinanzierung es »wohl auch verhindert […], dass sich das Theater in England durch zu weitgehende Experimente seinem Publikum entfremdete«99, vermutet Manfred Brauneck. Dabei gibt es im »öffentlichen Sektor« neben den vier staatlich finanzierten Nationaltheatern – Royal Opera House Covent Garden, Sadlers Wells, Royal Shakespeare Company und National Theatre – eine größere Zahl von regionalen »Reps« (Repertory Theatres)100, die zum Teil auch mit eigenen Ensembles spielen. Sowohl Peter Brook, der England 1970 verlässt und seitdem in Paris lebt und arbeitet101, als auch Peter Zadek102 machen ihre ersten praktischen Theatererfahrungen in diesem System, das zwar auch öffentliche Förderung – vor allem durch das 1946 gegründete Arts Council103 – kennt, aber gleichwohl doch sehr weitgehend auf private Finanzierung und Sponsorship angewiesen ist und dabei gleichwohl zum Ende des 20. Jahrhunderts die erstaunliche Zahl von ca.
97 | Simon van den Berg spricht vom »Ideal des angelsächsischen Modells: In Großbritannien und den USA übernimmt der Staat nur wenige Aufgaben in der Kunstförderung und überlässt die Finanzierung der Dynamik des Marktes oder privaten Sponsoren«, das 2011 von der konservativen Regierung in den Niederlanden übernommen werde. Berg, S. v. d.: Mit dem Rücken zum Publikum? Theaterbrief Niederlande (1) – Die Subventionskürzungen im niederländischen Kunstbereich, auf: Nachtkritik.de, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=5815:die-subventionskuerzungen-imniederlaendischen-kunstbereich&catid=622:theaterbrief-aus-den-niederlanden& Itemid=99 98 | Allerdings wird die Theaterzensur – das heißt die Verpflichtung zur Vorlage und Genehmigung von Theatertexten, die zur öffentlichen Aufführung bestimmt sind – durch den »Lord Chamberlain« erst 1968 durch einen Parlamentsbeschluss abgeschafft. Vgl. Brauneck, Manfred: »Englisches Theater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Großbritannien und Irland«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 873-943, hier S. 874. 99 | Ebd., S. 875. 100 | Nach ebd., S. 879f., waren es in den dreißiger Jahren ca. 50 und in den siebziger Jahren etwa 180 Häuser. 101 | Vgl.: Ortolani, Oliver: Peter Brook, Frankfurt a. M. 1988, S. 20: In Paris gründet Brook gemeinsam mit Micheline Rozan das Centre International de Recherches Théâtrales (C.I.R.T.). 102 | Vgl. Rühle, Günther: Theater in Deutschland, 1945-1966. Seine Ereignisse, seine Menschen, Frankfurt a. M. 2014, S. 694f. 103 | Vgl. Brauneck, M.: »Englisches Theater«, in ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 875.
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500 Theatern und ca. 300 Kulturzentren, in denen auch Theater gespielt wird, hervorgebracht hat.104 In den sechziger Jahren entstehen auch in England eine größere Zahl von neuen Theatertruppen, die einen underground bilden und in großer Zahl auch die Ränder (fringe) des großen Theaterfestivals in Edinburgh bevölkern. Und mit dem dortigen Traverse (gegründet schon 1963) und dem Londoner Open Space (1968) entstehen bedeutsame Produktionsstätten für neues Theater.105 Und abgesehen von Peter Brook kommen mit der 1968 gegründeten Pip Simmons Theatre Group106 und später der Truppe Forced Entertainment, die sich 1984 um Tim Etchells formiert107, außerordentlich bedeutsame Impulse für das neue postmoderne Theater aus diesem System. Dabei unterscheide sich laut Brauneck die britische Fringe-Bewegung »von den meisten alternativen Theatergruppen in den kontinentaleuropäischen Theaterzentren« durch »die von Beginn an existierende Durchlässigkeit von Fringe-Produktionen sowohl an subventionierte literarisch anspruchsvolle Theater wie das Royal Court, aber auch an kommerziellen Bühnen im (Londoner) West-End.«108 In der Tat scheint das britische System das Theater der Inszenierung zeitgenössischer Autoren zu begünstigen: John Osborne, Edward Bond, Tom Stoppard, Harold Pinter und später, während der Regierungszeit Margaret Thatchers: Caryl Churchill, Sarah Kane, Mark Ravenhill, Raoul Walsh … Jedenfalls ist die relativ geringe staatliche und öffentliche ‚Einmischung‘ in die Gestaltung der Theaterverhältnisse den künstlerischen Entwicklungen von Zeitgenossenschaft offenbar grundsätzlich nicht abträglich – auch wenn die Künstler, die den internationalen postmodernen Avantgarden den Weg bereiten oder ihnen zuzurechnen sind – und dazu ist vor Peter Brook unbedingt auch der Ire Samuel Beckett zu zählen – ihre Arbeitsschwerpunkte außerhalb des Landes finden; was im Übrigen auch für Pip Simmons gilt, der in den siebziger Jahren bei Ritsaert ten Cate am Mickery in Amsterdam arbeitet, sowie für das 1994 gegründete deutsch-englische Kollektiv Gob Squad, das inzwischen hauptsächlich in Berlin lebt und arbeitet, aber in Nottingham, seiner Herkunftsstadt weiterhin ein Büro betreibt und seine Arbeiten international auf allen Kontinenten (»apart from Antarctica«) zeigt.109 104 | Vgl. ebd., S. 885ff. 105 | Vgl. ebd., S. 882ff. 106 | Vgl. Wikipedia, Pip Simmons Theatre Group, https://en.wikipedia.org/wiki/Pip_ Simmons_Theatre_Group vom 15.7.2015. 107 | Vgl. Forced Entertainment, http://www.forcedentertainment.com/about/ vom 15.7.2015. 108 | Brauneck, M.: »Englisches Theater«, S. 908. 109 | Gob Squad, http://www.gobsquad.com/about-us vom 18.7.2015.
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The aterkultur als D ienstleistung des W ohlfahrtssta ates – S chweden , N orwegen D änemark
Abb. 8: »Planet Lulu«, Michel Laub/Remote Control, Kampnagel Hamburg, 1997, Foto: Friedemann Simon Ein weiterer Typus europäischer Theaterlandschaft – und seine Bedeutung für die Herausbildung alternativer zeitgenössischer, postmoderner Theaterformen lässt sich in Skandinavien identifizieren. In diesen in der Tendenz wohlfahrtsstaatlich orientierten Gesellschaften übernimmt in den sechziger und siebziger Jahren weitgehend der Staat die finanzielle Verantwortung für die ‚Versorgung‘ der Bevölkerung mit Theater. Zum einen werden staatliche Nationaltheater unterhalten, die in den Hauptstädten die klassischen Traditionen und das nationale Repertoire pflegen; zum anderen werden in den drei Ländern Dänemark, Schweden und Norwegen relativ ähnliche Formen entwickelt, sowohl für Angebote im ganzen Land als auch für Bevölkerungsgruppen, die den bildungsbürgerlichen Idealen nicht so nahe stehen. In Dänemark werden 1963 mit einem Theatergesetz die Hälfte der Betriebskosten der Theater vom Staat bzw. von den Kommunen übernommen: Neben dem Staatstheater in Kopenhagen, das als Repertoirebetrieb Oper, Schauspiel und Ballett produziert, bestehen größere Stadttheater in Odense, Arhus und Aalborg sowie ein reisendes Landestheater.110 In den sechziger Jahren bilden 110 | Brauneck, Manfred: »Dänemark«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 786-801, hier S. 859.
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sich etwa 40 freie Gruppen, die mit ihrer Arbeit in Schulen, Betrieben, Kulturhäusern und anderen öffentlichen Einrichtungen laut Brauneck zwar 60 Prozent der Theaterpraxis im Lande tragen, aber nur fünf Prozent der öffentlichen Subventionen in Anspruch nehmen können.111 In Schweden war die »Kultur- und Theaterpolitik […] ein zentrales Element« der sozialdemokratischen reformistischen Programmatik nach dem Zweiten Weltkrieg: »So kam es in den sechziger und siebziger Jahren zu einem enormen Ausbau und einer forcierten sozialen Ausgestaltung des gesamten Theaterwesens«112 – nicht zuletzt durch Olof Palme, der von 1967 bis 1969 der verantwortliche Kulturminister war. Die Vollsubventionierung des Theaterwesens – neben dem staatlichen Nationaltheater Dramaten bestehen schließlich fast 50 Stadt- und Regionaltheater – wurde dabei mit gesellschaftspolitischen Auflagen und Evaluierungen verbunden, wobei sich die Gewerkschaften für Demokratisierung und die Ermäßigung von Eintrittspreisen einsetzten. Theatergruppen ohne eigene Spielstätte, die in zunehmender Zahl in den sechziger und siebziger Jahren gegründet wurden, erhielten Förderung und wandten sich verstärkt Angeboten für gesellschaftliche Randgruppen zu.113 Diese Politik führt zu einem System, in dem »Staats- und Stadttheater, das Riksteatern, die freien Gruppen und die Amateurgruppen […] in Schweden einen gut eingespielten Kooperationsverbund [bilden], der das Profil dieser Theaterkultur prägt«114, zu der auch ein sehr elaboriertes Kinder- und Jugendtheater gehört, das auch von Ingmar Bergman in seiner Zeit als künstlerischer Leiter des Dramaten (1963-1966) gefördert wird.115 Dieses System ist freilich – wie die wohlfahrtsstaatliche Politik insgesamt – seit den siebziger Jahren auch Gegenstand bürgerlich-konservativer und auch künstlerischer Kritik: Peter Oskarsson, Leiter des Skanska Teatern, kritisiert das »institutionalisiert[e], Produktions- und Tarifzwängen unterworfen[e] schwedische Theaterwesen« und fordert – mit Verweis auf Peter Brook – »eine ausschließlich projektorientierte Arbeit, in der er die Voraussetzung für eine Erneuerung der gesellschaftlichen Bedeutung des Theaters sah.«116 Auch in Norwegen hatte seit Mitte der dreißiger Jahre »das Theater […] seine Stellung im kulturellen und gesellschaftlichen Leben so überzeugend gefestigt, dass die staatliche Subventionierung der Theater als kulturpolitische Selbst-
111 | Ebd. 112 | Brauneck, Manfred: »Schweden«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 809-830, hier S. 809. 113 | Vgl. ebd., S. 810f. 114 | Ebd., S. 813. 115 | Vgl. ebd., S. 820. 116 | Ebd., S. 823.
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verständlichkeit galt«117. Seit 1960 besteht ein Fonds für alle Sparten der darstellenden Künste, einschließlich des Kinder- und Jugendtheaters, der 1970 für unabhängige Theatergruppen erweitert wird. Zum Ende des 20. Jahrhunderts besteht damit ein ‚Versorgungssystem‘ mit elf festen Häusern, davon drei in Oslo sowie je eines in Bergen und Stavanger118, einem staatlichen Tourneetheater (Rijksteatret) und Theaterangeboten in umgangssprachlichem »Nynorsk«, Angeboten für Sami und Finnen, Radiotheater sowie Freilichtaufführungen.119 Doch auch hier wird der Mangel an Kreativität und Innovation beklagt und Eugenio Barba verlässt Oslo 1967 mit seinem Odin Teatret, das er 1960 dort aufgebaut hatte, und zieht nach Holstebro in Dänemark,120 wo er bessere Förderung und Arbeitsbedingungen geboten bekommt. Doch mit der Black Box in Oslo, dem Avantgarden in Trondheim und der Teatergarasjen in Bergen werden auch Zentren der künstlerischen Modernisierung und Innovation aufgebaut und auch mit dem Festival Bergen Internationale Teater (BIT-Festival) gefördert.121 In Bergen können sich die Bak-Truppen etablieren, deren Name als ironisch verkehrte Referenz auf die Forderung nach künstlerischer Avantgarde zu verstehen ist und die in den neunziger Jahren über die europäischen internationalen Festivals und Spielstätten des postmodernen Theaters touren, das von ihrem Förderer Knut-Ove Arntzen in den neunziger Jahren als ‚Post-Mainstream-Theater‘ apostrophiert und analysiert wird.122 Doch insgesamt seien »die Theater in Norwegen durch das System der Subventionsvergabe in einem verhältnismäßig starren Rahmen von inhaltlichen Auflagen und institutionellen Strukturen eingebunden […]. Jon Nygaard vermutet, dass dann ein entscheidender Kreativitätsschub zu erwarten sei, wenn sich die Theater auf kleinere und lokal begrenzte Projekte einlassen könnten, vor allem auch in Kooperation mit den in Norwegen bestens entwickelten Amateurtheatergruppen«
schreibt Brauneck.123 So haben sich in den skandinavischen Ländern gut organisierte und solide finanzierte Theaterlandschaften herausgebildet, in denen auch Freie Gruppen ihren Platz finden, die zunächst vor allem gesellschaftliche Randgruppen mit 117 | Brauneck, Manfred: »Norwegen«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 831-841, hier S. 831. 118 | Vgl. ebd., S. 834. 119 | Vgl. ebd., S. 835. 120 | Ebd. 121 | Vgl. ebd., S. 836. 122 | Vgl. www.inst.at, http://www.inst.at/bio/arntzen_knut.htm vom 16.7.2015. 123 | Brauneck, M.: »Norwegen«, in ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 837.
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projektorientiert produziertem Theater ‚versorgen‘; daneben spielt in der Tat die Bewegung der Amateurtheater, die sich zur North European Amateur Theatre Association (NEATA) zusammengeschlossen hat, eine bedeutsame Rolle jenseits der reinen Freizeitbeschäftigung.124
P rofessionelle und A mateure – F innl and Die Theaterlandschaft in Finnland125 entspricht nur teilweise diesem ‚skandinavischen‘ Modell, auch wenn hier ebenfalls der Staat seit der staatlichen Unabhängigkeit (1917) und verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg eine prägende Rolle bei der Gestaltung des Theaterwesens innehat. Am Beginn der 2000er Jahre bestehen in Finnland 30 finnischsprachige und vier schwedischsprachige feste Theater und insgesamt fast 70 Ensembles. Für die stationären Theater werden 75 Prozent der Betriebskosten vom Staat bzw. den Kommunen getragen.126 Im Verhältnis zu den ca. 4,5 Millionen Einwohnern hat Finnland »ein außerordentlich dichtes Netz an Theatern«127. Diese Bedeutung des Theaters für die Gesellschaft wird durch die »enorme Rolle des Amateurtheaters« verstärkt: Es gibt ca. 6000 Amateurtheatervereine, davon ca. 150 mit regelmäßigem Spielbetrieb; und noch »bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts setzten sich viele Ensembles der subventionierten Theater, die in Finnland generell einen verhältnismäßig kleinen Mitarbeiterstab unterhalten, aus Berufsschauspielern und Amateuren zusammen«128. Doch »so positiv das eindeutige Engagement des Staats und der Stadtverwaltungen an der Theatersubventionierung ist, so sind die Theater dadurch doch auch mit den Strukturen und Regularien der jeweiligen Kulturverwaltung eng verflochten. Diese haben ein Aufsichtsgremium eingerichtet, dem die Spielpläne der Theater vorgelegt werden müssen« und die auch Einfluss auf personelle und künstlerische Entscheidungen nehmen.129 Auch gegen diese Strukturen richten sich die in den sechziger Jahren entstehenden unabhängigen Gruppen, die aber auch schon bald öffentliche Mittel erhalten: »Die unabhängigen Gruppen, verfolgen mit ihrer Arbeit das Ziel,
124 | Vgl. North European Amateur Theatre Association (NEATA), http://www.neata. dk/index.htm vom 16.7.2015. 125 | Brauneck, Manfred: »Theater in Finnland«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 777-785. 126 | Vgl. ebd., S.778. 127 | Ebd. 128 | Ebd., S. 779. 129 | Ebd., S. 781.
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einen größeren Aktualitätsbezug herzustellen, etwa durch die Beschäftigung mit aktuellen und sozialen Konfliktherden der finnischen Gesellschaft.«130
K ulturelle M odernisierung der G r ande N ation – F r ankreich
Abb. 9: »Aujourd‘hui peut-être«, Compagnie Maguy Marin, Kampnagel Hamburg, 1986, Foto: Friedemann Simon In Frankreich ist dem Theater – wie der Sprache allgemein – seit dem 19. Jahrhundert eine bedeutsame und besondere Rolle für die Bildung und die Repräsentation der Nation zugewiesen. Das ,Théâtre National’ ist dabei konzeptionell die spezifisch bürgerliche Form, die die gesellschaftliche und kulturelle Spaltung zwischen höfischem Adel und ‚Volk‘ – zumal dem plebejischen ‚Vierten Stand‘ – überwinden soll. Seine zentrale Stellung bleibt bis weit in das 20. Jahrhundert erhalten und spiegelt sich im zentralstaatlichen Kulturaufbau: Die wesentlichen Institutionen der Nationalkultur und damit auch des Theaters sind in der Hauptstadt konzentriert. In diesem Sinne wird nach dem Zweiten Weltkrieg »die Frage nach der Stellung des Theaters in der Gesellschaft geradezu zwangsläufig zu einem zentralen Thema in jener allgemeinen Erneuerungsdebatte, die nach 1944 in der französi-
130 | Ebd., S. 781f.
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schen Öffentlichkeit geführt wurde«131. Es wurde ein Théâtre National Populaire (TNP) gefordert, wobei »die Zielsetzungen […] in erster Linie kulturpolitische, weniger ästhetische [waren]. Es ging darum, der Mehrheit der französischen Bevölkerung das Theater als eine Institution nahezubringen, die einen wesentlichen Beitrag auch zu dem in dieser zweiten Hälfte der vierziger Jahre so sehr herbeigesehnten nationalen Aufbruch zu leisten vermochte.«132
Abb. 10: Performance »Jérôme Bel«, Jérôme Bel, Kampnagel Hamburg, 1998, Foto: Friedemann Simon Aus diesen Zielsetzungen ergab sich auch die Forderung nach Dezentralisierung des Kultur- und Theatersystems, das bis dahin weitestgehend nach dem Muster funktioniert hatte, dass die Erzeugnisse der Pariser Kulturinstitutionen in die Provinz ‚exportiert‘ wurden.133 Noch zu Beginn der siebziger Jahre gab es in Paris mehr Theater als im gesamten ‚Rest‘ der Republik: nur 200 Häuser in ganz Frankreich, davon nur 40 mit ständigem Aufführungsbetrieb.134 Als Instrumente der Dezentralisierung werden zunächst fünf regionale Centres Dramatiques, unter anderem in Rennes, Toulouse, Aix-en-Provence und Straßburg eingerichtet, sowie zwischen 1959 und 1968 unter dem Kultur-
131 | Ders.: »Frankreich«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 2-190, hier S. 9. 132 | Ebd. 133 | Vgl. ebd., S. 12. 134 | Ebd.
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minister André Malraux sechs regionale Maisons de la Culture.135 Nach 1981 unter dem Kulturminister Jack Lang wird das System der Centres Dramatiques auf 27 Häuser ausgeweitet, davon allein sechs für Kinder- und Jugendtheater. Dabei sind diese Centres so konstruiert, dass sie von profilierten Künstlerinnen und KünstlernKünstlern geleitet werden, die hier mit ihren Ensembles (troupes permanentes) arbeiten und von hier aus im Tourneebetrieb die Region bespielen: So leitet zum Beispiel Roger Planchon von 1957 bis 2002 das Théâtre de la Cité Villeurbanne bei Lyon, dem 1972 der Titel Théâtre National Populaire verliehen wird und von dem herausragende, in ganz Europa wahrgenommene ästhetische Impulse ausgehen. Das erste Théâtre National Populaire (TNP) wird unter der Leitung von Jean Vilar im Sinne der gesellschaftlichen Integration 1951 in Paris gegründet. Es soll die Theaterkunst auch für die Arbeiterschaft erschließen und deren bürgerlichelitären Charakter an die Gesellschaft zurückvermitteln. Hierzu dienen auch organisatorische Veränderungen, wie die Verringerung der Eintrittspreise und die Verlegung des Vorstellungsbeginns von den traditionellen 21 auf 20 Uhr, um dem Lebens- und Arbeitsrhythmus der Lohnarbeiter entgegen zu kommen. Vilar schafft die Portalbühne, das Proszenium und den Vorhang ab, führt Publikumsdiskussionen ein – besteht aber auf dramaturgisch und ästhetisch höchstem Niveau der Arbeit: »Der emanzipatorische Effekt, den etwa Klassikeraufführungen für ein Publikum aus der Arbeiterschaft haben würden, resultiere – so Vilar – allein aus der Tatsache, dass diese Stücke dem Publikum zugänglich gemacht würden.«136 Bis 1961 leitet Vilar das Pariser TNP, nachdem er 1947 auch noch das Theaterfestival von Avignon gegründet hatte, in dem er zunächst jeweils die wichtigsten französischen Inszenierungen der Saison zeigt.137 Zumal unter Jack Lang, der von 1963 bis 1977 das Theaterfestival von Nancy leitete und von 1972 bis 1974 Intendant des Pariser Théâtre National de Chaillot war und während der Präsidentschaft des Sozialisten François Mitterrand von 1981 bis 1986 und noch einmal von 1988 bis 1993 das Kulturministerium übernahm, werden die zentralen staatlichen kultur- und theaterpolitischen Reformprogramme entwickelt, die in Frankreich das Feld für die künstlerische Modernisierung öffnen und zu deren breiter Verankerung in der Gesellschaft beitragen. Aber auch schon in den siebziger Jahren zählen Frankreich und Paris vor allem auf Grundlage staatlicher Programme und Förderungen zu den wichtigsten Hochburgen künstlerischer Modernisierung des Theaters in Europa und der Welt: Das Festival von Nancy (1962 bis 1983) wird zum Treffpunkt der internationalen Theateravantgarden138; 1970 lässt sich Peter Brook in Paris 135 | Vgl. ebd., S. 15. 136 | Brauneck, M.: »Frankreich«, S. 19 137 | Ebd. 138 | Vgl. ebd., S. 146.
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mit dem C.I.R.T. nieder und 1974 gründet Ariane Mnouchkine in der Pariser Cartoucherie das Théâtre du Soleil;139 Neben den Centres Dramatiques werden ab 1984 unter Jack Lang nach ähnlichem Muster auch die Centres Choréographiques eingerichtet, die gegenwärtig (2015) an 19 Orten arbeiten.140 Daneben besteht ein weites Feld von unabhängigen freien Theatertruppen – Brauneck spricht für die Zeit der Jahrtausendwende von 1200 Gruppen, deren Arbeiten von ca. fünf Millionen Besucherinnen und Besuchern gesehen werden141 – die unter anderem jedes Jahr während des Festivals die Stadt Avignon überschwemmen. Die französische Theaterlandschaft und die Impulse zu künstlerischer und struktureller Innovation gehen hier also sehr stark vom Zentralstaat aus und werden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den Reformbestrebungen der sozialistischen Regierungen getragen, die hierfür in erheblichem Umfang öffentliche Mittel investieren – was aber auch dazu führt, dass auch die ‚dezentralisierten‘ öffentlich finanzierten Institutionen als relativ elitäre Zentren funktionieren, in denen europäische und internationale ‚Spitzenkunst‘ produziert wird.
The ater als E rbauung des B ürgertums – die S chweiz Ein völlig anderes Bild bietet die Theaterlandschaft der Schweiz, deren Gestaltungen von der Auffassung ausgehen, dass »Kultur Sache des Einzelnen, der Privatorganisationen und der Gemeinden, vielleicht der Regionen« sei, wie Brauneck schreibt.142 Erst 1975 wird ein Bundesamt für Kulturpflege eingerichtet und Theater gehört traditionell nicht zu den öffentlichen Aufgaben, sondern ist Sache der Zivilgesellschaft. Offenbar in eklatantem Widerspruch zu Schillers Theater- und Kulturverständnis sei »die bürgerlich-aufgeklärte Vorstellung von der Schaubühne als einer moralischen Anstalt eine der Schweizer Theaterkultur eher fremde Idee«143. Insofern gehen die Schweizer Theater ausschließlich auf bürgerliche Gründungsaktivitäten zurück und werden – mit Luzern und seit 1992 auch Chur als Ausnahmen – von Vereinen, Stiftungen, Genossenschaften, Aktiengesell139 | Vgl. ebd., S. 145. 140 | Vgl. CultureCommunication gouv.france, Danse, http://www.culturecommunication.gouv.fr/Politiques-ministerielles/Danse/Organismes-danse/Creation-Diffusion/ Centres-choregraphiques-nationaux vom 16.7.2015. 141 | Vgl. Brauneck, M.: »Frankreich«, in ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 137f. 142 | Ders.: »Theater in der Schweiz«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 514-536, hier S. 514. 143 | Ebd., S. 515.
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schaften oder Theatergesellschaften getragen.144 Doch werden die insgesamt 146 professionellen Theater inzwischen auch von den Kommunen und den Kantonen finanziell unterstützt, wenn auch in geringerem Umfang und mit höheren Einspielverpflichtungen als in Deutschland oder Österreich.145 In den sechziger Jahren entstehen auch in der Schweiz unabhängige Theatergruppen, deren Anzahl Brauneck für 1990 mit etwa 110 angibt.146 Deren Förderung wird vorrangig von den Kommunen und den Kantonen übernommen. Das gilt auch für die Produktionshäuser (Theaterhaus Gessnerallee und Rote Fabrik, Zürich, Kaserne Basel, Dampfzentrale Bern, und spät: Südpol, Luzern). Doch unabhängig von den unabhängigen Theatergruppen ist die Schweiz immer wieder auch Zentrum künstlerischer Innovation: Zürich als Entstehungsort der Dada-Bewegung im Ersten Weltkrieg, die Künstlergemeinschaft auf dem Monte Verità bei Ascona, Zürich als Exilzentrum der theaterkünstlerischen deutschsprachigen Theateravantgarde unter Kurt Hirschfeld, Frank Baumbauers Intendanz in Basel, in der Christoph Marthaler seine ersten Inszenierungen produziert – der dann auch von 2000 bis 2004 Intendant in Zürich wird –, das Théâtre Vidy in Lausanne, seit 1987 künstlerische Heimat für Maurice Béjart, nachdem er Belgien verlassen hatte – der theaterpolitische Bürgersinn scheint sich auch für Innovation und Modernisierung der Kunst zuständig zu fühlen; und in Luzern wird seit 2013 von einem großen, fast umfassenden Kreis der kulturpolitischen Akteure an einem ganz neuen integrierten Modell des Stadttheaters –TheaterWerk Luzern – für alle Genres der darstellenden Künste gearbeitet, das womöglich 2020 seinen Betrieb aufnehmen könnte.147
K ultursta at Ö sterreich »Eine kulturelle Marginalisierung des Theaters, wie sie sich am Ende des 20. Jahrhunderts in einigen Ländern abzuzeichnen scheint, ist in Österreich kaum vorstellbar«, charakterisiert Brauneck die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung des dortigen Theatersystems148, das sich in seinen Strukturen vom »Deutschen System« nicht sonderlich unterscheidet. Allerdings sind die Bedeutung der hauptstädtischen Theater und vor allem der Staatsoper und des 144 | Vgl. ebd., S. 516. 145 | Vgl. ebd., S. 517. Von den 146 Theatern sind 92 deutschsprachig, 48 französischsprachig und sechs italienischsprachig. 146 | Vgl. ebd., S. 518. 147 | Vgl. Theaterwerk Luzern, http://www.theaterwerk-luzern.ch/#post/15 vom 16.7. 2015. 148 | Brauneck, Manfred: »Theater in Österreich«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 459-513, hier S. 459.
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Burgtheaters als Nationaltheater unvergleichlich: In Wien, wo mit etwa 1,8 Millionen Einwohnern etwa ein Fünftel der österreichischen Bevölkerung lebt, werden jährlich etwa vier Millionen Theaterbesucherinnen und -besucher gezählt. Sowohl was staatliche als auch was Mittel der Kommunen angeht, wird die Alimentierung der Theater und der Festspiele149 nach wie vor zu den Kernaufgaben gezählt, auch wenn seit 1999 die Entlassung der Häuser aus der unmittelbaren staatlichen Verwaltung vollzogen wird.150 Dabei wird alternativen Produktionsweisen und Ästhetiken ein gewisser Platz eingeräumt: Auch wenn dem linken, kommunistisch orientieren ScalaTheater, 1950 noch mit Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht begründet151, 1956 – schon bald nach dem Ende des Besatzungsregimes im Jahr zuvor – durch die sozialdemokratisch regierte Stadt Wien die Konzession entzogen wird,152 kann sich hier in den siebziger Jahren – ähnlich wie in München – eine Struktur von Freien Theatern etablieren, die von der öffentlichen Hand finanziert wird und auf die auch hier anzutreffende Bewegung von freien Gruppen zurückgeht.153 Diese hatten rasch eine Reihe von Produktionsstätten für alternatives Theater ‚erobert‘ und deren Finanzierung durchgesetzt, die bis Anfang der zweitausender Jahre zu einer Struktur von ‚Mittelbühnen‘ verfestigt war, die, wie die von der Stadt beauftragten Gutachter monieren, den Anschluss an die internationalen Entwicklungen des Freien Theaters verloren hatte.154 Dieses Gutachten bildet den Beginn eines Prozesses der »Wiener Theaterreform«, die das Fördersystem verändert und die Trennung von Institution/ Immobilienbesitz und künstlerischer Theaterleitung (‚Verhausung‘ der Freien Theater155) auflösen soll – was im Falle des Verbundes dieTheater, der 1989 durch die Vereinigung des »Künstlerhauses« und des »Konzerthauses« für die Arbeit freier Gruppen entstanden war, auch gelang: 2007 nahm das Koproduk149 | Das betrifft vor allem die Salzburger Festspiele, Wiener Festwochen, Bregenzer Festspiele, Steirischer Herbst in Graz und Ars Elektronica in Linz. 150 | Vgl. ebd., S. 475. 151 | Vgl. Rühle, G.: Theater in Deutschland, S. 332ff. 152 | Vgl. ebd., 638f.; und Brauneck, M., »Theater in Österreich«, S. 469. 153 | Vgl. Lackenbucher, Günter/Mattheiß, Uwe/Thier, Anna: Freies Theater in Wien. Reformvorschläge zur Förderung Freier Gruppen im Bereich der Darstellenden Kunst, Wien 2003, S. 10 (online unter: http://www.kulturmanagement.net/downloads/theaterstudie.pdf vom 19.7.2015). 154 | Vgl. ebd., S.4 ff. und S. 9ff.; allerdings hatte sich im Hinblick auf künstlerische Innovation 1987 auch schon George Tabori mit seiner Truppe im Wiener Theater Der Kreis angesiedelt und wurde nach dessen Scheitern 1990 von Claus Peymann an das Burgtheater engagiert, wo er seine größten Erfolge errang. Vgl. Brauneck, M.: »Theater in Österreich«, S. 481. 155 | Vgl. Lackenbucher, G./Mattheiß, U./Thier, A.: Freies Theater in Wien, S.10.
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tionshaus brut mit diesen Spielstätten die Arbeit auf, nachdem ihre Leitung ausgeschrieben und neu besetzt worden war.156
The aterl and I talien »Doch wenn man den Ursprüngen des europäischen Theaterbaus nachgehen möchte, muss man sich nach Italien begeben. Hier entwickelte sich die architektonische Form, die für den Theaterbau bis in unsere Zeit bestimmend werden sollte«157, fasst die Beschreibung einer »Europastraße der historischen Theater« die eine Seite eines Paradoxons zusammen; die andere Seite formuliert Brauneck: »In Italien hatte das Theater wegen des vollständigen Fehlens stationärer Bühnen keine wirkliche Chance, […] Theater im 19. Jahrhundert als eine im nationalen Kulturverständnis fest verankerte Institution zu etablieren.«158
Zwar hat die Kunstform der Oper in Italien seit dem 18. Jahrhundert eine einzigartig populäre Bedeutung, die aber nicht auf das Theaterwesen insgesamt ausstrahlt; dies sei »innerhalb Europas insofern einzigartig, als Italien seit Beginn seiner neueren Geschichte und letztlich bis heute eine Theaterlandschaft der wandernden Truppen und Ensembles ist«159, konstatiert Brauneck. In den 1990er Jahren zählt er 26 teatri stabili, die aber weder über ein festes Ensemble verfügen noch einen durchgehenden Spielplan gestalten, sondern an denen zwei bis drei Produktionen pro Jahr erarbeitet werden, die dann in die anderen stabili touren; und über 600 Theatertruppen oder Kooperativen, die aber nahezu ausschließlich zur städtischen Kultur zählen.160 Die staatliche Finanzierung dieses Theaterwesens ist eher bescheiden und beschränkt sich auf jährlich nachträgliche Förderungen: Produktionen müssen also in aller Regel aus (Bank-)Krediten vorfinanziert werden.161 Ob nun trotz oder wegen dieser schwachen Verfasstheit und Stützung der Theaterlandschaft mit Giorgio Strehler, Lucino Visconti, Federico Fellini, Pier Paolo Pasolini, Dario Fo, Luca Ronconi, Romeo und Claudia Castellucci und Giorgio Barberio Corsetti sehr bedeutsame Theaterkünstlerinnen und -künst156 | Vgl. Wikipedia, Künstlerhaus Wien, https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%BCnstler haus_Wien vom 19.7.2015. 157 | Kultiversum – Die Kulturplattform, http://www.kultiversum.de/All-Dossier/Ander-Quelle-Die-Europastrasse-Historische-Theater-Teil-7.html vom 19.07.2015. 158 | Brauneck, Manfred: »Theater in Italien«, in ders.: Die Welt als Bühne, S. 537-592, hier S. 537f. 159 | Ebd., S. 542. 160 | Ebd., S. 542f. 161 | Ebd., S. 545.
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ler hervorgegangen sind, die das neue, postmoderne europäische Theater maßgeblich beeinflusst haben und beeinflussen, muss hier dahingestellt bleiben. Hierzu könnte aber eine kurze Periode der Förderung von Ricerca e Sperimentazione (,Recherche und Experiment’) im Theater beigetragen haben, mit der die Impulse der 1968er Revolte aufgenommen werden, die aber schon Mitte der achtziger Jahre nicht weiter verfolgt wird.162 Ob aber die schwache Ausprägung einer institutionalisierten oder anderweitig gesicherten Theaterlandschaft in Italien darauf zurückzuführen ist, »dass in Italien Film und Fernsehen mehr als in anderen europäischen Ländern den Markt der Freizeitbeschäftigung und Unterhaltung schon sehr früh für sich okkupiert haben«, und »tendenziell […] sich auch die Kulturpolitik diesen Verhältnissen«163 anpasste, wie Brauneck vermutet, wäre noch genauer zu erforschen – wobei allerdings die frühe und rabiate Marktöffnung zur Privatisierung des Fernsehens (1976) ein kulturpolitisch außerordentlich bedeutsamer Faktor gewesen sein dürfte.164
P ost-P ostmoderne ? Deutlich wird aus dieser Übersicht, dass die neuen Formen des postmodernen Theaters in den unterschiedlich (re)formierten Theaterlandschaften der Moderne unterschiedliche Bedingungen der Entfaltung und Verwirklichung vorfinden, was ihren Einfluss, ihre Bedeutung und ihre Rückwirkungen auf die bestehenden Systeme bestimmt. Deutlich wird auch, dass ihre Entstehung sich vor allem künstlerischen Impulsen verdankt, die sich schon früh und weit vor den politischen und sozialen Bewegungen der sechziger Jahre zeigen. Diese Impulse lassen sich als Auseinandersetzungen mit den Kulturphänomenen der Massenmedialisierung (McLuhan) und den Zivilisationskatastrophen des 20. Jahrhunderts lesen, die massive Zweifel an der Zukunftsgewissheit der Moderne begründen, sowie den Entkolonialisierungskrisen – zu der auch der Vietnamkrieg gerechnet werden muss. Sie kündigen die Bewegungen der Revolte gegen die Statthalter des Projektes der aufgeklärten Moderne gleichsam an. Dieser nahezu globale Zusammenhang der Revolte gegen das Projekt der Moderne um die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts lässt diese auch als Revolte gegen die als nachgerade ‚überschüssig‘ empfundene Herrschaftsenergie lesen, mit der die Statthalter dieses Projektes, die gleichzeitig 162 | Ebd., S. 574f. und S. 584. 163 | Ebd., S. 541. 164 | Vgl. o.A.: »Privatfernsehen: Nur noch Volksverdummung?«, in: Der Spiegel vom 17. 12. 1979, S. 39-61.
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die Elterngeneration repräsentieren, gegen die totalitären Bedrohungen und die existenziellen Gefährdungen ihrer Zukünfte um so heftiger an der Verteidigung ihrer Wertesysteme der aufgeklärten Zukunftsversprechen festhalten. Insofern gehen in der Revolte der späten sechziger Jahre die Ablösung der teleologischen Ethik mit den Forderungen und der Praxis alternativer Produktionsweisen und Verkehrsformen zusammen, was ihr globales Bild als Postmoderne verstehbar macht. Doch geht diese Postmoderne womöglich inzwischen, nach etwa 50 Jahren, ihrem Ende entgegen? Nehmen wir die Zeichen der Entwicklung der Künste und der darstellenden Künstlerinnen und Künstler, so finden wir seit nicht allzu langer Zeit Formen, die über den Kanon des postmodernen Theaters als kritische Kunst der Wahrnehmung hinausweisen. Vegard Vinges Johan Gabriel Borkmann, SIGNAs Schwarze Augen Maria, Nya Rampen und Institutet, Tino Sehgal, die Kollektive Cobra, Machina X und andere kündigen womöglich wiederum neue Produktionsweisen, neue Dramaturgien und neue Ästhetiken der darstellenden Künste an, mit denen darauf reagiert wird, dass das postmoderne Zeitalter der Massenmedien McLuhans, das Atomzeitalter, die heißen Kolonialkriege imperialistischer Mächte abgelöst werden durch die globalisierte digitale Kommunikation, das algorithmische Zeitalter, die Bewältigung des menschgemachten climate change und der Verschiebungen der Weltarbeitsteilung und der demografischen Verteilung der Menschen über den Globus. Dabei sind die Statthalter des Projektes der Moderne noch gar nicht wirklich abgelöst und die Statthalter der Postmoderne werden eben erst zu Eltern. Und die jüngere Kulturgeschichte könnte lehren, dass es sich lohnt, sehr genau zu hören und zu schauen, was die Künstlerinnen und Künstler uns zu sagen haben.
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L iter atur und Q uellen Für diesen Beitrag wurde der gesamte Bestand der Theaterschrift durchgesehen: Theaterschrift, hg. vom Kaaitheater, Brüssel, Hebbel-Theater, Berlin,Theater am Turm, Frankfurt a. M., Felix Meritis, Amsterdam, Wiener Festwochen, Wien: 1 (1992) Jenseits der Gleichgültigkeit 2 (1992) The Written Space 3 (1993) Border Violations 4 (1993) The Inner Side of Silence 5-6 (1994) Über Dramaturgie Theaterschrift, hg. vom Kaaitheater, Brüssel, Hebbel-Theater, Berlin,Theater am Turm, Frankfurt a. M., Felix Meritis, Amsterdam, Wiener Festwochen, Wien, ATEM, Paris, Bayrisches Staatsschauspiel, München: 7 (1994) Der Schauspieler Theaterschrift, hg. vom Kaaitheater, Brüssel, Hebbel-Theater, Berlin,Theater am Turm, Frankfurt a. M., Felix Meritis, Amsterdam, Wiener Festwochen, Wien, ATEM, Paris, Kampnagel, Hamburg, Bayrisches Staatsschauspiel, München: 8 (1994) Das Gedächtnis Theaterschrift, hg. vom Kaaitheater, Brüssel, Hebbel-Theater, Berlin,Theater am Turm, Frankfurt a. M., Felix Meritis, Amsterdam, Wiener Festwochen, Wien, ATEM, Paris, Kampnagel, Hamburg, ICA, London, Bayrisches Staatsschauspiel, München: 9 (1995) Theater und Musik 10 (1995) Stadt/Kunst/Kulturelle Identität Theaterschrift, hg. vom Kaaitheater, Brüssel, Hebbel-Theater, Berlin, Felix Meritis, Amsterdam, Wiener Festwochen, Wien, Festival Theaterformen, Hannover/Braunschweig, Künstlerhaus Bethanien, Berlin: 11 (1997) Die Rückkehr der Klassiker 12 (1997) Zeit 13 (1998) Utopie:Spiritualität? Unter: http://www.archiv.hebbel-am-ufer.de/archiv_hebbel_theater/seiten/arc hiv/theaterschrift/haupt.html findet sich eine Übersicht über die Autorinnen und Autoren der 13 erschienenen Hefte. Abdoh, Reza: »Gewalt – Tod – Theater. Ein Gespräch mit Hortensia Völckers und Martin Bergelt«, in: Theaterschrift 3 (1993), S. 48-64. Abramovic, Marina: »Den Moment festhalten. Gespräch mit Ilse Kujkens«, in: Theaterschrift 3 (1993), S. 104-120.
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Adolphe, Jean Marc: »Fragmente, der Stille entrissen, um nicht ganz zu schweigen«, in: Theaterschrift 4 (1993), S. 184-202. Anderson, Laurie: »Die Geschwindigkeit der Veränderung. Gespräch mit Tom Stromberg«, in: Theaterschrift 1 (1992), S. 118-132. Bak-Truppen: »Gedanken«, in: Theaterschrift 2 (1992), S. 108-112. Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne: Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 5: Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2007. Brauneck, Manfred: »Dänemark«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 786801. Brauneck, Manfred: »Englisches Theater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Großbritannien und Irland«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 873-943. Brauneck, Manfred: »Frankreich«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 2-190. Brauneck, Manfred: »Norwegen«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 831841. Brauneck, Manfred: »Schweden«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 809830. Brauneck, Manfred: »Theater in Belgien«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 861-872. Brauneck, Manfred: »Theater in den Niederlanden: von Reform zu Reform«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 842-860. Brauneck, Manfred: »Theater in der Schweiz«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 514-536. Brauneck, Manfred: »Theater in Finnland«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 777-785. Brauneck, Manfred: »Theater in Italien«, in ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 537-592. Brauneck, Manfred: »Theater in Österreich«, in: ders.: Die Welt als Bühne Bd. 5, S. 459-513. Cate, Ritsaert ten: »So dass es in sich in Bewegung bleibt. Gespräch mit Marianne Van Kerkhoven«, in: Theaterschrift 1 (1992), S. 88-112. Fülle, Henning: Freie Gruppen, Freie Szene, Freies Theater und die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960-2010), Diss. Hildesheim 2015. Fülle, Henning: Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960-2010), Berlin 2016 (im Erscheinen). Frey, Martin: Creatieve Marge. Die Entwicklung des Niederländischen OffTheaters, Wien/Köln 1991. Freyer, Achim: »Hintern den Spiegel der Erscheinungen blicken. Gespräch mit Bettina Masuch«, in: Theaterschrift 2 (1992), S. 114-130. De Greef, Hugo/Stromberg, Tom: »Editorial«, in: Theaterschrift 11 (1997), S. 8.
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O. A.: »Privatfernsehen: Nur noch Volksverdummung?«, in: Der Spiegel vom 17. 12.1979, S. 39-61.
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Theater und Migration Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater Azadeh Sharifi
1. E inleitung 1.1 Einordnung in den Kontext Viele Menschen sind in den letzten Jahrhunderten freiwillig oder unfreiwillig aus oder nach Europa und innerhalb des Kontinents migriert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der Zerschlagung der kolonialen Imperien wie auch mit dem ökonomischen Aufstieg Europas, erreichte die Migration dorthin, vor allem durch Bewohner der ehemaligen europäischen Kolonien, ein nie gekanntes Ausmaß. Auch der Fall der Berliner Mauer, die anschließende Demontage des Kommunismus und die Erweiterung der Europäischen Union führten zu einem deutlichen Anstieg der innereuropäischen Migration. Mittlerweile sind Flüchtlinge aus allen Teilen der Welt, vor allem aus den sogenannten Krisenzonen, kontinuierlich auf Wanderung mit der Hoffnung und der Vorstellung, auf europäischem Boden Fuß zu fassen, freilich nur, um zu entdecken, dass das heutige Europa in vielerlei Hinsicht einer gut bewachten Festung gleicht.1 Die Hegemonie Westeuropas ist durch postkoloniale, postsozialistische und mediterrane Migration längst infrage gestellt worden. Die transnationalen Bewegungen erweisen sich als treibende Motoren einer Transformation
1 | Vgl. Römhild, Regina: »Aus der Perspektive der Migration. Die Kosmopolitisierung Europas«, in: Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hg.), No Integration? Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld: transcript 2009, S. 225-227.
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Europas, denn sie gestalten die innere Globalisierung und damit auch die »Kosmopolitisierung«2 der national verfassten europäischen Gesellschaften.3 So ist Migration für die aktuelle gesellschaftliche Realität Europas konstitutiv. Einige der europäischen Länder haben aufgrund ihrer kolonialen Geschichte sowie durch Auseinandersetzungen in ihren postkolonialen Gesellschaften diese Tatsache früher anerkannt als andere.4 Die jeweiligen Regierungen sehen Migration jedoch nicht als kosmopolitische Kraft, sondern vielmehr als eine Randerscheinung, die sich an der Peripherie der Gesellschaft bewegt. Diese gilt es folglich mit den Instrumentarien nationalstaatlicher und gegenwärtig auch europäischer Macht zu regulieren oder aber auch partiell zu fördern, kulturell zu integrieren oder gar zu assimilieren.5 Die verschiedenen Formen der Migration haben die europäischen Kulturen in einen sogenannten Flux geworfen.6 Eine Vielzahl von Menschen aus unterschiedlichen geografischen Orten mit unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen, die bisher wenig oder keinen Kontakt miteinander hatten, stehen sich auf europäischem Boden gegenüber und leben miteinander oder eben nebeneinander. Die Wanderungsströme haben einen kulturellen Wandel ausgelöst, dessen Spuren sich auch in der europäischen Theaterlandschaft bemerkbar machen. Die politischen Rahmenbedingungen sind im Kontext der künstlerischen Arbeit dieser Theatermacher entscheidend und wirken sich auch auf ihre Anwesenheit in den jeweiligen Theaterszenen aus.7 Damit ist gemeint, dass viele eingewanderte Theatermacher aufgrund ihres Aufenthaltsstatus zunächst von öffentlicher Förderung ausgeschlossen sind. Trotz dieser staatlichen Repressalien sind in beinahe jedem westeuropäischen Land immer mehr eingewanderte Theatermacher tätig. Dem Einfluss, den diese Künstler tatsächlich auf die europäische Theaterszene haben, soll in dieser Studie nachgegangen werden. Es ist Manfred Braunecks Weitsicht zu verdanken, dass im 2 | Vgl. Beck, Ulrich/Sznaider, Nathan: »Unpacking Cosmopolitanism for the Social Sciences: a Research Agenda«, in: The British Journal of Sociology 57 (2006), S. 381-403. 3 | Vgl. R. Römhild: »Aus der Perspektive der Migration«, S. 225f. 4 | Deutschland hat sich beispielsweise erst nach 2005 als Einwanderungsland verstanden, obwohl die Migrationswissenschaft bereits in den neunziger Jahren von einem »Migrationsland« sprach. Vgl. auch Münz, Rainer/Seifert, Wolfgang/Ulrich, Ralf E.: Zuwanderung nach Deutschland. Strukturen. Wirkungen. Perspektiven, Frankfurt a.M.: Campus 1999. 5 | Vgl. R. Römhild: »Aus der Perspektive der Migration«, S. 225f. 6 | Vgl. Boswell, Christina: European Migration Policies in Flux. Changing Patterns of Inclusion and Exclusion, Oxford: John Wiley & Sons 2003, S. 1. 7 | Vgl. Bloomfield, Jude: Crossing the Rainbow. National Differences and International Convergences in Multicultural Performing Arts in Europe, Brüssel: Informal European Theatre Meeting 2003, S. 3.
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
Rahmen dieses Forschungsprojekts die Entwicklung von Theater und Migration gesondert in den Blick genommen wird. Brauneck hatte bereits Anfang der achtziger Jahre eine Studie zum »Ausländertheater in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin« (1983) veröffentlicht, bei der die Entwicklung von ausländischen Theatermachern untersucht wurde. 8 Die damals erst auf keimende Szene hat sich jedoch in den letzten 30 Jahren stark verändert. Artists of color9 und postmigrantisches Theater beeinflussen nachhaltig auf struktureller wie ästhetischer Ebene die zeitgenössische Theaterszene. Die vorliegende Studie versucht, diese Tendenzen und ihre Bedeutung für gesellschaftliche und kulturelle Prozesse in Europa zu analysieren. Sie verfolgt zwei Ziele. Zum einen sollen die grundlegenden Fragen der Gesamtstudie, also die Rolle der Freien Theater im europäischen Theater der Gegenwart mit dem Fokus auf Migration, erörtert und dargestellt werden: Was sind die Merkmale Freien Theaters? Welche Veränderungen haben freie Theatergruppen in der europäischen Theaterlandschaft hervorgerufen? Und wo sind Prozesse künstlerischer und kulturpolitischer Veränderung zu finden? Zum anderen wird der Bedeutung des Phänomens Migration für die zeitgenössische europäische Theaterlandschaft nachgegangen. Welche Verschiebung von Produktion, Distribution und Rezeption haben artists of color und das postmigrantische Theater ausgelöst? Und wie reagieren die staatlichen Theater und Kulturinstitutionen darauf? Wichtig ist zu erwähnen, dass zwischen Theatermachern der Freien Szene und Theatermachern in institutionalisierten Strukturen in dieser Studie nicht klar unterschieden wird. Für eine sehr lange Zeit waren artists of color in den nationalen und europäischen Theaterlandschaften aus den noch darzustellenden Gründen nicht präsent.10 Die Theatermacher waren daher mehr oder weniger darauf festgelegt, in freien Strukturen zu arbeiten. Die Bemühungen um Anerkennung und Teilhabe in den institutionalisierten Strukturen sind ein Kern dieser ›Szene‹.11 Zudem könnte die europäische postmigrantische Theaterszene nicht vollständig erfasst werden, würden die Bemühungen der Künstler nicht in ihrer Gesamtheit dargestellt. Es wird daher keine Trennungslinie zwischen Freier Szene und institutionalisierten Strukturen gezogen, sondern eine Entwicklung der Professionalisierung und Institutionalisierung beschrieben. Diese Besonderheit soll im Laufe dieser Studie noch weiter erörtert werden. 8 | Brauneck, Manfred: Ausländertheater in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin, Hamburg: Pressestelle der Universität Hamburg 1983. 9 | Der Begriff »artists of color« soll im Folgenden gesondert erläutert werden. 10 | Vgl. auch ebd.; Brauneck, Manfred: Ausländertheater in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin, Hamburg: Pressestelle der Universität Hamburg 1983. S. 19. 11 | Vgl. auch Araeen, Rasheed: The Art Britain really ignores. Making myself visible, London: Kala Press 1984.
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1.2 Theoretische Kontextualisierung in bestehende Diskurse 1.2.1 Theater und Migration Die Studie steht unter dem Fokus Migration. Es ist daher wichtig, Migration zu definieren und im Kontext von Theater zu spezifizieren. Im folgenden Abriss werden existierende Diskurse erläutert, die teilweise parallel geführt werden. Zunächst ist festzuhalten, dass es keine einheitliche, offizielle Definition von Migration seitens der Europäischen Union gibt. Migration beschreibt den Prozess, dass Personen ihren Lebensmittelpunkt über Staatsgrenzen hinweg verlegen. Grundsätzlich werden alle nichteuropäischen Bürger, die in die EU eingewandert sind, als Migranten12 bezeichnet, also Personen aus nichtwesteuropäischen Ländern, deren ethnische Herkunft in Asien, Afrika, Lateinamerika liegt, vor 1990 zudem Menschen aus sogenannten Gastarbeiterländern, also süd- und osteuropäischen Staaten. Tatsächlich gibt es mittlerweile wieder eine große Migrationsbewegung innerhalb der europäischen Länder, die auch Binnenmigration genannt wird. Diese ist seit der weltweiten Wirtschaftskrise 2007 und der darauffolgenden europäischen Finanzkrise relevant, da seither viele Menschen aus Ländern wie Griechenland, Italien, Portugal und Spanien auf der Suche nach Arbeit innerhalb von Europa ›wandern‹.13 Über die rein ökonomische Betrachtung hinaus wird Migration als ein Phänomen mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen aufgefasst. Sie betrifft nicht nur die migrierenden Personen, sondern auch die von der Migration betroffenen (europäischen) Gesellschaften. Dabei geht es darum, wie diese Gesellschaften auf die Veränderungen, Verschiebungen und die Diversität ihrer Bürger reagieren und das Zusammenleben neu aushandeln.14 Im theatralen Diskurs wird Migration zumeist nicht als theaterimmanenter Diskurs, sondern als gesellschaftlich-soziales Phänomen verhandelt. Damit ist gemeint, dass Migration meist einer Gruppe von Personen zugeordnet wird, die Migrationserfahrung haben, aber eben nicht in den (institutionellen) Theaterhäusern vertreten sind. Dies wird an der Tatsache deutlich, dass Migration sehr oft als Phänomen gesellschaftlicher Randgebiete dargestellt wird. Es werden Bilder über Migranten von Künstlern ohne eigene Migrationserfahrung geschaffen, die als Außenstehende das Phänomen zu greifen und zu begreifen versuchen. Ein Beispiel ist das europaweit gespielte Theaterstück Unschuld von Dea Loher, in dem Migration aus der Perspektive der dargestellten Gesell-
12 | Zur geschlechtergerechten Sprache siehe bitte den Hinweis am Ende der Einleitung. 13 | Vgl. Galgóczi, Béla/Leschke, Janine/Watt, Andrew: Intra-EU Labour Migration: Flows, Effects and Policy Responses, Brüssel: European Trade Union Institute 2011. 14 | Vgl. Mecheril, Paul/CastroVarela, Mario do Mar/İnci, Dirim/Kalpaka, Annita/Melter, Claus: Migrationspädagogik, Weinheim: Beltz 2010. S.11.
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
schaftsgruppe zunächst als Gefahr15 für diese thematisiert und erst im Laufe des Stücks als gesellschaftlich immanente Erscheinung erkannt wird. Gerade in den letzten Jahren hat sich dieser Diskurs verändert und durch Theatergruppen und von artists of color gegründete Institutionen verschoben. Der Diskurs der interkulturellen Öffnung von Kulturinstitutionen ist gerade in den staatlichen Theatern europaweit präsent. Allerdings liegt der Schwerpunkt immer noch auf der Seite der Rezipienten und nicht auf der der Produzenten. Die staatlichen Theater wollen im Hinblick auf ihr Publikum eine Diversität schaffen, die in den theatereigenen Strukturen noch nicht vorzufinden ist. Neben den staatlichen Theatern gibt es noch verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit Migration, die sich vor allem im interkulturellen16 und im migrantischen Theater finden lassen, allerdings meist pädagogischen oder soziokulturellen Kontexten zugeordnet werden. Die Theatergruppen, die sich selbst so verstehen, werden aus theaterimmanenter Perspektive meist als Laientheater oder semiprofessionelles Theater eingestuft. Sehr oft werden die Begrenztheit der finanziellen, personellen, aber auch der ästhetischen Ressourcen und die Strategien der kreativen Umsetzung unter solchen Bedingungen als ›defizitär‹ aufgefasst. Schließlich gibt es den Diskurs des postmigrantischen Theaters, der in dieser Forschungsarbeit ausführlicher dargestellt werden soll.
1.2.2 Theater und Rassismus — europäisches Theater als weißer Raum? Ein weiterer wichtiger Diskurs im Kontext von Theater und Migration ist die Auseinandersetzung mit diskriminierenden Ausschlüssen in den europäischen Theaterhäusern. Mit diskriminierenden Ausschlüssen sind intersektionale, das heißt sich überschneidende Formen von Diskriminierung gemeint, also die seltene Repräsentation von weiblichen, Schwarzen oder Theatermachern mit körperlicher oder geistiger Behinderung. Trotz der intersektionalen Diskriminierung wird in der vorliegenden Arbeit der Fokus nur auf Rassismus gelegt.
15 | Die Bedrohung durch die Figuren Fadoul und Elisio wird bereits in der Einführung deutlich, in der sie als »illegale schwarze Immigranten« bezeichnet werden, die zu Beginn des Theaterstückes den Selbstmord einer weißen Frau nicht verhindern. Sowohl die Darstellung der Figuren als auch die von Anfang an zugeschriebene Schuld kennzeichnet sie als Eindringlinge. Vgl. Loher, Dea: Unschuld, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2003. 16 | »Interkulturelles Theater« ist nicht im Sinne der Theaterarbeit von Peter Brook, Ariane Mnouchkine oder Robert Wilson gemeint, sondern bezieht sich auf Ansätze, die aus dem Zusammenhang mit der »interkulturellen Öffnung« als »Interkultur« definiert werden. Vgl. Terkessidis, Mark: Interkultur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010.
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Rassismus wird hier in der Definition Stuart Halls verwendet. Hall beschreibt Rassismus als eine soziale Praxis der Exklusion, die keine ausgeprägte Rassentheorie zur Grundlage hat: »Rassismus ist eine soziale Praxis, bei der körperliche Merkmale zur Klassifizierung bestimmter Bevölkerungsgruppen benutzt werden, etwa wenn man die Bevölkerung nicht in Arme und Reiche, sondern z.B. in Weiße und Schwarze einteilt. Kurz gesagt, in rassistischen Diskursen funktionieren körperliche Merkmale als Bedeutungsträger, als Zeichen innerhalb eines Diskurses der Differenz.«17
Daraus entsteht nach Hall ein rassistisches Klassifikationssystem: eine Unterscheidung, die auf »rassischen« Charakteristika beruht. Rassismus ermögliche, »Identität zu produzieren und Identifikationen abzusichern«. Er sei Bestandteil der Erzielung von Konsens und der Konsolidierung einer sozialen Gruppe in Opposition zu einer anderen, ihr untergeordneten Gruppe. Allgemein wird dies von Hall als Konstruktion des ›Anderen‹ beschrieben. Durch die Stereotypisierung des »Anderen« wirkt die eigene Gemeinschaft wie eine homogene Gruppe, in die der »Andere« nicht hineinpasst. 18 Rassistische Ideologien entstehen nach Hall »immer dann, wenn die Produktion von Bedeutung mit Machtstrategien verknüpft sind und diese dazu dienen, bestimmte Gruppen vom Zugang zu kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen«19. Diese Ausschließungspraktiken gehen oft auf eine Naturalisierung zurück, also die Darstellung bestimmter kultureller oder sozialer Gegebenheiten als natürliche Eigenschaften. In diesem Sinne wird auch das Konzept der Rasse als soziales Konstrukt aufgefasst, dessen pseudobiologistische Klassifikationsstruktur, die auf Hautfarbe und anderen äußeren Eigenschaften wie Körperform, Haarstruktur etc. auf baut, nur zur Rationalisierung und Rechtfertigung von ungleicher Behandlung verwendet wird.20 Im Kontext des Theaters wird Rassismus in verschiedenen Zusammenhängen deutlich sichtbar. So gibt es die europaweit existierende und auch kritisierte Praxis des blackface, des Schwarzschminkens weißer Schauspieler, die Besetzungspraxis von Schauspielern auf ethnisch markierte Rollen und Charaktere, aber auch die Beauftragung von Artists of color für ›migrantische‹ 17 | Hall, Stuart: »Rassismus als ideologischer Diskurs«, in: Das Argument 178 (1989). 913-921. S. 913 18 | Ebd., S. 919. 19 | Ebd., S. 913. 20 | Paul Gilroy beschreibt dies folgendermaßen: »For me, ›race‹ refers primarily to an impersonal, discursive arrangement, the brutal result of the raciological ordering of the world, not its cause.« Gilroy, Paul: Postcolonial Melancholia, New York: Columbia University Press 2005, S. 39.
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
Theaterproduktionen. Rassismus beeinflusst das Themengebiet Theater und Migration sowohl auf struktureller als auch auf ästhetischer Ebene sehr stark. Diese Einflüsse werden in dieser Arbeit aufgegriffen und analysiert.
1.2.3 Postmigrantisches Theater In den letzten zehn Jahren hat sich eine neue Kategorie etabliert, die unter dem Namen postmigrantisches Theater bekannt geworden ist. Ausgehend von der Tatsache, dass sich der Wandel der Bevölkerungsstruktur »nicht nur demographisch und soziostrukturell, sondern auch identitär und ideell«21 vollzieht, stellt sich spätestens in der zweiten Generation der Einwanderung ein Moment ein, in dem identitäre Verortung nicht mehr eindimensional zu einem Herkunftsland vorgenommen werden kann. Während für die meisten Migranten der ersten Generation ein Herkunftsbezug durch eine aktive Migrationserfahrung bestehen bleibt, der in vielen Fällen mit einer emotionalen Rückkehroption gekoppelt wird, beinhaltet im Falle der Nachfolgegenerationen der Herkunftsbezug und der Gedanke an Rückkehr bereits einen Moment von »invented tradition«22 . Gleichzeitig bestehen staatliche wie auch hegemonial umkämpfte kulturelle Fixierungen dieser ethnisierten und rassistisch diskriminierten Personen, die nicht als ›Deutsche‹, sondern als Nachfolgegeneration einer migrierten Gruppe im vermeintlichen ›Ankunftsland‹ sozialisiert werden und leben.23 Mit der Einführung des Begriffes Postmigration wird versucht, gegen diese Festlegung anzugehen. Die Bezeichnung ist der amerikanischen Literaturwissenschaft entlehnt; in einer Analyse der Texte von in Deutschland geborenen Schriftstellern mit ›Migrationshintergrund‹ wird der Begriff Postmigration verwendet, um darauf hinzuweisen, dass sich deren Arbeiten einer Begrenzung auf die Migration verweigern.24 Es ist der Versuch einer Abgrenzung von dem heterogen besetz21 | Foroutan, Naika: »Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland?«, in: Aus Politik und Geschichte 46/47 (2010), S. 9-15. S. 10. 22 | »Invented tradition« ist ein ideologiekritisches Konzept, das 1983 von Eric Hobsbawm und Terence Ranger mit der Aufsatzsammlung The Invention of Tradition eingeführt wurde. Erfundene, das heißt in ihrer jeweiligen Gegenwart konstruierte, aber in eine bestimmte Vergangenheit zurückprojizierte Traditionen sollen als historische Fiktion dazu dienen, bestimmte Normen und Strukturen gegenüber einem gegenwärtigen Wandlungsdruck gesellschaftlich zu legitimieren und zu festigen. Vgl. Hobsbawm, Eric/ Ranger, Terence: The Invention of Tradition, New York 1992. 23 | Vgl. Türkmen, Ceren: Migration und Regulierung, Münster: Dampfboot 2008, S. 13. 24 | Vgl. Haakh, Nora Marianne: Islamisierte Körper auf der Bühne. Identitätspolitische Positionierung zur deutschen Islam-Debatte in Arbeiten des postmigrantischen Theaters Ballhaus Naunynstraße Berlin, Berlin: Freie Universität Berlin 2011. S. 3.
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ten Phänomen Migration und gleichzeitig eine Aneignung dieses Diskurses durch eine selbstbestimmte Benennung, die wiederum einen gemeinsamen Assoziations- und Denkraum öffnet. Postmigration ist nicht nur im zeitlichen, periodischen Sinn zu verstehen, sondern als Analogie zu den bekannten ›Post‹-Strömungen des 20. Jahrhunderts (Postmoderne, Post-Strukturalismus, Postkolonialismus, Post-Fordismus etc.) und als diskurstheoretischer Begriff, der sich mit der Phase der Migration kritisch und reflexiv auseinandersetzt.25 In Deutschland hat das Ballhaus Naunynstraße den Begriff in den öffentlich-medialen Diskurs eingeführt. Die Selbstbezeichnung postmigrantisch steht dort für die »Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen«26, und deren künstlerische Leistung als Teil der deutschen Theaterlandschaft aufzufassen ist.27 Durch die Arbeit des Ballhaus Naunynstraße hat sich der Ausdruck in der europäischen Theaterszene sehr schnell verbreitet. Bei dem europäischen Projekt Europe Now, das von 2011 bis 2013 stattfand, wurde er zur Beschreibung des europäisch-gesellschaftlichen Zustandes verwendet.28
1.2.4 artists of color — die Begriffsver wendung in dieser Arbeit Eine große Herausforderung stellt die adäquate Bezeichnung der Künstler und Theatermacher dar, die hier unter Theater und Migration zusammengefasst werden sollen. Dies ist besonders diffizil, weil Begriffe wie migrantische oder auch postmigrantische Künstler nicht alle Personen erfassen. Das übergeordnete Thema dieser Studie ist Migration; die hier dargestellten Personen bzw. deren Familien sind meist im 20. und 21. Jahrhundert nach Europa immigriert. Aber die Diversität der Herkünfte dieser Gruppe inklusive Klasse, kultureller Tradierung, Religion wie auch Geschlecht unterscheidet sie mehr, als sie zu verbinden. Die Erfahrungen der Personen beruhen mehr auf gesellschaftlicher Exklusion und Marginalisierung als auf Erfahrungen der Migration. Daher wird im Folgenden der Begriff artist of color in Anlehnung an ›person of
25 | Vgl. Lornsen, Karin: Transgressive Topographien in der türkisch-deutschen PostMigranten-Literatur, Vancouver: University of British Columbia 2007, S. 211. 26 | Langhoff, Shermin/Kulaoglu, Tuncay/Kastner, Barbara: »Dialoge I: Migration dichten und deuten. Ein Gespräch zwischen Shermin Langhoff, Tunçay Kulaoğlu und Barbara Kastner«, in: Artur Pelka/Stefan Tigges (Hg.), Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945, Bielefeld: transcript 2011, zit. nach N. M. Haakh: Islamisierte Körper auf der Bühne, S. 4. 27 | Vgl. Ebd. 28 | Vgl. http://europenowblog.org/about
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
color‹ verwendet.29 Die Kursivsetzung soll hier verdeutlichen, dass der Begriff im Deutschen nicht übersetzbar ist. Zudem wird der Ausdruck von den Künstlern selbst verwendet, um ihre Markierung als ›nichtweiß‹ deutlich zu machen und sich in die Tradition der amerikanischen Menschenrechtsbewegung einzuordnen. Der Begriff der people of color entwickelte sich in den USA mit der Entstehung der Black-Power-Bewegung in den späten sechziger Jahren. Als antirassistische Selbstbezeichnung wurde er zum politischen Begriff, der rassistisch marginalisierte Gruppen und ihre Mitglieder über die Grenzen ihrer ›eigenen‹ ethnischen, nationalen, kulturellen und religiösen Gruppenzugehörigkeiten mobilisieren und miteinander verbinden sollte. Er beschreibt Personen nicht aufgrund einer ethnischen Zuordnung, sondern aufgrund des erlebten Rassismus in seinen alltäglichen und institutionellen Formen. Die Ausrichtung auf gesamtgesellschaftliche und internationale Entwicklungen führte dazu, dass sich viele people of color unter dem Motto »All Power to the People« für eine weltweite Demokratisierung einsetzten und sich in der Bürgerrechts-, Frauenund der Antivietnamkriegsbewegung engagierten.30 Als Begriff bezieht sich people of color auf alle rassifizierten Menschen, die in unterschiedlichen Anteilen über afrikanische, asiatische, lateinamerikanische, pazifische, arabische, jüdische oder indigene Herkünfte oder Hintergründe verfügen. Er verbindet diejenigen, die durch die weiße Dominanzkultur marginalisiert sowie durch die Gewalt kolonialer Tradierungen und Präsenz kollektiv abgewertet werden. Auf diese Weise kann ein analytischer wie politischer Rahmen geschaffen werden, in dem sich Unterschiede, Gemeinsamkeiten sowie Überlagerungen verschiedener Unterdrückungsverhältnisse und Ausbeutungszusammenhänge von People of color in einem postkolonialen Kontext thematisieren lassen. Einerseits werden die (zugeschriebenen) ethnischen, geschlechtlichen, kulturellen und sexuellen Identitäten und Subjektpositionen berücksichtigt. Andererseits geht es um das Aushandeln einer gemeinsamen Verortung über diese partikulären Zugehörigkeiten hinaus und um das Unterlaufen der Strategie des »Teilens und Herrschens« durch den Versuch einer gemeinsamen Positionierung.31
29 | Vgl. Sen, Rinku: »Are Immigrants and Refugees People of color?«, in: colorlines (2007), http://colorlines.com/archives/2007/07/are_immigrants_and_refugees_people _of_color.html 30 | Vgl. Ha, Kien Nghi: »People of color« als Diversity-Ansatz in der antirassistischen Selbstbenennungs- und Identitätspolitik, Heinrich Böll Stiftung, Berlin 2009, http:// color.migration-boell.de/web/diversity/48_2299.asp 31 | Vgl. ebd.
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1.3 Historische Zäsuren der Migration In der Gesamtstudie wird von einer historischen Zäsur ausgegangen, die durch die politischen Um- und Auf brüche in den ehemals sozialistischen Staaten (Ost-)Europas markiert ist.32 Für die vorliegende Studie spielen allerdings noch weitere Faktoren und historische Ereignisse eine Rolle. Eine allgemeine Zäsur für die weltweite Migration stellt die Globalisierung mit ihren Folgen dar.33 Die Globalisierung wird durch den technologischen Fortschritt, aber auch den politisch-ideologischen Wandel vorangetrieben. Nach dem Fall der Berliner Mauer waren Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung des weltweiten Marktes signifikante Elemente der ökonomischen Veränderungen.34 Diese haben auch zu politischen Veränderungen und zu einer Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie in der gesamten Welt geführt.35 Im weiteren Sinne stellt Globalisierung jedoch eine Fortführung von Imperialismus, kapitalistischer Entwicklung und Expansion dar, auf die Wissenschaftler aus Asien, Afrika und Lateinamerika mit postkolonialer Kritik reagieren.36
32 | Für eine weitere Erläuterung verweise ich auf die Arbeit von Andrea Hensel. Lepenies macht darauf aufmerksam, dass das Etikett »Osteuropa« von den Intellektuellen aus Polen, Tschechien und Ungarn zurückgewiesen und stattdessen der Begriff »Mitteleuropa« benutzt wurde. Vgl. Lepenies, Wolf: Kultur und Politik. Deutsche Geschichte, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2006, S. 330. 33 | Globalisierung kann als »Verbreiterung, Vertiefung und Beschleunigung der weltweiten Verflechtung in allen Bereichen des zeitgenössischen gesellschaftlichen Lebens« definiert werden. Globalisierung ist sowohl als technologischer wie auch als politischer Prozess zu verstehen. So hat der technologische Wandel die weltweite Migration in vielerlei Hinsicht vervielfacht. Zum einen sind Reisen und Kommunikation vereinfacht worden, sodass migrantische Netzwerke und die transnationalen Beziehungen sich verbessert haben. Zum anderen sind der Zugang zur Bildung und die geringer werdende Alphabetisierung der technologischen Veränderung aufgrund der Globalisierung zuzuordnen. Vgl. Held, David/McGrew, Anthony/Goldblatt, David/Perraton, Jonathan: Global Transformations. Politics, Economics and Culture, Cambridge: Polity Press 1999, S 2; Faist, Thomas: The Volume and Dynamics of International Migration and Transnational Social Spaces, Oxford: Oxford University Press 2000. 34 | Vgl. Stiglitz, Joseph: Globalisation and its Discontents, London: Penguin 2002, S. 67. 35 | Siehe auch Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, New York: Free Press 1992. 36 | Vgl. Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996. S.15.
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Die zunehmenden internationalen und nationalen Ungleichheiten, anhaltende Nachfrage nach hoch und niedrig qualifizierten Arbeitsmigranten in den segmentierten Arbeitsmärkten der wohlhabenden Gesellschaften einerseits und Mangel an Möglichkeiten, Bevölkerungswachstum, Unterdrückung und gewaltsame Konflikte in Entwicklungsländern andererseits sind Faktoren der weltweit steigenden Migration.37 In den letzten drei Jahrzehnten hat dies in Europa und vor den Toren Europas eine bis dahin nicht gekannte Einwanderungswelle ausgelöst, die wiederum gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wandel in den europäischen Ländern hervorgerufen hat.38 Ein weiteres Ereignis, das gerade für Personen aus dem Nahen Osten bzw. aus islamischen Ländern – unabhängig von der individuellen Glaubens- oder eben Nichtglaubensrichtung – eine Zäsur darstellt, sind die Anschläge auf das World Trade Center und die Folgen des 9/11. Nach dem 11. September 2001 standen Personen muslimischen Glaubens, überhaupt Menschen aus islamisch geprägten Ländern, im Visier und wurden Opfer von Rassismus.39 In Europa rückte die ›Unvereinbarkeit mit westlichen Werten‹ ins Zentrum der politischen Debatte. So werden Muslime bzw. Personen aus islamisch geprägten Ländern in der Berichterstattung der Medien häufig stereotyp und undifferenziert als einheitliche, tief religiöse Gruppe dargestellt, die einem fundamentalistischen Islam anhängt.40 Eine Studie, die von der European Union Agency for Fundamental Rights zwischen 2002 und 2005 durchgeführt wurde, ergab, dass people of color – insbesondere Personen muslimischen Glaubens und Personen aus islamisch geprägten Ländern – in erheblichem Umfang diskriminierenden Verhaltensweisen ausgesetzt waren. Nahezu ein Drittel der Befragten gab an, dass sie sich mit Diskriminierungen bei der Vergabe von Arbeitsplätzen,
37 | Vgl. Wade, Robert Hunter: »Is Globalisation Reducing Poverty and Inequality?«, in: World Development 32 (2004), S. 567-589. 38 | Vgl. C. Boswell: European Migration Policies in Flux, S. 1. 39 | Wobei Muslim- und Islamfeindlichkeit auch schon vorher in den westlichen Ländern präsent war, vgl. Allen, Christopher: »Justifying Islamophobia: A Post-9/11 Consideration of the European Union and British Contexts«, in: The American Journal of Islamic Social Sciences 21 (2004), S. 1-25. Von antimuslimischen Zuschreibungen sind nicht nur praktizierende Muslime betroffen. Es hat eine Ethnisierung der Kategorie Muslim stattgefunden: Die Bezeichnungen Türke oder Araber und Muslim werden nahezu synonym gebraucht. Vgl. Schooman, Yasemin: Islamophobie, antimuslimischer Rassismus oder Muslimfeindlichkeit? Kommentar zu der Begriffsdebatte der Deutschen Islam Konferenz, Heinrich Böll Stiftung, Berlin 2011, http://color.migration-boell.de/web/integration/47_2956.asp#1 40 | Vgl. European Union Agency for Fundamental Rights (Hg.): Muslime in der europäischen Union. Islamophobie und Diskriminierung, Wien 2006, S. 38.
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bei der Beförderung im Beruf oder in Form von Belästigungen am Arbeitsplatz konfrontiert sahen.41 Diese allgemeinen Ergebnisse lassen sich anhand der einzelnen europäischen Länder noch besser verfolgen. So hatte beispielsweise der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh in Amsterdam am 2. November 2004 starke Islamophobie zur Folge. Van Gogh war offen islamkritisch und für seine umstrittenen Äußerungen über den Glauben bekannt. Unter anderem drehte er einen Film mit der niederländischen Parlamentsabgeordneten Hirsi Ali über häusliche Gewalt gegen muslimische Frauen, der für viel Kritik sorgte. Der Mörder war ein 26-jähriger Mann mit niederländischer und marokkanischer Staatsbürgerschaft. Neben gewalttätigen Vorfällen und Brandanschlägen mit rassistischem Hintergrund waren Niederländer of color auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln und bei Sportveranstaltungen Beschimpfungen ausgesetzt.42 In der Schweiz wurde der ›Minarettstreit‹ zum öffentlichen Symbol für die bestehenden Ressentiments gegen Personen mit einer muslimischen Glaubensrichtung. 2006 stellten muslimische Gemeinden in verschiedenen schweizerischen Städten und Orten – darunter Wangen bei Olten im Kanton Solothurn, Langenthal im Kanton Bern und Wil im Kanton St. Gallen – Bauanträge zur Errichtung von Minaretten. Diese Anträge lösten auf lokaler Ebene teils heftige Reaktionen der Bevölkerung und auch der Politik aus, obwohl bis dahin Anträge zum Bau muslimischer Gebetsräume ohne weitere politische Auswirkungen geblieben waren.43 Zunächst regte die Schweizerische Volkspartei eine parlamentarische Initiative im Kanton Zürich an, das Baurecht dahingehend zu ändern, dass fortan Gebäude mit Minarett nicht mehr genehmigt werden sollten. Nachdem diese Initiative scheiterte, initiierten die Schweizerische Volkspartei und die Eidgenössisch-Demokratische Union 2007 eine eidgenössische Volksinitiative »Gegen den Bau von Minaretten«.44 Bei der im Jahre 2009 durchgeführten Abstimmung entschieden sich die Schweizer Bürger für ein »Minarett-Verbot«45. Diese Entscheidung löste eine internationale Debatte aus, die Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verstößen
41 | Vgl. ebd., S. 39. 42 | Vgl. ebd., S. 92. 43 | Vgl. Zimmermann, Ralph: »Zur Minarettverbotsinitiative in der Schweiz«, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 69 (2009), S. 829-864. S. 812. 44 | Vgl. ebd., S. 813. 45 | Vgl. O.A.: »Gegen den Bau von Minaretten«, Volksinitiative vom 8.7.2008, http:// color.admin.ch/ch/d/pore/va/20091129/det547.html
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
gegen das Grundrecht auf Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot zur Folge hatte.46 Der hier dargestellte antimuslimische Rassismus kommt nicht nur gegenüber Personen muslimischen Glaubens zum Ausdruck, sondern manifestiert sich auch gegenüber Roma und gegen Schwarze Europäer. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass es sich um Ausgrenzungsprozesse gegenüber Minorisierten handelt, bei denen Religion als Folie für Kollektivzuschreibungen verwendet wird.47 Globalisierung als Auslöser einer weltweiten Migrationsbewegung, die insbesondere westeuropäische Länder betrifft, und 9/11 als historischer Zeitpunkt, an dem die rassistische Exklusion von People of color – und noch konkreter: Personen islamischen Glaubens und Personen aus islamisch geprägten Herkunftsländern – am sichtbarsten wird, sind für die in dieser Studie berücksichtigten Staaten relevante Zäsuren. Sie sind als Hintergrundraster für die jeweilige länderspezifische Migrationspolitik anzusehen.
1.4 Forschungsüberblick Zum Themenbereich Theater und Migration auf europäischer Ebene wurde bisher nur eine Studie veröffentlicht, die vom International Network for Contemporary Performing Arts im Jahre 2003 in Auftrag gegeben wurde. Crossing the Rainbow – National Differences and International Convergences in Multicultural Performing Arts in Europe von Jude Bloomfield stellt einerseits die nationalen Rahmenbedingungen für Migration und Integration der westeuropäischen Länder dar und gibt andererseits einen Überblick über die »multikulturelle«48 Theater- und Tanzszene in Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Deutschland, Österreich, Belgien, Italien, Spanien und Portugal. In der Studie wird festgestellt, dass Rassismus die generell größte Barriere ist, die artists of color in den darstellenden Künsten begegnet. Die Arbeit von artists of color werde auf ihre ethnische Zugehörigkeit beschränkt und zu »sozialer« oder »Community«-Kunst – oder eben nichtpro46 | Die Klagen wurden bisher abgelehnt, da sie nicht von sogenannten Opfern erhoben wurden. Vgl. O.A: »Muslime scheitern mit Klage gegen Minarett-Verbot«, in: Die Welt vom 8.7.2011 http://welt.de/politik/ausland/article13476092/Muslime-scheitern-mitKlage-gegen-Minarett-Verbot.html 47 | Vgl. Schooman, Yasemin: Islamophobie, antimuslimischer Rassismus oder Muslimfeindlichkeit? Kommentar zu der Begriffsdebatte der Deutschen Islam Konferenz. 48 | Den Begriff der »multikulturellen« Theaterszene verwendet Bloomfield, ohne genauer zu definieren, wie sie ihn gebraucht. Daher wird er hier als Zitat angeführt, vgl. J. Bloomfield: Crossing the rainbow.
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fessioneller Kunst – degradiert. Diese Herabstufung der künstlerischen Qualität finde auch auf staatlicher Ebene, bei der Finanzierung, statt. Es gäbe eine institutionelle Trennung der Finanzierung für weiße Künstler und artists of color. Die Studie zeigt, dass diese Unterteilung – zumindest in Deutschland, Österreich und Frankreich – genutzt wurde, um Finanzierung und Exklusion zu rechtfertigen.49 Die Studie führt zudem aus, dass einzelne EU-Programme die »interkulturelle« Theaterszene in Europa auf lokaler, regionaler, aber auch internationaler Ebene unterstützt haben. Es gäbe jedoch keine gezielte Verpflichtung, kulturelle Vielfalt und artists of color zu fördern. Es sei notwendig, die »geschlossenen Kulturinstitutionen« gerade für Künstler aus der zweiten Einwanderungsgeneration zu öffnen und Ressourcen für ihre langfristige künstlerische Entwicklung, zur Entfaltung ihrer Kreativität zur Verfügung zu stellen.50 Bloomfields Arbeit bildet eine Grundlage für die hier vorliegende Studie, die die beschriebenen Tendenzen aufgreift und weiter untersucht. Generell ist aber festzustellen, dass nur vereinzelte Untersuchungen zu den einzelnen Ländern vorhanden sind.51 Es besteht großer Bedarf an Dokumentation und Kontextualisierung der Theaterarbeit von artists of color im europäischen Theaterdiskurs.
1.5 In eigener Sache Ich möchte diese Einführung mit einer Selbstverortung, einer Definition des Untersuchungsgegenstands und einer Erläuterung der methodischen Herangehensweise beschließen. Als deutsche Theater- und Kulturwissenschaftlerin (of color) bin ich die Untersuchung aus deutscher Perspektive angegangen. Dies kommt in der Verwendung deutscher Literatur zum Ausdruck, aber auch durch den deutschen Blick auf die europäische Theaterszene. Das zu erwähnen scheint notwendig, da hier der Anspruch gestellt wird, Tendenzen im europäischen Theater zu untersuchen, welches eben von einer vorgeprägten westeuropäischen Perspektive dominiert wird. Gegenstand dieser Studie sind daher artists of color und postmigrantisches Theater aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Schweden, Großbritannien und Frankreich. Auf die Länderauswahl komme ich im nächsten Kapitel zurück. Ich habe Materialien aus Archiven und Forschungsliteratur aus den themenrelevanten Wissenschaftsdisziplinen gesammelt sowie Textexegese vorliegender 49 | Vgl. ebd., S. 113ff. 50 | Vgl. ebd., S. 115. 51 | Eine große Ausnahme bildet Großbritannien, wo die Black-British- und Asian-British-Theaterszenen sehr gut dokumentiert sind.
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
Theatertexte betrieben und meine Forschungsarbeit in Kolloquien und Konferenzen in ganz Europa zur Diskussion gestellt. Durch Recherchen vor Ort, Interviews mit Künstlern und Personen aus dem inhaltlichen Umfeld sowie teilnehmende Beobachtung wurde schließlich aktuellen Tendenzen nachgespürt. In den folgenden Kapiteln sollen diese Tendenzen dargestellt werden. Zunächst wird ein Überblick über die nationalen Theaterszenen gegeben. In einem kurzen Abriss werden historische und politische Zusammenhänge in Bezug auf die Migration in die jeweiligen Länder hergestellt und die politische Ausgestaltung wie auch die Formen der Partizipation und Repräsentation aufgezeigt. Zudem werden im zweiten Kapitel die Entwicklung der jeweiligen Theaterszenen und die bedeutenden artists of color charakterisiert. In einem Exkurs wird im dritten Kapitel auf das Theater der Minderheiten eingegangen, dessen Forderungen und Ziele in einen Kontext mit dem postmigrantischen Theater gestellt werden sollen. Im vierten Kapitel werden strukturelle Veränderungen, die durch artists of color und postmigrantisches Theater in der europäischen Theaterlandschaft ausgelöst wurden, anhand der wichtigsten Dimensionen beleuchtet, um dann im fünften Kapitel auf die ästhetischen Mittel der artists of color einzugehen. Das Fehlen von Forschung und damit eines Archivs, das für eine Einschreibung in das kollektive Gedächtnis der europäischen Theaterszene notwendig wäre, kann diese Arbeit nicht ausgleichen. Hier wird vielmehr der Versuch gewagt, anhand von strukturellen wie ästhetischen Veränderungen die Tendenzen eines Theaters aus postmigrantischer Perspektive zu skizzieren. Im vorgegebenen Format kann jedoch nur ein Überblick gegeben und eine Kontextualisierung versucht werden. Zum Schluss möchte ich mich entschuldigen, dass ich im Folgenden die männliche Schreibweise verwende und nicht die von mir generell bevorzugte Schreibweise des Gender_Gap, weil dies aufgrund der Einheitlichkeit des Textes der Gesamtstudie nicht umsetzbar war.
2. L änderüberblick Der Überblick über die untersuchten Länder und die nationalen postmigrantischen Theaterszenen ist ein entscheidender Teil dieser Studie. Es wurden sieben westeuropäische Länder ausgewählt: Deutschland, Österreich, die Schweiz, Frankreich, die Niederlande, Großbritannien und Schweden. Die Auswahl ergab sich zuallererst aus dem wissenschaftlichen Fokus einer deutschen Theaterwissenschaftlerin, deren Perspektive durch den westeuropäischen Kanon geprägt ist. Deshalb wurden vorrangig die deutschsprachigen Theaterszenen betrachtet. Um eine kohärente Darstellung von Tendenzen eines postmigrantischen Theaters in Europa präsentieren zu können, ging der
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Blick zudem in Länder, deren Künstler mit deutschen (und deutschsprachigen) Theatermachern of color in Kooperation stehen. So war es beispielsweise naheliegend, die Kooperationen zwischen dem Ballhaus Naunynstraße mit Theaterhäusern in Schweden, Großbritannien und den Niederlanden näher zu untersuchen. Ein weiterer Grund waren die Migrationsbewegungen in den einzelnen Ländern und die daraus resultierende gesellschaftliche Partizipation, die zur Emanzipation und zu den postmigrantischen Theaterszenen geführt hat. So wurden Länder wie Frankreich, die Niederlande und Großbritannien ausgesucht, die aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit einen langen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess der Migration aufweisen. Andere Länder wie Österreich, Schweden und die Schweiz hatten wiederum ähnliche Tendenzen, was die Entwicklung und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Migration betrifft. Durch das Nebeneinanderstellen der Länder und ihrer Szenen können europäische Tendenzen aufgezeigt werden, die allerdings auf die westlichen Länder Europas beschränkt bleiben. Eine postmigrantische Theaterlandschaft wurde in mitteleuropäischen und osteuropäischen Ländern nicht vorgefunden, da deren historische und politische Geschichte anders verlaufen ist. Schließlich ist die postmigrantische Theaterszene, wenn davon überhaupt gesprochen werden kann, in Europa überschaubar. Die hier vorgestellten Länder und damit Theatermacher, Theatergruppen und Theaterhäuser repräsentieren die wichtigsten Akteure der Szene. Im Folgenden werden historische und politische Zusammenhänge der ausgewählten Länder in Bezug auf Migration und deren gesellschaftliche Zäsuren dargestellt, gefolgt von einem Überblick über die Entwicklung der postmigrantischen Theaterszene der jeweiligen Länder. In diesem Zusammenhang werden die wichtigsten Theatermacher und Theatergruppen sowie deren Arbeit hier abrissartig vorgestellt.
2.1 Deutschland 2.1.1 Migration in Deutschland Deutschland hat sehr lange den Wandel zu einer Einwanderungsgesellschaft geleugnet. Trotz der Einwanderung von Arbeitskräften seit den fünfziger Jahren und der Aufnahme von Flüchtlingen war die deutsche Einwanderungsund Ausländerpolitik in den vergangenen Jahrzehnten von der Vorstellung geprägt, Deutschland sei kein Einwanderungsland.52 52 | 1982 legten CDU/CSU und FDP in ihrer Koalitionsvereinbarung fest: »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland. Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.« Bade, Klaus: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München: C.COLOR. Beck 1992, S. 52.
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
Seit den fünfziger Jahren hatte sich die Bundesrepublik gezielt um die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer bemüht. Die sogenannten Gastarbeiter sollten allerdings nur vorübergehend in Deutschland bleiben. Anwerbeverträge für Arbeitskräfte wurden zunächst mit Italien, Spanien und Griechenland, später auch mit der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien geschlossen. Infolge der wirtschaftlichen Rezession ging zwischen 1966 und 1969 die Beschäftigung von angeworbenen Ausländern zurück. Schließlich wurde 1973 ein Anwerbestopp erlassen, um die staatlich organisierte Arbeitsmigration zu beenden. Allerdings setzte zeitgleich auch der Nachzug der Familienangehörigen ein. Zudem stieg in den folgenden Jahrzehnten die Zahl der in Deutschland Asyl suchenden Menschen. In den neunziger Jahren setzte sich in Deutschland und in allen europäischen Einwanderungsländern die Vorstellung durch, dass bei anhaltendem Zuwanderungsdruck eine erkennbare Abgrenzung nach außen Voraussetzung für Migrations- und Integrationspolitik und deren Akzeptanz in der einheimischen Bevölkerung sei. Nach der Wiedervereinigung nahmen in Deutschland Rassismus und Diskriminierung gegenüber people of color zu. Die rechtsextremen Gewalttaten in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen waren erschreckende Höhepunkte einer »teilweise kampagnenartig zugespitzte[n] Diskussion« über den angeblich »massenhaften Missbrauch« des in Artikel 16 der Verfassung verankerten Grundrechts auf Asyl von als »Wirtschaftsflüchtlinge« Titulierten.53 Die gesellschaftlich aufgeheizte Situation führte dann zum sogenannten Asylkompromiss, bei dem das Grundrecht auf politisches Asyl im Jahre 1993 stark eingeschränkt wurde.54 Ein Paradigmenwechsel fand erst Anfang des 21. Jahrhunderts statt als Folge der internationalen Arbeitsteilung, der demografischen Entwicklung in Deutschland und des zunehmenden Bedarfs an ausländischen Arbeitnehmern in der deutschen Gesellschaft. Zwei wichtige Gesetze, die das neue Verständnis Deutschlands als Einwanderungsland unterstützen sollten, wurden beschlossen: Zum einen wurde ein neues Zuwanderungsgesetz verabschiedet, zum anderen wurde das Staatsangehörigkeitsrecht verändert. Mit der Reform 53 | Butterwege, Carolin: Von der »Gastarbeiter«-Anwerbung zum Zuwanderungsgesetz, Bonn 2005, http://color.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56377/ migrationspolitik-in-der-brd?p=all 54 | Die rassistisch motivierten Gewaltakte führten zu zivilgesellschaftlicher Mobilisierung, die sich vor allem in Form von Demonstrationen und Lichterketten ausdrückte. Die Überzeugung, dass die rechtsextrem motivierten Gewalttaten damit ein Ende hätten, hat die Aufdeckung von zehn Morden durch den ›Nationalsozialistischen Untergrund‹ verhindert. Das Ausmaß an staatlicher Verwicklung und strukturellem Rassismus wird bis heute vom Untersuchungsausschuss des Bundestages untersucht. Vgl. Untersuchungsausschuss »Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund«, http://color.bundestag.de/ bundestag/ausschuesse17/ua/2untersuchungsausschuss/
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des Staatsangehörigkeitsrechts, das seit dem 1. Januar 2000 gültig ist, wurde ein erheblicher Schritt zur Anerkennung der seit Langem bestehenden Einwanderungssituation getan. Er brachte den Abschied von der einseitigen Orientierung am Prinzip der Vererbung der Staatsangehörigkeit (ius sanguinis) und dessen – beschränkte – Ergänzung um das Territorialprinzip des Erwerbs der Staatsangehörigkeit durch Geburt im Land (ius soli). Das war ein tiefgehender Bruch mit ethnisch-nationalen Vorstellungen, die man vereinfacht in dem Grundgedanken zusammenfassen konnte, Deutscher könne man zwar sein, aber nicht werden. Seitdem gab es verschiedene Initiativen zur sogenannten ›Integration‹ von zugewanderten Personen in Deutschland. 2007 wurde ein nationaler Integrationsplan veröffentlicht, in dem die Bundesregierung einen auf alle politischen und gesellschaftlichen Ebenen ausgelegten Konzept zur Integration von »Menschen mit Migrationshintergrund« darlegte.55 Eine besondere Stellung kam den gesellschaftlichen Bereichen wie Medien und Kultur zu: Auch Kulturinstitutionen sollten einen Beitrag zur kulturellen Integration zu leisten. Der Grund für dieses Gebot war die Feststellung, dass zum einen notwendige Analysen und Datenerhebungen zur Partizipation von Migranten im Bereich Kultur auf Bundes-, Länder- und Kommunenebene fehlten. Zum anderen wurde bemängelt, dass Migranten »sowohl im Publikum als auch auf der Bühne« unterrepräsentiert seien. Überhaupt gälten »Theater, Oper und Museum, oft auch die Musik- und Jugendkunstschule [...] als ›ausländerferne‹ Einrichtungen«.56
2.1.2 Die deutsche Theaterszene Diese Feststellung deckt sich mit der Tatsache, dass artists of color zwar seit den sechziger und siebziger Jahren in Deutschland arbeiteten, aber keinen Zugang zu den Stadt- und Staatstheatern hatten. So schreibt Boran: die »Geschichte türkisch-deutscher Theaterprojekte ist beinahe so alt wie die Geschichte der türkischen Arbeitsmigration in die BRD selbst«57. Diese »Geschichte« ist keineswegs auf die Gastarbeiter aus der Türkei beschränkt, sondern kann auf die anderen Gruppen der Einwanderer ausgeweitet werden. Manfred Braunecks Studie Ausländertheater in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin war die erste Forschungsarbeit zu Theater und Mi-
55 | Integration wird von der deutschen Bundesregierung als die Einbindung in das gesellschaftliche, wirtschaftliche, geistig-kulturelle und rechtliche Gefüge des Aufnahmelandes ohne Aufgabe der eigenen kulturellen Identität beschrieben. Vgl. Bundesregierung (Hg.): Der nationale Integrationsplan. Neue Chancen – neue Wege, Berlin 2007. 56 | Ebd. 57 | Boran, Erol M.: Eine Geschichte des Türkisch-Deutschen Theaters und Kabaretts, Ohio: The Ohio State University 2004, S. 3.
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gration in Deutschland.58 Darin stellte Brauneck fest, dass die künstlerischen Aktivitäten der »Eigeninitiative und Selbstorganisation der Ausländer«59 überlassen seien. Nach dem herrschenden Integrationsverständnis in den achtziger Jahren, »das auf die Auflösung der ursprünglichen nationalen und kulturellen Identität der Ausländer hinzielt und eine umfassende Assimilation anstrebt«60, waren es gesellschaftspolitisch engagierte Einrichtungen, die die Theaterarbeit der Einwanderer der ersten Generation förderten. Es war die keineswegs selbstverständliche Möglichkeit zur politischen, sozialen und ästhetischen Artikulation. So blieb auch die Theaterarbeit der Einwanderer in der Bundesrepublik Deutschland bis Ende der neunziger Jahre nahezu unbekannt.61 Boran spricht in seiner Auseinandersetzung mit türkisch-deutschem Theater von einem deutschen Rezeptionsrahmen, der den kulturellen Erzeugnissen von Einwanderern kein Verständnis entgegenbringe und allzu eng gesteckt wie auch die kulturelle Szene zu exklusiv und zu national ausgerichtet sei. Es handelt sich seiner Ansicht nach um eine geschlossene Gesellschaft.62 Diese Aussage trifft vor allem auf die Stadt- und Staatstheater in Deutschland zu. Die Freie Szene war aufgrund ihrer internationalen Ausrichtung und ihrer Flexibilität von Künstlern mit diversen Migrationsbiografien durchsetzt. Einige Theaterensembles haben sich in dieser Zeit gebildet. Zu den wichtigsten Theatern, die in Deutschland in den achtziger Jahren gegründet wurden, gehört das Theater an der Ruhr. Es wurde 1980 von Roberto Ciulli, einem italienischen Exilanten aus Mailand, und dem Dramaturgen Helmut Schäfer ins Leben gerufen. Ciulli hatte in Mailand bereits in den sechziger Jahren das Globe Theater geleitet. Der wesentliche Gedanke bei der Gründung des Theaters war, eine Struktur zu entwickeln, die sich flexibel immer wieder neu an den Erfordernissen der Theaterarbeit und den Bedingungen der Theatermacher ausrichtet. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich die Spielstätte zu einer international renommierten Bühne. Ciulli selbst wurde im Lauf der Jahre sowohl für seine künstlerische Leistung als auch für seine kulturvermittelnde Funktion ausgezeichnet. Das Theater an der Ruhr hat auch internationales Ansehen als Botschafter Deutschlands gewonnen. So wurden die internationalen Tourneen durch das Auswärtige Amt finanziert.63
58 | Vgl. M. Brauneck: Ausländertheater, S. 6. 59 | Ebd., S. 12. 60 | Ebd. 61 | Vgl. Sappelt, Sven: »Theater und Migrant/innen«, in: Carmine Chiellino (Hg.), Interkulturelle Literatur in Deutschland, Stuttgart: Metzler 2000, S. 275-293. S. 293. 62 | Vgl. E. M. Boran: Eine Geschichte. S. 3. 63 | Vgl. Sharifi, Azadeh: Theater für Alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2011, S. 59ff.
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In derselben Region, in Köln, wurde in den achtziger Jahren das Arkadas Theater von dem türkischen Lehrer Necati Sahin gegründet, der Kindern türkischer Einwanderer die Möglichkeit geben wollte, durch das Theater die türkische Sprache zu erlernen. Mittlerweile ist das Arkadas Theater in Bühne der Kulturen umbenannt und der Fokus vom deutsch-türkischen Theater auf die Vielfalt der in Köln existierenden Bevölkerungsgruppen gelegt worden.64 Fast zur gleichen Zeit, Ende der siebziger Jahre, wurde in Berlin das Türkische Ensemble an der Schaubühne Berlin begründet.65 Nachdem das Projekt an der Schaubühne Anfang der achtziger Jahre auslief, schlossen sich die türkischstämmigen Schauspieler zusammen und gründeten 1984 in Berlin-Kreuzberg die Theatergruppe Tiyatrom. Das türkischsprachige Theater Tiyatrom wurde vom Senat Berlin staatlich finanziert. Nach jahrelanger Kritik, häufig aus den türkischen Reihen, beauftragte der Senat eine Kommission mit einem Gutachten über Tiyatrom, um den Verdacht nachzugehen, dass die Arbeit weniger künstlerischer als vielmehr sozialpädagogischer Natur sei.66 Der Kampf hält bis heute an, dabei stehen die existierenden Berliner Bühnen mit einem interkulturellen Schwerpunkt bei der Finanzierung regelmäßig in Konkurrenz miteinander. Eine ebenfalls in den achtziger Jahren gegründete Spielstätte ist das Theaterhaus Stuttgart, das eine Anlaufstelle für viele eingewanderte Theatermacher war und immer noch ist. Der gemeinnützige Verein Theaterhaus Stuttgart e.V. wurde 1984 von Werner und Gudrun Schretzmeier sowie Peter Grohmann errichtet. Werner Schretzmeier ist seitdem der künstlerische Leiter der Spielstätte. Viele Theatermacher und Schauspieler of color wie Asli Kislal und Emre Akal haben hier regelmäßig für und mit Werner Schretzmeier gearbeitet. Zunächst verstand sich das Theaterhaus Stuttgart als eine internationale Spielstätte, wo die Internationalität im Vordergrund stand und die Bühnensprache sehr oft Englisch war. Über die Jahre stellte sich jedoch heraus, dass nicht die Internationalität, sondern die Tatsache, dass Deutschland multiethnisch ist, sich auch in der Theaterarbeit widerspiegeln müsse.67 Die letzte sehr erfolgreiche Produktion war 2011 Die zwölf Geschworenen unter der künstlerischen Leitung von Werner Schretzmeier, bei der nur Schauspieler of color auf der Bühne waren. Im letzten Jahrzehnt hat sich die Szene in Deutschland vor allem durch die artists of color, der zweiten Einwanderungsgeneration, verändert. In der Studie Report Darstellende Künste des Fonds Darstellende Künste wird festgestellt, 64 | Die Bühne der Kulturen beherbergt ein russisches, ein türkisches und ein jiddisches Theaterensemble. Vgl. die Homepage des Theaters http://color.buehnederkulturen.de 65 | Vgl. E. Boran: Eine Geschichte, S. 133. 66 | Vgl. ebd., S. 133ff. 67 | Werner Schretzmeier im persönlichen Gespräch.
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dass Menschen mit Migrationshintergrund und anderen Nationalitäten in Relation zu ihrem Anteil in der Gesamtbevölkerung angemessen Beschäftigung in der Freien Theater- und Tanzszene finden. Sie werden unter den gleichen Arbeitsbedingungen beschäftigt und erhalten vergleichbare Vergütungen wie deutschstämmige Theater- und Tanzschaffende. Lediglich der Anteil russischer und vor allem türkischer Theatermacher ist in der Freien Theater- und Tanzszene unterrepräsentiert.68 Nun stellen aber gerade die türkisch- und russischstämmigen Menschen in Deutschland die größte Gruppe von Einwanderern dar. Mit der Erkenntnis, dass nur eine Institutionalisierung eine Öffnung und damit eine Sichtbarmachung von Theatermachern of color gewährleistet, gründete Shermin Langhoff in Berlin das Ballhaus Naunynstraße. Seit 1983 wurde die Bühne als Spielstätte von migrantischen Theatergruppen genutzt, da Kreuzberg ein von Gastarbeitern stark besiedeltes Stadtgebiet ist, wo »Arbeitsmigration […] zu diesem Zeitpunkt bereits Spuren hinterlassen«69 hatte. Shermin Langhoff war seit 2004 beim Hebbel am Ufer in Berlin als Kuratorin unter anderem beim Festival Beyond Belonging – Migration tätig, welches sich mit Kunst und Politik im Kontext von Migration beschäftigte. Aufgrund der großen Nachfrage von künstlerischer Seite wurde über eine feste Plattform für postmigrantische Kulturpraxis und die Gründung eines »postmigrantischen Theaters« nachgedacht.70 »Das Haus hat sich einer postmigrantischen Positionierung verschrieben, die die Künstler bewusst ›Beyond Belonging‹ nennen.« 71 Das postmigrantische Theater kann als Suchbewegung mit vielfältigen kulturellen Perspektiven angesehen werden, die sich von erträumten Vergangenheiten und Zukunftsentwürfen nähren. Beginnend mit dem großen Zuspruch für Verrücktes Blut72 von Jens Hillje und Nurkan Erpulat hat das Ballhaus Naunynstraße große Erfolge gefeiert und als erste sowie bis anhin einzige postmigrantische Institution Eingang in die Theaterlandschaft Deutschlands gefunden. Das Ballhaus Naunynstraße ist die 68 | Vgl. Fonds Darstellende Künste (Hg.): Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland, Essen: Klartext-Verlagsgesellschaft 2010, S. 155. 69 | Homepage des Theaters http://color.ballhausnaunynstrasse.de/HAUS.8.0.html 70 | Vgl. Sharifi, Azadeh: »Postmigrantisches Theater. Eine neue Agenda für die deutschen Bühnen«, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld: transcript 2011. S. 35-45. 71 | O. A.: »›Theater kann eine Identitätsmaschine sein‹. Interview mit Shermin Langhoff«, in: Nah & Fern 43 (2009), S.18-21. S. 19. 72 | Verrücktes Blut hatte 2010 im Ballhaus Naunynstraße Premiere. 2011 wurde es zum Berliner Theatertreffen eingeladen, es erhielt den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage und wurde von der unabhängigen Jury deutschsprachiger Kritiker in der Zeitschrift Theater heute zum »Deutschsprachigen Stück des Jahres« gewählt.
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einzige institutionalisierte Produktionsstätte für postmigrantisches Theater in Deutschland. Nun hat Shermin Langhoff im Herbst 2013 als erste Intendantin of color das Maxim Gorki Theater Berlin übernommen, womit möglicherweise ein ›Mainstreaming‹ von postmigrantischen Positionen in den deutschen Stadt- und Staatstheatern Einzug halten könnte.
2.2 Österreich 2.2.1 Migration in Österreich Österreich hält noch immer an dem Mythos fest, kein Einwanderungsland zu sein, obwohl es historisch ein sehr hohes Maß an Bewegung innerhalb des Habsburgerreiches gab und 60 Prozent der Wiener Bevölkerung eine Einwanderungsgeschichte haben. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg begann, ähnlich wie in Deutschland, die Einwanderung durch das Anwerbeabkommen. Zu Beginn der fünfziger Jahre machte sich bereits ein Arbeitskräftemangel bemerkbar, der durch die Abwanderung österreichischer Arbeitskräfte nach Deutschland und in die Schweiz verstärkt wurde. 1961 wurde das Raab-OlahAbkommen geschlossen, in dem erstmals der Zuzug ausländischer Arbeitskräfte festgelegt wurde.73 Das Jahr 1989, insbesondere der Umsturz in Rumänien und die damit einsetzende Flüchtlingswelle, markierte eine Wende in der österreichischen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Unter dem Eindruck stark emotionalisierter innenpolitischer Debatten wurde das Asylrecht Schritt für Schritt demontiert. Zur »Verhinderung von Asylmissbrauch« wurden »beschleunigte Asylverfahren«74 eingeführt, Visapflichten für die wichtigsten Herkunftsstaaten von Asylsuchenden verhängt und Abschiebungen erleichtert. Auf die Gesamtzahl der Flüchtenden hatten diese Maßnahmen allerdings nur wenig Einfluss. Der Zusammenbruch des jugoslawischen Staates und die darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo führten zur größten Fluchtbewegung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele der Flüchtlinge suchten – nicht zuletzt aufgrund der geografischen Nähe – Schutz in Österreich.75 Anfang November 2007 weisen 16,3 Prozent der Österreicher einen Migrationshintergrund auf. Die größte Gruppe der Zuwanderer sind Menschen aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien, gefolgt von Menschen aus der Türkei. An dritter Stelle stehen bereits die Zuwanderer aus Deutschland.76
73 | Vgl. Bauer, Werner T.: Zuwanderung nach Österreich, Wien: ÖGPP 2008, S. 5. 74 | Vgl. ebd., S. 5. 75 | Vgl. ebd., S. 6. 76 | Vgl. ebd., S. 9.
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2.2.2 Die österreichische Theaterszene Ähnlich wie in Deutschland spaltet sich die Theaterszene in freie Theatergruppen sowie Stadt- und Staatstheater. Und ähnlich wie in Deutschland sind artists of color nur in der Freien Theaterszene tätig. In seiner Studie über die österreichische Theaterszene stellt Kevin Leppek fest, dass Autoren of color sowie »Führungskräfte in den Direktionen der öffentlichen Theater« nicht vorhanden sind.77 Das Fehlen hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren die öffentlichen Theater artists of color engagierten. So hat Asli Kislal 2012 das Theaterstück Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje am Landestheater Linz inszeniert. Allerdings findet solche Zusammenarbeit bisher nur vereinzelt statt. In der österreichischen Freien Theaterszene haben sich artists of color etablieren können. Dazu waren Orte wie das Werkstätten- und Kulturhaus Wien Anlaufstellen der Produktion und Präsentation. Auch die Schaffung eigener Strukturen verstärkte die Entwicklung. Mittlerweile hat Österreich eine überschaubare, aber sehr produktive postmigrantische Theaterszene. Diese Entwicklung hat unter anderem dazu geführt, dass 2011 Shermin Langhoff zur stellvertretenden Intendantin und Chefkuratorin der Wiener Festwochen ernannt wurde. In der Ausschreibung der Stadt Wien wurden »Konzepte zur Sicherstellung von Gender Mainstreaming, Interkulturalität sowie Partizipation« gefordert, »die interkulturelle Struktur Wiens mit ihren historischen Wurzeln soll sich in der Programmgestaltung wiederfinden, für die eine aktive Einbindung der Wiener Kulturszene und vielfältiger, niedrigschwelliger Spielorte begrüßt wird«.78 Shermin Langhoff musste 2012 aus persönlichen Gründen die Ernennung ablehnen.79 Die freien Theatergruppen sind zumeist in Wien angesiedelt. 1998 wurde in Wien das Lalish Theaterlabor von Shamal Amin und Nigar Hasib als ein experimentelles Zentrum für Ritualforschung und interkulturelle Performancearbeit gegründet.80 Im Juni 2000 eröffneten sie dann ihr eigenes Zentrum. Mit dem Forschungsprojekt no shadow von 2006 bis 2011 und der Weitererforschung der Lieder als Quelle widmet sich das Lalish Theaterlabor der heute weit77 | Leppek, Kevin: Theater als interkultureller Dialog. Dschungel Wien – Theaterhaus für junges Publikum, Marburg: Tectum 2010, S. 162. 78 | O. A.: »Hinterhäuser und Langhoff als Intendanten-Duo«, in: Der Standard vom 2011, S., http://derstandard.at/1304428463416/Hinterhaeuser-und-Langhoff-als-Intendanten-Duo 79 | Vgl. o. A.: »Designierte Leiterin Shermin Langhoff zurückgetreten«, in: Der Standard vom 2012, S., http://derstandard.at/1336697481118/Designierte-Leiterin-SherminLanghoff-zurueckgetreten 80 | Vgl. Hasib, Nigar: »Lalish-Theaterlabor. Aufbruch zur Quelle der Feierlichkeit«, in: Monika Wagner/Susanne Schwinghammer/Michael Hüttler (Hg.), Theater. Begegnung. Integration?, Frankfurt am Main: Iko-Verlag für Interkulturelle Kommunikation 2003, S. 221-242, hier S. 221ff.
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gehend vergessenen archäologischen Suche nach der menschlichen Stimme, ihrer Wirkung und ihrem individuellen und kulturellen Ursprung.81 Mit Beginn der Saison 2009/2010 übernahmen Harald Posch und Ali M. Abdullah das Theater am Petersplatz unter dem Namen GarageX. Sie begannen ihre Zusammenarbeit mit dem Projekt Drama X, das im Jahre 2004 für viel Aufmerksamkeit sorgte. Als Aufführungsorte dienten dabei weniger klassische Theaterräume als vielmehr gewerbliche Leerstände, die temporär – oft nur für einen Abend – theatral besetzt wurden. Im Theaterhaus GarageX etablierten Posch und Abdullah einen künstlerischen Verhandlungsraum für gesellschaftlich und politisch relevante Fragen, in dem kritische Auseinandersetzungen mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung in Österreich erörtert werden. 2004 wurde unter der Leitung von Asli Kislal und mit einem insgesamt 30-köpfigen Ensemble der Kunst- und Kulturverein daskunst gegründet, der dem Theaterhaus GarageX sehr nahesteht. daskunst versteht sich als »NeoUr-Wiener, Multi-Staatsbürgerschaftliches Theaterensemble«82 und möchte die heterogene Einwanderungsgesellschaft in Österreich durch die Künstler, durch Inhalte und ihre Umsetzung repräsentieren, um diese Wirklichkeitswahrnehmung einem ebenso heterogenen Publikum zu präsentieren. Das erste Stück Dirty Dishes in der Inszenierung von Asli Kislal war eine Sozialsatire, die sich mit ›illegalen Ausländerinnen‹ beschäftigte und in Wien, Graz und Linz aufgeführt wurde. Erste größere Erfolge konnte daskunst 2007 beim Theaterfestival Spectrum best of(f) Austria verzeichnen. In der Spielzeit 2009/10 hat Asli Kislal die künstlerische Leiterin des Theaters des Augenblicks übernommen. In der folgenden Spielsaison war sie dann mit daskunst Artist in residence im GarageX. Mit der Koproduktion Wienerblut, Operette sich wer kann, die mit 3raum und in Koregie mit Hubsi Kramer entstand, erhielt daskunst größere mediale Aufmerksamkeit. Die Festivalreihe Pimp my integration etablierte daskunst und Asli Kislal endgültig als eine feste Größe in der österreichischen Theaterszene. Das Festival war als Projektreihe postmigrantischer Positionen angelegt und versammelte unterschiedliche künstlerische Perspektiven, die (post-)migrantische Erfahrungen untersuchen, sowie Arbeiten, die die aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit in den Vordergrund stellen. Pimp my Integration fand von Ende Oktober 2011 bis Ende Februar 2012 statt. Asli Kislal war zusammen mit Carolin Vikoler von daskunst und Ali M. Abdullah und Harald Posch von GarageX Kuratorin dieses Festivals. Gezeigt wurden vornehmlich internationale postmigrantische Theaterproduktionen, die mit Diskussionsrunden über die Öffnung der österreichischen Kunst- und Kulturinstitutionen begleitet wurden. 81 | Vgl. die Homepage des Theaters http://color.lalishtheater.org 82 | Asli Kislal im persönlichen Gespräch.
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Eine interdisziplinär arbeitende Gruppe um den Künstler Alexander Nicolic ist der Verein Boem, der ebenfalls in Wien ansässig ist. Alexander Nicolic widmet sich mit seinen Projekten der Auseinandersetzung mit Geschichten von Gastarbeitern aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien. Im Mittelpunkt stehen Fragen der bis dahin gemeinsamen Kultur und Sprache im Verhältnis zur österreichischen Gesellschaft. Diese werden in der Vereinsbar – einer Eckkneipe, die sich von außen kaum von anderen Eckkneipen unterscheidet –, in den daneben angesiedelten Ausstellungsräumen oder im Werkstätten- und Kulturhaus Wien umgesetzt. Bei den Wiener Festwochen 2012 wurde im Rahmen des Forums Festwochen das Auftragswerk New Bohemian – Gastarbeiter Opera von Alexander Nicolic gezeigt. In diesem Theaterstück dekonstruiert Nicolic mit Laiendarstellern, die hauptsächlich in der Vereinsbar Boem als Kellner und Barkeeper tätig sind, die von Theodor Adorno stammende Auseinandersetzung über Musik in den sozialen Klassen. Dieses Spannungsverhältnis wird in der ›Gastarbeiteroper‹ durch den theoretischen Diskurs und serbische ›Tavernenmusik‹ ästhetisch hinterfragt. Gods Entertainment sind ebenfalls als freie Theatergruppe in Wien ansässig. Deren Gründer Boris Ceko, Simon Steinhauser und Maja Degirmendzic beschäftigen sich in ihren Arbeiten mit Menschen von der Peripherie der Gesellschaft. Ebenfalls im Rahmen des Forums Festwochen 2012 wurde die Produktion Österreicher integriert Euch gezeigt. Sie fand an verschiedenen Plätzen der Stadt Wien statt und war an die künstlerische Arbeit Ausländer Raus von Christoph Schlingensief aus dem Jahr 2000 angelehnt. Im Vorfeld hatten die Künstler Passanten zum Thema Migration befragt und deren zum Teil sehr vorurteilsbehafteten und rassistisch überladenen Antworten in einer Art Camp mit Laiendarstellern aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen wie Roma-Österreichern, Schwarzen Österreichern, Flüchtlingen etc. ausgestellt. In diesem Camp war es dann weißen Österreichern möglich, sich durch verschiedene Aktionen zu ›integrieren‹, um bestehende Ressentiments abzubauen.
2.3 Schweiz 2.3.1 Migration in der Schweiz Auch die Schweiz hat sehr lange die Tatsache, dass sie ein Einwanderungsland ist, nicht anerkannt. Mit dem starken wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg begann die gezielte Rekrutierung von Arbeitskräften, welche in besonderem Maße die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. Doch nicht nur Bedürfnisse des Arbeitsmarkts, sondern auch fremdenfeindliche Stimmen beeinflussten die Zuwanderungspolitik, die zunehmend restriktivere Züge annahm.
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Nach 1950 kamen in mehreren Wellen Gruppen von Flüchtlingen in die Schweiz: Tibeter, Ungarn, Tschechen, Slowaken und Tamilen. Ihre Ankunft löste in der Schweizer Bevölkerung eine Reihe von Solidaritätsbewegungen aus. Bis in die siebziger Jahre äußerte die Wirtschaft immer wieder Vorbehalte gegen das Saisonstatut von Arbeitskräften. Es war für die Wirtschaft nicht produktiv, eingearbeitete Arbeitskräfte wieder nach Hause schicken zu müssen, um dann neue zu holen.83 Die Basis einer neuen Integrationspolitik, die eine bessere Rechtsstellung der Einwanderer ermöglichte, wurde in den siebziger Jahren gelegt. Gewährt wurden ein erleichterter Familiennachzug und eine Verbesserung des Aufenthaltsrechts. Infolge der Wirtschaftskrise der siebziger Jahre verließen jedoch viele Zugewanderte das Land wieder.84 Ein erneuter Wirtschaftsaufschwung ab Mitte der achtziger Jahre ließ die grenzüberschreitende Zuwanderung wieder anwachsen. Zwar kam es in den Neunzigern zu einer Konjunkturabschwächung, dennoch hielt das Wachstum der eingewanderten Bevölkerung weiter an. Zwischen 2000 und 2010 dominierten Einwanderer, die im Rahmen der Familienzusammenführung oder zwecks Erwerbstätigkeit in die Schweiz einreisten. Im europäischen Vergleich weist die Schweizer Bevölkerung einen hohen Anteil an eingewanderten Personen auf, der im Jahre 2009 ca. 22,9 Prozent der Gesamtbevölkerung betrug. Die ausländische Wohnbevölkerung setzt sich mehrheitlich aus Eingewanderten aus den europäischen Staaten zusammen. Die größte Gruppe unter der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung stellen die Italiener. Die zweitgrößte Gruppe bilden die deutschen Staatsangehörigen, gefolgt von Personen aus Portugal sowie Serbien und Montenegro.85 Wie bereits dargestellt, gibt es seit 2006 eine große öffentliche Debatte – Volksentscheid – um den Bau von Minaretten in verschiedenen Kantonen der Schweiz. Dieses international kritisierte Vorgehen gegen Menschen anderen Glaubens hat auch in Form von Sanktionen gegenüber Flüchtlingen in letzter Zeit größere Ausmaße angenommen.86 83 | Vgl. Carrel, Noemi: Dossier Migration Schweiz, Bundeszentrale für politische Bildung: 2012, http://color.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/139678/ schweiz 84 | Vgl. ebd. 85 | Es sind 16,7 % Italiener, gefolgt von 15,5 % Deutschen und 12,5 % Portugiesen. 86 | So wurde jüngst ein sogenanntes Badeverbot für Asylsuchende erlassen. Von staatlicher Seite wurde das Verbot vom Stadtpräsident Raymond Tellenbach (FDP) gegenüber der Wochenzeitung (WOZ) folgendermaßen begründet: Es sei eine »Vorsichtsmassnahme, damit es nicht zu sexuellen Belästigungen von Schülerinnen oder zu Drogenverkäufen durch Asylsuchende kommt«, »Ein Amt schürt Angst«, in: woz.ch vom 2013, http://color. woz.ch/1332/behoerdlicher-rassismus/ein-amt-schuert-angst
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2.3.2 Die Schweizer Theaterszene Eine einheitliche Schweizer Theaterkultur oder Theaterszene gibt es aufgrund des Föderalismus und der Mehrsprachigkeit nicht. Jede Sprachregion hat ihre Theater und diese richten sich mit ihren Kontakten mehr nach dem sprachverwandten Ausland aus als nach den anderen Sprachregionen: Die Deutschschweiz blickt nach Deutschland und Österreich, die Westschweiz nach Frankreich, das Tessin nach Italien. Die Recherche nach Theatermachern of color in dieser Arbeit beschränkte sich hauptsächlich auf die Deutschschweiz. Bei der bestehenden Vielfalt der Theaterszene bleiben Defizite in Bezug auf Wahrnehmung und Reflexion des demografischen Wandels festzustellen. Einerseits zeigt sich eine Pluralisierung der kulturellen Ausdrucksformen, bedingt unter anderem durch Migrationsbewegungen. Andererseits nehmen solche Einflüsse in den Programmen der Theater nicht die Bedeutung ein, die ihnen im Hinblick auf die aktive kulturelle Partizipation der Bevölkerung am Theaterleben zukommt. Im Zuge der UNESCO-Konvention wurde eine Expertengruppe von Schweizer Theatermachern gegründet, um Vorschläge für die Umsetzung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in der Schweiz zu formulieren.87 So konnten bei der Recherche nur wenige Theaterprojekte gefunden werden, die tatsächlich von Theatermachern of color in der Schweiz umgesetzt werden. Einzelne Künstler sind in der Schweiz zwar tätig, ihre Arbeit beschränkt sich aber unfreiwillig auf die Arbeit in der Freien Szene, wie etwa die der Künstlerin Diana Rojas, die nach ihrem Volkswirtschaftsstudium und Tanztraining in Bogotá (Kolumbien) an der École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq studierte. Seit 2005 lebt Diana Rojas in Zürich und arbeitet als Schauspielerin und Performerin in der Freien Szene. Sie hat die Künstlerplattform Mandarina & Co. gegründet und ihre Produktionen wie Y tu? Wer bisch du? (2007), Choco Loco (2009), Was gisch mer für d’Welt? (2010) und 200mm – thinking about social distance (2012) an verschiedenen Spielorten wie dem Schlachthaus Theater Bern, der Roten Fabrik Zürich, dem Theaterhaus Gessnerallee Zürich und beim Zürcher Theater Spektakel gezeigt. In den klassischen Schauspielhäusern habe sie keine Chance: »Ich rede kein Bühnendeutsch, das heißt, ich werde nicht akzeptiert in vielen Theatern, oder ich werde nur als Ausländerin besetzt.«88 Diana Rojas wird nach eigener Aussage auf ihr Aussehen und dementsprechend auf Klischees reduziert. Beim Theater wie auch beim Film werden ihr Rollenangebote von »sexy Latina, arme Latina, kolumbianische Terroristin und Drogendealerin, etc.«89 angeboten. 87 | Diese können auf der Website nachgelesen werden: vgl. »Vorschläge für die Umsetzung der UNESCO-Konvention über die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in der Schweiz«, http://color.kulturellevielfalt.ch/visio.php?de,0 88 | Diana Rojas im persönlichen Gespräch. 89 | Ebd.
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Ein ›interkulturelle‹ Spielstätte ist das Maxim Theater, das in Zürich angesiedelt ist. Es begann seine Arbeit im Jahr 2006 mit Zugewanderte und Ansässige90, woraus ein Ensemble, die Maxim Community, mit 150 Menschen aus über 30 Herkunftsländern entstand. Zurzeit arbeiten vier Gruppen am Maxim Theater und werden von zwei professionellen Theaterregisseuren geleitet. Der Kurs Deutsch Lernen im Theaterspiel wird in Zusammenarbeit eines Theaterpädagogen und einer Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache durchgeführt. Über Improvisationen entstehen die Theateraufführungen, die nach einer sechs- bis achtmonatigen Probenzeit mindestens zehnmal gezeigt werden. Die bisher realisierten vierzehn Theaterproduktionen und zwei Filme wurden zum Teil auf der eigenen Bühne, zum Teil an ganz unterschiedlichen Orten in der Stadt Zürich aufgeführt. 2007 und 2009 entstanden zwei Jugendprojekte, THIRD EYE I und II, an denen über 60 Jugendliche aus der Schweiz und aus Bosnien teilnahmen. 2009 war das Maxim Theater an dem Projekt Creating Belonging in Immigrant Cities am Institute for Cultural Studies in the Arts der Zürcher Hochschule der Künste beteiligt.91
2.4 Niederlande 2.4.1 Migration in den Niederlanden Die Niederlande zählten ab dem 17. Jahrhundert zu den größten Kolonialmächten weltweit; die größte Kolonie war Indonesien. Im 20. Jahrhundert lehnte sich Indonesien gegen diese Kolonisierung auf. Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Indonesien schließlich 1949 unabhängig. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Personen vornehmlich aus Indonesien und Surinam in die Niederlande einwanderten. Bis spät in die siebziger Jahre hinein war jedoch die vorherrschende Ansicht, dass die Niederlande ein Auswanderungsland seien. Dies änderte sich nach zwei Perioden der Einwanderung. Die erste Einwanderungswelle kam in den sechziger Jahren und wurde von temporären Arbeitskräften aus der Türkei und Marokko bestimmt. Obwohl die Niederlande sich nicht als ein Einwanderungsland verstanden, wurde keine Beschränkung der Familienzusammenführung, wie in anderen Ländern üblich, verhängt, sodass in den späten siebziger Jahren der Familiennachzug die Einwanderung erhöhte.92 Zeitgleich gab es einen zweiten Strom von Einwanderung, hauptsächlich aus postkolonialen Gebieten wie Indonesien oder Surinam und den Niederländischen Antillen. 90 | Siehe Homepage des Theaters http://color.maximtheater.ch 91 | Ebd. 92 | Vgl. Lucassen, Jan/Penninx, Rinus: Newcomers: Immigrants and their Descendants in the Netherlands 1550-1995, Amsterdam: Het Spinhuis 1997, S. 149.
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Zudem stieg die Zahl der illegal eingewanderten sans papiers in die größeren niederländischen Städte.93 Das Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahre 1985 gab der dritten Generation von Einwanderern automatisch die niederländische Staatsangehörigkeit und erleichterte der zweiten Generation deren Erwerb. Folglich hat über die Hälfte der Einwanderer einen niederländischen Pass. Sehr lange wurden die Niederlande als eines der liberalsten und einwandererfreundlichsten Länder in Europa angesehen. Die Stimmung änderte sich jedoch in den neunziger Jahren, als der Multikulturalismus stark kritisiert und den Einwanderern mangelnder Integrationswille vorgeworfen wurde. Der Blickwinkel der Gesellschaft auf die unterschiedlichen Kulturen der Zuwanderer hatte sich verschoben: Eine andere Kultur wird nicht mehr als Bereicherung, sondern als ein mögliches Hindernis der Integration betrachtet. Eine starke Islamophobie hat sich eingestellt und den muslimischen Einwanderer wird die Nichtanerkennung gesellschaftlicher Werte vorgeworfen.94 In den letzten Jahren wurden verschiedene neue Gesetze erlassen, die die Einwanderer dazu verpflichten sollen, die niederländische Sprache zu erlernen und bestimmte freiheitliche und demokratische Werte zu akzeptieren.95 Die Stimmung dramatisierte sich, als 2010 ein Minderheitskabinett unter der Duldung der rechtspopulistischen PVV von Geert Wilders gegründet wurde.96 Dieses Kabinett profilierte sich im ersten Jahr vor allem durch Einsparungen, die die darstellende Kunst mit einer Kürzung von 40 Prozent sehr stark betrafen. Die Freie Szene mit ihren 21 Produktionshäusern sollte nicht mehr subventioniert werden.97 Wie in anderen europäischen Ländern sind auch in den Niederlanden die artists of color hauptsächlich in der Freien Szene tätig.
2.4.2 Die niederländische Theaterszene Einer der wenigen erfolgreichen artists of color am städtischen Theater ist Jörgen Tjon A Fong, der an der Stadsschouwburg Amsterdam als Programmleiter für den Bereich Kulturelle Vielfalt zuständig ist. Er gründete 2002 die Theatergruppe Urban Myth, die mit klassisch ausgebildeten Theatermachern of color
93 | Vgl. J. Bloomfield: Crossing the Rainbow, S. 9ff. 94 | Vgl. Ersanili, Evelyn: Fokus Migration. Niederlande, http://focus-migration.hwwi. de/index.php?id=2644 95 | Vgl. ebd. 96 | Diese scheiterte bereits nach 18 Monaten. Vgl. o. A.: »Große Koalition nimmt ihren Dienst auf«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2012, S., http://color.faz.net/aktuell/ politik/ausland/niederlande-grosse-koalition-nimmt-ihren-dienst-auf-11950527.html 97 | Vgl. o. A: »Euro-Krisen-Theater«, in: Die Deutsche Bühne 12 (2012), http://color. die-deutsche-buehne.de/Magazin/Leseprobe/Euro%20–%20Krisen%20–%20Theater
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kooperieren. Mit diesen arbeitet er nun an der Stadsschouwburg Amsterdam an eigenen Theaterproduktionen. Ein ebenfalls in Amsterdam angesiedeltes Theater, das in den letzten Jahren geschaffen wurde, ist das MC Theater. Zunächst wurden Theaterworkshops veranstaltet, in denen Geschichten über die Diaspora und über die ›Straße‹ erzählt wurden. Da es an Strukturen fehlt, in denen artists of color hätten tätig sein können, taten sich Marjorie Boston, Maarten van Hinte und Lucien Kembel zusammen und gründeten das Haus. Sie produzieren aus der Perspektive des heutigen multiethnischen, multikulturellen städtischen Europa. Für jedes Projekt werden Künstler aus verschiedenen Disziplinen eingeladen. Dieser Ansatz erlaubt es, Innovationen zu generieren und zu präsentieren und ein Netzwerk von talentierten Künstlern of color einzurichten sowie ein vielfältigeres und jüngeres Publikum ins Theater zu bringen. Das MC Theater hat neben seinem künstlerisch-innovativen Konzept von Anfang an auch strukturell neue Wege einschlagen müssen. Die Kürzungen, die eigentlich die gesamte niederländische Theaterszene erfahren hat, trafen gerade die künstlerischen Projekte mit einem sogenannten ›multikulturellen Schwerpunkt‹ am schwersten. So beschlossen die Gründer des MC Theater schon früh, das Theaterhaus langfristig ohne staatliche Subventionen aufzubauen.98 Sie beantragten eine einmalige Gründungsförderung, die nach vier Jahren ausläuft und ihnen damit den Weg für die staatliche Förderung abschneidet. Die finanzielle Unabhängigkeit der Kunst soll über kommerzielle Tanz- und Musikveranstaltungen ermöglicht werden. Bereits jetzt hat sich das MC Theater als Veranstaltungsort etablieren können. Seine Produktionen werden regelmäßig zu internationalen Theaterfestivals und Theaterhäusern eingeladen.99 Die Theatergruppe Rast Theater aus Amsterdam zeichnet sich ebenfalls durch internationale wie auch europäische Koproduktionen aus. Sie wurde von Saban Ol gegründet, der Geschichten aus der Peripherie der niederländischen Gesellschaft inszeniert. Die Theaterproduktionen zeigen Perspektiven einer interkulturellen Öffentlichkeit in den Niederlanden auf. Rast Theater arbeitet vor allem mit jungen Theatermachern zusammen und möchte die Entwicklung und Förderung von Theatermachern of color voranbringen. Die Theaterarbeit wird auf drei Schwerpunkte verteilt: So produziert das Rast Theater jährlich mehrere Theaterstücke, die von einer breiten Öffentlichkeit besucht werden. Zudem fördern sie mit dem Programm JONG RAST die Entwicklung von Talenten bei Jugendlichen of color. Schließlich wird mit RAST Internationale der Austausch mit Europa und der Türkei betrieben, der in internationalen Koproduktionen und Workshops während der jährlichen Sommertheaterakademie in der Türkei organisiert wird. Das Rast Theater hat mittlerweile ein internationa98 | Lucien Kembel im persönlichen Gespräch. 99 | Ebd.
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les Profil. Es war am Europe-Now-Projekt beteiligt und produzierte in diesem Zusammenhang das Stück Elsewhere Land unter der Regie von Saban Ol.
2.5 Frankreich 2.5.1 Migration in Frankreich Die Einwanderung in Frankreich ist bis heute stark von der Kolonialgeschichte sowie einer langen Tradition der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer geprägt. Die Zuwanderung gewinnt immer mehr Bedeutung und beeinflusst die französische Gesellschaft nachhaltig. Galt die Einwanderung lange Zeit zumindest aus wirtschaftlicher Perspektive als Erfolg, so wird sie mittlerweile, insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten, zunehmend als Ursache sozialer Probleme wahrgenommen. Wahlerfolge rechtsextremer Parteien – insbesondere der Front National – machen dies ebenso deutlich wie immer wieder aufflammende Unruhen in den Vororten französischer Metropolen. Vor diesem Hintergrund hat die französische Einwanderungspolitik in den letzten Jahren einen zunehmend restriktiven Kurs angenommen. Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern wird versucht, Einwanderung stärker nach Kriterien ökonomischen Nutzens zu steuern.100 Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Wirtschaftsaufschwungs der fünfziger und sechziger Jahre warb Frankreich überwiegend Arbeitskräfte aus Italien, Griechenland, Spanien, Portugal, Marokko, Tunesien, der Türkei und Jugoslawien an. Gleichzeitig verstärkte sich die Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien infolge des Prozesses der Dekolonialisierung. Vor allem im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg (1954-62) und der darauffolgenden Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 kam es zu einer umfangreichen Zuwanderung nach Frankreich. 1964 schloss Frankreich ein Abkommen zur Anwerbung algerischer Arbeitskräfte mit dem nun unabhängigen Land. In der Wirtschaftskrise der frühen siebziger Jahre folgte Frankreich dem Vorbild anderer europäischer Länder und beendete 1974 alle Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitskräfte. Das Ende der Anwerbung führte jedoch nicht zu einer Rückkehr der Einwanderer in ihre Heimatländer bzw. zu einem Rückgang der Einwanderung. Viele blieben in Frankreich und holten ihre Familien nach. Die Familienzusammenführung ist seitdem die zahlenmäßig wichtigste Form der Zuwanderung, wenn auch mit aktuell rückläufiger Tendenz. In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren verfolgte der konservative Innenminister Charles Pasqua das Ziel einer Nulleinwanderungspolitik. Zahlreiche Regelungen wurden dabei verschärft. Insbesondere der 100 | Vgl. Fokus Migration. Länderprofil Frankreich, 2012, http://focus-migration.hwwi. de/index.php?id=1231
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›Kampf‹ gegen irreguläre Migration rückte in den Fokus. Die Einführung der sogenannten Pasqua-Gesetze war heftig umstritten. Die Proteste fanden ihren Höhepunkt 1996 in der Besetzung einer Kirche in Paris durch Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern und Flüchtlingen aus China, die lange Jahre ohne Aufenthaltsstatus in Frankreich gelebt hatten und auf ihre prekäre Situation aufmerksam machen wollten. Tausende unterstützten die Protestaktionen der sans papiers, Menschen ohne rechtlich geregelten Aufenthaltsstatus in Frankreich. Die Regierung unter Premierminister Lionel Jospin nahm ab 1997 viele der restriktiven Regelungen zurück bzw. schwächte sie ab. Zudem führte sie einen speziellen Einwanderungsstatus für hochqualifizierte Arbeitnehmer ein. Im Jahr 1997 wurde außerdem ein Legalisierungsprogramm für Eingewanderte aufgelegt, die sich ohne entsprechende Erlaubnis im Land aufhielten. Mit dem Antritt der konservativen Regierung im Jahr 2002 kann eine Rückkehr zu einer restriktiveren Einwanderungspolitik beobachtet werden. Diese Linie wurde unter der Regierung von Nicolas Sarkozy weitergeführt. Anfang 2008 lebten ca. fünf Millionen Einwanderer in Frankreich. Trotz der restriktiven Politik ist die Einwanderung nach Frankreich in den letzten Jahren stetig gestiegen.101 Einen großen Teil der französischen Bevölkerung machen die sogenannten Einwanderer der zweiten und dritten Generation aus. Schätzungen für das Jahr 2010 gehen davon aus, dass rund 6,4 Millionen in Frankreich lebende Personen zu dieser Gruppe gezählt werden können. Dies entspricht einem Anteil von 10,4 Prozent der Gesamtbevölkerung.102 Die französisch-universalistische Idee von Integration, die bis heute vorherrscht, möchte Einwanderer in citoyens verwandeln, da die kulturellen Voraussetzungen der Staatsbürgerschaft durch Sozialisation erworben anstatt vererbt werden. Somit wird sehr großer Wert auf Sprache und Bildung gelegt. Dabei wird die französische Nationalkultur sehr stark von der ›Hochkultur‹ 101 | So stieg der Zuzug ausländischer Studierender von rund 50.000 Personen in den Jahren 2007 und 2008 auf rund 60.000 Personen 2010 und 2011. Vgl. ebd. 102 | Die Zusammensetzung der Gruppe der Nachkommen von Einwanderern spiegelt die Migrationsgeschichte Frankreichs wider. 3,3 Millionen Personen mit Zuwanderungsgeschichte hatten mindestens ein Elternteil, das aus einem europäischen Land nach Frankreich eingewandert war, vor allem aus Italien, Spanien und Portugal, also aus Ländern, die bereits in Frühphasen der Arbeitsmigration seit dem 19. Jahrhundert einen Großteil der ausländischen Arbeitskräfte in Frankreich stellten. Weitere 1,8 Millionen Personen waren Nachkommen von Zuwanderern aus dem Maghreb, also aus ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika. Die übrigen rund 1,3 Millionen Personen mit Zuwanderungsgeschichte hatten ihre Wurzeln in anderen Regionen Afrikas und in Asien, also in Herkunftsgebieten, aus denen sich die jüngere Zuwanderung nach Frankreich speist. Bei den Nachkommen von Einwanderern handelt es sich um eine junge Bevölkerung. Vgl. ebd.
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dominiert, die stellvertretend den französischen Staat repräsentiert. Sehr lange hat der Erhalt der kulturellen Traditionen und die französische Sprache die Kulturpolitik dominiert. Im letzten Jahrzehnt wurde eine Veränderung hin zur Förderung der Kultur für jede Person verfolgt.103
2.5.2 Die französische Theaterszene Das republikanische Konzept der Staatsbürgerschaft basiert auf der Gleichheit aller in Frankreich geborenen und eingebürgerten Menschen, aber es verweigert die Anerkennung von ethnischen, religiösen, sprachlichen oder anderen kulturellen Minderheiten.104 Aufgrund dieser rechtlichen Rahmenbedingungen war es für eingewanderte Künstler bis weit in die achtziger Jahre hinein fast unmöglich, eigene Theatergruppen zu gründen.105 In dieser Zeit waren die friches – die Freie Szene in Frankreich – der einzige theatrale Raum, in dem artists of color arbeiten konnten. In Frankreich – wie auch in anderen europäischen Ländern – waren die friches aus den sozial engagierten Künstlerbewegungen der 1968er hervorgegangen. Daher entwickelte sich eine sozial eingebettete künstlerische Praxis, die artists of color in ihre Arbeit und Beziehungen einband.106 Nun haben sich in den letzten 20 Jahren einige artists of color etablieren können, unter ihnen Moïse Touré und seine Theatergruppe Cie Les Inachevés, die er 1984 in Grenoble als Amateurtheater gründete. Touré arbeitete als Assistent von George Lavaudant am Odéon-Théâtre de l’Europe. Von 2000 bis 2003 war er im Scène Nationale Artchipel Guadeloupe tätig, wo er die Grundlage für ein dramatisches Repertoire im kreolischen Theater schuf. 2010 bis 2012 war Moïse Touré am Nationaltheater in Tokio, wo er Quai Ouest von Bernard-Marie Koltès inszenierte, und er entwickelte das Projekt Ville-monde/ville utopique in San Francisco. Mit seiner Theatergruppe inszenierte er drei Werke von Marguerite Duras in Burkina Faso. Die Truppe tourte mit ihren Theaterstücken im Herbst 2012 durch Vietnam und 2013 durch Frankreich. Die Originalität dieser Arbeit liegt in der Vorbereitung für die Inszenierung: An jedem Inszenierungsort wurden professionelle Schauspieler wie auch Amateure gecastet und in Workshops für Theater, Singen und Tanzen auf die Proben vorbereitet. Touré bezeichnet seine Darsteller als acteurs témoins – aktive Zeugen –, weil sie neben den vorbereitenden Workshops jeden Schritt der Schaffung der Inszenierungen miterlebten.107 103 | Vgl. J. Bloomfield: Crossing the rainbow, S. 42. 104 | Vgl. European Institute for Comparative Cultural Research, http://color.ericarts. org/web/index.php 105 | Vgl. J. Bloomfield: Crossing the rainbow, S. 44. 106 | Vgl. ebd., S. 49. 107 | Vgl. »Marguerite Duras en Afrique – I: Moïse Touré et ses acteurs témoins«, http:// color.franceculture.fr/emission-sur-les-docks-ouagadougou-guantanamo-sanaa-14marguerite-duras-en-afrique-–-i-moise-toure-e
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Mohamed Rouabhi ist ein Künstler aus Paris. Er verließ die Schule im Alter von 15 und übte eine Vielzahl von Gelegenheitsjobs aus, bevor er 1985 an der École Nationale Supérieure d’Arts et des Techniques du Théâtre angenommen wurde. Er ist Schauspieler, Regisseur, Dramatiker, Librettist, Drehbuchautor. Zunächst als Schauspieler tätig, gründete er zusammen mit der Regisseurin Claire Lasne im Jahre 1991 die Theatergruppe Les Acharnés. Seither produzierten sie zahlreiche Theaterstücke, unter anderem auch Les Acharnés (1993), Les Fragments de Kaposi (1994), Ma petite Vie de Rien du tout (1996) und Jeremy Fisher (1997). Rouabhis Stücke wurden auch von anderen zeitgenössischen Regisseuren sowohl innerhalb Frankreichs wie auch international inszeniert. Von 2007 bis 2008 produzierte Rouabhi das Theaterstück Vive la France im Théâtre Gérard Philipe, eine Großproduktion, die mehr als 40 Künstler auf die Bühne brachte. Im Jahr 2007 wurde sein Stück Jeremy Fisher als Libretto adaptiert und anschließend an der Opéra de Lyon unter der Leitung von Michel Dieuaide inszeniert.108 Ein weiterer gegenwärtig erfolgreicher Künstler ist Lazare, Schriftsteller, Regisseur, Schauspieler und Improvisator. Er studierte an der École du Théâtre National de Bretagne und benannte seine Theatergruppe Vita Nova in Referenz auf Dantes Göttliche Komödie.109 Ab 2008 hat sich ein ›harter Kern‹ von Künstlern um Lazare gebildet, mit denen er 2011 die zu einer Trilogie gehörenden Passé – je ne sais où, qui revient sowie Au pied du mur sans porte erarbeitete – zwei Titel, die von den Werken Pessoas inspiriert wurden. Mittlerweile ist auch der letzte Teil Rabah Robert beendet worden. Die Trilogie handelt von der Figur des Libellule, einem Alter Ego Lazares, und seiner Familie und knüpft an die in Frankreich und Algerien angesiedelte Familiengeschichte seiner eigenen Biografie an. Lazares Theaterarbeiten sind dokumentarisch und utopisch zugleich. Sie handeln von der Realität und von den Träumen der Protagonisten. Er verurteilt seine Figuren nicht, sondern gibt ihnen den fiktiven Raum des Theaters zur Entwicklung ihrer eigenen Wirklichkeiten. Lazare wurde mit Vita Nova und ihrem Stück Au pied du mur sans porte 2013 zum Festival d’Avignon eingeladen.110 Schließlich soll hier Leyla Claire Rabih vorgestellt werden. Sie studierte Theaterwissenschaft und Romanistik in Frankreich und wechselte dann zur Schauspielregie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin. Ihre ersten Arbeitserfahrungen sammelte sie an deutschen Stadt- und Staatstheatern (Deutsches Theater Göttingen, Staatstheater Cottbus). Sie war unter 108 | Vgl. die Homepage des Theaters http://color.lesacharnes.com/Mohamed-Rouabhi-Biography.pdf 109 | Vgl. »Über den Künstler Lazare«, http://color.franceculture.fr/personne-lazare. html 110 | http://color.festival-avignon.com/en/«Artiste/208
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anderem Regieassistentin bei Thomas Ostermeier und arbeitet vorwiegend an und mit Texten von jungen und zeitgenössischen Autoren. Unter anderem gibt sie die Reihe Scène – Neue französische Theaterstücke mit Frank Weigand heraus. Im Januar 2007 übernahm sie die Leitung der Theaterkompanie Grenier de Bourgogne am Théâtre Mansart in Dijon. Im Januar 2008 gründete sie ihre Theaterkompanie Grenier/Neuf mit dem Ziel, das zeitgenössische Theater für ein Publikum zu öffnen, welches bisher keinen Zugang zu diesem Theaterstil hatte. Parallel dazu arbeitet sie weiter in Deutschland: Sie inszenierte Der Schnitt von Mark Ravenhill 2008 und Nordost von Torsten Buchsteiner 2009 am Theater Konstanz.111
2.6 Großbritannien 2.6.1 Migration in Großbritannien Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern hat Großbritannien aufgrund seiner kolonialen Geschichte viele Künstler und Kulturschaffende angezogen, die aus dem Commonwealth stammen. Sie kamen nach Großbritannien, da sie die künstlerische Freiheit und den Austausch mit europäischen Künstlern suchten. Bis in die sechziger Jahre gewährte Großbritannien Einwanderern jedoch keine Partizipationsrechte. Rassistische Übergriffe und politische Ausschließungen in den sechziger und siebziger Jahren führten zu einer politischen Mobilisation und Selbstorganisation der Einwanderer. Die in den sechziger Jahren entstandene Menschenrechtsbewegung war Antrieb für Schwarze Aktivisten und Kulturschaffende, auch in der Kunst- und Kulturszene Großbritanniens eine Bewegung von Künstlern of color in Gang zu setzen. In den achtziger Jahren wurde von der neoliberalen Regierung unter Margaret Thatcher die Privatisierung und Kommerzialisierung der Kultur vorangetrieben, die auch als »Thatcherising of the Arts Council«112 bezeichnet wird. Unter dem new social movement gegen Thatchers neoliberale Regierung, an der sich viele artists of color beteiligten, wurde der allgemeine Zugang zur Hochkultur forciert. Es wurden beispielsweise Festivals veranstaltet, die die Vielfalt des kollektiven Gedächtnisses in Großbritannien durch Künstler of color und Kulturinstitutionen förderten.113 Diese Wiederbelebung des black art movement 111 | Leyla Claire Rabih im persönlichen Gespräch. 112 | Der Begriff thatcherism wird unter anderem Stuart Hall zugesprochen, der in seinem Aufsatz in Marxism Today den Terminus in kulturtheoretischem Zusammenhang verwendet. Vgl. Hall, Stuart: »The Great Moving Right Show«, in: Marxism Today (1979); siehe auch Chin-tao, Wu: Privatising Culture. Corporate Art Intervention since the 1980s, London: Verso 2002, S. 65. 113 | Vgl. Jermyn, Helen/Desai, Philly: Arts – what’s in a word. Ethnic minorities and the arts, London: Arts Council England 2000, S. 11f.
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wurde von Vertretern der zweiten Einwanderungsgeneration vorangetrieben, die in Großbritannien aufgewachsen waren und sich mit Fragen der Identität und Repräsentation in der britischen Gesellschaft beschäftigten. Der Arts Council England legte schließlich »cultural diversity« mit dem Fokus auf »ethnicity« als einem seiner Schwerpunkte fest.114 Anlass war die Veröffentlichung des MacPherson Reports im Jahre 1999, woraufhin Antidiskriminierungsmaßnahmen an allen öffentlichen Institutionen ergriffen wurden. Obwohl der Kampf gegen institutionalisierten Rassismus in allen Gesellschaftsbereichen inklusive des Theaters sinnvoll erscheint, wurden die Maßnahmen auch mißbilligt. Die Kritiker, meist Künstler und Kulturtheoretiker of color, hielten solche Eingriffe zwar für sinnvoll und sahen spürbare Auswirkungen auf die Kunstszene; gleichzeitig führten diese aber zur Separation von Künstlern aus der Mehrheitsgesellschaft und aus ›ethnischen Minderheiten‹. Der Initiative des Arts Council England war es nicht gelungen, die bestehende Polarisierung zwischen ethnic arts und mainstream arts aufzuheben. Es wurde zudem kritisiert, dass die Maßnahmen zu keiner Veränderung des nationalen Profils führten, sondern dass sie sogar den Diskurs über Rassismus in der Kunst durch die Trennung und ›Alibi‹-Aktionen pauschalisierten.115 »And will showcasing culturally diverse work – as the Decibel initiative purports to do – help that critic to drop his ethnic lens? I very much doubt it.«116 Der Arts Council England stelle Ethnizität und Inklusion über die ästhetische Bedeutung der Kunst. Es sei erforderlich, den eurozentristischen Blick auf die Kunst aufzuheben, was durch Kulturpolitiker of color ermöglicht werden könne, die sowohl die kulturelle Kompetenz als auch das Wissen über kulturelle Traditionen mitbrächten.117 Artists of color haben weitreichende Veränderungen in der britischen Theaterlandschaft hervorgerufen, deren Archivierung und Tradierung durch Kulturtheoretiker wie Stuart Hall, aber auch durch streitbare, kulturpolitische Maßnahmen des Arts Council vorangetrieben werden. Die Künstler haben aber trotzdem mit Stereotypisierung und Reduzierung ihrer Arbeit auf die »Ethnie« zu kämpfen.
114 | Vgl. Arts Council (Hg.): »What is the Creative Case for Diversity«, http://color. artscouncil.org.uk/media/uploads/pdf/What_is_the_Creative_Case_for_Diversity.pdf 115 | Vgl. Hylton, Richard: The Nature of the Beast: Cultural Diversity and the Visual Arts Sector. A Study of Policies, Initiatives and Attitudes 1976-2006, Bath: Icia Institute of Contemporary Interdisciplina 2007, S. 19. 116 | Vgl. Verma, Jatinder: »The Arts and Cultural Diversity«, London 2003, http://color. butterfliesandwheels.com/articleprint.php?num=29 117 | Vgl. ebd.
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2.6.2 Die britische Theaterszene Es gibt eine lange Liste von Theatergruppen, die sich seit den siebziger Jahren in England etablieren konnten. Tara Arts war die erste asiatisch-britische Theatergruppe, die zu einer Plattform von asiatisch-britischen Künstlern wurde. Tamasha, Temba und Nitro sind ebenfalls Theatergruppen von Theatermachern of color, die sich in der britischen Theaterszene über die letzten Jahrzehnte einen Namen gemacht haben. Hier sollen jedoch drei Theaterhäuser dargestellt werden, die gerade aufgrund ihrer internationalen wie auch politischen Theaterproduktionen in den letzten Jahren nennenswert sind. Eine davon ist Tara Arts. Der künstlerische Leiter Jatinder Verma ist mittlerweile ein angesehener Künstler, der als erster British-born Asian am National Theatre London inszenierte. Verma ist kein ausgebildeter Theatermann; er hat wie viele artists of color aufgrund der in den siebziger Jahren herrschenden Situation seinen Weg zur Kunst gefunden.118 Verma meint: »Our impetus at the time was to find a voice.« 119 Der Sprachlosigkeit der Zeit konnte Verma nur in der künstlerischen Auseinandersetzung auf der Bühne begegnen. Er gründete 1976 Tara Arts als erste britisch-südasiatische Theatergruppe in Großbritannien. Seiner Ansicht nach bestand die Notwendigkeit einer eigenen Theatergruppe von black artists mit einer eigenen Ästhetik und selbstbestimmten Inhalten. Verma wollte sich der eurozentristisch ausgerichteten britischen Theaterszene widersetzen, die das asiatische Theater als ethnische Kunst im Sinne von Folklore wahrnahm und keinen Raum für Künstler nichtweißer Herkunft zuließ. Erst nach zehn Jahren und einem harten Kampf gegen die Förderungsstrukturen erhielt Tara Arts schließlich 1986 eine Existenzförderung (venue funding) durch den Arts Council. Existenzförderung ist in Großbritannien die ultimative Finanzierung für Theaterhäuser, da sie für eine Dreijahresperiode ausgelegt ist und dadurch mittelfristige Planung erlaubt. Gleichzeitig kann sie immer wieder erneuert werden. Dies war für Tara Arts von 1986 bis 2008 der Fall, bis die Förderung gekürzt und die Theatergruppe zu einer Konzentration auf die Zusammenarbeit mit der Gemeinde und den Schulen genötigt wurde. Das zweite wichtige Theater aus postmigrantischer Perspektive ist das Arcola Theatre, das 2000 von Mehmet Ergen und Leyla Nazli gegründet wurde. Arcola ist bekannt geworden für die Vielfalt seines Programms, das sowohl neue Dramatik wie auch klassische Dramen präsentiert. Es bringt eigene Produktionen heraus und zeigt Gastspiele von britischen wie auch internationalen Theatergruppen. Arcola Theatre war an dem Projekt Europe Now beteiligt und inszenierte in diesem Zusammenhang die Produktion Mare Rider. Das Stück 118 | Vgl. Ley, Graham: »Tara Arts. 1977-1985«, in: Sarah Dadswell/ders. (Hg.), British South Asian Theatres. A Documented History, Exeter: University of Exeter Press 2011, S. 3-56, hier S. 13ff. 119 | Jatinder Verma im persönlichen Interview.
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handelt von Selma, einer selbstständigen modernen Frau, die nach der Geburt ihres toten Kindes in einem Krankenhaus im Osten Londons im Delirium liegt. In einem surrealistischen Alptraum wird sie von Elka, einer mythischen Gestalt, heimgesucht. Elka, so erzählt man sich vor allem in der türkischen Mythologie120, jagt seit Jahrtausenden frischentbundene Mütter und nimmt ihnen die Kinder weg. Sie reitet durch die Steppen Asiens und lebt auf dem Pferd ihre Freiheit. »To me Elka is a representation of early feminism«, sagt die Autorin Leyla Nazli. »She represents freedom – to ride horses and get drunk, hunt and do all those things which thousands of years ago women were probably forbidden to do.«121 Selma kennt die Geschichten über Elka schon seit ihrer Kindheit, womit ein Hinweis auf ihre türkische Herkunft gegeben wird, ohne es explizit auszusprechen. In Mare Rider wird Migration aus feministischer Sicht beleuchtet. Leyla Nazli wurde als eine der wichtigsten zeitgenössischen Theaterautorinnen Englands (Royal Court Fifty) 2007 vom Royal Court ausgezeichnet. Schließlich ist das Bush Theatre ein wichtiges Theater. Es hat sich seit seiner Gründung 1972 als Theaterhaus etablieren können. Mit der Benennung von Madani Younis als Intendant im Jahre 2012 wurde der Schwerpunkt des Hauses auf die neuen artists of color gelegt. Younis war zuvor künstlerischer Leiter des Freedom Studios in Bradford, Yorkshire. Seine erfolgreichste Produktion war The Mill – City of Dreams, das auf den Erzählungen der lokalen und zugewanderten Arbeitnehmer der Mühle basierte und sich der Geschichte der Stadt sowie Fragen der urbanen Zukunft stellte. Das Bush Theatre zeigt Theaterstücke, die zeitgenössische Geschichten aus verschiedenen gesellschaftlichen Perspektiven erzählen. Gerade an der Zusammensetzung des Publikums, das mehrheitlich aus Personen of color besteht, kann der Erfolg dieses Theaters abgelesen werden. Wie viele andere britische Theaterhäuser bietet das Bush Theatre die Möglichkeit einer direkten künstlerischen Ausbildung bzw. Weiterbildung für talentierte artists of color.122
2.7 Schweden 2.7.1 Migration in Schweden Schweden hat eine relativ hohe Zuwanderungsrate; unter den 9,4 Millionen Einwohnern des Landes sind rund 200 Nationalitäten vertreten. 19,1 Prozent der Einwohner Schwedens hatten im Jahre 2010 einen Migrationshintergrund. Dabei sind die Finnen die größte Einwanderergruppe; in den letzten Jahren 120 | Vgl. Nazli, Leyla: »Juggling myth and reality«, in: Hackney Citizen, London 2011, http://hackneycitizen.co.uk/2013/01/15/leyla-nazli-arcola-mare-rider-interview/ 121 | Ebd. 122 | Vgl. die Homepage des Theaters http://color.bushtheatre.co.uk/futures/
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stammen die Einwanderer hauptsächlich aus dem Irak, aus Somalia und aus Polen. Die schwedische Integrationspolitik galt lange Zeit als eine der offensten und erfolgreichsten.14 Der skandinavische Wohlfahrtsstaat verfügt über einen großen öffentlichen Sektor, der umfassende soziale Sicherheitssysteme bietet, die allen Einwohnern offenstehen. Gleichberechtigung, Solidarität, Kooperation und Konsens sind Kernbestandteile dieses Systems, das in den letzten Jahren jedoch vielfach infrage gestellt wurde. In den sechziger und siebziger Jahren fanden Einwanderer in Schweden noch problemlos freie Stellen. Mitunter versorgte die Industrie sie mit Unterkünften, und die Gewerkschaften halfen bei der Integration. In der Schule erhielten Kinder aus eingewanderten Familien das Recht, einige Stunden pro Woche in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. Auch bekamen die kommunalen Bibliotheken finanzielle Mittel für die Anschaffung von Lexika, Zeitschriften und Büchern in den am häufigsten vertretenen Einwanderersprachen. In dem damals stark sozialdemokratisch geprägten Schweden herrscht die Ansicht vor, dass die Zuwanderer bleiben würden. Bereits im Jahr 1968 wurde der oben skizzierte egalitäre Ansatz in den »Richtlinien für die Ausländerpolitik« verankert: Einwanderer sollten die Möglichkeit haben, den gleichen Lebensstandard wie der Rest der Bevölkerung zu erreichen.16 Schweden begann in dieser Phase, sich zu einem multikulturellen Staat zu entwickeln. 1975 räumte die Regierung eingewanderten Personen das aktive und passive Wahlrecht für Kommunalwahlen und Wahlen der Provinzparlamente ein. In den achtziger und neunziger Jahren, als sich die Flüchtlingsströme und der Familiennachzug nach Schweden ausweiteten, wurde das über die Jahre geprägte Image der Großzügigkeit und Gleichberechtigung jedoch zunehmend als Belastung empfunden. Die Regierung sah sich gezwungen zu demonstrieren, dass Schweden die Einwanderung begrenzen kann. Als Voraussetzung einer weiterhin funktionierenden Integration galt nunmehr eine striktere Zuwanderungskontrolle. Im Jahr 1991 gelang der populistischen, rechtsgerichteten Partei Neue Demokratie (Ny Demokrati) der Einzug in den schwedischen Reichstag und es kam zu Anschlägen rechtsextremer Gruppen auf Unterkünfte für Asylbewerber und Moscheen. Das von vielen Schweden verinnerlichte Selbstbild eines offenen und toleranten Landes war angeschlagen. Um einem Rechtsruck in der Gesellschaft entgegenzuwirken, wurde eine neue Integrationspolitik eingeführt. Die Herabsetzung der Sozialhilfe als Gegenmaßnahme, aber auch eine Erleichterung der Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen, sollten dabei helfen, Einwanderer in den schwedischen Arbeitsmarkt zu integrieren. Allerdings sind Maßnahmen zur Antidiskriminierung wie auch der Familienzusammenführung immer noch ein starker Teil der Integrations-
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politik.123 Eine nachhaltige Wirkung hatte der Bombenanschlag von 2010, bei dem der Attentäter, ein irakisch-schwedischer junger Mann, sich selbst tötete und zwei weitere Personen in der Innenstadt Stockholms verletzte.124 Auf das Attentat und seine Folgen für die schwedische Gesellschaft wird an anderer Stelle näher eingegangen.
2.7.2 Die schwedische Theaterszene Das Verständnis von Teilhabe schlug sich verhältnismäßig früh in der schwedischen Kunst- und Kulturszene nieder. Artists of color haben sich in den letzten zehn Jahren ihren Weg in die schwedische Kulturinstitution gebahnt. Eine Einrichtung, die dies bereits sehr früh gefördert hat, ist Intercult, eine unabhängige Produktions- und Distributionsinstitution. Seit 1996 arbeitet das Kollektiv um Intercult in Schweden und in Europa als Initiator von kollaborativen Kulturprojekten und Netzwerken. Es stößt groß angelegte Koproduktionen auf europäischer Ebene an und verbindet lokale und internationale Initiativen. Intercult bietet im Rahmen von Seminaren, Konferenzen, Vorträgen und Mentoring Möglichkeiten, Erfahrungen zu teilen. Chris Torch ist einer der Gründer und der künstlerische Leiter von Intercult. Rani Kasapi hat ebenfalls lange Zeit für Intercult gearbeitet, bis sie zum Riksteatern wechselte und dort den Bereich der internationalen Zusammenarbeit übernahm. Das Nationaltheater Riksteatern in Stockholm ist das größte Theater in Schweden und versteht sich als tourende Einrichtung. Unter Kasapis Leitung wurde der Bereich der internationalen Zusammenarbeit ausgeweitet und viele Produktionen von und mit Theatermachern of color sind entstanden. So konnten sich über die letzten acht Jahre viele Theatermacher in Schweden etablieren und ebenfalls ein Publikum of color gewinnen. Rani Kasapi und das Riksteatern haben maßgeblich das europäische Projekt Europe Now initiiert. Ein wichtiger schwedischer Theaterautor ist Jonas Hassen Khemiri. Bereits 2003 machte er mit seinem Debütroman Das Kamel ohne Höcker auf sich aufmerksam, für den er den renommierten Borås-Tidnings-Debütpreis bekam. Dem Folgeroman Montecore wurde 2006 der Per-Olov-Enquist-Preis zuerkannt. Als Dramatiker trat er erstmals 2006 mit Invasion! am Stadttheater in Stockholm in Erscheinung. 2008 präsentierte Khemiri God Times Five, sein zweites Bühnenstück. Diesem folgte We Are A Hundred, das 2009 am Stadttheater in Göteborg uraufgeführt wurde und 2010 den HEDDA-Award für das beste Theaterstück erhielt. In seinen Werken setzt er sich mit aktuellen gesell123 | Vgl. Parusel, Bernd: Dossier Migration Schweden, Bundeszentrale für politische Bildung. 2009, http://color.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/57839/ schweden 124 | Vgl. »Selbstmordattentat in Stockholm«, in: Der Spiegel, http://color.spiegel.de/ thema/selbstmordattentat_stockholm_2010/
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schaftlichen Ereignissen auseinander, wobei die Erfahrungen von Menschen of color mit Rassismus und Ausgrenzung in der schwedischen Gesellschaft im Vordergrund stehen. Seine Theaterstücke werden in vielen europäischen Theaterhäusern gespielt. Sein jüngstes Drama I call my brothers entstand im Rahmen des Projektes Europe Now und wurde unter anderem 2013 als Koproduktion vom Ballhaus Naunynstraße und dem Landestheater Niederösterreich inszeniert. Farnaz Arbabi ist Regisseurin, Dramatikerin, Journalistin und Autorin und arbeitet sehr eng mit Jonas Khemiri zusammen. Sie hat am Dramatiska Institutet in Stockholm Regie studiert. Sie inszeniert sowohl klassische schwedische Dramen an Stadttheatern wie auch neue Dramatik und eigene Produktionen aus der Perspektive von Personen mit Ausgrenzungserfahrungen in der schwedischen Gesellschaft. Die letzte gemeinsame Arbeit mit Jonas Khemiri war I call my brothers, das am Stadsteater Stockholm uraufgeführt wurde. Eine ebenfalls sehr erfolgreiche Künstlerin ist Nasim Aghili, Regisseurin, Autorin und Performerin, die sich mit Rassismus vor allem aus feministischen und queer-feministischen Perspektiven beschäftigt. Ihre Performances, Theaterinstallationen und Kompositionen kreisen um Erfahrungen von Menschen, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen nach Schweden geflohen sind und dort im Exil leben. In den hauptsächlich an öffentlichen Orten stattfindenden Projekten werden Körper und der Blick auf Körper thematisiert. Ihre theoretischen und praktischen Arbeiten reflektieren ihre Perspektive einer Schwedin mit Diasporaerfahrungen. In ihrem eigenen Verlag gibt Nasim Aghili die queer-feministische und postkolonial ausgerichtete Kunstzeitschrift Ful heraus, die 2010 als bestes schwedisches Kulturmagazin ausgezeichnet wurde. Ful ist ebenfalls der Name der Theatergruppe, mit der Aghili zusammenarbeitet. Eine erfolgreiche Produktion war Blood Wedding, die als Klanginstallation mit elf iranisch-schwedischen Akteuren auf Schwedisch und Farsi entstand und im Audiorama Stockholm aufgeführt wurde. Ein weiteres Theaterstück ist Om vi kunde gå hem till mig (Wenn wir zu meinem Platz gehen könnten), das sich mit obdachlosen und ›illegalen‹ Kindern in Schweden beschäftigt und auch mit diesen umgesetzt wurde. Nasim Aghili ist zudem Mitglied des schwedischen Kulturrats und im Steuerungsteam für die Förderungsvergabe von freischaffenden Künstlern und Theatergruppen tätig. Sie sitzt auch in der Jury der ersten schwedischen Biennale für darstellende Künste.
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2.8 Italien 2.8.1 Migration in Italien Für eine lange Zeit war Italien ein Auswanderungsland; gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten viele Menschen aus dem Süden Italiens in die Vereinigten Staaten aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten zudem viele als Gastarbeiter innerhalb von Europa um. Das Land entwickelte sich innerhalb einer recht kurzen Zeitspanne von einem Aus- zu einem Einwanderungsland. Ab Ende der 1970er Jahre kamen immer mehr Immigranten nach Italien. Im Vergleich zu den nordwesteuropäischen Ländern erfolgte die Einwanderung nicht in einer Phase des Wiederauf baus und der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern in einer Zeit der tiefen Wirtschaftskrise, gekennzeichnet durch einen erheblichen Anstieg der Arbeitslosenquote. Lange Zeit blieb die Migration nach Italien nicht reglementiert. Erst unter dem Druck von anderen Schengenstaaten verabschiedete die Regierung Italiens im Jahre 1990 das Martelli-Gesetz, das die Grenzkontrollen verschärfte und die Visapflicht einführte. Darüber hinaus wurde die Abschiebung von irregulären Migranten nun mit Nachdruck durchgesetzt. Zum ersten Mal führte Italien damit Maßnahmen zur Regulierung der Zuwanderung ein. Allerdings verstärkte sich die irreguläre Zuwanderung über die Jahre.125 1998 wurde das Turco-Napolitano-Gesetz, Italiens erstes systematisches Migrationsgesetz, erlassen. Die Vorschrift sollte die Zahl der clandestiner (illegalisierten Menschen) verringern und verstärkte Maßnahmen zur Rückführung irregulärer Migranten in ihre Ursprungsländer durchsetzen. Allerdings stellte das Gesetz auch legale Zuwanderer mit italienischen Staatsangehörigen gleich, führte die Familienzusammenführung als eine Form der legalen Zuwanderung ein und ermöglichte es Ausländern, die seit mindestens fünf Jahren legal in Italien lebten, eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Unter Premierminister Silvio Berlusconi wurde 2002 das sogenannte Bossi-Fini-Gesetz verabschiedet, das Zuwanderung restriktiv handhabte, indem es einerseits die legale Zuwanderung begrenzte und andererseits härtere Maßnahmen im ›Kampf‹ gegen irreguläre Migration einführte. Folglich ist Drittstaatsangehörigen die Zuwanderung nur noch dann gestattet, wenn sie einen Arbeitsvertrag vorweisen können.126 In den folgenden Jahren nahm jedoch aufgrund der globalen Situation mit den unterschiedlichen Konfliktzonen in afrikanischen Ländern sowie in den 125 | Vgl. Länderprofile Migration: Daten – Geschichte – Politik. Italien, http://color. bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/145487/italien 126 | Vgl. ebd.
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Ländern des Nahen Ostens die Migration enorm zu, zwischen 2000 und 2010 um 400 Prozent. Aktuell ist die Wachstumsrate der Zuwandererbevölkerung eine der höchsten in der gesamten Europäischen Union. Die Mehrheit der Einwanderer sind Flüchtlinge und Asylsuchende, die über das Mittelmeer nach Italien fliehen. Europas Grenzmaßnahmen, die von der Organisation Frontex durchgeführt werden, haben Europa zu einer Festung gemacht, deren vornehmliche Aufgabe es ist, die Fliehenden vor europäischen Gewässern fernzuhalten. Nach mehreren größeren Unglücksfällen, insbesondere nachdem im Herbst 2013 400 Menschen vor den Küsten Italiens ertranken, hat die italienische Marine eine Rettungsaktion mit dem Namen Mare Nostrum ins Leben gerufen, die bis Oktober 2014 den Menschen helfen soll.127 Zur Zeit fordert die italienische Regierung eine verstärkte Verantwortung der europäischen Länder in Bezug auf Flüchtlinge.128
2.8.2 Die italienische Theaterszene In Italien ist die Theaterszene im klassischen Sinne interkulturell geprägt von dem Wirken Euginio Barbas und seiner interkulturellen Erforschung des theatralen Ausdrucks. Das italienische Theater ist internationalisiert und europäisiert, allerdings konnte sich nicht zuletzt auch aufgrund der politischen Situation keine Szene von artists of color bzw. Künstlern mit Einwanderungsgeschichte entwickeln. Der im Vergleich zu den nordwesteuropäischen Staaten wenig ausgeprägten Freien Theaterszene kann aber eine Vielzahl von Projekten mit und von Flüchtlingen und Asylsuchenden entgegengesetzt werden, die vornehmlich in den letzten Jahren entstanden sind. Das Projekt H.O.S.T. – Hospitality, Otherness, Society, Theatre – hat sich zum Ziel gesetzt, an der komplexen Dimensionen von Migration durch ästhetische Forschung und künstlerische Praxis zu arbeiten. Die künstlerische Arbeit, die als ›soziologische Forschung‹ angesetzt ist, wird von Künstlern aus dem Eufonia-Astràgali Teatro in Lecce und Wissenschaftlern der Universität in Salento durchgeführt. Das Projekt intendiert, den Einwanderern und Flüchtlingen eine Stimme zu geben, um ihre Erfahrungen auf theatrale Weise für viele Menschen, insbesondere Menschen mit ähnlichen Erfahrungen, sichtbar zu machen. H.O.S.T wurde von der Europäischen Kommission von 2007 bis 2013 finanziert.129 Acting Diversity ist ein Projekt, das von drei Kulturinstitutionen in Italien, Palästina und Großbritannien ausgeführt wird und sich mit interkulturellen Theaterworkshops an Asylsuchende, Immigranten und junge Menschen der 127 | Vgl. http://color.ansamed.info/ansamed/en/news/sections/generalnews/2013/ 10/15/Immigration-Italy-launches-Mare-Nostrum-400-saved_9466386.html 128 | Vgl. http://color.dw.de/eu-denkt-über-quoten-für-flüchtlinge-nach/a-17985303 129 | Vgl. http://color.astragali.org/project!20
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gesamten Welt richtet. Das Ziel der Workshops ist es, mit interkulturellem Dialog und der aktiven Förderung von Diversität eine demokratische und inklusive Gesellschaft mitzugestalten. In zwei Produktionen wurden Rassismus, stereotype Vorstellungen über den ›Anderen‹ sowie Migration, Staatsbürgerschaft und Bürgerrechte thematisiert.130 Das Teatro di Nascosto – Hidden Theatre unter der Leitung von Annet Henneman macht seit mehreren Jahrzehnten Dokumentationstheater bzw. theatre reportage. Das Teatro di Nascosto benutzt die Bühne, um die Geschichte den Menschen ohne eigene Stimme und aus marginalisierten Communitys Gehör zu verschaffen. Die Theaterarbeit pendelt zwischen Europa und dem Nahen Osten.131 Ein weiteres Theater, dass sich stark auf die Auseinandersetzung mit Flüchtlingen und den Rechten von Einwanderern fokussiert, ist das Teatro Aperto, das von Guido Ferrarini im Zuge der Nuovo Teatro Popolare im Jahre 1974 gegründet wurde. Damals stand die interkulturelle Kollaboration von Künstlern im Vordergrund, mittlerweile wird die Erfahrung von Einwanderern als Teil der europäischen zeitgenössischen Geschichte erzählt. Seitdem Lampedusa zum Symbol für die Tragik der europäischen Grenzen geworden ist, sehen sich die Künstler des Teatro Aperto noch mehr in der Pflicht, die menschenverachtende Politik auf ihrer Theaterbühne sichtbar zu machen.132 Der Journalist und Autor Jeff Biggers, der an dem Mare Nostrum-Projekt im Teatro Aperto beteiligt ist, hat dies folgendermaßen zusammengefasst: »For Ferrarini and other international members of Teatroaperto, including myself, the theater – as the stage for Europe’s unfolding Mare Nostrum challenges – can at least provide for a safe, healing and creative space, as well as a historical and narrative context, for such stories to be voiced and heard.«133
130 | Vgl. http://color.annalindhfoundation.org/granted-projects/2012/acting-diversityproject-intercultural-theatre-political-refugees-and-young#sthash.awdcIwGJ.dpuf 131 | Vgl. http://teatrodinascosto.com 132 | Vgl. http://color.teatroaperto.it 133 | http://color.huffingtonpost.com/jeff-biggers/beyond-mare-nostrum-itali_b_56 34746.html
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
Abbildung 1: »Verrücktes Blut«, Ballhaus Naunynstraße, Berlin, 2010, Foto: Ute Langkafel
Abbildung 2: »Verrücktes Blut«, Ballhaus Naunynstraße, Berlin, 2010, Foto: Ute Langkafe
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Abbildung 3: »Telemachos – Should I stay or should I go?«, Ballhaus Naunynstraße, Berlin 2013, Foto: Ute Langkafel
Abbildung 4: »Telemachos – Should I stay or should I go?«, Ballhaus Naunynstraße, Berlin 2013, Foto: Ute Langkafel
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
Abbildung 5: »Beg Your Pardon«, Ballhaus Naunynstraße, Berlin 2012, Foto: Ute Langkafel
Abbildung 6: »Jag ringa mina bröder«, kulturhuset stadsteatern Stockholm, 2013, Foto: Petra Hellberg
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Abbildung 7: »Jag ringa mina bröder«, kulturhuset stadsteatern Stockholm, 2013, Foto: Petra Hellberg
Abbildung 8: »No Mans Land« Das Kunst, Garage X Wien, 2006, Foto: Bernhard Mrak
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
Abbildung 9: »No Mans Land« Das Kunst, Garage X Wien, 2006, Foto: Bernhard Mrak
3. The ater der M inderheiten 3.1 Theoretische Überlegungen Dieses Kapitel soll dem Theater der Minderheiten im Kontext dieser Studie Platz einräumen. Im Exposé zum Forschungsprojekt war die Studie zunächst gedacht als Untersuchung von Theatermachern mit Einwanderungsgeschichte und solchen, die einer (kulturellen, religiösen, ethnischen etc.) Minderheit angehören. Im Laufe der Recherche wurde deutlich, dass eine solche Zusammenlegung beiden Themenkomplexen nicht gerecht werden kann, da die Interessen- und Identitätspolitik doch aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden müssen. Zunächst soll theoretisch begründet werden, warum ein Theater der Minderheiten wichtig ist. Anhand dreier Theater wird die Diversität von Minderheiten sowie Bedingung und Notwendigkeit für ein Theater der Minderheiten dargestellt. Allein an diesen Beispielen zeigt sich, dass die Rahmenbedingungen, innerhalb derer das Theater betrieben wird, unterschiedlicher nicht sein könnten. Schließlich wird im letzten Teil dieses Exkurses ein Vergleich zum postmigrantischen Theater gezogen, um mögliche Unterschiede und gemeinsame Interessen herauszuarbeiten.
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Die Frage, wie Minderheiten beschrieben werden können, stellt sich, da Minderheiten – ob indigene oder eingewanderte – sich in vielfacher Hinsicht von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden können. Der Unterschied kann in der ethnischen Herkunft, in kulturellen Traditionen, in der Sprache, der Religion oder in einer Kombination dieser Merkmale liegen. Oft werden diese verschiedenen Minderheitengruppen fälschlich unter einem Label zusammengefasst, wenn beispielsweise Menschen aus Pakistan, Bangladesch, Marokko und der Türkei als ›Muslime‹ bezeichnet werden, unabhängig von der geografischen, ethnischen oder tatsächlichen religiösen Herkunft. Der Versuch, Minderheiten fernab einer Fremdzuschreibung darzustellen, soll mit Gilles Deleuze’ Charakterisierung von Minderheiten unternommen werden. In »Gedanken einer kleinen Literatur« beschreibt Deleuze Minderheiten nicht durch ihre nummerische Anzahl, sondern durch eine bestimmte Eigenschaft: »its [der Minderheit, Anm. A.S.] capacity to become or, in its subjective geography, to draw for itself lines of fluctuation that open up a gap and separate it from the axiom constituting a redundant majority«134. Die Mehrheit wird dabei als das Homogene verstanden, das für die Machterhaltung eine Normativität braucht, um Selbstkontrolle zur Selbstbestätigung ausüben zu können.135 Dem kann die sogenannte Minderheit Fluchtmöglichkeiten entgegenstellen, um dem Zwang zur Homogenität zu entkommen. Gegen die Mehrheit kann die Minderheit Fluchtlinien entwerfen, Zwischenräume und Anders-Sein schaffen. Die Minderheit im Sinne von Deleuze hat die Kraft der Variation gegenüber einer um Konstanz und Statussicherung bemühten Mehrheit: »Minoritarian is seen as potential (puis-sance), creative and in becoming. Blacks, Jews, Arabs or women can only create by making possible a becoming, but never through ownership.«136 Die Minorität ist in einem ständigen Werden begriffen, hat keine festgelegte Identität – deshalb ist sie nicht zählbar: »A minoritarian politics does not have a pre-given (or transcendent) measure or norm for inclusion or identity. Each addition to the group changed [!] what the group is.«137 Die zugeschriebene Identität der Minderheit ist immer nur provisorisch und befindet sich in ständiger Veränderung. Wie können Themen der Minderheiten verhandelt werden? Zeitgenössisches Theater wird offensichtlich oft als Medium gewählt, um Themen der (ethnischen, kulturellen, religiösen etc.) Minderheit, soziale Ungerechtigkeit und Diskriminierung zu verhandeln oder allgemein Themen der breiten Öf134 | Conley, Verena: »Minoritorian«, in: Adrian Parr (Hg), The Deleuze Dictionary, Edinburgh: Edinburgh University Press 2005, S. 164-165. hier S. 164. 135 | Vgl. ebd. 136 | Ebd. 137 | Colebrook, Claire: Gilles Deleuze, London: Routledge 2002, S. 117.
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
fentlichkeit aus der Perspektive von Minderheiten zur Disposition zu stellen. Im Theater der Minderheiten wird unter anderem das kollektive Gedächtnis auf die Bühne gebracht. Theater ist ein privilegierter Ort, um die Traumata der Vergangenheit zu beleuchten, die Bestimmungen der eigenen Identität zu erforschen oder infrage zu stellen. Theater kann zur Katharsis (Reaktivierung) der Krise der kollektiven Identität einer Gruppe dienen und ist damit ein entscheidender Raum und eine Möglichkeit für Minderheiten, überhaupt sichtbar zu werden. Es ist ein Ort, an dem Authentizität beteuert werden kann und der eine differente Öffentlichkeit zur Legitimation der kulturellen Spezifikationen ermöglicht. Das Theater der Minderheiten ist zwar in den nationalen Theaterszenen nicht präsent bzw. sichtbar, aber es adressiert wichtige Themen wie die Konstruktion von Minderheiten, den Prozess der Exklusion und Differenz. Nach Deleuze können Theater der Minderheiten Elemente im Prozess der Selbstbewusstseinsbildung sein, in denen »a minority consciousness as a universalbecoming«138 geschaffen wird und der Repräsentation der Minderheit ein dynamischer Impuls für den Wandel entgegengesetzt werden kann. Theater ist aber auch der Raum, um festgelegte Identitäten in einem historischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Kontext oder im Kontext der Kolonialisierung zu hinterfragen.139
3.2 Roma in den europäischen Gesellschaften und das Theater der Roma Eine der am stärksten von rassistisch motivierter Ausgrenzung betroffenen Gruppen sind die Roma. Sie haben einen besonderen Status als Minderheit, denn sie sind seit dem Mittelalter in Europa ansässig. Ihre Ausgrenzung begann in der Frühen Neuzeit mit der Herausbildung der Territorialstaaten, und Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung bestimmen seit Jahrhunderten ihre Lebensumstände. Am ärgsten wurden Sinti und Roma unter den Nationalsozialisten verfolgt, als über fünf Millionen von ihnen in Deutschland und im besetzten Europa aus ›rassischen‹ Gründen ermordet wurden. Derzeit bilden etwa neun Millionen Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe die größte Minderheit Europas. Sie leben über ganz Europa verteilt, die meisten jedoch
138 | Deleuze, Gilles: »One Less Manifesto«, in: Timothy Murray (Hg.), Mimesis, Masochism and Mime. The Politics of Theatricality in Contemporary French Thought, Ann Arbor: University of Michigan Press 1997, S. 238-259, hier S. 256. 139 | Vgl. Gonzalez, Madelena/Brasseur, Patrice (Hg.): Authenticity and Legitimacy in Minority Theatre. Constructing Identity, Cambridge: Cambridge Scholars Publishing 2010. S. xiii.
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in Südosteuropa. Allein Rumänien, Bulgarien und Serbien beherbergen wohl über drei Millionen Roma. Immer noch müssen Sinti und Roma gegen massive Vorurteile in ganz Europa kämpfen. Eine der letzten Hetzkampagnen gegen Roma, die für internationales Aufsehen sorgte, wurde unter der Regierung von Nicolas Sarkozy durchgeführt. Sarkozy bezeichnete die angeblich illegalen Romasiedlungen als »Horte der Kriminalität«140. Die daraufhin einsetzenden Massenausweisungen von Roma stießen international auf heftige Kritik. Der UN-Ausschuss gegen Diskriminierung forderte einen sofortigen Stopp der Ausweisungen, da Kollektivabschiebungen menschenrechtswidrig seien. Auch die EU-Kommission reagierte und warf Frankreich einen Verstoß gegen das im EU-Vertrag verankerte Recht auf Bewegungsfreiheit von EU-Bürgern innerhalb der Union vor. EU-Justizkommissarin Viviane Reding drohte Frankreich mit einem Strafverfahren wegen der Verletzung der Charta für Grundrechte der EU. Frankreich lenkte daraufhin ein und kündigte die vollständige Umsetzung von EURecht an.141 Schon an diesem kurzen Abriss des politischen Status der Roma in Europa wird deutlich, dass die jahrhundertelange Ausgrenzung dieser Minderheit in allen Teilen Europas anhält. Umso wichtiger ist es, den stereotyp aufgeladenen Bildern eigene Perspektiven und Geschichtsdarstellungen auf künstlerischer Ebene entgegenzusetzen. Hier ist die europaweit erfolgreiche Gruppe Theater Pralipe ein gutes Beispiel. Das Theater Pralipe war zunächst in Skopje in Mazedonien tätig, wo ihre Theaterstücke über die Situation der ethnischen Minderheit zu Widerstand im Publikum und letztlich auch zum Ende der Finanzierung führten. Roberto Ciulli, der Leiter des Theaters an der Ruhr, gewährte im Jahr 1991 zu Beginn des Jugoslawienkriegs der Theatergruppe eine künstlerische Zuflucht. Als Teil des Theaters an der Ruhr entwickelte das Theater Pralipe eine eigene ästhetische Sprache und inszenierte zunächst klassische Stücke wie Shakespeares Romeo und Julia, Brechts Mutter Courage, Lorcas Bluthochzeit und Yerma. Ab 1995 erhielt die Theaterarbeit von Pralipe eine stärker politische Dimension, indem sie aktuelle Ereignisse aufgriffen. So wurden sie aus Protest gegen die Angriffe auf die Romabevölkerung im österreichischen Oberwald ins Wiener Burgtheater eingeladen und tourten unter dem Motto »Kultur gegen Gewalt« durch ostdeutsche Städte, um gegen die rassistischen Angriffe auf Asylbewerberheime in Rostock und Hoyerswerda zu protestieren.142 Durch zeitge140 | Fokus Migration. Länderprofil Frankreich (Onlinepublikation). 141 | Vgl. »Statement by Viviane Reding, Vice-President of the European Commission and EU Commissioner for Justice, Fundamental Rights and Citizenship, on the Roma situation in Europe«, Brüssel 2010, http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-10-384_en.htm 142 | Vgl. O. A.: »Overkill der guten Absichten«, in: Der Spiegel vom 1.2.1993, S. 170 (online unter: http://color.spiegel.de/spiegel/print/d-13687521.html).
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nössische Produktionen sollte das Leben der Roma ästhetisch auf der Bühne verhandelt werden, wie in dem Stück Tetovirime Vogja (Tätowierte Seelen) von Goran Stefanovski, das sich mit den Lebensumständen der Roma sowie den Wurzeln der Romakultur beschäftigt. Es wurde beim Interkulturellen Theaterfestival in Wien 1996 gezeigt. Ein anderes Theaterstück des Theater Pralipe ist Z 2001, die Tinte unter meiner Haut, das die Vernichtung der Sinti und Roma während des Nationalsozialismus thematisiert und sehr erfolgreich war. Trotz des internationalen Erfolges wurde bereits 2001 die Förderung des Theater Pralipe von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen gekürzt, sodass sich das Theater hochverschuldet auflösen musste.143 Der Pralipe-Schauspieler Nedjo Osman, 1996 Mitbegründer des Kölner TKO-Theaters, rief 2008 das erste Europäische Roma-Theater in Köln ins Leben, das eine Zusammenarbeit mit ausgebildeten Romaschauspielern aus Ungarn, Rumänien, Mazedonien und Serbien anstrebt. Die Theatermacher wollen sich europaweit für eine Professionalisierung der Romakultur einsetzen.144 2010 wurde von der IG Kultur Österreich ein EU-gefördertes Projekt namens Romanistan – Crossing Spaces in Europe ins Leben gerufen, das mit drei Romaselbstorganisationen aus dem Roma-Kulturzentrum in Wien, der FAGiC in Barcelona und mit Amaro Drom in Berlin ein europaweites Kulturprogramm realisieren sollte. Romanistan war als ein emanzipatorisches Projekt angelegt, das Kulturarbeit von Roma jenseits von Folklore zeigen wollte. In Selbstorganisation, Vernetzung und Etablierung nachhaltiger Strukturen und Strategien sollten Handlungsfreiräume geschaffen werden, um die Kulturarbeit der Roma in all ihrer Heterogenität und Vielfalt auf der europäischen Landkarte zu verorten. Zentrale Themen waren Selbstermächtigung und Kooperation sowie Medien und Öffentlichkeit. Die künstlerischen Konzeptionen bezogen die kulturelle Arbeit der Roma in den Communitys ein, um sie mittels Partizipation langfristig in eine emanzipatorische Form zu überführen. Mit Romanistan sollte ein offener Diskurs über die Mechanismen der Stigmatisierung und Diskriminierung geführt werden, bei dem Identität, kulturelle Selbstbestimmung, Chancen kultureller und politischer Bildung, die Bedeutung einer eigenen Sprache, Partizipation und empowerment sowie die Bewahrung kultureller Vielfalt und eine etwaige Repolitisierung der Romakultur thematisiert wurden. Dabei sollen Romakünstler selbst im Vordergrund stehen und der Blick jenseits von Ethnisierung und Romantisierung auf ihre künstlerischen Herangehensweisen und deren Bedingungen gerichtet werden.
143 | Vgl. J. Bloomfield: Crossing the Rainbow; »Roma-Theater Pralipe im Zirkuszelt«, http://color.minderheiten.org/pralipe.htm 144 | Vgl. die Homepage des Theaters http://color.tkotheater.de/logicio/pmws/index DOM.php?client_id=tko&page_id=roma&lang_iso639=de
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Ziel des zweijährigen Projekts war es, ein Kulturfestival und einen kulturellen Think-Tank aufzubauen, welche sich multidisziplinär und kritisch mit dem Thema »Roma und Kulturproduktion« auseinandersetzen sollten.145 Im April 2013 wurde dann in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin ein zweitägiges Festival veranstaltet, bei dem Filmvorführungen, Musik- und Tanzproduktionen von Romakünstlern gezeigt wurden, aber auch über die Schaffung von Räumen für Kulturproduktionen diskutiert wurde, die neue Denkweisen in der Arbeit gegen Stigmatisierung und Rassismus hervorbringen und sichtbar machen sollen.146 Romanistan gilt als Auftakt und soll sich langfristig als autonomer Kultur- und Diskursraum etablieren.
3.3 Deutsch-Sorbisches Volkstheater und das Sorbische National-Ensemble Bautzen Die Unterschiede werden sichtbar, wenn nun das deutsch-sorbische Theater Bautzen vorgestellt wird, das landesweit für sein Theater der Minderheiten bekannt ist. Die westslawischen Sorben leben seit dem 6. Jahrhundert in der Ober- und Niederlausitz (in Sachsen und Brandenburg). Das Volk der Sorben umfasst insgesamt 60.000 Personen und ist als nationale Minderheit anerkannt. Es hat seine eigene Identität durch die Geschichte hindurch bewahren und den verschiedensten Versuchen der Assimilierung widerstehen können.147 In Bautzen existieren zwei sorbische Theater: das Deutsch-Sorbische Volkstheater und das Sorbische National-Ensemble. Das Deutsch-Sorbische Volkstheater ist ein bikulturelles Theater, da die Produktionen in Deutsch und ober- und niedersorbischer Sprache gespielt werden. 1948 wurde das Sorbische Volkstheater, Serbske ludowe dźiwadło, gegründet, das zunächst nur ein Produktionsort war, denn die Aufführungen fanden in Gasthöfen von sorbischen Gemeinden statt. 1963 wurde aus dem Stadttheater Bautzen und dem Sorbischen Volkstheater das Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen, das seither ein großes Schauspiel- und Puppentheaterrepertoire auf bauen konnte. Die Zielgruppe wird als »jedermann« definiert, man betreibt programmatisch Volkstheater und versteht dieses als Gegensatz zum »großstädtischen Expertentheater«.148 Zum Repertoire des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters gehören klassische Volkstücke wie Im weißen Rössl von Ralph Benatzky, aber auch lokale Stoffe wie Das Volks-
145 | Vgl. die Homepage des Theaters http://color.amarodrom.de/romanistan 146 | Vgl. »Romanistan. Crossing Spaces in Europe«, Programmflyer, Berlin 2013, http://romanistan-berlin.de/pdf/ROMANISTAN_flyer_web_230313.pdf 147 | Vgl. »Sorben in Brandenburg«, http://color.mwfk.brandenburg.de/cms/detail. php/bb1.c.250117.de 148 | Siehe Homepage des Theaters http://color.theater-bautzen.de
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stück vom Johannes Karasek, genannt der Schrecken der Oberlausitz von Ralph Oehme. Das Sorbische National-Ensemble wurde im Jahre 1952 auf Anregung des nationalen Dachverbandes der Lausitzer Sorben gegründet. Gefördert durch die Stiftung für das sorbische Volk pflegen, bewahren und entwickeln die drei professionellen Sparten Ballett, Chor und Orchester die kulturelle Tradition der Sorben. In der Selbstdarstellung werden die »lebendigen Sitten und Bräuche des sorbischen Volkes« als Quelle und »Inspiration für eine einzigartige folkloristische Bühnenkunst« genannt.149 Es geht also um den Erhalt der eigenen Sprache, der eigenen Geschichte und der lokalen Traditionen. Eine Fusion zwischen dem Deutsch-Sorbischen Volkstheater und dem Sorbischen NationalEnsemble Bautzen scheiterte Ende 2003.
3.4 Bimah — jüdisches Theater Berlin Jiddisches Theater entwickelte sich aus Purim-Spielen, die ähnlich den christlichen Passionsspielen im Mittelalter entstanden. Grundvoraussetzung für die Entstehung des jüdischen Theaters waren Reformen von Moses Mendelssohn im 18. Jahrhundert, die eine neue geistige Orientierung und Aufklärung brachten, wobei Einschränkungen wie Verkleidungs- und Schauspielverbote und das Bilderverbot aufgeweicht oder abgeschafft wurden. Abraham Goldfaden gilt allgemein als Gründer der ersten professionellen jiddischen Theatertruppe, die in Iaşi (deutsch Jassy), Rumänien, im Jahr 1876 entstand und später nach Bukarest verlegt wurde. Während die meisten dieser Truppen musikalisches Varieté und leichte Komödie bevorzugten, widmete sich Goldfaden relativ schweren Operetten über biblische und historische Themen, vor allem auf einer längeren Tour durch die Städte des kaiserlichen Russland. Ebenfalls von großer Bedeutung für das jiddische Theater sind die Werke von Scholem Alechem. Das jiddische Theater breitete sich nach Russland aus, allerdings mussten zahlreiche jüdische Schauspieler in den Westen emigrieren, da die russische Regierung 1883 Theateraufführungen auf Jiddisch verboten hatte. Es wurden jiddische Theater in Paris, London, den USA (vor allem New York) und Südamerika gegründet. In New York erlebte das jiddische Theater in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit den Dramen von Jacob Gordin seine ›goldene Ära‹.150 Während Jiddisch vor allem in Osteuropa gesprochen wurde und sich dort viele bekannte Theatergruppen gründeten, gab es in Westeuropa zwar eben149 | http://color.sne-bautzen.de/index.php?id=2351&L=0 150 | Vgl. Berkowitz, Joel: Avrom Goldfaden and the modern Yiddish theatre. The Bard of Old Constantine, Winter: Hebrew Publishing Company 2004. S. 11.
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falls jiddische Bühnen und Theatergruppen, doch spielten diese im internationalen Vergleich zumeist nur eine geringe Rolle, da im Westen oft das assimilierte Judentum überwog. Allerdings entstanden auch in Westeuropa immer wieder Stoffe, die auch international an jiddischen oder jüdischen Bühnen aufgeführt wurden. Ab den dreißiger Jahren konzentrierte sich die Szene zunehmend auf New York, wo auch der jiddische Film seine Blütezeit erlebte. Nach dem Ende des Dritten Reichs wurde sehr lange Zeit kein jüdisches Theater in Deutschland gespielt. Erst im Jahre 1996 wurde der Verein zur Förderung der jüdischen Kultur und zur Errichtung des ersten jüdischen Kultur- und Theaterhauses in Deutschland e.V. und damit das erste jüdische Theater- und Kulturhaus Deutschlands der Nachkriegszeit, das Theater Michoels, ins Leben gerufen. 2001 gründete der israelische Regisseur und Schauspieler Dan Lahav das Jüdische Theater Bimah in Berlin. Es hat seit dem Herbst 2011 seine Spielstätte im Berliner Admiralspalast. Das feste Ensemble fühlt sich der Präsentation zeitgenössischer Stücke israelischer, englischsprachiger und deutsch-jüdischer Autoren verpflichtet. Auf dem Spielplan stehen unter anderem Bent von Martin Sherman, Das Zimmer von Harold Pinter oder Stücke wie Das Geheimnis der Pianistin in der 5. Schublade mit stark autobiografischen Bezügen zum Intendanten Dan Lahav und zu seiner hamburgisch-jüdischen Familiengeschichte. Esther Glick ist die fiktive Geschichte der ersten jüdischen Detektivin, der die Eingebungen zur Lösung ihrer Fälle beim Kochen kommen. Für besonderes Aufsehen sorgte die Inszenierung Eine unglaubliche Begegnung im Romanischen Café, in der eine fiktive Begegnung von Lotte Lenya, Else Lasker-Schüler, Erich Kästner, Kurt Tucholsky und Friedrich Hollaender einen Tag vor ihrer Emigration aus Nazideutschland auf die Bühne gebracht wird. In Shabat Shalom erlebt das Publikum einen Freitagabend in einer jüdischen Familie. Das Theater fühlt sich außerdem der politischen und gesellschaftspolitischen Bildungs- und Erziehungsarbeit verpflichtet, so durch die Unterstützung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen bei Migranten oder der Polizei.151
3.5 Das Theater der Minderheiten und postmigrantisches Theater In der Darstellung der Theater der Minderheiten wird deutlich, dass sie kaum unterschiedlicher sein können, denn je nach ethnischer, religiöser oder kultureller Gruppierung verfolgt die Theaterarbeit andere Interessen. Nur in den äußeren Merkmalen, den Rahmenbedingungen, lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen. So geht es in allen drei dargestellten Theatern der Minderheiten da151 | Vgl. Homepage des Theaters http://color.juedischestheaterberlin.de/Theater. php?Bereich=Geschichte
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
rum, Produktion, Distribution und Rezeption selbst zu bestimmen bzw. selbst zu repräsentieren. Grob unterteilt setzen sie sich entweder mit Themen auseinander, die die eigene Community betreffen, oder sie behandeln Gegenstände, die von der Gesellschaft auferlegt werden. So werden marginalisierte Positionen ästhetisch sichtbar gemacht und Prozesse des aktiven und komplexen Werdens eigener Positionen in der Gesellschaft auf der Bühne verhandelt.152 Das Theater der Minderheiten ermöglicht die Repräsentation bzw. Selbstrepräsentation im gesellschaftlichen Kontext, der durch den eigenen ästhetischen Raum geschaffen wird. Und hier lassen sich auch Überschneidungen und Gemeinsamkeiten mit dem postmigrantischen Theater feststellen. Die Künstler sind in beiden Fällen als nicht dem Mainstream zugehörig markiert; es sind Künstler, deren Kunst ethnisiert bzw. auf die biografischen Zusammenhänge der Künstler bezogen wird und die von Exklusion betroffen sind. Daher thematisieren die Künstler of color diese gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen auf der Bühne. Trotzdem sind Unterschiede in den Forderungen und Folgerungen zwischen einem Theater der Minderheit und einem postmigrantischen Theater festzustellen. Beim postmigrantischen Theater wird von einer Migrationsgesellschaft ausgegangen, in der Migration in verschiedenen Ausformungen als Normalität aufzufassen ist. Die Heterogenität der Gesellschaft wird auf der Bühne reflektiert und auch als Norm vorausgesetzt. Die eigens gegründeten Strukturen dienen der Sicherung künstlerischer Positionen, die aufgrund von Ausgrenzung und Rassismus in den subventionierten Strukturen fehlen. Sie gelten als ›Übergangsstadien‹ mit der Perspektive, langfristig in die etablierten Theaterhäuser eintreten zu können. Die Heterogenität der Künstler steht im Vordergrund. Es geht darum, die Spezifika der im gesamtgesellschaftlichen Kontext bestehenden Differenz deutlich zu machen. Das Theater der Minderheiten andererseits soll als eigenständige Struktur angesehen werden. Es gilt, langfristig den Erhalt der eigenen Geschichten, die Perspektive auf die nationale Geschichte, aber auch lokale Traditionen sowie sprachliche Idiome zu sichern. Im Theater der Minderheiten werden communityspezifische Themen verhandelt. Schließlich geht es auch darum, die Homogenität der ethnischen, kulturellen oder auch religiösen Gruppe zu bewahren. Es ist wichtig festzuhalten, dass bei Künstlern of color, egal ob sie dem Theater der Minderheiten oder dem postmigrantischen Theater zugeordnet werden, die Erfahrung von Rassismus und struktureller Ausgrenzung zur Solidarisierung geführt hat. So finden regelmäßige Kooperationen zwischen Künstlern der Roma und dem Ballhaus Naunynstraße statt. 152 | Gonzalez, Madelena: »Introduction. The Construction of Identity in Minority Theatre«, in: dies./P. Brasseur (Hg.), Authenticity and Legitimacy (2010). S. ix-xxix.
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Zum Schluss bleibt anzumerken, dass in der sehr knappen Darstellung die unterschiedlichen Ansätze und Zielsetzungen stark generalisiert wurden. Für die Vermittlung eines differenzierteren Bildes wäre eine eigenständige Studie zur Untersuchung der Phänomene und Gegenstände der Theater der Minderheiten notwendig gewesen.
4. S truk turelle V er änderungen Eine Debatte, die beinahe parallel in jedem der untersuchten europäischen Länder geführt wird, ist die institutionelle – und damit politische, soziale und kulturelle – Partizipation der zugewanderten Bevölkerung. Die Notwendigkeit, auf den Wandel durch strukturelle Veränderungen einzugehen, wird in den meisten Fällen als »interkulturelle Öffnung« bezeichnet.153 Der Begriff wird zuweilen inflationär und wie selbstverständlich verwendet, ohne dass jeweils klar würde, was eigentlich gemeint ist und was damit überhaupt erreicht werden soll. Dem Begriff Interkulturalität liegt ein weites Verständnis von Kultur zugrunde. Interkulturalität ist nicht auf ästhetische Dimensionen beschränkt, sondern bezieht alltägliche kulturell konnotierte Interaktionen mit ein. Kultur wird historisch kontextabhängig und als dynamischer Prozess aufgefasst, der sich in ständiger Veränderung befindet, umschließt neben Zugehörigkeiten und Abgrenzungen auch Deutungsmuster, Artikulationsformen und Lebenswelten. Interkulturalität wird jedoch nicht im Sinne des interkulturellen Theaters verstanden, das vornehmlich in den siebziger Jahren anzusiedeln ist und durch Regisseure wie Ariane Mnouchkine, Robert Wilson, Peter Brook oder Tadashi Suzuki geprägt wurde. Diese haben sich, vereinfacht gesagt, ›östliche‹ Theatertraditionen angeeignet, um sie dann auf den westlichen Bühnen umzusetzen. Erika Fischer-Lichte hat das folgendermaßen definiert: »Aus den verschiedenen kulturellen Systemen mindestens zweier deutlich voneinander distinkter Kulturen werden Elemente herausgebrochen und in der Inszenierung in Beziehung gesetzt.«154 Diese Approbation von kulturellen Elementen wie auch die einseitig ausgelegte Aneignung des Theaterdiskurses wurde von vielen Theatermachern aus postkolonialen Kontexten kritisiert.155 153 | In Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden ist die Debatte einer »interkulturellen Öffnung« in beinahe jedem gesellschaftlichen Bereich sichtbar. Vgl. Fent, Hanspeter: Die Interkulturelle Öffnung von Verwaltungsdiensten, Winterthur: Edition Soziothek 2007; M. Terkessidis: Interkultur. 154 | Fischer-Lichte, Erika: Das eigene und das fremde Theater, Tübingen 1999, S. 179f. 155 | Unter anderem auch vom indischen Theaterwissenschaftler Rustom Bharucha. Siehe auch Bharucha, Rustom: The Politics of Cultural Practice. Thinking through Theatre in an Age of Globalization. Hanover: Wesleyan University Press 2000.
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Eine andere Wendung hat Mark Terkessidis dem Begriff der Interkultur gegeben. Es geht ihm um ein Überdenken von stereotypen Zuschreibungen hin zu einer »Kultur-im-Zwischen‹ als Struktur im Wandel«. Sein Begriff richtet sich auf die »barrierefreien« Möglichkeiten von kultureller, politischer und gesellschaftlicher Partizipation für die Vielfalt der deutschen Gesellschaft.156 Interkulturelle Öffnung könnte damit als ein Prozess von und zwischen unterschiedlichen Menschen, Lebensweisen und Organisationsformen aufgefasst werden, mit dem Zugangsbarrieren und Abgrenzungsmechanismen in den zu öffnenden Organisationen abgebaut werden. Diese interkulturelle Öffnung wird ebenfalls von den Kulturinstitutionen gefordert. So gibt es von staatlicher Seite Handlungsempfehlungen wie beim Nationalen Integrationsplan157 von 2006. Auch auf Verwaltungsebene werden immer mehr kulturpolitische Vorgaben umgesetzt, welche die Teilhabe und Repräsentation von Künstlern of color zum Ziel haben. Die kulturpolitischen Bestimmungen betreffen nicht minder staatliche Theaterhäuser, die nun durch Programme für Migranten wie Stadtteilprojekte mit Laiendarstellern umgesetzt werden. Die strukturellen Veränderungen in der europäischen Theaterszene haben jedoch maßgeblich die artists of color durch die stetige Institutionalisierung und damit Schaffung eigener Strukturen erreicht. Diese drei Bereiche sollen im Folgenden näher dargelegt werden.
4.1 Kulturpolitische Maßnahmen am Beispiel des Arts Council und seines Programms Cultural Diversity Kulturpolitische Maßnahmen, die von Seiten des Staats initiiert werden, um auf die Migrationsgesellschaften zu reagieren, sind in jedem der untersuchten Länder zu erkennen. Hier soll exemplarisch die britische Kulturpolitik ausführlich dargestellt werden, um die verschiedenen Stufen der Auseinandersetzung mit institutionellen Zugangsbarrieren und strukturellen Abgrenzungsmechanismen vorzuführen. Während artists of color sehr lange schon in Großbritannien tätig waren, gab es erst in den siebziger Jahren eine Wahrnehmung und Anerkennung seitens der staatlichen Förderinstitution Arts Council. Mit The Arts Britain Ignores von Naseem Khan, das im Auftrag des Arts Council 1976 entstand, wurde zum ersten Mal auf arts of ethnic minority eingegangen.158 Darin wurde festgestellt, dass den Künstlern of color der Zugang zu den Institutionen fehle und daher ihre künstlerische Arbeit nicht professionell sei. Diese Studie war einerseits die 156 | M. Terkessidis: Interkultur, S. 131. 157 | Vgl. http://color.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/IB/ 2006-10-27-ib-nationaler-integrationsplan.html 158 | Vgl. Khan, Naseem: The Arts Britain Ignores, London: Arts Council England 1976.
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erste staatliche Auseinandersetzung mit den Künstlern of color in Großbritannien, aber auch die erste Kontroverse, denn die artists of color wurden auf ihre Ethnie reduziert. In den achtziger Jahren gab es dann ein Aufleben der black art movement. Die Vertreter waren hauptsächlich Einwanderer der zweiten Generation, die in Großbritannien aufgewachsen waren und sich mit Fragen der Identität und Repräsentation in der britischen Gesellschaft beschäftigten. Sie wurden unterstützt von Vertretern der cultural studies, die sich auf die Ideen von Antonio Gramsci und das black movement sowie auf die Frauenbewegungen beriefen. Antonio Gramscis159 Konzept der kulturellen Hegemonie stellt ein Privileg für den Einzelnen als artists of color im Prozess der kulturellen Produktion dar. Der Künstler lässt sich nicht mehr als Mitglied einer ethnischen Minderheit in der Öffentlichkeit definieren, sondern als black artist, dessen künstlerische Arbeiten individuelle Geschichte und ästhetische Herangehensweisen behandeln. Der von den Theatermachern of color betriebene ästhetische Diskurs verlief im Gegensatz zum dominierenden Kolonialdiskurs.160 Das Arts Council England nahm sich des Themas an und legte eine Förderung der ethnic minority art an, die mehr auf soziale Eingliederung als auf künstlerische Anerkennung abzielte.161 Theatermacher kritisierten, dass ihre künstlerische Arbeit auf ihre Ethnie reduziert und ihre individuelle künstlerische Begabung nur mangelhaft anerkannt würde. Das Arts Council England reagierte auf die Kritik und führte schließlich den Begriff der cultural diversity ein, mit dem der Schwerpunkt auf die Vielfalt der Kulturen und nicht mehr auf die Ethnie gelegt wurde.162 Schließlich wurde ab Ende der neunziger Jahre der Fokus auf die Förderung von cultural diversity mit besonderer Rücksicht auf Ethnizität gelegt. Der Katalysator für diesen Schwerpunkt war die direkte Reaktion auf die Veröffentlichung des Macpherson-Reports163 im Jahre 1999. Nach Ansicht des Arts 159 | Antonio Gramsci hat im Zusammenhang mit seinem Konzept der (kulturellen) Hegemonie festgestellt, dass jede Person in ihrer »sozialen Klasse« lebe. Und obwohl diese soziale Klasse nicht bewusst wahrgenommen werde, spiele das Leben einer jeden Person eine Rolle für die soziale Klasse. Vgl. Martin, James: Gramsci’s Political Analysis. A Critical Introduction, Bristol: Palgrave Macmillan 1998, S. 161f. 160 | Vgl. McMillan, Michael/SuAndi, Obe: »Rebaptizing the World in Our Own Terms. Black Theatre and Live Arts in Britain«, in: Paul Carter Harrison/Victor Leo Walker/Gus Edwards (Hg.), Black Theatre: Ritual Performance in the African Diaspora, Philadelphia: Temple University Press 2002, S. 115-129, hier S. 120f. 161 | Vgl. A. Sharifi: Theater für Alle?, S. 222. 162 | Vgl. COLOR. Jermyn/ P. Desai: Arts, S. 11f. 163 | Nach dem Tod des schwarzen britischen Teenagers Stephen Lawrence, der 1993 an einer Bushaltestelle im Süden Londons erstochen wurde, kam es zu einem großen Eklat. Bei den Polizeiuntersuchungen wurde zunächst von einem Verbrechen ausgegangen.
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Council England markierte der Macpherson-Report »a sea change in the understanding of the significance of institutional racism«164. Zwar waren Antidiskrimierungsmaßnahmen an allen öffentlichen Institutionen verpflichtend eingeführt worden. Aber das Arts Council England hatte sich kulturpolitische Maßnahmen zur Bekämpfung des Rassismus zum Ziel gesetzt. Hierfür wurde auch eine Konferenz veranstaltet, bei der zusammen mit Theatermachern of color Strategien gegen den Rassismus in der englischen Theaterszene entwickelt werden sollten.165 Es wurden Handlungsempfehlungen erarbeitet, die Beteiligungs- und Zugangsmöglichkeiten für artists of color schaffen sollten. Ab 2003 wurde jedes öffentlich finanzierte Theater in Großbritannien dazu verpflichtet, artists of color an den Theatern zu beschäftigen.166 Eine der Initiativen war das Projekt Decibel. Es sollte gegen die Unterrepräsentation angehen und für eine signifikante Vergrößerung des Anteils von artists of color sorgen.167 Produktions-, Distributions- und Rezeptionsmöglichkeiten sollten erhöht werden. Das Programm umfasste die drei Hauptinstrumente Performing Arts Showcase, Visual Arts Platform und New Audience Program. Das Decibel Performing Arts Showcase ist ein seit 2003 jährlich stattfindendes Festival, das die Arbeiten von Theatermachern of color präsentiert.168 Die Visual Arts Platform war von 2003 bis 2004 tätig und finanzierte ein Künstlerprogramm. Dieses umfasste traineeships und Mentorenprogramme für angehende Kuratoren sowie Jahresstipendien für artists of color und solche mit Mi-
Schließlich wurden zwar fünf Verdächtige verhaftet, aber nie verurteilt. Es wird angenommen, dass die Tat einen rassistischen Hintergrund hatte und der Jugendliche wegen seiner Hautfarbe ermordet wurde. Im Jahre 1999 setzte sich der ehemalige Richter Sir William Macpherson mit den Polizeiuntersuchungen auseinander und stellte fest, dass sie von einem »institutionellen Rassismus« geprägt waren. Die gesellschaftliche Empörung war sehr groß. Der Macpherson-Report hat seitdem zu einer wesentlichen Veränderung des Verständnisses von institutioneller Diskriminierung beigetragen. Vgl. http://news.bbc. co.uk/vote2001/hi/english/main_issues/sections/facts/newsid_1190000/1190971. stm 164 | Arts Council England (Hg.): Cultural Diversity Action Plan for the Arts Council England. Arts Council England 1998. 165 | Vgl. Brown, Stuart/Hawson, Isobel/Graves, Tony/Barot, Mukesh: Eclipse Report. Developing Strategies to Combat Racism in Theatre, London: Arts Council London 2001, S. 4. 166 | Vgl. S. Brown et al.: Eclipse Report. 167 | Vgl. Arts Council England (Hg.): Decibel. Performing Arts Showcase, London: Arts Council England 2011. 168 | Vgl. http://color.decibelpas.com/en/about/decibel.
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grationshintergrund.169 Daneben wurden Förderprogramme zur Einbindung von Publikum of color geschaffen: Das New Audiences Program wurde von 1998 bis 2003 vom Arts Council England finanziert und sollte neues Publikum, sogenannte Nichtbesucher sowie marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie Kinder und Jugendliche, ältere Menschen, Familien und Menschen mit Behinderung ins Theater bringen.170 Obwohl die Bekämpfung von institutionalisiertem Rassismus in allen Gesellschaftsbereichen inklusive des Theaters sinnvoll erscheint, riefen die Maßnahmen auch Kritik hervor. Künstler und Kulturkritiker sind der Ansicht, dass solche Maßnahmen nur bis zu einem gewissen Grad sinnvoll sind und spürbare Auswirkungen auf die Kunstszene haben. Sie würden zur Separation zwischen Künstlern aus der Mehrheitsgesellschaft und aus den ›ethnischen‹ Minderheiten führen. Der Initiative des Arts Council England sei es nicht gelungen, die bestehende Polarisierung zwischen ethnic art und mainstream art aufzuheben.171 Einige Kritiker sind sogar der Ansicht, dass das Decibel-Programm nicht nur zu keiner Veränderung des nationalen Profils geführt hat, sondern dass es sogar den Diskurs über Rassismus in der Kunst durch die Trennung und »Alibi«-Aktionen pauschalisiert.172 Eine großer Kritikpunkt betrifft die inkonsistente Bezeichnung von afrikanischen, afrikanisch-karibischen und asiatischen Gruppen durch den Arts Council. Seitens der Kritiker wird der Vorwurf erhoben, dass alte imperialistische Begriffe eingesetzt werden, um die Kunst von Künstlern zu beschreiben, die damit aber gerade Strukturen von Rassismus bedienen. Dadurch werde ihnen ein ›ethnischer Stempel‹ aufgedrückt, der den Künstlern keinen Raum und keine Rechte überlasse, sich selbst und ihre Kunst zu definieren.173 Eine weitere Kritik beruht auf dem Verständnis von cultural diversity. Der Arts Council England verstehe unter cultural diversity die gesellschaftliche Einbindung bzw. Integration und die Nutzung der Kunst als eine Art Sozialpolitik. Das aber führe dazu, dass die Essenz der Kunst verschwinde und nur noch eine Sichtbarmachung von ›ghettoisierten‹ Aktivitäten im Vordergrund stehe. Damit würde Ethnizität und Inklusion über der ästhetischen Bedeutung der Kunst stehen. Es sei erforderlich, den eurozentristischen Blick auf die Kunst aufzuheben, was vor allem durch Kulturpolitiker of color ermöglicht werden könne, die sowohl die kulturelle Kompetenz als auch das Wissen über schwarze kulturelle Traditionen mitbringen.174 169 | Vgl. R. Hylton: The nature of the beast. 170 | Ebd., S. 133. 171 | Vgl. ebd. 172 | Vgl. ebd., S. 19. 173 | Vgl. T. Graves: »Deepening Diversity« (Onlinepublikation). 174 | Vgl. ebd.
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Die prominente Debatte zwischen der britischen Kulturpolitik, den Institutionen und den Künstlern of color ist eine gute Vorlage für die anderen europäischen Länder, in denen die Debatte noch längst nicht so weit scheint. In Deutschland ist beispielsweise 2005 im Auftrag des Deutschen Bundestages der Bericht »Kultur in Deutschland« der Enquete-Kommission entstanden.175 Dabei gibt es auch eine Auseinandersetzung mit Migration und Migrationsgesellschaft wie auch mit Künstlern of color. Als Sonderbereich unter der Rubrik »Förderbereiche von besonderer Bedeutung« wird in einem Kapitel »Migrantenkultur/Interkultur« behandelt. Terkessidis kritisiert, dass im Bericht der Enquete-Kommission die artists of color offensichtlich nicht aufgrund ihrer künstlerischen Qualität, sondern nur im Zusammenhang ihres Beitrags zur »Integration« genannt würden:176 »Heute sind zum Beispiel viele deutschtürkische Regisseure oder Autoren bekannte Repräsentanten, die für die Widersprüche des Stoffes Integration spezifische Darstellungsformen gefunden haben.«177 Terkessidis weist generell auf die defizitäre Perspektive der Darstellung von people of color im Enquete-Bericht hin.178 Generell kann festgestellt werden, dass es in den letzten zehn Jahren eine staatliche und damit kulturpolitische Reaktion auf die Veränderungen in den europäischen Gesellschaften gegeben hat. Es sind spezielle Förderungen für artists of color eingeführt worden, die, wie schon Jude Bloomfield in ihrer Studie Crossing the Rainbow 2003 festgestellt hat, immer noch getrennt von der Förderung von weißen oder ›Mainstream‹-Theatermachern stattfindet. So gibt es in jedem der untersuchten Länder Förderungsinstitutionen für ›interkulturelle Kulturprojekte‹, deren Budget aber bei Weitem unter dem der ›normalen‹ Fördergelder liegt. Das hat zur Folge, dass artists of color keine Förderanträge bei anderen Institutionen als den speziell eingerichteten stellen können. In Bloomfields Studie wurde bereits angedeutet, dass die künstlerische Arbeit von artists of color immer noch dem sogenannten sozialen Bereich zugeordnet wird. Die Aberkennung der ästhetischen Qualität und damit auch der Bedeutung der künstlerischen Arbeit ist eines der größten Probleme, das artists of color in Europa einschränkt.
175 | Vgl. Deutscher Bundestag (Hg): Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Bonn 2008. 176 | M. Terkessidis: Interkultur, S. 179. 177 | Deutscher Bundestag (Hg): Kultur in Deutschland, S. 212. 178 | So werde im Bericht auf die »Integrationsdefizite« der Personen mit Migrationshintergrund hingewiesen. Sie hätten Schwächen in der Ausbildung und Bildung und es mangele an deutschen Sprachkenntnissen. Eine Studie, die diese generellen Aussagen untermauern würde, werde nicht genannt. Vgl. M. Terkessidis: Interkultur, S. 180.
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4.2 Strukturelle Veränderungen auch in den staatlichen Theaterhäusern Während staatliche Theaterhäuser in allen europäischen Ländern lange Zeit ›weiße Räume‹ waren, in denen nur weiße Theatermacher arbeiteten, und zwar nicht nur auf, sondern auch hinter der Bühne und in den Leitungsstrukturen, gibt es in den letzten Jahren einen Wandel. Großbritannien ist im Vergleich zu anderen Ländern vorangeschritten, aber auch dort werden fehlende Repräsentation und bestehende Zugangsbarrieren von den Theatermachern of color in den Kulturinstitutionen immer noch thematisiert. In der Studie des Zentrums für Audience Development Berlin wurden 2009 »Migranten als Publikum in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen« untersucht.179 In einer repräsentativen Umfrage wurde zum ersten Mal erforscht, inwieweit sich deutsche Kulturinstitutionen mit dem Thema Migration beschäftigen.180 Über 50 Prozent der antwortenden Kulturinstitutionen gaben an, dass sie sich mit dem ›Themenfeld‹ beschäftigen, aber, so merkte Mark Terkessidis richtig an, »nur in dem Sinne, [wie, Anm. A.S.] etwa 70 Prozent der Verantwortlichen [meinten], dass auch sie ›einen Beitrag zur Integration‹ leisten wollen«181. Denn die staatlichen Theaterhäuser haben in der Tat verschiedene Programme für ›Migranten‹ eingeführt, die das Verständnis in diesem Sinne deutlich machen. So sind es nicht die Ensembles und künstlerischen Positionen, die mit Theatermachern of color besetzt werden, sondern soziokulturelle Projekte, die vor allem den ›Migranten‹ in seinem stereotypen Bild – bildungsfern, nicht der deutschen Sprache mächtig und in einer ›Parallelwelt‹ lebend – fürs Theater begeistern sollen.182 Oft werden Stadtteilprojekte dazu missbraucht. Das sind Projekte, die meist außerhalb der Theaterhäuser in sozial benachteiligten Stadtteilen stattfinden und hauptsächlich mit ›Experten des Alltags‹ bzw. Einwohnern aus diesen Stadtbezirken auf der Bühne arbeiten. Vorliegend wurde ein Beispiel ausgewählt, das tatsächlich aus der Notwendigkeit und dem Anspruch einer Annäherung an städtische Geschichten zum ersten Mal in Deutschland ein Stadtteilprojekt umsetzte. Die Münchener Kammerspiele lösten 2004 mit Bunnyhill, das von Oktober bis Dezember mit Einwohnern des Stadtteils Hasenbergl stattfand, die erste größere Auseinan179 | Zentrum für Audience Development (Hg.): Migranten als Publikum in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen. Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite, Berlin 2009. Vgl. http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/zad/media/zad_ migranten_als_publika_angebotsseite.pdf 180 | Vgl. ebd. 181 | M. Terkessidis: Interkultur, S. 174. 182 | Vgl. A. Sharifi: Theater für Alle?, 2011.
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dersetzung an einem Stadttheater aus. Das Projekt entstand zunächst aus der realen Geschichte des deutsch-türkischen Jugendlichen Mehmet, der mit 14 Jahren bereits über 60 Straftaten begangen hatte und auf Veranlassung der Stadt München in die Türkei abgeschoben wurde. Der Fall sorgte international für Aufsehen, weil erstmals ein Kind von rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländern allein in deren angestammte Heimat abgeschoben wurde. Das Stück Ein Junge, der nicht Mehmet heißt wurde in Zusammenarbeit mit Jugendlichen aus dem Stadtbezirk Hasenbergl erarbeitet, der zu den Münchener Stadtteilen mit den höchsten Migranten- und Kriminalitätsanteilen gehört. Die Abschiebung nahmen die Künstler als Metapher und Ausgangspunkt einer künstlerischen Recherche über die Gesellschaft in Deutschland auf. Dem künstlerischen Ansatz von Peter Kastenmüller, Björn Bicker und Michael Graessner lag die Fragestellung zugrunde, ob künstlerische Praxis nicht als soziale Praxis und umgekehrt definiert werden könnte.183 Das Projekt Bunnyhill, das von den Künstlern als Staat bezeichnet und dessen Staatsgebiet das Neue Haus der Münchner Kammerspiele wurde, sollte der Raum sein, in dem die urbane Wirklichkeit Münchens künstlerisch hinterfragt wurde. Acht Wochen lang beteiligten sich Künstler aus den verschiedenen Genres an dem Projekt und setzten sich mit dem Phänomen auseinander. So wurden zumindest für zwei Monate die Randbezirke und deren Bewohner zum Mittelpunkt des kulturellen Lebens Münchens.184 Björn Bicker wies in seinem Artikel »Theater als Parallelgesellschaft«185 selbstkritisch auf die Gefahr einer Ausschlachtung des Themas für eine »voyeuristisch[e] Migrations- und Diversity-Peepshow« hin. Er ist aber gleichzeitig der Ansicht, dass die Formsuche, die das Theater zurzeit durchlebt, eine Möglichkeit für einen »spielerischen, politischen und offenen Diskurs« sein kann, mit dem »multikulturelle Vernetzung und Grenzüberschreitung« erreicht werden könnte.186 Eines der wenigen, aber sehr guten Beispiele für ein staatliches Theater, das sich auf den städtischen Wandel eingelassen hat, ist das Theater Zuidplein in Rotterdam. Das Haus befindet sich in Rotterdam-Zuid, das mittlerweile hauptsächlich von Einwanderern bewohnt wird. Als 1998 Ruud Breteler neuer Intendant des Theaters wurde, wollte er die Menschen aus dem umliegenden 183 | Vgl. Münchener Kammerspiele (Hg.): Programmheft »Bunnyhill – Eine Staatsgründung«, München 2005. 184 | Ebd. 185 | Vgl. Bicker, Björn: »Theater als Parallelgesellschaft. Über das Verhältnis von Theater und Migration«, in: Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hg.), No Integration? Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld: transcript 2009, S. 27-32. hier S. 27. 186 | Ebd., S. 32.
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Stadtbezirk am Theater teilhaben lassen. Nach eigenem Bekunden wählte er den Weg des »empowerment«187. Mithilfe einer Ausschreibung stellte er eine Kommission von zehn Personen zusammen, die nach kultureller Herkunft, Alter, Geschlecht etc. möglichst genau die Zusammensetzung der Bevölkerung in Rotterdam widerspiegeln sollte. Die zehn Kommissionsmitglieder hatten keine professionelle Theaterausbildung; manche waren vorher nicht einmal ins Theater gegangen. Aber sie wurden beauftragt, das Theaterprogramm für die neue Saison zusammenzustellen. Es wurde ein Wandel vollzogen von einem Theater ›auf Angebotsbasis’, das Vorstellungen ansetzt und dann ein Publikum dafür sucht, hin zu einem »Nachfragetheater«, in dem das Publikum selbst bestimmt, was es zu sehen gibt. Die Kommission bewirkte, dass schließlich mehr Theaterstücke von und mit Personen of color angeboten wurde, was gleichzeitig ein diverses Publikum anzog. Neben der Kommission wurden auch Organisationen von Menschen of color beauftragt, ›monokulturelle‹ Festivals zu organisieren. »So fanden nach und nach mehr Menschen aus den verschiedenen kulturellen Zielgruppen ihren Weg ins Theater. Mit der Zeit begannen sich diese Publikumsgruppen auch zu mischen; zuerst bei Stand-up-Comedy und Kabarett, später auch bei (Welt-)Musik und Tanz. Das war der Moment, um sich wieder von den monokulturellen Festivals zu verabschieden. Aber natürlich nicht von den Selbstorganisationen: Sie blieben im Theater involviert.«188 Das ist eine mögliche Reaktion auf die sich verändernde gesellschaftliche Realität und ein Beispiel für die »interkulturelle Öffnung« einer Institution. Im Theaterplan Zuidplein wird Theater nicht für Personen of color gemacht, sondern tatsächlich mit Personen of color. Auch die Mitarbeiter sind artists of color. Dies ist tatsächlich eine Seltenheit, da artists of color immer noch nach ethnischen Merkmalen oder eben gar nicht besetzt werden. Zwar werden immer mehr artists of color als Gäste an den staatlichen Theaterhäusern beschäftigt, aber die Zusammenarbeit bleibt einmalig und auf Produktionen beschränkt, die ›migrantische‹ Themen behandeln.
4.3 Institutionalisierung und eigene Strukturen Neben all den Bemühungen seitens der Kulturpolitik und der staatlichen Kulturinstitutionen, die Teilhabe von Theatermachern wie Publikum of color zu ermöglichen, ist der beginnende strukturelle Wandel hauptsächlich auf die Schaffung eigener Strukturen durch artists of color zurückzuführen. Dies kann zumindest aus den dargestellten Beispielen der untersuchten Länder ge187 | Breteler, Ruud: Vortrag beim Bundesfachkongress Interkultur Hamburg, 2012, http://color.youtube.com/watch?v=3BKBNVqfhZ4 188 | Ebd.
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schlossen werden. Die Aneignung der Diskurse begann dann, wenn artists of color sich dieser bemächtigten und durch Kollektive eine eigene Position in der jeweiligen Theaterszene schufen. Das sogenannte empowerment hat dazu geführt, dass der Wandel auch auf institutioneller Ebene stattfinden kann. Unter empowerment versteht man »Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, indem sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und ihre individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen«189.
Angesichts struktureller Machtdifferenzen in der Gesellschaft zielt das Empowerment-Konzept darauf ab, Verteilungsgerechtigkeit zu schaffen und die demokratische Partizipation, das heißt die Teilhabe der Bürger an Entscheidungsprozessen, zu stärken. Wie bereits dargestellt, waren lange Zeit artists of color in den nationalen und in der europäischen Theaterszene nicht präsent. Der Grund wurde in fehlender künstlerischer Qualität gesehen.190 Dies zu überwinden, konnte nur mit der Schaffung eigener Strukturen, in erster Linie eigener Theaterhäuser erreicht werden. Der Wandel in Deutschland wäre ohne die Gründung des Ballhauses Naunynstraße und die Theatermacherin Shermin Langhoff nicht möglich gewesen. Langhoff, die zunächst als Assistentin von Fatih Akin gearbeitet hatte, wollte »migrantische Perspektiven und Geschichten am Theater«191 zeigen. Zunächst kuratierte sie ab 2004 am Hebbel am Ufer transkulturelle Festivals, unter anderem Beyond Belonging, an dem mittlerweile etablierte Theatermacher und Theaterautoren wie Nurkan Erpulat, Feridun Zaimoglu, Maral Ceranoglu, Neco Çelik, Tuncay Kulaoglu und Ayse Polat beteiligt waren. Das Festival, das unter anderem von der Bundeskulturstiftung unterstützt wurde, ließ Langhoff die Notwendigkeit eines eigenen und permanen189 | Herringer, Norbert: Empowerment in der Sozialen Arbeit, Stuttgart: Kohlhammer 2010, S. 20. 190 | Diese Erfahrung wird von allen Theatermachern of color und Theatermachern mit Migrationshintergrund geteilt. Gerade in Interviews und persönlichen Gesprächen wird die Erfahrung sichtbar. Vgl. Kömürcü Nobrega, Onur Suzan: »Alienation in Higher Education. Lived Experiences of Racial and Class Based Inequality in Film and Drama School«, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), The Living Archives: Kulturelle Produktionen und Räume (= Dossier Heinrich-Böll-Stiftung), Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung 2013, S. 31-38; Ahmed, Sara: Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality, London: Routledge 2000. 191 | O.A.: »›Theater kann eine Identitätsmaschine sein‹«, S. 18.
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ten Theaterraumes erkennen, der den jungen Künstlern die Möglichkeit des Experimentierens und des Sammelns von Erfahrung bieten könnte. »Als ich das Beyond-Belonging-Festival mit Inszenierungen zum Thema Migration am Hebbel-Theater entwickelte, merkte ich, dass wir viel mehr als nur ein Festival brauchen, sondern ein Forum, wo wir experimentelles Theater betreiben können und wo eine besondere Förderung möglich ist.«192 Von der Eröffnung des ersten postmigrantischen Theaters in der Spielzeit 2008/2009 bis hin zu seiner Etablierung in der deutschen Theaterszene 2010/2011 mit der Einladung zum Berliner Theatertreffen dauerte es nicht sehr lange. Trotzdem haben die artists of color für die Finanzierung des Hauses hart kämpfen müssen. Das Ballhaus hat nun eine Finanzierung bis 2014, wobei danach wieder Anträge auf Weiterfinanzierung gestellt werden müssen. Neben den Theaterhäusern sind auch eigene Produktionsorte bzw. Zugang zu institutionalisierten Produktionsorten sehr wichtig. So eignen sich Personen wie Rani Kasapi theatrale Räume an. Kasapi war zunächst bei Intercult tätig und wechselte 2005 zum nationalen Theater Riksteatern in Schweden. Sie war Leiterin der internationalen Abteilung am Riksteatern, wo sie sich um die internationale Kooperation und um Koproduktionen kümmerte. Sie verstand ihre Aufgabe aber auch als eine Auseinandersetzung mit der schwedischen multikulturellen Gesellschaft und forderte die Einbindung von Theatermachern of color. So hat sie mit der Zeit erreicht, dass immer mehr Theaterschaffende wie Farnaz Arbabi oder Jonas Khemiri eigene Theaterstücke am Riksteatern produzieren und durch ganz Schweden touren konnten. Sie nutzte ihre Funktion nicht nur zur Internationalisierung des Riksteatern, sondern auch zur Umsetzung einer Strategie des empowerment der Theatermacher und des Publikums. Mittlerweile sind in Schweden viele artists of color als Teil der schwedischen Theaterszene tätig. Zusammen mit weiteren europäischen Theatermachern of color rief Rani Kasapi das Projekt Europe Now ins Leben, bei dem die beteiligten Künstler sich mit dem postmigrantischen Europa auf ästhetische Weise auseinandersetzten.193 Europe Now war eine Kollaboration von Theatermachern of color, die unter der Prämisse des postmigrantischen Europa künstlerische Arbeiten produzierten. Autoren, Regisseure und Produzenten of color wurden zusammengeführt, um im Dialog künstlerisch zu arbeiten. Fünf Theater aus Schweden, den Niederlanden, der Türkei, Deutschland und Großbritannien waren beteiligt. Ausgangspunkt war, dass das europäische Theater von einer white, middle-class elite dominiert werde, die wiederum Künstler und Zuschauer einer anderen Kultur oder einer anderen Klasse ausschließe. In Europa sei jedoch 192 | Ebd., S. 20. 193 | Vgl. die Homepage des Theaters http://europenowblog.org/
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eine kulturelle Diversität vorhanden, die keine ausreichende Repräsentation finde. Darüber hinaus würden migrantische Künstler ›ethnisiert‹. »Diversity in my view should be interpreted beyond the current fetishism for ethnicity.«194 Das Europe-Now-Projekt wolle gerade die kulturelle Diversität reflektieren. Es entstanden fünf Theaterstücke und Inszenierungen, die in mindestens zwei Ländern tourten, um ein größeres Publikum zu erreichen und eine europäische Mobilität wie auch Möglichkeiten für postmigrantische Theatermacher zu schaffen. Das Riksteatern (Schweden) war durch Rani Kasapi, Farnaz Arbabi und Jonas Khemiri mit dem Stück I call my brothers vertreten. Aus dem Talimhane Tiyatroso (Türkei) waren Deniz Altun (Autor), Lerzan Pamir (Regisseurin) und Hakan Silahsizoglu (Produktionsleiter) beteiligt, die das Theaterstück Pippa produzierten. Das Theater RAST aus den Niederlanden mit Saban Ol und Anouk Saleming entwickelte das Stück Elsewhereland. Das Arcola Theatre London produzierte Mare Rider von Leyla Nazli und Mehmet Ergen. Marianna Salzmann und Hakan Mican Savas vom Ballhaus Naunynstraße schließlich inszenierten Beg your pardon. In den Theaterstücken ging es um die Reflexion einer europäischen Gesellschaft durch den Blick von Figuren und Geschichten, die das postmigrantische Europa repräsentieren.195 Dabei entzogen sich die Theatermacher einer lokalen Verortung und setzen ihre Theaterpraxis in einen transnationalen Kontext. Aufgrund der Europäisierung wurde ihre Arbeit gleichzeitig auch internationalisiert. Die Ansätze eines postmigrantisch-europäischen Theaters wurden durch Austausch und gemeinsame Ideenentwicklung vorangetrieben. In diesem Zusammenhang ist auf die Wichtigkeit von Theaterfestivals hinzuweisen. Für die Distribution von den Werken von Theatermachern of color sind Theaterfestivals ein wichtiges Format. Die hier bereits dargestellte Festivalreihe Beyond Belonging hat beispielsweise eine Basis für die Vernetzung und Präsentation von postmigrantischem Theater geschaffen, aus der gleichzeitig die Notwendigkeit einer eigenen Plattform für ein postmigrantisches Theaterhaus in Berlin entsprungen ist. Ein weiteres Beispiel ist das Europe-Now-Festival im April 2013 in Amsterdam, das als Abschlusspräsentation galt und den beteiligten Künstlern die Möglichkeit gab, ihre Arbeit zu präsentieren und sich gleichzeitig mit anderen Künstlern aus Europa auszutauschen und zu vernetzen. Die von Theatermachern of color in den letzten 20 Jahren erarbeiteten Strukturen haben die Produktion, Distribution und Rezeption von postmigrantischen Perspektiven und Theaterarbeiten ermöglicht. Ohne diese theatralen Orte und ästhetischen Räume wären jegliche kulturpolitischen Maßnahmen wie auch die Programme der institutionalisierten Theaterhäuser sinnlos. 194 | Gölpinar, Özkan: How to Address an Imbalance, 2011, http://europenowblog.org/ blog/69 195 | Ebd.
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4.4 Ausbildung 4.4.1 Künstlerische Ausbildung Wenn es um die Ausbildung von Theatermachern of color geht, scheint zunächst kein Unterschied zwischen ihnen und weißen Theatermachern zu bestehen. Zumindest lässt das unter anderem die Studie Report Darstellende Künste196 vermuten, die sich allerdings nur auf Deutschland bezieht. In der Untersuchung wird festgestellt, dass es sich bei den Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland überwiegend um hoch qualifizierte Arbeitskräfte handelt, von denen fast zwei Drittel einen (Fach-)Hochschulabschluss besitzen. Zwei Drittel der befragten Theater- und Tanzschaffenden mit abgeschlossenem Hochschulstudium wiederum haben ein künstlerisches Studium absolviert.197 In dieser Studie wurde auch nach Theater- und Tanzschaffenden mit Migrationshintergrund gefragt. Es lassen sich laut diesem Report keine Unterschiede zwischen den in Deutschland tätigen Theater- und Tanzschaffenden mit und ohne Migrationshintergrund finden.198 Nun kann dieses Ergebnis der Untersuchung durch Gespräche und Interviews mit den Theatermachern of color im Grunde bestätigt werden, was auch für die anderen europäischen Länder gilt, zumindest soweit es die kontaktierten Künstler betrifft. Viele können eine künstlerische Ausbildung vorweisen, allerdings war ihr Weg, diese zu erlangen, offensichtlich schwieriger als bei ihren weißen Kollegen. In persönlichen Gesprächen wird oft deutlich, dass den Theatermachern of color bereits die schulische Ausbildung aufgrund ihrer Herkunft vielfach erschwert wurde.199 Die schon früh erlebte Diskriminierung, bei der die kreativen Fähigkeiten der artists of color verkannt werden, ist ein Symptom, das sich durch fast alle Biografien der Personen zieht. Im persönlichen Gespräch erzählt Emre Akal, ein junger Schauspieler, Autor und Regisseur, über seine frühen schulischen Erfahrungen, als seine Lehrer ihn aufgrund seines türkischen Migrationshintergrundes in die Hauptschule verwiesen haben. Er hat zunächst eine Ausbildung absolviert, bevor er über den
196 | Vgl. Fonds Darstellende Künste (Hg.): Report Darstellende Künste. 197 | Vgl. ebd., S. 130. 198 | Vgl. ebd., S. 152. 199 | Onur Suzan Kömürcü Nobrega schrieb in ihrer Dissertation über Rasse, Prekariat und künstlerische Arbeit am Beispiel des Ballhauses Naunynstraße. In dem Artikel »Alienation in Higher Education: Lived Experiences of Racial and Class Based Inequality in Film and Drama School« beschreibt sie die Theatermacher des Ballhauses Naunynstraße, die allesamt aus Arbeiterfamilien stammen, in den Schauspielschulen bzw. an Orten der künstlerischen Ausbildung Rassismus und Diskriminierung erlebt haben. Vgl. O. S. Kömürcü Nobrega: Alienation in Higher Education, S. 31-38. hier S. 31ff.
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zweiten Bildungsweg seine künstlerische Lauf bahn beginnen und eine Schauspielschule besuchen konnte.200 Viele Künstler haben eine solche Ausgrenzungserfahrung durchlebt, bis sie sich den Weg zu den künstlerischen Ausbildungsstätten erkämpfen konnten. Kömürcü Nobrega verweist auf die wichtige Schlüsselrolle von Schauspielschulen und Kunsthochschulen, die diese gerade für artists of color einnehmen.201 Schulen wie die Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« oder die Folkwang Universität der Künste haben tatsächlich auf den Bedarf reagiert und können in jedem Jahrgang auf ein bis drei Absolventen of color verweisen. An der Folkwang Universität der Künste wird dies zudem bei den Lehrenden umgesetzt. So ist Adewale Teodros Adebisi Lehrender für Schauspiel und für besondere Aufgaben.202 Trotzdem machen artists of color auch an den Schauspielschulen rassistische Erfahrungen. Onur Suzan Kömürcü Nobrega hat Nurkan Erpulat zu seinen Erlebnissen an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« befragt. »It was horrible! After several racist incidents in school, my self-confidence was completely gone and I thought for a while, that I could not continue with my studies until Shermin Langhoff asked me ›do you want to direct a play at the Beyond Belonging festival‹ and I was like ›wow, of course I want to‹.« 203
In diesem Kontext scheint es auch relevant, dass viele Künstler zunächst durch eine sozial- und pädagogisch-künstlerische Ausbildung zu einem künstlerischen Beruf kamen. Nurkan Erpulat, der bereits in der Türkei ein Schauspielstudium absolviert hatte, studierte zunächst an der Universität der Künste Berlin Theaterpädagogik, bevor er dann 2003 an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« das Regiestudium aufnahm. Auch in Großbritannien können ähnliche Tendenzen festgestellt werden. Ein gutes Beispiel ist das Talawa Theatre, das 1986 von Yvonne Brewster, Carmen Munroe, Mona Hammond und Inigo Espejel gegründet wurde. Das Ziel der karibisch-afrikanischen Künstler war es, karibisch-afrikanischen Frauen den Weg in die Theaterszene zu öffnen und ihnen eine Möglichkeit der Parti-
200 | Emre Akal im persönlichen Gespräch, München, April 2012. 201 | O. S. Kömürcü Nobrega: Alienation in Higher Education, S. 31. 202 | Adebisi, Adewale Teodros, Folkwang Universität, http://color.folkwang-uni.de/ de/home/theater/lehrende/detailansicht/?mehr=1&detaildozent=346&cHash=5816 01ecd3 203 | O. S. Kömürcü Nobrega: Alienation in Higher Education, S. 35.
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zipation zu geben.204 Die künstlerische Leitung hatte zu Beginn Yvonne Brewster inne, die das Rose Bruford College205 und die Royal Academy of Music als die erste schwarze Künstlerin besuchte. Ab 2003 übernahm Paulette Randall die Intendanz des Talawa. Randalls Biografie veranschaulicht den Weg, den schwarze Künstler der zweiten Generation häufig in der britischen Theaterszene nehmen. Sie besuchte den Community Arts Course am Rose Bruford College, arbeitete dann mit Jugendlichen mit schwierigen Biografieverläufen zusammen. Durch ein Stipendium des Arts Council für junge Regisseure – das Royal Court young writers’ scheme – gelangte sie zum Theater. Zunächst arbeitete sie am Tricycle Theatre, einem anderen zeitgenössischen Theater für schwarze Künstler, und wurde schließlich künstlerische Leiterin bei Talawa.206 Im Gegensatz zu Deutschland, wo die künstlerische Ausbildung an Schauspielschulen oder Hochschulen geknüpft ist, wird sie in Großbritannien an den Theaterhäusern angeboten. Das Bush Theatre gibt jungen Theatermachern zwischen 16 und 24 Jahren die Möglichkeit einer künstlerischen Ausbildung durch das Programm bushfutures. Auch an anderen Häusern werden solche Programme angeboten, wie etwa das Young Vic Directors Program. Am Talawa Theatre werden seit 1996 Masterkurse abgehalten, um kreatives Schreiben, Performance, Poesie und Musik für junge Theatermacher of color zu fördern.
4.4.2 Quereinsteiger oder die doppelte Absicherung Die Studie Report Darstellende Künste besagt, dass ein Viertel der Theater- und Tanzschaffenden mit Hochschulabschluss als Quereinsteiger Zugang zur Theater- und Tanzszene gefunden hat.207 Anhand der Recherchen und persönlichen Gespräche muss festgestellt werden, dass dies für artists of color in noch stärkere Ausmaße gilt. Zum einen sind es politische Gründe, die zu der Entscheidung führen, sich mit ästhetischen Mitteln auszudrücken. Die rassistisch motivierten Unruhen der sechziger und siebziger Jahre in England führten zur Gründung von Tara Arts: »In the summer of 1977, race riots were erupting across the capital. […] Everywhere my friends and I looked, it seemed black people, as we identified ourselves, were victims
204 | Vgl. Peacock, Keith D.: Thatcher’s Theatre. British Theatre and Drama in the Eighties, Westport: Praeger Frederick 1999, S. 181. 205 | Das Rose Bruford College of Theatre & Performance ist eine renommierte Schauspielschule in London. 206 | Vgl. K. D. Peacock: Thatcher’s Theatre, S. 182. 207 | Vgl. Fonds Darstellende Künste (Hg.): Report Darstellende Künste, S. 131.
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater of white oppression. [...] I set up a theatre company, Tara Arts, with four friends who felt the same way, and who were migrants like me.« 208
Im Sommer 1976 war der Sikhteenager Gurdeep Singh Chaggar in Southall London aus rassistischen Gründen ermordet worden. Jatinder Verma studierte damals, allerdings nicht Theater. Verma und die anderen Mitgründer von Tara Arts konnten mit rudimentären Mitteln Theater machen, um eine Selbstrepräsentation von jungen Asian British im kulturellen Bereich zu schaffen.209 Es ging ihnen um Selbstbestimmung über ihre ästhetischen Konzepte. Sie wollten selbst entscheiden, welche Themen für die Bühne aufgegriffen und wie die Inhalte auf der Bühne verhandelt wurden. Tara Arts wollte sich der eurozentristisch ausgerichteten Theater- und Kulturszene widersetzen, die in den siebziger und achtziger Jahren black arts als ethnische Kunst im Sinne einer an der traditionellen Kultur des Herkunftslandes orientierten Kunst wahrnahm und keinen Zugang für Künstler nichtweißer Herkunft in den Mainstream zuließ. Die Tatsache, dass die artists of color als Quereinsteiger – und nicht als klassisch ausgebildete Theatermacher – zum Theater finden, hat einen wichtigen biografischen Grund. Den sogenannten Quereinsteigern geht es um die Absicherung ihres Lebensweges, der durch eine zweite Ausbildung und damit einen sicheren Beruf gewährleistet scheint. So haben sowohl der schwedische Autor Jonas Hassen Khemiri wie auch der junge Autor Deniz Utlu, der unter anderem beim Ballhaus Naunynstraße eine Lesereihe kuratiert hat und seit Herbst 2013 die Literaturwerkstatt am Gorki Theater mit Marianna Salzmann leitet, Volkswirtschaftslehre studiert. Die Gründe weichen zunächst nicht maßgeblich von den Gründen weißer Theatermacher ab. Der Lebensunterhalt kann mit reiner Theaterarbeit nicht bestritten werden. Aber bei vielen Theatermachern of color basiert die doppelte Ausbildung auch auf der Migrationsgeschichte und dem Bedürfnis nach einem sicheren Ausbildungsberuf, der im Zweifelsfall auch dauerhaft neben der Theaterarbeit betrieben werden kann.
4.4.3 Autodidakten Gerade in der jüngeren Zeit wird in allen untersuchten europäischen Ländern versucht, mit Theater sämtliche Bevölkerungsgruppen zu erreichen, also auch sogenannte bildungsferne bzw. theaterferne Gruppen. Alte pädagogische Berufe wie Theaterpädagogik haben eine stärkere Bedeutung erhalten, aber auch neue Theater vermittelnde Berufszweige haben sich entwickelt. Es soll die Partizipation von Menschen aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen ermöglicht werden. 208 | Verma, Jatinder: »What the migrant saw«, in: The Guardian vom 2008, S., http:// color.theguardian.com/stage/2008/jan/10/theatre1 209 | Vgl. G. Ley: Tara Arts, S. 13.
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So werden in den letzten zehn Jahren an den institutionalisierten Theaterhäusern wie auch an den freien Produktionsorten immer mehr Programme für verschiedene Bevölkerungsgruppen angeboten, unter anderem auch Programme, die speziell auf Jugendliche of color ausgerichtet sind. Fast jede Theatergruppe bietet diese Arbeit mit Heranwachsende an, wobei nur wenige ohne paternalistische Vorgehensweisen auskommen. Damit ist die Tatsache gemeint, dass nicht für die Jugendlichen Theater entwickelt, sondern tatsächlich mit den Jugendlichen eine Sprache und Form gefunden wird. Das Ballhaus Naunynstraße bot von Anfang an Projekte der kulturellen Bildung und Kunstvermittlung an. Ein sehr erfolgreiches Projekt ist die akademie der autodidakten. Mit ihr soll Jugendlichen und jungen Erwachsenen, vornehmlich mit Einwanderungsbiografie, die keine akademische Ausbildung haben, allerdings eine künstlerische Begabung mitbringen, der Zugang zur Kulturproduktion eröffnet werden. Erfolgreiche Absolventen dieser Akademie sind unter anderem Neco Çelik, Hülya Duyar und Tamer Yiğit. Die Projekte der akademie der autodidakten werden von Regisseuren und Künstlern aus dem Ballhaus Naunynstraße betreut. Es werden regelmäßige Theater- und Schauspielworkshops angeboten, die für junge Theaterinteressierte offen sind. Die Jugendlichen sollen bei Theater- und Videoproduktionen die künstlerische Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen in eigenen Texten und eigenen Produktionen erlernen und sich einen kreativen Ausdruck aneignen. Die akademie der autodidakten inszenierte 2007 ihr erstes erfolgreiches Projekt Klassentreffen – Die 2. Generation. Der zweite Teil des Zyklus Ferienlager – Die dritte Generation wurde von Lukas Langhoff produziert und 2010 zum Theatertreffen der Jugend eingeladen. Der dritte Teil Pauschalreise war eine Zusammenarbeit von Lukas Langhoff und Hakan Savas Mican. Ein weiteres erfolgreiches Format ist die von Neco Çelik angeregte Kiez-Monatsschau – Nachrichten aus der Naunynstraße, wobei erfahrene Künstler aus unterschiedlichen Disziplinen Pate stehen. Eine Künstlerin, die in dieser Hinsicht sehr erfolgreich mit Jugendlichen zusammenarbeitet, ist Asli Kislal aus Wien. Die Mitbegründerin von DasKunst initiierte auch den Verein Echo mit Jugendlichen of color. Ähnlich wie bei der akademie der autodidakten sind die Jugendlichen in den Ablauf der gesamten Arbeitsfelder am Theater involviert. Einer der erfolgreichen Jugendlichen aus dem Verein Echo ist Oktay Güneş, der nun als Schauspieler für DasKunst, GarageX und das Kindertheater Dschungel Wien arbeitet. Echo erhielt 1995 den Preis für die Beste Jugendtheatergruppe Österreichs. In einer Kombination aus Sprechtheater, Elementen des Tanztheaters und akrobatischen Einlagen werden dort Stücke entwickelt, die aus der eigenen Perspektive auf die Gesellschaft schauen. Aus einer Kollaboration mit DasKunst ist dann beispielsweise 2004 die Produktion Dirty Dishes entstanden, eine Sozialkomödie aus England, die von den Schicksalen illegal beschäftigter Migran-
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ten in der Küche einer Pizzeria handelt. Das Stück wird ›umgangssprachlich‹ auf die Bühne gebracht, der Hinweis »Vorsicht: kein Bühnendeutsch!« auf der Website und im Programmheft ankündigt.210 In einer weiteren Produktion, allerdings mit gecasteten Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus Linz, wurde das Theaterstück Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje im Jahre 2012 sehr erfolgreich am u\hof: Landestheater Linz inszeniert. Die Theaterarbeit, die sich über ein Dreivierteljahr hinzog, brachte hoch engagierten jugendlichen Schauspielern hervor, deren Begeisterung fürs Theater sowohl auf der Bühne als auch im Interview deutlich wurde.
5. Ä sthe tische Tendenzen und E inflüsse auf das europäische The ater Was sind die ästhetischen Einflüsse, die artists of color in den nationalen und europäischen Theaterszenen ausgeübt haben? Kann man überhaupt von einer Ästhetik der Migration sprechen? Eine aus den Kunstwissenschaften entliehene Konzeption, die von der Kulturtheoretikerin Mieke Bal geprägt wurde, ist »migratory aesthetics«.211 Mieke Bal beschreibt »migratory aesthetics« als den Versuch einer theoretischen Verortung von Migration als Metapher für künstlerische Praxis in der Kunst. Sie orientiert sich an der »relationalen Ästhetik« von Nicolas Bourriaud, der »emphatischen Ästhetik« von Jill Bennett und der politischen Kunst, denen die Vorstellung unterliegt, dass ein Kunstwerk leer ist, solange ihm der Akt des Betrachtens nicht innewohnt. Erst durch den Betrachter und seinen Blick erhält das Kunstwerk eine Bedeutung und wird damit zum Ausdruck eines politischen Aktes. Bei den »migratory aesthetics« ist das Migrantische als ein Attribut oder eine Modifikation zu denken, die sich nicht auf den Migranten, auf den Akt der Migration oder den gelebten Zustand der Migration bezieht, sondern einen Komplex der Diskrepanz von Zuschreibung, Unklarheit und Vagheit erschafft. Mit »migratory aesthetics« kann das Feld von Möglichkeiten und die Grundlage für Experimente eröffnet werden, um Zusammenhänge der Migration zu beleuchten, ohne diese auf eine bestimmte Verknüpfung – beispielsweise auf den Migranten als Subjekt – zu reduzieren.
210 | Homepage des Theaters http://color.daskunst.at/dirty%20dishes.html 211 | Vgl. Bal, Mieke: »Lost in Space, Lost in the Library«, in: Sam Durrant/Catherine M. Lord (Hg.), Essays in Migratory Aesthetics. Cultural Practices Between Migration and Artmaking, New York: Editions Rodopi 2007, S. 23-37, hier S. 23ff.
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Um sich der Natur der »migratory aesthetics« zu nähern, greift Mieke Bal ein Beispiel aus der künstlerischen Praxis auf, bei dem sie – zusammen mit einem iranischen Künstler – eine Videoinstallation zum Thema Home, security and borders entwickelte und hierfür Personen mit Fluchterfahrungen interviewte. Anhand dieses Projektes, dessen Ästhetik schließlich von der ›Vertreibung‹, Bedeutungsverschiebung wie auch Aneignung des sprachlichen und ästhetischen Raumes geprägt wurde, beschreibt sie ihr Konzept der »migratory aesthetics«. Ein Moment, an dem sich nach Bals Beschreibungen die Idee von »migratory aesthetics« in ihrem Projekt manifestierte, war das Interview mit einem iranischen Mann, der zu dem Zeitpunkt seit etlichen Jahren Asylsuchender in Deutschland war. Der Mann, nur eingeschränkt der englischen Sprache mächtig, konnte sich erst adäquat – nicht nur auf eine linguistische, sondern auch sinnliche und damit auch ästhetische Weise – äußern, als er dies in seiner eigenen Sprache tat. Die Befreiung für den Befragten bedeutete allerdings in dem Moment eine Vagheit und Diskrepanz für die Fragende, die seine Sprache nicht beherrschte. Aber durch das Zulassen des Raumes und das Hinnehmen einer doppelten Diskrepanz – zwischen Sprache und Verständnis, aber auch zwischen sinnvollen und sinnleeren Geräuschen – wurde eine »migratory aesthetics« geschaffen. Die Sprache des Mannes hat die Ästhetik des Filmes bestimmt.212 Davon ausgehend beschreibt sie nun »migratory« als konstruktive Betrachtungsweise eines ästhetischen Ereignisses, das losgelöst von der Gewissheit einer geopolitischen Zuordnung zu einer vagen Erfahrung wird, bei der die Selbstermächtigung und die Selbstrepräsentation Schlüsselelemente bilden.213 Wie kann aber mit dem Problem der Vagheit umgegangen werden oder umgekehrt: wie kann in den Analysen der kulturellen Prozesse und Kunstwerke kulturell spezifisch vorgegangen werden, ohne die Menschen oder die Kunstwerke mit einer Zuschreibung festzulegen, der sie nicht mehr zugehören oder sich eben nicht mehr zugehörig fühlen? Mieke Bal schlägt vor, in Abwesenheit von klarer kultureller Identität von einem »multikulturellen Spezifikum« auszugehen, das nicht dem Konzept des Multikulturalismus zuzuordnen ist, sondern auf der Idee fußt, dass in der globalisierten Welt keine zentrale Kultur existiert, sondern Kultur in speziellen Kontextrahmen definiert werden muss, denen wiederum diverse Relationen innewohnen.214 Es sei nur möglich, indem das Label der kulturellen Herkunft, die sie als fremd beschreibt, aufgehoben und die synästhetische Ganzheit – das multikulturelle Spezifikum – von Darstellung zugelassen wird.
212 | Vgl. ebd., S. 27. 213 | Vgl. ebd., S. 30. 214 | Ebd., S. 32.
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Diese aus der Praxis rekurrierenden theoretischen Überlegungen zu »migratory aesthetics« lassen sich in ihrem Kern auf die Ästhetik von Künstlern of color übertragen. Wie bereits dargestellt, ist das Labeln, die national-kulturell-ethnische Zuweisung, eine Problematik, die immer wieder im Mittelpunkt der künstlerischen Praxis von artists of color steht. Wie im Folgenden erläutert wird, sind genau dies die politischen Forderungen und Inhalte, die durch Perspektiven von Künstlern auf der Bühne sichtbar werden, die »migratory aesthetics« nahekommen. Gerade in der Vagheit und in der Leerstelle von Zuschreibung wie auch im Kampf um Aneignung von ästhetischen Freiräumen lassen sich Tendenzen von postmigrantischen Perspektiven erkennen. Es sind Perspektiven der Marginalisierten, der Subalternen, die eben sehr oft von Rassismus und Diskriminierung und damit von kultureller Stagnation der Aufnahmeländer sprechen und sich mit dem voyeuristischen Blick der Mehrheitsgesellschaft auf die gelabelten ästhetischen Produktionen auseinandersetzen.
5.1 Metapher der Migration, Metapher des Displacement Die Metapher der Migration dient als ästhetische Figur für eine Reihe von Verschiebungen in der künstlerischen Praxis mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Zwecken: um die zunehmende Fragmentierung der Subjektivität in der (Post-)Moderne zu veranschaulichen, um die semantische Instabilität der Konstruktionen von (persönlicher/kultureller/nationaler) Identität zu reflektieren, um auf der Homologie zwischen den Erfahrungen der Entwurzelung und denen der Destabilisierung essentialistischer Ideologien sowie fester Paradigmen und Denkmuster zu insistieren.215 Migration führt zwangsläufig zur Alteration von Traditionen, die das Bezugssystem der Interpretation und Übersetzung einer universalen Beurteilung und Kategorisierung unmöglich machen und die eine inkommensurable Ästhetik oder die Ästhetik der Inkommensurabilität produzieren.216 Die Dimension der Inkommensurabilität wird als metaphorische Konstruktion immer wieder in den Arbeiten von Künstlern of color sichtbar. Die metaphorischen Konstruktionen lassen sich in Theaterstücken erkennen, die Migration als Phänomen thematisieren oder eben Personen porträtieren, deren subjektive Erlebnisse zur Metapher für Migration und Displacement werden. Sehr oft wird die Darstellung von Subjektivität als Platzhalter für den strukturellen Einfluss und damit das Phänomen der Mig215 | Vgl. Huggan, Graham: »Unsettled Settlers: Postcolonialism, Travelling Theory and the New Migrant Aesthetics«, in: S. Durrant/C. M. Lord (Hg.): Essays in Migratory Aesthetics (2007), S. 129-144, hier S. 131. 216 | Vgl. Durrant, Sam: »Storytellers, Novelists and Postcolonial Melancholia: Displaced Aesthetics in Chinua Achebe’s Things Fall Apart«, in: ders./C. M. Lord (Hg.): Essays in Migratory Aesthetics (2007), S. 145-160, hier S. 145.
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ration gewählt. Zusammen stellen die metaphorischen Darstellungen der Migration die Grundlage von Wissen und sich wandelnder Beschreibungen von politischen, sozialen und kulturellen Geschichtsauffassungen dar. Die Metapher der Migration und die Metapher des Displacement – oder eben Entwurzelung – sollen hier an zwei Beispielen erläutert werden. Beide Theaterstücke wie auch die jeweiligen Inszenierungen beschäftigen sich mit dem Leben in der Migrationsgesellschaft, in der Personen durch ihre Rasse, Ethnie, Nationalität etc. definiert werden, in der Subjekte zu Objekten werden und die subjektive Perspektive bzw. der subjektive Blick gesellschaftlich nicht zugelassen wird.
5.1.1 Ich rufe meine Brüder Der schwedische Autor Jonas Hassen Khemiri schrieb Ich rufe meine Brüder inspiriert von einem Vorfall, der sich in Stockholm im Jahr 2010 ereignete, als ein junger Schwede irakischer Herkunft, Taimour Abdulwahab al-Abdaly, eine Bombe zündete, sich selbst tötete und zwei weitere Personen verletzte. Bei diesem Angriff kam zwar nur der Attentäter selbst ums Leben, aber die Ereignisse führten in der schwedischen Gesellschaft zu einer öffentlichen Debatte, in deren Mittelpunkt die Bedrohung durch und damit ein Generalverdacht gegen die muslimische Bevölkerung in der schwedischen Gesellschaft verhandelt wurde. Khemiri verarbeitete diesen gesellschaftlichen Generalverdacht, dem Menschen of color in Schweden aufgrund ihrer Rasse, Ethnie oder auch Nationalität unterlagen, in dem Theaterstück Jag ringer mina bröder (Ich rufe meine Brüder), das Farnaz Arbabi für das Stadsteater Malmö im Jahre 2013 inszenierte. Ich rufe meine Brüder handelt von Amor, dessen Name auf eine arabische Zugehörigkeit schließen lässt und der im Laufe des Theaterstückes mehrmals einige (tunesisch-)arabische Wörter benutzt sowie vom »zweiten Land« spricht. Die Bedeutung dieser ethnischen Kennzeichnung erschließt sich im Laufe der Handlung, da sie keine Selbstwahrnehmung darstellt, sondern eine inkorporierte Fremdzuschreibung ist. Der als Dialog getarnte, aber im Kopf des Protagonisten ablaufende Monolog findet unmittelbar nach den Bombenanschlägen im Zeitraum von 24 Stunden statt. Amor ruft seine Brüder an, um ihnen von der Explosion und dem Selbstmordattentäter zu erzählen. Im Laufe der Zeit wird deutlich, dass die Anrufe nicht seinen biologischen Brüdern gelten. Es sind viel mehr Brüder im Geiste, Brüder der Erfahrung von gesellschaftlicher Exklusion und strukturellem Rassismus. »Ich rufe meine Brüder an und sage: Da ist neulich so ein krankes Ding passiert. Habt ihr gehört? Ein Mann. Ein Auto. Zwei Explosionen. Mitten in der City. Ich rufe meine Brüder an und sage: Nein, niemand wurde gefasst.
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater Niemand wird verdächtigt. Noch nicht. Ich rufe meine Brüder an und sage: Jetzt geht’s los. Haltet euch bereit.« 217
Auf der vermeintlichen Suche nach einem Ersatzteil für einen Bohrer bewegt sich Amor durch die Innenstadt von Stockholm, die noch in Aufruhr ist und voll mit Polizei. Amor versucht sich so ›normal‹ bzw. unauffällig wie möglich zu verhalten. »Ich rufe meine Brüder an und sage: Jetzt ist es soweit. Der Tag ist gekommen. Die Stunde hat geschlagen. Aufwachen! Hallo – aufwachen! Es ist Zeit zum Aufstehen. Steigt aus euren Betten. Rasiert eure Wangen. Zieht euch ordentliche und saubere Kleidung an. Achtung: Die Kleidung muss anonym sein. Die Kleidung darf nicht zu anonym sein. Sie darf nicht so anonym sein, dass sie in ihrem Anonymsein auffällt. Genau. Das Ziel ist, zu verschmelzen. Das Ziel ist, unsichtbar zu sein. Lasst das Palituch zu Hause. Tragt keine verdächtige Tasche. So – jetzt seid ihr fertig. Jetzt könnt ihr eure Wohnungen verlassen. Aber bevor ihr rausgeht, müsst ihr euch bewaffnen. Was? Nein, warum denn? Packt ein Tranchiermesser ein. Schleift einen Schraubenzieher zurecht. Schmuggelt eine Rasierklinge in die Brieftasche. Ist das wirklich notwendig? Jetzt seid ihr bereit. Verlasst eure Wohnungen. Verwandelt euch in Repräsentanten. Lacht alles und jeden an. Die Nachbarn. Die Haustiere. Die Schaufensterpuppen. Bedankt euch GANZ laut, falls euch jemand die Tür aufhält. Entschuldigt euch dafür, dass es euch gibt. Flüstert in U-Bahnen. Kichert leise in Kinosälen. Verwandelt euch in unsichtbare Gase.« 218
Aber was ist normal? Und wer ist der potenzielle Verdächtige? Er fragt sich, was passiert, wenn er Ziel von verdächtigenden Blicken von Menschen, der Polizei und der schwedischen Gesellschaft wird? Denn Amor stellt fest, dass er äußerlich Ähnlichkeiten mit dem Attentäter hat. Er ist nicht weiß wie der Rest der Gesellschaft, er ist schwarz – er ist arabisch. Er könnte der Attentäter sein, weil er schwarze Haare hat und eine dunkle Haut. Er ist ein Verdächtiger, denn er wird durch die öffentliche Stimme zu einem Verdächtigen gemacht. Die Paranoia der Stadt wird zu seiner eigenen. Im Laufe des Stückes verliert sich Amor und zweifelt immer mehr an seiner Unschuld: »Ich rufe meine Brüder an und flüstere: Okay. Ich geb’s zu. Ich war’s. Pause. Was meinst du? Ich war’s … das Auto. Die Explosionen. Wovon redest du? Natürlich warst du das nicht. 217 | Khemiri, Jonas Hassen: Ich rufe meine Brüder. Übersetzung von Jana Hallberg. Hamburg: Rowohlt Theater Verlag 2013. S. 3. 218 | Ebd. S. 24f.
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Azadeh Sharifi Doch, ich war’s. Aber … nein, du warst es nicht. Wir wissen, dass du es nicht warst. Doch, ich muss es gewesen sein. Alles deutet darauf hin. Ich war’s.« 219
Und dann gibt es die Erlebnisse seiner Freunde und Familie, die Opfer von rassistischen Übergriffen geworden sind, weil sie eben nicht weiß sind: »Als ich näher kam, erinnerte ich mich an den Polizisten, der auf Houdas Cousin losgegangen war und ihn blutig geschlagen hatte, mit der Rückseite seines Gummiknüppels, nur weil er das Maul aufgerissen hatte, und an die Wachmänner, die Nasims Schienbein gebrochen haben und ihn dann wegen Gewalt gegen Beamte angeklagt haben, und an Maribels Schwester, die nicht in den Soulclub reindurfte, und als sie Diskriminierung schrie, riefen die Türsteher die Polizei und die Polizei kam und fand eine Tüte Weed in ihrer Handtasche, obwohl sie in ihrem ganzen Leben niemals Gras geraucht hat« 220
Schließlich verliert er seinen ›Kampf‹ gegen die hegemoniale Darstellung seiner Person, die durch die ständige Wiederholung der Massenmedien und der Politiker zu seiner eigenen Meinung wird. Das Stück endet mit den Worten: »Ich rufe meine Brüder an und sage: Da ist neulich so ein krankes Ding passiert. Ich war auf dem Heimweg, als ich ein sehr verdächtiges Individuum erblickte. Es hatte schwarze Haare und einen ungewöhnlich großen Rucksack und sein Gesicht war mit einem Palituch verhüllt. Pause. Ich rufe meine Brüder an und sage: Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, bis ich begriff, dass dies mein Spiegelbild war.« 221
Auch wenn Ich rufe meine Brüder als eine intime psychologische Reise eines jungen Mannes geschrieben wurde, ist es eine Parabel auf die europäischen Gesellschaften, bei der nicht die ›Doktrin‹ eines Attentäters, sondern die Doktrin der Gesellschaft aufgedeckt wird. Die Metapher des Displacement und der Marginalisierung wird in der Omnipräsenz des gesellschaftlichen (antiislamischen) Rassismus deutlich. Der Moment der »migratory aesthetics« ist die Aneignung der diskursgeprägten Zuweisungen, bei denen Amor seine Brüder aufruft, gesellschaftlich ›sichtbar‹ zu werden.
219 | Ebd. S. 52. 220 | Ebd. S. 53. 221 | Ebd. S. 64.
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5.1.2 What Fatima did Ein weiteres Stück, das ein ähnliches Phänomen aufgreift, ist What Fatima did, das 2009 im Hampstead Theatre London uraufgeführt wurde.222 Darin ist Fatimas Kopftuch die Metapher einer andauernden europäischen Debatte um das Fehlen der Perspektive der ›Kopftuchträgerin‹. Es zeigt die Perspektiven der anderen auf sie und entlarvt damit die Vorurteile und geschürten Ängste, die in dieser Stellvertreterdebatte vorgeführt werden. Die Hauptfigur ist Fatima, ein modernes junges Mädchen in London, das wie alle anderen englischen Mädchen Alkohol trinkt, raucht und Party feiert. Plötzlich aber beschließt sie ein Kopftuch (den Hidschab – das traditionelle Kopftuch der muslimischen Frauen, um die Haare zu bedecken) zu tragen. Die Auswirkungen, die diese Entscheidung bei ihrer Familie wie bei ihren Freunden auslöst, werden in dem Theaterstück thematisiert. Dabei bleibt aber die Hauptfigur, Fatima selbst, unsichtbar und stumm. Sie ist im gesamten Stück nicht anwesend und wird entweder von anderen zitiert oder in Form von schriftlichen Aussagen präsentiert. Fatimas Entscheidung wird in ihrer Abwesenheit diskutiert. Für ihre Mutter stellt das Kopftuch einen Verrat ihrer Werte dar. Die Mutter, Ruckshana, ist eine resolute, hart arbeitende Frau, die gerne Wein trinkt. Sie erzählt, wie sie bei ihrem Exmann das Recht auf ›westliche‹ Kleidung erkämpfen musste und wie bereits ihre Mutter dafür kämpfen musste, kein Kopftuch zu tragen. Auf der Bühne sagt sie über ihre Tochter: »She looks like a bloody fundamentalist postbox, I told her I’d be happier if she’d turned out to be a one-legged, pregnant prostitute than a hijab wearer.«223 Fatima ist nicht die einzige muslimische Person. Ihre beste Freundin Aisha hat Angst vor dem Kopftuch. Für sie ist dieses Stück Stoff mit Blut befleckt, da es manchen Frauen aufoktroyiert wird. Als Fatimas Exfreund Georg sie zum ersten Mal verschleiert sieht, beschwert er sich: »My girl just came in looking like she’d come from sucking Bin Laden off.«224 Georg möchte an der Beziehung festhalten, doch der Versuch, seine Beziehung zu Fatima zu retten, endet in einer Katastrophe. In seiner Verzweiflung reißt Georg Fatimas Kopftuch herunter. Sie reicht daraufhin in der Schule eine Beschwerde wegen rassistischer Belästigung ein. Fatimas Zwillingsbruder, Mohammed, kann zunächst nicht verstehen, warum sich alle über Fatimas Entscheidung aufregen, aber als die Situation im Freundeskreis eskaliert, wird er von seiner Umwelt zur Rechtfertigung der Position seiner Schwester ge222 | 2011 wurde What Fatima did von Mina Salehpour am Niedersächsischen Staatstheater Hannover inszeniert. 223 | Gupta, Atiha Sen: What Fatima did. London: Oberon Books Ltd 2012. S. 27 224 | Ebd. S. 21.
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zwungen. Im Streit mit seiner Mutter wirft er ihr vor, dass sie ihnen muslimische Namen gegeben habe und sich dann wundere, dass sie da hinein wachsen. Und so bleibt das satirische Spiel um ein Stück Stoff, dessen Repräsentativität für die Identitätsfragen im zeitgenössischen England nicht größer sein könnte, ungeklärt. Fatima bleibt fern der Bühne verschleiert, unsichtbar und stumm. Während die Außenstehenden die Vorzüge des Hidschabtragens diskutieren, ist es der einzigen Person, die wirklich versteht, nicht erlaubt, ihre eigenen Motivationen zu erklären. Atiha Sen Gupta hat What Fatima Did als Reaktion auf die Ereignisse von 9/11 geschrieben. Im Theaterstück soll einerseits die existierende öffentliche Debatte um das Kopftuch als weibliche Bekleidung und Verschleierung thematisiert werden. Ist der Hidschab eine patriarchalische Form der Kontrolle, ein Symbol der politischen Autonomie oder einfach nur eine Spaßmodeaussage? Im Interview weist sie darauf hin, dass der Hidschab seit jeher ein politisches Symbol ist. »Part of the problem is that the hijab and the burka tend to make the wearer visible as a Muslim and invisible as a woman.«225 Andererseits geht es ihr aber um die Darstellung, wie der ›Andere‹ im öffentlich-medialen Diskurs marginalisiert und exkludiert wird. Die Abwesenheit von Fatima als Subjekt, die Abwesenheit ihrer Stimme auf der Bühne verweist auf den postkolonialen Diskursansatz von Gayatri Spivak »Can the subaltern speak?«. Spivak thematisiert darin Rassismus und Machtverhältnisse bei dem Verbot von Witwenverbrennungen in Indien. Sie schreibt, dass alles, was über Witwenverbrennungen zu erfahren ist, nur von britischen Kolonialherren oder hinduistischen Führern stamme, aber niemals von den Frauen, die sich für die Verbrennung als Witwe entschieden haben. Das Fehlen der eigenen ›Stimme‹ in diesem Kontext führt Spivak an, um darüber nachzudenken, ob die »Subalternen« – die »entmachtet« dargestellten Frauen – im öffentlichen Diskurs eine eigene Meinung, eine eigene Stimme haben dürfen.226 Sen Guptas Figur Fatima bringt diesen theoretischen Diskurs auf die Bühne und untermauert Spivaks These, in der über und im Namen der Subalternen gesprochen, aber niemals die ›Subalterne‹ selbst zu Wort kommen darf.
5.2 Postmigrantische Perspektiven im Theater Ein weiteres Merkmal des Theaters von Personen of color ist das Politische. In den Reflexionen zum postdramatischen Theater haben sich Theaterwissenschaftler und Theatermacher mit dem Politischen im Theater auseinanderge225 | Alfree, Claire: Tales of Terror in What Fatima Did, 2009, http://metro.co.uk/ 2009/10/21/tales-of-terror-in-what-fatima-did-3438124/ 226 | Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia & Kant 2007, S. 214.
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setzt. So wird das Politische als Teil des Theaters verstanden, als dem Theater eingeschrieben, als dem Theater strukturell innewohnend. Jan Deck führt an, dass im Theater mithilfe konkreter Aktionen physisch und symbolisch im realen Raum interveniert werden könne. Dabei ist die Intervention zuallererst eine ästhetische, die auf eine veränderte Wahrnehmung des Zuschauers zielt. Damit können die Selbstverständlichkeit von gesellschaftlichen Zusammenhängen hinterfragt und gesellschaftlich normierte Kontrollmechanismen untergraben werden. Politisch Theater aufzuführen ziele darauf ab, den künstlerischen Prozess zum politischen Akt zu machen.227 Er bezieht sich dabei auf Rancière, wenn es ihm darum geht, das Politische im Theater als das Schaffen von Räumen und Beziehungen zu verstehen, um materiell und symbolisch das Territorium des Gemeinsamen neu zu gestalten.228 Hans-Thies Lehmann schlägt vor, dass beim Theater nicht mehr »zu den Rändern« hin, sondern »von den Rändern her«229 gedacht werden sollte. Als Beispiel bezieht er sich auf ein von Jacques Derrida verfasstes Essay, dass anlässlich des Theaterprojekts Karl Marx théâtre inédit von Jean-Pierre Vincent und Bernard Chartreux am Théâtre des Amandiers in Nanterre entstand. Bei diesem Theaterstück wurde die Lage der sans papiers (in Frankreich illegal lebender Menschen) thematisiert. Derrida schreibt, dass »man durch das Theater etwas geschehen lassen wird, aber nicht, indem man repräsentiert, imitiert oder eine politische Realität auf die Bühne bringt, die anderswo stattfindet, um allenfalls eine Botschaft oder eine Doktrin abzusetzen, sondern, indem man die Politik oder das Politische in die Struktur des Theaters gelangen lässt, das heißt, indem man auch die Gegenwart auseinanderbricht« 230.
Auseinanderbrechen der Gegenwart heißt hier, dass im Theater andere Stimmen zu Gehör zu bringen wären. Derrida, so Lehmann, spricht im gleichen Zusammenhang davon, dass eine ursprüngliche Repolitisierung des Theaters notwendig wäre, die die »Form, die Zeit und den Raum des theatralischen
227 | Vgl. Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld: transcript 2011, S. 28. 228 | Vgl. Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen Verlag 2007, S. 32. 229 | Lehmann, Jan-Thies: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin: Theater der Zeit 2012. S. 20. 230 | Derrida, Jacques: »Marx, das ist jemand«, in: Zäsuren. E-Journal für Philosophie, Kunst Medien und Politik 1 (2000) (Ökonomien der Differenz), hg. v. COLOR.-J. Lenger/J. Sasse/G. Ch. Tholen, S. 58-70, hier S. 65.
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Ereignisses verändert«231, Theater, das seine ästhetische Begrenzung durchbricht, indem es seiner politischen Verantwortung folgt, sich auf fremde Stimmen einzulassen, die kein Gehör und in der politischen Ordnung keine Repräsentation finden, den Ort des Theaters zu öffnen für das politische Draußen. Im Sinne Derridas kann das Politische beim postmigrantischen Theater als postmigrantische Perspektive verstanden werden. Postmigrantisch ist dann eine politische Dimension, bei der die Gesellschaft nicht mehr aufgrund der Nationalität definiert, sondern als eine von Migration geprägte verstanden wird. Eine postmigrantische Perspektive auf die Gesellschaft wäre, wie schon Mieke Bal in ihren »migratory aesthetics« zeigte, nicht mehr als Ausnahme zu akzeptieren oder eben hinzunehmen, sondern als gesellschaftlich-bestimmende Konstante aufzufassen. Im Theater bedeutet es zuallererst die Repräsentation von ›ungehörten‹ und ›ungesehenen‹ Stimmen und Perspektiven. Die Tatsache, dass diese sich zunächst von diskriminierenden Zuschreibungen und rassistischen Stereotypisierungen befreien müssen, scheint in den recherchierten Theaterarbeiten ein durchgehendes Element zu sein.
5.2.1 Verrücktes Blut Bereits die zuvor dargestellten Theaterstücke weisen Perspektiven auf das Theater auf, die hier im Folgenden als postmigrantisch beschrieben werden. Trotzdem wurde als Beispiel das Theaterstück ausgewählt, das das sogenannte »postmigrantische Theater« bekannt gemacht hat. Nurkan Erpulat hat mit Verrücktes Blut das Ballhaus Naunynstraße und damit das postmigrantische Theater über Deutschlands Theaterwelt hinaus sichtbar gemacht. In einem Interview, das er vor dem Erfolg und seinem Durchbruch gab, beschreibt er die Festlegung und Zuschreibung seiner Person auf ›ethnische‹ bzw. gelabelte Kunst: »Ich behaupte mal, dass ich Shakespeare besser kenne als Neuköllner Straßengeschichten. Aber den Intendanten fehlte bis jetzt der Mut, mich auch solche Stoffe inszenieren zu lassen. […] Bis dato war ich ja ausschließlich für interkulturelle Themen zuständig.«232 Die Tatsache, dass Erpulat bereits in der Türkei eine künstlerische Ausbildung erhalten und in Deutschland sowohl ein Theaterpädagogikstudium wie auch ein Regiestudium absolviert hat, hatte bei der Vergabe von Auftragsarbeiten seitens der künstlerischen Leiter der Theaterhäuser anscheinend keine Bedeutung. Seine Erfahrung zeigt, dass lediglich die ethnische Zugehörigkeit entscheidend ist, einen türkisch-stämmigen Regisseur für die »Neuköllner 231 | Lehmann, Hans-Thies: »Wie politisch ist Postdramatisches Theater?«, in: J. Deck/A. Sieburg (Hg.): Politisch Theater machen (2011), S. 29-40, hier S. 33. 232 | Erpulat, Nurkan/Wildermann, Patrick: »›Menschen zu besseren Menschen machen‹. Der Autor und Regisseur Nurkan Erpulat im Gespräch mit Patrick Wildermann«, in: Theater der Zeit. Zeitschrift für Politik und Theater 11 (2010), S. 48.
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Straßengeschichten« zu prädestinieren. So kann das Theaterstück Verrücktes Blut als Auseinandersetzung mit diesen Stereotypen und Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft gelesen werden. Erpulat nimmt hierin die Dekonstruktion und auch die Aneignung der Theaterbühne für Menschen of color vor. Die Geschichte handelt von einer Lehrerin, die von ihren Schülern – meist mit ›sichtbarem Migrationshintergrund‹ – beleidigt und schikaniert wird. Sie ist nicht in der Lage, sich gegen die pubertären Verhaltensformen ihrer Schüler verbal zur Wehr zu setzen. Bei dem ›missionarischen‹ Versuch, ihren disziplinlosen Schülern die idealistischen Vorstellungen des klassischen Theaters von Friedrich Schiller nahezubringen, fällt ihr in einem Gerangel eine Pistole in die Hände. Aus Hilflosigkeit oder vielmehr aus der ihr plötzlich zugefallenen Machtposition heraus macht sie ihre Schüler zu Geiseln und zwingt sie mit vorgehaltener Waffe, auf der Schulbühne Theater zu spielen. So setzt sie ihre Mission der schillerschen Aufklärung mit Gewalt um. In der Inszenierung von Nurkan Erpulat am Ballhaus Naunynstraße werden alle Rollen von jungen Schauspielern of color gespielt, die bei weiten Teilen des (weißen) Publikums wie auch der Presse als ›authentisch‹ interpretiert wurden. Diese Einschätzung hatte weniger mit dem Authentischen, als vielmehr mit der Vorführung genau dieser stereotypen Zuschreibung zu tun. Die Schauspieler of color wurden aufgrund ihrer Qualität und nicht aufgrund ihrer ›Authentizität‹ ausgewählt. Zu Beginn des Stückes sind auf der Spielfläche die Schauspieler zu sehen, die ihre Bühnenkleidung vor den Augen des Publikums anziehen. Nachdem sie so in ihre Rollen geschlüpft sind, beginnen sie das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes zu bespucken. Erst dann fängt das Schauspiel an, in dem zunächst die Demütigung der Lehrerin dargestellt wird, um einen ›gewaltvollen‹ Machtwechsel zu rechtfertigen, bei dem die Lehrerin dann die eigenen erlebten Demütigungen an den Schülern physisch wie auch psychisch ausagiert. Die Jugendlichen sollen Schiller spielen, getreu dessen Maxime zur ästhetischen Erziehung, der Mensch sei »nur da ganz Mensch, wo er spielt«233. Aber beim Spiel im Spiel werden zunehmend die Identitäten vertauscht und die Theatertexte von Schiller bekommen eine neue Bedeutung. Die Rollen von Franz und Karl Moor, Amalie, Ferdinand und Luise werden durch die Realitätsaneignungen der Jugendlichen gebrochen. Die Vergiftung Luises durch Ferdinand in Kabale und Liebe wird als Ehrenmord entlarvt. In Verrücktes Blut ist diese Szene jedoch nicht im Sinne einer Identifikation mit der ›eigenen Tradition‹ der Schüler gemeint, sondern als das Vorführen eines überkulturellen Phänomens. Es ist kein Schüler, sondern die aus der deutschen Klassik entspringende Figur des Ferdinand, die einen Mord aus Ehrgefühl begeht. 233 | Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen, Stuttgart: Reclam 2005. S. 62f.
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Mit dem Fortgang der Geiselnahme vollzieht sich die langsame Dekonstruktion aller vermeintlich klaren Identitäten. Nach und nach eignen sich die Schüler die schillerschen Texte an, um ihre eigene Situation zu beschreiben. Dazwischen entstehen immer wieder Sprachbrüche. Die »Kanakengesten«234 und die falsche Aussprache der Schüler werden durch deutsche Volkslieder, die in einem ›korrekten Deutsch‹ gesungen werden, unterbrochen, um so eine neue ›Ordnung‹ auf der Bühne zu schaffen. Der Spielfläche in Form einer viereckigen Kampfarena wird die sittsame Anordnung eines Chors hinzugefügt, der mahnend zwischen den Szenen interveniert und zu einem verbindenden Element wird. Am Ende des Theaterstückes scheint die Lehrerin das Ziel ihrer Mission erreicht zu haben. Die Schüler sind ›aufgeklärt‹ , zitieren Schiller und die Leitsätze der Französischen Revolution und lehnen sich gegen die psychische und physische Gewalt auf. Nur die Lehrerin kann die Veränderung der Schüler nicht annehmen und will ihre Macht weiter ausleben. Mitten im Spiel um die Macht- und Gewaltausübung fallen nach und nach die Schauspieler aus ihren Rollen, die Lehrerin ›outet‹ sich als ›Türkin‹ und verliert die Lust an der »Kanakenselbsthassnummer«. Sie beschließen nun, gemeinschaftlich die Bühne zu verlassen, um einen »Döner« zu essen. Nur einer, ein zu Beginn gedemütigter Schüler, will von seiner Rolle als Franz Moor nicht ablassen und konfrontiert das Publikum mit der »Verantwortung«, die es bei diesem »Theaterstück« innehatte. Er greift zur Waffe, richtet die schillerschen Worte an das Publikum und schießt in letzter Konsequenz in den Zuschauerraum. In Verrücktes Blut zerfallen vermeintliche Stereotype von kulturellen Identitäten. Erpulat dreht den Blick und damit den Fokus weg von der Bühne hin auf das Publikum, das als Stellvertreter der deutschen Gesellschaft die Zuschreibungen vornimmt. Die voyeuristische Perspektive wird entlarvt und dem Publikum eine Verantwortung für Diskriminierung und Rassismus aufgeladen.
5.3 Formate des empowerment: Dokumentarisches Theater 5.3.1 Telemachos In einem Interview sagte Shermin Langhoff über die ästhetische Ausrichtung des postmigrantischen Theaters: »Ästhetisch orientieren wir uns unter anderem am Dokumentartheater, betreiben viele Realitätsrecherchen, bringen aber auch reale Protagonisten auf die Bühne. Wir gehen auch viel nach außen, präsentieren nicht nur im Theater, sondern performen beispiels234 | Erpulat, Nurkan/ Hillje, Jens: Verrücktes Blut. Frei nach einem Motiv aus dem Film »Heute trage ich Rock«
Drehbuch und Regie von Jean-Paul Lilienfeld. Berlin: Pegasus Verlag 2010. S. 6.
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater weise in anatolischen Männercafés genauso wie auf der Naunynstraße. Es geht sowohl um den Zugang zu neuen Produzenten und Geschichten als auch um die Gewinnung von neuen Rezipienten. Dies passiert, wenn Menschen sich mit Geschichten identifizieren können, und das gelingt uns insbesondere mit dem Ballhaus.« 235
Die Mittel des Dokumentartheaters und der Realitätsrecherchen dienen beim postmigrantischen Theater als Formate des empowerment. Ein Theaterprojekt, das als Kooperation zwischen dem Ballhaus Naunynstraße und dem Onassis Cultural Center in Athen entstand, ist Telemachos – Should I stay or should I go?. Telemachos ist im Sinne von Projekten der Theatergruppe Rimini Protokoll ein Dokumentartheater, bei dem die Akteure der jeweiligen Ereignisse auf der Bühne präsent sind und ihre Authentizität sowie die ihrer Geschichten innerhalb des Kunstrahmens des Theaters wahren. Die äußere Rahmenhandlung des Stückes bildet der altgriechische Mythos um Telemachos, den Sohn des Odysseus und der Penelope. Telemachos ist bei der Abreise seines Vaters Odysseus zum Trojanischen Krieg noch ein Kind und kann später nicht verhindern, dass Penelopes Freier Griechenland ausplündern. Odysseus ist verschollen und seinem Sohn, dem jungen Telemachos, stellt sich die Frage: bleiben oder gehen? Die Geschichte des Telemachos ist auf der Bühne mit den Geschichten der Akteure verknüpft, die aufgrund der wirtschaftlichen Situation Griechenlands von genau dieser Frage geprägt ist. Das deutsch-griechische Regieduo Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris versucht zusammen mit einer Reihe von Akteuren verschiedener Generationen, die ihr Leben selbst im Hin und Her zwischen Griechenland und Deutschland verbringen, dieses auf der Bühne zu verhandeln. Ihre Lebensgeschichten und die Berichte von ihren Aus-, Ein- und Rückwanderungen verknüpfen sich mit den Gesängen von den Irrfahrten und Abenteuern des Odysseus. Einer der Akteure fragt im Spiel: »Wenn wir nach Griechenland fahren, dann sagen sie, der Germanos ist da. Der Deutsche ist da. Also bitte. Also in Deutschland sind wir fremd, in Griechenland sind wir fremd. Wo sind wir nicht fremd? In der Türkei vielleicht?«236 Eine weitere Ebene bildet das Leben in Deutschland und die Geschichte der griechischen Gastarbeiter. Zwei der Akteure sind als Gastarbeiter in den sechziger und siebziger Jahren nach Deutschland gekommen. Der Regisseur Prodromos Tsinikoris selbst, ebenfalls auf der Bühne, ist Kind von eingewanderten griechischen Arbeitern und in Krefeld geboren. Sie erzählen vom Leben in Deutschland aus ihrer Perspektive.
235 | O.A.: »›Theater kann eine Identitätsmaschine sein‹«, S. 20. 236 | Azas, Anestis/Tsinikoris, Prodomos: Telemachos – Should I stay or should I go. Vgl. Programmheft des Ballhaus Naunynstraße. Berlin 2013.
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Telemachos greift die Eigen- und Fremdbilder in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der Krise in Griechenland auf, um sie durch die subjektiven Geschichten der Akteure auf der Bühne zu dekonstruieren. Es ist aber auch ein Format des empowerment, da die Künstler auf der Bühne ihre eigenen Geschichten erzählen, ihre eigene Perspektive auf die Situation in Griechenland deutlich machen können.
5.4 Einflüsse auf ästhetische Diskurse In der Studie des International Network for Contemporary Arts237 wurde bereits festgestellt, dass das Theater von Künstlern of color aus einem politischen bzw. sozialen Engagement heraus eine eigene ästhetische Richtung entwickelt hat. Neben den nationalen Unterschieden, die es zu berücksichtigen gelte, sei auffallend, dass die Künstler Gemeinsamkeiten aufweisen und gemeinsame Wege beschreiten würden. Der wichtigste Aspekt, der dem sozialen und kulturellen Wandel zugrunde liege, sei die Entstehung einer Theaterszene der zweiten Generation, die sich die Diskurse sowie eine eigene Position in der Theaterlandschaft aneigne.238 Diese Tendenz hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Die Bedeutung von Theatermachern of color und deren künstlerische Praxis für die europäische Theaterlandschaft nimmt zu. In der Freien Szene des europäischen Theaters ist die Thematisierung von Migration allgegenwärtig: in der Herkunft der Personen, in der Arbeitssprache und in der Recherche. Wie die Theatermacher selbst bezeugen, steht nicht mehr die Sprache im Vordergrund, sondern die Körper und die Recherche bzw. das Thema.239 Aber die staatlichen Theaterhäuser bleiben weiter geschlossene Institutionen. Günther Heeg stellt in seiner Recherche zum »transkulturellen Theater«240 die These auf, dass das Stadttheater perspektivisch in einer transkulturellen Theaterlandschaft aufgehen werde. Das transkulturelle Theater geht nicht von abgeschlossenen, distinkten Kulturen aus, die es miteinander in Kontakt zu bringen sucht. Dieses holistische Kulturverständnis greift im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr. Wolfgang Welsch beschreibt dies folgendermaßen:
237 | Bloomfield, Jude: Crossing the Rainbow. National Differences and International Convergences in Multicultural Performing Arts in Europe, Brüssel: Informal European Theatre Meeting 2003. 238 | Vgl. J. Bloomfield: Crossing the Rainbow. 239 | Mieke Matze im persönlichen Gespräch. 240 | Vgl. Heeg, Günther: »Fremdheitserfahrung ohne Exotisierung«, in: Nachtkritik 2013, http://color.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=7645%3Ahildesheimer-thesenxi-die-zukunft-liegt-im-transkulturellen-theater&option=com_content&Itemid=84
Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater »Transkulturalität will […] darauf hinweisen, dass die heutige Verfassung der Kulturen jenseits der alten […] Verfassung liegt und dass diese […] als die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen, so dass diese nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtung und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind« 241.
So ist davon auszugehen, dass Kulturen nicht vorgängig existieren, sondern durch kulturelle Kontakte überhaupt erst Gestalt annehmen: Im ›dritten Raum‹ bzw. in der Übersetzung kultureller Differenzen konstituieren sich Kulturen extern als Prozesse der Überlagerung und Vermischung. Heeg führt an, dass ein transkulturelles Theater »an der Fremdheitserfahrung im Inneren der kulturellen Phantasmen, die uns umgeben«, ansetze. Dabei sei es wichtig, dass das Theater das »Fremde« nicht exotisiere, dass es sich nicht anmaße, »stellvertretend für andere zu sprechen und sie zu repräsentieren«. Deshalb sei es für ein transkulturelles Theater notwendig, die Darstellungsformen zu überdenken und neue Möglichkeiten zu eröffnen. 242 Ein Ansatz wäre beispielsweise, die immer noch vorherrschende Markierung der artists of color aufzuheben und die Künstler tatsächlich als Teil der gesamten existierenden Theaterszene anzusehen. Das Labeln ist sinnvoll in Bezug auf Identitätspolitik.243 Aber im Kontext der künstlerischen Produktion führt es zu Ungerechtigkeit. Mieke Bal führt an, dass die kulturspezifische und andauernde Dominanz des sogenannten Mainstreams, der gemäß die ungerechte Verteilung nicht als intellektuelles Problem erachtet würde, die kolonialgeschichtlichen Elemente in Zeiten der Entkolonialisierung fortführe. So bleibe die Ausbeutung des ›Anderen‹ bestehen, wenn beispielsweise eine Ausstellung mit einem »Made in«-Label versehen werde, sodass die Bedeutung der Kunstwerke nicht mehr rein ästhetisch bedingt sei.244 Diese auf die visuelle Kunst bezogene Aussage kann auch auf die darstellende Kunst bezogen werden. In der Debatte um blackfacing, die in allen untersuchten euro241 | Welsch, Wolfgang: »Was ist eigentlich Transkulturalität?«, in: Lucyna Darowska/ Thomas Lüttenberg/Claudia Machold (Hg.), Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld: transcript 2010. S. 39-65. S. 41. 242 | G. Heeg: Fremdheitserfahrung ohne Exotisierung. Vgl. http://www.nachtkritik. de/index.php?view=ar ticle&id=7645:hildesheimer-thesen-xi-die-zukunf t-liegt-imtranskulturellen-theater&option=com_content&Itemid=84 243 | So verweist Mark Terkessidis darauf, dass nur durch die Feststellung des institutionellen Aufbaus tatsächlich die Defizite der Repräsentation der migrationsgeprägten Gesellschaft sichtbar werden. Vgl. M. Terkessidis: Interkultur. 244 | Vgl. M. Bal: »Lost in Space«, S. 25.
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päischen Ländern besonders in den letzten zehn Jahren vermehrt geführt wurde, wird deutlich, wie sehr die kolonialen Bilder in der heutigen Theaterszene noch präsent sind. So wird seit geraumer Zeit in den Niederlanden jährlich zum St.-Nikolaus-Tag über die rassistische Konnotation des Zwarten Piet debattiert. Dies war ursprünglich eine Darstellung des Teufels, die keinen Namen hatte, nur die bösen Aspekte darstellen sollte. Im Jahr 1850 gesellte Jan Schenkman dem Sinterklaas einen Sklaven aus Marokko bei, den Zwarten Piet. Nun malen sich zum St.-Nikolaus-Tag weiße Niederländer schwarz an – mit roten Lippen, schwarzer Gesichtsfarbe und einer ›Afro‹-Perücke. Die Kritiker weisen auf den kolonialen Kontext dieses blackfacing hin. Trotzdem finden sie kein Gehör. Auch in Deutschland hat diese Debatte in den letzten Jahren stattgefunden.245 2012 hatte das Schlossparktheater in Berlin für seine Inszenierung von Ich bin nicht Rappaport, einem Stück des US-Autors Herb Gardner, Plakate mit einem blackface überall in der Stadt aufgehängt. Dies führte zu einer medialen Debatte in der gesamten Theaterlandschaft. Die Kritiker dieses theatralen Stilmittels, vornehmlich artists of color, haben in unterschiedlichen Beiträgen auf die rassistische und koloniale Bedeutung hingewiesen.246 Blackface hat auch im deutschen Theater eine lange Tradition, denn mit dem Schwarzschminken der weißen Schauspieler wird das ›Fremde‹ auf der Bühne gekennzeichnet. Während ›weiße‹ Figuren auf den Bühnen unmarkiert bleiben, werden ›Schwarze‹ Figuren – oder eben Figuren of color, seien es asiatische oder afrikanische – durch das Schwarzschminken ›sichtbar‹ gemacht.247 Diese ästhetische Tradition beruht auf der Grundannahme, dass die Personen auf und hinter der Bühne sowie im Publikum weiß und Personen of color nicht anwesend sind. Hinzu kommt, dass Schwarzschminken auf deutschen Bühnen an das ästhetische Mittel aus den Minstrelshows erinnert. In den US-amerikanischen Minstrelshows des 19. Jahrhunderts wurden die Klischees der Schwarzen Plantagenarbeiter von weißen Schauspielern mit schwarzer Schminke und aufgemalten dicken roten Lippen gespielt. Diese Form der Darstellung kann immer wieder in den deutschen Inszenierungen von ›Schwarzen‹ Figuren festgestellt werden.248 245 | Auch in Schweden gab es 2008 eine Debatte um blackface aufgrund einer Inszenierung von Dea Lohers Illegal. Nasim Aghili und Farnaz Arbabi im persönlichen Gespräch. 246 | Siehe hierzu auch Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Theater und Diskriminierung, 2012, http://color.migration-boell.de/web/integration/48_3355.asp 247 | Ein Beispiel ist die Tradition der Othello-Darstellung. 248 | Laut Edward Said kann die Auseinandersetzung mit der westlichen Konstruktion des Orients für den Diskurs hilfreich sein. Said bezieht sich auf die theatrale Repräsen-
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Das Schlossparktheater wies die Kritik als unzutreffend zurück, da es lediglich an einem qualifizierten schwarzen Schauspieler gemangelt habe.249 Gleichzeitig wurde für die Freiheit der Kunst plädiert: »Mag sein, dass davon die Gefühle mancher Afrodeutscher verletzt worden wären. Doch bislang rechtfertigte man dieses Risiko mit der Heiligkeit der Kunstfreiheit. Denn die Grundlage des Theaters ist, dass dort Menschen so tun, als wären sie jemand anderes, und dass sie dann manchmal Dinge zeigen, die nicht allen gefallen.« 250
Damit wird geleugnet, dass die Kritik am blackface im ästhetische Referenzrahmen des Theaters geäußert wird. Die Theatermacher und Theaterkritiker of color werden zu Personen degradiert, deren ›Gefühle‹ verletzt werden. Ihnen wird ihr historisches und ästhetisches Wissen aberkannt und damit auch die Möglichkeit, ästhetische Kritik zu formulieren. Dagegen setzten sich die Kritiker jedoch lauthals zur Wehr. Nicht nur vereinzelte Künstler haben den Diskurs beanstandet, sondern auch die Initiative Bühnenwatch251, eine Vereinigung von Künstlern, Theatermachern, politischen Aktivisten und Wissenschaftlern. Sie haben in Publikumsgesprächen, Konferenzen und öffentlichen Stellungnahmen252 die rassistische Praxis aus ästhetischen Gesichtspunkten kritisiert. Diese öffentliche Intervention kann auch in den anderen europäischen Ländern beobachtet werden. Artists of color greifen in die ästhetischen Theaterdiskurse ein und gestalten diese mit ihren eigenen Positionen.
tation, die das »Fremde«, die Konstruktion des »Orients« durch Bilder und Darstellungen zum Eigenen macht. »The idea of representation is a theatrical one: the Orient is the stage on which the whole East is confined. On this stage will appear figures whose role it is to represent the large whole from which they emanate. The Orient then seems to be, not an unlimited extension beyond the familiar European world, but rather a closed field, a theatrical stage affixed to Europe.« Said, Edward: Orientalism, London: Penguin Group 1977, S. 63. 249 | Vgl. »Netzgemeinde wettert gegen Hallervordens Schlossparktheater«, in: Nachtkritik 2012, http://color.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&i d=6457&catid=126 250 | Heine, Matthias: »Rassismusvorwurf gegen Dieter Hallervorden«, in: Die Welt vom 10.1.2012 (online unter: http://color.welt.de/kultur/article13807516/Rassismusvor wurf-gegen-Dieter-Hallervorden.html). 251 | http://buehnenwatch.com 252 | Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Theater und Diskriminierung (Onlinepublikation).
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6. A usblicke für ein europäisches The ater 6.1 Theater und Migration: Von der Freien Szene hin zur Institutionalisierung In der vorliegenden Teilstudie »Theater und Migration« konnte festgestellt werden, dass artists of color und postmigrantisches Theater im letzten Jahrzehnt strukturelle und ästhetische Veränderungen in der Freien Szene des zeitgenössischen europäischen Theaters hervorgerufen haben. In jedem der untersuchten Länder können artists of color identifiziert werden. Es haben sich fast überall eigene Strukturen gebildet; entweder sind postmigrantische Theaterhäuser entstanden oder Produktionsstätten haben ihren Schwerpunkt auf kulturelle Diversität gelegt. Und schließlich gibt es auch eigens eingerichtete Förderinstitutionen für Theatermacher of color und postmigrantisches Theater. Tendenziell rücken die artists of color immer mehr in die Zentren der Theaterszenen und bewegen sich von der Freien Szene auf Institutionen und Institutionalisierung zu. Im Rahmen dieser Studie wurde im März 2013 zusammen mit dem Goethe-Institut London und mit Unterstützung der Zeit-Stiftung eine Konferenz mit dem Titel Postmigrant Perspectives on European Theatre durchgeführt. Es wurden Künstler, Wissenschaftler und Kulturpolitiker aus Deutschland, Schweden, Großbritannien und den Niederlanden eingeladen. In diesem Forum wurden postmigrantische Positionen zur Disposition gestellt und Fragen von Repräsentation, Kooperation und Institutionalisierung diskutiert.253 Ein Ergebnis der Konferenz war, dass es eine Notwendigkeit gibt, eine soziale Realität von gleichen Zugangsmöglichkeiten und der Repräsentation verschiedener Narrative erst noch zu schaffen. Denn wie auch in der Studie des International Network for Contemporary Performing Arts von 2003 festgestellt wurde: »Racism remains the generally unacknowledged barrier to cultural diversity in the performing arts.«254 Die reale soziale, politische und ökonomische Machtverteilung macht es möglich, dass diejenigen mit Entscheidungsbefugnis die Fragen, Erfahrungen und Probleme von Marginalisierten nicht mitdenken müssen. »The centre doesn’t have to think about the periphery.«255 Die Marginalisierten hingegen haben sehr wohl gelernt, die Perspektive des Zentrums einzunehmen und dabei nicht nur ihre eigene kulturelle Sichtweise in den Diskurs einzubringen, 253 | Vgl. Grafe, Maximilian: I am not a postmigrant Artist!, http://azadehsharifi.word press.com/2013/04/22/i-am-not-a-postmigrant-Artist/ 254 | J. Bloomfield: Crossing the Rainbow, S. 127. 255 | Das sagte Hassan Mahamadallie bei der Konferenz Postmigrant Perspectives on European Theatre im Januar 2013.
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sondern auch einen anderen Blick auf das bereits Bestehende. So bleiben in den real existierenden Produktions- und Förderbedingungen der Theaterlandschaft Potenziale von Geschichten, Erfahrungen und vor allem artists of color bisher noch ungenutzt. Wie können also auch die Geschichten, Ästhetiken und Formate, denen das Etikett des Ethnischen aufgedrückt wird und die an der Peripherie existieren, sichtbar gemacht werden? »Just look at what we are doing as theatre makers. By taking refuge in a dream, aided by imagination and a bit of poetic exuberance. When the borders of the political reality no longer play a role, the scene of action also changes, irrevocably, and faster than you could believe. Only then does the viewer regain his freedom, and the awareness returns that theatre is truly magical, that theatre creates life rather than taking it.« 256
Oder, um Chakrabartys pessimistische Sichtweise auf Geschichtsschreibung heranzuziehen, deren Grenzen bzw. Unmöglichkeit er mit bedenkt: Die Forderung muss darauf zielen, dass das Theater »bereits in der Struktur seiner narrativen Formen seine eigenen repressiven Strategien und Praktiken bewusst sichtbar macht.«257 Es geht dann nicht mehr darum, was das postmigrantische Theater in den Theaterlandschaften der einzelnen Länder oder in Europa an ästhetischen und strukturellen Veränderungen hervorrufen kann, sondern wie theatrale Perspektiven Utopien für gesellschaftliche Positionen werden können, die nicht einer realpolitischen Tradierung folgend Ethnie oder Rassse oder auch Gender als Distinktions- und damit auch Exklusionsmerkmale setzen, sondern sich ihrer ästhetischen Mittel bedienen und so weiterdenken und eine Re-Imagination vorantreiben. »If the future of the intercultural has to be posited in tangible terms, and not just as an empty fantasy, we will have to open ourselves to those realities that resist being imagined easily.«258
6.2 Postmigrantische Perspektiven auf europäisches Theater In den Schlussbetrachtungen möchte ich einen Gedanken des Historikers Dipesh Chakrabarty aufgreifen, der die eurozentristische Geschichtsschreibung kritisiert und eine Emanzipation von (west-)europäischen Geschichten
256 | Gölpinar, Özkan: How to Address an Imbalance (Onlinepublikation). 257 | Chakrabarty, Dipesh: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 65. 258 | R. Bharucha: The Politics of Cultural Practice, S. 162.
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durch eine »Provinzialisierung«259 Europas im Sinne einer Relativierung der Bedeutung Europas für die globale Geschichte fordert. In diesem Zusammenhang problematisierte er das Dilemma postkolonialer Geschichtsschreibung: Das begriffliche Instrumentarium wie Nation, Revolution oder Fortschritt der europäischen Sozial- und Kulturwissenschaften trage dazu bei, europäische Erfahrungen zu einer universalistischen Perspektive umzuwandeln und präfiguriere sowie ›europäisiere‹ bereits die Deutung der jeweils lokalen Vergangenheiten. Er fordert eine Geschichte der Moderne, die ihre eigenen repressiven Fundamente, Exklusionsmechanismen und Marginalisierungen mitzudenken in der Lage ist. Chakrabarty führt an, dass ›wir‹ alle, die wir mit unseren unterschiedlichen und häufig nichteuropäischen Archiven ›europäische‹ Geschichten betreiben, die Möglichkeit einer Bündnispolitik und eines Bündnisprojekts zwischen den herrschenden metropolitanen Geschichten und den subalternen Vergangenheiten der Peripherie hätten. Das dabei entstehende Projekt wäre die »Provinzialisierung Europas«. Es bedeute, die bislang privilegierten Erzählungen zu überschreiben, die sich von erträumten Vergangenheiten und Zukunftsentwürfen nähren, in denen Kollektivität weder durch die Rituale und die europäisch geprägten Staatsbürgerschaften, noch durch die von der Moderne geschaffene Tradition definiert werde. Da in den bestehenden Strukturen keine Orte existieren, an denen sich solche Träume institutionalisieren lassen, müssen diese so lange wiederkehren, bis die »Themen Staatsbürgerschaft und Nationalstaat unsere Erzählungen vom historischen Übergang beherrschen, denn genau jener Unterdrückung dieser Träume verdankt die Moderne ihre Existenz«.260 In dieser Differenz und der Unmöglichkeit des Projektes einer »Provinzialisierung« Europas könnte sich auch das Theater in der Migrationsgesellschaft einordnen lassen. Theater könnte hier einen Raum eröffnen, der in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht so ohne Weiteres möglich wäre. Aus der Position eines »provinzialisierten Europa«, in dem auf den Bühnen Geschichten einer neuen Realität verhandelt werden, könnte eine neue Perspektive der Überschreibung von europäischen (Theater-)Geschichten erschlossen werden. Ein weiteres wichtiges Element für einen gesellschaftlichen Perspektivwechsel ist die Notwendigkeit, den nationalen Kunstkanon zu überdenken. In einer Veröffentlichung über »Art History as a Common Heritage«261 setzt sich 259 | Chakrabarty, Dipesh: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.: Campus 2010 260 | Chakrabarty, Dipesh: Europa provinzialisieren, In: Conrad, Sebastian/ Randeria, Shalini: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt: Campus Verlag 2001. S. 283-309. S. 309. 261 | Araeen, Rasheed, Art History, Art History As A Common Heritage, August 2000. Vgl. http://www.thirdtext.com/wp-content/uploads/2009/03/arthistoryasacommonheritage.pdf
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der britisch-indische Künstler und Publizist Rasheed Araeen mit der nationalen Identität Großbritanniens auseinander. Dabei geht es ihm darum, deutlich zu machen, dass die Konstruktion einer nationalen Vorstellung von britischer Kunst bisher immer eine Exklusion von nichtweißen Künstlern beinhaltete. Die Arbeiten von artists of color seien immer aus einer ›ethnisierten‹ Perspektive beurteilt worden. Die britische Kunst der Nachkriegszeit sei vor allem durch die postkoloniale und multiethnische Gesellschaft beeinflusst worden. Araeen plädiert dafür, die Einflüsse von migrantischen Künstlern auf die gemeinsame kulturelle Geschichte Englands anzuerkennen: »Without a recorded history, nothing else can follow: no celebration of achievement: no development of a common cultural heritage. This results in immigrant populations looking outside these shores for their history and cultural points of reference.«262 Durch einen Perspektiven- und Paradigmenwechsel der Theatermacher, was insbesondere eine Anerkennung der gesellschaftlichen Realität Deutschlands und der vielfältigen kulturellen Erfahrungen bedeutet, kann der Theaterraum ein Ort für alle Bürger sein. Dies verlangt vor allem das Überdenken der Definitionsmacht der Kunst wie auch die Schaffung von Möglichkeiten der Selbstrepräsentation.
262 | Ebd.
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Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater
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Freies Kindertheater in Europa seit 1990 Entwicklungen — Potenziale — Perspektiven Tine Koch
1. E inleitung 1.1 Ziele Wesentliches Ziel der vorliegenden Studie ist es, einen Überblick über jene Entwicklungen, Diskurse und Paradigmen zu liefern, die das Freie Kindertheater in Europa seit 1990 geprägt haben und noch heute prägen, wobei ergänzend zum Schauspiel- auch Tanz- und Musiktheater einbezogen sind. Im Zuge der vergleichenden Analyse exemplarischer Strukturen, Formate und Themen sollen die Länder Deutschland, Österreich, Schweiz, Belgien, Niederlande, Italien, Frankreich, England, Schweden, Polen und Russland besondere Berücksichtigung finden, und zwar jeweils insoweit, als von ihnen bemerkenswerte, innovative Impulse auf struktureller und/oder ästhetischer Ebene ausgehen oder aber sich ihre Kindertheaterszenen durch spezifische Charakteristika auszeichnen, die auch im gesamteuropäischen Kontext von Interesse sind.1 Zugleich soll die europäische Perspektive auf die kultur- bzw. bildungspolitischen, finanziellen, strukturellen, personellen und auch ideellen Voraussetzungen des zeitgenössischen Freien Kindertheaters Anregungen dafür bieten, diese, wo es notwendig erscheint, zu optimieren, um die vielfältigen Potenziale, die dem Freien Kindertheater innewohnen, künftig besser ausschöpfen zu können. Der Hauptteil der Studie gliedert sich demnach in zwei Teile: Während es zunächst auf der Folie einer thematischen Bündelung um eine Zusammenschau signifikanter Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Freien Kindertheaterszenen in Europa sowie um ein Panorama aktueller Erscheinungsformen, Tendenzen und Good-practice-Beispiele gehen soll, widmet sich der 1 | Vgl. zu den in dieser Studie berücksichtigten Ländern auch Kap. 1.5: »Grenzen der Untersuchung«.
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Tine Koch
zweite Teil einer kritischen Reflexion der gegebenen Verhältnisse und versucht Defizite und Problemfelder aufzuzeigen sowie bereits verselbstständigte Praktiken zu hinterfragen. Aus diesen Überlegungen sollen dann im Schlussteil der Arbeit Konsequenzen und Forderungen abgeleitet und schließlich Perspektiven und Visionen für die Zukunft formuliert werden.
1.2 Methodisches Vorgehen Die zu leistende Überblicksdarstellung basiert auf einer für alle ausgewählten Länder einheitlich vorgenommenen Datenerhebung. Je nach Verfügbarkeit wurden exemplarisch die vorhandene Fachliteratur und das zugängliche Archivmaterial sowie Internetquellen gesichtet und entsprechend der genannten Untersuchungsaspekte ausgewertet. Darüber hinaus stand der kontinuierliche Austausch mit nationalen wie internationalen Experten2 und Verantwortlichen aus der Kindertheaterszene im Zentrum der Recherchen. Dieser erfolgte zum einen über eigens für diese Studie entworfene Fragebögen, die per E-Mail verschickt werden konnten, zum anderen über qualitative Leitfadeninterviews, die zum Teil telefonisch, vor allem aber im Rahmen von Festivals und Kongressen persönlich durchgeführt wurden. Die auf diese Weise gewonnenen Einblicke in die europäischen Kindertheaterlandschaften ließen sich exemplarisch vertiefen durch zahlreiche Informations- und Dokumentationsmaterialien, die vonseiten einzelner Künstler und Ensembles freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden. Nicht zuletzt bildete die teilnehmende Beobachtung der Verfasserin die Grundlage der hier zu präsentierenden Analysen und Reflexionen. Sämtliche nicht von ihr stammenden Gedanken und Thesen werden unter Angabe der Quelle deutlich als solche markiert.
1.3 Quellenlage Im Hinblick auf die statistische Erfassung der Kindertheaterszene herrschen europaweit große Defizite. Allgemeine Daten und Fakten lassen sich nur schwer oder überhaupt nicht erheben; aktuelle und vollständige Überblicksdarstellungen, die die Kindertheaterlandschaften in einzelnen europäischen Ländern beschreiben, liegen nicht vor. Laut Angaben aller befragten nationalen Experten werden mit Ausnahme von Deutschland und Frankreich in keinem der für diese Studie relevanten Länder spezifische Jahrbücher, Chroniken oder Fachzeitschriften zum Bereich des Kinder- und Jugendtheaters publiziert; Statistiken werden nicht erhoben. »Generally we experience a lack in 2 | Der besseren Lesbarkeit halber schließt die männliche Form hier wie auch im Folgenden die weibliche jeweils mit ein.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven
documentation. This is a political question that our ministry and National Arts Council haven’t been able to solve, strangely enough«, so beschrieb etwa Niclas Malmcrona (Sektion der ASSITEJ [Association Internationale du Théâtre de l’Enfance et la Jeunesse], Schweden) paradigmatisch die Situation des schwedischen Kindertheaters, »and then the official statistics within this field is sadly neglected by the governmental authorities«3. Auch Paul Harman (ASSITEJ-Sektion Großbritannien) bestätigte: »I repeat that theatre for young audiences in the UK is a free market, unregulated activity. There is no authority which approves or monitors standards. There is therefore no official body which needs to collect any statistics. As far as Government is concerned, T YP [Theatre for Young People, Anm. T. K.] does not exist.«
Des Weiteren ist zu konstatieren, dass die statistische Datenlage in vielen Ländern auch deswegen für das Kindertheater nicht ausgewertet werden kann, weil keine Unterscheidung zum sogenannten Erwachsenentheater vorgenommen wird und die vorhandenen Daten sich somit stets nur auf das Theatersystem allgemein beziehen, ohne zwischen den Zielgruppen zu differenzieren. Hinzu kommt, dass sich Künstler und Ensembles selbst oftmals einer eindeutigen Zuordnung entziehen, insofern es zu ihrer gängigen Praxis gehört, regelmäßig sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene zu arbeiten. Selbst die über die ASSITEJ-Sektionen verfügbaren Daten zum Kindertheater lassen sich nicht länderübergreifend miteinander vergleichen – zum einen, weil innerhalb der Mitglieder nicht zwischen Freien und ›nichtfreien‹ Kindertheatern unterschieden wird, zum anderen, weil die Anzahl der Mitglieder pro Land nicht gleichzusetzen ist mit der Anzahl der für Kinder und Jugendliche arbeitenden Künstler und Gruppen insgesamt, zumal der Stellenwert der ASSITEJ und damit das Interesse der Künstler an einer Mitgliedschaft von Land zu Land stark variiert. Schließlich gilt auch hinsichtlich der vorhandenen Fachliteratur für die meisten der in die Studie einbezogenen Länder, was Willemijn Kressenhof, Mitarbeiterin der Mediathek des Theater Instituut Nederland, befragt nach den Buchbeständen zum Kindertheater, exemplarisch wie folgt beschrieb: »Although we have lots of information about theatre in general, theatre for young audiences is an underexposed area in our library. Most books on this subject have been written in the 1980’s and 1990’s.«
3 | Sämtliche Zitate der für diese Studie konsultierten Experten werden generell in der jeweils von den Befragten gewählten Sprache (Englisch, Französisch oder Deutsch) wörtlich wiedergegeben. In vielen Fällen handelte es sich dabei nicht um die Muttersprache.
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Es lassen sich also deutliche Defizite hinsichtlich der Erfassung und Berücksichtigung des Kinder- und Jugendtheaters von offizieller Seite sowie vonseiten der Forschung feststellen. Eine positive Ausnahme stellen hier einzig Frankreich und Deutschland dar: Die französische ATEJ (Association du Théâtre pour l’Enfance et la Jeunesse) gibt mit Théâtre en France pour Jeunes Spectateurs bereits seit 1963 (!) jährlich ein umfassendes Repertoireverzeichnis heraus, ergänzt durch regelmäßig
und mehrfach pro Jahr erscheinende Lettres d’information.4 Das deutsche Jahrbuch der ASSITEJ, Grimm & Grips, war als Standardwerk des professionellen Theaters für Kinder und Jugendliche auch über die Landesgrenzen hinweg bekannt. Es enthielt neben allgemeinen Informationen über die ASSITEJ Beiträge aus Theorie und Praxis, eine Chronik der Spielzeit sowie eine jährliche Übersichtsbibliographie zu aktuellen Publikationen und bildete somit die Basis einer umfassenden Datenbank zu den Angeboten der Kinderund Jugendtheater in Deutschland. Seit 2013 wird Grimm & Grips nach über 25 Jahren durch das Folgeprodukt IXYPSILONZETT abgelöst, das dreimal pro Jahr als Beilage zum Fachmagazin Theater der Zeit erscheint und durch ein jeweils im Januar herausgegebenes Jahrbuch ergänzt wird. Darüber hinaus spielt auch das 1989 in Frankfurt a. M. gegründete Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland als Informations- und Dokumentationszentrale eine bedeutende Rolle: Das Zentrum verfügt über eine umfangreiche Bibliothek, in der nicht nur Stücke für das Kinder- und Jugendtheater, sondern auch Programmhefte, Poster, Fotos, Sekundärliteratur, Zeitschriften, Videos, DVDs und andere Mediendokumente zum Thema zusammengetragen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Seit 1991 beherbergt das Zentrum zudem das Internationale ASSITEJ-Archiv, in dem Dokumentationsmaterialien aller ASSITEJ-Sektionen gesammelt und somit diverse historische und zeitgenössische Theaterarchive an einem Ort zusammengeführt werden.5
4 | Darüber hinaus wurden in den Spielzeiten 2006 und 2008 zwei umfassende empirische Erhebungen durchgeführt, die die Produktionsbedingungen der Künstler auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendtheaters mithilfe zahlreicher statistischer Daten – wenngleich punktuell – detailliert abbilden und einander gegenüberstellen, vgl. Scène(s) d’enfance et d’ailleurs (Association nationale de professionnels des arts de la scène en direction des jeunes publics)/Ministère de la culture et de la communication/DMDTS (Hg.): Photographie d’une dynamique fragile. Etude sur les conditions de production et de diffusion des spectacles adressés au jeune public en France. Saisons 2006/2008, Paris 2009. 5 | Vgl. hierzu auch Schneider, Wolfgang (Hg.): »Von A wie Aufführung bis Z wie Zuschauer. Ein Alphabet des Kindertheaters«, in: Lippert, Elinor (Hg.), theater spielen, Bamberg 2001, S. 238-259, hier S. 247.
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Allerdings musste Dr. Jürgen Kirschner, wissenschaftlicher Dokumentar im Frankfurter Archiv, gleichsam bestätigen, dass auch das Kinder- und Jugendtheaterzentrum angesichts der beschriebenen Defizite hinsichtlich der statistischen Erfassung und Dokumentation des Kinder- und Jugendtheaters nicht über ein »statistisches Fernglas« für den europäischen Raum verfügt und keine vollständigen Daten für einen umfassenden vergleichenden Überblick liefern kann.
1.4 Arbeitsdefinition Freie Szene Sämtliche Strukturmodelle des Kindertheaters in Europa und ihren jeweiligen (Rechts-)Status innerhalb der einzelnen nationalen Theatersysteme zu analysieren, geschweige denn diese europaweit miteinander zu vergleichen, wäre ein Thema für eine eigens dieser Fragestellung gewidmete Forschungsarbeit und ist mit dieser Untersuchung nicht zu leisten. Insofern kommt für die im Rahmen dieser Studie relevanten Beobachtungszusammenhänge nur eine rein pragmatische Begriffsdefinition des sogenannten Freien Kindertheaters in Frage. Wenn also im Folgenden vom ›Freien‹ Kindertheater in Europa die Rede sein wird, so ist damit stets eine in den darstellenden Künsten beheimatete professionelle Organisationsform gemeint, die sich a) nicht in öffentlicher Trägerschaft befindet und b) nicht als kommerziell ausgerichtetes Privattheater zu beschreiben ist. Dass die Gruppe der auf diese Weise erfassten Theaterensembles und Künstler ebenso groß wie heterogen ist, sei hierbei weder bestritten noch ignoriert.
1.5 Grenzen der Untersuchung: »Freies Kindertheater in Europa«? Die vorliegende Studie widmet sich gemäß ihrem Titel dem »Freien Kindertheater in Europa«. Hierzu muss zunächst betont werden, dass die Auswahl der in diese Untersuchung einbezogenen Länder selbstverständlich nicht den gesamten europäischen Raum abzubilden vermag und dies auch keinesfalls beansprucht wird. Die Tatsache, dass vornehmlich die Länder Deutschland, Österreich, die Schweiz, Belgien, die Niederlande, Italien, Frankreich, England, Schweden, Polen und Russland Berücksichtigung finden werden, ist eine – notwendige – Schwerpunktsetzung, die sich im Zuge der Recherchen ergeben hat und mit jeweils exemplarischen Strukturen und Entwicklungen bzw. modellhaften Initiativen und Impulsen zusammenhängt, die die genannten Kindertheaterszenen kennzeichnen. Wenn also im Zuge dieser Arbeit vom Kindertheater in ›Europa‹ die Rede ist, so sind damit stets jene Länder gemeint, die im Sinne des Forschungsanliegens im Fokus stehen. Des Weiteren konzentriert sich die Studie, wie im Titel angekündigt, primär auf das Theater für Kinder: Es geht um jene Formen der darstellenden Küns-
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te, die sich an ein Publikum im Alter von null bis zwölf Jahren wenden und als »intendiertes« Kindertheater klassifiziert werden können.6 Die beiden im Deutschen gleichermaßen gängigen Begriffe »Theater für Kinder« und »Kindertheater« werden dabei, wenn nicht anders angegeben, synonym gebraucht. Das Theater für Jugendliche im Alter von zwölf bis 18 Jahren, auch bezeichnet als »Jugendtheater«, wird nur dort einbezogen werden, wo eine Trennung der beiden Teilsysteme nicht gegeben ist oder sich nicht als sinnvoll erweist.7 Diese Schwerpunktsetzung ist vorrangig der Tatsache zuzuschreiben, dass die Grenze zwischen intendiertem Jugendtheater und dem sogenannten Erwachsenentheater in den vergangenen Jahren zunehmend durchlässig geworden und die Zahl der Stücke und Produktionen, die (inzwischen) zum Bereich des Jugendtheaters zählen, entsprechend exponentiell angestiegen ist. Eine umfassende Erforschung dieses Feldes würde demnach den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Gleiches gilt für den Sektor des Puppen- bzw. Figuren- und Objekttheaters, der in dieser Studie ebenfalls nur marginal berücksichtigt werden kann. Eine weitere Grundsatzentscheidung besteht in der Konzentration auf den Bereich des professionellen Theaters: Schulische Theaterformate werden ebenso ausgeklammert wie Angebote von Laienspielgruppen und Kinderfreizeiteinrichtungen, sofern an diesen keine professionellen Künstler aus der Freien Theaterszene beteiligt sind. Darüber hinaus wird die Studie konsequent die Theaterarbeit der Freien Szene fokussieren und jegliche Kooperationen mit Staats-, Stadt- und Landestheatern, die zu einer temporären, mehr oder weniger fortgeschrittenen ›Institutionalisierung‹ von freien Theaterschaffenden führen, vernachlässigen. Auch diese Fokussierungen sind rein pragmatischer Natur und beinhalten keine Wertung oder Hierarchisierung. Schließlich ist festzuhalten, dass die vorliegende Untersuchung trotz des erklärten Anliegens, Entwicklungen und mögliche Zukunftsperspektiven aufzuzeigen, letztlich nicht mehr als eine Momentaufnahme sein kann: Wie anlässlich der von der Europäischen Kommission organisierten Konferenz European Audiences: 2020 and beyond betont wurde, die im Oktober 2012 in Brüssel stattfand und mehr als 800 Experten aus dem Kulturbetrieb zusammenbrach6 | Im Sinne einer pragmatischen Begriffsbestimmung meint »intendiertes« Kindertheater gemäß der einschlägigen Definition von Hans-Heino Ewers »die Gesamtheit der theatralischen Aufführungen, die – sei es von den Produzenten, sei es von anderen Instanzen der Gesellschaft – als ein geeignetes theatralisches Rezeptionsangebot für Kinder […] angesehen werden« (Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung, Paderborn 2012, S. 21). 7 | In diesem Fall wird jeweils übergreifend vom »Kinder- und Jugendtheater« bzw. »Theater für ein junges Publikum« die Rede sein, das in diesem Kontext als ein Gesamtsystem in Abgrenzung zum System des »Erwachsenentheaters« begriffen wird.
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te, ist gerade der Sektor der Künste im vereinten Europa derzeit in einem auffallend rasanten Wandel begriffen: »[E]verything and everyone is in flux. No organisation can afford to sit still. Change is likely to be a permanent reality that the sector needs to contend with and embrace, to see and benefit from the opportunities that the world today offers.«8 Der Realität dieses permanenten Wandels und des damit einhergehenden schnellen Verfallsdatums der recherchierten Fakten muss sich auch diese Studie stellen.
1.6 E xkurs: Polen und Russland – »No Practice« Eine Besonderheit stellen die beiden in die vorliegende Studie ebenfalls mit einbezogenen osteuropäischen Länder Polen und Russland dar. Zwar verfügen beide über eine traditionsreiche und strukturell breit aufgestellte Kinder- und Jugendtheaterlandschaft – nicht jedoch über eine Freie Kindertheaterszene. So beschrieb etwa Lucyna Kozien, künstlerische Leiterin des Teatr Lalek Banialuka und Herausgeberin des (Puppen-)Theater-Magazins Teatr Lalek, die Situation in Polen wie folgt: »The theatre for children and young people in Poland is represented mainly by 24 institutional, fully professional puppet theatre companies. […] Occasionally, their activities are complemented by 62 dramatic theatres, which sometimes include in their repertoire plays for children and young people. They generally do it once a year and their immediate motivation is improving attendance and revenue from tickets sales. In what they offer the young audience, although often attractive and produced with a staging flourish, one cannot find titles other than the school obligatory reading list or classics of children’s literature.« 9
Mit anderen Worten: »Kindertheater« ist innerhalb des polnischen Theatersystems nach wie vor nahezu gleichbedeutend mit »institutionalisiertem städtischem Puppentheater«: »After 1989 the nature of children’s theatre in Poland changed as did the social, political and economic situation. The result of the transformation meant the end of supporting national puppet theatres from the state budget. The theatres became the responsibility of local governments. […] Theatre directors, for the first time in the history of the Polish 8 | European Commission (Hg.): European Audiences: 2020 and beyond – Conference conclusions, 2012, http://ec.europa.eu/culture/news/documents/conclusions-confe rence.pdf, S. 12. 9 | Auszug aus »The Report on the State of Children and Young People’s Theatre in Poland« (2004) – Originalmanuskript, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Lucyna Kozien.
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Tine Koch theatre for children and young people had to start thinking about the market, economic profitability. Theatres had to account not only for the artistic results of their activity, but also for economic indicators, which were often more important. In most cities local governments provide funding for theatres only to cover the costs of the so called ›base‹, that is the buildings and companies. […] Such a change in the way theatres operate, since earlier they had funds for complete maintenance, company and new productions, was revolutionary in Polish conditions.«10
Eine professionelle Freie Szene hat sich unter diesen Umständen auch nach 1989 so gut wie überhaupt nicht entwickeln können:11 »Hundreds of new theatre companies hoping to thrive in the new reality and subjected to the laws of the market and the dictates of the economy and commerce were forced to discover unfavourable conditions for development. Supported at the onset with subsidies provided by the state and self-government budgets, or by sponsors, and then left to their own devices they ultimately fell silent.«12
Das große strukturelle Problem besteht darin, dass die öffentlichen Fördergelder fast ausschließlich an die institutionalisierten Stadttheater fließen, die, seitdem sie keine Dauer- und Gesamtförderung vom Staat mehr erhalten, in (ungleicher) Konkurrenz zu einer etwaigen Freien Szene selbst kontinuierlich öffentliche Gelder akquirieren müssen, sodass für die Freie Szene an Zuschüssen kaum noch etwas übrig bleibt.13 Insofern ist für Polen aus Sicht der Theaterschaffenden nur die folgende ernüchternde Bilanz zu ziehen: »In more than twenty years that have passed since the systemic transformation, Poland had been unable to construct solid foundations for the functioning of independent theatres and lacks structural, legal and economic solutions. […] Poland still has no place for truly independent and non-institutional theatre companies. Apparently, history has made a full circle: we are returning to a pre-1989 state when institutional companies delineated the rhythm of theatrical life.«14
10 | Vgl. European Commission (Hg.): European Audiences (Onlinepublikation), S. 12. 11 | Eine Ausnahme stellt das sogenannte »Theater für die Allerkleinsten« dar, auf das noch ausführlich eingegangen werden wird. 12 | Kozien, Lucyna: »The Theatre Today. Remarks on the Contemporary Puppet Theatre in Poland«, in: Teatr Lalek 103-104 (2011), S.11ff., hier S. 13. 13 | Vgl. Bartnikowski, Marcin: »Independent«, in: Teatr Lalek 103-104 (2011), S. 58. 14 | Kozien, L.: »The Theatre Today«, S. 13.
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Für Russland stellt sich die Situation offenbar kaum anders dar. Hier gibt es zwar laut Pavel Rudnev (Moscow Art Theatre) eine Vielzahl an Theatern, die sehr erfolgreich für ein junges Publikum produzieren, namentlich ca. 50 Schauspiel- und zwischen 80 und 100 Puppentheater; allerdings sind auch diese sämtlich in öffentlicher Hand und vollständig institutionalisiert: »In Russia till now the Stalin system of state repertoire companies is active. Private companies (especially when they are non profit and of good quality) are a very rare phenomenon. And also from Stalin time we have got a tradition: If a town has more than 300.000 citizens, the town must have a theatre for young spectators, and if more than 500.000 citizens – a puppet theatre. They are responsible for young audiences. And they are permanent with long-term artists. […] Each state company must have its own (but state) venue. This is standard. Sure, theatres for young spectators and puppet companies have got less venue than central drama theatre. As usual 400-500 seats venue plus chamber venue with 50-120 seats.«
Eine Freie Kinder- und Jugendtheaterszene ist demnach nicht vorhanden – und gemäß Pavel Rudnev womöglich auch gar nicht erwünscht: »As you understood, we have got a lot of special theatre for youth (practically in every town). So if some independent theatre for children appears, it will usually be a potboiler.« Wünschenswert sei vielmehr eine »new directing generation that are free of Soviet dogmata and came to theatre for children without compulsion«. Die polnischen Theatermacher hingegen formulierten explizit den Wunsch, im Hinblick auf Strukturen, Ästhetiken und Dramaturgien an den westeuropäischen Standard der Freien Kindertheaterlandschaften anknüpfen zu können – und benannten als die bedeutendsten positiven Trends ihrer nationalen Szene bezeichnenderweise die folgenden: – »openness of programmers/artists/researchers that travel abroad, take part in seminars/festivals/conferences/workshops and promote good quality of children’s theatre in Poland« (Alicja Morawska-Rubczak, ASSITEJ-Sektion, Polen); – »much wider cooperation with foreign theatre centres – mainly from Germany; – free exchange of ideas and experiences (mainly from Europe, but also by international activity of ASSITEJ) after 1989 when the isolation of our country was over« (Zbigniew Rudzinski, Children’s Arts Centre, Posen).
Angesichts der besonderen Situation dieser Theatersphäre in Polen und Russland sind diese beiden osteuropäischen Länder aus den folgenden Beobachtungen und Reflexionen weitgehend ausgeschlossen. Wenn nicht eigens angegeben, beziehen sich sämtliche Aussagen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der europäischen Kindertheaterlandschaften, über Entwicklungslinien, Problemfelder und Perspektiven im Folgenden nicht auf die pol-
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nische und die russische Szene, da diese aus dem Fokus der Untersuchung, nämlich der Freien Theaterszene in Europa, herausfallen.
2. E rscheinungsformen , D iskurse , E nt wicklungen 2.1 Strukturelle Emanzipation des (Freien) Kindertheaters Mit dem Inkrafttreten der United Nations Convention on the Rights of the Child vom 20. November 1989 wurde erstmals ein Referenzrahmen auf europäischer Ebene geschaffen, der die Rechte von Kindern auf Kunst und Kultur vertraglich festhielt und ihre Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben als Ziel staatlicher Förderung proklamierte. Es war dies ein Meilenstein auch in der Geschichte des Kindertheaters in Europa. In Artikel 31 der Kinderrechtskonvention heißt es: »(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit an, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben. (2) Die Vertragsstaaten achten und fördern das Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und fördern die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung sowie für aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung.«15
Die Tatsache, dass dieser Konvention bis heute 193 Vertragsstaaten beigetreten sind – und damit mehr, als allen anderen UN-Konventionen –, unterstreicht, wie groß der Konsens ist, der diesbezüglich herrscht, und demonstriert auf erfreuliche Weise, dass die Interessen von Kindern zumindest konzeptionell seit über 20 Jahren konstitutiver Bestandteil auch des kulturellen Sektors sind und sein sollen. Blickt man speziell auf den Bereich der darstellenden Künste für ein junges Publikum, so lässt sich konstatieren, dass es der Szene seit den neunziger Jahren gelungen ist, sich nicht nur in künstlerischer Hinsicht beständig weiterzuentwickeln, auszudifferenzieren und zu vervielfältigen, sondern sich auch strukturell zunehmend von überkommenen Traditionen zu emanzipieren – und sich im öffentlichen Theaterleben zu etablieren! Was Ilona Sauer exemplarisch über den aktuellen Status quo des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland notiert, lässt sich auf die europäischen Theaterlandschaften 15 | Vgl. http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/mediathek/D_0006_Kinder konvention.pdf
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insgesamt übertragen: »Das Kinder- und Jugendtheater ist als ein wichtiger Akteur in der bundesdeutschen Theaterlandschaft akzeptiert. Es ist nicht länger am ›Katzentisch‹ platziert, sondern mittendrin, es hat sich von seinem Nischendasein und vielleicht auch von seinem ›Kuscheleckendasein‹ verabschiedet«16.
2.1.1 Große Durchlässigkeit zwischen den Systemen Generell ist zu beobachten, dass die ursprünglich relativ streng gezogenen Grenzen zwischen dem System des sogenannten Erwachsenentheaters und dem des Kinder- und Jugendtheaters heutzutage zunehmend aufweichen und durchlässig werden:17 Insbesondere innerhalb der Freien Szene findet ein reger Austausch zwischen beiden Systemen statt; ein Großteil der freien Künstler arbeitet flexibel sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene, zumal in projektspezifischen ›Produktionsensembles‹.18 In vielen europäischen Ländern gehört es zur gängigen Praxis freier Gruppen, zumindest anteilig auch für ein junges Publikum zu produzieren. So bestätigte etwa Eline Kleingeld (Vereniging van Schouwburg- en Concertgebouwdirecties) für die Niederlande einen Anteil von 10 bis 15 Prozent des Gesamtprogramms der freien Gruppen, das gezielt an Kinder und Jugendliche gerichtet sei; in Schweden sind es aufseiten der öffentlich geförderten Gruppen laut Lotta Brilioth Biörnstad (Arts Council, Schweden) sogar 70 bis 80 Prozent der Produktionen. Für Flandern konnte paradigmatisch statistisch erhoben werden, dass die Anzahl der freien Künstler, die zwischen beiden Bereichen wechseln, zwischen 1993 und 2005 um nicht weniger als 41 Prozent gestiegen ist:19 »Artistically speaking, adult and youth theatre have more or less kept pace with one another, partly due to the intense movement back and forth between them. For example, developments taking place in one place also occur elsewhere and vice versa.«20 Zusätzlich befördert wird dieser Brückenschlag, der für das Kinder- und Jugendtheater insgesamt eine Aufwertung, tendenziell auch eine Gleichberechtigung bedeutet, durch das zunehmende Interesse, das dem Produzieren für ein junges Publikum auch vonseiten renommierter Regisseure und Schauspieler des ›Erwachsenentheaters‹ entgegengebracht wird, wie exemplarisch 16 | Sauer, Ilona: »Quer gelesen. Ein kritischer Blick auf kulturjournalistische Beiträge zum Kinder- und Jugendtheater«, in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2013, S. 36-40, hier S. 36. 17 | Eine Ausnahme stellen in diesem Zusammenhang Großbritannien und Österreich dar, wo eine Spezialisierung der Künstler und damit auch eine weitgehende Systemtrennung die Norm ist. 18 | Vgl. hierzu die Erläuterungen in Kap. 3.1.5. 19 | Vgl. Anthonissen, Peter: Outline of the children’s and youth performing arts landscape, VTi: 2011, S. 2. 20 | Ebd., S. 7f.
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Zbigniew Rudzinski (Children’s Arts Centre, Posen) für die polnische Szene beschrieb: »More and more theatre directors with a very high position in theatres for adults prepare performances for children. [This entails] the presence of performances for children, playwrights, readings of plays during festivals known till now as festivals for adults like Warsaw Theatre Meetings, Festival of First Nights in Bydgoszcz, Festival of Polish Contemporary Plays RAPORT in Gdynia.«
Der Zuwachs an öffentlicher und medialer Aufmerksamkeit, die dem Kinderund Jugendtheater auf diesem Wege zuteil wird, wirkt sich positiv auf dessen Position im theaterkulturellen Gesamtgefüge aus und trägt zu dessen struktureller Emanzipation bei.
2.1.2 Er weiterung der Rezipientengruppe: Er wachsene als Teil des primären Zielpublikums »Anders als noch in früheren Jahrzehnten, in denen eine klare Abgrenzung zwischen Kindheit, Jugend, Erwachsensein möglich war, verwischen sich die Grenzen«; »die Generationsräume […] sind nicht mehr penibel getrennt, sondern miteinander verwoben, die Grenzen fließend«21. Was Carsten Gansel allgemein bezüglich des aktuellen Generationenverhältnisses in (west-)euro päischen Gesellschaften konstatiert, gilt auch und vielleicht in besonderem Maße für das Kindertheater: Spätestens in den achtziger Jahren zeichnete sich innerhalb der europäischen Kindertheaterlandschaften die Tendenz ab, sich in bis dahin unbekanntem Ausmaß den Erwachsenen zuzuwenden und diese als essenziellen Teil des primären Zielpublikums zu begreifen. Dieser Versuch des ›Spezialtheaters‹, seine Spezifität aufzulösen, dauert bis heute an.22 Dies schlägt sich zum einen – rein formal – in zahlreichen Umbenennungen nieder:23 Aus dem »Kindertheater«/»children’s theatre«/»théâtre jeune public« wird das »Theater für alle«/»theatre for all ages«/»théâtre tout public«, 21 | Gansel, Carsten: »Der Adoleszenzroman. Zwischen Moderne und Postmoderne«, in: Lange, Günter (Hg.), Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1: Grundlagen – Gattungen, Baltmannsweiler 2005, S. 359-398, hier S. 364f. 22 | Vgl. zu den »Grenzverwischungen« und der daraus resultierenden Dominanz des Jugendtheaters auch Hentschel, Ingrid: »Über Grenzverwischungen und ihre Folgen. Hat das Kindertheater als Spezialtheater noch Zukunft?«, in: Israel, Annett/Riemann, Silke (Hg.), Das andere Publikum. Deutsches Kinder- und Jugendtheater, Berlin 1996; sowie Hartung, Kirstin: Kindertheater als Theater der Generationen. Pädagogische Grundlagen und empirische Befunde zum neuen Kindertheater in Deutschland (= Kinder-, Schul- und Jugendtheater. Beiträge zu Theorie und Praxis, Bd. 11), Frankfurt a. M. 2001, S. 120ff. 23 | Vgl. Hentschel, I.: »Über Grenzverwischungen«, S. 34.
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das »Familientheater« oder das »Theater für ein junges Publikum«/»theatre for young audiences«. Zum anderen ist gerade im Bereich der Freien Szene – und hier insbesondere bei Performance- und Installationsformaten – auch von der inhaltlichen und ästhetischen Ausrichtung her zunehmend zu verzeichnen, dass Produktionen (und ihre Künstler) sich bewusst der Festlegung auf eine bestimmte intendierte Publikumsgruppe verweigern. So ist es beinahe schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass auf den renommierten Festivals der deutschen Freien Szene, Impulse und Favoriten, neben dem sogenannten Erwachsenentheater regelmäßig auch Kindertheaterproduktionen gezeigt werden; das Helios Theater aus Hamm ging dabei zudem bereits mehrfach als Preisträger hervor. Des Weiteren erscheinen die Stücke des Kindertheaters zunehmend auf Abendspielplänen bzw. es werden, wie die Initiative Schönen Abend! vom Jungen Ensemble Stuttgart (JES) beweist, sogar Abendprogramme von Kinder- und Jugendtheaterproduktionen ins Leben gerufen. Dieses Prinzip, das unter anderem in Frankreich bereits eine Tradition hat, die bis in die sechziger Jahre zurückreicht, will selbstverständlich die Kinder nicht aus dem Kindertheater aus-, sondern vielmehr Eltern und andere Erwachsene gezielt mit einschließen und somit generationsübergreifend fungieren, wie auch Maurice Yendt (ASSITEJ-Sektion, Frankreich) betont: »Les spectacles présentés en soirée ne sont pas exclusivement pour adultes, ils réunissent un public inter-générationnel d’enfants et d’adultes.« All diese Grenzverwischungen mögen nicht zuletzt einen kommerziellen Hintergrund haben – für viele freie Theaterschaffende, die für Kinder und Jugendliche arbeiten, geht es dabei laut Myrtó Dimitriadou (Toïhaus Theater, Salzburg) allerdings mindestens ebenso sehr um eine Aufwertung der eigenen Kunstform: »Die Idee dahinter ist wohl die Veränderung des Images vom Theater für Kinder – eben nicht ›kindisch‹ und ›kindertümelnd‹, sondern kleine Kunstwerke für alle.«
2.1.3 Er weiterung der Produzentengruppe: Kinder auch auf der Bühne »Jeder Künstler, der öffentliche Gelder erhält, müsste dazu verpflichtet sein, mit Jugendlichen zu arbeiten«24 – mit dieser ebenso pointierten wie streitbaren These bezog Hortensia Völckers, künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes in Deutschland, unlängst Stellung zu einer weiteren grundlegenden Entwicklung, die sich innerhalb der europäischen Kindertheaterlandschaften während der vergangenen Jahre vollzogen hat: nämlich die Tendenz, Kinder 24 | Odenthal, Johannes: »Tanz als Pflichtfach. Johannes Odenthal im Gespräch mit der Künstlerischen Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, Hortensia Völckers«, in: ders. (Hg.), Tanz, Körper, Politik: Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte. Theater der Zeit: Recherchen 27, 2005, S. 108ff., hier S. 108.
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nicht nur als Publikum, sondern auch als Partner der künstlerischen Produktion zu begreifen, sie also in den Produktionsprozess mit einzubeziehen und gleichsam als »Experten des Alltags« auf der Bühne auftreten zu lassen. Kindertheater in diesem Sinne meint also mit zunehmender Häufigkeit ebenso: Theater mit Kindern. Das Prinzip der vielfach so bezeichneten Partizipation ist zwar per se kein Phänomen der neunziger Jahre, sondern geht bereits auf Impulse der Freien Szene in den siebziger Jahren zurück. Die »Eroberung der Theaterlandschaft durch die Zielgruppe«25 allerdings, die Wolfgang Schneider, Vorsitzender der deutschen ASSITEJ-Sektion und Ehrenpräsident der ASSITEJ International, aktuell konstatiert, ist tatsächlich neu 26 und schlägt sich paradigmatisch nieder in der Tatsache, dass zum renommierten Augenblickmal!-Festival in Berlin mit 9 Leben vom JES unter der choreographischen Leitung von Iwes Thuwis-De-Leeuw im Jahr 2013 auch eine Produktion mit Jugendlichen von der Auswahljury in das reguläre Festivalprogramm aufgenommen wurde, die gleichberechtigt mit sämtlichen professionellen Produktionen für ein junges Publikum gezeigt wurde. Die Motivation und Zielsetzung für dergleichen Theaterprojekte mit Kindern ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich; die Bandbreite an methodischen, inhaltlichen und ästhetischen Ausgestaltungen ist groß. Was das europäische Netzwerk für junges Musiktheater RESEO – European Network for Opera and Dance Education als Gründe für den Trend zu partizipativen Projekten exemplarisch für das Musiktheater mit Kindern exzerpierte, lässt sich auf den Bereich der darstellenden Künste insgesamt übertragen. Laut RESEO sind – abgesehen von der immer lauter werdenden Forderung vonseiten der Kultur- und Bildungspolitik, Angebote zur kulturellen Bildung zu machen – aus künstlerischer Sicht primär die folgenden Argumente anzuführen: »The presence of children on stage allows young audiences to identify with the young performers; Young performers provide energy to the project, which has a dynamic effect on the attitude of the spectator; In this way, children on stage are revalorised, especially when they are involved in professional productions working with professional adults; Children on stage allow for an more ›interactive‹ exchange between the spectators and the actors (this reinforces the link between the work and the audience); 25 | O.V.: »Editorial«, in: IXYPSILONZETT Jahrbuch (2013), S. 1. 26 | Dabei ist der Trend, die künstlerische Arbeit mit Kindern mehr und mehr zum konzeptionellen Bestandteil der Spielpläne, Projekte und proklamierten Profile zahlreicher freier Gruppen zu erheben, ohne Zweifel im Lichte der allgemeinen Debatten zur kulturellen Bildung zu sehen. Vgl. hierzu ausführlich Kap. 2.2.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven Young audiences may feel the desire to start learning an artistic discipline themselves. These types of performance show that artistic practice is accessible to everyone; […] Audiences are more attentive and more interested; It appeals to a wider audience (families also attend, widening the audience that attends Opera).« 27
Davon abgesehen, ist ein rein pragmatisches, nämlich auch kommerzielles Eigeninteresse des (Freien) Theaters, in verstärktem Maße Partizipationsprojekte anzubieten, nicht zu leugnen: In Zeiten, in denen laut EU-Kulturbarometer der Theaterbesuch bei jungen Menschen unter den kulturellen Aktivitäten erst an siebter Stelle rangiert – und damit erst nach dem Besuch von Kinos, Büchereien, historischen Monumenten, Sportveranstaltungen, Museen und Konzerten – und gar die eigene künstlerische Praxis in Bezug auf das Theaterspielen erst an letzter (!) Stelle der abgefragten Künste auftaucht,28 scheint es mehr denn je angebracht zu sein, das ›Publikum von morgen‹ gezielt heranzubilden. In wachsender Konkurrenz zu anderen Kunstformen und Medien und gegen die häufig angemahnte »Vergreisung des Publikums«29 gilt es, und zwar letztlich, um den Fortbestand der Kunstform Theater überhaupt zu gewährleisten, die nachwachsende Generation aktiv in die künstlerische Arbeit einzubeziehen und sie die darstellenden Künste über den Weg der eigenen Erfahrungen als für sie persönlich bedeutsam erleben zu lassen.30 Eine Gefahr solcher Partizipationsformate, die eng mit dem Ziel des audience development verknüpft sind, kann darin bestehen, dass diese tendenziell 27 | RESEO (European Network for Opera and Dance Education) (Hg.): Overview. Productions for young audiences in Europe, Brüssel 2009, http://www.reseo.org/project/ overview-productions-young-audiences-europe-0, S. 35f. 28 | Laut Umfrage sind nur 3,8 % der Befragten innerhalb der EU-Bevölkerung in ihrer Freizeit im Bereich des Theaters aktiv (vgl. The European Opinion Research Group [Hg.]: Europeans’ participation in cultural activities. A Eurobarometer Survey Carried out at the Request of the European Commission, Eurostat, 2002, http://ec.europa.eu/culture/pdf/ doc967_en.pdf, o. S.). Befragt wurden allerdings nur Personen im Alter von mindestens 15 Jahren. 29 | Schneider, Wolfgang: »Von Projekt zu Projekt – am Katzentisch der Kulturpolitik?«, in: Fonds Darstellende Künste (Hg.), Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Essen 2007, S. 82-90, hier S. 83. 30 | Insbesondere die Opernhäuser sehen sich in diesem Zusammenhang offenbar in akuter Bedrängnis: Wie RESEO für den Sektor des Musik- und Tanztheaters mittels einer empirischen Studie feststellen konnte, produzieren aktuell nicht weniger als 81 % der pädagogischen Abteilungen der Opernhäuser in Europa Aufführungen, in denen (auch) Kinder und Jugendliche auf der Bühne stehen (vgl. RESEO [Hg.]: Overview [Onlinepublikation], S. 35).
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eine, wie Carmen Mörsch es formuliert, rein »affirmative« bzw. »reproduktive« Funktion erfüllen: Die Beteiligung von Kindern an den Produktionsprozessen künstlerischer Arbeit dient primär dazu, das, was die Institutionen der Hochkultur produzieren, »möglichst reibungslos« an ein entsprechend initiiertes und bereits interessiertes Publikum zu vermitteln bzw. dazu, die nachwachsende – zahlende – Zuschauergeneration für sich zu gewinnen.31 Für die Freie Kindertheaterszene stellt sich diese Situation unter veränderten Vorzeichen dar: Insoweit der Erhalt einer Institution, eines Hauses, einer Struktur per se selten zur Interessenlage der freien Theaterschaffenden gehört, treten »affirmative« und »reproduktive« Funktionsbestimmungen von Partizipationsprojekten beinahe automatisch in den Hintergrund. Dafür gewinnen – zumindest tendenziell – andere Funktionen an Gewicht, die von Mörsch als »kritisch-dekonstruktiv« und »transformativ« bezeichnet werden: Eine »kritisch-dekonstruktive« Funktion von Kulturvermittlung sieht Mörsch dann realisiert, wenn »die bestehenden Selbstverständlichkeiten der Hochkultur und ihrer Institutionen hinterfragt, offen[ge]legt und bearbeitet« und die Lernenden mit Wissen ausgestattet werden, »das ihnen ermöglicht, sich selbst ein Urteil zu bilden und sich über den eigenen Standort und seine Bedingungen bewusst zu werden«. Geht die eigene Beschäftigung mit Kunst und Kultur sogar über die kritische Hinterfragung hinaus, indem die Kulturvermittlung versucht, »auf das, was sie vermittelt, Einfluss zu nehmen und es z. B. in Richtung mehr Gerechtigkeit, mehr kritisches Denken und weniger bürgerliche Distinktion zu verändern«, so spricht Mörsch von einem »transformativen« Prozess, der »gesellschafts- und institutionenverändernd« wirken könne.32 Vor diesem Hintergrund entwickelt Mörsch für die künstlerische Praxis mit Kindern eine Zielsetzung und Funktionsbestimmung, die wie ein Loblied klingen mag, im Kern aber treffend zusammenfasst, wie die Begegnung mit den Künsten sich im Idealfall auswirken könnte und auch sollte: »So verstanden, dient sie der Förderung von gesellschaftlicher Emanzipation und Mitbestimmung und damit auch der permanenten (Selbst-)Befragung und Transformation von Kunst, von Kultur und ihren Institutionen. Sie dient der Ausbildung von Widerborstigkeit. Sie betont das Potential der Differenzerfahrung und setzt dem Effizienzdenken die Aufwertung von Scheitern, von Suchbewegungen, von offenen Prozessen und offensiver Nutzlosigkeit als Störmoment entgegen. Anstatt Individuen den Willen zur permanenten Selbstoptimierung als beste Survival-Option anzubieten, stellt sie Räume zur Verfügung, in denen – neben Spaß, Genuss, Lust am Machen und Herstellen, Schulung 31 | Mörsch, Carmen: »Watch this Space! Position beziehen in der Kulturvermittlung«, in: Sack, Mira/Rey, Anton/Schöbi, Stefan (Hg.), Theater Vermittlung Schule. Ein Dialog, Zürich 2011, S. 8-25, hier S. 11. 32 | Ebd.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven der Wahrnehmung, Vermittlung von Fachwissen – auch Probleme identifiziert, benannt und bearbeitet werden können. In denen gestritten werden kann. In denen so scheinbar selbstverständlich Positives wie die Liebe zur Kunst oder der Wille zur Arbeit hinterfragt werden und eine Diskussion darüber in Gang kommen kann, was eigentlich für wen das gute Leben sei. In denen es daher weniger um lebenslängliches, als um lebensverlängerndes und lebensveränderndes Lernen geht. In denen außerdem niemand aufgrund von Alter, Herkunft, Aussehen, körperlichen Dispositionen, Geschlecht oder sexueller Orientierung diskriminiert wird und in denen stattdessen parteilich gehandelt wird.« 33
Dass dieses Potenzial in der gängigen Praxis der Partizipationsformate häufig nicht ausgeschöpft wird bzw. werden kann und dass dies nicht selten daran liegt, dass bereits vonseiten der Initiatoren dieser Projekte und Programme andere, eher produktionsorientierte Interessen maßgeblich sind, steht auf einem anderen Blatt.
2.1.4 Zunehmende internationale Vernetzung Wie die Freie Szene insgesamt, so ist auch das Freie Kindertheater zunehmend international vernetzt. Die Faktoren, die zu dieser Vernetzung beitragen und sie vorantreiben, sind vielfältig, insgesamt aber mit jenen vergleichbar, die für das Freie Theater in Europa generell kennzeichnend sind. Neben der steigenden Anzahl an (internationalen) Festivals und dem regen Im- und Export von Stücktexten, der schon zu Beginn der neunziger Jahre zur Entstehung eines europäischen Repertoires an modernen Stücken für das Kindertheater geführt hat, sind vor allem drei Entwicklungslinien in besonderer Weise relevant: Zum einen lässt sich nicht nur ein Zuwachs an Netzwerken, sondern auch deren zunehmende Erweiterung und Nutzung beobachten, wobei an erster Stelle und als globaler Dachverband für das (Freie) Kinder- und Jugendtheater die ASSITEJ zu nennen ist: Diese hielt im Jahr 2011 bereits ihren 17. Weltkongress ab, anlässlich dessen sich über 1500 Delegierte, Künstler und Veranstalter aus mehr als 50 Nationen trafen, zählt aktuell Mitglieder aus 85 nationalen Zentren auf allen Kontinenten und wird im Jahr 2015 ihr 50-jähriges Bestehen feiern. In der Charta dieser 1965 gegründeten UNESCO-Organisation, unterzeichnet von den damals anwesenden 42 Nationen, steht das Folgende zu lesen: »Considering the role theatre can play in the education of younger generations, an autonomous international organisation has been formed which bears the name of the International Association of Theatre for Children and Young People (ASSITEJ International). […] Theatre for young people respects its young audiences by presenting their hopes, dreams and fears; it develops and deepens experience, intelligence, emotion and imagination; 33 | Ebd., S. 19.
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Tine Koch it inspires ethical choices; it helps awareness of social relations; it encourages self-esteem, tolerance confidence and opinions. Above all, it helps young people to find their lace and voice in society. […] [ASSITEJ International] holds with the belief of the Report of the World Commission on Culture and Development, ›Our Creative Diversity‹, that young people must be given a cultural identity and made visible everywhere in society.« 34
Es spricht für die Qualität dieser Charta, dass ihre Prämissen und Ziele an Aktualität und Dringlichkeit bis heute nichts eingebüßt haben. Zum anderen wurde die internationale und vor allem europaweite Vernetzung des Freien Kindertheaters durch die ständig steigende Zahl an Gastspielen im bzw. aus dem Ausland befördert, die seit einigen Jahren zu verzeichnen ist. Im Falle Frankreichs existieren diesbezüglich konkrete Zahlen, die diesen Trend exemplarisch wie folgt bestätigen: »La création étrangère est de mieux en mieux accueillie en France. Au début des années 2000, elle représentait 2% des programmations jeune public. Au cours des trois dernières saisons (de 2007-2008 à 2009-2010), près de 25% des programmations adressées au jeune public en France présentent des spectacles étrangers.« 35
Speziell für Frankreich lässt sich darüber hinaus sogar eine Vorreiterstellung des Kinder- und Jugendtheatersektors gegenüber dem Theatersystem allgemein konstatieren: »Le rapprochement avec les chiffres d’ensemble met en lumière une manifeste spécificité de ce secteur en matière d’accueil de spectacle étranger. Entre 2007 et 2010, 25% des programmations adressées au jeune public en France présentent des spectacles étrangers, alors que sur la même période, environ 12% des programmations du réseau labellisé présentent des spectacles étrangers.« 36
Wenngleich entsprechende Daten aus anderen europäischen Ländern nicht verfügbar sind, bleibt festzuhalten, dass das Freie Kindertheater sich mit dem sogenannten Erwachsenentheater in puncto Vernetzung durch internationale Gastspiele allemal auf Augenhöhe bewegt. Schließlich nimmt parallel zu dieser Entwicklung offenkundig auch das Interesse freier Theaterschaffender, an transnationalen Koproduktionen und Kooperationen sowie Residenz- und Austauschprogrammen teilzunehmen, be34 | Vgl. http://www.assitej.at/ueber/assitej-international/ 35 | ONDA (Hg.): Théâtre, danse, arts de la rue, marionnettes et cirque: Les échanges entre la France et l’Europe, April 2011, http://www.onda.fr/_fichiers/documents/fichiers/ fichier_42_fr.pdf, S. 36. 36 | Ebd., S. 37.
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ständig zu, wobei diese Form der Vernetzungsarbeit naturgemäß insbesondere zwischen jenen Ländern praktiziert wird, in denen ähnliche Strukturen des (Kinder-)Theatersystems herrschen.
2.1.5 Zunehmende Professionalisierung: Gezielte Nachwuchsförderung In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich das Freie Kindertheater in Europa auch insofern strukturell emanzipiert und etabliert, als von allen befragten Länderexperten bestätigt werden konnte, dass die Mehrheit der auf diesem Feld agierenden Künstler heutzutage eine künstlerische Ausbildung absolviert und das Handwerk somit professionell erlernt hat; die Zahl der Autodidakten, Quereinsteiger und Amateure ist deutlich zurückgegangen. Daneben hat sich innerhalb der Szene – in Ermangelung spezifischer Ausund Fortbildungsmöglichkeiten an staatlichen Hochschulen und sonstigen Ausbildungseinrichtungen – ein gewissermaßen ›immanentes‹ System der Nachwuchsförderung entwickelt, das darauf abzielt, speziell auf die Anforderungen des Produzierens für Kinder vorzubereiten und Experimentier- und Erfahrungsräume zu schaffen, in denen junge Künstler erste eigene Projekte für dieses Publikum realisieren können. Als Paradebeispiel ist in diesem Zusammenhang das Ausbildungslaboratorium Het Lab im niederländischen Utrecht zu nennen, das über Jahre hinweg und vom (europäischen) Ausland viel beachtet als Talentschmiede und Nachwuchsförderstätte für das (Freie) Kinder- und Jugendtheater fungierte. »There is no shortage of talented young theatre makers in the Netherlands who can and will work for young audiences. If there is any problem, it is with the continuation of these artists into the world of the professional theatre«37, so eine der grundlegenden Prämissen von Het Lab. Wesentliches Merkmal der ›Ausbildung‹ war dabei die langfristige und individuelle Begleitung des künstlerischen Nachwuchses durch erfahrene Mentoren; »long-term custom-made partnerships whose ultimate goal was for the artists to obtain a place in professional theatre, either with an existing company or independently«38: »During these long-term collaborations over several years we not only supported the artists artistically, but we also focused on cultural entrepreneurship. Developing a long-term view, acquiring an understanding of the business side and the production aspects of the theatre, and audience development were among the subjects we tackled.« 39
37 | Meyer, Dennis: »Focus on the artist! How to support young theatre makers«, in: Het Lab Utrecht (Hg.), Magazine (2012), S. 5-8, hier S. 8. 38 | Ebd., S. 7. 39 | Ebd., S. 7.
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Des Weiteren gehörte es zum spezifischen Erfolgsrezept, die Zielgruppenorientierung des Theaters für Kinder bereits während des Proben- bzw. Stückentwicklungsprozesses in die Tat umzusetzen: »One very important thing Het Lab would focus on, therefore, was simply getting to know the young audience. By just talking to them, working with them, including them in the artistic process at regular intervals. Each artist would have his or her own trajectory with the young target audience: from talks in a classroom to giving workshops centred on the subject of the performance and to discussing rehearsals and tryouts. The children proved inspiring dramaturges. Their concrete experiences and responses would often lead the making of certain decisions. In order to be able to offer this type of research, Het Lab established strong connections with schools and teachers who were interested in working with us.« 40
Als vorbildlich und bemerkenswert hervorzuheben ist darüber hinaus die kontinuierliche Erweiterung des eigenen Ausbildungs- und Experimentierspektrums in Richtung des Tanztheaters: »Although Het Lab Utrecht mainly supported stage directors and playwrights during its earlier years, we have always focused on dance as well […]. From 2009 onwards the scope for dance increased permanently. The ambition is to give dance for young audiences a similar set of impulses as we have done for theatre.«41 »From 2009 to 2012, [Het Lab] supported over ten productions that have found their way to stages both nationally and internationally. In addition, the house took the lead in initiating the Fresh Tracks Europe network.« 42
Die Einrichtung eines eigenen dance departments brachte nicht zuletzt beinahe automatisch eine zunehmende Internationalisierung des künstlerischen Personals mit sich;43 der interkulturelle Aspekt des gemeinsamen Produzierens für ein junges Publikum rückte in den Vordergrund und sorgte für neue Impulse. Die zentrale Bedeutung einer solchen ebenso multidisziplinären wie multikulturellen Ausbildungsstätte für die Belebung der Szene war dabei über Jahre unbestritten: 40 | Broek, Moos van den: »Young Choreographers on the Rise – Het Lab Utrecht«, in: Fresh Tracks Europe (Hg.), Innovation in Dance (2013), S. 29-33, hier S. 30. 41 | Meyer, D.: »Focus on the artist!«, S. 7. 42 | Broek, M v. d.: »Young Choreographers«, S. 31. 43 | Vgl. Meyer, D.: »Focus on the artist!«, S. 8. Vgl. ergänzend folgende Beobachtung: »We have seen an explosive increase in international, mainly European, attention for our work from the very moment we included dance permanently« (ebd.).
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven »For more than ten years, the production houses have played a crucial role within the Dutch theatre landscape. Within theatre for young audiences, Het Lab Utrecht and Bonte Hond in Almere have carefully devoted their energy to bridging the gap between art schools and professional art practice. Het Lab has focused on text-based theatre and performance/dance; Bonte Hond on site-specific theatre and physically/visually based theatre. A relatively large number of recent graduates have been given an opportunity to work on small-scale projects and experiments with one of the two production houses.«44
Für 2013 jedoch steht Het Lab in der Folge der allgemeinen drastischen Kürzungen auf dem kulturellen Sektor in den Niederlanden die Schließung bevor.45 Welche ebenso drastischen Folgen dies für das Freie Kinder- und Jugendtheater haben wird, lässt sich zur Stunde nur vermuten. Von solchen herausragenden Modellbeispielen abgesehen, hat sich die Freie Szene vielerorts darauf spezialisiert, den künstlerischen Nachwuchs aus den eigenen Reihen zu rekrutieren und kontinuierlich heranzubilden. Ein gängiges Modell innerhalb der deutschen Freien Szene ist in diesem Zusammenhang der Versuch, Mitglieder aus partizipativen Theaterprojekten mit Jugendlichen oder aber aus dem theatereigenen ›Jugendclub‹ in die Professionalität zu begleiten, indem Proberäume und technische Ressourcen wie Kostüme, Bühnenbild und Beleuchtung für die Realisierung eines eigenen künstlerischen Projekts bereitgestellt werden sowie eine dramaturgische Beratung ermöglicht wird. Als ein Good-practice-Beispiel ist hier das Bonner Theater Marabu unter der künstlerischen Leitung von Claus Overcamp und Tina Jücker zu nennen, insofern Initiativen zur Nachwuchsförderung sich bei den ›Marabus‹ in vorbildlicher Weise gleich auf mehreren Ebenen abspielen: Zum einen existiert neben dem eigentlichen Theater Marabu seit einigen Jahren das Junge Ensemble Marabu, das regelmäßig Theateraufführungen mit Jugendlichen erarbeitet, wobei den Produktionen des Jungen Ensembles derselbe Stellenwert und damit beispielsweise auch derselbe Probenzeitraum zugestanden wird wie den professionellen Produktionen ohne partizipative Ausrichtung. Zum anderen wurde – speziell für Mitglieder des Jungen Ensembles – der sogenannte »Experimentierplatz Regie« eröffnet, der interessierten Jugendlichen die Möglichkeit bietet, angeleitet von den Mentoren des Marabu-Teams über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen unter Bereitstellung von Räumen und Equipment ein eigenes Projekt zu erarbeiten und dessen Ergebnis vor Publikum zu präsentieren. Darüber hinaus fördert das Theater Marabu den künstlerischen Nachwuchs gezielt im Zuge eines weiteren Formats: »Nachwuchs Regie« richtet 44 | Blik, Hans: »The Beauty of Experiment«, in: Het Lab Utrecht (Hg.), Magazine (2012), S. 3. 45 | Broek, M. v. d.: »Young Choreographers«, S. 29.
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sich an junge Theaterabsolventen nach ihrem Studium, denen es ermöglicht werden soll, unmittelbar nach dem Abschluss ihrer Ausbildung ein eigenes künstlerisches Team zusammenzustellen und mit diesem unter professionellen Bedingungen eine Produktion zu erarbeiten, die jeweils für mindestens eine Spielzeit in den Spielplan des Theater Marabu aufgenommen wird. Abgesehen von dergleichen internen Nachwuchsförderprogrammen vonseiten einzelner freier Gruppen, existieren vereinzelt Fördermaßnahmen, vor allem in Form von Nachwuchsstipendien, die im Sinne einer ›Starthilfe‹ konzipiert sind. So wird es etwa freien Nachwuchskünstlern in Nordrhein-Westfalen ermöglicht, mit einer Förderpauschale von 5000 Euro für die Dauer von vier Monaten in Verbindung mit einem etablierten Kinder- und Jugendtheater künstlerisch zu arbeiten und zu forschen. Diese Förderprogramme sind jedoch bislang keineswegs strukturbildend und stellen nicht die Regel, sondern eine positive und zudem regional begrenzte Ausnahme dar.
Abbildung 1: »Leonce und Lena« Theater Marabu – Junges Ensemble, Bonn, 2012, Foto: Ursula Kaufmann
2.1.6 Quintessenz Insgesamt lässt sich festhalten, dass das (Freie) Kindertheater in Europa im Laufe der Jahrzehnte seit 1990 strukturell gewissermaßen, den Kinderschuhen entwachsen‹ ist und sich zunehmend als gleichberechtigte Kunstform neben dem sogenannten Erwachsenentheater etabliert hat. Nimmt man nun mit schärferem Fokus in den Blick, welche Entwicklungen, Paradigmenwechsel und neu generierten Diskurse die Kindertheaterlandschaften während der vergangenen 20 Jahre am augenfälligsten und nachhaltigsten geprägt haben, so kristallisieren sich im Wesentlichen drei Phänomene bzw. Tendenzen heraus:
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven
• die neu formulierte Funktionsbestimmung des Kindertheaters im Spiegel der weltweiten Debatten zur kulturellen Bildung, • die Einbeziehung der Zielgruppe der ›Allerkleinsten‹ (0-6 Jahre) und die Etablierung eines ›Theaters von Anfang an‹ sowie • der zunehmende Trend zu genre- und disziplinübergreifendem Arbeiten und die damit einhergehende Auflösung von Sparten- und Systemgrenzen. Auf diese drei Hauptentwicklungslinien innerhalb des Freien Kindertheaters in Europa seit 1990 soll im Folgenden genauer eingegangen werden.
2.2 Freies Kindertheater in Europa ist heute … kulturelle Bildung! »To be a performing artist in Britain in the next century, you have to be an educator, too« – so prophezeite im Jahr 1999 Sir Simon Rattle anlässlich einer kulturpolitischen Debatte in London, 46 und er sollte Recht behalten: Nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa (und darüber hinaus) sollte sich zunehmend ein Trend abzeichnen, der die Verbindung von Kunst und Bildung als untrennbar in Erinnerung rufen und einen entscheidenden Paradigmenwechsel auch in den Künsten selbst forcieren würde. Die Stichworte dazu, das heute aus kaum einer bildungspolitischen Debatte mehr wegzudenken ist, lauten »arts education« bzw. »kulturelle Bildung«47.
46 | National Advisory Committee on Creative and Cultural Education (Hg.): All Our Futures: Creativity, Culture and Education, London 1999 (online unter: http://sirkenro binson.com/skr/pdf/allourfutures.pdf), S. 182. 47 | Auf internationaler Ebene wird in diesem Kontext nahezu einheitlich der Terminus arts education gebraucht; erst vereinzelt findet sich die englische Übersetzung des deutschen Begriffes cultural education. Im deutschen Sprachgebrauch hat sich, vor allem kultur- und bildungspolitisch, der Begriff der kulturellen Bildung durchgesetzt. Allerdings handelt es sich hierbei um einen sehr weiten Sammelbegriff für zahlreiche Prozesse und Aktivitäten in unterschiedlichen Sparten, der darüber hinaus mit diversen anderen Begriffen konkurriert. So existieren nebenher – gleichsam uneinheitlich und kontextabhängig unterschiedlich gebraucht – etwa Begriffe wie ästhetische Bildung, künstlerische Bildung oder auch Kunstvermittlung; ein Konsens bzw. eine differenzierte Begriffsbestimmung liegt nicht vor, vgl. Fuchs, Max: »Was ist kulturelle Bildung? Wege zur Begriffsklärung«, in: Politik und Kultur. Zeitung des Deutschen Kulturrates (2007). Bezogen auf das insgesamt trennschärfere Konzept von arts education taugt der Begriff der kulturellen Bildung nur dann, wenn man von einem engen Kulturbegriff ausgeht: Kultur wird mit Kunst gleichgesetzt bzw. die verschiedenen Künste werden zusammenfassend als Kultur bezeichnet (ders.: Kulturelle Bildung. Grundlagen – Praxis – Politik [= Kulturelle Bildung, Bd. 10], München 2008, S. 111f.).
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Bereits 1999 fasste die 30. Generalversammlung der UNESCO den Beschluss zur Förderung von kultureller Bildung und Kreativität in der Schule; die Europäische Kommission legte im selben Jahr ein neues Programm namens Connect auf, um zwischen Kultur und Bildung zu vermitteln und eine Vernetzung der Ressorts herzustellen,48 und schloss zudem die Direktorate Education und Culture zusammen. Doch erst zwei Jahre später rückte die Frage nach der Notwendigkeit kultureller Bildung ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. »Man kann sogar genau das Datum angeben, an dem die Entwicklung eine neue Dynamik bekommen hat«, so Max Fuchs über die Situation in Deutschland: »der 4. Dezember 2001«49. Hier lautet das Stichwort: »PISA«. Denn am 4. Dezember 2001 stellte die damalige deutsche Bildungsministerin Edelgard Bulmahn die Ergebnisse der ersten PISA-Studie vor. Seit jenem international erfolgreichsten bildungspolitischen Reformprogramm aller Zeiten gehört die Förderung kultureller Bildung im politischen Diskurs weltweit zu den als besonders wichtig anerkannten (Querschnitts-)Aufgaben,50 wie auch das folgende Statement der Expertengruppe des Council of Ministers of Culture der Europäischen Union zusammenfasst: »The reinforcement of synergies between education and culture is therefore considered as a key goal both
48 | Vgl. Pre-Conference-Reader zur europäischen Konferenz »Promoting Cultural Education in Europe: A Contribution to Participation, Innovation and Quality« 2006 in Graz, http://portal.unesco.org/pv_obj_cache/pv_obj_id_131DB701EFAA1B32D091B0 5B25CF640B70350A00/filename/Pre-Conference-Reader_Promoting+Cultural+Educa tion+in+Europe+%2833%29-web.pdf, S. 42. 49 | Fuchs, Max: »Qualitätsdiskurse in der kulturellen Bildung. Entwicklungslinien der letzten zwanzig Jahre und aktuelle Herausforderungen«, in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (Hg.), Studie zur Qualitätssicherung in der kulturellen Bildung, Remscheid 2010, S. 91-95 (online unter: http://www.bkj.de/fileadmin/user_upload/ documents/Qualitaet/BKJ_Studie_Qualitaet_web.pdf), hier S. 93. 50 | Vgl. den Beitrag Wimmer, Michael, http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kultu relle-bildung/60202/europa, der einen Überblick über diesen Prozess gibt sowie über die bildungs- und kulturpolitischen Grundlagen für die Fördertätigkeiten der EU im Bildungsbereich. Vgl. darüber hinaus zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen kultureller Bildung auf nationaler und internationaler Ebene (inklusive der frühkindlichen kulturellen Bildung) auch Deutscher Kulturrat (Hg.): Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion (= Konzeption Kulturelle Bildung Bd. 3), Berlin 2005 (online unter: http://www.kul turrat.de/dokumente/studien/konzeption-kb3.pdf); und ders. (Hg.): Kulturelle Bildung: Aufgaben im Wandel, Berlin 2009 (online unter: http://www.kulturrat.de/dokumente/ studien/kulturelle-bildung-aufgaben-im-wandel.pdf).
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at national and international level, opening the way for the mainstreaming of artistic and cultural education throughout Europe.«51 Nicht zuletzt schlägt sich der außerordentlich hohe Stellenwert kultureller Bildung in der Tatsache nieder, dass das neue Jahrtausend in den Jahren 2006 und 2010 bereits zwei von der UNESCO initiierte Weltkonferenzen zur kulturellen Bildung (World Conference on Arts Education) hervorgebracht hat, auf denen jeweils rund 1000 Experten aus 100 Ländern mehrere Tage lang Fragen der kulturellen Bildung diskutierten.52 Angesichts dieses zentralen Paradigmenwechsels in Form eines educational turn auf der Makroebene globaler Kultur- und Bildungspolitik nimmt es nicht wunder, dass im Zuge dessen auch und insbesondere die darstellenden Künste für ein junges Publikum seit den späten neunziger Jahren verstärkt im Lichte kultureller Bildungschancen betrachtet und auf ihr Potenzial hin untersucht werden, dem großen gemeinsamen Ziel der Förderung von arts education zuzuarbeiten: Die Erwartungen, die heutzutage von öffentlicher Seite in das Wirkungspotenzial von Kindertheater gesetzt werden, und zwar sowohl in das Theater mit Kindern als auch in das Theater für Kinder, könnten höher kaum sein:53
51 | Lauret, Jean-Marc/Marie, François (Hg.): European Agenda for Culture. Open Method of Coordination. Working Group on developing synergies with education, especially arts education, Final Report, 2010, http://ec.europa.eu/culture/key-documents/doc/ MOCedu_final_report_en.pdf, S. 4. 52 | http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/60187/unesco 53 | Vgl. exemplarisch die Ergebnisse zu den positiven Effekten kultureller Bildung speziell in Form von »educational drama and theatre«, die das EU-geförderte Projekt des DICE-Consortiums (Drama Improves Lisbon Key Competences in Education) als vermutlich bislang umfangreichste empirische Studie dieser Art nach Recherchen in zwölf Ländern zu Projekten vorgelegt hat, an denen rund 4500 Jugendliche beteiligt waren: »[Young people] are assessed more highly by their teachers in all aspects; feel more confident in reading and understanding tasks; feel more confident to communicate; […] are better at problem solving; are better at coping with stress; are more tolerant towards both minorities and foreigners; are more active citizens; show more interest in voting at any level; show more interest in participating in public issues; are more empathetic: they have concerns for others; are more able to change perspectives; are more innovative and entrepreneurial; show more dedication towards their future and have more plans; are much more willing to participate in any genre of arts and culture […]; are more likely to be a central character in class; have a better sense of humour; feel better at home«. (DICE [Drama Improves Lisbon Key Competences in Education] Consortium [Hg.]: The DICE has been cast. Research findings and recommendations on educational theatre and learning 2010, http://www. dramanetwork.eu/file/Policy%20Paper%20long.pdf, S. 6f.). Als Fazit formulierte das Consortium: »DICE claims that educational drama and theatre supports the targets of
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Tine Koch »Mit dem Eintritt in die ›Wissensgesellschaft‹ vollzieht sich […] ein Paradigmenwechsel im Verhältnis von Theater und Bildung, der sowohl den Bildungsbegriff rehabilitiert als auch das Theater in seiner elementaren Funktion für die kulturelle Bildung und damit für ein sozial intaktes Gemeinwesen, also als eine unentbehrliche Sozialisationsinstanz begreift.« 54
Entsprechend hat sich das (Freie) Kindertheater in Europa in den vergangenen Jahren im gesellschaftlichen Gesamtgefüge neu positionieren, speziell hinsichtlich seiner Funktionsbestimmung zum Teil auch neu definieren müssen. Die Folgen sind vielfältig: Ob ursächlich mit den Erwartungen der Kultur- und Bildungspolitik zusammenhängend oder nicht – die Zahl der als solche deklarierten kulturellen Bildungsangebote und educational programs steigt rapide und exponentiell an;55 die Kooperationsformen zwischen Freien Künstlern und Schulen sowie sonstigen Bildungseinrichtungen werden beständig vielgestaltiger; und vor allem das Theater mit Kindern hat sich als eigenständiges Arbeitsfeld für Freie Künstler auf nie dagewesene Weise (re-)etabliert.
2.2.1 Definitionsversuch Kulturelle Bildung: Hauptnenner der einschlägigen Diskurse Trotz oder gerade wegen der weltweiten Debatten und der zunehmenden Beachtung, die der kulturellen Bildung auch vonseiten der wissenschaftlichen Forschung zuteil wird, liegt eine einheitliche Definition weder auf nationaler noch erst recht auf europäischer Ebene vor.56 Als Hauptnenner der einschlägigen Diskurse lassen sich lediglich bestimmte Aspekte benennen, über die weitgehend Konsens besteht:57 the most relevant EU level documents«, darunter »Europe 2020« und die »Lisbon Key Competences« (vgl. http://publish.ucc.ie/scenario/2011/01/kueppers/12/en). 54 | O.V.: »Editorial«, in: dramaturgie: Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft (2007), S. 1. Das Motto der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft 2007 in Heidelberg lautete entsprechend bezeichnenderweise »Welche neue Rolle spielt das Theater in der Wissensgesellschaft?«. 55 | In Deutschland beispielsweise hat sich der entsprechende Prozentsatz in den letzten fünf Jahren vervierfacht (vgl. Keuchel, Susanne: »Von kulturellen Allesfressern und hybriden Kunstformen. Kulturelle Bildung im Spiegel empirischer Forschung«, in: Schneider, Wolfgang [Hg.], Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik. Hilmar Hoffmanns »Kultur für alle« reloaded, Hildesheim 2010, S. 231-243, hier S. 238). 56 | Vgl. EDUCULT (Hg.): European Arts Education Fact Finding Mission. Final Report 2011, http://www.educult.at/wp-content/uploads/2011/09/Report_Fact_Finding _ Mission_EDUCULT.pdf, S. 37. 57 | Vgl. Bamford, Anne: The Wow Factor. Global research compendium on the impact of the arts in education, Münster 2009, S. 48f.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven
Einigkeit herrscht zunächst darüber, dass sich kulturelle Bildungsprozesse – wie Bildungsprozesse allgemein – sowohl in formalen als auch in nonformalen und informellen Kontexten ereignen können und somit keineswegs an die Schule als Lernort gebunden sind.58 Des Weiteren steht fest, dass kulturelle Bildung, verstanden als Prozess und Ergebnis einer Begegnung mit und eines Erlebens von Kunst, nicht nur deren Rezeption, sondern auch die Initiation eigener künstlerischer Praxis umfasst: »Arts Education is not only aiming at ways of an enjoyable or reflected reception, it also fosters a productive and practical approach – guided as well as independent – in all artistic fields of perception, expression, composition, presentation and communication.«59 Hauptziel kultureller Bildung ist die Ermöglichung einer »Teilhabe am kulturellen Leben der Gesellschaft«, die »zum differenzierten Umgang mit Kunst und Kultur befähigen und zu einem gestalterisch-ästhetischen Handeln« anregen soll.60 Darüber hinaus ist hinsichtlich der vielfältigen möglichen Wirkungsabsichten kultureller Bildungsprozesse im Wesentlichen zwischen »extrinsischen«, nämlich nichtkünstlerischen, und »intrinsischen«, also genuin künstlerischen und kunstspezifischen Bildungszielen zu unterscheiden.61 Dienen die Künste nur bzw. hauptsächlich als Medium oder Methode, um nichtkünstlerische Inhalte zu vermitteln und allgemeine Bildungsziele zu verfolgen (etwa dazu, den Erwerb von übergeordneten Schlüsselkompetenzen wie Kommunikations- und Teamfähigkeit zu befördern)62, so ist mit Anne Bam-
58 | Lauret, J.-M./Marie, F. (Hg.): European Agenda (Onlinepublikation), S. 24. 59 | Deutsche UNESCO-Kommission e. V. (Hg.): Arts Education – Culture Counts. A Contribution from European Experts to the Seoul process, Berlin, 2009, http://www.unesco. de/fileadmin/medien/Dokumente/Kultur/Kulturelle_Bildung/100120_Berlin_Contri bution_FINAL.pdf, S. 1. 60 | Diese Formulierung ist zu finden im Haushaltstitel »Kulturelle Bildung« des »Kinderund Jugendplans« des Bundes mit Verweis auf § 11 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Vgl. entsprechend Art. 26 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte«, die UNKinderrechtskonvention sowie exemplarisch die folgende Prämisse des schwedischen Kulturrats: »The Arts Council’s basic guiding principle is that all children and young people […] are entitled to equal opportunity to enjoy a range of cultural and artistic offerings and to engage in creative pursuits of their own« (vgl. http://www.kulturradet.se/Documents/ English/strategy_culture_children_young_people.pdf). 61 | Vgl. Lauret, J.-M./Marie, F. (Hg.): European Agenda (Onlinepublikation), S. 12. 62 | Vgl. hierzu auch die Lisbon Key Competences unter http://www.oapee.es/docu mentum/MECPRO/Web/weboapee/servicios/documentos/documentacion-convocatoria2008/l39420061230en00100018.pdf?documentId=0901e72b80004481
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ford von »education through the arts« zu sprechen.63 Werden die Künste hingegen auch zum Inhalt kultureller Bildungsprozesse und sind die Wirkungsabsichten intrinsisch auf die Künste selbst bezogen, so klassifiziert Bamford dies als »education in the arts«64. Hier geht es um das Erlernen, Erleben und Verstehen künstlerischer Zeichen und Techniken, also um a) die Vermittlung kunstspezifischer Fähig- und Fertigkeiten als ›Handwerkszeug‹ für künstlerische Eigenaktivität, b) die Vermittlung von Wissen über Kunst, künstlerische Prozesse und Produkte (und den Beruf des Künstlers), sodass die unterschiedlichen Künste in ihren charakteristischen Eigenheiten erfahrbar werden, und c) die Entwicklung einer »Lesefähigkeit« im Hinblick auf Kunst und den Prozess einer »ästhetischen Alphabetisierung«65 inklusive einer individuellen Geschmacks- und Bedürfnisentwicklung gegenüber ästhetischen Ereignissen. Entscheidend an dieser Dichotomie zwischen »Education through the arts« und »Education in the arts« ist, dass kulturelle Bildungsprozesse im besten Falle stets beide Dimensionen abdecken sollten, anstatt, wie es in der Praxis häufig zu beobachten ist, eine gegen die andere auszuspielen und (zumeist) extrinsischen Bildungszielen Vorschub zu leisten: »Education in the arts and education through the arts, while distinct, are interdependent and it should not be assumed that it is possible to adopt one or the other to achieve the totality of positive impacts on the child's educational realization.«66 Im Sinne dieser Begriffsbestimmung kultureller Bildung kann also keine Rede davon sein, dass der Bildungsauftrag an die Künste zulasten der künstlerisch-ästhetischen Qualität auszuführen ist. Es besteht vielmehr Konsens darüber, dass sich pädagogische und ästhetische Zwecke nicht ausschließen
63 | Bamford, A.: The Wow Factor, S. 21 und S. 71 et passim. 64 | Vgl. Anm. 86. 65 | Mollenhauer, Klaus: »Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie«, in: Lenzen, Dieter (Hg.), Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik?, Darmstadt 1990, S. 3-17, S. 9f. 66 | Bamford, A.: The Wow Factor, S. 71 (Herv. i. O.). Vgl. auch dies.: »In Her Own Words. Anne Bamford on Making Arts Education Meaningful«, in: UNESCO Today 1 (2010): Arts Education for All: What Experts in Germany are Saying, S. 82f. (online unter: http://www. unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Kultur/Kulturelle_Bildung/_FINAL_Unesco_ today_1_2010.pdf), hier S. 82.
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(sollen) und die Bildungsfunktion mit dem Topos der »Autonomie der Kunst« vereinbar ist.67 Speziell für das Kindertheater bedeutet dies: Es geht nicht darum, das Theater als »Dienstleistungs-Theater«68 für pädagogische Zwecke zu vereinnahmen oder zum Themenlieferant für den schulischen Unterricht zu degradieren. Ein Stück, das nützliches Wissen über Umweltschutz, den Kreislauf des Geldes oder Piraterie vermittelt, bildet nicht ›besser‹ als eines, das dem Zuschauer intensive ästhetische Erfahrungen und Eindrücke beschert – es bildet nur in anderer Hinsicht. Insofern muss es immer auch Anliegen kultureller Bildungsprozesse sein, sich der Künste um ihrer selbst willen anzunehmen und sie als spezifischen Lerngegenstand wertzuschätzen. Übergeordnetes Ziel sollte es sein, die dem Theater immanenten extrinsischen wie intrinsischen bildenden Wirkungspotenziale gleichermaßen zu erschließen und individuell zur Entfaltung zu bringen.
2.2.2 Zur Qualität kultureller Bildungsangebote: parameters of quality Wiewohl argumentiert werden mag, dass der Beschäftigung mit den Künsten per se eine Dimension kultureller Bildung inhärent ist – die Frage nach der sowohl künstlerisch-ästhetischen als auch pädagogischen Qualität eines solchen Bildungsangebots ist damit noch nicht beantwortet. Diesem Umstand trägt auch die Kultur- und Bildungspolitik in Europa in den letzten Jahren vermehrt Rechnung: Der Schwerpunkt des internationalen Diskurses um arts education hat sich von der Notwendigkeit kultureller Bildungsprogramme als solcher zunehmend auf die Notwendigkeit verlagert, deren Qualität zu gewährleisten
67 | Wie Reinold Schmücker ausführt, manifestiert sich die Autonomie der Kunst nach einer weitverbreiteten Ansicht gerade in ihrer »Funktionslosigkeit und Zweckfreiheit« (Schmücker, Reinold: »Die Autonomie des Künstlers und die Bildungsfunktion der Kunst«, in: Bockhorst, Hildegard [Hg.], KUNSTstück FREIHEIT. Leben und lernen in der Kulturellen Bildung, München 2011, S. 109-119, hier S. 109) – ein irreführendes Verständnis von Kunstautonomie, das seit der Romantik tief im modernen Kunstverständnis verwurzelt sei (vgl. ebd., S. 113). Tatsächlich sei Kunst »in vielfältiger Weise funktional« und könne »einer Vielzahl sehr verschiedener Zwecke dienen – auch solchen, die der Künstler nicht billigt« (ebd., S. 114). Die dennoch vorhandene Autonomie der Kunst bestehe vielmehr »in dem Privileg der Künstler, die Normen festzulegen, denen ihre Werke genügen sollen«, und mithin in »ihrer Fähigkeit, jedem einzelnen ihrer Werke und ihrem Œuvre insgesamt Gesetze zu geben« (ebd., S. 113). 68 | Schneider, Wolfgang: Theater für Kinder und Jugendliche. Beiträge zur Theorie und Praxis, Hildesheim/Zürich 2005, S. 117.
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und zu sichern;69 das Thesenpapier der zweiten Weltkonferenz, die Seoul Agenda, benennt entsprechend als eines der drei Hauptentwicklungsziele weltweit Folgendes: »Assure that arts education activities and programmes are of a high quality in conception and delivery« 70. Einen entscheidenden Anstoß für die Frage nach der Qualitätsentwicklung und -sicherung von kulturellen Bildungsangeboten lieferte der 2006 von Anne Bamford vorgelegte, im UNESCO-Auftrag erstellte Bericht The Wow Factor. Global research compendium on the impact of the arts in education, der bereits eine zentrale Grundlage der ersten Weltkonferenz darstellte und seitdem zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.71 Aus einer systematisch empirisch gestützten Perspektive kristallisierte Bamford erstmals im internationalen Vergleich heraus, welche Rahmenbedingungen notwendig sind, um hochwertige kulturelle Bildungsangebote im Bereich der künstlerischen Arbeit mit Kindern machen zu können. Im Zuge der Auswertung von empirischen Erhebungen und Fallstudien aus 37 beteiligten Ländern erarbeitete Bamford einen Katalog von sogenannten parameters of quality für Partizipationsprojekte, Qualitätsparameter also, die als Gelingensbedingungen universell zu veranschlagen sind, unabhängig von den von Projekt zu Projekt verschiedenen Bildungsinhalten und Wirkungsabsichten aus dem Spektrum der kulturellen Bildung.72 69 | Vgl. Keuchel, Susanne: »Monitoring and Evaluating Arts Education. The Shift to Focusing on Quality«, in: UNESCO Today 1 (2010): Arts Education for All: What Experts in Germany are Saying, S. 39ff. (online unter: http://www.unesco.de/fileadmin/medien/ Dokumente/Kultur/Kulturelle_Bildung/_FINAL_Unesco_today_1_2010.pdf). 70 | Vgl. UNESCO (Hg.): Seoul Agenda: Goals for the Development of Arts Education, http:// www.unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CLT/CLT/pdf/Seoul_Agenda_EN.pdf 71 | Vgl. Liebau, Eckart: »Der Wow-Faktor. Warum künstlerische Bildung nötig ist«, in: Anne Bamford: Der Wow-Faktor. Eine weltweite Analyse der Qualität künstlerischer Bildung, Münster 2010, S. 11-19, hier S. 11. 72 | Vgl. hierzu auch Bamford: »It was a somewhat unexpected result of the research that from all the diversity of case studies presented the parameters of quality were so uniform« (A. Bamford: The Wow Factor, S. 88). Dass es sich bei diesen Parametern noch nicht um hinreichende, sondern nur um notwendige Bedingungen handelt und im konkreten Einzelfall jeweils weitere projektspezifische Qualitätsparameter hinzukommen, ist selbstverständlich. Ein vergleichbares Anliegen wie die Bamford-Studie verfolgte für Deutschland die Potenzialstudie zu Kinder- und Jugendkulturprojekten, die im Jahr 2007 im Auftrag der PwC-Stiftung von Susanne Keuchel und Petra Aescht vorgelegt wurde. Anhand der sowohl quantitativen als auch qualitativen Auswertung von 60 Good-practice-Beispielen in Deutschland stellten die Autorinnen einen Katalog von insgesamt 104 Qualitätskriterien zusammen, die für ein ›erfolgreiches‹ Kinder- und Jugendkulturprojekt ausschlaggebend sein können. Diese beinhalten die von Bamford benannten Parameter,
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Als ein zentrales Untersuchungsergebnis hielt Bamford zunächst fest, dass als entscheidende Faktoren für die Qualität kultureller Bildungsangebote nicht etwa spezielle Inhalte zu veranschlagen seien, sondern vielmehr das Zusammenspiel von geeigneten Strukturen einerseits und geeigneten Vermittlungsmethoden andererseits: »[T]he case studies […] show that content is of less relevance to quality than method and structure« 73, so Bamford. Diese wurden von ihr wie folgt ausdifferenziert:74 a) strukturelle Qualitätsparameter • öffentliche Aufführung/Präsentation der Ergebnisse • detaillierte Dokumentation und Evaluation des Prozesses und des Ergebnisses • Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Künstlern, Schule(n) und Gemeinde • kontinuierliche Weiterbildung und -entwicklung der Künstler b) methodische Qualitätsparameter • Teamwork und Kooperation/flexible Organisationsstrukturen • Verwendung von lokalen Ressourcen, lokaler Umgebung und lokalem Kontext sowohl auf der Material- als auch auf der Inhaltsebene/Einbeziehen der örtlichen Gemeinde und ihrer Eigenheiten • prozessorientierte Projektarbeit auf der Basis künstlerisch-kreativer Recherchen Insbesondere der letztgenannte Aspekt methodischer Gelingensbedingungen, nämlich das ergebnisoffene künstlerische Experimentieren und Forschen, wurde von Bamford mehrfach als von höchster Bedeutung für die Qualitätssicherung kultureller Bildungsangebote eingestuft: »The most significant aspect of methodology that appeared in the qualitative case studies […] was the arousal of children’s curiosity about the world through problem or project orientated activities. […] Effective project-based arts-rich education involved the child in investigations of their direct environment and responding to issues around them through their art making process.«75 gehen aber in der Differenzierung weit darüber hinaus (vgl. Keuchel, Susanne/Aescht, Petra: Hoch hinaus. Potenzialstudie zu Kinder- und Jugendkulturprojekten, 2007, http:// www.pwc.de/de/engagement/assets/PwC_Stiftung_Potenzialstudie_2007.pdf). 73 | Bamford, A.: The Wow Factor, S. 89. 74 | Ebd., S. 88ff. Die hier aufgeführten Kriterien stellen eine Auswahl der wichtigsten von Bamford herausgearbeiteten Parameter dar, die sich zugleich auch für die Freie Kindertheaterszene als von besonderer Relevanz erweisen. 75 | Ebd., S. 94. Vgl. hierzu auch ebd., S. 95 et passim.
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Wichtig sei es, dass die gemeinsame künstlerische Arbeit von den Lernenden aktiv mitbestimmt und gestaltet werden könne 76 – und dass Fehlentscheidungen bzw. gar ein mögliches Scheitern des Projekts als ebenfalls fruchtbar zu machende Erfahrungen mitgedacht würden: »Quality arts-rich education encouraged the children to take risks and allowed them to make mistakes. ›Letting go‹ of control and being confident to enable children make mistakes was important part of giving children ownership of their creative processes. Uncertainty surrounds quality arts practice and this is to be encouraged.«77
Die weltweite Bedeutung dieser UNESCO-Qualitätsparameter für kulturelle Bildungsprozesse lässt sich unter anderem daran ablesen, dass nahezu alle der von Bamford aufgestellten Kriterien nicht nur in den Empfehlungsteil der Road Map for Arts Education aufgenommen wurden, die im Nachgang zur ersten UNESCO-Weltkonferenz vorgelegt wurde,78 sondern auch in der European Agenda für Culture aus dem Jahr 2010 in ihrer Relevanz bestätigt worden sind.79 Umso mehr muss es verwundern, in welch eklatantem Missverhältnis die als solche akzeptierten Qualitätsparameter kultureller Bildungsprozesse zu den tatsächlichen Arbeitsbedingungen der daran beteiligten Künstler stehen.
2.2.3 Zum besonderen Bildungspotenzial der Freien Kindertheaterszene Gemäß der von Anne Bamford erarbeiteten UNESCO-Qualitätsparameter zeichnen sich hochwertige kulturelle Bildungsangebote zunächst einmal nicht durch inhaltliche, sondern vor allem durch strukturelle und methodische Kriterien aus. Betrachtet man diese Parameter genauer, so ist nicht zu übersehen, dass gerade die geforderten methodischen Gelingensbedingungen mit den typischen Produktions- und Präsentationsweisen der Freien Kindertheaterszenen in Europa weitgehend übereinstimmen: Teamwork und Kooperation sind innerhalb der kollektiven Arbeitsprozesse der zumeist nichthierarchisch organisierten, flexiblen, system- und spar76 | »The children not only engaged in the activities presented, but actively designed the scope and nature of the underpinning projects« (ebd., S. 95). Vgl. hierzu auch Keuchel/ Aescht: »Folgeprojekte am Projektort entstehen vor allem dann, wenn die jungen Leute an Entscheidungen im aktuellen Projektverlauf beteiligt werden. Die Partizipation junger Menschen an der Projektgestaltung fördert offenbar das Interesse an weiteren kulturellen Bildungsangeboten« (Keuchel, S./Aescht, P.: Hoch hinaus [Onlinepublikation], S. 30). 77 | Bamford, A.: The Wow Factor, S. 101. 78 | Vgl. UNESCO (Hg.): Seoul Agenda (Onlinepublikation). 79 | Lauret, J.-M./Marie, F. (Hg.): European Agenda (Onlinepublikation), S. 32.
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tendurchlässigen Künstlerarbeitsgemeinschaften und Ensembles nicht nur gängige Praxis, sondern vielmehr notwendige Bedingung für den Prozess der gemeinsamen Stückentwicklung. Auch die Verwendung lokaler Ressourcen bzw. das Einbeziehen des lokalen Kontextes sind für die Freien Kindertheaterszenen – insbesondere im Rahmen von Partizipationsprojekten – von jeher von großer Bedeutung: Das »Wirklichkeitsprinzip« 80 des Theaters, ins ›wirkliche Leben‹ hinauszugehen und in Form von Site-specific-Projekten direkte Aktionen im öffentlichen Raum und damit in der konkreten Alltagsrealität der Beteiligten (und der Adressaten) zu initiieren, ist nicht nur im sogenannten Erwachsenentheater als Trend zu beobachten, sondern steht ebenso im Zentrum zahlreicher Theaterformate mit Kindern. Vor allem aber das Prinzip der stark prozessorientierten, ergebnisoffenen Projektarbeit auf der Basis künstlerischer Recherchen, das von Bamford als bedeutendstes methodisches Qualitätskriterium herausgearbeitet worden ist, wurde von nahezu allen befragten Künstlern der Freien Kindertheaterszene als für sie typische Arbeitsweise bestätigt und darüber hinaus ausdrücklich gewünscht und als konstitutiv anerkannt. Insofern lässt sich festhalten, dass der Freien Kindertheaterszene in Europa angesichts der von ihr beanspruchten ›Freiheit‹ in der Wahl des methodischen Zugriffs und der Gestaltung des künstlerischen Arbeitsprozesses ein spezifisches Potenzial innewohnt – das Potenzial nämlich, besonders hochwertige kulturelle Bildungsangebote im Bereich der Partizipationsformate zu unterbreiten und somit einen wichtigen Beitrag zu jenem aufseiten der Kultur- und Bildungspolitik so hoch im Kurs stehenden Ziel zu leisten. Dieses Potenzial allerdings liegt brach, insofern und so lange es von öffentlicher Seite verkannt und finanziell nicht zureichend unterstützt wird.
2.3 Freies Kindertheater in Europa ist heute … ein ›Theater von Anfang an‹! Die Entdeckung der Zielgruppe der ›Allerkleinsten‹, also der Altersgruppe von null bis sechs Jahren, kann als eine der wichtigsten Innovationen des Freien Theaters für Kinder seit den neunziger Jahren angesehen werden. Nach dem zentralen Emanzipationsschub des Kindertheaters mit Beginn der siebziger Jahre geht der Prozess der Aufwertung und (angestrebten) Gleichberechtigung der Zielgruppe mit der Etablierung des ›Theaters für die Allerkleinsten‹ einen entscheidenden Schritt voran: Dank der wachsenden Erkenntnisse der Neurobiologie, der Psychologie und der Erziehungswissenschaften hat sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ein neues Kindheitsbild entwickelt, das es gebietet, 80 | Hoffmann, Klaus: »Kultur und Künste als Spielraum der Freiheit«, in: Bockhorst, H. (Hg.), KUNSTstück FREIHEIT (2011), S. 223-238, hier S. 235.
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bereits Säuglinge und Kleinkinder als vollwertige und damit auch zur künstlerisch-ästhetischen Erfahrung fähige und berechtigte Menschen anzusehen. Diese Prämisse schlägt sich paradigmatisch in der Betitelung des weltweit größten Netzwerkes nieder, das sich dem Theater für die Allerkleinsten verschrieben hat: Small Size, Big Citizens. Das 2005 in Bologna auf Initiative des Kindertheaters La Baracca – Testoni Ragazzi gegründete Netzwerk, an dem zunächst nur vier europäische Länder beteiligt waren, bringt heute bereits zwölf Theater aus zwölf unterschiedlichen Ländern sowie Partner aus drei nationalen Mikronetzwerken zusammen, die sich für die strukturelle und ästhetische (Weiter-)Entwicklung der darstellenden Künste für die Zielgruppe von null bis sechs Jahren in Europa einsetzen und zu diesem Zweck gemeinsame Projekte, Programme und Initiativen erarbeiten. In drei aufeinanderfolgenden Förderperioden jeweils mehrjährig unterstützt durch das Kulturförderprogramm der Europäischen Kommission, teilen sich die Projektaktivitäten des Small-Size-Netzwerks in drei Bereiche auf: Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt auf den sogenannten production activities: Ziel der über das Netzwerk verbundenen Theaterschaffenden ist es, neue Produktionen und Koproduktionen speziell für die Zielgruppe der Allerkleinsten auf den Weg zu bringen und finanziell zu unterstützen. Darüber hinaus gibt es ein breites Spektrum an training activities wie zum Beispiel Workshops, Sommerakademien und Residenzen, die an Künstler, Lehrer, Erzieher, Kulturvermittler, Eltern und Kinder gerichtet sind und der Aus- und Fortbildung dienen. Schließlich ist auch der Sektor der promotional activities in seiner Bedeutung für die Festigung und den Ausbau des Netzwerkes nicht zu unterschätzen, da auf diese Weise neue Kontakte geknüpft sowie Austauschmöglichkeiten geschaffen werden können und eine gemeinsame Datenbank gepflegt werden kann. Zu diesen promotional activities gehören nicht nur die Förderung diverser Publikationen zum Feld des Theaters für die Allerkleinsten, multimediale Auf bereitungen zu Werbezwecken und die Akquise neuer Netzwerkpartner und Fördergelder, sondern auch die Organisation der SmallSize-Festivals und -Showcases, auf denen neben den Produktionen der beteiligten Partner stets gleichsam Aufführungen externer Gruppen für ein sehr junges Publikum gezeigt werden. Die Tatsache, dass es sich bei Small Size, Big Citizens um das einzige mehrjährige Projekt für Kinder handelt, das im Jahr 2009 für die Förderperiode 2009 bis 2014 von der Europäischen Kommission ausgewählt wurde, spiegelt die große Bedeutung wider, die dieser Strömung des Kindertheaters auch von öffentlicher Seite beigemessen wird – ein Befund, der ohne Zweifel auch im Lichte der bereits erörterten Debatte zur frühkindlichen kulturellen Bildung zu sehen ist: Kulturelle Bildung meint vor dem Hintergrund des EU-Konzepts eines »lebenslangen Lernens« konsequenterweise eben auch, sie so früh wie
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möglich beginnen zu lassen,81 was die Existenz einer spezifischen Kunstform für die Allerkleinsten offenbar ausreichend zu rechtfertigen vermag. Nicht zufällig jedenfalls wurde das unter der Ägide der französischen Freien Gruppe ACTA durchgeführte Kooperationsprojekt Parentalité, éducation, culture, art, das sich speziell auf die Allerkleinsten konzentrierte, vom EU-Bildungsprogramm Grundtvig für lebenslanges Lernen gefördert. War das Theater für die Allerkleinsten in seinen Anfängen während der neunziger Jahre eine Spezialität aus Italien und Frankreich, so hat es sich bis heute in fast allen europäischen Ländern mehr oder weniger etabliert.82 Allerdings ist es eindeutig vornehmlich eine Sache der Freien Szene: Die Institutionen, so scheint es, haben nach wie vor in aller Regel kein Interesse daran, für die Allerkleinsten zu produzieren – sei es, weil die zu erwartenden finanziellen Einnahmen für das Haus im Verhältnis zu gering ausfallen, sei es, weil die notwendigen Produktionsbedingungen sich mit den Arbeitsstrukturen eines Staats- und Stadttheaters zu wenig vereinbaren lassen. Eine positive Ausnahme stellt das Theater der jungen Generation in Dresden dar, das ganzjährig Produktionen auch für die Allerkleinsten im Spielplan anbietet. Besonders erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass gerade das Theater für die Allerkleinsten der Bereich des polnischen Theaters für Kinder ist, in dem aktuell die auffälligsten Entwicklungen stattfinden – und in dem sich die ansonsten kaum existente Freie Szene einen Handlungsspielraum zu erarbeiten scheint. Die Anfänge dieser Bewegung gehen auf die vom weltweit zentralen Pionier für die Allerkleinsten, nämlich dem Kindertheater La Baracca – Testoni Ragazzi aus Bologna, initiierte Vernetzung mit dem Children’s Arts Centre in Posen zurück: Im Jahr 2006 lud das polnische Kinder-Künste-Zentrum erstmals eine Produktion aus Italien als Gastspiel ein; wenig später folgten Gastspiele vom Toihaus Theater Salzburg aus Österreich und vom Helios Theater aus Deutschland. Der Versuch, diese Good-practice-Beispiele für die Allerkleinsten als Inspirationsquelle und Initialzündung zu begreifen, ist offenkundig geglückt: Eine Reihe von freien Künstlern wurde angeregt, selbst in dieser Richtung zu experimentieren und Stücke für ein sehr junges Publikum zu erarbeiten; Freie Gruppen – wie etwa das Teatr Atofri oder das Studio Teatralne Blum – wurden gegründet, die sich ausschließlich den Allerkleinsten verschreiben wollten; »and even a very well know director for adults, Paweł Łysak, directed one 81 | Vgl. Schlussbericht der Enquête-Kommission: »Kultur in Deutschland«, Dr. 16/7000 vom 11.12.2007, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/070/1607000.pdf, S. 382; sowie Deutscher Kulturrat (Hg.): Kulturelle Bildung: Aufgaben (Onlinepublikation). 82 | Eine Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang die Schweiz dar: Hier hat sich diese Kunstform laut Sandra Förnbacher (Universität Bern) bislang noch nicht durchsetzen können.
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piece for babies«, so Alicja Morawska-Rubczak (ASSITEJ-Sektion, Polen); kurz: es entstand eine eigene kleine Bewegung, der es zu verdanken ist, dass sich das Theater für die Allerkleinsten mittlerweile über das ganze Land erstreckt und sich zunehmend als Arbeitsfeld speziell der Freien Szene etabliert.83 Dafür spricht auch die Tatsache, dass der Zielgruppe der Allerkleinsten in Polen mit Sztuka szuka malucha (Art seeks the toddler) seit 2010 sogar exklusiv ein international ausgerichtetes Künstefestival gewidmet ist, das vom Ministery of Culture and National Heritage gefördert wird und sich seit seiner Erstauflage kontinuierlich vergrößern konnte. Als eine der größten Entwicklungsaufgaben für die Zukunft sehen die in diesem Feld agierenden Akteure die bisher unzureichende Vernetzung innerhalb der Szene: Es fehlen nicht nur Kooperations- und Austauschmöglichkeiten auf nationaler Ebene, da die freien Gruppen, die für die Allerkleinsten arbeiten, über das gesamte Land verstreut sind, sondern es fehlt ebenso, und dies wird von den Künstlern besonders beklagt, der Kontakt zum europäischen Ausland, wo das Theater für die Allerkleinsten längst Tradition hat. Insofern soll das nächste Festival für die Allerkleinsten in Polen nach Möglichkeit mit einem breit aufgestellten internationalen Symposium verbunden werden, um dem bisherigen Nischendasein der freien Künstler, die auf diesem Gebiet arbeiten, ein Ende zu bereiten und der polnischen Freien Szene insgesamt Auftrieb und (auch internationale) ›Sichtbarkeit‹ zu verschaffen.84 Generell lässt sich sagen, dass die Existenz mindestens eines eigenen Festivals für die Allerkleinsten in den meisten europäischen Ländern bereits zum Normalfall geworden ist und zu den Selbstverständlichkeiten einer sich selbst als emanzipiert verstehenden Kindertheaterszene gehört: Visioni di futuro, visioni di teatro in Bologna, Premières rencontres im französischen Villiers-le-Bel, Bim Bam in Salzburg, Twee Turven Hoog im niederländischen Almere, TakeOff in England, Starcatchers in Schottland, Fratz in der deutschen Bundeshauptstadt – die Liste ist lang, und sie wird ständig länger, denn das Theater für die Allerkleinsten boomt! Auch die Nachfrage scheint immens zu sein. Wie Stephan von Löwis, Veranstalter des renommierten internationalen Künstefestivals kinderkinder in Hamburg, bestätigte, gilt die Formel: »Je jünger die Zielgruppe, desto ausverkaufter!« Ebenso gab Stephan Rabl (DSCHUNGEL, Wien) an, dass er, wenn er Produktionen für die Allerkleinsten so häufig programmieren würde, wie es 83 | Allerdings ist anzumerken, dass sich in Polen mit dem Teatr małego widza (The Theatre of the Little Spectator) mittlerweile sogar ein Nationaltheater ausschließlich der Zielgruppe der ›Allerkleinsten‹ widmet. 84 | Diese Informationen und Ausführungen basieren auf den umfassenden Erläuterungen der polnischen Länderexperten Alicja Morawska-Rubczak (ASSITEJ-Sektion, Polen), Zbigniew Rudzinski und Barbara Malecka (beide vom Children’s Arts Centre in Posen).
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die Nachfrage verlangte, seinen Spielplan ausschließlich mit Vorstellungen für dieses Publikum bestücken müsste. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass trotz dieser großen Nachfrage und des allgemeinen Aufwinds, den das Theater für die Allerkleinsten seit einigen Jahren europaweit erfährt, nach wie vor häufig die Bereitschaft fehlt, diese Kunstform öffentlich zu fördern bzw. sie überhaupt als Kunstform anzuerkennen. »There are quite some artists that make theatre for [the very young, Anm. T. K.], but they have no structural money, so there is not a real infrastructure for this age-group (which is very frustrating)«, so berichtet exemplarisch die holländische Theaterwissenschaftlerin Brechtje Zwaneveld über die Situation der Künstler in den Niederlanden; und auch renommierte Gruppen mit europaweiter Strahlkraft wie etwa das La Baracca in Bologna können ihre Produktionen für die Allerkleinsten laut eigener Aussage nur mithilfe der Gelder des Small-Size-Netzwerks oder aber durch Kooperationen mit Institutionen finanzieren. Eine gezielte Förderung aus öffentlicher Hand existiert nicht. Der Grund hierfür ist womöglich in der existenziellen Legitimationsproblematik des Theaters für die Allerkleinsten zu sehen: Zum einen ist selbst von seinen glühendsten Verfechtern nicht zu leugnen, dass sich das Theater für die Allerkleinsten unablässig in einem Konkurrenzkampf mit anderen ›gewöhnlichen‹ Erfahrungen des Alltags zu behaupten hat. Insoweit auf der Bühne häufig Praktiken vorgeführt und wiederholt werden, die Kindern aus ihrem familiären Alltag und der Kita wohl vertraut sind – das Spiel mit Materialien wie Papier, Holz, Wolle, Metall; das Experimentieren mit Farben, Klängen, Gerüchen etc. –, läuft das Theater stets Gefahr, als Erfahrungsraum ersetzbar zu sein. Dies gilt umso mehr, wenn das Spiel auf der Bühne im Sinne einer postdramatischen Performance keinen symbolischen Verweisungscharakter mehr hat und sich nicht im mimetischen Simulationsmodus des Als-ob ereignet, wenn also die Schauspieler keine Rollen spielen, sondern vielmehr ihr eigenes – kindliches? – Spiel mit den Objekten präsentieren und ausstellen. Eine ästhetische Erfahrung, wie sie beim Betrachten einer solchen Performance möglich ist, muss sich gefallen lassen, mit jenen verglichen zu werden, die ein Kleinkind beispielsweise beim Betrachten eines Regenbogens oder erst recht beim eigenen Spielen im Sand, mit Holz oder auf dem Klavier machen kann. Zum anderen ist zu bedenken, dass die tatsächlichen Rezeptionserfahrungen von Kleinkindern während einer eigens für sie konzipierten Theateraufführung bis heute nicht erforscht sind und in Teilen vermutlich auch unerforschbar bleiben werden. Die These also, dass das »U3-Theater spezifische Qualitäten besäße, die es gegenüber anderen Aktivitäten heraushöben, die ein Kleinkind begeistern können« 85, ist bislang ebenso unbewiesen wie jene, »dass 85 | Viehöver, Vera/Wunsch, Stephan: »Zweieinhalb Gedanken zum Hype ums U3Theater«, in: Das andere Theater 77/78 (2011), S. 4ff., hier S. 4.
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Theater für Unter-3-Jährige einen unverzichtbaren Bestandteil der ästhetischen Entwicklung des Menschen darstellt« 86. Die Gefahr, das »Kleinkind als Projektionsfläche«87 zu benutzen, um erwachsenen – neoromantischen – Imaginationen einer kindlichen Erlebniswelt Ausdruck zu verleihen, ist groß, wobei stets implizit ein bestimmtes Konzept von Kindheit im frühen 21. Jahrhundert veranschlagt, jedoch selten hinterfragt wird.88 Ein unhintergehbares Faktum ist und bleibt – und mit dieser Tatsache müssen die Macher notgedrungen leben –, dass ein messbarer Beitrag des Theaters für die Allerkleinsten für die ästhetische Entwicklung eines Kindes bis dato empirisch nicht nachweisbar ist.
Abbildung 2: »I Colori Dell’Acqua« La Baracca -Testoni Ragazzi, Bologna, Italien, 2003, Foto: Matteo Chiura 86 | Ebd. 87 | Wunsch, Stephan: »Kleiner Prinz 2.0«, in: Das andere Theater 77/78 (2011), S. 14f., hier S. 15. 88 | Ebd., S. 14. Vgl. entsprechend auch Viehöver, V./Wunsch, S.: »Zweieinhalb Gedanken«, S. 6.
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2.4 Freies Kindertheater in Europa ist heute … interdisziplinär! Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat sich das Freie Kindertheater in Europa nicht nur strukturell emanzipiert. Auch ästhetisch weist es eine zunehmende Formenvielfalt und eine immer größere inhaltliche Bandbreite auf: Es beansprucht alle Formate, Gattungen, Sparten und Erscheinungsformen des zeitgenössischen Freien Theaters für sich und gewinnt, so scheint es, insbesondere da an Profil, wo es im Zusammenspiel mit angrenzenden Kunstformen und Disziplinen agiert. Der im Deutschen nach wie vor verwendete Begriff der vierten Sparten, mit dem die Kinder- und Jugendtheaterabteilungen an Staats-, Stadt- und Landestheatern bezeichnet werden, ist demnach mehr denn je irreführend, insofern er das Kinder- und Jugendtheater separat neben den traditionellen Sparten Schauspiel, Oper und Ballett verortet und somit verkennt, dass Musik- und Tanztheater längst auch zum Spektrum der darstellenden Künste für ein junges Publikum gehören. Was den für diese Studie relevanten Untersuchungszeitraum angeht, so ist festzuhalten, dass das Jahr 1990 für das Kindertheater in Westeuropa im Hinblick auf Stoffe und Themen keine nennenswerte Zäsur darstellt.89 Der diesbezügliche tiefgreifende Paradigmenwechsel fand bereits mit Beginn der siebziger Jahre statt, als das Kinder- und Jugendtheater sein Themenspektrum im Zuge der allgemeinen Reform des kinder- und jugendliterarischen Handlungssystems grundlegend erweiterte. Absolute Tabuthemen gibt es seitdem kaum noch, und zunehmend weniger, oder, wie Maurice Yendt es treffend zusammenfasste: »Il y a bien sur des tabous sociaux ou moraux mais pas plus que dans le théâtre s’adressant aux adultes.« Die signifikantesten Entwicklungen auf ästhetischer Ebene sind im Rückblick auf die vergangenen beiden Jahrzehnte demnach vor allem im Bereich der Formen und Formate zu verzeichnen; das Interesse der Theaterschaffenden hat sich auf das Experimentieren mit neuen postdramatischen Erzählweisen eingependelt. Als der wohl bedeutendste Trend in diesem Zusammenhang erweist sich die überall zu beobachtende Tendenz zu genre- und diszplinübergreifendem Arbeiten. Nicht ohne Grund sind aus dem Kindertheater in vielen Kontexten die darstellenden Künste für Kinder geworden, aus dem theatre die performing arts und dem théâtre die spectacles vivants. Maurice Yendt qualifiziert diesen Trend als geradezu selbstverständlich: »Cela va de soi. Depuis Sophocle et 89 | An dieser Stelle ist erneut zu betonen, dass die in diese Untersuchung vornehmlich einbezogenen Länder sämtlich dem westeuropäischen Raum zuzuordnen sind; Polen und Russland nehmen, wie einleitend ausgeführt, eine Sonderstellung ein, die nicht zuletzt historisch und politisch begründet ist. Auch das einstige Kindertheater der DDR ist vor diesem Hintergrund aus den allgemeinen Äußerungen über Entwicklungslinien bis 1990 bzw. der frühen neunziger Jahre weitgehend auszuklammern.
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Aristophane, le théâtre est un art ontologiquement syncrétique qui a toujours fait appel, pour affirmer son identité artistique, à beaucoup d’autres formes d’art (littérature, musique, danse, arts visuels, etc.).« Die Häufung jedoch, mit der dieser interdisziplinäre Ansatz aktuell vonseiten der freien Kindertheaterschaffenden verfolgt und ins Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit gerückt wird, ist gleichwohl bemerkenswert. Dabei müssen im Zuge der allgemeinen Orientierung an Cross-over-Formaten insbesondere drei Bereiche Erwähnung finden, die die Kindertheaterlandschaften in augenfälliger Weise prägen: Zunächst ist die sich seit einigen Jahren rasant entwickelnde Musik- und vor allem Tanztheaterszene für ein junges Publikum zu nennen, für die das spartenübergreifende Arbeiten und das gleichberechtigte Zusammenwirken unterschiedlicher Künste und Ausdrucksformen offenbar notwendig ist. Zweitens ist die Begegnung von darstellender und bildender Kunst nach wie vor ein beliebtes und wiederkehrendes Phänomen im Bereich des Freien Kindertheaters, wobei das Spektrum allein auf diesem Sektor sehr breit gefächert ist und von der Bespielung von Kunstobjekten und Videoarrangements, wie etwa im Falle der Erfolgsproduktion Hinter den Spiegeln (2011) des Helios Theaters aus Hamm, bis hin zur Einrichtung interaktiver Installationen reicht, die von den Zuschauern einzeln (!) und ohne die Anwesenheit von Schauspielern ›begangen‹ und erlebt werden sollen, wie sie das italienisch-schweizerische Kollektiv Trickster bereits mehrfach erfolgreich durchgeführt hat. Drittens lässt sich mit zunehmender Häufigkeit ein Cross-over mit einem eher nicht genuinen künstlerischen Arbeitsfeld beobachten, nämlich eine Öffnung des Kindertheaters in Richtung der Wissenschaft: »Durch die Ausdifferenzierung der Wissenschaften, den rasanten Wissenszuwachs und die neuen Medien haben Formate, die wissenschaftliche Inhalte mit unkonventionellen Mitteln darstellen und in denen die Person des Forschers sichtbar ist, an Bedeutung gewonnen«90; und in der Tat schlägt sich dies seit einiger Zeit verstärkt auch im Bereich des Freien Theaters für ein junges Publikum nieder: In Lecture-Performances und anderen dokumentarischen Formaten, die sich explizit in den Dienst der Wissensvermittlung durch sinnlich-veranschaulichende Präsentation stellen, werden gesellschaftlich relevante Themen für Kinder multimedial auf bereitet und mit künstlerischen Mitteln mehr erzählt denn gespielt. So entstanden in der jüngeren Vergangenheit allein in Deutschland etwa neue Stücke zum Thema Geld (vgl. die gleichnamige Produktion des Theaters an der Parkaue 2013 sowie die Kinderbank des Fundus Theaters 2012), 90 | Gauß, Eva Maria/Hannken-Illjes, Kati: »Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in künstlerischer Form«, in: Bockhorst, Hildegard/Reinwand, Vanessa-Isabelle/Zacharias, Wolfgang (Hg.). Handbuch Kulturelle Bildung, München 2012, S. 961964, hier S. 962.
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zur Trinkwasserarmut (Durst, Grips Theater 2013), zur Umweltverschmutzung (Trashedy, Leandro Kees, 2012) und zur Beeinflussung und Manipulation durch Medien und Nachrichten (Der Rest der Welt, Pulk Fiktion, 2011). Dass das Aufkommen dieser Formate zweifellos einmal mehr in engem Zusammenhang mit dem allgemeinen kulturpolitischen Interesse an der Förderung kultureller Bildung zu sehen ist, gehört zu den zentralen inneren Dynamiken des Kinderund Jugendtheatersystems. Exemplarisch für das Phänomen der zunehmenden interdisziplinären Ausdifferenzierung des Freien Kindertheaters in Europa soll im Folgenden ausführlicher auf den Bereich des Tanztheaters eingegangen werden – zum einen, weil ihm, wie zu zeigen sein wird, im Spiegel kultureller Bildungschancen für Kinder eine besondere Bedeutung zukommt; zum anderen, weil sich der strukturelle wie ästhetische Wandel des Kindertheatersystems innerhalb des Sektors »Tanz« am vielleicht augenfälligsten manifestiert und konkretisiert.
Abbildung 3: »Die Harmonie der Gefiederten/L’Harmonie de la Gent à Plumes« AGORA Theater, St. Vith, Belgien, 2014, Foto: Willi Filz
2.5 Tanztheater für Kinder: Der Königsweg kultureller Bildung? »Modern boys want to be dancers rather than firemen«91 – so titelte am 17.8.2013 die britische Zeitschrift The Telegraph und sprach von einem »cultural shift«: Wie im Rahmen zweier empirischer Untersuchungen herausgefunden wurde, rangiert der Beruf Tänzer bei Jungen in Großbritannien als Karriereoption bereits an dritter Stelle, hinter Arzt und Fußballer – und vor Feuerwehrmann. 91 | Vgl. http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/10242601/Modern-boys-want-tobe-dancers-rather-than-firemen.html
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Dies ist ein Befund, der zunächst überraschen, vielleicht erfreuen mag – mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen, die sich im Bereich des Tanztheaters europaweit vollziehen, erscheint er jedoch geradezu konsequent, haben sich doch auf diesem Gebiet während der letzten 20 Jahre die vermutlich grundlegendsten und bedeutsamsten Strukturveränderungen der Freien Kindertheaterszenen ereignet. Die Kunstsparte Tanz, »die bis vor gar nicht allzu langer Zeit vielerorts noch ohne öffentliche Aufmerksamkeit, Geld und politische Lobby dastand«92, hat es geschafft, sich insbesondere im Bereich der partizipativen Tanzformate mit Kindern und Jugendlichen als wesentlicher Bestandteil kultureller Bildung und damit des gesellschaftlichen Lebens zu etablieren und sich einen prominenten Platz innerhalb der Freien darstellenden Künste für ein junges Publikum zu erobern. Europaweite Netzwerke, allen voran das beeindruckend florierende und mit EU-Mitteln geförderte Fresh Tracks Europe, werden gegründet;93 die Anzahl an Tanzproduktionen und -initiativen steigt beständig; und auch das Angebot an spezifischen Tanzfestivals für Kinder (inklusive des Publikums der Allerkleinsten) wächst, wobei deren ältestes bis heute gleichsam weltweit das größte und einzige jährlich stattfindende internationale Tanzfestival für ein junges Publikum geblieben ist, nämlich das seit 1998 bestehende Szene Bunte Wähne in Wien. Während das Tanztheater für ein junges Publikum in einigen wenigen europäischen Ländern – wie etwa den Niederlanden – schon eine vergleichsweise lange Tradition hat, die mit der Tradition des Kinder- und Jugendtheaters generell zusammenfällt, ist die ›Eingemeindung‹ der Kunstform Tanz in das Spektrum der darstellenden Künste für Kinder und Jugendliche in vielen anderen Ländern erst als ein Phänomen der späten neunziger Jahre und vor 92 | Foik, Jovana: »Zehn Jahre Tanzfieber. Eine Zwischenbilanz«, in: Bockhorst, H./ Reinwand, V.-I./Zacharias, W. (Hg.), Handbuch Kulturelle Bildung (2012), S. 604-607, hier S. 606. 93 | Mitglieder und Partner von Fresh Tracks Europe sind derzeit elf Institutionen aus acht Ländern: Als Kernmitglieder fungieren das Tanz- und Theaterlabor Het Lab Utrecht (Niederlande), auf dessen Initiative hin das Netzwerk allererst gegründet wurde, des Weiteren das Zentrum für darstellende Künste Kopergietery (Belgien), das Theater- und Tanzhaus DSCHUNGEL Wien (Österreich) sowie das unabhängige Zentrum für internationale Tanzkunst tanzhaus nrw (Deutschland). Weitere Partner sind der Veranstaltungsort für zeitgenössischen Tanz Dansstationen (Schweden), die Agenturen für zeitgenössischen Tanz Soltumatu Tantsu Ühendus (Estland) und Aabendans (Dänemark) sowie die Festivals Imaginate (Großbritannien), Krokus Festival (Belgien), Szene Bunte Wähne (Österreich) und Tweetakt (Niederlande). Vgl. hierzu http://www.freshtracks-europe.com sowie die umfassende englischsprachige Dokumentation Fresh Tracks Europe (Hg.): Innovation in Dance for Young Audiences, 2013.
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allem des beginnenden 21. Jahrhunderts zu beschreiben, das entsprechend erst seit Kurzem konzentrierte öffentliche – und förderpolitische – Aufmerksamkeit genießt. So nahm sich beispielsweise der schwedische Arts Council im Jahr 2009 explizit der gezielten Förderung des Tanztheaters für ein junges Publikum an und erhöhte die Fördergelder sowohl für neue Projekte als auch für bereits bestehende Initiativen.94 Als Best-Practice-Modell kulturpolitischer Maßnahmen der Entwicklungsförderung im Bereich des Tanzes für Kinder und Jugendliche ist jedoch die Bundesrepublik Deutschland zu nennen, insoweit hier ein in Europa bis heute einzigartiger regionaler wie überregionaler Strukturentwicklungsplan konzipiert und erfolgreich durchgeführt wurde:95 Der im Juni 2004 ins Leben gerufene Tanzplan der Kulturstiftung des Bundes stellt seit Jahren den wohl umfassendsten kulturpolitischen Impuls für die zeitgenössische Tanzszene dar.96 Mit dem Programm Tanzplan nahm sich die Kulturstiftung erstmals in der bundesrepublikanischen Geschichte die Förderung des Tanzes vor, um die Künstler- und Nachwuchsförderung, die Tanzausbildung, die kulturelle Bildung und das Kulturerbe Tanz zu stärken, die öffentliche Wahrnehmung des Tanzes als Kunstform zu erhöhen sowie ein Modell für längerfristige Strukturfördermaßnahmen zu entwickeln. Dafür wurden zwischen 2005 und 2010 insgesamt 12,5 Millionen Euro bereitgestellt, mit denen eine Vielzahl von lokalen Tanzinitiativen, Ausbildungsprojekten, Forschungsvorhaben und Publikationen unterstützt werden konnten.97 Dank des Match-funding-Prinzips, das die Länder und Kommunen in die Pflicht nahm, jeweils 50 Prozent der Fördergelder selbst beizusteuern, und der geforderten Absichtserklärung der Finanzgeber zur Kostenübernahme nach Ende der Laufzeit der Projekte war es nicht nur möglich, für die beteiligten Akteure Planungssicherheit zu gewährleisten, 94 | Vgl. hierzu den folgenden Auszug aus den Bekanntmachungen des Kulturrates: »The interest in both classical and modern contemporary dance has increased markedly in recent years – not least among children and young people. The Government is making a concentrate effort to enable dance to reach a greater proportion of the general public and get more people to discover dance as an art form. House of Dance (Dansens hus) is being given special fund to put high-quality dance in focus, in cooperation with other dance institutes. Children and young people are central target groups for this initiative. The national programme Dance in School, which has been coordinated by the Swedish Arts Council since 2005, has been expanded. The National Dance in School Institute was established at Luleå University of Technology in March 2009 to increase research in the area« (http://www.government.se/content/1/c6/15/21/08/bc7ed630.pdf). 95 | Vgl. Foik, J.: »Zehn Jahre Tanzfieber«, S. 605. 96 | Müller, Linda/Schneeweis, Katharina (Hg.): Tanz in Schulen. Stand und Perspektiven. Dokumentation der »Bundesinitiative Tanz in Schulen«, München 2006, S. 136f. 97 | http://www.tanzplan-deutschland.de/plan.php?id_language=1
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sondern auch eine Gesamtsumme von rund 21 Millionen Euro in den Tanz zu investieren.98 Mehr als 80 Prozent der Initiativen bestehen somit weiterhin, acht der insgesamt neun regionalen Tanzpläne vor Ort werden aktuell von den Ländern und Kommunen fortlaufend finanziert.99 Beteiligt an diesem Mammutprogramm waren 426 Projektpartner und 389 Choreografen aus 50 Ländern. Von 1277 Tanzaufführungen entfielen 681 auf Vorstellungen für und mit Kinder(n) und Jugendliche(n);100 speziell im Bereich der kulturellen Bildung durch Partizipationsformate konnte der Tanzplan nach fünf Jahren Laufzeit mit über 30.000 beteiligten Kindern und Jugendlichen und einem Umfang von rund 13.000 Unterrichtsstunden im Fach Tanz aufwarten.101 Dabei ging es tatsächlich um beides: Es sollten zum einen die notwendigen künstlerischen, personellen und finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden, um für die junge Zielgruppe professionelle Tanzproduktionen erarbeiten und nachhaltige Produktionsstrukturen entwickeln zu können.102 Zum anderen sollten vielfältige Vermittlungsangebote, vom praktischen Tanzunterricht bis hin zur gemeinsamen Rezeption und Reflexion von Tanzstücken, unterschiedliche Zugänge zur Kunstform Tanz ermöglichen. Hierfür wurde »in Zusammenarbeit mit Grundschulen, weiterführenden Schulen, Kindergärten und Jugendfreizeiteinrichtungen eine Basis für die Vermittlung und Aneignung der Tanzkunst entwickelt. Insbesondere in Stadtteilen, in denen der Zugang zur Tanzkunst erschwert ist, zielt[e] die Zusammenarbeit mit Kinder- und Jugendeinrichtungen auf eine kontinuierliche Kooperation. Mit den beteiligten Institutionen [wurden] Wege zur dauerhaften Implementierung von Tanz gefunden, um die Sparte zu einem integralen Bestandteil dieser Einrichtungen zu machen.«103
Als vorbildliches Fallbeispiel für diese lokal verankerten Initiativen des Tanzplans vor Ort sei hier nur steckbriefartig auf die Erfolgsgeschichte des Programms Take-off: Junger Tanz – Tanzplan Düsseldorf verwiesen, das von 2006 bis 2010 mit dem tanzhaus nrw als Projektträger durchgeführt werden konnte. Die Fakten sprechen für sich:
98 | Foik, J.: »Zehn Jahre Tanzfieber«, S. 606. 99 | Vgl. Odenthal, J.: »Tanz als Pflichtfach«, S. 108. 100 | Vgl. ebd. 101 | Vgl. Foik, J.: Zehn Jahre Tanzfieber, S. 606. 102 | Vgl. Kessel, Martina/Müller, Bertram/Kosubek, Tanja/Barz, Heiner (Hg.): Aufwachsen mit Tanz: Erfahrungen aus Praxis, Schule und Forschung, Weinheim/Basel 2011, S. 22. 103 | Ebd., S. 21.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven Formate • 32 verschiedene Produktionen • zwölf Preise und Anerkennungen für sechs Produktionen • 43 Gastspiele aus zwölf verschiedenen Ländern • ein jährlich stattfindendes Festival • 20 Tanzproduktionen mit Kindern und Jugendlichen • 237 Kurse und Workshops an Partnerschulen, Jugendfreizeitstätten und Kindergärten • Weiterbildungsangebote für Tänzer, Choreografen und Lehrer Akteure • vier Theater • ein Konzerthaus • 160 freie Choreografen, Tänzer und Tanzpädagogen aus 15 verschiedenen Ländern • vier Weiterbildungsinstitutionen, eine Universität, zehn Schulen, vier Jugendfreizeiteinrichtungen, zwei Kindergärten Partner • 26 lokale • acht überregionale • elf internationale Teilnehmer • 6712 Teilnehmer in Kinder- und Jugendtanzprojekten an Schulen, Jugendfreizeitstätten und Kindergärten • 567 Kinder und Jugendliche als Tänzer in Produktionen • 9017 Stunden Unterricht an Schulen, Jugendfreizeitstätten, Kindergärten • 100.088 Zuschauer104
Es gehört zu der Erfolgsgeschichte dieses Programms, dass das Land NRW und die Stadt Düsseldorf die Förderung von Take-Off ebenso wie die Finanzierung des noch immer jährlich stattfindenden dazugehörigen Festivals nach Auslaufen des Tanzplans vollständig übernommen haben.105 Auch die Kulturstiftung des Bundes hat nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Modellvorhabens ihr Engagement fortgesetzt – und gleich zwei neue Fonds, nämlich den Tanzfonds Partner und den Tanzfonds Erbe, mit einer Fördersumme von jeweils 2,5 Millionen Euro ausgestattet,106 wobei sich der Tanzfonds Partner explizit an die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen richtet und auf die Entwicklung mehrjähriger Allianzen zwischen Schulen und Ein104 | Vgl. ebd., S. 24. 105 | Vgl. ebd., S. 178. 106 | Foik, J.: »Zehn Jahre Tanzfieber«, S. 606.
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richtungen des Tanzes (Theaterhäuser, Tanz-companies und choreografische Zentren) abzielt.107 Darüber hinaus sind – gewissermaßen ›im Fahrwasser‹ dieses breit angelegten Strukturentwicklungsprogramms – während der vergangenen Jahre zahlreiche weitere Initiativen und zielgruppenspezifische kulturelle Bildungsund Vermittlungsformate von Institutionen und Einzelpersonen im deutschsprachigen Raum entstanden, die im Sinne des Community-dance-Gedankens insbesondere der Förderung des Tanzes mit Kindern und Jugendlichen gewidmet sind: »In vielen Städten und Bundesländern gründeten sich diverse Projekte, die den Tanz an allgemeinbildenden Schulen etablieren wollen. Die Netzwerke zwischen den verschiedenen Initiativen und Institutionen in diesem Bereich sind gewachsen und strukturierter geworden, nicht zuletzt durch die gemeinsame Gründung einer Dachorganisation: dem Bundesverband Tanz in Schulen e. V.«108
Dieser im Jahr 2007 gegründete Verband, der es sich zum Ziel gesetzt hat, zum einen die zeitgenössische Tanzkunst als festen Bestandteil kultureller Bildung in deutschen Schulen zu etablieren, zum anderen die Qualität der entsprechenden Angebote weiterzuentwickeln und zu sichern,109 hat die Freie Sze107 | Vgl. hierzu den Infobrief der »Kulturstiftung des Bundes« unter http://www. tanzfonds.de und http://www.kulturstiftung-bund.de 108 | Foik, Jovana: Tanz zwischen Kunst und Vermittlung: Community Dance am Beispiel des Tanzprojekts »Carmina Burana« (2006) unter der choreographischen Leitung von Royston Maldoom, München 2008, S. 54. 109 | Vgl. http://www.bundesverband-tanzinschulen.org. Vgl. hierzu auch Klinge, Antje: »Zum Stellenwert von Tanz und kultureller Bildung in der Schule«, in: Schulpädagogik heute (Körper, Bewegung und Schule, Sonderheft) 3 (2012) (online unter: http:// www.bv-tanzinschulen.info/fileadmin/user_upload/content-aktuell/A_Klinge_Stellenwert_Tanz_KB_2012.pdf), hier S. 4. So liegen etwa verdienstvolle empirische Studien in Form von Evaluationsforschungen vor, die vom Bundesverband Tanz in Schulen in Auftrag gegeben wurden, vgl. etwa Bundesverband Tanz in Schulen (Hg.): Tanz in Schulen in NRW. Ein empirischer Blick in die Praxis, Bonn 2009; sowie Arbeitsgruppe Evaluation und Forschung des Bundesverband Tanz in Schulen e. V. (Hg.): Empirische Annäherungen an Tanz in Schulen: Befunde aus Evaluation und Forschung, Oberhausen 2009. Um den Bestand und die Entwicklung der Projekte weiter verfolgen zu können, entwickelte der Bundesverband Tanz in Schulen darüber hinaus unter http://www.bv-tanzinschulen.info/30+M5713274d807.html eine Projektdatenbank für das gesamte Bundesgebiet, die online von den Projektleitern bestückt und genutzt werden kann und ein Instrumentarium umfasst, mit dem die verschiedenen Projekte dokumentiert, evaluiert und reflektiert werden können. Schließlich konnte der Verband unlängst einen Qualitätsrahmen mit fach-
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ne des Tanztheaters für ein junges Publikum in Deutschland auf seine Weise ebenfalls stark belebt und strukturell gestärkt. Der Erfolg auch dieser Initiative lässt sich unter anderem daran ablesen, dass immer mehr Tanzprojekte mit Kindern und Jugendlichen den Schulrahmen erweitern oder verlassen – sei es, dass außerhalb der Schule, etwa in einem professionellen Tanzstudio, geprobt wird, sei es, dass Aufführungen nicht mehr länger ›nur‹ im schulischen Kontext, sondern in einem professionellen Theater- oder Tanzhaus oder site-specific stattfinden.110 Die aktuellen Bestrebungen des Bundesverbandes richten sich demnach unter dem Motto »Tanz in Schulen geht raus!« gezielt auf die Schaffung neuer bzw. erweiterter Strukturen, die zu einer Öffnung der Kooperationen von freien Tanzkünstlern mit Schulen hin zu informellen Bildungseinrichtungen wie etwa Jugendhilfezentren, Bildungsbüros, Kitas, Tanzhäusern und Theatern führen können.111 Des Weiteren soll mit dem neu aufgelegten, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung als Teil der Initiative Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung geförderten Programm Chance Tanz112 ein weiteres Tanzförderungskonzept speziell für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche auf den Weg gebracht werden. Als Beispiel für die erfolgreiche Implementierung eines strukturbildenden Tanzprogramms, das auf die Initiative einer Einzelperson zurückzuführen ist, ist schließlich das Berliner Good-Practice-Modell TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen zu nennen, das von der italienischen freien Tanzkünstlerin Livia Patrizi im Jahr 2005 mit zunächst 37 Schulklassen, 40 freien Tänzern und Choreolichen Empfehlungen zur Umsetzung, Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung für tanzkünstlerische Projekte an Schulen durch Tänzer, Choreografen und Tanzpädagogen herausgeben (vgl. http://www.bv-tanzinschulen.de/qualitaetsrahmen.html). 110 | Vgl. Bundesverband Tanz in Schulen (Hg.): Tanz in Schulen geht raus … Wie kann außerschulisch kooperiert werden?, Köln 2013, S. 5. 111 | Vgl. ebd., S. 4. 112 | Vgl. hierzu einen Auszug aus der Programmbeschreibung: »›Chance Tanz‹ fördert lokale Projektmaßnahmen, in denen Kinder und Jugendliche unter professioneller Leitung von Tanzkünstlern/Pädagogen an einem tänzerisch-kreativen Prozess teilhaben und diesen aktiv mitgestalten. Die erarbeiteten Ergebnisse der Projekte werden jeweils in einem größeren oder kleineren Rahmen präsentiert. Neben der aktiven Teilhabe am Tanzangebot sollen Angebote zur Rezeption von Tanz in Form von Aufführungs- oder Probenbesuchen professioneller Tanzkompanien sowie Gespräche und Begegnungen mit Tanzkünstlern inkludiert sein. Geplant sind drei unterschiedliche Formate, Tanz_Start, Tanz_Intensiv und Tanz_Sonderprojekt, die sich insbesondere in ihren zeitlichen Vorgaben voneinander unterscheiden (30 bzw. 65-80/100 Stunden Tanz). Die Projekte werden von professionellen Tanzkünstlern und Pädagogen geleitet« (http://www.bv-tanzinschu len.info/30+M557164d6160.html).
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grafen und einer vom Kultursenat Berlin gewährten Anschubfinanzierung von 48.000 Euro ins Leben gerufen wurde.113 Auch dieses Projekt, das mittlerweile nicht nur in Berlin, sondern bundesweit mit zahlreichen Kooperationspartnern und Institutionen vernetzt ist und den jungen Tänzern professionelle Aufführungsbedingungen an renommierten Spielstätten wie etwa dem Berliner HAU oder dem Radialsystem V bieten kann,114 zielt darauf ab, Tanz als reguläres wöchentliches Angebot für Schulklassen im Vormittagsunterricht zu etablieren. Finanziert werden konnte das Projekt einmal mehr über eine Mischfinanzierung: Die Personal- und Sachkosten der eingerichteten Koordinierungsstelle wurden vom Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung getragen, die Honorare der freien Tanzkünstler für den Unterricht mit Fördergeldern der beteiligten Schulen, mit freiwilligen Elternbeiträgen, Zuschüssen von Bezirksämtern und aus Mitteln vom Quartiersmanagement Berlin sowie durch Stiftungen, Paten und Förderer.115 Seit 2010 ist die Finanzierung von TanzZeit, flankiert von Investitionen durch Rotary Clubs und Fördervereine, fest in den Haushalt der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft übernommen worden – was nicht nur eine wichtige Basissicherung für die Zukunft darstellt, sondern auch ein deutliches Zeichen setzt, dass der Stellenwert von Kunstvermittlung durch Tanz im Bildungswesen nach und nach anerkannt wird.116 Durch die Unterstützung von öffentlicher Seite konnte TanzZeit seit seiner Gründung stetig erweitert werden; in den sieben Jahren seines Bestehens haben über 100 Schulen und über 11.000 Schüler aus allen Berliner Bezirken an dem Projekt teilgenommen.117 Allerdings übersteigt die Zahl der interessierten Schulen, die Projektpartner werden möchten, noch immer bei Weitem das zur Verfügung stehende Budget.118 Wenn auf alle diese beispielhaften Strukturmaßnahmen aus und in Deutschland an dieser Stelle mit einiger Ausführlichkeit eingegangen worden ist, so deswegen, weil sich an ihnen exemplarisch demonstrieren lässt, was möglich ist, wenn großflächige kultur- und bildungspolitische Maßnahmen in Angriff genommen werden, die alle beteiligten Akteure in einen Entwicklungsprozess einbeziehen und, anstatt einmalig in bloße Leuchtturmprojekte zu investieren, mit nennenswerten Fördersummen landesweite Strukturen
113 | Vgl. Zedlitz, Sanna von: »Auf der Bühne seid ihr Tänzer!«: Hinter den Kulissen von TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen. Eine Dokumentation, München 2009, S. 8ff. und S. 88f. 114 | Vgl. ebd., S. 68. 115 | Ebd., S. 91. 116 | Vgl. Beyeler, Marie/Patrizi, Livia: »Tanz – Schule – Bildung. Überlegungen auf der Erfahrungsgrundlage eines Berliner Tanz-in-Schulen-Projekts«, in: Bockhorst, H./Reinwand, V.-I./Zacharias, W. (Hg.), Handbuch Kulturelle Bildung (2012), S. 600-603, hier S. 603. 117 | Vgl. ebd., S. 600. 118 | Vgl. ebd., S. 603.
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schaffen, die auf lange Sicht Anreize für die lokale Politik bieten, auch zukünftig (finanziell) engagiert zu bleiben. Dies ist umso mehr zu begrüßen, als gerade dem Bereich des Tanzes innerhalb der darstellenden Künste für Kinder womöglich eine Sonderfunktion zukommt, die es rechtfertigt, insbesondere diese Sparte des Freien Kindertheaters weiterhin gezielt zu fördern. Denn: Im Unterschied zum Schauspiel- und Sprechtheater erschließt sich Tanz – nonverbal, sinnlich-konkret, körperlich, archaisch – allen Schichten, Kulturen und Altersklassen (inklusive der »Voralphabeten«119): »Dadurch, dass hier der Körper als direktes und unmittelbares Ausdrucksmedium im Zentrum der Kommunikation steht, kann Tanz jeden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft, erreichen und menschliche Gefühlswelten weniger auf einer intellektuellen als vielmehr auf einer sinnlich-emotionalen Ebene verständlich machen.«120
In seiner Relevanz kaum zu überschätzen ist unter anderem der interkulturelle Lernaspekt im Bereich kultureller Bildungsangebote: Tanz wird als nonverbalem Medium eine hohe Bedeutung zugesprochen, weil er alle Sprachbarrieren überschreitet und somit als wichtiges Mittel zur Entwicklung kommunikativer und sozialer Kompetenzen auch bei Kindern aus unterschiedlichen Kultur- und Sprachräumen fungieren kann. De facto belegen empirische Studien, dass die positive Resonanz existierender Tanzangebote besonders hoch bei Schülern mit Migrationshintergrund ist.121 Darüber hinaus ist speziell im Zusammenhang mit partizipativen Tanzformaten mit Kindern als ein wichtiger Vorteil des Tanzes gegenüber den anderen darstellenden Künsten zu verzeichnen, dass im Sinne des Community-danceKonzepts tatsächlich jeder Mensch – auf seine Weise – ohne Vorkenntnisse tanzen und sich bewegen ›kann‹: »In diesem Sinne sind im Tanz tatsächlich ›alle gleich‹, wobei jeder wiederum seine individuelle Rolle und Wichtigkeit innerhalb der Gruppe finden kann. Durch persönliche Erfolgserlebnisse und das Feedback der Gemeinschaft machen die Teilnehmer eine positive Erfahrung von Ent-Differenzierung und gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Im Rahmen des schulischen Alltags kann Tanz so den Tendenzen der Ausgrenzung entgegenwirken und Integration fördern.«122 119 | Suchy, Melanie: »über null«, in: tanz 1 (2012), S. 14-18, hier S. 14. 120 | Foik, J.: Tanz zwischen Kunst, S. 51. 121 | Vgl. Kosubek, Tanja/Barz, Heiner: »›Take-off: Junger Tanz‹ im Spiegel der Forschung«, in: Kessel, M./Müller, B./Kosubek, T./Barz, H. (Hg.), Aufwachsen mit Tanz (2011), S. 101-164, hier S. 140. 122 | Foik, J.: Tanz zwischen Kunst, S. 52 (Herv. i. O.).
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Vor allem aber wohnt dem Tanz als leiblichem Phänomen ein besonderes Potenzial inne, Kinder (erste) ästhetische Erfahrungen machen zu lassen, die in vergleichbarer Intensität womöglich in keiner anderen Kunstform denkbar sind: Insoweit der Körper als »empfindungsdurchlässiges Medium«, durch den »Erfahrungen in und mit der Welt bearbeitet und symbolisiert werden können«, sowie als »Handlungszentrum, das Erfahrungen, Ideen, Pläne oder auch Einsichten umsetzt«, die sinnliche Basis liefert, von der »Widerstands-, Differenz- und Lernerfahrungen ausgehen«123, kommen Erfahrungs- und Erkenntnispotenziale von Körper und Bewegung im Tanz besonders sinnfällig zum Tragen. »Im explorativen, spielerischen Umgang mit den Bewegungsund Ausdrucksmöglichkeiten des eigenen Körpers bietet Tanz das Potenzial unmittelbarer, körpernaher Aufmerksamkeit und Sensibilität«124, wobei im Unterschied zu anderen körperbetonten Tätigkeiten wie etwa dem Sport ein vergleichsweise großer Freiraum für individuelle Ausgestaltungen stets gegeben bleibt. »Bewegungshandeln wird im Kreativen Tanz durch die Möglichkeit bereichert, persönliche Empfindungen, Situationen, Erlebnisse auf eine reflektierte und strukturierte Art zum Ausdruck zu bringen«, so Livia Patrizi im Rahmen der Preisverleihung des deutschen Gewaltpräventionspreises im Oktober 2007. »Diese in Tanz transformierte Bewegung kann Kindern helfen, Gefühle zu bewältigen und so eine Befreiung zu erleben«125. Insofern erweist sich die Kunstform Tanz potenziell als optimale Initiationserfahrung für die kulturelle Bildung von Kindern überhaupt. Zusammenfassend lässt sich demnach das Folgende festhalten: Galt der zeitgenössische Tanz lange Zeit als das »Aschenputtel unter den Künsten«126, so bewegt sich dieses Aschenputtel mittlerweile nicht nur, aber doch insbesondere im Hinblick auf seine kulturelle Bildungsdimension auf nichts Geringerem als dem »Königsweg«: »Tanz ist der kulturpädagogische Königsweg für die Bildung inklusiver Gemeinschaften an Schulen und sozialen wie kulturellen Einrichtungen«127, so eine These des deutschen Bundesverbands Tanz in Schulen. Nun liegt es vor allem im Verantwortungsbereich der europäischen Kultur- und Bildungspolitik, auf diesem »Königsweg« weiter voranzuschreiten, das heißt die bereits geschaffenen Strukturen zu erhalten, kontinuierlich zu fördern und gemeinsam mit den freien Tanzschaffenden weiterzuentwickeln.
123 | Klinge, Antje: »Bildungskonzepte im Tanz«, in: Bischof, Margrit/Rosiny, Claudia (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld 2010, S. 79-94, hier S. 90. 124 | Dies.: »Zum Stellenwert«, S. 5. 125 | So Livia Patrizi zit. nach Zedlitz, S. v.: »Auf der Bühne«, S. 14. 126 | Ebd., S. 7. 127 | http://www.bv-tanzinschulen.info/30+M551a96f62a1.html
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Abbildung 4: »TRASHedy« Leandro Kees, Performing Group Köln, 2012, Foto: Anika Freytag
Abbildung 5: »Alice« De Stilte, Breda, Niederlande, 2009, Foto: Hans Gerritsen
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2.6 Zwischenfazit I: Risiken der aufgezeigten Entwicklungen Wenngleich die hier aufgezeigten Entwicklungen generell als Erfolgsgeschichten zu bewerten sind und positive, emanzipatorische Öffnungs- und Erweiterungsprozesse im Bereich des (Freien) Kindertheaters in Europa beschreiben, so ist nicht zu leugnen, dass trotz aller Begeisterung und allen Respekts bestimmte Tendenzen durchaus kritisch zu sehen sind. Dies gilt sowohl für die Theaterproduktionen für Kinder als auch für die Partizipationsformate mit Kindern.
2.6.1 Theater für Kinder: Wider die Unterforderung! Für eine komplexe Einfachheit! Als eine der Hauptgefahren des Kindertheaters zeichnet sich auch im 21. Jahrhundert nach wie vor die von Holger Noltze so bezeichnete »Leichtigkeitslüge« ab, also die Gefahr, »Vermittlung mit Vereinfachung zu verwechseln«128 und Kunst im Zuge vermeintlicher ›Vermittlung‹ unzulässig zu simplifizieren und zu vereindeutigen – ein Befund, der durchaus in unmittelbarem Zusammenhang mit dem allgemeinen Trend zur Kommerzialisierung der Kunst zu sehen ist: »Massenmedien fürchten Komplexität. Komplexität wird gefürchtet als Hindernis vor der möglichst massenhaften und breiten Erreichbarkeit des Publikums. […] Was für Medien im Markt der Aufmerksamkeit gilt und innerhalb der Funktionsweise dieses Systems auch verständlich erscheint, ist inzwischen aber auch […] ein Prinzip der Systeme ›Bildung‹ und ›Kulturbetrieb‹ geworden. Tatsächlich regiert auch hier die ›Quote‹, und es greifen ähnliche Mechanismen von Konvergenz.«129
Die großen Tabus des Kunst-(vermittlungs-)marktes lauteten dementsprechend: Komplexität und Anstrengung; umgekehrt seien »Strategien der Angleichung« und »Entdifferenzierung« im Sinne von »mehr vom leichten Gleichen«130 das Gebot der Stunde. Dieser fatale »Reduktionismus« ist laut Holger Noltze »besonders zu beobachten […], wenn Kind und Kunst zusammenkommen sollen«131. Für das Kindertheater lässt sich dieser Befund immer wieder bestätigen – sei es, dass die Sachzwänge des Marktes jegliche nichtkommerziell ausgerichteten Arbeitsweisen nicht (mehr) ermöglichen, sei es, dass die Künstler selbst dem kindli128 | Noltze, Holger: Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität, Hamburg 2010, S. 9. 129 | Ebd., S. 233f. 130 | Ebd., S. 104. 131 | Ebd., S. 230.
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chen Zielpublikum (zu) wenig zutrauen: Immer wieder sind – auch auf renommierten internationalen Festivals – Theaterproduktionen zu sehen, die eher Kindheitsklischees bedienen, als dass sie sich tatsächlich mit den aktuellen Lebens- und womöglich Leidensbedingungen von Kindern auseinandersetzen: Kinder werden in ihrem Rezeptionsverhalten dort ›abgeholt‹, wo Erwachsene sie vermuten, ohne dass diese Vermutungen auf fundierten Forschungsergebnissen basierten, sodass eine regelmäßige Unterforderung und ein Misstrauen in ihre intellektuellen wie emotionalen Fähigkeiten nahezu vorprogrammiert ist: »It’s not only in Poland that the children in contemporary world are changing faster than adults’ knowledge (imagination) about that«, so paradigmatisch Zbigniew Rudzinski. Wünschenswert wäre es stattdessen, dass sich die Theatermacher im Bereich des Kindertheaters nicht etwa auf ihre (intendierte) Zielgruppe herab-, sondern auf Augenhöhe einlassen, dass sie sich einfühlen und durch Perspektivübernahme in direkte Kommunikation und direkten Dialog mit ihrem Publikum begeben, um dessen Sichtweisen, Interessen und Bedürfnisse kennenzulernen. Damit ist nicht gesagt, dass das Kindertheater seine Zielgruppenorientierung und Spezifität aufgeben soll. Vielmehr geht es um die wertneutrale Tatsache, dass in aller Regel ein (mehr oder weniger ausgeprägter) generativer Unterschied zwischen Produzenten und Rezipienten besteht, dass also grundsätzlich Erwachsene Theater für Kinder machen und damit die Zielgruppe von der Gruppe der Theaterschaffenden wesentlich verschieden ist. Analog zur Forderung von Hans-Heino Ewers für die Kinder- und Jugendliteratur im Verhältnis zur sogenannten Erwachsenenliteratur sollte demnach auch für das Kindertheater nicht Identität mit dem ›Erwachsenentheater‹, sondern allein Gleichberechtigung das Ziel sein. Die von Ewers für die Kinderliteratur erläuterte »Differenzierungsebene […] der Perspektivierung des Gegenstands« sollte unbedingt erhalten bleiben: »In der Kinderliteratur bildet die kindliche Lebenswelt den Ausgangspunkt der Erschließung der einen, Kindern und Erwachsenen gemeinsamen Welt, die sie, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vorrangig in ihrer Bedeutsamkeit für kindliche Individuen zur Sprache bringt.«132 Vor diesem Hintergrund sollte es, wenn von »Leichtigkeit« oder generell ›Einfachheit‹ des Theaters für Kinder die Rede ist, (wenn überhaupt) um eine
132 | Ewers, Hans-Heino: »Kinderliterarische Erzählformen im Modernisierungsprozess. Überlegungen zum Formenwandel westdeutscher epischer Kinderliteratur«, in: Lange, Günter/Steffens, Wilhelm (Hg.), Moderne Formen des Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart unter literarischen und didaktischen Aspekten, Würzburg 1995, S. 11-24, hier S. 23.
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»komplexe Einfachheit«133 im Sinne einer »Elementarisierung komplexen Wissens mit Hilfe einfacher, elementar-literarischer [bzw. genuin theatraler, Anm. T. K.] Verfahren« nach Maria Lypp gehen134 – und nicht um eine wie auch immer geartete Hierarchisierung oder Wertung bezüglich der Adressatenorientierung. Diese Forderung wurde im Hinblick auf die noch immer gängige Praxis insbesondere des Kindertheaters exemplarisch gleichsam von Marcel Cremer, dem Gründer und langjährigen künstlerischen Leiter der belgischen Kinder- und Jugendtheatergruppe AGORA aus Saint-Vith, wie folgt treffend problematisiert: »In manchen Restaurants gibt es die Seite mit Kindergerichten. Meistens steht da: Nudeln mit roter Sauce, Fritten mit Ketchup oder Mayonnaise, Fischstäbchen mit Purée, Knackwürstchen mit Kartoffelsalat, dazu oft eine Cola oder süße Limonade gratis. Vorsicht! Wer ins Restaurant geht, um dort zu essen, was er immer isst, soll sich den Weg sparen. Wer ins Theater geht in der Hoffnung, Altvertrautes, Bekanntes, Abgelutschtes oder Wiedergekäutes anzutreffen, dem fehlt die wichtigste Voraussetzung: Hunger auf Neues, Unbekanntes, Fremdes. Um diesem Konflikt zu entgehen, verkaufen manche Theaterleute den Kindern und Jugendlichen lieber Fischstäbchen. Ich vertrete die Auffassung, ihnen Fisch anzubieten und ihnen zu erklären, wie man die Gräten vom Fleisch trennt. Frischer Fisch ist viel gesünder als Fischstäbchen. Er enthält viele lebensnotwendige Stoffe, weil in ihm das Lebewesen sichtbar ist, und deshalb erzählt er uns auch mehr über das Leben im Gegensatz zum Fischstäbchen, dessen Herkunft und Identität bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind. Die Voraussetzung ist aber immer Hunger, Hunger auf Neues.«135
Kindern diesen Hunger zu unterstellen – und ihnen darüber hinaus zuzutrauen, mit Neuem, Unvertrautem umzugehen (zumal dies etwas ist, was gerade Kindern nicht etwa nur im Theater, sondern tagtäglich abverlangt wird) – könnte dem Theater für Kinder ohne Zweifel dabei helfen, sich auch ästhetisch noch weiter zu emanzipieren, und für eine Qualitätssteigerung sorgen.
133 | Jahnke, Manfred: Kinder- und Jugendtheater in der Kritik. Gesammelte Rezensionen, Porträts und Essays (= Kinder-, Schul- und Jugendtheater. Beiträge zu Theorie und Praxis, Bd. 10). Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 129. 134 | Lypp, Maria: »Die Kunst des Einfachen in der Kinderliteratur«, in: Lange, Günter (Hg.), Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 2, Baltmannsweiler 42005, S. 828-843, hier S. 831. 135 | Cremer, Marcel: »Das Sehen lernen«, Referat im Rahmen des Schultheaterfestivals Spring auf! im Mai 2004 in Luxemburg, unveröffentlichtes Originalmanuskript, freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom AGORA-Theater St. Vith, Belgien.
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2.6.2 Theater mit Kindern: Für wen? Wie? Und weshalb? Im Zusammenhang mit partizipativen Theaterformaten mit Kindern wird häufig die Prozessorientierung der Projekte betont, zu der sich die Akteure klar bekennen und die gar als notwendige Bedingung für die gemeinsame künstlerische Recherche angeführt wird. Die abschließende öffentliche Präsentation des Ergebnisses allerdings steht dabei umgekehrt kaum je infrage, sondern wird ebenso als ein konstitutives Element der künstlerischen Arbeit begriffen. Doch ergibt sich hierbei nicht selten ein Problem: Wenn nämlich in der Arbeit mit Kindern letztlich der ›Weg das Ziel‹ ist und somit das vor Publikum gezeigte Ergebnis nur relevant ist im Verhältnis zu dem Prozess, aus dem es entstanden ist, dann muss sich ein solches Projekt die Frage gefallen lassen, inwiefern es sich überhaupt dafür eignet, einem Publikum gezeigt zu werden, das selbst nicht Teil des Prozesses war – wird doch allein durch die Aufführung aus einem ›Prozess‹ kein ›Produkt‹. Während eines Publikumsgesprächs im Anschluss an die Aufführung eines partizipativen Musiktheaterprojekts in Berlin formulierte eine Zuschauerin ihr Unbehagen in Richtung der Schauspieler so: »Ich hab es gern, wenn ein Theaterabend Fragen aufwirft, über die ich nachdenken kann. Bei euch hatte ich das Gefühl, ihr präsentiert mir lauter Antworten, die ihr für euch gefunden habt während der Proben – aber ich kenne eure Fragen ja gar nicht! Da hab ich mich dann irgendwie außen vor gefühlt.« Die Gefahr, dass sich eben dieses Gefühl, ›außen vor‹ zu sein, aufseiten der Zuschauer einstellt, ist immer dann gegeben, wenn der Prozess des Probierens und die an ihm beteiligten Kinder im Vordergrund stehen. Daran ist per se nichts auszusetzen – nur sollte in diesem Fall verstärkt darüber nachgedacht werden, welche Rolle dem Publikum während der Aufführung zukommen soll und wie es gegebenenfalls explizit eingebunden werden kann. Was Manfred Jahnke über die Unmöglichkeit, ein rein prozessorientiertes Partizipationsformat einer gewöhnlichen Theaterkritik zu unterziehen, formuliert hat, lässt sich als Gedanke auf die Frage nach der Rolle des Publikums insgesamt übertragen: »Auf durch Selbsterfahrung zentrierte Gruppen, in denen die Sensibilisierung und Befreiung des Individuums wichtigstes Anliegen ist, lässt sich […] das bewährte Instrumentarium einer Theaterkritik kaum anwenden. Im Gegenteil muss eine solche Arbeit vor der Öffentlichkeit, die nur die Rolle eines Voyeurs einnehmen kann, geschützt werden.«136
Es erscheint demnach notwendig, diese Zusammenhänge im Bereich der Theaterprojekte mit Kindern zu überdenken, um zu gewährleisten, dass die 136 | Jahnke, M.: Kinder- und Jugendtheater, S. 187.
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grundsätzlich wünschenswerte öffentliche Präsentation von Partizipationsformaten sowohl für die Spielenden als auch für die Zuschauer in möglichst vielen Fällen zu einer bereichernden und angenehmen Erfahrung wird. Eine weitere Grundsatzfrage, die für jedes Theaterprojekt mit Kindern neu zu stellen und neu zu beantworten ist, ist die Frage danach, welche Rolle überhaupt die Kinder selbst im Zuge dieser Formate spielen und in welcher Weise sie konkret ›partizipieren‹ sollen und können. Geht es ums Machen oder ums Mitmachen? Sollen die professionellen Künstler ihr Expertentum ins Spiel bringen und die Kinder ›inszenieren‹ und anleiten, oder sollen sie eher ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ leisten und die künstlerische Eigenaktivität der Kinder bloß initiieren und gegebenenfalls katalysieren? Für beide Varianten gibt es mittlerweile zahlreiche Beispiele – und es gibt ebenso viele, über die sich sagen lässt, dass über diese Fragen im Vorwege offenkundig nicht ausreichend nachgedacht worden ist. Das Ergebnis ist häufig: Etikettenschwindel! Während entsprechende Projekte nur allzu gern mit der »Selbstbestimmung«, der »künstlerischen Selbstentfaltung« und der »basisdemokratischen Partizipation« von Kindern beworben werden (und diese Schlagworte auch bei der Akquise von Fördermitteln höchste Priorität haben!), sind die Möglichkeiten der jungen Akteure, tatsächlich Einfluss auf die Gestaltung des Projekts zu nehmen, bei einem Blick hinter die Kulissen zumeist stark begrenzt. Dies hat zum Teil ganz pragmatische Gründe: Wenn etwa ein Projekt mit Kindern abschließend auf der großen Bühne und womöglich im Abendspielplan gezeigt werden soll, so impliziert dies, dass das entsprechende Produkt den normalen Kartenpreis ›wert sein‹ muss – was die Frage aufwirft, inwiefern ein von Laien aufgeführtes Projekt noch ›laienhaft‹ und ›unprofessionell‹ sein darf. Gegen die Tatsache, dass die professionellen Künstler ihre Professionalität und ihre Erfahrungen einbringen, ist selbstverständlich per se nichts einzuwenden, sondern es ist im Gegenteil erstrebenswert, dass die Asymmetrie zwischen Künstlern und Laien produktiv genutzt und für die Kinder als Lernangebot fruchtbar gemacht wird. Allerdings ist zu bedenken, dass hierbei immer die Gefahr der Instrumentalisierung besteht, und zwar umso mehr, je jünger die Laien sind, mit denen die Künstler arbeiten. Wo Kinder nur noch in die Spiele der Erwachsenen ›eingebaut‹ werden, ohne das Spiel, in dem sie vorkommen, als Ganzes zu überblicken, und ohne dass ihre eigenen Ideen und Ansätze darin Platz finden, ist der Begriff des Partizipierens ad absurdum geführt und der Gedanke der Selbstbestimmung wird in sein Gegenteil verkehrt. Als eine letzte ›Gefahrenzone‹ erweist sich mit Blick auf die aktuellen ästhetischen Entwicklungen und Tendenzen im Bereich des Kindertheaters schließlich die zunehmend lauter werdende Forderung nach kultureller Bildung. Problematisch ist dabei keineswegs die Forderung an sich – sondern vielmehr die damit häufig einhergehende implizite Verengung kultureller Bil-
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dungsabsichten auf den von Anne Bamford so bezeichneten Bereich der »education through the arts«! Wenn von kultureller Bildung die Rede ist, wird allzu oft beinahe ausschließlich an die Vermittlung von Wissen auf der Ebene der Inhalte gedacht; genuin künstlerische Lerninhalte im Sinne einer – ebenso notwendigen – »education in the arts« werden vernachlässigt oder ganz ausgeblendet. Somit lauert auch hier, wenngleich auf anderer Ebene, die Gefahr einer Instrumentalisierung: »Gerade das Kinder- und Jugendtheater läuft Gefahr, instrumentalisiert zu werden und sich als verlängerter Arm der Bildungseinrichtungen benutzen zu lassen. Viele Kindertheatermacher sehen sich eher als Wissensvermittler und Pädagogen denn als Künstler und Forscher. Oft werden wir Kindertheater von Politikern und Pädagogen dazu angehalten, uns bestimmten Themen und Problemen zu widmen, die gerade in den Lehrplan oder zum allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs passen. Nicht selten geht es dabei darum, vorgefasste Meinungen und Lösungsvorschläge, eine anerkannte pädagogische Lesart […] zu vermitteln. Das jugendliche Publikum soll etwas Bestimmtes begreifen, lernen und später umsetzen können (um nicht zu sagen: nachbeten können).«137
Diesem Risiko scheint das Kindertheater derzeit europaweit ausgesetzt zu sein. So bestätigte etwa auch Karin Helander (Stockholm University) für das generell als hoch entwickelt und ästhetisch progressiv geltende schwedische Kindertheater: »Children’s culture (and theatre for children) is still very much connected with school culture and concepts like learning and understanding and intelligibility in a rather rigid way«. Vielleicht lässt sich vor diesem Hintergrund der weltweiten Debatten um kulturelle Bildung gleichsam der beschriebene aktuelle Trend zu dokumentarischen Theaterformaten erklären, die sich explizit in den Dienst der Wissensvermittlung und der ›kindgerechten‹ Präsentation von Forschungsergebnissen stellen. In diesem Zusammenhang allerdings ergeben sich sogleich weitere Gefahrenquellen und Probleme: Zum einen begibt sich das Kindertheater, wenn es sich selbst primär der Wissensvermittlung verschreibt, in eine nicht unbedingt vorteilhafte Konkurrenz zu anderen Medien und Formaten, die Gleiches wollen und (womöglich sogar besser!) können. Kann das Theater für Kinder komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge besser ›erklären‹ als beispielsweise die renommierte Sendung mit der Maus? Ist ein Partizipationsprojekt besser geeignet, um Kinder mit bestimmten Materialien wie Metall, Wolle, Holz oder auch Müll experimentieren zu lassen, als eine Projektwoche in der Schule oder auch nur eine 137 | Pahl, Silvia: »Da sein – ein Manifest«, Januar 2013, unveröffentlichtes Originalmanuskript, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Verfasserin vom theater 3 hasen oben aus Immichenhain, Deutschland.
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mit handlungs- und produktionsorientierten Methoden gestaltete Unterrichtsstunde? Zum anderen zieht die wiederentdeckte Legitimation der Kunst als Quelle neuen, alternativen Wissens, wie Nikolaus Müller-Schöll ausführt, beinahe automatisch die Bringschuld nach sich, sich tatsächlich auch denselben Disziplinen unterordnen und sich mit denselben Kriterien messen lassen zu müssen wie die Wissenschaft – was im Ergebnis häufig ebenfalls unvorteilhaft und unzufriedenstellend sei: »Blickt man […] auf konkrete Resultate dessen, was jenseits der vielzitierten Vorzeigebeispiele unterm Vorzeichen ›künstlerischer Forschung‹ veröffentlicht wird, so schleicht sich nicht selten der Verdacht ein, dass die Demokratisierung von Kunst und Forschung vielleicht mitunter pädagogisch wertvoll und ihre integrative Intention sympathisch sein mag, im Resultat aber doch häufig auf Edutainment oder Kunstgewerbe hinausläuft, leichtgewichtige Wissenschaft und schwache Kunst. Vielleicht also wäre es an der Zeit, klarzustellen, dass das künstlerische Forschen letztlich nirgendwo anders als dort stattfindet, wo Künstler an ihren ureigenen Fragen und Problemen arbeiten.«138
Noch größer als im Bereich des sogenannten »künstlerischen Forschens« erweist sich die Gefahr einer Vereinnahmung des Kindertheaters durch einen unzulässigerweise nur einseitig ausgelegten Bildungsauftrag jedoch auf dem Gebiet des sogenannten Theaters für die Allerkleinsten – erst recht, wenn es womöglich hauptsächlich »sonderbeflissene Eltern in Früherziehungspanik«139 sind, die ihre Kleinkinder ins Theater bringen, damit diese dort etwas ›lernen‹. Vergessen wird dabei häufig, dass das Theater für die Allerkleinsten auch und vielleicht in erster Linie eines ist bzw. sein sollte: der Beginn eines theatralen Sozialisationsprozesses. Insoweit es sich bei den Begegnungen der Allerkleinsten mit der Kunstform Theater naturgemäß um Initiationserlebnisse handelt, die dem sehr jungen Publikum den Zugang zum Theater überhaupt bahnen, kann eine Aufführung, die ›Erstzuschauern‹ nicht auch grundlegende Eigenheiten der Kunstform Theater an sich vermittelt und somit zu einer »education in the arts« beiträgt, kaum als gelungen bezeichnet werden. Es kann nicht ausreichen, Kinder gewissermaßen mit ›Vorformen‹ von Theater abzuspeisen, die sich (noch) nicht des theatralen Zeichensystems bedienen und nicht mit genuin theatralen Mitteln arbeiten. Dies wäre in etwa so, wie wenn man Vorschülern zu Beginn ihrer Lesesozialisation zunächst ›Kinderbuchstaben‹ beibringen würde, bevor man sie das ›richtige‹ Erwachsenenalphabet lehren würde. 138 | Müller-Schöll, Nikolaus: »Das künstlerische Forschen«, in: Theater heute 7 (2013), S. 36-39, hier S. 39. 139 | Suchy, M.: »über null«, S. 17.
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Und demnach kann es gleichsam nicht ausreichen, wenn sich das Spielen der Akteure auf der Bühne nicht von den kindlichen Spielen in der Kita oder auf dem Waldspielplatz unterscheidet und das spezifische Potenzial des Theaters nicht (oder kaum) zur Entfaltung gebracht wird. Vielleicht würde ein Umdenken in diesem Zusammenhang, und zwar auch im Rahmen der politischen Legitimationsdebatten rund um das Theater für die Allerkleinsten, sich als der Sache zuträglich erweisen.
3. K ritische R efle xion der V erhältnisse Nachdem nun überblicksartig anhand zentraler Entwicklungslinien und modellhafter Erscheinungsformen das besondere Kreativ- und Bildungspotenzial der Freien Kindertheaterszenen in Europa herausgearbeitet worden ist, soll es im Folgenden darum gehen, die gegebenen Verhältnisse einer kritischen Reflexion zu unterziehen und Defizite und Problemfelder aufzuzeigen. Im Fokus wird dabei die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Freien Szene stehen, das ihr innewohnende Potenzial auch tatsächlich zur Entfaltung zu bringen.
3.1 Prekäre Produktions- und Präsentationsbedingungen 3.1.1 Finanzielle Unter versorgung des Freien Kindertheaters Grundsätzlich lässt sich sagen: Es gehört europaweit noch immer zu den spezifischen Charakteristika der Freien Szene, dass von einer flächendeckenden Prekarisierung ihrer Arbeitsverhältnisse ausgegangen werden kann. Die sogenannte Freie Szene ist vor allem ›frei‹ von Geld. Eklatant ist das Missverhältnis zwischen dem, was die Freie Szene leistet – und im Hinblick auf die an sie herangetragenen Erwartungen leisten soll –, und dem, was ihr dafür als Gegenleistung aus der öffentlichen Hand zuteil wird. Dies betrifft zum einen den Vergleich des Künstlerberufs mit anderen Berufen: In vielen Ländern liegen die Löhne am Theater deutlich niedriger als in anderen Berufszweigen;140 der Anteil derjenigen, die über einen halbwegs ge140 | So berichtet etwa Irène Howald über die Verhältnisse in der Schweiz, basierend auf Vergleichen, die von der Vereinigung ACT der freien Theaterschaffenden angestellt wurden: »Ein durchschnittlich beschäftigter Schauspieler nimmt beispielsweise weniger als die Hälfte ein als ein Sozialpädagoge. Der Abschluss eines Regieabsolventen an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) oder an einer anderen anerkannten staatlichen Hochschule entspricht in etwa dem Bachelorabschluss eines Primarlehrers. Ein Primarlehrer am Beginn seiner Berufstätigkeit verdient im Kanton Zürich circa CHF 6000,brutto pro Monat. Ein Angestellter mit Fachhochschulabschluss und mehreren Jahren
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sicherten Arbeitsplatz (mit sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung) verfügen, ist rückläufig.141 Beinahe sämtliche befragten Länderexperten mussten bestätigen, dass die professionellen Künstler der Freien Szene in aller Regel finanziell auf eine (zum Teil auch nichtkünstlerische) Nebenbeschäftigung angewiesen sind; nur in Schweden und Frankreich stellt sich die Situation insgesamt besser dar. In Österreich gibt es laut Barbara Stüwe-Eßl (Interessengemeinschaft Freie Theaterarbeit) einige Bundesländer, in denen von den Förderhöhen her kaum Unterschiede zum Amateurtheaterbereich erkennbar sind: »Ein Tangoverein bekommt da unter Umständen mehr als eine professionelle Freie Gruppe«. In dual organisierten Theatersystemen sind zum anderen erhebliche finanzielle Nachteile der Freien Szene gegenüber dem institutionalisierten Staats-, Stadt- und Landestheater unstreitig, wie Niclas Malmcrona für Schweden exemplarisch wie folgt zusammenfasst: »The main difference is the size and financial situation with the institutional theatres as the ›big and rich‹. Artistically there is no big difference between institutional and independent theatres – the difference is mainly in resources (which sometimes have an artistic outcome …).« Gleiches lässt sich auch über die Situation des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland sagen. Zwar ist die deutsche hohe staatliche Theaterförderung international ein singuläres Phänomen, allerdings geht diese Förderung zu einem sehr hohen Prozentsatz allein an die institutionalisierten Theater in öffentlicher Hand. Dies gilt umso mehr für den Bereich des Musiktheaters, was sich anhand des Fonds Experimentelles Musiktheater demonstrieren lässt: Als eine gemeinsame Initiative des NRW Kultursekretariats und der Kunststiftung NRW will der 2005 eingerichtete Fonds, der seit Neuestem explizit das Musiktheater für Kinder und Jugendliche einschließt, experimentelle Musiktheaterprojekte an Repertoirehäusern unterstützen. Ziel ist es, die Institution des Opernhauses mit anderen, ›freien‹ Arbeitsstrukturen zu konfrontieren, Berufserfahrung, der an einer Hochschule im Kanton Zürich in leitender Funktion tätig ist, verdient im Monat circa CHF 12.000,- brutto. In kleinen Theatern und im Freien Theater sind Löhne um CHF 4000,- durchaus üblich.« Auch in Deutschland liegt das durchschnittliche jährliche Gesamteinkommen bei den Freien Theater- und Tanzschaffenden laut Report Darstellende Künste bei nur etwa 40 Prozent des Durchschnittseinkommens eines Arbeitnehmers (vgl. Fonds Darstellende Künste [Hg.]: Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater und Theaterschaffenden in Deutschland, Berlin 2010, S. 14). 141 | Vgl. exemplarisch eine aktuelle Studie des Deutschen Kulturrates, vorgelegt von Schulz, Gabriele/Zimmermann, Olaf/Hufnagel, Rainer: Arbeitsmarkt Kultur. Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Kulturberufen, Berlin 2013 (online unter: http:// www.kulturrat.de/dokumente/studien/studie-arbeitsmarkt-kultur-2013.pdf), S. 329.
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um standardisierte Produktionsverfahren zu lockern und die Häuser für neue Impulse aus der Freien Szene zu öffnen. Mit anderen Worten: Statt direkt zusätzliche Fördergelder für die Freie Szene bereitzustellen, um neue experimentelle Musiktheaterprojekte zu ermöglichen, wird den ohnehin hoch subventionierten Schauspiel- und Opernhäusern ein Extrabudget geboten, wenn sie sich strukturell den Produktionsweisen der Freien Szene anpassen und ›alternativ‹ arbeiten.142 Schließlich spitzen sich die prekären Arbeitsbedingungen der Freien Künstler in einigen europäischen Ländern, so etwa in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden, speziell im Hinblick auf das Kindertheater sogar noch mehr zu: Obwohl das Theater für Kinder dieselben Förderkriterien zu erfüllen hat und denselben Bedingungen unterstellt ist wie das sogenannte Erwachsenentheater, wird es häufig in noch geringerer Höhe subventioniert als das Theater allgemein143 bzw. ist, wie in den Niederlanden auf dem Gebiet des Tanztheaters geschehen, von den härtesten Kürzungen betroffen.144 »En fait, […] la mentalité majoritairement adultocentrique de la plupart des décideurs les empêche assez souvent de véritablement s’intéresser aux 142 | Vgl. hierzu paradigmatisch die Pressemitteilung Förderinstrumente der Stadt Wien entwickeln sich konträr zu erklärten Zielen der Kulturpolitik der österreichischen IG Freie Theaterarbeit vom 7. Juni 2013, wo es heißt: »Damit verschiebt sich erneut das Förderverhältnis in Richtung mehr Geld für Strukturen, mehr für die Großen und noch mehr für die ganz Großen: Im Instrument der Kleinen wird gespart, während im Vergleichszeitraum die großen Institutionen – außerhalb des Korpus der Reform – ein signifikantes, absolutes wie prozentuales MEHR verbuchen können« (vgl. http://www.freietheater. at/?page=index&alle=true&detail=19&id_language=2). 143 | Vgl. hierzu exemplarisch den Befund aus dem Jahr 2006 für die Förderstrukturen in Österreich: »Die Förderrealität zeigt klar, dass Darstellende Kunst für junge (›kleine‹) Menschen durchweg auch mit kleineren Förderungen korreliert« – für die freien Gruppen, die für Kinder und Jugendliche produzieren, wurde vonseiten des Bundes nicht einmal ein Zehntel der Gesamtfördersumme bereitgestellt (Anteil: 6,1 Prozent); und auch in der durchschnittlichen Dotierung pro Förderbewerber erreichten die Kinder- und Jugendtheaterschaffenden weniger als die Hälfte der Durchschnittsförderung (StüweEßl, Barbara: »Kleine Menschen – kleine Produktionskosten? Politischer Wert von Kunst für junges Publikum«, in: gift – Zeitschrift für Freies Theater 2008, S. 37f. [online unter: http://culturebase.org/home/igft-ftp/gift0108.pdf]). 144 | Vgl. Akveld, Joukje: »Beste Leerling krijgt zwaarste Klappen«, in: TM/TIN (Hg.), Terugblickken: Theaterseizoen 2010-2011 15 (2011), S. 58ff., hier S. 58. So wurden im Jahr 2009 erstmals fünf Tanz-companies in die staatliche strukturelle Basisförderung (BIS) aufgenommen, namentlich die Gruppen Introdans, Aya, Meekers, De Stilte und De Dansers – 2013 jedoch wurde die entsprechende Förderung bereits wieder ersatzlos gestrichen.
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droits des enfants au théâtre et à la culture en général«, so die Erklärung von Maurice Yendt. Dass darüber hinaus beispielsweise in Österreich Künstler für partizipative Theaterprojekte mit Kindern wiederum weniger Geld erhalten als für Projekte für Kinder, muss angesichts der immer lauter werdenden Forderung nach kulturellen Bildungsangeboten umso unverständlicher erscheinen. Ein spezielles Budget, das exklusiv für das Kinder- und Jugendtheater zur Verfügung gestellt wird, ist mit Ausnahme von Schweden, wo es sich der Arts Council selbst zur Auflage gemacht hat, mindestens 30 Prozent der gesamten Kulturförderung in Programme und Projekte für und mit Kinder(n) und Jugendliche(n) fließen zu lassen,145 und Teilen Belgiens, wo das Kultusministerium über einen eigenen Conseil du théâtre pour l’enfance et la jeunesse verfügt, nirgends zu finden. Die Fördergelder sind, wie Paul Harman exemplarisch für Großbritannien erläutert, in den allgemeinen Theaterbudgets enthalten: »The fact is that the Arts Councils never ›officially‹ funded theatre companies which specialised in T YP – the position adopted by the Arts Councils is that they only fund ART. The audience for which the theatre is made has had no influence on the decision to fund a theatre company – at least in the majority of periods over the last 50 years.«
Nur vereinzelt existieren kulturpolitische Rahmenrichtlinien bzw. Empfehlungen, die darauf abzielen, das kulturelle Angebot für Kinder und Jugendliche insgesamt auszubauen bzw. zu verstetigen, sodass indirekt auch das Kinder- und Jugendtheater betroffen ist oder jedenfalls sein kann. Im Falle Großbritanniens etwa gestaltet sich dies auf Initiative des britischen Arts Council gemäß der Darstellung von Deborah Stephenson (Arts Council, Großbritannien) wie folgt: »[E]ncouraging the participation of children and young people in the arts is a key theme running through all our programmes and we fund many theatres and productions that produce work for young audiences. Achieving Great Art, our strategic framework for the arts, sets out our 5 main goals over the next ten years and goal 5 is ›every child and young person has the opportunity to experience the richness of the arts‹. […] We have 696 organisations in our National portfolio funding programme (NPO) and of these 64% are supporting us to deliver goal 5 over the next three years. We do not monitor exactly what proportion of their funding is related to the delivery of this goal, but each organisation will have an activity plan with specific work identified with children and young people and will be expected to report on that work on a yearly basis.«
145 | Vgl. http://www.kulturradet.se/Documents/English/strategy_culture_children_ young_people.pdf
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Gezielte Initiativen von öffentlicher Seite, den Sektor des Kinder- und Jugendtheaters zu stärken, gibt es europaweit nicht. Demgegenüber steht eine in den letzten zehn Jahren rasant angestiegene Zahl an bildungs- und kulturpolitischen Initiativen, die sich der Förderung kultureller Bildung verschreiben. Diese jedoch konzentrieren sich fast ausschließlich auf den öffentlichen, institutionellen Sektor und vernachlässigen
somit die Freie Theaterszene ebenso wie den außerschulischen Bereich: »The substantial role played by individuals and organisations beyond the public sector is inadequately considered in policy planning and implementation up to now. In practice even a large number of non-education related government and non-government organisations directly contribute to cultural education; a fact which is widely neglected by politicians responsible for cultural education.«146
Was vonseiten des Institute for Art Education jüngst für die Schweiz konstatiert wurde, beschreibt auch die Realität der Freien Theaterschaffenden für Kinder in vielen anderen europäischen Ländern: »Am meisten Mittel fließen in die Zusammenarbeit zwischen Kulturinstitutionen und Schulen. […] Während für schulische Projekte in vielen Kantonen Fördermöglichkeiten bestehen, gibt es für außerschulische Vermittlungsaktivitäten von freiberuflichen Kulturvermittler_innen – und vielerorts auch für außerschulische Vermittlungsaktivitäten von Institutionen – meist keine vergleichbare Förderung. Oft fallen die Projekte zwischen die Ressorts ›Kultur‹ und ›Bildung‹, bisweilen auch ›Soziales‹.«147
Außerhalb dieser spezifischen Förderprogramme hat das Freie Kindertheater bislang in fast keiner Weise von der gesteigerten Aufmerksamkeit profitieren können, die dem Thema Arts Education aktuell weltweit zuteil wird. Für das Gesamtpanorama der europäischen Freien Kindertheaterlandschaften lässt sich demnach mit Maurice Yendt resümieren, was dieser zwar nur über die französische Kindertheaterszene konstatierte, sich aber nahtlos auf die Situation des Freien Kindertheaters in Europa insgesamt übertragen lässt: »Depuis plus de 10 ans, l’ensemble du secteur théâtral jeunes publics est dans l’attente d’une redéfinition et de la mise en œuvre d’une nouvelle politique de service public en faveur des artistes et de la création théâtrale pour jeunes spectateurs.« 146 | Pre-Conference-Reader (Onlinepublikation), S. 31. 147 | Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste (Hg.): Zeit für Vermittlung. Eine online Publikation zur Kulturvermittlung. Im Auftrag der Pro Helvetia, als Resultat der Begleitforschung des »Programms Kulturvermittlung« (2009-2012) [online unter: http://www.kultur-vermittlung.ch/zeit-fuer-vermittlung/download/pdf-d/ ZfV_0_gesamte_Publikation.pdf], S. 176.
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3.1.2 Unter versorgung des Freien Kindertheaters hinsichtlich der öffentlich-medialen Aufmerksamkeit Mit der finanziellen Unterversorgung geht ein nach wie vor eklatantes Anerkennungsdefizit von öffentlicher Seite einher: Von der Theaterkritik und den Medien wird das Freie Theater für Kinder – seiner stetigen Professionalisierung und Qualitätsentwicklung zum Trotz – auch heute noch wenig ernstbzw. überhaupt wahrgenommen. »Ein Großteil der Theaterkritik missachtet, ja, verachtet das Kindertheater«148, so Wolfgang Schneider. Mit Ausnahme von Polen und Russland, deren Länderexperten Zbigniew Rudzinski und Pavel Rudnev zumindest für den Bereich des institutionalisierten Kindertheaters in öffentlicher Hand einen stetigen Zuwachs an medialer Aufmerksamkeit und das Vorhandensein einer qualifizierten Theaterkritik bestätigen konnten, befindet sich das (Freie) Kindertheater in diesem Punkt europaweit im Hintertreffen. Im Zuge dieser Vernachlässigung wiederum ergibt sich leicht eine Art Teufelskreis: Ein Bereich des öffentlichen Lebens, der nicht ›sichtbar‹ ist, weil ihm keine mediale Aufmerksamkeit zuteil wird, erhält gemeinhin weniger (finanzielle) Unterstützung und wird weniger gefördert. Je weniger jedoch eben dieser Bereich unterstützt und gefördert wird, desto weniger kann er sich bemerkbar machen und desto weniger Aufmerksamkeit kann ihm zuteil werden. Am Beispiel des privaten Sponsorings konnte dieser Zusammenhang stellvertretend bereits ausdrücklich nachgewiesen werden. Analysen ergaben »eine deutliche Korrelation der Qualitätsmerkmale ›regionale bzw. kommunale Berichterstattung in den Medien‹ zum Kriterium ›Sponsorengewinnung von privaten Mitteln‹. Die Erklärung liegt auf der Hand: Vor allem kleinere Firmen im Umfeld der Projekte engagieren sich besonders dann als Förderer eines Projekts, wenn dieses auch durch eine entsprechende Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Und diese Aufmerksamkeit ist den mittelständischen Unternehmen im näheren Umfeld wichtiger als eine überregionale Präsenz, die ohnehin weniger wahrscheinlich ist.«149
Die Bedeutung einer qualifizierten Theaterkritik und einer medialen Aufmerksamkeit auch für das Kindertheater ist demnach nicht zu unterschätzen, wie gleichsam Cyrille Planson, Kritikerin mit Schwerpunkt im Bereich des Kindertheaters für die französische Fachzeitschrift La Scène, betont: »Donc, les retours des médias ont pour nous deux intérêts principaux: • témoigner, grâce à ces retours, de la pertinence de notre démarche auprès des décideurs (directeurs de la culture, politiques …) qui comptent beaucoup sur ces retours de la presse … 148 | Schneider, W.: Theater für Kinder, S. 102. 149 | Keuchel, S./Aescht, P.: Hoch hinaus (Onlinepublikation), S. 32.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven • porter une parole militante et plus générale portant sur la nature de l’offre culturelle faite aux enfants et à son boom.«
Wo eine öffentliche, qualifizierte Auseinandersetzung mit den darstellenden Künsten nicht (mehr) gewährleistet ist, sind schwere Einbußen vorprogrammiert. Anderenfalls müssen, wie in der Schweiz, »unkonventionelle Lösungen gefunden werden, um neue Formen der öffentlichen Auseinandersetzung zu realisieren«150. Eine solche unkonventionelle Lösung stellt das Internetportal www.theaterkritik.ch dar, das, von freien Theaterschaffenden initiiert, von der ACT (Association des Créateurs du Théâtre indépendant) und der ASTEJ (Association suisse du théâtre pour l’enfance et la jeunesse) getragen und vom Schweizer Bundesamt für Kultur und der Oertli-Stiftung unterstützt wird. Seit November 2011 ist theaterkritik.ch als nationale Plattform für Theaterkritiken online, auf der freie Künstler und Gruppen gegen Geld bis zu zwei Kritiker für ihre Produktionen engagieren können, die auf diesem Wege verpflichtet werden, eine Rezension zu schreiben. Zwar führt die Tatsache, dass die Theaterschaffenden auf diese Weise selbst an den Kosten des Projektes beteiligt sind, immer wieder zu Fragen der Unabhängigkeit der Kritiken,151 doch scheint die Schweizer Szene dies angesichts der misslichen Lage, dass die vielfältige Theaterlandschaft in den Medien ansonsten keine ausreichende Beachtung findet, mehrheitlich für das geringere Übel zu halten. Bemerkenswerterweise betreffen fast die Hälfte der knapp 20 bis Januar 2012 erschienenen Kritiken Kindertheaterproduktionen, was auch in den Augen der Theaterschaffenden ein deutliches Zeichen dafür ist, dass hier ein besonders großer Bedarf an kritischer Auseinandersetzung besteht, dem die existierenden Formate in den Medien bei Weitem nicht gerecht werden.
3.1.3 Unter versorgung des Freien Kindertheaters im Hinblick auf Ausbildungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten Trotz seiner zunehmenden strukturellen Emanzipation gibt es für das Kinderund Jugendtheater – abgesehen von dem immer breiter werdenden Angebot an Studiengängen zur Kulturvermittlung152 und Theaterpädagogik153 – europaweit in aller Regel keine spezifischen Ausbildungsmöglichkeiten an staatli-
150 | Vgl. »Jahresbericht 12«, Februar 2013, S. 15. 151 | Vgl. astej/Schweiz (Hg.): »Jahresbericht 11«, Februar 2012, S. 16. 152 | Vgl. Blumenreich, Ulrike: »Das Studium der Kulturvermittlung an Hochschulen in Deutschland«, in: Bockhorst, H./Reinwand, V.-I./Zacharias, W. (Hg.), Handbuch Kulturelle Bildung (2012), S. 849-854. 153 | Vgl. Hentschel, Ulrike: »Theaterpädagogische Ausbildung«, in: Bockhorst, H./ Reinwand, V.-I./Zacharias, W. (Hg.), Handbuch Kulturelle Bildung (2012), S. 879-881.
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chen Hochschulen.154 Dies trifft ebenso auf den Bereich des Musiktheaters zu: Spielt das Komponieren für Musiktheater an den meisten Musikhochschulen per se schon eine nur marginale Rolle, so das für Kinder überhaupt keine. Auch der Bereich des Puppen- bzw. Figuren- und Objekttheaters ist von dieser Vernachlässigung der Zielgruppenorientierung betroffen: Zwar wird der größte Teil der Inszenierungen innerhalb dieser Sparte für ein Kinderpublikum produziert, doch kommt dem Kindertheater während der Ausbildung keinerlei Bedeutung zu, wie Tim Sandweg exemplarisch über die renommierte Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin (mit eigenem Studiengang Puppenspielkunst) berichtet. Obwohl die Mehrheit der Absolventen erfahrungsgemäß primär für Kinder arbeitet und zudem der Markt eindeutig dahin tendiert, Puppentheater vor allem für ein vorschulisches Publikum anzubieten, werden während der Ausbildung weder Besuche im Kindertheater noch entsprechende theoretische Auseinandersetzungen angeboten.155 Sandweg benennt für dieses Desiderat folgenden Grund: »Bis heute haftet Kindertheater immer noch der Dünkel einer nicht wirklich ernstzunehmenden Form an. Das Ziel des Studienganges, Puppenspiel als eigenständige, ernstzunehmende Kunst zu etablieren, musste somit zwangsläufig über den Weg des Theaters für Erwachsene und zu entsprechenden Studienverlaufsplänen führen.«156
Ob in dieser Haltung die Ursache dafür zu sehen ist, dass das Kinder- und Jugendtheater innerhalb der Ausbildungsstrukturen für die darstellenden Künste bis heute keinen Platz gefunden hat, muss an dieser Stelle offen bleiben. Nicht zuletzt herrscht gleichsam im Bereich der Kulturvermittlung ein großes Desiderat hinsichtlich der Ausbildung der in diesem Feld tätigen Akteure; hier hat der Professionalisierungsprozess gerade erst begonnen. Dies gilt insbesondere für das Tanztheater:157 Zwar wird derzeit bereits an tanzpädagogischen Qualifizierungsangeboten an staatlichen Hochschulen sowie im Bereich der berufsbegleitenden Fort- und Weiterbildung gearbeitet. Was meis-
154 | Vgl. hierzu auch Doderer, Klaus/Knauer, Margit/Windisch, Andrea: Berufsperspektive: Theaterspielen für junge Zuschauer. Eine Untersuchung zum »Kinder- und Jugendtheater im Rahmen der Ausbildung von Schauspielerinnen und Schauspielern« (= Schriftenreihe des DBV, Bd. 8), Frankfurt a. M.1993, S. 32ff.; sowie Schneider, W.: Theater für Kinder, S. 323-330. 155 | Vgl. Sandweg, Tim: »Spiel-O-Mat. Einige Gedanken anlässlich des 40. Geburtstags der Abteilung ›Puppenspielkunst‹«, in: IXYPSILONZETT 3 (2012), S. 22f. 156 | Ebd., S. 23. 157 | Vgl. exemplarisch Bundesverband Tanz in Schulen (Hg.): Tanz in Schulen. Theorie und Praxis, Köln 2012, S. 55.
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tenteils fehlt, ist jedoch eine professionelle Ausbildung, die gezielt die tanzspezifischen Belange kultureller Bildungsarbeit thematisiert.158 Somit lässt sich gleichsam auf dem Gebiet der kulturellen Bildung als ein zentrales allgemeines Manko festhalten, was für Frankreich unlängst paradigmatisch wie folgt formuliert wurde: »›Il faut professionnaliser les acteurs de l’éducation artistique et culturelle. La qualité des formations est un enjeu central‹ (Jean-Pierre Saëz, directeur de l’Observatoire des politiques culturelles). – L’accord sur ce sujet est large. Plaident en ce sens la plupart des organismes auditionnés [...]. La demande de formations conjointes (acteurs des secteurs culturels, éducatifs et sociaux ensemble) a été fréquemment formulée. Elle est certainement l’une des principales voies de progrès.«159
Und: »Il est nécessaire de passer du stade de l’expérimentation (parfois de l’incantation) à un véritable développement«160. In diesem Sinne müssten Ausbildungsstrukturen modelliert bzw. zum Teil auch allererst generiert werden.
3.1.4 Mangel an Spielstätten Es gehört zu den Spezifika der Freien Kindertheaterszenen in Europa, in aller Regel nicht über eine feste, geschweige denn eigene Spielstätte zu verfügen; ›Freies‹ Theater für Kinder meint beinahe gleichbedeutend: mobiles Theater für Kinder. Von nahezu allen Länderexperten konnte bestätigt werden, dass neben Festivalauftritten und Gastspielen an Theaterhäusern bzw. lokalen Kulturzentren nach wie vor Schulen (Turnhallen!), Vorschulen und Kindergärten die Hauptspielorte für Freies Kindertheater sind.161 Als positive Ausnahme ist hier Schweden zu nennen, wo laut Angaben von Niclas Malmcrona etwa 50 freie Gruppen (von insgesamt ca. 100) mit einer festen Spielstätte und eigenen Proberäumen ausgestattet sind. Zum Vergleich: In England haben derzeit von rund 170 Kindertheaterensembles fünf eine feste Spielstätte, in Holland sind es zwei von rund 40. 158 | Vgl. Klinge, A.: »Zum Stellenwert«, S. 882f.; sowie Odenthal, J.: »Tanz als Pflichtfach«, S. 109. 159 | Bouët, Jérôme (Hg.): Consultation sur l’éducation artistique et culturelle »Pour un accès de tous les jeunes à l’art et à la culture«, Januar 2013, http://www.culturecommu nication.gouv.fr/Politiques-ministerielles/Consultation-education-artistique-et-cultu relle/Resultats-de-la-consultation, S. 24. 160 | Ebd., S. 25. 161 | Eine Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang die deutschsprachige Schweiz dar: Laut Sandra Förnbacher (Universität Bern) findet Freies Kindertheater hier normalerweise nicht an alternativen Spielorten statt, sondern stets als Gastspiel in festen Theaterhäusern.
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Dieser Mangel an Auftrittsmöglichkeiten führt in vielen Fällen nicht etwa nur zu dem künstlerisch motivierten Wunsch, sondern vielmehr zu der Notwendigkeit, internationale Kooperationen einzugehen und Gastspieltourneen zu organisieren: Wie auf dem Festival Visioni di futuro, visioni di teatro 2013 in Bologna diskutiert wurde, ist es beispielsweise für die freien Kindertheatermacher in Italien derzeit äußerst schwierig, ihre Produktionen im eigenen Land zu verkaufen; selbst der ›Festivalmarkt‹ befindet sich so sehr in der Krise, dass es für die Gruppen häufig schon problematisch – und für neue, noch nicht etablierte Gruppen nahezu unmöglich – ist, ein Stück auch nur ein einziges Mal in Italien zeigen zu können. Insofern wird die Vernetzung mit dem Ausland zunehmend wichtiger, um dort einen ›Absatzmarkt‹ und eben Spielstätten zu finden.
3.1.5 Erschwerte Ensemblebildung und Behinderung künstlerischer Kontinuität Kaum eine freie Gruppe im Bereich des Kindertheaters kann es sich leisten, ein großes, festes Schauspielerensemble zu beschäftigen, geschweige denn Verwaltungspersonal oder ein Spezialteam für die Dokumentation und Evaluation der eigenen künstlerischen Praxis zu bezahlen. Was Paul Harman exemplarisch über die Kindertheaterszene in England schreibt, lässt sich auf die personellen Voraussetzungen zahlreicher Freier Gruppen in den meisten anderen europäischen Ländern übertragen: »Many of the smaller TYA companies, for example the puppet companies, are just husband and wife teams or extended family groups.« Die Anzahl fester Ensembles, die für Kinder produzieren, ist innerhalb der europäischen Freien Szenen in den vergangenen Jahren entsprechend signifikant zurückgegangen. Vielmehr scheint sich als Organisationsmodell durchzusetzen, was Myrtó Dimitriadou als »Produktionsensembles« bezeichnet: ein kleines beständiges Kernensemble, häufig sogar nur bestehend aus Regisseur und Dramaturg, das produktionsbezogen nach Bedarf Künstler engagiert und für die Dauer eines Projekts beschäftigt. Längerfristige Zusammenarbeit in fixen Strukturen ist zur Seltenheit geworden – und dies hauptsächlich, weil die Finanzierungsmodalitäten einen kontinuierlichen gemeinsamen Arbeitsprozess, wenn nicht unmöglich machen, so doch zumindest zu riskant erscheinen lassen: Viel zu selten ist für Planungssicherheit gesorgt. Abgesehen davon, dass die Förderung der freien Kindertheatergruppen in Europa generell antragsbasiert verläuft und von der Erfüllung bestimmter Förderkriterien abhängig ist, erhalten nur sehr wenige Gruppen öffentliche Fördergelder in Form einer strukturellen Konzeptionsförderung (in der Regel drei bis vier Jahre). Die große Mehrheit ist, sofern sie überhaupt öffentliche Förderung erhält, auf singuläre Projekt-(zuschuss-)förderung angewiesen, die zudem im Verhältnis meistens deutlich geringer ausfällt als die strukturel-
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le Förderung.162 So zählten beispielsweise in England im Jahr 2009 von 227 Kinder- und Jugendtheatergruppen nur 42 zu den dreijährig geförderten sogenannten RFO (Regularly Funded Organisations); in den Niederlanden wurden 2012 nur acht von 40 in die vierjährige BIS (Basis Infrastructuur) aufgenommen. Eine positive Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang einmal mehr vor allem Schweden dar: Hier erhalten laut Lotta Brilioth Biörnstad die meisten freien Gruppen regelmäßig nationale Fördergelder. Im Jahr 2011 vergab der schwedische Arts Council 51 Millionen SEK an die Freie Szene, davon ca. 50 Prozent an Gruppen, die für Kinder produzieren; und wie Niclas Malmcrona berichtet, gehört es zur gängigen Praxis, dass sich feste Ensembles bilden und längerfristig zusammenarbeiten. Ansonsten jedoch hat sich das Prinzip der singulären Projektförderung durchgesetzt. Zeitlich und organisatorisch stark eingeschränkte Arbeitskontexte, innerhalb derer das Zusammenwachsen – und Reifen – eines Ensembles nicht möglich ist, sind die notwendige Folge. Dies trifft – allen Lippenbekenntnissen zum allerhöchsten Stellenwert kultureller Bildung zum Trotz – auch und gerade auf dezidierte Bildungsangebote zu: »In der Praxis ist es traurige Realität, dass gerade im Bereich der kulturellen Bildung […] Projektförderung mit all ihren Nachteilen eher die Regel als die Ausnahme ist«163. Am vielleicht dramatischsten stellt sich die Lage in Großbritannien dar: Feste Ensembles gibt es laut Paul Harman in England beinahe keine mehr; das künstlerische Team wird für jede Produktion neu zusammengestellt und unter Kurzzeitvertrag genommen; jede Produktion wird – bei einer Probenzeit von üblicherweise drei bis vier Wochen – en bloc in einem begrenzten Zeitraum abgespielt. Es bestehe kaum eine Möglichkeit, mit einer Produktion auf eine größere Tournee zu gehen, geschweige denn, ein Repertoire aufzubauen, da innerhalb des »small pool of local actors shared with a number of other local companies« jeder Künstler zeitgleich in mehreren Projekten verpflichtet sei, so Paul Harman. An kollektive Arbeitsweisen bzw. gemeinsame Stückentwicklungen ist unter diesen Umständen nicht zu denken; die Schauspieler sind auf anderes eingestellt: »to be employees rather than members of co-operative 162 | Dabei weichen die entsprechenden Summen erheblich voneinander ab, und zwar sogar auf nationaler Ebene. In Österreich etwa werden laut Barbara Stüwe-Eßl vom zuständigen Bundesministerium Projektförderungen mit Schwankungen von 2000 bis 45.000 Euro für ein Projekt vergeben; und selbst in einzelnen Bundesländern, so zum Beispiel im Land Salzburg, können die Summen für freie Gruppen zwischen 500 und 5000 Euro variieren. 163 | Deutscher Kulturrat: Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion, S. 98. Hinzu kommt, dass Initiativen zur kulturellen Bildung selbst in Institutionen, die über eine – relativ – gesicherte Finanzierung aus öffentlicher Hand verfügen, oftmals nur zum Projektbereich gehören.
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companies; wait for the offer of a job, rather than join with others to follow an artistic and social vision«164 . Auch für Schottland bestätigt Rhona Matheson (Starcatchers, Edinburgh): »Whilst the reputation is strong, there is a fragile infrastructure for theatre for children in Scotland. We have only two fully funded children’s theatre companies and these are touring companies. There is no centre/building dedicated to children’s theatre/arts. The other companies (including Starcatchers) are project funded which gives little security and scope for long term planning.«
Dass die hieraus womöglich resultierende Einzelkämpfermentalität nicht zuletzt jeglichem Teamwork- und Kooperationsgedanken widerspricht, gehört ebenso zu den prekären – und gegen sich selbst gerichteten – Bedingungen des Fördersystems.
3.1.6 Kontinuierliche Kürzungen im kulturellen Sektor Auf dem sechsten Kinder zum Olymp-Kongress am 13. Juni 2013 in Hannover gab der türkischstämmige Autor Feridun Zaimoglu auf die Frage nach den Gelingensbedingungen für künstlerische Projekte mit Kindern und Jugendlichen eine erfrischend direkte und pointierte Antwort, indem er konterte: »Es dreht sich nicht um die Frage ›Hat das Qualität oder nicht?‹, sondern allein um die Frage ›Haben wir genug Geld oder nicht?‹ Das ist im Grunde die einzige Frage«. Wie diese Frage von den meisten Künstlern der Freien Kindertheaterszene in Europa beantwortet werden muss, ist bekannt; und eine Verbesserung ist nicht in Sicht: Insofern der kulturelle Sektor in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise(n) allgemein mit mehr oder weniger drastischen Kürzungen zu kämpfen hat bzw. davon bedroht ist, und zwar auf nationaler wie auf EU-Ebene,165 ist 164 | Harman, Paul: A Guide to UK Theatre for Young Audiences, London 2009/11, S. 13f. 165 | Vgl. zu den geplanten Kürzungen für das EU-Budget 2014-2020 die Stellungnahme des Netzwerks Culture Action Europe (CAE), der mit mehr als 80.000 Mitgliederorganisationen aus ganz Europa führenden europäischen Interessengemeinschaft im Bereich Kunst und Kultur: http://www.wearemore.eu/wp-content/uploads/2010/08/ CAE_Statement-Council-Agreement_20130211.pdf. Nicht zuletzt auf lokaler Ebene machen sich die Sparmaßnahmen teilweise empfindlich bemerkbar: So entwickeln sich die Produktionsbedingungen der Freien Theater beispielsweise auch in Wien – über lange Jahre ein Vorzeigemodell der Kulturförderpolitik, insofern das Budget für Freie Theater hier in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich auf den Rekordwert von aktuell 25 Millionen Euro erhöht werden konnte – neuerdings zum Negativen und konträr zu den erklär-
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auch und erst recht das Freie Theater für Kinder in zunehmender finanzieller Bedrängnis: Alle Länderexperten gaben an, seit mindestens zehn Jahren mit kontinuierlichen Budgetkürzungen konfrontiert zu sein; allerorten werden zunehmend Stiftungen als temporäre Lückenbüßer und Rettungsanker zur Basisförderung herangezogen, weil die staatliche Förderung versagt;166 für die französische Kindertheaterszene stellte Maurice Yendt sogar fest: »L’autofinancement devient la règle pour un nombre croissant de compagnies.« In der Schweiz steht der nationalen ASTEJ-Sektion womöglich die Auflösung bevor: Das Bundesamt für Kultur (BAK) hat beschlossen, die Förderbeiträge an die ASTEJ in der nächsten Subventionsperiode von 2013 bis 2015 jedes Jahr um die Hälfte zu kürzen; ab 2016 soll der Verband überhaupt nicht mehr unterstützt werden. »Diese Degression lässt sich nur auf eine Weise lesen«, so die Mitglieder selbst. »Die ASTEJ wird mit diesen Mitteln nicht überleben«167. Die Begründung des BAK, namentlich die vermeintlich »fehlend[e] Repräsentativität der Mitglieder«168, muss angesichts der Tatsache, dass die ASTEJ den einzigen nationalen Theaterverband der Schweiz mit Vertretungen in sämtlichen vier Sprachregionen darstellt, geradezu zynisch erscheinen. Am vielleicht härtesten jedoch trifft es derzeit die freien Theaterschaffenden in den Niederlanden. Im Zuge der dramatisch hohen Kürzungen im Theatersystem insgesamt hat sich das Budget der nationalen Fördergelder für das Kinder- und Jugendtheater, das seit 1990 Teil der öffentlich subventionierten BIS ist, nachgerade halbiert. Für einzelne Gruppen wie etwa die renommierte Toneelmakerij ergeben sich daraus Einbußen von bis zu 70 Prozent; andere – wie etwa die Rotterdamer Meekers, die Theatergroep Max und die Theatergroep Siberia oder auch Het Nationaal Toneel und Stella aus Den Haag – können nur noch durch eine Zwangsallianz und Zusammenlegung ihrer Ressourcen (möglicherweise) überleben. Vier von fünf Tanz-companies verschwinden von der Bildfläche, alle drei Produktionshäuser für das Kinder- und Jugendtheater, ten Zielen der Kulturpolitik: Wie die IG Freie Theaterarbeit in einer Pressemitteilung vom 7. Juni 2013 bekannt gab, hat die Kulturabteilung der Stadt für den Produktionszeitraum ab Herbst 2013 verfügt, das Volumen des Instruments Konzeptförderung mit 6,5 Millionen Euro auf etwas mehr als die Hälfte des ursprünglichen Begutachtungsumfangs von 12 Millionen Euro zu schrumpfen; weitere Einschränkungen sollen folgen (vgl. https://www. wien.gv.at/rk/msg/2013/02/15013.html). 166 | Zur zunehmenden Bedeutung von Stiftungen im Feld der Kulturellen Bildung vgl. exemplarisch Fleisch, Hans: »Förderung der Kulturellen Bildung durch Stiftungen«, in: Bockhorst, H./Reinwand, V.-I./Zacharias, W. (Hg.), Handbuch Kulturelle Bildung (2012), S. 399-402. 167 | http://www.astej.ch/?id=2199&L=0 168 | Vgl. die entsprechende Medienmitteilung vom November 2012 unter http://www. astej.ch/fileadmin/images/2012.10/Medienmitteilung_astej_121107.pdf
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die über die Landesgrenzen hinaus als Nachwuchs- und Talentschmieden sowie als Innovationslaboratorien bekannt waren, ebenso.169 Somit lässt sich Folgendes zusammenzufassen: Von ihren strukturellen Voraussetzungen her sind die Freien Kindertheaterszenen in Europa so unterversorgt, dass sie ihr hohes Kreativ- und Bildungspotenzial kaum je zur Entfaltung bringen können. Es fehlt an Proberäumen und Spielstätten, an Personal und an Kontinuität – und vor allem fehlt es an Geld.
3.2 Ökonomisierung Wir erinnern uns: Als zentrale methodisch-ästhetische Qualitätsparameter für hochwertige kulturelle Bildungsangebote wurden vonseiten der UNESCO die drei folgenden Faktoren hervorgehoben: Teamwork, die Verwendung lokaler Ressourcen bzw. die Einbeziehung des lokalen Kontextes und schließlich insbesondere die prozessorientierte Arbeit auf der Basis künstlerisch-kreativer Recherchen. De facto allerdings sind jene Gelingensbedingungen mit den vorherrschenden Sachzwängen auf dem Theatermarkt und den geltenden Förderkriterien kaum je kompatibel. Denn wie soll kollektiv, standortspezifisch und in einem ergebnisoffenen künstlerischen Rechercheprozess gearbeitet werden, wenn Geld, Zeit und Planungssicherheit fehlen? Wie sollen unter dem zunehmenden Druck des Marktes experimentelle Freiräume geschaffen werden, in denen Theater widerständig und außergewöhnlich sein kann?
3.2.1 Zur Frage von Teamwork und Kooperation Was zunächst die Frage des Teamworks und der kollektiven, nichthierarchisch organisierten Gemeinschaftsarbeit angeht, so ist zu beobachten, dass nicht nur der bereits erwähnte Trend zu »Produktionsensembles« und die allgemeine Kurzlebigkeit der Arbeitsstrukturen innerhalb der Freien Kindertheaterszene die Möglichkeiten echter Team- bzw. Ensemblebildung erheblich einschränken. Wie Irène Howald (ASTEJ-Sektion, Schweiz) exemplarisch konstatiert, sorgt auch die Tatsache, dass es zwar mehr und mehr freie Gruppen, gleichzeitig aber immer weniger Fördergelder im kulturellen Sektor gibt, für einen steigenden Konkurrenzdruck: Der Kampf um ›Sichtbarkeit‹ und Subventionen sowie der ständige Zwang zur Selbstvermarktung erfordern streng kalkulierte Wettbewerbsstrategien – sowohl unter den freien Gruppen als auch innerhalb einer einzigen Produktionsgemeinschaft.
169 | Vgl. Zwaneveld, Brechtje: »Jeugdtheater bloeit in het buitenland«, in: TM/TIN (Hg.), Terugblickken: Theaterseizoen 2010-2011 15 (2011), S. 42-45, hier S. 43.
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3.2.2 Zur Frage der Standortsensibilität und Ortsgebundenheit Die von der UNESCO herausgearbeitete Gelingensbedingung der Standortsensibilität und der Verwendung lokaler Ressourcen erweist sich nicht allein im Zusammenhang mit Programmen zur kulturellen Bildung von Kindern als relevant. Vielmehr stellt sie in Zeiten eines erhöhten Legitimationsdrucks auf die öffentlich geförderten Theater auch allgemein einen zentralen Faktor für die individuelle Profilbildung und »Theaterentwicklungsplanung« dar, wie Wolfgang Schneider ausführt: »Das Theater, das mit der jeweiligen Region oder Stadt zu tun hat, muss dabei im Mittelpunkt stehen, vor Ort recherchieren, suchen, Themen aufspüren und das nutzen, was regional wichtig erscheint. Das muss nicht nur geschehen, um regionales Publikum zu bekommen, sondern weil man an dieser Stelle einen tieferen Einblick in die Gesellschaft nehmen kann.«170
Der Zielsetzung jedoch, standortspezifische (kulturelle) Identifikationsangebote zu schaffen, die sich gezielt nach lokalen Interessen und Belangen richten, steht diametral das Diktat des Theatermarktes entgegen, ›Exportgüter‹ zu produzieren, die mobil und international konkurrenzfähig sind und durch Massendistribution eine messbare Gewinnsteigerung versprechen. So berichtet etwa Lieven Baeyens, künstlerischer Leiter der Compagnie IOTA aus dem französischsprachigen Teil Belgiens – eine freie Gruppe, die ohne jegliche strukturelle Förderung auskommt –, über den prekären Zwang, möglichst viele Aufführungen einer Produktion an möglichst vielen verschiedenen Spielorten zu platzieren: »Pour savoir survivre nous avons besoin d’au moins une centaine de représentations par saison. Pour l’instant nous avons quarante trois options, c’est très peu sans subventions. Le budget pour le théâtre jeune public n’a pas changé depuis plus de huit ans. Notre indépendance a un prix. C’est une réalité que nous sommes en train d’assumer pour l’instant.«
Die Folge dieser Ausrichtung auf den (internationalen) Absatzmarkt ist ein »Verlust der Lokalität«: »In der europäischen Szene – wenn wir nicht nur Westeuropa betrachten – ist eine Angleichung von Ästhetiken und Theatersprachen zu beobachten, in der kulturelle Indi170 | Schneider, Wolfgang: »Wuppertal ist überall! Die kulturpolitische Krise der Dramatischen Künste offenbart Reformbedarfe in der deutschen Theaterlandschaft«, in: Mittelstädt, Eckhard/Pinto, Alexander (Hg.), Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland. Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 21-31, hier S. 27.
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Analog zu Wirtschaftsmodellen bringt die europäische Kulturförderung somit auch im Bereich des Freien Kindertheaters »effiziente innovative Produktionen mit beweglichen Ressourcen hervor. Verloren geht […] das Unverwechselbare, verloren geht Singularität«172 . Folgt man Holger Noltze, so wird dieser Trend durch das stetig wachsende Kooperationswesen innerhalb der Freien Theaterlandschaften sogar noch zusätzlich befördert – zu groß nämlich sei die Verlockung, »gedanklich-konzeptionell nahezu anstrengungslos irgendwie irgendwo einfach bloß mitzumachen. […] Die Darbietungen irgend kultureller Inhalte gestalten Spielflächen eines Common Sense, dessen herausragende Eigenschaft nur darin besteht, möglichst nah am kleinsten gemeinsamen Nenner zu bleiben. So passt es dann immer.«173
3.2.3 Zur Frage des prozessorientierten Arbeitens auf der Basis künstlerischer Recherchen »Bildung ereignet sich in der tätigen und reflexiven Auseinandersetzung mit dem Unerwarteten, einem Moment der Überraschung bzw. Differenz. Bildungsprozesse sind nicht (primär) auf festgeschriebene Inhalte oder vorgeschriebene Ergebnisse hin ausgerichtet«174 – was Martin Stern zur notwendigen Offenheit von Bildungsprozessen allgemein formulierte, lässt sich mit umso größerem Nachdruck über Prozesse kultureller Bildung konstatieren, gehören Unvorhersehbarkeit, Nichtstandardisierbarkeit und ein gewisses ›kreatives Chaos‹ doch gerade zu den spezifischen Merkmalen des Künstlerischen. Tatsächlich ist die Einigkeit bezüglich dieser notwendigen Ergebnisoffenheit groß: »Kulturelle Bildung, die ästhetische Erkenntnis vermitteln will, muss vorläufig, experimentell, hypothetisch, widersprüchlich, vage und flüch171 | Hentschel, Ingrid: Hildesheimer Thesen IX: Die Rolle des Theaters in und für Europa, Hildesheim 2012 (online unter: http://www.nachtkritik.de/index.php?view=article&i d=7574%3Ahildesheimer-thesen-ix-&option=com_content&Itemid=60), o. S. 172 | Ebd. 173 | Noltze, H.: Die Leichtigkeitslüge, S. 190. 174 | Stern, Martin: »Tanz als Möglichkeit ästhetischer Bildung in der Schule«, in: Hardt, Yvonne/Stern, Martin (Hg.), Choreographie und Institution. Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik, Produktion und Vermittlung, Bielefeld 2010, S. 209-232, hier S. 224.
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tig sein«175, so Helle Becker. »Ästhetische Forschung hat nur Sinn, wenn man sich auf den Weg begibt, ohne ein bereits vorhersehbares Ergebnis erhalten zu wollen. Es ist ein Weg mit Unwegsamkeiten und ungewissem Ausgang« 176, bestätigt Helga Kämpf-Jansen. »Arts are characterised by their open, playful and experimental handling of issues and contents and by their way of dealing with discontinuities and ambiguities«177, heißt es im Bericht Arts Education – Culture Counts. Die European Agenda for Culture aus dem Jahr 2010 schließlich formuliert entsprechend: »Pupils asked to do school exercises are used to looking for a single right answer, which the teacher already knows, and rejecting all other answers, regarded as wrong. On the contrary, involvement in an art project has more in common with research and exploration than with an algorithmic procedure whose stages are marked out in advance. It teaches that there are many right answers possible to the questions we face in seeing the project through. It also teaches us that the result is never known in advance and must always be constructed.«178
Die sich auf diesem Wege ergebenden Bildungschancen bestehen nicht zuletzt in der Entdeckung neuer Fähigkeiten, Erkenntnis- und Verhaltensmöglichkeiten, die dazu führen, Unbekanntes, Ungewisses und Unsicheres generell besser auszuhalten, insofern dergleichen Projekte »ein ständiges Verwerfen, Sich-neu-Entscheiden und Annehmen von Situationen« erforderlich machen – und zwar durchaus auch von »Situationen, auf die man sich unter anderen Bedingungen nie eingelassen hätte«179. So verstanden, würde die künstlerischästhetische Erfahrung zu einer Art »Trainingsprogramm für einen offenen, gegenüber Widerständen und Widersprüchen toleranten, kreativen Umgang mit Komplexität«180. Darüber hinaus ist ebenso die Erfahrung (temporären) Scheiterns fruchtbar zu machen, indem sie produktiv in den Schaffensprozess integriert wird: »To be an artist is to fail, as no other dare fail«181, so lautet eine der am häufigsten 175 | Becker, Helle: »Mut zur Freiheit! Demokratie lernen in der Kulturellen Bildung?«, in: Bockhorst, Hildegard (Hg.), KUNSTstück FREIHEIT. Leben und lernen in der Kulturellen Bildung, München 2011, S. 217ff., hier S. 219. 176 | Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft – Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung, Köln 2002, S. 276. 177 | Deutsche UNESCO-Kommission e. V. (Hg.): Arts Education (Onlinepublikation), S. 1. 178 | Lauret, J.-M./Marie, F. (Hg.): European Agenda (Onlinepublikation), S. 12. 179 | Kämpf-Jansen, H.: Ästhetische Forschung, S. 277. 180 | Noltze, H.: Die Leichtigkeitslüge, S. 263f. 181 | Beckett, Samuel: »Three Dialogues«, in: Cohn, Ruby (Hg.), Disjecta. Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, London 1983, S. 138-145, hier S. 145.
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zitierten Sentenzen aus den kunsttheoretischen Schriften Samuel Becketts – und auch bildungstheoretisch herrscht weitgehend Konsens darüber, dass ›produktives Scheitern‹ ein zentrales Moment von Bildungsprozessen darstellt182, insofern »Differenzerfahrungen« von Irritation, Nichtkönnen und Nichtwissen per se die »Möglichkeit der Erweiterung, Relativierung oder Veränderung«183 bestehender Verhältnisse bergen. Davon abgesehen, können Irrtümer und Umwege zu neuen Erkenntnissen und Entdeckungen führen, die als solche weder planbar noch überhaupt vorhersehbar gewesen wären: »Im Sinne der Erfahrung ist die schnellste Verbindung von A nach B nicht unbedingt die beste«184, so Holger Noltze. Vor dem Hintergrund all dieser Erkenntnisse und Befunde sollte es bei der Konzeption und Durchführung von Theaterprojekten mit Kindern in geradezu logischer Konsequenz stets darum gehen, ergebnisoffene, recherchebasierte künstlerische Arbeitsprozesse mit ›Lizenz zum Scheitern‹ zu ermöglichen. Die Realität der künstlerischen Praxis innerhalb der Freien Kindertheaterszenen Europas jedoch sieht anders aus: Zum einen ist es ein offenes Geheimnis, dass die freien Theaterschaffenden ihre Produktionen in den allermeisten Fällen unter hohem Zeitdruck bewerkstelligen müssen. Angesichts der kurzen (und geringen) Förderdauer im Rahmen der Projektförderung ist eine Vielzahl von freien Gruppen gemäß dem Motto »Zeit ist Geld« gezwungen, einerseits möglichst schnell zu produzieren, um innerhalb der geförderten Zeitspanne zu vorzeigbaren Ergebnissen zu gelangen, andererseits im ›Fließbandmodus‹ möglichst viele Projekte hintereinander zu realisieren, damit zumindest kumulativ eine kontinuierliche Förderung gewährleistet ist: »In vielen Städten führt die Unterfinanzierung des Freien Theaters oft paradoxerweise zu einer Überproduktion. […] Der reine Überlebenstrieb zwingt zur Massenproduktion«185. So beschrieb etwa Cecilia Billing von der Dockteaterverkstan, einem freien Puppentheaterensemble aus dem schwedischen Osby, ihre Produktionsbedingungen exemplarisch wie folgt: »The first problem is to be given the time for development, innovation, building puppets etc. You are under pressure to all the time produce new performances and you must 182 | Stern, M.: »Tanz als Möglichkeit«, S. 222f. 183 | Ebd., S. 224. 184 | Noltze, H.: Die Leichtigkeitslüge, S. 228. 185 | Evaluation der Freien Theaterszene in Frankfurt am Main, Abschlussbericht der Perspektivkommission im Auftrag des Kulturamtes der Stadt Frankfurt am Main, März 2012, http://www.kultur-frankfurt.de/portal/de/Kulturdezernat/AbschlussberichtderPerspek tivkommissionzurEvaluierungderFreienTheaterszeneinFrankfurt/1291/2370/67661/ mod1947-details1/11.aspx, S. 14.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven produce in a certain time. (As a touring company we always meet a new audience so we do not have to make new performances all the time. But to get grants you are forced to produce.)«
Zum anderen bestehen in aller Regel so rigide Förderkriterien und so konkrete Zielvereinbarungen, zu deren Erfüllung sich die freien Gruppen mit dem Bezug von Geldern vertraglich verpflichten, dass an ein tatsächlich ergebnisoffenes, prozessorientiertes und experimentelles Arbeiten kaum je zu denken ist – von einem etwaigen Scheitern ganz zu schweigen: »Ein wunderbares Wunder wäre, wenn die Freie Szene so gut gefördert würde, dass sich das einzelne Theater Experiment, Suche und Scheitern leisten kann, ohne damit die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen«186, so formulierte es Silvia Pahl vom freien Theaterensemble 3 hasen oben aus Deutschland. Doch von diesem ›wunderbaren Wunder‹ sind die realen Verhältnisse weit entfernt. Die kulturpolitische Aufgabe, »Theaterförderung auch als Risikoprämie zu verstehen«, das heißt, »nicht das, was sowieso funktioniert und erfolgreich ist, sondern auch den Prozess und das Scheitern zu belohnen«, ist als Förderungskategorie, wie Wolfgang Schneider bestätigt, bislang »völlig vernachlässigt worden«187. Auch der Deutsche Kulturrat musste im Jahr 2005, paradigmatisch für die europäische Kulturpolitik insgesamt, feststellen: »An sich sollte insbesondere im Rahmen eines Modellprojektes, in dem beispielsweise neue Methoden der Kulturvermittlung erprobt werden, auch das Scheitern möglich sein, denn es handelt sich eben um eine Erprobung. In der Realität sieht es jedoch bereits seit Jahren so aus, dass ein Scheitern tunlichst vermieden wird, denn ein gescheiterter Projektnehmer hat kaum die Möglichkeit neue Projekte zu akquirieren.«188
Mit anderen Worten: Das Problem ist als solches längst bekannt – eine Lösung bzw. konkrete Gegenmaßnahmen sind jedoch aktuell (noch immer) nicht in Sicht. Hinzu kommt, dass ein etwaiger Misserfolg in aller Regel ausschließlich danach bemessen wird, ob es sich um einen kommerziellen Misserfolg handelt: Was in der neoliberalen Matrix des Wirtschaftsmarktes, die längst auch den ›Markt‹ des Freien Theaters in Europa beherrscht, letztlich über allem steht, ist das Prinzip der Nützlichkeit und Effizienz, der Verwertbarkeit und der Rationalität einer Kosten-Nutzen-Rechnung. Worum es geht, ist »die auf eine
186 | Pahl, Silvia: »Theaterblitzlicht«. Notizen zur »Spurensuche« 2012 in Hannover. Unveröffentlichtes Originalmanuskript, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Verfasserin vom theater 3 hasen oben aus Immichenhain, Deutschland. 187 | Schneider, W.: »Wuppertal ist überall!«, S. 28. 188 | Deutscher Kulturrat: Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion, S. 98.
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Optimierung des Verhältnisses von Aufwand und Ertrag ausgerichtete Industrialisierung der kreativen Prozesse«189. Dies betrifft, und hier erweisen sich die Zusammenhänge und Dynamiken speziell im Bereich des Freien Kindertheaters als in besonderer Weise fatal, nicht etwa ›nur‹ den künstlerischen Sektor selbst, sondern auch jenen der (kulturellen) Bildung, der seit dem educational turn mit den darstellenden Künsten für ein junges Publikum eng verzahnt ist. Im Zuge der allgemeinen Kommerzialisierung und Ökonomisierung gesellschaftlichen Denkens werden auch Bildungsinhalte mehr und mehr nach ihrer ökonomischen Rentabilität bewertet: »Das Bildungssystem wird heute nahezu ausschließlich als Zulieferinstanz für das ökonomische Geschehen gesehen«190, was die »Verkürzung von Bildung zu einer Ware«191 nach sich zieht: Ziel der meisten Bildungsprozesse ist Employability und damit die unmittelbare Verwertbarkeit von Lerninhalten und Kompetenzen für die erfolgreiche Gestaltung von Arbeitsbiografien. »Es geht bloß noch um Qualifizierung – das Brauchbarmachen des Menschen für die Erfordernisse seiner profitablen Verwertung. Der heute permanent vorgebrachte Hinweis auf die Wichtigkeit des ›Bildungsfaktors‹ für das wirtschaftliche Geschehen einschließlich dem schönen Slogan vom lebenslangen Lernen legt somit nur offen, worum es tatsächlich geht: nicht um die ›Bildung von Individuen‹, sondern einzig um die ›Bildung von Kapital‹ durch die qualifikatorische Zurichtung der Subjekte hin auf den Bedarf der potenziellen Käufer der Ware Arbeitskraft.«192
Was für Bildung allgemein postuliert wird, gilt für kulturelle Bildung in nochmals potenziertem Maße: Im Spiegel der Entstehung unserer heutigen Wissensgesellschaften ereignete sich gleichsam ein entscheidender Paradigmenwechsel hinsichtlich der Gewichtung von Kulturtechniken und des wirtschaftlichen Anforderungsprofils an das ›Humankapital‹ der Zukunft: »21st Century societies are increasingly demanding workforces that are creative, flexible, adaptable and innovative and education systems need to evolve with these shifting conditions. Arts Education equips learners with these skills.«193
189 | Noltze, H.: Die Leichtigkeitslüge, S. 85. 190 | Ribolits, Erich: »Vom sinnlosen Arbeiten zum sinnlosen Lernen«, in: Renner, Elke/ Ribolits, Erich/Zuber, Johannes: Wa(h)re Bildung: Zurichtung für den Profit, Wien 2004, S. 40-52 (online unter: http://www.schulheft.at/fileadmin/1PDF/schulheft-113.pdf), hier S. 41 (Herv. i. O). 191 | Ebd., S. 50. 192 | Ebd., S. 48 (Herv. i. O.). 193 | UNESCO (Hg.): Road Map for Arts Education, http://www.unesco.org/new/ fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CLT/CLT/pdf/Arts_Edu_RoadMap_en.pdf, S. 3.
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Entsprechend beschrieb auch Paul Harman die veränderten Produktionsbedingungen der freien Künstler in Großbritannien exemplarisch wie folgt: »From the 1950’s, UK schools welcomed artists of all kinds to give children direct experience of the arts, as part of a full ›education of the whole child‹. Since the 1980’s, public education has been largely reduced to preparing children to serve the economy. They have been graded and tested to show employers how they might be used by business. There is a focus on learning skills of practical use to employers.«
De facto schlägt sich die potenzielle ökonomische Verwertbarkeit kultureller Bildungsinitiativen nicht zuletzt in der Finanzierungsbereitschaft bzw. -höhe von öffentlicher Seite nieder: Für die Entscheidungsträger aus Kultur- und Bildungspolitik ist Macht Mozart schlau? – so der Titel eines vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekts194 – offenkundig noch immer ein entscheidendes, wenn nicht das überhaupt nur veranschlagte Kriterium für Fördermaßnahmen. Das genuin Künstlerisch-ästhetische scheint in aller Regel nicht als Grundrecht und Wert an sich zu gelten und somit keinen ausreichend hohen Stellenwert zu besitzen, um mit öffentlichen Geldern unterstützt zu werden. Förderzusagen knüpfen stets an die möglichen – nichtkünstlerischen – Transfer- oder Anschlusskompetenzen, Nutz- und Buchwerte und ›Umwegrentabilitäten‹ an. Vonseiten der im Feld agierenden Künstler und Vermittler wird dieser Umstand immer wieder bemerkt und – mehr oder weniger zynisch – betont: So gab beispielsweise Elmar Lampson, Präsident der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, anlässlich der Preisverleihung des junge ohren-Preises 2012 in Hamburg zu bedenken: »Ich bin eine Niete in der Mathematik, war ich schon immer und bin es bis heute. Dieses ganze Hantieren mit den Zahlen – ich kann das nicht! Aber ich kann einen dreifachen Kontrapunkt spielen. Warum ist das weniger wert?« Und auch Stéphan Vincent-Lancrin, Projektleiter am Centre for Educational Research and Innovation bei der OECD, erklärte auf einer Fachtagung zu Perspektiven der Forschung zur Kulturellen Bildung im Juni 2013 unmissverständlich: »Ein Mathematiker würde nie auf die Idee kommen, danach zu fragen, ob mathematische Fähigkeiten positive Transfereffekte hinsichtlich des Erlernens von Musikinstrumenten haben – umgekehrt geschieht dies aber die ganze Zeit!« Mit anderen Worten: Ansätze kultureller Bildung stehen unter permanentem Legitimationsdruck. Was zählt, ist nicht die kulturelle Bildung selbst, sondern ihr ›Tauschwert‹. Gesellschaftliche Relevanz wird kultureller Bildung nur oder jedenfalls primär dann zugeschrieben, wenn sie zum Erwerb sogenann194 | Vgl. hierzu »Macht Mozart schlau – Die Förderung kognitiver Kompetenzen durch Musik« (vgl. http://www.bmbf.de/pub/macht_mozart_schlau_kurfassung.pdf).
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ter Schlüsselkompetenzen und Qualifikationen tauglich ist, die im Transfer für arbeitsmarktrelevante Bereiche von Interesse sind. Dies lässt sich vielerorts beobachten: Im Jahr 2002 etwa gab die deutsche Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung e.V. einen grundlegenden Bericht zum Erwerb von Schlüsselkompetenzen durch Kulturelle Bildung heraus. Daraus geht klar hervor, dass es den Herausgebern beim Erwerb dieser Schlüsselkompetenzen um die »Bewertung und Zertifizierung von Bildungswirkungen der kulturellen Bildung für das Arbeitsleben« geht sowie darum, die »positiven Wirkungen kultureller Bildung für den Einzelnen nachzuhalten und sie auch für künftige Arbeitgeber sicht- und erfassbar zu machen«. Ziel sei es, dass jene positiven Wirkungen von Jugendlichen gewinnbringend »in den beruflichen Werdegang eingebracht« und als »zukunftsfähige Ressource« dokumentiert werden können.195 Auffallend ähnlich argumentiert die Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung e. V. auch im Zusammenhang mit dem von ihr in einem von 2001 bis 2004 durchgeführten »Verfahren zur Identifizierung und dem Nachweis von Schüsselkompetenzen durch Kulturelle Bildung«, dem vom Bundesministerium von Bildung und Forschung geförderten Modellversuch namens »Kompetenznachweis Kultur«: Hier geht es um die zu erreichende Zertifizierung der in 34 Teilkompetenzen aufgegliederten Soft Skills, die Jugendliche durch die freiwillige Teilnahme an Angeboten der außerschulischen kulturellen Bildung, etwa in Einrichtungen und Projekten wie Jugendkunst- und Musikschulen, Theater- und Tanzwerkstätten, Literaturbüros oder Medienzentren, im Kindermuseum oder im Jugendzirkus, nachweislich erwerben. Der Nachweis wird in Form eines Kompetenzpasses geführt, »dessen Vorweis die Chancen der PassbesitzerInnen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen soll – und der gleichzeitig die Existenz der Kulturarbeit durch die ›harte‹ Evidenz ihrer Bildungswirkungen legitimiert«196: »Bei einer Untersuchung im Auftrag der projektentwickelnden Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung konnte festgestellt werden, dass Jugendliche, die einen Kompetenznachweis Kultur besitzen, einen größeren Nutzen aus ihrem kulturellen Hobby ziehen als Jugendliche, die das Nachweisverfahren nicht durchlaufen haben. Unternehmer loben die brauchbaren Zusatzinformationen für die Personalauswahl bei Bewer-
195 | Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung e. V. (Hg.): Schlüsselkompetenzen durch kulturelle Bildung. Grundlagen. Sachstand. Positionen, Remscheid 2002, S. 5f. 196 | Mörsch, Carmen: Eine kurze Geschichte von KünstlerInnen in Schulen, http:// kontextschule.org/inhalte/dateien/MoerschKueInSchGeschichte.pdf
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven bungen auf Ausbildungsplätze oder andere Stellen, die im Lebenslauf und in Zeugnissen nicht enthalten sind.«197
Ein entsprechendes Konzept existiert mit dem sogenannten Kulturpass analog auch in der Schweiz. Was sich hier manifestiert, ist das herrschende gesellschaftliche Nützlichkeitsdenken, dass der Erwerb künstlerischer Kompetenzen primär der Ausrüstung der ›Ich-AG‹ dienlich sein und früher oder später in Kapital umsetzbar sein möge. Dass die Ausbildung in und mit den Künsten einen immanenten Wert an und für sich haben und »education in the arts« demnach als primäres Bildungsziel erstrebenswert sein könnte, gerät in Vergessenheit. Anders ausgedrückt: Auch der Bildungsbegriff selbst ist zunehmend dem Diktat des neoliberalen Marktes unterworfen und inhaltlich auf die Fähigkeit des bloßen Vorzeigens abruf barer ›Kompetenzen‹ reduziert198; Wert und Marktwert, Bildungs- und Berufs- (bzw. Kapital-)bildungspotenzial sind häufig untrennbar geworden: »Der Wert ist ein Geschenk der Industrie, nicht eine Qualität der Produkte selbst. Viele kulturpolitische Dokumente verweisen auf den ›kulturellen Wert‹. In solchen Dokumenten wird Wert zu einem entwerteten Begriff, der lediglich aus einer quantitativen Perspektive wahrnehmbar ist, wie z. B. in BesucherInnenzahlen mit statistischen Aufschlüsselungen, die dazu dienen, die soziale Inklusion zu überwachen und Daten für Anzeigenkundinnen und Sponsorinnen bereitzustellen. Solcherart wird der Wert ohne Umstände dem ökonomischen Wert untergeordnet. Der Wert, der wertvoller ist als alle anderen, ist ein ökonomischer. […] Die Vermarktbarkeit der Kultur muss sichergestellt werden: Kultur ist nur dann wertvoll, wenn sie etwas zur ›Ökonomie‹ beiträgt.«199
Die freien darstellenden Künste für Kinder und das allgemeine Bildungssystem in Europa befinden sich somit auf derselben Seite im Kampf gegen das zunehmend strenge Diktat des Marktes. Beide stehen unter einem vergleichbaren Leistungs-, Effizienz- und Vermarktungsdruck der Ökonomisierung und Kommerzialisierung, im Zuge derer sie sich primär als Wirtschaftsfaktor zu rechtfertigen haben.
197 | Schlussbericht der Enquête-Kommission: »Kultur in Deutschland« (Onlinepublikation), S. 388. 198 | Vgl. hierzu den Essay von Türcke, Christoph: »Wie das Lernen sein Gewicht verliert«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1.8.2012, S. 12. 199 | Leslie, Esther: »Mehr Wert für die Inhalte: Die Verwertung der Kultur heute«, in: Raunig, Gerald/Wuggenig, Ulf (Hg.), Kritik der Kreativität, Wien 2007, S. 56-64, hier S. 57.
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Demnach ist abschließend Folgendes festzuhalten: Die von der UNESCO herausgearbeiteten methodisch-ästhetischen Qualitätsparameter für künstlerische Arbeitsprozesse mit Kindern müssen im Kontext des aktuellen Arbeits-, Absatz- und Anerkennungsmarktes nur allzu häufig vernachlässigt werden. Mag die Freie Szene von ihren Produktionsweisen her auch theoretisch prädestiniert sein, um die anerkannten Gelingensbedingungen auf dieser Ebene zu erfüllen, so fehlen ihr praktisch einmal mehr die notwendigen finanziellen Ressourcen.
3.3 Paradoxe Förderkriterien Die gegenwärtige Situation der freien Kindertheaterschaffenden erweist sich somit als hochgradig paradox: Die methodisch-ästhetischen Qualitätsparameter der UNESCO bestätigen die Notwendigkeit einer Arbeitsweise und einer Produktionsästhetik, die mit den herrschenden Sachzwängen eines zunehmend ökonomisierten Kunstmarktes nicht vereinbar sind. Gefordert wird (typisch) ›freies‹ Arbeiten bei gleichzeitiger allgegenwärtiger Unfreiheit und Abhängigkeit der freien Künstler im Hinblick auf finanzielle und strukturelle Absicherungen. Zu diesem grundsätzlichen Paradigma des Paradoxen gesellen sich zahlreiche weitere Fallbeispiele, die die Unvereinbarkeit von Förderkriterien im Kulturförderbereich mit den tatsächlich gegebenen Verhältnissen und Möglichkeiten insbesondere der Freien Szene demonstrieren. Als eine unvollständige Liste allgemeiner Förderbedingungen für freie Gruppen stellte exemplarisch Lotta Brilioth Biörnstad vom schwedischen Arts Council die folgenden Kriterien auf: • • • • • • • •
»High artistic quality Development and renewal Geographical distribution International exchange Diversity Accessibility Gender equality Local and/or regional support.«
Das Befolgen dieser Kriterien allerdings setzt in aller Regel eben jene finanzielle und strukturelle Absicherung bereits voraus, auf die sich die freien Künstler bei Antragstellung allererst bewerben. Hinzu kommen weitere mit der künstlerischen Praxis der meisten freien Kindertheatergruppen unvereinbare Förderkriterien, auf die im Folgenden überblicksartig eingegangen werden soll.
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3.3.1 Hauptberuflich arbeiten Wie etwa Irène Howald über die Auflagen für die Gewährung von Fördermitteln in der deutschsprachigen Schweiz berichtete, ist eines der Förderkriterien im Bereich der Theaterförderung die »Professionalität«, ausgelegt als »mehr als 50 Prozent der Tätigkeiten aktiv im Theater«. De facto jedoch ist die Mehrheit der im Freien Kindertheater beschäftigten Akteure angesichts niedriger Löhne und unsicherer Arbeitsverhältnisse europaweit unabdingbar auf einen Nebenverdienst angewiesen, der der künstlerischen Tätigkeit prozentual durchaus nicht untergeordnet sein muss bzw. kann.
3.3.2 Spielstättennachweis Ebenfalls exemplarisch bestätigte Irène Howald für die Schweiz eine weitere Voraussetzung, die als Förderkriterium in mittlerweile vielen Ländern gilt, nämlich den Spielstättennachweis: »Die (ersten) Aufführungen müssen meistens gewährleistet sein, das heißt, es müssen Kooperationen mit Theaterhäusern/Veranstaltern bestehen. […] Häufiger als früher spielen die Häuser bei der Förderung eine wichtige Rolle, da vermehrt nur Produktionen gefördert werden, die bereits mehrere Vorstellungsorte und -daten vorweisen können.«
Auch dies ist angesichts des allgemeinen Mangels an Spielstätten und Auftrittsmöglichkeiten für die freien Gruppen in vielen Fällen eine Auflage, die das Zustandekommen neuer Projekte verhindert oder zumindest stark beeinträchtigt.
3.3.3 Non-Profit-Kriterien Einen ebenso wichtigen Faktor im Zusammenhang mit der Gewährung von Fördermitteln stellt die jeweilige Gesetzeslage eines Landes dar, die künstlerische Lebensentwürfe, Ensemblegründungen und Projekte mehr oder weniger begünstigt. Beispielhaft seien hier die strukturellen Produktionsbedingungen freier Gruppen in Großbritannien erwähnt, die, wie Paul Harman ausführte, von den Produktionsweisen und auch -ergebnissen, die aus ihnen hervorgehen, nicht zu trennen sind: »The great constitutional problem in the UK is the use of Charity law as the basis for registering a non-profit theatre company. Until recently there was no easy way to create a co-operative company which would meet the non-profit criteria demanded by the funders. So the kind of collectives formed after 1969 in Denmark, Germany or Belgium (asbl) were very hard to create in the UK. We had to use a more complex structure which the artists could not run themselves as directors. It works this way: A registered Charity pays no tax on income or profits and has some other tax advantages. A Charity has to be run by Directors who have no financial interest – so they
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3.3.4 Beschäftigungsverhältnisse auf Angestelltenbasis Ein ähnliches Problem der Förderkriterien und Gesetzeslagen ist – etwa in Deutschland und Österreich – die Frage nach den Beschäftigungsverhältnissen: Tatsache ist, dass das Gesetz im Bereich »Schauspiel« verlangt, dass die Beschäftigung von Schauspielern auf (sozialversicherungspflichtiger) Angestelltenbasis verläuft. Während Künstler im Allgemeinen als selbstständige Beschäftigte gelten können und über die Künstlersozialkasse versichert sind, trifft dies auf Schauspieler, die von ihrem Status her offiziell grundsätzlich »weisungsgebunden« sind, nicht zu. Tatsächlich jedoch ist es in der künstlerischen Praxis freier Gruppen in aller Regel unmöglich, sich nach dieser Maßgabe – die sich offenkundig am Finanzvolumen eines strukturell geförderten Stadttheaters in öffentlicher Hand orientiert – zu richten: Die zu leistenden Versicherungsbeiträge für Angestelltenverhältnisse würden jedes (Projekt-) Budget bei Weitem sprengen. Entsprechend bleiben den freien Theaterschaffenden nur zwei Möglichkeiten: Entweder muss für jedes Projekt eine neue GbR und damit gewissermaßen eine eigene ›Firma‹ (mit Geschäftsführer) gegründet werden, in der alle Beteiligten persönlich haftende (!) Gesellschafter sind – ein immenser organisatorischer Verwaltungsaufwand, der für die Wenigsten zu leisten sein wird. Oder aber die Gruppen müssen ihre künstlerische Arbeit einstellen.
3.3.5 Nationale Interessen Auch im Hinblick auf die Förderung nationaler Interessen und Strukturen lassen sich Unstimmigkeiten hinsichtlich der Finanzierungsmöglichkeiten feststellen, wie unter anderem anhand der Kriterien für Kulturvermittlung in der deutschsprachigen Schweiz festzumachen ist:
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven »In der Kulturförderung der Schweiz ist der Bund subsidiär tätig und unterstützt, ergänzend zu Kantonen und Städten, ausschließlich Vorhaben, die von gesamtschweizerischem Interesse sind. […] Da Vermittlungsprojekte in der Regel nur an einem Ort stattfinden und in einem spezifischen lokalen Kontext mit der Bevölkerung interagieren, ist gesamtschweizerisches Interesse schwierig nachzuweisen.«200
Darüber hinaus betonte Irène Howald speziell für den Bereich des Kinder- und Jugendtheaters: »Grundsätzlich gibt es große Unterschiede zwischen der Förderung in den eher ländlichen Gemeinden und Kantonen und den urbanen Teilen der Schweiz. Eine freie Gruppe kann auf dem Land in einem kleinen Kanton nicht existenzsichernd arbeiten.«
3.3.6 Innovation Wie anhand der beispielhaft angeführten Kriterien aus Schweden deutlich geworden ist, gelten development and renewal nach wie vor als wichtige Beurteilungskriterien für die Freie Theaterszene, wenn es um die Gewährung von Fördermitteln geht. Davon abgesehen, weist auch die viel zitierte UNESCO Convention on the Promotion and Protection of the Diversity of Cultural Expression aus dem Jahr 2005 die Förderung künstlerischer Vielfalt und Spezifität als eines der Hauptziele europäischer Kulturpolitik aus. Eine (produktions-)ästhetische Vereinheitlichung und gar ein Produzieren für den Mainstreammarkt stehen diesen Voraussetzungen diametral entgegen. De facto jedoch sehen sich insbesondere die freien Gruppen angesichts eines zunehmend ökonomisierten Kunstmarktes verstärkt unter dem (Erfolgs-)Druck, mit ihren Produktionen in erster Linie massenkompatible Passepartoutästhetiken und -thematiken zu liefern, die international konkurrenzfähig sind, in standardisierter Serie geliefert werden können und das Risiko der Nichtvermarktbarkeit meiden. Je mehr das Förderkriterium »Auslastung« in den Vordergrund rückt, desto weniger können es sich die freien Theaterschaffenden leisten, Experimente zu wagen, Unkonventionelles auszuprobieren, Tabu- und Reizthemen anzusprechen, und desto mehr muss es darum gehen, möglichst leicht ›konsumierbare‹, der reinen Unterhaltung verschriebene ›Waren‹ zu produzieren, die die eigene Marktfähigkeit garantieren. Dieser Trend zur Kommerzialisierung und Marktorientierung der freien Kindertheaterszenen in Europa wurde von allen befragten Länderexperten unabhängig voneinander als eine der vordringlichsten Negativentwicklungen benannt: »Développement quantitatif important en raison de la banalisation des spectacles jeunes publics en tous genres – retour de formes dramaturgiques formatées par les exigences du marché des produits culturels«, so resümierte 200 | Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste (Hg.): Zeit für Vermittlung, S. 176.
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beispielsweise Maurice Yendt die Situation für Frankreich; Karin Helander beschrieb für Schweden: »Still too many theatres (and adults) are afraid of emotionally strong themes and new innovations. Still a lot of performances for children are based on classical children’s literature, fairy tales and well-known figures in very traditional ways. And lack of money too often results in a coward repertoire and poor stagings.«
Auch Myrtó Dimitriadou konnte im Hinblick auf das Freie Kindertheater in Österreich ergänzen: »Ein Problem ist sicherlich die Finanzierung, viele Gruppen sind gezwungen, den gängigen Geschmack, den Anforderungen des Publikums zu folgen, sonst kriegen sie keine Einnahmen. Das schafft die Unmöglichkeit für manche, konsequent zu bleiben und Richtungen weiter zu entwickeln, weil sie die Produktionen nicht verkaufen können. So etwas ist natürlich kontraproduktiv für die anderen.«
Für Großbritannien konstatierte Paul Harman stellvertretend die folgende gängige Produktionsstrategie: »Original and contemporary theatre forms are only used by the specialist, independent companies. The larger building based producing companies largely present conventional adaptations of children’s books. This is because there is too great a financial risk in offering an ›experimental‹ work in a large theatre which has to sell many hundreds of seats to the public.«
Beispielhaft für die deutschsprachige Schweiz musste aus Sicht der freien Theaterschaffenden Peter Keller vom Theater Arlecchino aus Basel ergänzen: »Da unser Haus nicht subventioniert wird und wir konstant am finanziellen Abgrund stehen, sind wir sehr auf Zuschauereinnahmen angewiesen. Wir müssen immer so programmieren, dass wir möglichst viel Publikum haben. Wir haben uns deshalb, auch als Abgrenzung zu den andern Bühnen in unserer Stadt, auf die neueren Klassiker der Kinderliteratur eingeschworen.«201
201 | Im Repertoire des Theater Arlecchino befinden sich demnach Romanadaptionen von Astrid Lindgren (Pippi Langstrumpf, Pippi im Taka-Tuka-Land, Ronja Räubertochter und Michel von Lönneberga), Michael Ende (Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13), Ellis Kaut (Pumuckl), James Matthew Barrie (Peter Pan), P. L. Travers (Mary Poppins), Rudyard Kipling (Dschungelbuch) und Lyman Frank Baum (Der Zauberer von Oz).
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Mit anderen Worten: Die freien Gruppen, insbesondere die nicht oder nur projektbezogen geförderten, haben in aller Regel nicht die Mittel und Möglichkeiten für die (ästhetischen) Experimente, die förderungstechnisch gleichzeitig von ihnen erwartet werden, und sind angesichts des Marktdiktates mehr oder weniger gezwungen, konventionelles Text- und Repertoiretheater zu spielen, das die Wahrscheinlichkeit voller Säle – und Kassen – aufgrund seiner massenkompatiblen Beliebtheit signifikant erhöht.
3.3.7 Messbare Zwischen- und Endresultate Eine grundlegende Empfehlung der European Agenda for Culture aus dem Jahr 2010, die gleichsam in den strukturellen Qualitätsparametern der UNESCO zu finden ist, ist die Gelingensbedingung der »Evaluation und Qualitätssicherung«: »[E]valuation is the key to developing and sustaining good work and should be undertaken regularly to contribute to informed decision making and improved action in arts education. With this in mind it is proposed: That all projects and programmes should allocate funds from their budgets for evaluation (preferably both internal and external).« 202
Dem gegenüber steht die Tatsache, dass das Mess- und Nachweisbare bzw. überhaupt das Mitteilbare in aller Regel gerade nicht zu den spezifischen Merkmalen künstlerischer Prozesse gehört:
»What is the value of theatre in the lives of children and young people? Much has been written about the value of the arts, and important work is being done across the globe in researching the powerful effects of the arts on children through studies in neuroscience, neuro-education, developmental psychology and related fields. But as much as we can try to measure the impact of what we do, there is also a level at which the impact of art on its audience remains mysterious and unquantifiable. It is the profound and unique meeting of the theatre piece with the audience in a particular time and space that makes theatre so unpredictable and exciting.« 203
202 | Lauret, J.-M./Marie, F. (Hg.): European Agenda (Onlinepublikation), S. 31. 203 | Hardie, Yvette: »President’s Message« anlässlich des Welttages des Kinder- und Jugendtheaters, 20. März 2013, http://www.assitej-international.org/media/55530/ message_2013_yvette.pdf
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Vor diesem Hintergrund erzeugt die in vielen Fällen für den Bezug von Geldern verlangte Evaluation künstlerischer Prozesse im Sinne eines Wirkungsnachweises oder eines erfüllbaren Bildungsstandards nicht selten einen Legitimationsdruck, der der Sache selbst abträglich ist und die gleichzeitig gewünschte Ergebnisoffenheit und Prozessorientierung be- oder gar verhindert.
3.3.8 Arbeitsauftrag: kulturelle Bildung Schließlich ergeben sich auch bestimmte (kindertheaterspezifische) Sachzwänge für das Freie Theater angesichts des zunehmend lauter proklamierten Auftrags, einen Beitrag zur kulturellen Bildung zu leisten. Die entsprechenden Förderangebote nämlich konzentrieren sich – trotz des aufgezeigten Potenzials insbesondere der Freien Szene – vornehmlich auf den Sektor der (ohnehin) staatlich geförderten Institutionen in öffentlicher Hand, sodass für die freien Theaterschaffenden auf diesem Gebiet, wenn überhaupt, dann nur ein Nischendasein übrig bleibt: »Kulturelle Bildungsförderung, die nach langem Ringen nun von Bildungs- und Kulturmitteln gemeinsam ausgestattet wird, konzentriert sich oft auf Schulen oder Kooperationen von Kulturinstitutionen mit Bildungseinrichtungen. Projekte, die […] außerhalb dieser Förderungsrichtlinien in der freien Szene arbeiten, haben es schwer, Geld zu akquirieren, sofern sie sich nicht den Förderkriterien anpassen: Für Kunsttöpfe (aus denen lange nicht alle guten Projekte gefördert werden) sind die Künstler Laien, für Sozialfonds sind die Kosten für eine professionelle Videoinstallation einfach zu hoch. In beiden Fällen ist es schwierig, über die Dauer eines Projektes hinauszudenken: Gewünscht werden innovative Projekte und selten Folgekooperationen oder gar institutionelle Förderungen. Nachhaltigkeit wird so über Finanzierungsauflagen verhindert.«204
Zusammenfassend lässt sich demnach beispielhaft mit Paul Harman konstatieren, was dieser hinsichtlich der aktuellen Entwicklungen auf methodischästhetischer Ebene für die Freie Kinder- und Jugendtheaterszene in Großbritannien beschrieb: »In the last five years or so, we have seen a greater and greater divide between companies. They fall into roughly three groups. A small group who seek to make art for young audiences. A large group who make entertainment theatre which can attract paying audiences, usually based on known folk tales or adaptations of contemporary picture books for younger children and established titles for older children. The largest group now make overtly ›educational‹ theatre, which covers a wide range of participatory or di204 | Berendts, Carolin: »Tanz für alle. Wie der Community Dance Kultur für alle realisiert – und warum die Kulturpolitik Schwierigkeiten damit hat«, in: Schneider, W. (Hg.), Kulturelle Bildung (2010), S. 159-170, hier S. 166.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven dactic products aimed to support aspects of the official curriculum, or to address topics like sex education which teachers assume will be better delivered through dramatised stories or dramatic play.«
Die Tatsache, dass die Gruppe derjenigen, die tatsächlich Kunst für Kinder produzieren wollen und auch können, in dieser Aufzählung nur eine Minderheit darstellt, gehört zu den zentralen Absurditäten des Kunstmarktes und des Kulturfördersystems.
3.4 Zwischenfazit II: Möglichkeiten und Grenzen der Freien Szene Seit den neunziger Jahren hat sich das Freie Kindertheater in Europa sowohl strukturell emanzipiert als auch ästhetisch ausdifferenziert und weiterentwickelt. Darüber hinaus hat es sich in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts hinsichtlich der zunehmend formulierten Funktionsbestimmung, einen expliziten Bildungsauftrag anzunehmen, erfolgreich neu positioniert. Dabei wohnt speziell der Freien Theaterszene in mehrfacher Hinsicht ein besonderes Potenzial inne. Zum einen lässt sich ein spezifisches Kreativpotenzial beobachten, insoweit bestimmte Impulse für den zu verzeichnenden Strukturwandel sowie für ästhetische Innovationen nur unter den Produktions- und Distributionsbedingungen entstehen konnten, wie sie der Freien Szene eigen sind. Allein die typisch ›freien‹ Arbeitsweisen – und das heißt im Wesentlichen: das Arbeiten außerhalb vorher festgelegter Strukturen – haben die Entwicklung eben jener neuen Formate ermöglicht bzw. begünstigt, die die Kindertheaterlandschaften in Europa aktuell prägen und belebt haben. Als der vielleicht wichtigste Faktor ist in diesem Zusammenhang die sparten- und disziplinübergreifende Stückentwicklung zu nennen, der sich die Mehrzahl der freien Gruppen trotz aller Widrigkeiten nach wie vor verschreibt. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die Kreation neuer Stücke, die perfekt auf die Begabungen der jeweils beteiligten Künstler abgestimmt sind, nicht nur per se günstige Voraussetzungen für ästhetische Experimente und Innovationen schafft: In einigen Bereichen, wie etwa im Theater für die Allerkleinsten und im Musik- und Tanztheater für Kinder, stellt die Fähigkeit, im Kollektiv künstlerische Eigenproduktionen zu entwickeln, geradezu eine notwendige Bedingung dar – weil es schlichtweg bis heute beinahe kein nachspielbares Repertoire gibt, auf das die Künstler zurückgreifen könnten. Wie sich insbesondere für den Sektor des jungen Musiktheaters zeigen lässt, sind die für den Stückentwicklungsprozess notwendigen flexiblen Strukturen und Produktionsbedingungen letztlich nur innerhalb der Freien Szene, nicht jedoch an einem institutionalisierten Opernhaus gegeben: »Die teamorientierten Strukturen eines Freien Theaters entsprechen dem Projektcha-
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rakter mehr als die hierarchisch organisierten arbeitsteiligen Strukturen eines […] Stadttheaters«205, so heißt es exemplarisch im sogenannten Mannheimer Manifest zum Musiktheater für ein junges Publikum; und was hier für das Musiktheater proklamiert wird, lässt sich gleichsam allgemein auf das Prinzip eigener Stückentwicklungen innerhalb der freien darstellenden Künste insgesamt übertragen: ›Freie‹ Arbeitsstrukturen erweisen sich hierfür als bevorzugt geeignet. Zum anderen konnte gezeigt werden, dass speziell die Freie Kindertheaterszene zudem über ein besonderes Potenzial verfügt, in der Theaterarbeit mit Kindern den an die Künste herangetragenen Bildungsauftrag zu erfüllen: Sie erweist sich als prädestiniert dafür, auf hohem Niveau kulturelle Bildungsangebote im Bereich der Partizipation zu machen, insoweit die Kompatibilität typisch ›freier‹ Produktionsbedingungen mit den von der UNESCO erarbeiteten Qualitätsparametern besonders hoch ist. Insofern lässt sich festhalten, dass ›freies‹ künstlerisches Arbeiten die Chancen sowohl auf ästhetische Innovationen als auch auf hochwertige kulturelle Bildungsangebote im Bereich des Kindertheaters signifikant erhöht – wenn es nicht gar notwendige Voraussetzung für beides ist. Aber: Die Entfaltung dieses erwiesenermaßen vorhandenen spezifischen Potenzials des Freien Theaters kann nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen – Bedingungen, die von der Kultur- bzw. Bildungspolitik nur allzu selten geschaffen werden. Denn de facto wird das Freie Kindertheater in Europa vonseiten der Kulturund Bildungspolitik nach wie vor weithin vernachlässigt und in seinem Potenzial missachtet oder jedenfalls verkannt. Wie gezeigt worden ist, verhindern fehlende finanzielle Ressourcen, die Sachzwänge und Mechanismen eines zunehmend ökonomisierten Kunstmarktes und darüber hinaus die herrschenden, oft genug paradoxen Förderkriterien es in vielen Fällen, dass die freien Gruppen überhaupt noch typisch ›frei‹ arbeiten können. Prekäre Arbeitsbedingungen machen es den Künstlern ebenso unmöglich, ihr Kreativpotenzial in Form von Innovationen zu entfalten, wie die von der UNESCO aufgestellten Qualitätsparameter für kulturelle Bildungsangebote einzuhalten. Dabei steht Eines außer Frage: Ihre ›Freiheiten‹ produktiv nutzen und somit ihr Potenzial entfalten können die freien Kindertheaterschaffenden nur, wenn sie auch (weitgehend) ›frei‹ sind im Hinblick auf die Sachzwänge des Marktes, wenn also die Freie Szene als eine »Freie Szene mit ausreichend Geld und Zeit« gedacht werden könnte. Dies jedoch ist in der Praxis der meisten europäischen Länder noch immer ein Paradoxon. Freie Gruppen im Bereich des Kindertheaters verfügen in aller Regel weder über (ausreichende) öffent205 | Mannheimer Manifest zum Musiktheater, http://www.assitej.de/fileadmin/assi tej/pdf/2009-12-07_Mannheimer_Manifest.pdf, S. 1.
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liche Fördergelder noch können sie es sich finanziell erlauben, sich für ein Projekt umfänglich ›Zeit‹ zu nehmen; und die fortschreitende Kommerzialisierung des Marktes, auf dem nicht zuletzt Kunst für Kinder verstärkt als reine Handelsware angeboten wird, spitzt die Lage beständig weiter zu. Eine der Folgen dieser prekären Arbeitsbedingungen ist die ebenfalls zunehmende Selbstausbeutung der Künstler: »Wenn die Freie Szene […] für sich in Anspruch nimmt, die Avantgarde des Theaters zu sein, so ist sie in der Form des projektbasierten Ausbeutungsregimes schon lange die kapitalistische Avantgarde«206, so formulierte unlängst pointiert Bernd Stegemann; und auch die allgemeinen Reflexionen Byung-Chul Hans über die implizite »Gewalt- und Zwangsstruktur des neoliberalen Diktums der Freiheit«207 lassen sich nahezu eins zu eins auf die Arbeitsstrukturen der sogenannten Freien Theaterszene übertragen: »Der Ruf nach Motivation, Initiative und Projekt ist wirksamer für die Ausbeutung als Peitsche und Befehle. Als Unternehmer seiner selbst ist das Leistungssubjekt zwar insofern frei, als es keinem gebietenden und ausbeutenden Anderen unterworfen ist, aber wirklich frei ist es nicht, denn es beutet sich nun selbst aus, und zwar aus freien Stücken. Der Ausbeutende ist der Ausgebeutete. Man ist Täter und Opfer zugleich. Die Selbstausbeutung ist viel effizienter als die Fremdausbeutung, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht.«208
Zusätzlich befördert wird dieser Mechanismus der Selbstausbeutung durch den Umstand, dass die herrschende Not in Wirtschaftskreisen immer häufiger zur Tugend umdeklariert wird, indem die Künstler »als perfekte Rollenmodelle für die Ökonomie der Dienstleistungsgesellschaft« herangezogen werden, »in der jede(r) einzelne dazu aufgefordert ist, sich als ›Ich-AG‹ permanent neu zu erfinden«209. ›Kreativ sein‹ wird im Sinne dieser Auslegung zu einer der vordringlichsten ›Schlüsselkompetenzen‹ innerhalb eines neoliberalen Ausbeutungssystems. »One could argue that the quality of theatre for children and youth is an indicator of the maturity and sophistication of a theatre culture in any given country, its sense of vision and responsibility, its deliberate investment in the future theatre audience«210, schrieb Dragan Klaic über den Stellenwert des Kinder- und Jugendtheaters. Vor diesem Hintergrund muss es in jeder Hin206 | Stegemann, Bernd: Kritik des Theaters, Berlin 2013, S. 234. 207 | Han, Byung-Chul: Agonie des Eros, Berlin 2013, S. 16. 208 | Ebd., S. 15. 209 | Mörsch, C.: Eine kurze Geschichte (Onlinepublikation). 210 | Klaic, Dragan: Resetting the Stage. Public Theatre between the Market and Democracy, Bristol/Chicago 2012, S. 75.
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sicht wünschenswert erscheinen, dass die Freie Kindertheaterszene in der Entfaltung ihres Potenzials zukünftig besser unterstützt wird und nicht länger unter ihren Möglichkeiten bleiben muss. Dafür müsste zweierlei so bald wie möglich geschehen: 1.) »Künstler sein, heißt: Widerstand leisten!« »Die Kunst der Courage ist, die Courage nicht zu verlieren. Immer wieder anrennen. Immer im Widerstand. Gegen den Wind. Gegenströmung. Immer das Gleichgewicht machen. Immer wach bleiben«211: Mit diesen Worten beschrieb Marcel Cremer (AGORA-Theater, Saint-Vith) einmal sein allgemeines künstlerisches Selbstverständnis; bei anderer Gelegenheit ergänzte er: »Künstler sein, heißt: Widerstand leisten. Der Narr – und ich bin deren einer – überlebt im Allgemeinen die Könige, die ihn anstellen. […] Ein Künstler ist nicht dazu da, sich auf die Seite der Mächtigen zu stellen oder ihnen zu dienen. […] Wir Künstler stehen auf der Seite der Minderheiten, vor allem wenn wir uns als Künstler des Volkes verstehen […]. Es gehört zur Biographie des Künstlers, dass er niemals die Waffen sinken lassen, niemals den Kampf für die gerechte Sache verweigern dar f.«212
Konkret bezogen auf den notwendigen Widerstand der freien Künstler gegen die marktwirtschaftliche Vereinnahmung ihrer Kunst, kann sich dies auch in einer bewussten Verweigerung bestimmter Fördergelder niederschlagen, insoweit die entsprechenden Förderauflagen die künstlerische Arbeit negativ beeinflussen. Hierüber berichtete exemplarisch Bill Buffery (Multi Story Theatre Company) aus Großbritannien das Folgende: »Firstly, we deliberately do not seek revenue funding. This is because, having worked for 23 years within subsidised theatre, we grew weary of the opaque bureaucracy that came with subsidy. We resented the colonisation of our minds and the eroding of our creative time. We found the constraints in terms of what kind of work we could produce and where we could produce it counter-productive.«
Vorbildlich erscheint in diesem Zusammenhang gleichsam die folgende Einstellung, die Silvia Pahl vom theater 3 hasen oben, gefragt nach ihren Beweggründen, trotz aller Widrigkeiten nach wie vor Kindertheater zu machen, zu Papier brachte: 211 | Cremer, Marcel: »Courage«, in: AGORA (Hg.), Das Engagement der Agora (2012), o. S. 212 | Ders.: »Jenseits der grünen Wiese«, in: AGORA – Das Theater der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (Hg.), Stücke 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, Eigenverlag 2009, zit. nach Agora (Hg.): Das Engagement der Agora (2012), o. S.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven »Uns ist durchaus bewusst, dass unsere gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten (freundlich formuliert) beschränkt sind. Bezogen auf die einzelne Person, die zu uns ins Theater kommt, ist unser Einfluss für eine kurze Zeit ein bisschen größer. Diesen Moment wollen wir nutzen. Jeder noch so kleine Impuls ist es wert, in den Zuschauerraum und damit in die Welt gesetzt zu werden. Wir sind Idealisten, sonst wären wir auch fehl am Platze im Kindertheater.«213
Dem ist nichts hinzuzufügen. Und 2.) »A redefinition of public interest in culture!« »Man sollte sich bewusst machen, dass Sparen bei der Kultur nur marginal zur Sanierung eines Haushalts beitragen kann. Der durch Sparmaßnahmen ausgelöste Schaden ist dagegen immens«214. Mit dieser Äußerung des deutschen Staatsministers Bernd Neumann ergibt sich für die europäische Kulturförderpolitik eine klare Richtung, die da lauten muss: Schadensbegrenzung, und im besten Falle: -behebung! Entsprechend entwarf eine vom österreichischen unabhängigen Forschungsinstitut EDUCULT im Jahr 2011 herausgegebene Querschnittsstudie für die nähere Zukunft des Kindertheaters in Europa die folgenden zwei Horror-Szenarien: »Scenario I: Further budget constrains for public cultural policy and cultural institutions are leading to an even higher concentration on traditional forms of presentation and existing audience. Culture is the final retreat of the diminishing white urban upper class. Scenario II: Further budget cuts of public funding are compensated by cultural institutions through a strong market orientation. Besides concentration on traditional forms, cultural offers are identical with entertainment, serving the taste of the audience. Education will be limited to edutainment activities. As a result cultural institutions will no longer have a consistent image, values of culture and the arts will be indicated by quantities of audiences and return on investment.« 215
213 | Pahl, S.: »Da sein« (unveröffentlichtes Manuskript). 214 | Neumann, Bernd: »Interview«, in: Kunst + Kultur (2009) (online unter: http://www. bundesregierung.de/Content/DE/Interview/2009/12/2009-12-14-bernd-neumannverdi-kunst-und-kultur.html?__site=Nachhaltigkeit). 215 | EDUCULT: European Arts, S. 65.
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Speziell im Hinblick auf den Bereich der kulturellen Bildung ist zudem zu bedenken, dass an der Qualität entsprechender Angebote unter keinen Umständen gespart werden sollte: »Quality arts education programs have impact on the child; the teaching and learning environment, and; on the community, but these benefits were only observed where quality programs were in place. […] It is of significance to note that a number of case studies indicated that bad and poor quality programs, in fact may be detrimental to children’s creative development« 216.
Demnach lässt sich zusammenfassend als worst case scenario durchaus prophezeien, was Paul Harman pointiert wie folgt prognostizierte: »The current austerity measures probably mean that we shall lose most of the improvements in status and public awareness won over the last 30 years.« Um diese Katastrophe zu verhindern, muss die Politik aktiv werden: »Le secteur théâtral jeunes publics français est dans l’attente de la définition et de la mise en œuvre d’une nouvelle politique théâtrale de service public pour jeunes spectateurs au niveau de l’Etat comme des collectivités régionales«, so beschrieb Maurice Yendt paradigmatisch die Erwartungshaltung der französischen Kindertheaterschaffenden, die als solche zweifellos von den meisten Akteuren der Freien Kindertheaterszenen in nahezu allen europäischen Ländern unterschrieben werden könnte. Oder, in den Worten von Dragan Klaic: »What is needed in Europe instead of new theatre laws is a redefinition of public interest in culture and the articulation of instruments, criteria, procedures and resources that will implement these interests through the existing and emerging cultural infrastructure, drawing clear demarcation lines between commercial and non-commercial cultural production and distribution. This redefinition cannot be just a matter of national policy but needs strong regional and local anchoring.« 217
Was dies speziell für das Freie Kindertheater in Europa bedeuten müsste und welche Konsequenzen die europäische Kultur- und Bildungspolitik vordringlich aus den aktuell herrschenden (Miss-)Verhältnissen ziehen sollte, soll im letzten Teil dieser Studie noch einmal gebündelt zusammengefasst werden.
216 | Bamford, A.: The Wow Factor, S. 101. 217 | Klaic, D.: Resetting the Stage, S. 171.
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4. F ünf F orderungen an die K ulturpolitik Welches sind nun also die wichtigsten Desiderate auf dem Gebiet des Freien Kindertheaters in Europa, bezüglich derer die Kultur- und Bildungspolitik sich in der Pflicht sehen müsste, Abhilfe zu schaffen? Welche Maßnahmen sind dringend notwendig, um den freien darstellenden Künsten für ein junges Publikum eine (bessere) Zukunft zu ermöglichen?
4.1 Beendigung der finanziellen Unter versorgung des Freien Kindertheaters! Wie im Zuge dieser Studie demonstriert werden konnte, fehlt es den freien Gruppen in Europa insbesondere im Bereich des Kindertheaters nach wie vor an ausreichender finanzieller Unterstützung. Wenn also die öffentlichen Beteuerungen, Innovation und Kreativität, den Erhalt kultureller Vielfalt und Diversität sowie den Ausbau qualitativ hochwertiger kultureller Bildungsangebote fördern zu wollen, nicht nur Lippenbekenntnisse sind, dann muss zukünftig mehr Geld fließen und es muss – auf staatlicher wie auf kommunaler Ebene – gezielt gehandelt werden. »Förderleistungen in diesem Bereich liegen im ›öffentlichen Interesse‹«, konstatierte paradigmatisch die Enquête-Kommission: Kultur in Deutschland des Deutschen Bundestages218 – nun wird es Zeit, dass Taten folgen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Dies gilt auch, und das sei an dieser Stelle durchaus noch einmal gesondert betont, für den Bereich der kulturellen Bildung: »Sonntagsreden und Alltagshandeln [klaffen, Anm. T. K.] […] fast nirgendwo so eklatant auseinander wie in der kulturellen Bildung. Führende Akteure aus allen Gesellschaftsbereichen zögern nicht, sich immer wieder zu der Bedeutung der kulturellen Bildung für den Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt zu bekennen, konkrete Folgen für die Praxis der kulturellen Bildung bleiben hingegen immer noch zu häufig aus.«219
Entsprechend musste die UNESCO in ihrer Road Map for Arts Education als eine der vordringlichsten Entwicklungsaufgaben in Europa das Folgende benennen: »Acknowledging that budgets for Arts Education are either non-existent or insufficient to cover its routine and development needs«220.
218 | Schlussbericht der Enquête-Kommission: »Kultur in Deutschland« (Onlinepublikation), S. 381. 219 | Ebd., S. 377. 220 | UNESCO (Hg.): Road Map (Onlinepublikation).
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Es besteht demnach akuter Handlungsbedarf, um die Schere zwischen erwarteter Leistung und verfügbarer Gegenleistung nicht noch weiter auseinanderklaffen zu lassen.
4.2 Umgestaltung und Revision hinderlicher Förderkriterien! Die Umgestaltung und Revision hinderlicher Förderkriterien ist ein weites Feld, über das sich pauschal kaum Aussagen treffen lassen, zumal die Kulturfördersysteme und -instanzen in Europa von Land zu Land verschieden sind. Konsens jedoch scheint hinsichtlich der folgenden beiden Forderungen zu bestehen: Zum einen ist es notwendig, dass den freien Kindertheaterschaffenden anstelle einer (bestenfalls) seriellen Projektförderung mehr Chancen auf eine langfristige, strukturelle Konzeptionsförderung eröffnet werden, da allein diese die Planungssicherheit und Kontinuität ermöglicht, die für eine gelingende Organisations-, Personal- und damit Qualitätsentwicklung unabdingbar sind. Zum anderen bedarf es – im Interesse einer fortwährenden Belebung der Szene – einiger visionärer neuer Förderungskonzepte, die auf eine offene Prozessfinanzierung setzen und somit mehr Spielräume für Innovationen und für das Betreten ungewohnten Terrains schaffen: »Kreativität braucht einen Schutzraum, der frei ist von Ergebnisorientierung und wirtschaftlicher Berechenbarkeit«221. In diesem Sinne ist neu über Zielvereinbarungen und über die Vergabekriterien von Fördergeldern für freie Kindertheatergruppen nachzudenken. Was die Szene braucht, sind mitnichten weitere »Effizienzmessungen (beschönigt als Evaluation)« – sondern das »Vertrauen in das Experiment […] und die Akzeptanz des Scheiterns«222 .
4.3 Mehr Spielstätten und Produktionshäuser für das Freie Kindertheater! Insbesondere der Mangel an festen Spielstätten für die Freie Szene schlägt auch im System des Kindertheaters besonders negativ zu Buche223: Wo Freies 221 | Evaluation der Hamburger Privattheater, Hamburg 2008, vorgelegt von Barbara Müller-Wesemann et al., http://www.hamburg.de/contentblob/263646/data/privat theater-evaluation.pdf, S. 11. 222 | Hentschel, I.: Hildesheimer Thesen IX, o. S. 223 | Nochmals verschärft stellt sich das Problem im Bereich des Tanztheaters dar; hier sind beinahe gar keine festen Spielstätten zu verzeichnen und somit existieren trotz der teilweise vorbildlichen Struktur- und Künstlerförderung noch immer kaum Probe- und Aufführungsmöglichkeiten für freie Tanzgruppen (vgl. Figl, Johanna: »›Welche darstellerischen Formen brauche ich?‹, Tanz und Theater«, in: IXYPSILONZETT Jahrbuch [2013], S. 27).
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Kindertheater an sogenannten alternativen Spielorten, also etwa in Schulen, Jugendzentren oder im öffentlichen Raum, stattfindet, ist dies nur selten ästhetisch motiviert, sondern geschieht vielmehr aus rein pragmatischen, finanziellen Gründen – weil schlichtweg keine andere Auftrittsmöglichkeit finanzierbar ist. Umgekehrt lässt sich sagen, dass die freien Gruppen, die über eine (eigene) feste Spielstätte verfügen, ausnahmslos als die ›etablierten‹ bezeichnet werden können und in ihrem künstlerischen Profil auch über regionale oder gar nationale Grenzen hinaus in besonderer Weise ›sichtbar‹ werden, zumal ihnen erhöhte öffentliche und mediale Wertschätzung zuteil wird. Insofern lautet eine weitere Forderung, europaweit mehr Spielstätten für das Freie Kindertheater zu schaffen – und im besten Falle direkt mehr eigene Theaterhäuser für das Kindertheater einzurichten. »Die Zukunft gehört den Theaterhäusern!«, proklamierte Wolfgang Schneider bereits vor einigen Jahren und führte weiter aus, ein »Theaterhaus« könne sein: • »der Ort für Produktion und Präsentation, Identifikation und Interaktion, • das Modell für Koproduktion und Zusammenarbeit, • das Netzwerk des künstlerischen Austausches, auch mit anderen Künsten und anderen Kulturen, • die Agentur für Kulturmanagement, für Gastspiele, Festivals, Kunstvermittlung, für die konzertierte Akquise von Fördermitteln, Sponsoring, Fundraising, Public Relations und andere Marketingmaßnahmen, • das Theaterhaus als Gütesiegel für künstlerische Qualität. Wer dabei sein darf, ist gut, ihre Stiftung Warentest Theater!« 224
Als nationales und/oder regionales Zentrum fungiere ein Theaterhaus für ein junges Publikum als Treffpunkt, Forum und Spielstätte verschiedener Theaterproduzenten, als »interdisziplinäres, interaktives und integratives Theaterzentrum«, als »Vermittlungsagentur«, »Experimentierbühne, Forschungsanstalt, Laboratorium« sowie als »Ideenpool« und »Existenzgründerzentrum für Freies Theater«225. Darüber hinaus sei ein Theaterhaus für Kinder, wiewohl von Erwachsenen initiiert und geleitet, »als Haus und künstlerische Institution immer auch Ort der Kinderöffentlichkeit, die dort hergestellt wird. Es ist eine der wenigen Möglichkeiten, in denen Kinder eine Sphäre der eigenen Öffentlichkeit beanspruchen und entfalten können«226. Insofern komme einem eigenen Theaterhaus 224 | Schneider, W.: »Von Projekt zu Projekt«, S. 90. 225 | Ebd., S. 86. 226 | Richard, Jörg: »Schau-Raum, Aktions-Raum oder Lern-Raum oder …? Überlegungen zur theatralen Grundsteinlegung eines Theaterhauses für Kinder«, in: TheaterZeitSchrift (Kinder- und Jugendtheater, Sonderheft) 1986, S. 48-64, hier S. 63.
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für Kinder nicht nur eine ästhetische, sondern ebenso eine soziale Bedeutung zu. Auch die Frankfurter Perspektivkommission betonte die Vorteile einer unbefristeten Residenz an fester Spielstätte: »Das unterstützt die Identitätsbildung und die Verortung vieler Ensembles, eröffnet durch entsprechende Lagerkapazitäten auch Möglichkeit zur Repertoirebildung […], sichert den ›Hausbesitzern‹ Probenmöglichkeiten, lässt ein vielgestaltiges Programm auch mit kleinen Formaten zu.«227 Die möglichen Nachteile einer festen, eventuell sogar eigenen Spielstätte – wie etwa die Stagnation der künstlerischen Weiterentwicklung, die Verkrustung eingefahrener Strukturen oder das ›Schmoren im eigenen Saft‹ durch Abschottung von der Außenwelt – sind für den Bereich des Freien Kindertheaters bislang nicht zu verzeichnen: Wer das Glück hat, über eine feste Spielstätte zu verfügen bzw. ein eigenes Haus zu verwalten, hört deswegen in aller Regel nicht auf, den öffentlichen Raum mit Site-specific-Projekten zu bespielen, zu touren, sich zu vernetzen und anderen freien Gruppen die Türen für Gastspiele und Koproduktionen zu öffnen. Das »Innovationspotential durch die Theatralisierung verschiedener Orte«228 bleibt demnach erhalten; der grundsätzlich wünschenswerten und kreativ nutzbaren Mobilität des Freien Theaters wird keine Absage erteilt. Oder, wie Marcel Cremer (AGORA-Theater, Saint-Vith) es einmal in einem Bild zusammenfasste, als seine Gruppe ihr neues Haus beziehen durfte: »Der Künstler muss immer die Fremde suchen. Seine Heimat ist der Weg. Sobald das Unbekannte ihm vertraut ist, muss er weiter ziehen. Was ist also das ›Triangel‹, das neue Haus? Es ist unser Heimathafen. Da sind wir verankert. Und da lichten wir die Anker, um immer wieder zu neuen Ufern aufzubrechen. Der neue Ort sagt uns, dass wir nicht nirgendwo sind, sondern irgendwo.« 229
Diese Notwendigkeit, einen »Heimathafen« zu haben und »nicht nirgendwo« zu sein, scheint paradigmatisch auch für das Freie Kindertheater in Europa insgesamt zu gelten.
227 | Evaluation der Freien Theaterszene in Frankfurt am Main (Onlinepublikation), S. 19. 228 | Schneider, W.: »Von Projekt zu Projekt«, S. 86. 229 | Cremer, Marcel: »Vorwort«, in: AGORA – Das Theater der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (Hg.): 30 Jahre AGORA, Eigenverlag 2010, zit. nach AGORA (Hg.): Das Engagement der Agora (2012), o. S.
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4.4 Keine unverhältnismäßige Bevorzugung von Partizipationsformaten! Vor dem Hintergrund der weltweiten Debatten werden derzeit erfreulich viele (öffentliche) Gelder zur Förderung der kulturellen Bildung von Kindern zur Verfügung gestellt. Allerdings zeichnet sich dabei zunehmend eine Schieflage ab, insofern ein unverhältnismäßig großer Anteil dieser Gelder in Vermittlungs- und Partizipationsformate und damit nur in einen ausgewählten Teilbereich kultureller Bildungsangebote zu fließen scheint. Die Förderung des professionellen Theaters für Kinder kommt dabei tendenziell zu kurz.230 Dies lässt sich exemplarisch anhand der aktuellen Kulturförderrichtlinien der Stadt Hamburg demonstrieren: »Während in den letzten Jahren im Bereich der Kulturpädagogik bundesweit ein Ausbau und eine Qualitätssteigerung der Angebote zur Aus- und Weiterbildung zu verzeichnen ist«, so heißt es wörtlich im Rahmenkonzept von 2012, »scheinen die Angebote im künstlerischen Bereich auf eher niedrigem Niveau zu stagnieren«231. Gegenmaßnahmen allerdings sind keine vorgesehen. Vielmehr zielt das geplante Senatshandeln erneut fast ausschließlich auf die Förderung von Formaten ab, die in den Bereich Theaterpädagogik bzw. »Theater und Schule« gehören.232 Ein Paradebeispiel hierfür ist das erklärte Vorhaben, die »Ansprache von Kindern und Jugendlichen seitens der Hamburgischen Staatsoper […] über spezifische Vermittlungsangebote und Projekte [zu] intensivier[en]«, die sich in Analogie zu dem in Hamburg seit Jahren erfolgreich durchgeführten TuSch-Programm gestalten sollen233. So wünschenswert die Realisierung dieses Vorhabens ist, so absurd erscheint es gleichzeitig, der Tatsache, dass es in Hamburg derzeit kein Musiktheater für ein junges Publikum gibt, in diesem Zusammenhang keinerlei Beachtung zu schenken. Ganz ähnlich schildert auch Paul Harman die kulturpolitischen Maßnahmen der jüngeren Vergangenheit in England als in unzulässiger Weise auf Kulturvermittlung beschränkt: »The Labour Government 1997-2010 spent a large amount of money on Creative Partnerships, by which artists were invited to help teachers develop and use more creative methods to deliver the same
230 | Gerade auch im Bereich Tanztheater herrscht hier ein großes Defizit. Wenngleich die Anzahl der freien Gruppen, die für Kinder und Jugendliche produzieren, in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist, kann noch immer nicht von einem selbstverständlich gewordenen kontinuierlichen Angebot für ein junges Publikum gesprochen werden. 231 | Rahmenkonzept Kinder- und Jugendkultur in Hamburg 2012. Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, Dr. 20/4450 vom 12.6.2012, S. 15. 232 | Vgl. ebd., S. 32. 233 | Ebd., S. 17.
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utilitarian objectives. Theatre performances by professionals could play no part in this.« Die auf diese Weise vorgenommene Verengung des Konzepts der kulturellen Bildung und die damit einhergehende Bevorzugung von Partizipationsformaten missachtet den Umstand, dass kulturelle Bildungsprozesse nicht etwa nur über ein Learning by Doing, sondern ebenso über ein »learning by viewing« initiiert werden können; es gerät in Vergessenheit, dass auch Zuschauen eine Form von Partizipation – nämlich auf der Imaginationsebene – bedeutet und keineswegs als ein rein passiver Vorgang zu qualifizieren ist. Demnach können Theaterprojekte mit Kindern als Mittel zum Zweck der kulturellen Bildung keineswegs ausreichen, umfasst Letztere konzeptuell neben der Ausübung von Kunst doch ebenso die Kunstrezeption sowie das »Programm einer ästhetischen Alphabetisierung«234: »In Zeiten der Zeichen, die massenhaft auf uns einstürzen, macht es Sinn, das Sehen zu schulen. Und die beste Methode scheint immer noch die zu sein, Interesse für das zu Sehende zu wecken. Das Theater bietet […] die Möglichkeit, das Sehen in einen Kommunikationsprozess einzubinden, der zwischen Schauspielern und Zuschauspielern die Zeichen der Zeit kodiert und dekodiert.«235
In der »Botschaft zur Finanzierung der Kultur 2012-2015« wird die Bedeutung auch der Rezeption der Künste entsprechend hervorgehoben: »Künste schärfen die Wahrnehmung und entwickeln das Bewusstsein. Es gibt keine bessere Schule des Betrachtens, der Aufmerksamkeit, des Differenzierens als Kunst. Genaues und kritisches Hinhören, Hinsehen, Mitdenken macht die Menschen aufmerksam, ausdrucks- und urteilsfähig.«236 Die Notwendigkeit, das Zusehen zu schulen bzw. überhaupt praktizieren zu dürfen, ist dabei womöglich heute mehr denn je gegeben, wie Ulrich Khuon ausführt: »Gerade weil das Subjekt und seine Wahrnehmungen gegenwärtig einer gnadenlosen persönlichen innerweltlichen Präsenz- und Partizipationspflicht verbunden sind und es kaum möglich scheint, sich davon zu distanzieren oder gar zu dispensieren, könnte der Rückzug aus der anstrengenden Daueranwesenheit in der wahrgenommenen Welt eine Chance für die Künste sein. Der Betrachter darf etwas anschauen, ohne direkt involviert zu sein, er ist gemeint, ohne sofort reagieren zu müssen. Die Kunst könnte dazu bei-
234 | Mollenhauer, K.: Die vergessene Dimension, S. 9. 235 | Schneider, W.: »Wuppertal ist überall!«, S. 30. 236 | Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste (Hg.): Zeit für Vermittlung, S. 124.
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven tragen, dass wir genauer beobachten, gerade weil wir das Wahrnehmen in entlasteter Form fortsetzen.«237
Somit ist Folgendes festzuhalten: So, wie ein schulischer Wahlpflichtkurs »Kreatives Schreiben« in keinem Fall als vollwertiger Ersatz für die Lektüre literarischer Texte und erst recht der klassischen Kanonliteratur fungieren kann, muss die Theaterarbeit mit Kindern entsprechend sinnvoll in ein professionelles Angebot für ein junges Publikum eingebunden werden – und von öffentlicher Seite mindestens dieselbe finanzielle Unterstützung erhalten!
4.5 Wider die marktwirtschaftliche Vereinnahmung von Kunst und Kultur! Eine weitere förderpolitische Schieflage ergibt sich ebenfalls aus einer zu einseitigen Auslegung des Konzepts kultureller Bildung – und zwar diesmal in Richtung einer »education through the arts«, also einer Bildung durch und im Medium der Künste, die die Vermittlung von Wissen und die Förderung des Erwerbs von nichtkünstlerischen Transferkompetenzen zum Ziel hat. Vernachlässigt wird dabei allzu häufig und, wie es scheint, mit steigender Tendenz die von der UNESCO immerhin als gleichwertig eingestufte Dimension einer »education in the arts«, die die Begegnung mit den Künsten selbst als Inhalt und Ziel kultureller Bildung versteht. Wie gezeigt worden ist, sind die Legitimationszusammenhänge, mit denen im öffentlichen Diskurs für die hohe gesellschaftliche Relevanz kultureller Bildungsangebote argumentiert wird, in aller Regel im Bereich der »Sekundäreffekte«, »Anschlussverwertbarkeiten« und »Umwegrentabilitäten« zu verorten. »Dabei sollte eines nicht vergessen werden«, so die vom Deutschen Kulturrat im Jahr 2013 ausgesprochene Warnung: »Der Arbeitsmarkt Kultur ist ein besonderer Arbeitsmarkt. […] Wenn Kunst nur noch nach Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten betrachtet wird, verliert sie ihre Magie und stirbt«238. Daher lautet die vielleicht wichtigste Forderung an die europäische Kulturund Bildungspolitik, im Zuge der Fördermaßnahmen zur kulturellen Bildung von Kindern endlich auch den spezifischen Eigenwert von Kunst und Kultur anzuerkennen. Dass dieser Eigenwert zunehmend in den Hintergrund rückt und im Zuge der fortschreitenden Ökonomisierung der Künste beständig Gefahr läuft, nivelliert zu werden, wurde vonseiten der freien Kindertheaterschaffenden vielfach bestätigt.
237 | Khuon, Ulrich: »Das Wesen von Kultur«, in: Theater heute 8/9 (2010), S. 46f., hier S. 47. 238 | Schulz, G./Zimmermann, O./Hufnagel, R.: Arbeitsmarkt Kultur, S. 333.
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Bill Buffery (Multi Story Theatre Company) aus Großbritannien etwa wies, gefragt nach den größten Desideraten auf dem Gebiet des professionellen Theaters für Kinder, auf den Rechtfertigungszwang des Theaters gegenüber anderen Medien hin, der dazu führe, dass das Theater seinen eigenen Fähigkeiten nicht mehr vertraue und stattdessen versuche, seine ›Konkurrenten‹ zu imitieren: »The serious problems are related to [this]: basically a lack of faith in what theatre has to offer and a scrabbling around to grab what is cool from other entertainment models – TV, video, PC, smartphones or whatever. Theatre starts to apologise for not being the new kid on the block and does its very best to appear light and fluffy and eager to please. And so loses its essential seriousness and sense of purpose. And runs the risk of becoming irrelevant.«
Dieser Trend führe zu einem Identitätsverlust des Theaters, der die Kinder um eben jenes spezifische Potenzial bzw. jenen Eigenwert brächte, den nur das Theater ihnen zu bieten habe: Kinder »don’t need theatre to do what their PC does – their PC does that better. They need theatre to do what theatre does – which is to celebrate the transformative power of the human imagination.« Auch Silvia Pahl aus der deutschen freien Gruppe theater 3 hasen oben beschrieb ihr künstlerisches Selbstverständnis als den gezielten Versuch, mit ihrer Theaterarbeit einen »Gegenpol zum herrschenden Klima« zu schaffen: »Wir leben in einer Gesellschaft, die von einer materialistischen Weltsicht beinahe vollkommen durchdrungen zu sein scheint. Alles, was wir denken und tun, alles, was wir lehren und lernen, alles, wonach wir streben, hat eine Grundlage: Verwertbarkeit. Nahezu alles, was wir tun, hat Ziele oder wenigstens Absichten. Sogar auf Spielen für Kleinkinder ab 0 Jahren (z. B. HABA-Spiele) wird auf der Verpackung aufgelistet, welche Fertigkeiten mit dem Spiel erlangt werden können. Mir scheint, keine unserer Handlungen darf absichtslos sein, weil wir glauben, dass sie dann sinnlos wäre. […] Wir versäumen täglich, einfach da zu sein. Unsere Kinder und wir verlernen zu spielen, um des Spielens willen, Geschichten zu spinnen, um des Erfindens willen, zu tanzen, zu singen, zu weinen. Wir verlernen und vergessen all das oder uns bleibt neben unseren Terminen zur persönlichen Optimierung schlicht keine Zeit mehr dafür.«239
Wenn also das Konzept der kulturellen Bildung nicht selbst dem Marktdiktat unterworfen werden soll, darf es bei der Vergabe von Fördermitteln nicht länger ausschließlich darum gehen, ob ein Theaterprojekt für Kinder etwaiges verwertbares ›Wissen‹ vermittelt – sondern es muss auch nach der genuin künstlerischen, ästhetischen Qualität des Projekts gefragt werden sowie da239 | Pahl, S.: »Da sein« (Unveröffentlichtes Manuskript).
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nach, inwieweit den zuschauenden und/oder beteiligten Kindern die Chance auf eine spezifische ästhetische Erfahrung eröffnet wird. Eine solche ästhetische Erfahrung ist zwar im Unterschied zu den sinnlichen Wahrnehmungserfahrungen des Alltags per definitionem »frei von einer primären Bindung an äußere Aufgaben, Funktionen und Ziele«240: Die »Beziehung, die wir in der ästhetischen Erfahrung zu Objekten auf bauen, unterliegt keiner einseitigen handlungsorientierten Zweckorientierung, sondern der Sinn und Zweck liegt in der Erfahrung selbst begründet.«241 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass ästhetische Erfahrungen keine Funktionen erfüllen. Vielmehr kann ihnen aus vielerlei Gründen sogar ein »Modellcharakter« menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt bescheinigt werden, denn Ästhetische Erfahrungen »sind in der Sinnlichkeit der Wahrnehmung verankert, drängen aber zur reflexiven Verarbeitung, ohne dabei den Bezug zur Körperlichkeit zu verlieren. In ästhetischen Erfahrungen erleben wir uns selbst und die Welt gleichzeitig und werden zu vielfältigen Wechselspielen angeregt: zwischen Sinnlichkeit und Reflexion, zwischen Emotionalität und Vernunft, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Materialität und Zeichencharakter, zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem. Vielleicht ist die grundsätzliche Offenheit, die diese Wechselspiele ausmacht, modellhaft für menschliches Erfahren, Erleben und Erkennen überhaupt.«242
Die kultur- und bildungspolitische Vernachlässigung der Förderung der Bildung in den Künsten ist somit in jeder Hinsicht inakzeptabel, zumal in Zeiten, in denen jede noch verbliebene Oase erhalten und genutzt werden sollte, die es erlaubt, sich für eine Weile den Zwängen des Alltags zu entziehen. Das Theater kann ein solcher Gegen-Ort sein, noch immer und vielleicht mehr denn je. Hier herrscht eine andere Zeit, eine Aus-Zeit; und ein SpielRaum wird eröffnet, in dem das zeitökonomische Verwertungsdenken außer Kraft gesetzt und das Nützlichkeitsparadigma unterlaufen werden kann. »Je bedrückender wir die Bindung an die Normen des Alltags wahrnehmen – Maximierung, Mainstream, Mangel –, desto nötiger haben wir die Erfahrung von etwas Anderem«, so Holger Noltze. »Die einmal gemachte Erfahrung, dass es diesen anderen Ort gibt, verändert den Blick«243.
240 | Brandstätter, Ursula: »Ästhetische Erfahrung«, in: Bockhorst, H./Reinwand, V.-I./ Zacharias, W. (Hg.), Handbuch Kulturelle Bildung (2012), S. 174-180, hier S. 175. 241 | Ebd., S 175. 242 | Ebd., S. 180. 243 | Noltze, H.: Die Leichtigkeitslüge, S. 265.
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Tine Koch »The very word education comes from the Latin word ›educo‹, to lead out (not to cram in), and this is where the arts come in, with their unique ability to develop communication skills and moral and social awareness, to inspire creativity and self-expression, to instil a sense of self-esteem, self-confidence, achievement and hence identity. To produce rounded, responsible future citizens of the world. To question our assumptions and prejudices and reaffirm our basic values and our shared humanity. To crucially give the lie to the idea that nothing really matters any more except money.«244
In diesem Sinne können die Künste als »Abschussrampen in andere Umlaufbahnen funktionieren. Funktionieren, gerade indem sie sich den herrschenden Funktionsprinzipien entziehen«245. Diese ganz eigene Qualität der Künste und damit auch des Freien Kindertheaters gezielt zu fördern, würde nicht nur eine Steigerung der Qualität kultureller Bildungsangebote bedeuten – sondern, bei Lichte besehen, für all jene Kinder, denen solcherlei ästhetische Erfahrungen in und mit den Künsten vergönnt sind, nicht weniger als eine Steigerung der Lebensqualität. Und wäre dies nicht das denkbar schönste Ziel kultureller Bildung?
244 | So die Ausführungen von Michael Attenborough am 2.5.2013 unter http://www. thestage.co.uk/features/analysis-opinion/2013/05/letters-week-may-2-2013 245 | Noltze, H.: Die Leichtigkeitslüge, S. 264.
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Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven
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Unveröffentlichte Manuskripte Cremer, Marcel: »Das Sehen lernen«, Referat im Rahmen des Schultheaterfestivals Spring auf! im Mai 2004 in Luxemburg, unveröffentlichtes Originalmanuskript, freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom AGORA-Theater, Saint-Vith, Belgien. Pahl, Silvia: »Da sein – ein Manifest«, Januar 2013, unveröffentlichtes Originalmanuskript, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Verfasserin vom theater 3 hasen oben aus Immichenhain, Deutschland. Pahl, Silvia: »Theaterblitzlicht«. Notizen zur »Spurensuche« 2012 in Hannover. Unveröffentlichtes Originalmanuskript, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Verfasserin vom theater 3 hasen oben aus Immichenhain, Deutschland.
Liste der befragten E xperten aus Kunst, Politik und Wissenschaft Abel, Gilles (Université de Namur, Belgien) Allen, Beccy (Halfmoon Theatre, Großbritannien) Amsden, Meg (UNIMA-Sektion, Großbritannien) Andrist, Tanja (ASTEJ-Sektion, Schweiz) Baanstra, Jan (De Stilte, Niederlande) Barkey, Kirsten (Pro Helvetia, Schweiz) Baeyens, Lieven (Compagnie IOTA, Belgien) Ben-Horin, Oded (Stord Haugesund University College, Norwegen) Beran, Henrike (Le Nuvole, Italien) Beyeler, Marie (TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen, Deutschland) Billing, Cecilia (Dockteaterverkstan, Schweden) Björklund, Staffan (Dockteater, Schweden) Bobrova, Tatiana (King Festival, Russland) Bral, Filip (Pantalone, Belgien) Brilioth Biörnstad, Lotta (Kulturrådet, Schweden) Brogi, Luciano (Istituto Addestramento Lavoratori dello Spettacolo, Italien) Brooks, Sarah (Office for National Statistics, Großbritannien) Brown, Dan (Big Brum Theatre in Education, Großbritannien) Buchwald, Dorota (IT, Polen) Buffery, Bill (Multi Story Theatre Company, Großbritannien) Burggrave, Evert (Introdans, Niederlande) Burgschuld, Kolja (ASSITEJ-Sektion, Österreich)
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Calmant, Sandrine (Dwish Théâtre, Belgien) Cannon, Ryan (DCMS, Großbritannien) Castang, Emmanuelle (THEMAA, Frankreich) Chaffaut, Brigitte (ONDA, Frankreich) Choi, Young Ai (National University of Arts, Südkorea) Collard, Paul (CCE, Großbritannien) Coppens, Erin (Oorkan, Belgien) Cowan, Chris (Loudmouth Theatre, Großbritannien) Dalla Rosa, Antonella (La Baracca, Italien) dan Droste, Gabi (Theater der jungen Welt, Deutschland) Debefve, Jean (Théâtre de la Galafronie, Belgien) Decroos, Martine (Studio Orka, Belgien) Delaunay, Léonor (Société d’Histoire du Théâtre, Frankreich) de Roo, Ruben (Performing Arts School RITS, Belgien) de Lathauwer, Dirk (Fabuleus, Belgien) Dethier, Brigitte (Junges Ensemble Stuttgart, Deutschland) de Waal, Bianca (TIN, Niederlande) Dimitriadou, Myrtó (Toïhaus Theater, Österreich) Dosch, Verena (Verlag für Kindertheater Weitendorf GmbH, Deutschland) Dostal, Helga (ITI, Österreich) Dupont, Laurent (ACTA, Frankreich) Engel, Thomas (ITI, Deutschland) Fangauf, Henning (kjtz, Deutschland) Fechner, Meike (ASSITEJ-Sektion, Deutschland) Fee, Amy (Dansens Hus, Schweden) Fichtner, Antonia (Universität Hamburg, Deutschland) Fischer, Petra (Junges Schauspielhaus Zürich, Schweiz) Fogel, François (ASSITEJ-Sektion, Frankreich) Förnbacher, Sandra (Universität Bern, Schweiz) Franceschini, Bruno (Franceschini, Droste & Co, Deutschland) Franke, Martin (Het Houten Huis, Niederlande) Galbiatia, Cristina (Trickster-p, Schweiz) Galli, Claudia (ACT, Schweiz) Gardaz, Sophie (Le petit théâtre, Schweiz) Geerlings, Paulien (De Toneelmakerij, Niederlande) Grassl, Stefan (Theater Barfuß, Österreich) Gruber, Helga (Toïhaus Theater, Österreich) Gustafsson, Lena (Teatercentrum, Schweden) Haddon, Anthony (Theatre Blah Blah Blah, Großbritannien) Hakkemars, Frans (UNIMA-Sektion, Niederlande) Hardie, Yvette (ASSITEJ International) Harman, Paul (ASSITEJ-Sektion, Großbritannien)
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven
Hart, Simon (UNIMA-Sektion, Großbritannien) Heid, Katherine (RESEO, Belgien) Helander, Karin (Stockholm University, Schweden) Hendriks, Marielle (Boekman Foundation, Niederlande) Hoffmann, Christel (Hochschule Osnabrück, Deutschland) Horstmann, Tanja (Teatro Due Mondi, Italien) Howald, Irène (ASTEJ-Sektion, Schweiz) Idzikowska, Beata (Central Statistical Office, Polen) Jeschonnek, Günter (Fonds Darstellende Künste, Deutschland) Jücker, Tina (Theater Marabu, Deutschland) Karinsdotter, Anna (Royal Swedish Opera, Schweden) Karr, Ina (Oldenburgisches Staatstheater, Deutschland) Kees, Leandro (tanzhaus nrw, Deutschland) Keller, Peter (Theater Arlecchino, Schweiz) Kettlewell, Sara (Playtime Theatre Company, Großbritannien) Keuppens, Veerle (CJSM, Belgien) Kirschner, Jürgen (kjtz, Deutschland) Kjellkvist, Mia (Teater Eksem, Schweden) Kleingeld, Eline (Vereniging van Schouwburg- en Concertgebouwdirecties, Niederlande) Knecht, Nina (Figura Theaterfestival, Schweiz) Kölling, Barbara (HELIOS Theater, Deutschland) Komlosi, Emmi (Annantalo Arts Centre, Finnland) Krans, Anja (TIN, Niederlande) Kressenhof, Willemijn (TIN, Niederlande) Kroonen, Cali (CTEJ, Belgien) Kucharska, Katarzyna (TASHKA, Polen) Kożuchowski, Hubert (Studio Teatralne BLUM, Polen) Lachenmeyer, Juliane (Verlag für Kindertheater Weitendorf GmbH, Deutschland) Langenegger, Nicole (PhiloThea Figurentheater, Österreich) Laureyns, Joke (Kabinet K, Belgien) Lemke, Anja (HELIOS Theater, Deutschland) Lewis, Linda (Puppet Centre, Großbritannien) Loncar, Vitomira (Mala Scena, Ungarn) Malecka, Barbara (Children’s Arts Centre, Polen) Malmcrona, Niclas (ASSITEJ-Sektion, Schweden) Mansson, Eva (Unga Klara, Schweden) Marples, Dempster (DCMS, Großbritannien) Matheson, Rhona (Starcatchers, Großbritannien) Mayer-Müller, Katharina (MÖP Figurentheater, Österreich) Melano, Graziano (Fondazione TRG, Italien) Metsälampi, Katariina (Annantalo Arts Centre, Finnland)
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Meyer, Anke (Deutsches Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst, Deutschland) Mikol, Bruno (DRAC Île de France/Service du Théâtre, Frankreich) Morawska-Rubczak, Alicja (ASSITEJ-Sektion, Polen) Müller, Linda (NRW Landesbüro Tanz, Deutschland) Norquist, Elin (Kulturrådet, Schweden) O’Hara, Marie (Hurricane Theatre, Großbritannien) Ostertag, Sara (makemake Produktionen, Österreich) Overcamp, Claus (Theater Marabu, Deutschland) Pahl, Silvia (theater 3 hasen oben, Deutschland) Peters, Sibylle (Fundus Theater, Deutschland) Pfeiffer, Gerlinde (Kinderkommission des Deutschen Bundestages, Deutschland) Pfyl, Roger (luki*ju Theater, Schweiz) Plank-Baldauf, Christiane (Ludwig-Maximilians-Universität München, Deutschland) Poiteaux, Didier (INTI Théâtre, Belgien) Pothen, Kurt (AGORA-Theater, Belgien) Planson, Cyrille (La Scène, Frankreich) Rabl, Stephan (DSCHUNGEL, Österreich) Ratkiewicz-Syrek, Anna (Gdansk Theatre, Polen) Rauzi, Maria (Teatro Telaio, Italien) Richers, Christiane (Theater am Strom, Deutschland) Riedl, Gerlinde (Büro des Stadtrates für Kultur und Wissenschaft Wien, Österreich) Rofina, Tanya (ASSITEJ-Sektion, Polen) Rosenfeld, Arthur (Maas, Niederlande) Rosiny, Claudia (Bundesamt für Kultur, Schweiz) Rudnev, Pavel (Moscow Art Theatre, Russland) Rudzinski, Zbigniew (Children’s Arts Centre, Polen) Schade, Jörg (Pyrmonter Theatercompagnie e.V., Deutschland) Schappach, Beate (Institut für Theaterwissenschaften Universität Bern, Schweiz) Schneeberger, Christian (Schweizerische Theatersammlung, Schweiz) Schneider, Wolfgang (ASSITEJ-Sektion, Deutschland) Smits, Jan (Koninklijke Bibliotheek, Niederlande) Sobczyk, Justyna (IT, Polen) Socha, Ela (ASSITEJ-Sektion, Polen) Stasiołek, Katarzyna (POLUNIMA, Polen) Staudt, Rivka (Ministery of Education, Culture and Science, Niederlande) Stephenson, Deborah (Arts Council, Großbritannien) Stüwe-Eßl, Barbara (Interessensgemeinschaft Freie Theaterarbeit Österreich, Österreich) Tacchini, Barbara (Junge Oper Stuttgart, Deutschland)
Freies Kindertheater in Europa seit 1990: Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven
Takei, Yutaka (Compagnie Forest Beats, Frankreich) Terribile, Roberto (Fondazione AIDA, Italien) Timmermans, Jack (De Stilte, Niederlande) Turner, Jeremy (Cwmni Theatr Arad Goch, Großbritannien) Ullrich, Christoph (Laterna Musica, Deutschland) Unseld, Melanie (Universität Oldenburg, Deutschland) van de Water, Manon (ITYARN, USA) van den Eynde, Bart (a.pass: advanced performance and scenography studies, Belgien) van der Meulen, Jamilja (Centraal Bureau voor de Statistiek, Niederlande) van der Mieden, Otto (Poppenspelmuseum, Niederlande) Vanthienen, Annemie (FARO – Vlaams Steunpunt voor Cultureel Erfgoed, Belgien) Venturini, Davide (Compagnia TPO, Italien) Verbrugge, Flora (Theater Sonnevanck, Niederlande) von Löwis, Stephan (kinderkinder, Deutschland) Wallebroek, Veerle (Het Firmament, Belgien) Wartemann, Geesche (Universität Hildesheim, Deutschland) Weber, Brigitta (Theater Eiger, Mönch und Jungfrau, Schweiz) Wellens, Nikol (VTI, Belgien) Werdenberg, Ursula (ITI, Schweiz) Wettmark, Ellen (Kulturrådet, Schweden) Wischnitzky, Eva (Theater Fallalpha, Schweiz) Yendt, Maurice (ATEJ-Sektion, Frankreich) Zagorski, Andrea (ITI, Deutschland) Zeeman, Pieter (Fonds Podiumkunsten, Niederlande) Zini, Carlotta (La Baracca, Italien) Zwaneveld, Brechtje (Theatermaker, Niederlande)
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»Es gibt sie, die ›Freie Musiktheater-Szene‹«. Mit dieser Feststellung beginnt Hans-Jörg Kapp seinen Beitrag zum Freien Musiktheater im deutschsprachigen Raum1, und es ist für das Freie Musiktheater bezeichnend, dass man seine Existenz so betonen muss. Auch ich habe mit Blick auf das Freie Musiktheater in Deutschland dafür argumentiert, dass es zwar durchaus eine lebendige Szene gibt, dass sie aber – zum Beispiel im Vergleich zum Freien Tanztheater – als solche bisher nicht ausreichend in Erscheinung tritt.2 Sie scheint zu heterogen, als dass sie als zusammenhängendes Ganzes wahrgenommen würde, und verschwindet zudem häufig in den übergreifenden Kategorien eines interdisziplinären oder multimedialen Theaters, das im Zuge von Postdramatik und grenzüberschreitendem Arbeiten ohnehin mit allen möglichen Materialien und Medien arbeitet, darunter eben auch der Musik. Was für den deutschsprachigen Raum gilt, gilt auch für Europa insgesamt: Das Freie Musiktheater hat sich weder in der öffentlichen Wahrnehmung noch auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurses bisher in gleicher Weise emanzipieren und etablieren können, wie das dem Freien Sprechtheater und dem Freien Tanztheater gelungen ist. Dies zeigt sich unter anderem auch darin, dass es bislang wenig übergreifende Studien zu diesem Thema gibt, keine empirischen Erhebungen zu den Akteurinnen und Akteuren oder der Publikumsstruktur, kaum internationale Verbandstätigkeit und wenn, dann nur in einzelnen Bereichen des großen Feldes. Das Freie Musiktheater in Europa
1 | Kapp, Hans-Jörg: »Vom Bestellen lokaler Klangfelder. Freies Musiktheater im deutschsprachigen Raum«, in: Eckhard Mittelstädt/Alexander Pinto (Hg.), Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland, Bielefeld: transcript 2013, S. 183-194. 2 | Rebstock, Matthias: »Musiktheater. Spielräume schaffen!«, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Theater entwickeln und planen, Bielefeld: transcript 2013, S. 299-314.
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muss als zusammenhängendes Forschungsfeld überhaupt erst erschlossen werden. 3 Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass dem Freien Musiktheater auch im vorliegenden Band nur ein Exkurs eingeräumt wurde, keine vollständige Studie. Dementsprechend geht es in meinem Beitrag darum, Perspektiven zu formulieren für künftige Forschungsprojekte, die sich den jeweiligen internationalen, nationalen und regionalen Traditionslinien, den kulturpolitischen Bedingungen, den Akteurinnen und Akteuren, Praktiken und Ästhetiken umfassender und systematischer widmen müssten. Dies wäre ein äußerst lohnendes Unterfangen, da das künstlerische Innovationspotenzial des Freien Musiktheaters enorm ist. Eric Salzman und Thomas Desi halten das Musiktheater diesbezüglich sogar für »the most central performance art form of the post-modern world«4. Grundsätzlich gehe ich, wie die meisten anderen Autorinnen und Autoren, die sich mit den freien darstellenden Künsten beschäftigen, von der Annahme aus, dass es einen Zusammenhang zwischen Strukturen, Arbeitsprozessen und Ästhetiken gibt und dass das Innovationspotenzial des Freien Musiktheaters in diesem Wechselverhältnis zu suchen ist. Eine umfassende Unter3 | Selbstverständlich gibt es eine Vielzahl von Abhandlungen zu einzelnen künstlerischen Positionen. In der Musikwissenschaft herrscht dabei eine werkorientierte Perspektive vor: die Beschäftigung richtet sich hauptsächlich auf Kompositionen bzw. Partituren und damit auf das Segment Neues Musiktheater bzw. Neue Oper (siehe 1.3). Die Aufführung als Gesamt der musiktheatralen Erscheinung sowie Aspekte, die sich mit den Prozessen, Produktionsbedingungen oder den strukturellen Rahmungen befassen, werden meist ausgeblendet. Die Theaterwissenschaft ist diesen Themen zwar zugewandt, befasst sich mit dem Musiktheater aber nur am Rande. Eine Musiktheaterwissenschaft hat hier einen besonderen Spagat zu leisten. Wichtige Arbeiten, die das Feld zumindest ausschnittweise in den Blick nehmen, sind: Rebstock, Matthias/Roesner, David (Hg.): Composed Theatre. Aesthetics. Practices, Processes, Bristol: Intellect Ltd. 2012; Hiekel, Jörn Peter (Hg.): Neue Musik in Bewegung. Musik- und Tanztheater heute, Mainz 2011; Salzman, Eric/Desi, Thomas: The New Music Theatre, Oxford: Oxford University Press 2008; Reininghaus, Frieder/Schneider, Katja (Hg.): Experimentelles Musik- und Tanztheater (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 7), Laaber: Laaber 2004; Mauser, Siegfried: Musiktheater im 20. Jahrhundert (Handbuch der musikalischen Gattungen, Bd. 14), Laaber: Laaber 2002. Bemerkenswert ist der Interviewband: Everhartz, Jury/Tornquist, Kristine (Hg.): Fragen an das Musiktheater, Wien 2012. In ihm äußern sich 14 Ensembles des Freien Musiktheaters in Wien zu ihrer Arbeit. Dadurch erscheinen erstmals die getrennten Aktivitäten der Wiener Ensembles gebündelt, und es wird so etwas wie die Wiener Musiktheaterszene konstituiert. 4 | E. Salzman/T. Desi: The New Music Theatre, Klappentext.
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suchung müsste also genau dieses in den Blick nehmen. Demgegenüber muss ich im Folgenden eine Verkürzung vornehmen und konzentriere mich auf die unterschiedlichen künstlerischen Praktiken, das heißt auf Arbeitsprozesse und verschiedene Felder künstlerischer Auseinandersetzung, die mir für das Innovationspotenzial des Freien Musiktheaters charakteristisch scheinen. Die gesellschaftlichen und kulturpolitischen Rahmungen in den jeweiligen Ländern, die Finanzierungssysteme und die sehr unterschiedlichen historischen Traditionslinien können dabei nur angedeutet werden. Wenn ich im Folgenden den Akzent auf das Innovationspotenzial des Freien Musiktheaters setze, dann tue ich dies im Versuch einer doppelten Differenzierung: Eine Bezugsfolie bildet der etablierte internationale Opernbetrieb. Dabei werden unter dem Terminus Oper im Diskurs meist zwei völlig unterschiedliche Aspekte zusammen gezogen: Oper meint einerseits eine bestimmte Struktur, insbesondere der Finanzierung und der Arbeitsweise der Opernhäuser in öffentlicher Trägerschaft; und andererseits ein bestimmtes Repertoire von Stücken, nämlich jene maximal 50 Opern, die international die Spielpläne bestimmen – in vielen Ländern sind es noch weniger – und sich im Wesentlichen auf die Opern des 18. und 19. Jahrhunderts beschränken.5 Mein Beitrag versucht also dem Potenzial nachzugehen, das sich auftut, wenn man sich jenseits dieses Opernbegriffs aufstellt. Dass auch innerhalb der etablierten Struktur Oper, sowohl im Bereich der Arbeitsweisen als auch im Bereich der gespielten Stücke, gegenwärtig Innovationen passieren und neue Potenziale freigesetzt werden, soll dabei keineswegs in Abrede gestellt werden. Diese sind nur nicht Gegenstand dieses Beitrags, da sie nicht unter den Begriff des Freien Musiktheaters fallen. Sie verdienten, in einer anderen Studie untersucht zu werden. Die zweite Bezugsfolie bildet das Freie Theater. Folgt man der herkömmlichen Aufteilung der darstellenden Künste in Sprechtheater, Musiktheater und Tanztheater, wäre hier eigentlich das Freie Sprechtheater gemeint. Da sich das Freie Theater im Zuge der Postdramatik aber gerade von der Idee eines traditionellen Sprechtheaters verabschiedet hat, spreche ich im Folgenden nur vom Freien Theater. Viele der unten näher ausgeführten Fragestellungen und Auseinandersetzungen im Freien Musiktheater sind für das Freie Theater insgesamt charakteristisch. Typischerweise treten sie mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung im Musiktheater auf, sei es zum Beispiel die Beschäftigung mit neuen Räumen oder neuen Formaten, sei es die Reflexion der eigenen Arbeitsbedingungen. Meine Leitfrage lautet hier also: Wie heben sich diese Fragestellungen und Themen im Freien Musiktheater gegenüber dem Freien 5 | Vgl. hierzu Jakobshagen, Arnold: »Musiktheater«, http://www.miz.org/static_de/ themenpor tale/einfuehrungstexte_pdf/03_Konzer teMusiktheater/jacobshagen.pdf vom 24. März 2015.
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Theater ab und inwiefern ergibt sich durch die besondere Stellung der Musik eine Spezifik der Fragestellungen. Die Auswahl der im Folgenden näher besprochenen Projekte und Akteur/innen kann nicht als repräsentativ gelten. Sie erfolgt vielmehr auf Basis der mir zur Verfügung stehenden Informationen und Materialien sowie meiner Kenntnisse und Erfahrungen, die ich als Regisseur und Wissenschaftler in diesem Feld gesammelt habe. Die Auswahl ist aber exemplarisch in dem Sinn, dass die Projekte im Kontext der jeweiligen Fragestellungen bzw. Innovationsfelder relevante Positionen vertreten. Meine Perspektive ist wesentlich durch den deutschsprachigen Raum geprägt und bewegt sich von dort aus in den internationalen. Die unbestritten subjektive Ausrichtung dieser Perspektive zeigt sich im Folgenden unter anderem darin, dass der gesamte osteuropäische Raum ausgeblendet bleibt.6 Um eine wirklich europäische Perspektive zu entwickeln, die den spezifischen Kontexten und den Akteurinnen und Akteuren in den einzelnen Ländern umfänglich gerecht werden könnte, müssten aus meiner Sicht internationale Forscherinnen und Forscher an einem solchen Projekt beteiligt werden. Meine eigenen Recherchen wurden ergänzt durch ein Forschungsseminar, das ich im Sommersemester 2013 an der Universität Hildesheim durchgeführt habe. Mit den Studierenden wurde dabei unter anderem ein Fragebogen entwickelt, anhand dessen sie Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Ensembles geführt und anschließend ausgewertet haben. Die Ergebnisse dieser Interviews bilden eine wichtige Quelle für die vorliegende Darstellung.7 Im Folgenden geht es also darum, Ansätze zu entwickeln, wie man das Feld des Freien Musiktheaters in Europa kartografieren könnte. Je nach dem, aus welchem Blickwinkel man dieses Feld befragt, treten dabei bestimmte Phänomene in den Vordergrund und andere in den Hintergrund. Im ersten Hauptteil werde ich mich mit dem Begriff des Freien Musiktheaters befassen, anschließend mit Traditionslinien bzw. Genres und schließlich mit den Akteur/-innen und Strukturen, die man in diesem Feld antrifft. Im zweiten Hauptteil geht es um künstlerische Praktiken, ihre charakteristischen Strategien und Fragestellungen und ihr innovatives Potenzial. 6 | Die relativ große Zahl von in Berlin basierten Ensembles und Projekten, die im Folgenden zur Sprache kommen, resultiert dabei weniger aus der Subjektivität meiner Perspektive als daraus, dass Berlin zusammen mit Wien die Zentren für Neues Musiktheater in Europa sind. Hier ist die Dichte der Akteure/Akteurinnen im Bereich des Freien Musiktheaters am höchsten. 7 | Mein Dank gilt meinen Studierenden Hannah Ehlers, Sina Leuenhagen, Mireia Ludwig, Gregor Pellacini, Hans Peters, Ines Schmitt, Johanna Seyffert, Patrick Walter und Edgar Wendt.
Spielarten Freien Musiktheaters in Europa
1. B egriffe und S truk turen 1.1 Was heißt »Musiktheater« Die Schwierigkeit der Beschäftigung mit dem Freien Musiktheater in Europa beginnt bereits mit dem Terminus selbst bzw. dem, was darunter in den unterschiedlichen Ländern verstanden wird. Die Bezeichnungen Musiktheater, music theatre und théâtre musical meinen beispielsweise keineswegs dasselbe. Die damit verbundenen Begriffe haben unterschiedliche Geschichten, sind auf unterschiedliche Weise in die Begriffsfelder der Sprachen eingebunden und sind mit unterschiedlichen Anschauungen verbunden. Grundsätzlich lassen sich aber zwei verschiedene Bedeutungen ausmachen, die den internationalen Diskurs bestimmen: 1. Der Terminus Musiktheater dient als umbrella term für alle Formen von Theater, die wesentlich durch Musik bestimmt sind. Darunter fallen die Gattungen Oper, Operette und Musical 8 ebenso wie ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Genres wie Neues Musiktheater, Experimentelles Musiktheater, Instrumentales Theater, Szenische Musik, Szenisches Konzert, Konzertinstallation, musikalische Performance etc. 9 An den Rändern ist dieser Begriff notwendigerweise unscharf und überlappt mit anderen Begriffen bzw. Feldern. Ebenso stößt eine solche Bestimmung des Begriffs Musiktheater über die Summe verschiedener Genres an seine Grenzen, wenn wir es mit musikalisierten Formen von Theater zu tun haben, zum Beispiel bei Einar Schleef, Robert Wilson oder Christoph Marthaler.10 Auch Hans-Thies Lehmann charakterisiert die von ihm unter dem Terminus postdramatisches Theater zusammengefassten Theaterformen unter anderem durch eine grundlegende Musikalisierung. Als Beleg für eine solche Musikalisierung führt er aber auch Arbeiten von Heiner Goebbels und Mere8 | Jacobshagen bezeichnet auch den Tanz als Gattung des Musiktheaters. Vgl. A. Jacobshagen (Onlinepublikation). 9 | Vgl. hierzu auch Wolfgang Ruf: »Neben der Literaturoper und dem politisch engagierten Musiktheater entfaltete sich eine Vielzahl an avantgardistischen musiktheatralen Spielarten, für die es keinen einheitlichen Oberbegriff gibt, sondern eine Reihe von Bezeichnungen wie ›Musikalisches Theater‹ (Stockhausen 1961), ›Sichtbare Musik‹ (Schnebel 1966), ›Visuelle Musik‹, ›Audiovisuelle Musik‹, ›Szenische Musik‹ (Dahlhaus) oder Medienkomposition (H.R. Zeller).« Ruf, Wolfgang: Artikel »Musiktheater«, in: Ludwig Finscher (Hg.), Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Bd. 6, Kassel: Bärenreiter-Verlag 1997, Spalte 1705. 10 | Vgl. Roesner, David: Musicality in Theatre, Farnham: Ashgate 2014; und ders.: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen: Gunter Narr 2003.
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dith Monk an, also Beispiele des Musiktheaters. Das Verhältnis der Begriffe Postdramatisches Theater und Musiktheater bleibt damit zunächst unklar.11 Festhalten lässt sich aber bereits hier, dass der Begriff des Musiktheaters nicht als feststehende Kategorie verstanden werden darf. Es gehört zum Grundcharakter der Künste seit dem 20. Jahrhundert, die etablierten terminologischen Grenzen, Gattungen und Genres zu unterlaufen. Ihr eigentliches Metier ist das Dazwischen: das, was sich eindeutigen Zuschreibungen entzieht. »Musiktheater« wird so mitunter eher zu einer bestimmten Perspektive, aus der man auf Phänomene blicken kann. Diese zeigen, wenn man sie aus dieser Perspektive beobachtet, Züge, die sie nicht zeigen würden, betrachtete man sie unter anderen begrifflichen Vorzeichen. Es ist aus meiner Sicht also weniger fruchtbar zu diskutieren, ob Christoph Marthalers Arbeiten Musiktheater sind oder nicht, sondern was man über die Stücke erfährt, wenn man sie als Musiktheater auffasst – und welche Gründe dafür sprechen, dies zu tun. Ähnlich wäre es mit bestimmten Arbeiten von Xavier le Roy oder Sascha Waltz. Auch sie wären mit guten Gründen als Musiktheater und als Tanztheater zu betrachten und legen dabei jeweils unterschiedliche Aspekte frei, verweisen auf unterschiedliche Diskurse. 2. Neben diesem weiten Sinn wird »Musiktheater« im Diskurs häufig in einem engeren Sinn gebraucht, und zwar als Gegenbegriff zu »Oper«. Es ist wichtig zu sehen, dass dieser Begriff von Musiktheater keine reine Gattungsbestimmung ist, sondern (zumindest im Kontext des deutschen Staats- und Stadttheatersystems) eine programmatische Note hat: Musiktheater beansprucht progressiver, flexibler, heutiger zu sein als die als schwerfällig und ästhetisch rückständig geltende Oper.12 Ebenso ist für diese Gegenüberstellung von Oper und Musiktheater typisch, dass sich ästhetische Aspekte mit institutionellen vermischen. Mit »Oper« wird beispielsweise die Zentralstellung des handlungstragenden Gesangs ebenso verbunden wie der große Orchesterapparat (als Besetzung der Stücke, aber auch als von einer Institution vorgehaltene Struktur) und das öffentlich subventionierte Opernhaus selbst; »Musiktheater« steht im Gegensatz dazu für die kleinere Form, den flexibleren Apparat und die Gleichberechti11 | Siehe hierzu 1.3. Statt einer Begriffsbestimmung über die Summe verschiedener Genres bietet sich ein systematischer Zugang an: Musiktheater wäre dann dasjenige Theater, bei dem die Musik für die Sinnproduktion oder strukturell konstitutiv wäre oder handlungsrelevante Dimension hätte. (Zum Begriff der Handlungsrelevanz vgl. Plank-Baldauf, Christiane: »Erzählen mit Musik – Erzählte Musik«, in: Das Magazin 5 [2012/13], S.56-63.) In der Praxis stößt aber auch eine solche Definition an Grenzen. 12 | Die innovative Färbung, die der Ausdruck Musiktheater dabei über lange Zeit ausgestrahlt hat, ist heute allerdings weitgehend verblasst. Vgl. hierzu auch H.-J. Kapp: »Vom Bestellen lokaler Klangfelder«, S. 184.
Spielarten Freien Musiktheaters in Europa
gung der eingesetzten Theatermittel, die so weit führen kann, dass im Musiktheater der Gesang gar nicht vorkommen muss. Historisch gesehen bezieht diese Bedeutung von Musiktheater entscheidende Impulse aus dem Musiktheater der sechziger Jahre, das in wechselnder Terminologie als Neues oder Experimentelles Musiktheater bzw. Instrumentales Theater bezeichnet wird (siehe hierzu auch 1.3). Aber auch für den Bereich der Kammeropern, die sich nicht diese radikale Abwendung von der Oper zu eigen gemacht haben, sondern formal an der Tradition der Oper festhalten, lässt sich die Gegenposition zu den Opernhäusern ausmachen. Die freien Kammeropern grenzen sich ab vom großen Apparat, der eingeschränkten Programmierung eines standardisierten Spielplans und favorisieren andere Modelle, um Inszenierungen zu erarbeiten, zum Beispiel durch eine engere Kooperation zwischen Dirigentinnen und Dirigenten sowie Regisseurinnen und Regisseuren. Über diese zwei grundsätzlich verschiedenen Bedeutungen von »Musiktheater« hinaus gibt es je nach Theatertradition in den verschiedenen Sprachräumen weitere Unterschiede, die auf unterschiedliche theaterhistorische Entwicklungslinien verweisen. Im deutschen Sprachraum gibt es zum Beispiel noch eine dritte, ebenfalls programmatische Verwendung, bei der »Musiktheater« gegen »Oper« gesetzt wird und bei der ebenfalls institutionelle Aspekte mitschwingen: »Musiktheater« steht hier für das Programm, anspruchsvolles, zeitgenössisches Theater zu machen. Für dieses Verständnis von Musiktheater war Walter Felsenstein, Gründer und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg, maßgebend. In dieser Bedeutung steht der Terminus also für ein bestimmtes Bild der Operninszenierung, die sich von den überkommenen, typischen Sängergesten verabschieden und auch als Theater ernst genommen werden will. In diesem Sinn bezeichnen sich heute auch eine Reihe von Opernhäusern, zum Beispiel die Komische Oper Berlin, als Musiktheater. Im englischsprachigen Raum ist der Terminus music theatre weit weniger etabliert als im deutschen und wird stärker mit Musicals assoziiert: »Ambitious modern musicals with a pretense to do more than merely entertain are as likely to be designated ›music theater’ as anything else.«13 Tatsächlich ist die Musicaltradition in Großbritannien viel stärker als irgendwo sonst in Europa, was nicht nur die Broadwaymusicals betrifft, sondern auch die Tradition klein besetzter, ästhetisch avancierter Musicals. Demgegenüber ist zum Beispiel im deutschen Sprachraum das Feld des Musicals weitgehend den großen, kom-
13 | E. Salzman/T. Desi (Hg.): The New Music Theatre, S. 5.
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merziellen Produktionen überlassen. Für das Freie Musiktheater spielt es eine untergeordnete Rolle.14 Salzman und Desi machen in New Music Theatre ebenfalls die skizzierten zwei Bedeutungen von »music theatre« aus, die sie als »inclusive« and »exclusive« bezeichnen: »The inclusive meaning of the term can encompass the entire universe of performance in which music and theatre play complementary and potentially equal roles. In this sense, opera can be seen as a particular and historical form of music theatre […] However, when we say new music theatre in this book, we use the term in a way that is almost always meant to exclude traditional opera, operetta and musicals.«15
Die engere, »exclusive« Bedeutung soll dabei das ganze Spektrum an Formen zwischen Oper und Musical abdecken. Auffallend ist zum einen, dass der weite Sinn von music theatre bereits stärker von Aufführungen (»performance«) als von Stücken oder Werken ausgeht, wie das im deutschen Kontext der Fall ist. Zum anderen wird deutlich, dass nach Salzman und Desi der Begriff New Music Theatre weiter gefasst ist als »Neues Musiktheater« im Deutschen. Sie fassen darunter auch klein besetzte Opern (»small-scale opera«)16. Der deutsche Begriff Neues Musiktheater ist hingegen enger gefasst und ist maßgeblich durch die Theatralisierung der Neuen Musik seit den sechziger Jahren geprägt. Auch der französische Terminus théâtre musical kennt die zwei Spielarten eines übergeordneten Sammelbegriffs und eines sich programmatisch von der Oper abgrenzenden Genres. So definiert beispielsweise 1980 eine Kommission des Kulturministeriums den übergeordneten Begriff folgendermaßen: »spectacle théâtral dont la dramaturgie est essentiellement commandée par un projet musical et n’a de sens que par rapport à celui-ci«.17 Im engeren, der Oper gegenübergestellten Sinn erfuhr der Begriff Mitte der siebziger Jahre seine Prägung, als sich in Frankreich im Anschluss an die 68er Bewegung und in Opposition zu den etablierten Opernhäusern eine Reihe von freien »Ateliers de
14 | Eine besondere Rolle spielen in Großbritannien die musikalisch anspruchsvollen Musicals von Stephen Sondheim. In Deutschland bildet die Neuköllner Oper in Berlin eine Ausnahme. Sie hat sich insbesondere durch die Produktionen von Peter Lund einen Namen für kleinformatige, zeitkritische Musicals gemacht hat. In Holland wäre für den Bereich freier Musicalproduktionen das Produktionshaus M Lab in Amsterdam zu nennen. 15 | Ebd. (Herv. i. O.). 16 | Ebd., S. 4. 17 | Zit. nach Durney, Daniel: »Théâtre et Musique. France – Annees 80«, in: Les Cahiers du CIREM No. 4-5 (1987), S. 14.
Spielarten Freien Musiktheaters in Europa
théâtre musical« gründeten.18 Zum einflussreichsten ›Atelier‹ avancierte seit seiner Gründung 1976 das ATEM (l’Atelier de Théâtre et Musique) in Bagnolet um den Komponisten Georges Aperghis.19 Gegenüber dem deutschen »Musiktheater« und dem Englischen »music theatre« ist der französische Begriff théâtre musical also enger gefasst. Der Terminus ist gebunden an Formen zeitgenössischen Musiktheaters und entspricht eher dem, was unter »Neuem Musiktheater« bzw. »New Music Theatre« verstanden wird.
1.2 »Frei« oder »independent«? Der deutsche Terminus Freies Musiktheater ist wie das Freie Theater insgesamt nur im Kontext des Theatersystems im deutschsprachigen Raum und aus der historischen Situation der siebziger Jahre heraus zu verstehen. Dieses Theatersystem nimmt eine Sonderstellung in Europa ein. So schreibt Henning Fülle: »Die deutsche Theaterlandschaft ist einzigartig auf der Welt. Diese von Kulturpolitikern und Feuilletonisten gern gebrauchte Feststellung meint die Besonderheit des ›deutschen Systems‹: etwa 150 Theaterhäuser mit angestelltem und besoldetem künstlerischen Ensemble und durchgehendem Repertoire-Spielbetrieb in allen Sparten der darstellenden Künste, in öffentlicher (kommunaler und staatlicher) Trägerschaft. Doch einzigartig ist auch die Parallelstruktur des ›Freien Theaters‹, die sich seit Ende der Siebzigerjahre herausgebildet und inzwischen so weit etabliert hat, dass ihre Bedeutung und die Notwendigkeit ihrer Finanzierung wohlwollend anerkannt werden.« 20
Der Impuls für die Entwicklung einer solchen »Parallelstruktur« eines Freien Theaters in den siebziger Jahren hatte mit bestimmten gesellschaftlichen und politischen Zielen im Anschluss an die 68er Bewegung zu tun, die nur »außerhalb des institutionellen Systems der ›autoritär‹ regierten bürgerlichen Bildungstempel«21 realisiert werden konnten, sodass man sich von diesen Institutionen befreien und außerhalb neu aufstellen musste. Nur in diesem Sinn 18 | Zum Beispiel l’Atelier lyrique du Rhin, gegründet 1974 in Colmar, l’Atelier de Théâtre et Musique (ATEM), gegründet von Georges Aperghis in Bagnolet im Jahr 1976 oder die Péniche-Opera in Paris 1982(vgl. ebd., S. 11). 19 | Für eine ausführlichere Darstellung der Arbeit und Prinzipien des ATEM siehe Rebstock, Matthias: »›Ça devient du théâtre, mais ça vient de la musique‹: The Music Theatre of Georges Aperghis«, in: ders./D. Roesner (Hg.), Composed Theatre (2012), S. 223-242. 20 | Fülle, Henning: »Freies Theater – Worüber reden wir eigentlich?«, November 2012, http://www.festivalimpulse.de vom 1. Juni 2013. 21 | Ebd.
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waren die neu entstehenden Theaterformen frei; selbstverständlich nicht im Sinne einer Freiheit von finanziellen Einschränkungen oder Ähnlichem – ganz im Gegenteil.22 Das Musiktheater spielte für diese Befreiung kaum eine Rolle. Zwar übten die Fluxusbewegung, die sich zunächst als musikalische Bewegung verstand, und die antiautoritären Happenings und Aktionen von John Cage seit den sechziger Jahren großen Einfluss auch auf die Theaterwelt aus, doch gerade in institutioneller Hinsicht entwickelte das Musiktheater kaum eigene Ansätze. Die meisten Stücke Neuen oder Experimentellen Musiktheaters der siebziger Jahre wurden innerhalb der Strukturen aufgeführt, die die Neue Musik insbesondere im Umfeld der Rundfunkanstalten entwickelt hatte. Parallelstrukturen zu den Opernhäusern entwickelten sich zunächst nicht in größerer Zahl.23 Die Gründung freier Opernensembles setzte erst in den achtziger Jahren ein und erhielt insbesondere in den beiden Zentren Wien und Berlin Ende der neunziger Jahre einen weiteren starken Impuls24. Gegenüber dem Freien Thea22 | Rainer Simon setzt sich in seinem Band: Labor oder Fließband? Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern, Berlin: Theater der Zeit 2013, ebenfalls mit dem Begriff des Freien Musiktheaters auseinander. In Abgrenzung zu den Ausführungen von Arnold Jacobshagen in dessen Handbuch Praxis Musiktheater (Laaber: Laaber 2002) betont Simon, dass die Freiheit des Freien Musiktheaters nicht mit »Voraussetzungslosigkeit« gleichzusetzen sei, wie das Jacobshagen täte. Ohne hier auf Simons Lesart der Definition von Jacobshagen näher eingehen zu wollen, liegt es auf der Hand, dass keine Form von Theater voraussetzungslos ist, weder sozial noch ökonomisch. Problematisch ist aber die Folgerung, die Simon aus dieser Feststellung zieht: Die Freiheit sei daher also immer – sowohl bezüglich des Stadt- und Staatstheaters als auch des Freien Theaters – nur eine »relative« (R. Simon: Labor oder Fließband, S. 15). Und daher seien unter Freiem Musiktheater »Arbeiten« zu verstehen, »die von gewissen Produktionskonventionen, die traditionellen Opernaufführungen zugrunde liegen […] unabhängig beziehungsweise frei sind« (ebd.) – und zwar egal, ob sie an Opernhäusern oder im Bereich des Freien Musiktheaters produziert werden. Auf diese Weise gibt es dann auch an staatlichen Opernhäusern »freie Musiktheaterproduktionen«. Simon verliert bei dieser Definition nicht nur die historischen Zusammenhänge aus dem Auge, sondern übergeht auch alle politischen, finanziellen und institutionellen Unterschiede zwischen Opernhäusern in öffentlicher Trägerschaft und dem Freien Musiktheater. 23 | Ausnahmen sind die Neuköllner Oper in Berlin, die sich zunächst 1972 formierte und seit 1977 als eingetragener Verein besteht, und die Pocket Opera Company in Nürnberg, die 1974 von ihrem Regisseur Peter B. Wyrsch zunächst als opernstudio nürnberg e.V. gegründet wurde. Auch das Theater am Marienplatz in Krefeld besteht bereits seit 1976. 24 | Beispiele für Neugründungen wären: Zeitgenössische Oper Berlin (1997), a rose is Berlin (1997), Wiener Taschenoper (Neugründung 1999), ZOON Musiktheater Wien
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ter war die Herausbildung eines Freien Musiktheaters also weniger politisch, gesellschaftlich oder soziokulturell motiviert. Es ging vielmehr darum, ein von den Opernhäusern nicht abgedecktes Repertoire an Stücken aufzuführen; es ging um einen leichteren, flexibleren Apparat sowie um Themen, die näher an der Gegenwart und am Leben der Menschen sind. Dementsprechend lag von Anfang an auch ein Schwerpunkt auf neuen Stücken und Uraufführungen. Das Freie Theater hat sich seit diesen Anfangsjahren selbstverständlich stetig gewandelt. Heute fällt ein Spektrum an Theaterformen darunter, das von der Laiengruppe ohne Förderung bis hin zu international agierenden, hoch professionellen Ensembles reicht, seien das She She Pop oder Rimini Protokoll. Dies trifft in ähnlicher Weise auf die heutige Szene Freien Musiktheaters zu, bei der das Spektrum insbesondere von Nachwuchsproduktionen im Umfeld der Hochschulen bis zu denen von Heiner Goebbels mit dem Ensemble Modern oder internationalen Festivalproduktionen reicht, die europaweit oder weltweit touren. Ob all diese Formen des Theaters bzw. Musiktheaters noch sinnvoll unter den gemeinsamen Terminus Freies Theater bzw. Freies Musiktheater gebracht werden können, ist zu diskutieren.25 Klar ist aber, dass diese Termini im Deutschen sehr stark von der Geschichte geprägt sind und nicht unabhängig davon verwendet werden können. Im internationalen Kontext, der nicht in gleicher Weise von der Konkurrenz dieser Theatersysteme geprägt ist, ist der Begriff weniger programmatisch aufgeladen und kann pragmatischer definiert werden: independent music theatre meint damit also im Folgenden alle Formen von Musiktheater auf professionellem Niveau, die nicht an Häusern in öffentlicher Trägerschaft produziert werden und keine rein kommerziellen Interessen verfolgen.
1.3 Genres und Diskurse Wie die Diskussion des Begriffs Musiktheater gezeigt hat, ist die Abgrenzung verschiedener Genres innerhalb des Feldes ein schwieriges Unterfangen und auf den ersten Blick für unser Thema auch eher unproduktiv. Allerdings ist für das Musiktheater typisch, dass die verschiedenen Genres auch mit unterschiedlichen Produktionsorten, Distributionswegen, Publikumsgruppen und öffentlichen wie fachlichen Diskussionen, das heißt mit unterschiedlichen Diskursen zusammenfallen, mithin zu unterschiedlichen ›kulturellen Systemen‹ bzw. ›Szenen‹ gehören. Die alte Frage, ob in der Oper die Musik oder der (1994), Neues Wiener MusikTheater (1999), Musikwerkstatt Wien (1999). Vgl. hierzu auch H.-J. Kapp: »Vom Bestellen lokaler Klangfelder«. 25 | Vgl. Matzke, Annemarie: »Das ›Freie Theater‹ gibt es nicht. Formen des Produzierens im gegenwärtigen Theater«, in: W. Schneider (Hg.), Theater entwickeln und planen (2013), S. 259-272 (online unter: http://www.festivalimpulse.de vom 1. Juni 2013).
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Text (die Handlung, das Theater) die erste Rolle spiele, stellt sich heute eher in der Form, ob das Musiktheater als Teil der ›Musikwelt‹ oder der ›Theaterwelt‹ aufgefasst wird. Einer der Gründe, warum das Freie Musiktheater nicht als eigene Szene in Erscheinung tritt, besteht also darin, dass es sich auf unterschiedliche kulturelle Systeme aufteilt, die teilweise wenig Kontakt zueinander haben. Vor diesem Hintergrund ist weniger eine Unterteilung in Genres als solche, sondern in die damit verbundenen Diskursfelder durchaus aufschlussreich. Meine Beobachtung ist, dass sich drei solcher Diskursfelder ausmachen und anhand bestimmter Genres differenzieren lassen:26 Das erste Feld wird durch die Aufführung von small scale operas, kleinformatigen Musicals und Bearbeitungen von Repertoireopern gebildet. Unter small scale operas fallen dabei sowohl die Barockoper, die durch die Freie Szene einen wesentlichen Impuls erhalten hat 27, als auch meist selten gespielte oder überhaupt erstmals wieder entdeckte Kammeropern, insbesondere des frühen 20. Jahrhunderts. Unter Opernbearbeitungen verstehe ich Produktionen, die es sich zur Aufgabe gesetzt haben, mit einem kleinen und flexiblen Apparat gerade die bekannten Opern neu und anders zu erzählen. Dies kann durch Bearbeitungen, Neuarrangements der Musik, Verlagerung der Geschichten in andere Kontexte, Einbindung anderer Texte oder Musiken oder Ähnliches geschehen. Dieser Ansatz, wesentlich freier mit den Stoffen und insbesondere den Kompositionen umgehen zu können, als das an den Opernhäusern der Fall war (und ist), bildete einen wesentlichen Impuls für die Gründung einer Reihe von ›Taschenopern‹ und ist bis heute ein wichtiger Profilfaktor vieler freier Opernensembles.28 Trotz teilweise großen Publikumserfolgs fällt es diesem Ansatz nach meiner Beobachtung aber schwer, sich einen eigenen Platz im Opernoder im Theaterdiskurs zu erarbeiten.
26 | Diese These müsste durch entsprechende Diskursanalysen überprüft werden, was ich hier aber nicht leisten kann. 27 | Auffällig ist, dass sich eine Reihe von Ensembles sowohl auf Barockopern als auch auf Neue Opern bzw. Neues Musiktheater spezialisiert haben, zum Beispiel das Muziektheater Transparant in Antwerpen oder die Musikwerkstatt Wien. Vgl. zu letzterem J. Everhartz/K. Tornquist (Hg.): Fragen an das Musiktheater, S. 55f. Ebenso haben sich eine Reihe von Festivals dieser Gegenüberstellung von alter und neuer Musik bzw. Musiktheater gewidmet, zum Beispiel die Schwetzinger Festspiele oder die seit 2012 von Mirella Weingarten geleitete Schlossmediale Werdenberg, Schweiz. 28 | Zum Beispiel Neuköllner Oper, Berlin, Pocket Opera Company Nürnberg, Berliner Kammeroper, das andere opernensemble München, Totales Theater Wien oder Tête à Tête Opera in London.
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Das zweite Feld bildet sich um Neue Opern und Neues Musiktheater29. Obwohl diese beiden Genres historisch und ästhetisch gesehen teilweise fast konträr zueinander standen bzw. stehen, fasse ich sie hier zusammen, da sie in einem gemeinsamen Diskurs stehen, nämlich dem der Neuen Musik. Das Neue Musiktheater steht dabei in der Tradition der sechziger Jahre und ist mit Komponisten wie John Cage, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel, Vinko Globokar oder György Ligeti verbunden. Diese Form des Musiktheaters ist verkürzt gesagt aus einer Theatralisierung bzw. Performatisierung des Musikmachens selbst und einer Ausdehnung des Material- und Kompositionsbegriffs auf außermusikalische, visuelle Bereiche entstanden, also unabhängig und in impliziter Ablehnung bzw. offener Kritik 30 an der bürgerlichen Kunstform Oper. Die Neue Oper hat im deutschsprachigen Raum erst in den achtziger und neunziger Jahren wieder an Bedeutung gewonnen, und zwar in Verbindung mit Strömungen des Neuen Subjektivismus, der Neo-Tonalität oder der Neuen Einfachheit in der Neuen Musik. Insbesondere die Form der Literaturoper erfuhr eine große Blüte.31 Diese Neuen Opern halten grundsätzlich an der Form der Oper fest, zum Beispiel dem handlungstragenden Gesang, der Trennung zwischen Sänger/-innen und Instrumentalensemble und der Zentralstellung des Sängerdarstellers. Heute können die ideologischen Debatten zwischen Neuer Oper und Neuem Musiktheater als überwunden gelten. Teilweise fällt eine eindeutige Zuordnung schwer oder ist sinnlos geworden; teilweise lassen sich aber gewisse Traditionslinien, in denen die Komponistinnen/Komponisten stehen, noch deutlich wahrnehmen. Neue Oper und Neues Musiktheater zusammen erfahren innerhalb des breiten Feldes des Freien Musiktheaters die größte öffentliche Aufmerksamkeit. Der Bereich verfügt über die besten Strukturen und genießt eine relativ hohe Reputation, selbst in Regionen, in denen das Musiktheater nur schwach verankert ist. Beide Formen sind aber eingebunden in den Diskurs um die Neue Musik. Ihre wesentlichen Distributoren sind Festivals für Neue Musik, die den Fokus auf musikalische Uraufführungen 29 | Aus Gründen der Übersichtlichkeit benutzte hier den Terminus Neues Musiktheater als Oberbegriff, der auch andere Formen wie Experimentelles Musiktheater, Instrumentales Theater oder Ähnliches einschließt. Historisch und systematisch lassen sich die Begriffe nicht scharf voneinander abgrenzen (siehe oben). 30 | Man denke zum Beispiel an den Skandal um die Uraufführung von Staatstheater von Mauricio Kagel an der Staatsoper Hamburg 1970. 31 | Zum wichtigsten Forum der Neuen Oper wurde die 1988 von Hans-Werner Henze gegründete Biennale für neues Musiktheater in München. In Ländern, in denen die Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre keine bedeutende Rolle gespielt hat, verlief die Entwicklung der Neuen Oper anders. In Großbritannien besteht beispielsweise seit Benjamin Britten eine ungebrochene Tradition solcher neuer Kammeropern.
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und die Rolle der Komponistinnen und Komponisten legen. Im Theaterdiskurs kommen diese Formen hingegen nur am Rande vor. Dabei ist es nicht so, dass zum Beispiel an den einschlägigen Orten des Freien Theaters nicht auch solche Musiktheaterproduktionen gezeigt würden (zum Beispiel Kampnagel, Hamburg, oder in Berlin die Sophiensaele und das HAU). Dennoch bleibt der Bereich des Neuen Musiktheaters und der Neuen Oper im Diskurs des Freien Theaters eine Randerscheinung, was sich zum Beispiel in dessen geringem Stellenwert in Theaterfachzeitschriften oder theaterwissenschaftlichen Publikationen ausdrückt. Schließlich gibt es einen dritten Bereich des Musiktheaters, der aber wiederum weniger im Musikdiskurs als vielmehr im Theaterdiskurs verankert ist. Hier geht es um Formen musikalisierten Theaters, die wesentlich von Regisseurinnen und Regisseuren bestimmt sind und nicht notwendig im Zusammenhang mit der Neuen Musik stehen. Historisch steht dieser Bereich in der Tradition von Theaterpraktikerinnen und -theoretikern wie Appia, Meyerhold, Artaud oder Moholy-Nagy, die je auf ihre Art eine Befreiung des Theaters von der Dominanz des Textes forderten und stattdessen die Organisation der theatralen Elemente nach dem Vorbild von musikalischen Kompositionen bzw. Partituren proklamierten. Es ist für unseren Zusammenhang wichtig zu sehen, dass sich das erwähnte Neue Musiktheater der sechziger Jahre bei seiner Suche nach neuen Musiktheaterformen jenseits der Oper genau auf diese Tradition berufen hat. Hans-Thies Lehmann wiederum sieht John Cage und die von ihm inspirierte Fluxus- und Happeningszene als wichtigen Bezugspunkt für das postdramatische Theater. Dieses sieht er unter anderem durch »Simultanität«, »Enthierarchisierung der Theatermittel« und eine grundsätzliche Musikalisierung aller Materialien bestimmt, also Charakteristika, die auf das Musiktheater der sechziger Jahre zutreffen. 32 Lehmann stützt sich, wie eingangs erwähnt, in seinen Analysen auf Musiktheatermacher/-innen wie Heiner Goebbels, Meredith Monk oder Christoph Marthaler.33 In der Folge Marthalers stehen heute Musikerinnen/Regisseure wie Ruedi Häusermann oder David Marton. Bezeichnend ist, dass diese Regisseure ihre Lauf bahn im Freien Theater begonnen haben, dass sie aber heute fast ausschließlich an Sprechtheaterhäusern arbeiten, nur ausnahmsweise am Musiktheater.34 Ebenso werden sie hauptsächlich im Theaterdiskurs diskutiert. 32 | Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, S. 139ff. 33 | Zur besonderen Bedeutung von Marthaler für das Freie Musiktheater in Deutschland siehe auch H.-J. Kapp: »Vom Bestellen lokaler Klangfelder«, S. 184f. 34 | Häusermanns Kanon für geschlossene Gesellschaft kam im Jahr 2000 an der Staatsoper München heraus und Randolphs Erben 2009 an der Staatsoper Stuttgart. Christoph Marthaler ist zwar auch als Opernregisseur tätig. Seine Bedeutung für das Freie
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Angesichts der historischen und ästhetischen Verbindungen, die zwischen dem Neuen Musiktheater und dem postdramatischen, musikalisierten Theater bestehen, haben David Roesner und ich den Terminus Composed Theatre eingeführt. Damit sollten die gemeinsamen Charakteristika in Ästhetik und Arbeitsprozessen trotz der üblichen Trennung der Diskurse in den Blick gebracht werden.35 »Composed Theatre« ist als Sammelbegriff für Theaterformen zu verstehen, die sich durch die Verwendung kompositorischer Verfahren und Strategien auszeichnen und wesentlich durch ein musikalisches Denken geprägt sind. Es zeichnet sich durch bestimmte ästhetische Grundüberzeugungen und Praktiken aus, zum Beispiel durch die Gleichberechtigung der Elemente Text, Musik, Aktion, Bild und deren musikalisch-kompositorische Organisation oder die Auflösung der – für die Oper typischen – gestaffelten Produktionsform (Libretto, Komposition, Inszenierung), zugunsten von Stückentwicklungen und kollaborativen Produktionsstrukturen, in denen aus den verschiedenen Richtungen (Musik, Text, Szene) direkt für das Aufführungsereignis gearbeitet wird. Damit verbunden sind dann neue Werk- und Autorschaftskonzepte. Zu den drei genannten Feldern, die gegenwärtig jeweils anderen Diskursen angehören, tritt seit jüngerer Zeit das szenische oder inszenierte Konzert hinzu. Hierbei geht es darum, die traditionelle Konzertform aufzubrechen und durch verschiedene Formen der Inszenierung andere Hörweisen zu ermöglichen. Die Musik steht eindeutig im Zentrum und ist im Normalfall Konzertmusik, also Musik, die nicht von sich aus schon für einen szenischen Kontext geschrieben ist. Allerdings spielt das szenische Konzert bisher im Diskurs eher eine untergeordnete Rolle. Von den Inszenierungspraktiken müsste es dem »Composed Theatre« zugeordnet werden, tritt aber öfter auch im Kontext von Musikvermittlung und Erneuerung des Konzertbetriebs auf.36
1.4 Akteurinnen/Akteure und Strukturen Ein wichtiger Zugang zum Feld des Freien Musiktheaters ist die Frage nach den Akteurinnen und Akteuren, die in diesem Feld agieren, und nach den Strukturen, in denen sie agieren: Wer sind die ›Macher‹ und ›Macherinnen‹ auf Seiten der künstlerischen Produktion, wie sind sie organisiert, wo bzw. wie werden die Stücke präsentiert, welche Strukturen der Produktion und der Dis-
Musiktheater liegt aber in seinen Stückentwicklungen, die er an Sprechtheaterhäusern herausgebracht hat. 35 | Vgl. M. Rebstock/D. Roesner (Hg.): Composed Theatre. 36 | Vgl. Tröndle, Martin (Hg.): Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, Bielefeld: transcript 2009.
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tribution gibt es und wie sehen die Wege der Rezeption bzw. der Rückfluss in einen allgemeineren Musiktheaterdiskurs aus?37
1.4.1 Musiktheaterensembles und Produktionsteams Betrachtet man die Akteurinnen und Akteure auf Seiten der künstlerischen Produktion fällt auf, dass die Produktionsform des Kollektivs gegenüber dem Freien Theater kaum eine Rolle spielt. Während sowohl in der Breite als auch unter den Spitzenensembles des Freien Theaters das Kollektiv als Produktionsform fast ein Markenzeichen ist – man denke an Forced Entertainment, Gob Squad, She She Pop, Need Company etc. – sind es im Freien Musiktheater nur ganz wenige Ensembles, die über längere Zeit in fester Besetzung und gleichberechtigten Entscheidungsstrukturen arbeiten. Das mag zum einen mit der historisch relativ späten und eher an ästhetischen Motiven orientierten Herausbildung des Freien Musiktheaters zu tun haben, das von seinem ursprünglichen Selbstverständnis her weniger von einem antibürgerlichen, emanzipatorischen und antielitären Impuls getragen war als das Freie Theater. Rein praktisch hat es aber auch damit zu tun, dass Musiktheaterproduktionen häufig einen größeren Apparat erfordern (Instrumentalensembles, Sängerinnen, Dirigent etc.) und sich schon von daher die Intimität eines Kollektivs nicht ergibt. Schließlich spielen aber auch noch immer unterschiedliche Professionalitätskonzepte von Musikern und Theaterleuten eine Rolle: Musiker/-innen sind von ihrer Ausbildung und häufig von ihrem Selbstverständnis her eher Spezialist/-innen, während für das Freie Theater ein gewisses Generalistentum typisch ist.38 Eine Sonderrolle nehmen hier Die Maulwerker in Berlin ein. Dieses Ensemble wurde 1977 von Dieter Schnebel gegründet, arbeitet aber seit Ende der neunziger Jahre als eigenständiges Ensemble, in dem alle künstlerischen Entscheidungen gemeinsam getroffen werden und alle Mitglieder auch selbst auf der Bühne stehen. Die Besetzung ist über die Jahre fast konstant geblieben. Bei größeren Musiktheaterproduktionen werden auch die Aufgaben von Regie, Bühne und Kostüm aus dem Kreis des Ensembles übernommen.39 Ansonsten 37 | Wie eingangs erläutert, werde ich hier nicht näher auf die kulturpolitischen Rahmungen und die finanziellen Bedingungen eingehen. Zu einer umfassenden Beschreibung des Feldes würden diese Aspekte aber wesentlich dazugehören. 38 | Dieser Aspekt kann hier nicht weiter vertieft werden. Tatsächlich ist in den letzten Jahren ein gewisser Umbruch auch im Selbstverständnis von Musikerinnen/Musikern zu beobachten. Vgl. auch Hübner, Falk: Shifting Identities. The Musician as Theatrical Performer, Amsterdam: International Theatre & Film Books 2014. 39 | Zum Beispiel bei der Produktion Songbooks Complete in der Reihe visible music am Stadttheater Bielefeld 2001: Regie: Chistian Kesten und Henrik Kairies; Ausstattung: Steffi Weissmann. Alle drei standen dabei auch selbst mit auf der Bühne.
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scheint die Form des Kollektivs nur in kleineren Formationen praktiziert zu werden, wie zum Beispiel bei dem Berliner Trio schindelkilliusdutschke und bei dem aus dem Studiengang »Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis« der Universität Hildesheim hervorgegangenen Ensemble Musiktheater bruit. Typisch für das Freie Musiktheater sind hingegen Ensembles, die sich um wenige Zentralfiguren herum organisieren und nicht über eine feste Besetzung verfügen. Sie sind netzwerkartig organisiert, die jeweiligen Leiter/-innen bzw. Leitungsteams greifen je nach Zuschnitt der Projekte flexibel auf einen mehr oder weniger stabilen Pool von Kunstschaffenden zurück. Die Leitungsfiguren sind überwiegend Regisseur/-innen, die mit einem Team von Bühnen- und Kostümbildner/-innen zusammenarbeiten. Je nach Projekt arbeiten sie mit bestimmten Komponist/-innen und engagieren Musiker/-innen bzw. Ensembles, mit denen häufig bereits längere Arbeitsbeziehungen bestehen. Beispiele hierfür wären Ensembles wie Novoflot um den Regisseur Sven Holm in Berlin; theatre cryptic um Cathy Boyd in Glasgow, die Veenfabriek um Paul Koeck in Leiden oder das Totale Theater um Markus Kupferblum in Wien. In einigen Fällen gehören zu diesen Produktionsteams noch Dirigent/-innen bzw. musikalische Leiter dazu, wie bei der Zeitgenössischen Oper Berlin.40 Seltener sind es Komponist/-innen, die fest zu den Leitungsteams gehören. Dies ist beispielsweise bei liquid pinguin in Saarbrücken der Fall41 oder beim Teatr Weimar in Malmö42 . Nur in Ausnahmefällen werden Ensembles von Performern getragen. Hier wäre das electric voice theatre um die Vokalistin Francis Lynch in London zu nennen oder die Micro-Oper in München, die von der Sängerin Cornelia Melián gegründet und geleitet wird.
1.4.2 Komponistinnen/Komponisten Große Teile des Freien Musiktheaters werden durch die besondere Rolle bestimmt, die die Komponist/-innen spielen. Sowohl der Bereich der Neuen Oper als auch der des Neuen Musiktheaters sind ›Komponistentheater‹: die öffentliche Aufmerksamkeit – etwa bei Uraufführungen im Rahmen der Festivals für Neue Musik – liegt auf den Kompositionen und den Komponist/-innen. Von 40 | Zwischen 1997 und 2007 arbeitete die Zeitgenössische Oper Berlin unter der künstlerischen Leitung von Andreas Rocholl mit einem stabilen Team aus Sabrina Hölzer (Regie), Mirella Weingarten (Ausstattung) und Rüdiger Bohn (musikalische Leitung). 41 | Katharina Bihler (Regie) und Stephan Seibt (Komposition). 42 | Jörgen Dahlquist (Text und Regie) und Kent Olofson (Komposition). Das Teatr Weimar ist dabei kein reines Musiktheaterensemble, sondern produziert auch Sprechtheater. In seiner Selbstdarstellung bezeichnet es sich als »the leading collective of playwrights, directors and actors in Sweden« (Teatr Weimar [Hg.], http://www.teatrweimar.se/eng/ index.htm vom 9. April 2015). Die Leitungsarbeit von Dahlquist und Olofson bezieht sich also nur auf die Musiktheaterproduktionen.
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ihnen wird der Innovationswert erwartet. Die Produktions- und Rezeptionssysteme legen hierbei ein relativ traditionelles, an der Oper orientiertes Theaterverständnis an den Tag, nach dem von einer klaren Trennung zwischen Werk (als Komposition) und Inszenierung ausgegangen wird. (Musik-)Theater wird hier nicht von der Erfahrungsdimension her betrachtet, die ja nicht zusammengesetzt, sondern ganzheitlich und synästhetisch ist, und auch nicht von der Bedeutungskonstitution, die sich nur im Gesamt des Zusammenspiels der theatralen Mittel ergibt. Vielmehr wird die überzeitlich fixierte Partitur als Werk und Essenz aufgefasst, das dann auf die eine oder andere Art interpretiert werden kann. Allerdings gibt es im Neuen Musiktheater eine ganze Reihe von Komponistinnen und Komponisten, die selbst auch für die Regie verantwortlich zeichnen bzw. die die theatralen Elemente insgesamt als Feld ihrer Komposition begreifen. Dadurch wird genau diese Trennung zwischen Komposition und Inszenierung unterlaufen. Hierzu zählen zum Beispiel Heiner Goebbels, Georges Aperghis, Manos Tsangaris, Daniel Ott43, Michael van der Aa, Julian Klein, Leo Dick, Jennifer Walsh, François Sarhan oder Simon Sten-Andersen. Ebenso wären zu nennen die oben genannten Musiktheaterkollektive und einige Teams, die Formen kooperativen Arbeitens entwickelt haben, wie zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen Hannes Seidl und Daniel Kötter44 oder zwischen Elena Mendoza und mir.45
1.4.3 Vokal-/Instrumentalensembles Neben den Musiktheaterensembles und den Komponist/-innen spielen schließlich freie Instrumental- und Vokalensembles eine immer wichtigere Rolle als Akteure im Feld des Freien Musiktheaters. Damit sind Ensembles gemeint, die ihren Schwerpunkt im Bereich der ernsten bzw. neuen (Konzert-)Musik haben, aber immer häufiger selbst auch als Initiatoren und Produzenten für Musiktheaterprojekte auftreten. Exemplarisch wären hier die Neuen Vocalsolisten aus Stuttgart zu nennen, die regelmäßig Musiktheaterprojekte initiieren, 43 | In den letzten Jahren entstanden eine Reihe von Arbeiten in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Enrico Stolzenburg, zum Beispiel Blick Richtung Süden, Wittener Tage für neue Kammermusik 2009. 44 | Siehe 2.7. 45 | Die beiden Musiktheaterkompositionen Niebla (Uraufführung Hellerau 2007) und La Ciudad de las Mentiras (Uraufführung Teatro Real 2017) sind in gemeinsamer Autorschaft entstanden. Vgl. hierzu auch Roesner, David/Risi, Clemens: »Die polyphone Werkstatt«, in: Theater der Zeit (2009), S. 28-31.; Betzwieser, Thomas: »Von Sprengungen und radialen Systemen: das aktuelle Musiktheater zwischen Institution und Innovation – eine Momentaufnahme«, in: Arno Mungen (Hg.), Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance, Würzburg 2011, S. 149-164; und Wellmer, Albrecht: »Musiktheater heute«, in: J. P. Hiekel (Hg.), Neue Musik in Bewegung (2011), S. 28-39.
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oder Ensembles wie 2e2m aus Champigny-sur-Marne, Phace aus Wien oder das Berliner Solistenensemble Kaleidoskop, zu deren Kernprofil eine solche performative Ausrichtung zählt. Typisch hierbei sind enge Kooperationen zwischen Ensembles und Komponistinnen bzw. Komponisten. Man denke an die jahrelange Zusammenarbeit zwischen Heiner Goebbels und dem Ensemble Modern oder zwischen Georges Aperghis und dem Ictus Ensemble. Solche längerfristigen Zusammenarbeiten gibt es auch zwischen Trond Reinholdtsen und dem Ensemble asamisimasa aus Oslo oder Stefan Prins und dem Nadar Ensemble aus Flandern. Neben dem Neuen Musiktheater gehören diese Ensembles meist auch zu den bestimmenden Akteuren im Bereich des szenischen Konzerts.
1.4.4 Produktionsorte Wenn wir uns den Produktions- und Spielorten zuwenden, fällt auf, dass es im Freien Musiktheater nur wenige Produktionshäuser gibt und dass diese international weniger gut vernetzt sind als im Freien Theater. Eine Kooperation wie es sie zum Beispiel im deutschsprachigen Raum zwischen den Sophiensaelen in Berlin, Kampnagel in Hamburg, Theaterhaus in Düsseldorf, Gessnerallee in Zürich und brut in Wien gibt, sucht man im Bereich des Musiktheaters vergebens. Zudem treffen wir hier wieder auf das Problem, dass die Produktionshäuser, die es im Musiktheater gibt, unterschiedliche Segmente des heterogenen Feldes Musiktheater vertreten und schon von daher nur eingeschränkt kooperieren können. Die Neuköllner Oper in Berlin hat sich zum wichtigsten Produktionshaus für Musiktheater in Deutschland und zu einem der lebendigsten in Europa entwickelt. Sie bringt pro Spielzeit ca. zehn Premieren heraus und verfügt über einen durchgehenden Spielbetrieb mit jährlich 250 Vorstellungen.46 Ihr Schwerpunkt liegt traditionell auf Bearbeitungen und Neufassung von Repertoireopern sowie auf Uraufführungen von Opern mit aktuellen Bezügen bzw. Stoffen. Daneben hat sie sich insbesondere unter der künstlerischen Leitung von Peter Lund (1996-2004) einen Namen für kleinformatige, deutschsprachige Musicals gemacht. Unter der künstlerischen Leitung von Bernhard Glocksin (seit 2004) hat sie ihr Formenspektrum erheblich ausgeweitet. Gleichzeitig hält sie aber an ihrem Anspruch fest, für ein breites Publikum »jenseits selbstreferentieller Fachkreise«47 zu arbeiten. Das Theater am Marienplatz (TAM) in Krefeld hat durch die langjährige Zusammenarbeit mit dem Komponisten Mauricio Kagel seinen Schwerpunkt hingegen eher im instrumentalen Theater und dem Neuen Musiktheater. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf dem Œuvre von Beckett, aber auch auf Autoren wie Ernst Jandl oder Gerhard Rühm. Der von Desiree Meiser 2002 ins Leben 46 | Vgl. http://www.neukoellneroper.de/#profil. 47 | Ebd.
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gerufene und geleitete Gare du Nord in Basel versteht sich als »Bahnhof für Neue Musik«. Er ist ein experimenteller Ort für Neue Musik insgesamt, nicht speziell für Musiktheater. Dennoch bringt der Gare du Nord mindestens eine eigene Musiktheaterproduktion pro Spielzeit heraus. Das T&M in Paris, das aus dem von Georges Aperghis gegründeten ATEM in Nanterre bei Paris hervorgegangen ist, widmet sich ganz dem »théâtre musical et lyrique contemporain« 48, bringt allerdings inzwischen relativ wenige eigene Produktionen heraus. Als Mitglied des Netzwerks Reseau Varèse (siehe unten) zeigt es überwiegend internationale Produktionen im Spitzenbereich. Was Gastspiel-, Koproduktionstätigkeit und (inter-)nationale Vernetzung angeht, sind die Produktionshäuser in Holland bzw. Flamen, sozusagen im Mutterland der freien Produktionshäuser, sehr viel beweglicher und aktiver als zum Beispiel im deutschsprachigen Raum. Die Veenfabriek in Leiden zählt heute zu den größten und erfolgreichsten Musiktheatergruppen in den Beneluxländern. Sie wird vom Schlagzeuger und Regisseur Paul Koeck geleitet und ging 2004 aus der legendären Theatergroep Hollandia hervor, die Johan Simons und Paul Koeck 1985 gegründet hatten. Die Veenfabriek ist dabei aber eher als eigene Theatercompany anzusehen, da sie zwar zahlreiche Kooperationen mit anderen Gruppen unterhält, aber selbst mit einem festen Ensemble und stets unter der künstlerischen Leitung von Paul Koeck arbeitet. Das Muziektheater Transparant in Antwerpen verfügt demgegenüber über eine offenere Struktur. Neben den Produktionen in der Regie seines künstlerischen Leiters Wouter Van Looy gibt es auch Produktionen mit Gästen.
1.4.5 Festivals Wie im Freien Theater und der Neuen Musik sind auch im Freien Musiktheater die Festivals zu den wichtigsten Produzenten avanciert. Allerdings ist die Zahl von Festivals, die sich ausschließlich dem Musiktheater widmen, eher klein.49 Meist sind es Festivals für zeitgenössische Musik, die neben Konzerten auch Musiktheater programmieren50, oder Festivals, die die ganze Breite der darstellenden Künste abdecken, wie das Festival d’Avignon, das Edinburgh 48 | Siehe die Website des T&M: http://www.theatre-musique.com vom 28. März 2015. 49 | An großen Festivals wären beispielsweise zu nennen die Internationale Biennale für neues Musiktheater München oder die Operadagen Rotterdam; an kleineren Festivals das Tête a Tête Opera Festival London, Festival d’ Òpera de Butxaca, Barcelona (bis 2007), das Taschenopernfestival in Salzburg oder die 2015 erstmals stattfindenden Musiktheatertage Wien; zwischen 1992 und 2007 unterhielt auch das Almeida Theatre in London als Almeida Opera eine Sommersaison für Neues Musiktheater bzw. Neue Kammeropern. 50 | Zum Beispiel Wien Modern, Ruhrtriennale, Warschauer Herbst, Ultima Festival Oslo, Huddersfield Contemporary Music Festival, Musicadhoy Madrid, Salzburg Biennale, Donaueschinger Musiktage, Maerzmusik Berlin, Borealis Festival in Bergen.
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Festival oder das Holland Festival. Interessant ist, dass sich in dieser reichen Festivallandschaft die oben skizzierten Genres des Musiktheaters abbilden. Festivals für Neue Musik legen entsprechend dem für die Neue Musik insgesamt typischen Uraufführungsbetrieb und dessen Werkfixierung den Fokus auf neue Musiktheaterkompositionen. Der Akzent liegt also auf Neuer Oper bzw. Neuem Musiktheater (siehe oben). Für den Bereich der Opernbearbeitungen oder die am postdramatischen Theater orientierten Formen musikalisierten Theaters gibt es hingegen nur wenige Festivals oder Präsentationsplattformen.51 Noch weniger sind es, die das Musiktheater in seiner ganzen Breite zeigen. Eine herausragende Rolle spielen hier die Operadagen Rotterdam, bei denen dieses Jahr zum Beispiel eine Bearbeitung des Figaro durch die Belgische Gruppe Comp.Marius zu sehen ist, King Size von Christoph Marthaler sowie aus dem Bereich der Neuen Oper Private View von Annelies Van Parys52 . Für den deutschsprachigen Raum hat Gerard Mortier einen wichtigen Impuls für ein Musiktheater auf Spitzenniveau gesetzt, das nicht an den Uraufführungsbetrieb der Neuen Musik gekoppelt ist. Während seiner Gründungsintendanz bei der Ruhrtriennale von 2002 bis 2004 machte er sogenannte Kreationen zum Schwerpunkt: Stückentwicklungen zwischen Theater, Musik und Tanz, ohne dass die Musik in der Linie der Neuen Musik stehen müsste. Unter den Eröffnungsinszenierungen fand sich beispielsweise eine szenische Fassung von Schuberts Die schöne Müllerin in der Regie von Christoph Marthaler.53 Trotzdem fehlt es bis heute an Plattformen für solche ›Kreationen‹ des musikalisierten, postdramatischen Theaters sowie für freie Opern- und Musiktheaterproduktionen, die mit bereits bestehenden Stücken arbeiten.
51 | Gleichzeitig werden diese Formen aber auch auf den einschlägigen Plattformen des Freien Theaters kaum präsentiert. So war bislang nur eine einzige Musiktheaterproduktion beim Impulse-Festival zu sehen, nämlich im Jahr 2007 David Martons szenisches Konzert Fairy Queen oder Hätte ich Glenn Gould nicht kennen gelernt (nach Henry Purcell). 52 | Eine Produktion von Muziektheater Transparant mit dem Asko/Schönberg Ensemble und den Neuen Vocalsolisten Stuttgart, Uraufführung 13. Mai 2015 an der Vlaamse Opera Antwerpen in Koproduktion mit Concertgebouw Brügge, Deutsche Oper Berlin, Nationaloper Bergen und Les Théâtres de la Ville de Luxembourg. 53 | Auch die Regisseure Johann Simons und Paul Koeck waren im Programm von 2002 mit mehreren Stücken vertreten. Wenn sich nun Johann Simons als neuer Leiter der Ruhrtriennale auf diesen Begriff der »Kreationen« zurückbesinnt, schließt sich hier nicht nur programmatisch, sondern auch personell ein Kreis.
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1.4.6 Netzwerke und Plattformen Gegenüber dem Freien Theater ist das Freie Musiktheater insgesamt weniger gut vernetzt. Das gilt für die internationale, aber auch für die meisten nationalen Musiktheaterszenen. Das wichtigste und finanzstärkste Netzwerk für das Musiktheater auf internationaler Ebene ist das Réseau Varèse, ein Zusammenschluss großer europäischer Festivals und Veranstalter »for the promotion and dissemination of musical creations«54. Mitglieder dieses Netzwerks sind die international ausstrahlenden europäischen Festivals wie zum Beispiel Wien Modern, Warschauer Herbst, Holland Festival, Klangspuren Schwaz, Maerzmusik Berlin, Huddersfield Contemporary Music Festival, Ultima Festival Oslo, aber auch kleinere Produktionshäuser wie das T&M in Paris oder das Casa de Musica in Porto. Obwohl von diesem Netzwerk relativ viele Musiktheaterproduktionen unterstützt werden und deren internationale Verbreitung ermöglicht wird, handelt es sich bei Réseau Varèse nicht um ein spezielles Instrument zur Förderung des Musiktheaters. Wie bereits bei den Festivals zu beobachten war, steht die Förderung neuer Musik insgesamt im Zentrum und nur im Zuge dessen auch das Musiktheater.55 Tendenziell wird also auch hier nur ein Teil des weiten Feldes des Musiktheaters abgedeckt, nämlich die Neue Oper bzw. das Neue Musiktheater. Unterhalb dieses Netzwerks auf Spitzenniveau gibt es relativ wenig internationale Vernetzung. Beispielsweise fehlen internationale Verbände wie reseo oder die ASSITEJ im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters völlig. Zwischen 1992 und 2004, also zu einer Zeit, in der das Freie Musiktheater boomte, existierte ein von Dragan Klaic vom Netherlands Theatre Institute ins Leben gerufenes Netzwerk: NewOp/NonOp. Es organisierte jeweils mit einem lokalen Partner zusammen jährliche Treffen, die zu Austausch, Diskussion und Vernetzung der Akteur/-innen im Bereich »Small-Scale Contemporary Music-Theatre and Opera«56 dienten. Allein die Liste der damals beteiligten 49 companies aus ganz (West-)Europa und auch aus Kanada lässt das Potenzial des Freien Musiktheaters in diesen Jahren erahnen. Das letzte dieser Treffen fand in Barcelona statt und wurde vom Festival d’Opera de Butxaca veranstaltet. Danach gab es keine weiteren.57
54 | Vgl. Selbstdarstellung auf http://www.reseau-varese.com vom 23. März 2015. 55 | Beispiele für Förderprojekte im Bereich des Musiktheaters: Luna Park von Georges Aperghis 2011, Kafka-Fragmente von György Kurtág in der Regie von Antoine Gindt, 2007, oder Eraritjaritjaka von Heiner Goebbels 2004. 56 | Dies war der ursprüngliche Name des Netzwerks. Vgl. http://www.notnicemusic. com/NewOp.html. 57 | Unter dem Namen »C-Opera listserv« wurde versucht, die Diskussion als E-MailListe weiterzuführen. Vgl. http://www.notnicemusic.com/C-Opera.html vom 24.10.2015.
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Was das Freie Musiktheater neben der Vernetzung von Produzentinnen und dem internen Austausch unter den verschiedenen Ensembles und Künstlern dringend bräuchte, wäre die Erzeugung einer größeren Sichtbarkeit und die Schaffung eines eigenen Diskurses. Einen Beitrag hierfür versucht das Internationale Theaterinstitut (ITI) mit dem von ihm weltweit ausgelobten Wettbewerb Music Theatre Now zu leisten. Der seit 2008 allerdings nur alle drei Jahre durchgeführte Wettbewerb prämiert in unterschiedlichen Kategorien »first productions of new works, which were professionally created anywhere in the world«58. Gleichzeitig werden den Preisträger/-innen, zumindest teilweise, Gastspiele im Rahmen bedeutender Festivals ermöglicht, sodass die Produktionen dann, als Preisträger/-innen mit einer besonderen Aufmerksamkeit versehen, erneut der Öffentlichkeit präsentiert werden können.59 Auch die neuen Leiter der Biennale für Musiktheater in München, Daniel Ott und Manos Tsangaris, setzen ganz auf die Internationalisierung der Szene. Gleichzeitig wollen sie die Biennale wieder stärker auf junge Künstler/-innen ausrichten und so die Idee des Gründungsvaters, Hans Werner Henze, neu aufleben lassen. Kernidee ihres Konzepts ist – neben der gezielten Einladung von Kunstschaffenden – die Einrichtung internationaler Plattformen. Auf diesen Plattformen können sich Produktionsteams (Komponisten, Regisseurinnen, Musiker) mit Konzepten und ersten Arbeitsergebnissen präsentieren. Diese Präsentationen finden in Form von Workshops statt, die von künstlerisch Beratenden betreut werden, sodass sich die Teams qualifizierten Rat für die Weiterarbeit an den Projekten einholen können. Gleichzeitig können sich Daniel Ott und Manos Tsangaris früh ein Bild von den Projekten machen und letztlich die auswählen, die die nötige Qualität aufweisen, um dann nach München eingeladen zu werden. Daniel Ott und Manos Tsangaris zeigen hier neue Wege auf, wie man mit dem Grundproblem der Festivalprogrammierung umgehen kann: Einerseits sollen innovative Projekte initiiert werden, andererseits dürfen die in Auftrag gegebenen Projekte auf keinen Fall scheitern, weil das für das Festival negativ zu Buche schlagen würde. Die Konsequenz ist häufig, dass die Aufträge mit gedrosselter Risikobereitschaft vergeben und tendenziell die bereits Arrivierten immer wieder eingeladen werden. Im Konzept der Münchner Biennale kann das Risiko auf andere Weise kontrolliert werden, was eine risikofreudigere Programmierung bei – und das muss sich ab 2016 beweisen – hoher Qualität erlaubt. Ebenso wird hier ein neues Modell der Zusammenarbeit zwischen Künstler/-innen und (Festival-)Intendant/-innen initiiert. Die Leiter stellen ihre Entscheidungen im Vorfeld zur Diskussion, verteilen sie auf mehrere Schultern und stellen sich insbesondere auch der Diskussion mit 58 | http://www.musictheatrenow2015.iti-germany.de/index.php?id=88. 59 | Für den laufenden Wettbewerb werden das zum Beispiel die Operadagen Rotterdam sein.
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den Teams, und zwar auch den Teams, die letztlich nicht nach München eingeladen werden. Das erhöht die Transparenz der Entscheidungen. Nicht zuletzt wird durch diesen Auswahlprozess auch eine bestimmte Arbeitsweise bei den Teams gefördert: Der Fokus liegt von Anfang an auf der Zusammenarbeit zwischen Komponistinnen, Regisseuren, Musikerinnen etc. Die Perspektive verschiebt sich von der Auftragskomposition (als ›Werk‹), die im zweiten Schritt auch inszeniert wird, hin zu gemeinsam konzipierten und erarbeiteten Aufführungsereignissen (siehe 2.1). Was den Grad der Vernetzung und die vorhandenen Strukturen angeht, ist die Situation in den jeweiligen nationalen Kontexten natürlich sehr unterschiedlich. In den Beneluxländern, in denen das Touren zum Grundverständnis und zum Auftrag des Freien Theaters zählt, ist der Grad an Vernetzung relativ hoch. Gleichzeitig war das holländische System zumindest bis zum kulturellen Kahlschlag 2013 auch mit erheblichen Fördermitteln ausgestattet. Über solche verfügt das Freie Musiktheater in Großbritannien nicht. Immerhin gibt es aber zum Beispiel seit 1993 das Opera & Music Theatre Forum (OMTF), ein »network of companies working to create an environment in which opera and music theatre can flourish«.60 Das OMTF unterhält einerseits eine Website, auf der alle Veranstaltungen der Mitglieder veröffentlicht und die Projekte vorgestellt werden. Sie bietet damit einen Überblick über das, was in Großbritannien im Bereich des Freien Musiktheaters passiert – allerdings eben nur bezogen auf die Mitglieder des OMTF. Darüber hinaus übernimmt es Lobbyaufgaben und bietet Workshops für die Mitglieder an, zum Beispiel zu Promotion und Publikumsgenerierung. In Ländern wie Portugal, Spanien oder Griechenland hingegen, in denen sich keine gefestigte Tradition Freien Musiktheaters entwickelt hat, hat sich die Situation durch die Wirtschaftskrise seit 2008 noch erheblich verschlechtert. Ein Leuchtturm wie das Festival musicadhoy in Madrid, das über Jahre zu den internationalen Spitzenfestivals für Musiktheater gehört hat, musste die Musiktheaterreihe operadhoy fast ganz einstellen.61 Auch das Festival Opera d’Butxaca musste 2008 aufgeben, kann aber auf Projektbasis und durch internationale Koproduktionen (unter anderem mit dem Theater Basel und der Neuköllner Oper) als Òpera de Butxaca i nova creacío weiterarbeiten.62
60 | http://www.omtf.org.uk. 61 | Das Festival ist dadurch zum Beispiel auch aus dem Netzwerk Réseau Varèse ausgeschieden. 62 | Vgl. das von mir geführte E-Mail-Interview mit Dietrich Grosse, dem Leiter der OPNC, vom 7. November 2013.
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Italien stellt insofern einen Sonderfall dar, als es in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren zu den Zentren der Neuen Musik in Europa gehört 63 und über eine Reihe von interessanten Musiktheaterkomponisten verfüg hat.64 Seit der Krise ist aber auch hier die Neue Musik fast zum Erliegen gekommen. Die italienischen Komponist/-innen, die in der internationalen Musiktheaterszene nach wie vor sehr präsent sind, feiern ihre Erfolge fast ausschließlich außerhalb Italiens.65 Vor dem Hintergrund des besonderen Theatersystems im deutschen Sprachraum hat sich hier eine besondere Debatte um eine stärkere Vernetzung entwickelt. Wie im Freien Theater geht es in den letzten Jahren verstärkt darum, Formen der Kooperation von Freiem Theater und den Stadt- und Staatstheatern zu fördern und zu erproben. Ein wichtiges Förderinstrument hierfür ist das von der Bundeskulturstiftung in Deutschland aufgelegte Doppelpassprogramm, im Rahmen dessen Partnerschaften zwischen freien Gruppen und öffentlichen Spielstätten unterstützt werden. Von den 22 gegenwärtig geförderten Tandems sind immerhin drei aus dem Musiktheaterbereich.66 Auch der Fonds Experimentelles Musiktheater Nordrhein-Westphalen fördert solche Kooperationen. Pro Jahr wählt eine Jury ein Projekt aus, das dann zusammen mit einem Stadttheater der Region realisiert wird.67 Schließlich wären hier Initiativen einzelner Häuser zu nennen, mit dem Freien Musiktheater zu kooperieren bzw. ihm eine eigene Plattform zu bieten. Zum Beispiel hat die Deutsche Oper Berlin mit der Eröffnung der Tischlerei 2012 eine eigene Spielstätte geschaffen, die Raum geben soll für solche experimentellen Begegnungen. Auch die Staatsoper Hamburg bzw. ihre Experimentalbühne opera stabile hat zumindest phasenweise (2005-07) mit dem freien Ensemble opera 63 | Besondere Zentren waren Rom und das Umfeld der Nuova Consonanza, das Studio der RAI in Mailand, das 1955 von Luciano Berio und Bruno Maderna gegründet wurde, oder das Festival Settimana internazionale di nuova musica in Palermo, auf dem sich unter anderem auch die gesamte Kölner und Darmstädter Avantgarde einfand. 64 | Man denke etwa an die Musiktheaterwerke von Luigi Nono und Luciano Berio aber auch an weniger bekannte Komponisten wie Domenico Guaccero oder Egisto Macchi. Vgl. Fearn, Raymond: Italian Opera since 1945, Amsterdam 1997. 65 | Zum Beispiel Salvatore Sciarrino, Lucia Ronchetti oder Giorgio Battistelli. 66 | Komische Oper Berlin und Gob Squad, LOFFT in Leipzig und Oper Dynamo West sowie Dock 11 und Jo Fabian Department. 67 | In den letzten Jahren waren zum Beispiel das Theater Bielefeld oder das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen beteiligt. Ab 2015 wird das Förderkonzept etwas modifiziert: Die Förderung richtet sich dann weniger auf die Erarbeitung einer Uraufführung, sondern ist eher im Sinne einer residency zu verstehen: einer Förderperiode, in der ein Team von Künstlerinnen/Künstlern in Kooperation mit einem Stadttheater bestimmte Themen mit musiktheatralen Mitteln erforschen und umsetzen kann.
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silens kooperiert, das 1995 im Umfeld des Musiktheaterregie-Studiengangs in Hamburg gegründet wurde.68 Zu einer wirklichen Öffnung der Opernhäuser für experimentelle Formate von Musiktheater und für eine produktive Partnerschaft mit dem Freien Musiktheater wird es allerdings erst dann kommen, wenn die Opernhäuser bereit sind, diese Spielstätten tatsächlich mit eigenen Budgets auszustatten. Wenn es darauf hinausläuft, dass die Projekte über Fördertöpfe, die für das Freie Theater eingerichtet wurden, finanziert werden müssen, ist die Öffnung der Häuser zwar inhaltlich zu begrüßen, kulturpolitisch aber fragwürdig.69
2. I nnovationslinien im F eld des F reien M usik the aters Entsprechend der Heterogenität und Vielfalt des Feldes, wie ich sie im ersten Hauptteil skizziert habe, ist klar, dass auch die künstlerische Praxis der Akteurinnen/Akteure sehr unterschiedlich ist, jeweils in bestimmten Traditionslinien steht und von den strukturellen Gegebenheiten abhängt, in denen die künstlerische Arbeit erfolgt. Dennoch scheint es mir möglich, bestimmte Fragestellungen bzw. Themenfelder der künstlerischen Auseinandersetzung zu markieren, die für die ästhetischen Praktiken des Freien Musiktheaters charakteristisch sind und in denen gegenwärtig das größte Innovationspotenzial zu suchen ist. Diese werden im Folgenden jeweils allgemein skizziert und anhand konkreter Projekte kurz exemplifiziert. Die jeweiligen Beispiele wurden gewählt, nicht weil sie für den jeweiligen Bereich repräsentativ wären, sondern weil sie eine konkrete, relevante künstlerische Position darin einnehmen.
2.1 Arbeitsprozesse Das Freie Musiktheater bietet die Möglichkeit, die Prozesse, in denen die jeweiligen Stücke entstehen, unabhängig von den eingespielten Routinen und strukturellen Zwängen an den traditionellen Opernhäusern zu gestalten. Dass es dabei nicht um eine unbeschränkte Freiheit geht, ist selbstverständlich (siehe oben) Die Spielräume entstehen vielmehr in Abhängigkeit von den finanziellen, strukturellen und personellen Bedingungen, in denen die jeweiligen Produktionen entstehen. Trotzdem ist es diese – relative – Autonomie, wes-
68 | Vgl. http://www.operasilens.de. 69 | Ein gelungenes Beispiel für eine längerfristige Kooperation zwischen Stadt- bzw. Staatstheater und Freiem Musiktheater ist die Zusammenarbeit zwischen der Veenfabriek Leiden und dem Schauspielhaus Bochum zu Beginn der Intendanz von Anselm Weber (2010-2013).
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wegen sich viele professionelle (Musik-)Theaterschaffende für eine Arbeit im freien Bereich entscheiden. Das große Potenzial des Freien Musiktheaters besteht also darin, den Arbeitsprozess zusammen mit der jeweiligen Projektidee überhaupt erst zu erfinden bzw. die Prozesse aus den Notwendigkeiten der Projektideen und den individuellen Bedürfnissen und Arbeitsweisen der Beteiligten abzuleiten. Auffällig ist zum Beispiel, dass von den 18 freien Ensembles der Wiener Musiktheaterszene, die von Jury Everhartz und Kristine Tornquist befragt wurden 70, bis auf eine Ausnahme alle betonen, keine feste Methode und keine gleichbleibenden Abläufe zu verfolgen, sondern dass sich von Projekt zu Projekt der Prozess immer unterschiedlich gestaltet. Georges Aperghis bringt diesen Aspekt für sich auf den Punkt, wenn er sagt: »Les expériences les plus anciennes ne te servent pas. […] Je veux me lancer dans des aventures nouvelles, plus difficiles parce qu’il n'y a pas une expérience.« 71 Die Vermeidung einer Methodik steht bei ihm in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem grundlegenden Interesse für das Unverwechselbare, was ›seine‹ Musiker/-innen als Personen mit einbringen. Seine Kompositionen sind häufig gleichermaßen musikalische Porträts der Musiker/-innen wie sie diese dazu herausfordern, über die Grenzen dessen hinaus zu gehen, was sie bisher als für sie möglich erachtet hatten: »Often, when they receive the score, they are excited yet afraid at the same time of its difficulty.« 72 Für viele seiner musiktheatralen Stücke wird daher die Probe zu dem Ort, an dem die Kompositionen tatsächlich entstehen. Was Aperghis zum Beispiel bei Stücken wie Machinations (2000) oder dem Kindermusiktheater Le Petit Chaperon Rouge (2001) im Vorfeld der Proben komponiert, ist nicht mehr und nicht weniger als Material, so wie es Text- oder Videomaterial geben mag. Bei Le Petit Chaperon Rouge bestand die komponierte Musik zu Probenbeginn zum Beispiel aus 23 einzelnen, kurzen Stücken bzw. Momenten, die weder speziell für dieses Projekt komponiert worden sind, noch eine bestimmte formale Anordnung, Dramaturgie oder Reihenfolge implizierten. Die Fragmente wurden erst auf der Probe und gleichzeitig mit dem szenischen Prozess zu einer Großform auskomponiert. Man könnte das als eine Art situativen Komponierens bezeichnen, da die szenisch-musikalische Komposition in der Komplexität al70 | J. Everhartz/K. Tornquist (Hg.): Fragen an das Musiktheater. 71 | »Your prior experiences don’t help you. […] I want to dive into new adventures, more difficult as there is no experience.« (Georges Aperghis im Interview mit Matthias Rebstock in: M. Rebstock/D. Roesner (Hg.): Composed Theatre, S. 239). 72 | Georges Aperghis, zit. in: Maximoff, Catherine: Georges Aperghis: »Storm Beneath a Skull«, DVD-Dokumentation, Juxta Productions 2006.
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ler am Stück beteiligten Elemente erfolgt. Die Partitur, die schließlich verlegt wurde und auch ein Nachspielen des Stücks ermöglicht, ist erst im Nachhinein entstanden. Sie ist nicht Ausgangs-, sondern Endpunkt des musikalisch-szenischen Entwicklungsprozesses. Dabei wurde dieser Prozess einerseits klar von Aperghis geleitet. Andererseits gestaltete Aperghis diese Leitung so, dass er seine Spieler/-innen regelrecht dazu verführte, sich selbst in den Entwicklungsprozess kreativ einzubringen, und zwar sowohl in szenischer als eben auch in musikalischer Hinsicht.73 Durch diese spezielle Arbeitsweise taucht hier zunächst gar keine Differenz zwischen Stück (Komposition) und Inszenierung (gemeinsam erarbeitete szenisch-musikalische Totalität) auf. Erst durch das nachträgliche Erstellen der musikalischen Partitur – die im Fall des Rotkäppchens dann wiederum keinerlei szenische Angaben enthält – wird so etwas wie ein Werk geschaffen. Viele frühere Stücke, bei denen dieser letzte Schritt nicht erfolgt ist, sind mit der Vergänglichkeit von Aufführungen tatsächlich auch verloren gegangen.74 Heiner Goebbels setzt in seinem Musiktheater ebenfalls ganz auf die Kreativität und den freien Austausch unter den Beteiligten. Anders als Aperghis folgt er hierbei einer mehr oder weniger standardisierten Struktur. Ungefähr ein Jahr vor der Uraufführung einer Musiktheaterarbeit führt er einen Workshop durch, bei dem »mit allen nur denkbaren Mitteln gearbeitet wird« und bereits alle am Projekt beteiligten Personen zusammenkommen, seien sie später auf oder hinter der Bühne. »In dieser Zeit des Ausprobierens, des Experimentierens gibt es ein relativ selbständiges Agieren aller am Theater beteiligten Kräfte.« Dadurch, dass sich in diesem Stadium alle mit ihren Ideen einbringen können, »entsteht eigentlich weit mehr als das, was ich mir vorstellen kann, auch wenn ich mir die Kriterien ausdenke.« 75 Goebbels betont dabei besonders, dass in diesen Workshops tatsächlich alle theatralen Elemente eines Stücks verfügbar sein müssen. Das betrifft mit Kostümen, Licht und Video beispielsweise Elemente, die in traditionellen Probenprozessen erst sehr spät dazukommen, aber dadurch nur noch ›illustrativ‹ und nicht mehr elementar für die Grammatik eines Stücks sein können: »Any73 | Vgl. hierzu die Dokumentation des Probenprozesses von Gammel, Markus: Rotkäppchen ist der Wolf. Kreativität im Musiktheater von Georges Aperghis, Magisterarbeit, Humboldt Universität Berlin. 74 | Dies betrifft insbesondere frühere Arbeiten von Aperghis am ATEM. Von Enumerations (1990) bestehen zum Beispiel nur einzelne Notate der Spieler/-innen. Das Stück ist aber als Film produziert worden und zumindest auf diese Weise erhalten geblieben. 75 | Heiner Goebbels im Interview mit Wolfgang Schneider in: Schneider, Wolfgang: »Ein synergetisches Ausprobieren. Heiner Goebbels über kollektive Kreativität, Inspiration und Inszenierungsprozesse«, in: Stephan Porombka/ders./Volker Wortmann (Hg.), Kollektive Kreativität, Tübingen 2006, S. 115-124, hier S. 116.
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thing which comes late in the process is only going to be illustrative; it does not have the power to change anything else which has already been established during the rehearsal period.« 76 Nach den Workshops und der Phase offenen und assoziativen Ausprobierens folgt dann eine Phase, in der sich Goebbels zurückzieht, das Stück auskomponiert und die Gesamtform festlegt. Das heißt, die musikalische Form wird von Heiner Goebbels, anders als bei Aperghis, allein festgelegt und in den Endproben dann einstudiert. Es ist sicher kein Zufall, dass wir es bei diesen beiden prominentesten Beispielen für kollektive Entwicklungsprozesse im Musiktheater mit Komponisten zu tun haben, bei denen der musikalische und szenische Prozess in einer Hand liegt. Dennoch lässt sich auch bei vielen Leitungsteams dieses Interesse an gemeinsamer Stückentwicklung und intensivem Austausch jenseits enger Professionalitäts- und Kompetenzgrenzen beobachten und ein damit einhergehendes Unterlaufen klassischer Hierarchien. Das Freie Musiktheater übernimmt hier Techniken, wie sie für das Freie Theater typisch sind, wie sie aber auch im Tanztheater zu beobachten sind. Im Englischen hat sich hierfür der Terminus des devised theatre etabliert. Im Deutschen fehlt ein solcher Terminus. Ein »devised music theatre« stellt aber ein komplexes Forschungsfeld dar, da sich darin klassische Konzepte wie »Werk«, »Aufführung«, »Partitur«, »Komposition«, »Regie«, »Autorschaft« und klassische Professionalitätskonzepte verflüssigen und neu bestimmt werden müssen.
2.2 Andere Orte und Räume Die wenigsten freien Musiktheaterensembles verfügen über eine eigene Spielstätte. In den meisten Fällen ist das schon aus ressourcenpraktischen Gründen nicht möglich. Viele Ensembles sehen aber gerade in der Bespielung immer neuer Orte und in der Schaffung neuer Räume ein wichtiges Feld ihrer künstlerischen Auseinandersetzung.77 So sagt Thomas Desi vom ZOON Musiktheater in Wien: »Meine Projekte für ZOON haben die Absicht, nicht-theatrale Räume für das Theater zu nutzen. Nicht um die Armut dieses Theaters, die Heimatlosigkeit dieser Projekte zu
76 | Heiner Goebbels, zit. in: M. Rebstock/D. Roesner (Hg.): Composed Theatre, S. 116. 77 | Ich spreche im Folgenden von Orten, wenn der Aspekt geografischer Lokalitäten gemeint ist; von Räumen, wenn es um Handlungsräume oder spezifische Atmosphären geht. Vgl hierzu zum Beispiel Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 (zuerst 1980), S. 218f.; und Lefebvre, Henri: »Die Produktion des Raums«, in: Jörg Dünne/ Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Frankfurt a.M. 2006, S. 330-342, hier S. 330.
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Matthias Rebstock kaschieren oder herauszustellen, sondern um das Element der Authentizität des Hier und Jetzt einzubringen.«78
Solche nichttheatralen Orte des Alltags temporär zu Theaterorten zu machen, impliziert ein Theater, das die Schwelle zwischen Kunst und Alltag zu unterlaufen sucht, ein Theater, das die ›Kulturtempel‹ verlassen und ›hinaus zu den Menschen‹ treten möchte. Von daher wird hier ein Impuls weitergetragen, der vom Freien Theater der siebziger Jahre bereits ausgegangen war und beispielsweise bei der Bespielung der alten Zechenanlagen in der Ruhrtriennale bis heute nachwirkt.79 Abgesehen davon bieten solche Orte aber auch ganz konkret Inszenierungsmöglichkeiten, typische Handlungen, Spielmaterialien oder Situationen, die in die Inszenierungen einbezogen werden können und die in Bühnenräumen nicht gegeben sind. Darüber hinaus werden meist Räume aufgesucht, die von sich aus bereits eine bestimmte Atmosphäre mitbringen. Neben öffentlichen werden daher häufig auch solche Orte gewählt, die normalerweise einem größeren Publikum nicht zugänglich sind (Bergwerke, Bunker, alte Fabrikhallen, Spielcasinos, Hotels, Hafenanlagen etc.) und schon von daher mit Assoziationen, Erwartungen und einer bestimmten Aura aufgeladen sind. Und schließlich bringen solche Orte häufig ein anderes Verhältnis zwischen Spieler/-innen und Publikum mit sich, zum Beispiel durch eine räumliche Enge, durch ungewöhnliche räumliche Platzierung des Publikums oder ungewöhnliche, aus den Gegebenheiten der Orte resultierende Sitzgelegenheiten etc. Musiktheater an solchen ungewöhnlichen Orten zu spielen, gehört beispielsweise zum Kernprofil der Pocket Opera Company (POC) in Nürnberg, die im letzten Jahr ihr 40-jähriges Bestehen feiern konnte: Shooting Stars von 2014 ist eine Neufassung des Freischütz und spielt auf dem Nürnberger Volksfest; Wagners Fliegender Holländer wurde mal in einem Linienbus und dann im Waschsalon gegeben (Air Bus Adventure 2011 und Wash House Adventure 2012) und Verdis Macbeth erklang auf dem Reichsparteitagsgelände (1995). Typisch für die POC ist dabei, dass die Orte nicht immer sinnfällig gewählt, sondern bewusst auch als Kontrast eingesetzt werden. So spielte die Liebesgeschichte zwischen Venus und Adonis in der peruanischen Barockoper La Púrpura de
78 | Desi, Thomas: »ZOON Musiktheater«, in: J. Everhartz/K. Tornquist (Hg.), Fragen an das Musiktheater (2012), S. 41-54, hier S. 43. 79 | Auch hier vollzieht das Freie Musiktheater im Grunde nur nach, was im Freien Theater und der bildenden Kunst unter dem Stichwort site specific theatre bzw. site specific art bereits in den siebziger Jahren eingesetzt hat. Allerdings geht die Auseinandersetzung mit Räumen im Musiktheater auch eigene Wege, sofern hier insbesondere die Perspektive des Hörens und der Klänge thematisiert wird.
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la rosa in einem eher prosaischen, ehemaligen Busdepot.80 Ebenso bezieht die POC verstärkt populäre Theaterelemente mit ein: So bespielten in dieser Inszenierung die Parcourskünstler Crap Movements die alte Montagehalle; bei One charming night (2004), einer Kombination von Purcells Fairy Queen und Bussottis La Passion selon Sade, spielten Feuerkünstler/-innen mit, und in pocs space enterprise von 2010, wiederum einer Collage aus Monteverdi, Purcell, Schumann und Saint-Saens, übernahm die Breakdancecompany Bounce! eine zentrale Rolle.
Abbildung 1: Deutschen Erstaufführung von »La púrpura de la rosa«, IGMIV-Halle in Nürnberg/Schweinau, 2014 Die Musik der Opern erklingt stets stark bearbeitet, in neuer Instrumentierung und für ein Kammerensemble. So sehr die jeweilige Inszenierung sich von den gewählten Orten inspirieren lässt, die Musik bleibt davon unberührt, das heißt, sie könnte im Prinzip auch in anderen Räumen gespielt werden und geht nicht von den spezifischen Klangmöglichkeiten der Räume selbst aus. Einen anderen Umgang mit Räumen zeigen die Arbeiten von Oper Dynamo West. Bei ihnen geht es nicht darum, Stücke in einen bestimmten Raum zu setzen, sondern sie allererst aus diesem heraus zu entwickeln, in textlicher, performativer und musikalischer Hinsicht: »Wir inspizieren und erforschen Orte, wir führen Interviews und sammeln Materialien. Das entstandene Recherchematerial verweben wir mit fiktiven Elementen und zeigen unsere Stücke vor Ort oder bringen sie ins Theater. Wir arbeiten mit der Architektur und Geschichte unserer Spielorte und beeinflussen, transformieren und hintergehen urbane 80 | La Púrpura de la rosa von Tomás de Torrejon y Velasco (Musik) und Pedro Calderón de la Barca, 2014.
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Matthias Rebstock Strukturen. Auch die Musik für unsere Inszenierungen entsteht im Rechercheprozess: Aus den Klängen und Geräuschen des Ortes und seiner Menschen oder aus bereits bekannten Kompositionen, die im realen Kontext plötzlich neu klingen.« 81
Oper Dynamo West ist gegenwärtig ein Team von sieben Theaterschaffenden, die an den unterschiedlichen Projekten in immer wieder unterschiedlichen Konstellationen und mit unterschiedlichen Funktionen zusammenarbeiten.82 Oper Dynamo West ist also kein Ensemble, sondern eher eine Produktionsgruppe, deren Wiedererkennungsmerkmal in einem spezifischen Musiktheateransatz und nicht so sehr in einer spezifischen künstlerischen Handschrift besteht.83 In Das Wort haben die Benützer von 2012 steht der Aspekt der Klangrecherche als Ausgangspunkt im Zentrum. Bei diesem Projekt führte Janina Jansen Regie und arbeitete mit dem amerikanischen Komponisten Bill Dietz zusammen. Gemeinsam erkundeten sie zwei von Le Corbusier errichtete, nahezu baugleiche Häuser in Berlin und Marseille. Jansen und Dietz sammelten Bild- und Tonmaterialien in den Gebäuden, machten Aufnahmen der Umgebungsgeräusche, führten Interviews mit den Bewohnerinnen/Bewohnern und fragten sie nach ihren Lieblingsmusiken. Diese field recordings und Interviewaufnahmen verarbeitete Dietz dann zu einer Komposition, die bei den Aufführungen bzw. inszenierten Führungen durch die Gebäude aus den privaten Stereoanlagen der Bewohner und mobilen Abspielgeräten der Besucherinnen erklang.84 Die Dramaturgie solchen Musiktheaters wird dabei nicht mehr von der Musik, dem Text oder einer Handlung getragen, sondern von den Orten und Räumen selbst. Sie muss von jedem Zuschauer bzw. jeder Zuschauerin erlaufen werden, bleibt brüchig, momenthaft und fragmentarisch.
81 | Oper Dynamo West (Hg.), http://www.operdynamowest.org. 82 | Oper Dynamo West sind: Janina Benduski (Dramaturgie/Produktion/PR), Janina Janke (Regie/Bühne), LEE Soo-eun (Bühne/Kostüme/Performance), Johannes Müller (Regie), Andrea Oberfeld (Produktion), Julie Rüter (Bühne/Kostüme) und Frederike Wagner (Kommunikationsdesign). 83 | Vgl. das Interview von Mireia Ludwig mit Andrea Oberfeld und Johannes Müller am 24. Juni 2013. 84 | Vgl. Oper Dynamo West (Hg., Onlinepublikation). Mit einem ähnlichen, auf Klangrecherchen und Interviews gestützten Ansatz arbeiten zum Beispiel Musiktheater bruit bei ihrem Projekt Klangexpedition Ural, Ballhaus Ost, Berlin, 2013, oder Gordon Kampe, Ivan Bazak und Katharina Ortmann bei ihrem vom Fonds Experimentelles Musiktheater geförderten Projekt Plätze Dächer Leute Wege. Musiktheater für ein utopisches Bielefeld, in dem sie über zwei Jahre Utopien der Bewohner/-innen Bielefelds zur Veränderung ihrer Stadt initiieren und komponieren (Uraufführung 29. April 2015, Theater Bielefeld).
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Abbildung 2: »La Parole est aux usagers« Kunstprojekt von Bill Dietz und Janina Janke, Marseille 2013
2.3 Andere Formen und Formate Was sich hier abzeichnet, ist eine intensive Suche nach anderen Aufführungsformaten im Freien Musiktheater. Eine Tendenz besteht dabei in der Hinwendung zu installativen Formen. Die Musik übernimmt hier häufig eher die Aufgabe, Klang- bzw. Hörräume aufzuspannen, als zeitliche oder dramatische Spannungsbögen zu zeichnen. Musik wird gegenüber der tradierten Auffassung einer ephemeren Zeitkunst eher in ihrer Materialität, ihrer körperlichen Dimension und in ihrem unmittelbaren Bezug zum Raum gesehen, der sie überhaupt erst zum Erklingen bringt. In solchen Formen zeigen sich sowohl die Erfahrungen mit repetitiver Musik und Minimal Music als auch solche mit Klangkunst und Klanginstallation.85 So zog Berthold Schneider in seiner Version von Einstein on the Beach von Philip Glass und Robert Wilson die Konsequenz aus dem räumlichen Charakter der Musik. Er löste die klassische, frontale Grundsituation der Oper auf und verwandelte sie in eine begehbare Installation.86 Als Ort hatte Schneider 85 | Dieser Perspektivwechsel wird gegenwärtig insbesondere von den sound studies und der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit audio cultures stark gemacht. Vgl. zum Beispiel Schulze, Holger (Hg.): Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate, Bielefeld: transcript 2008; Sterne, Jonathan (Hg.): The Sound Studies Reader, London: Routledge 2012; oder Cox, Christoph/Warner, Daniel (Hg.): Audio Culture. Readings in Modern Music, New York: Continuum 2004. 86 | Die Premiere war 2005. Zwischen 1999 und 2003 hat Berthold Schneider zusammen mit Susanne Vinzenz überdies die staatsbank berlin geleitet. Sie war das einzige
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die Parochialkirche in Berlin gewählt, die sich durch eine runde Grundanlage auszeichnet und damit schon von sich aus keine räumliche Trennung von Darstellenden und Publikum impliziert. Es gab verschiedene Objekte und visuelle Stationen im Raum, und auch die Musiker/-innen waren verteilt bzw. bewegten sich durch den Raum. Die Zuschauer/-innen konnten sich in dieser Operninstallation ebenfalls frei bewegen, den Abstand zu den Musizierenden und die Verweildauer bei den einzelnen Stationen selbst bestimmen. Der entscheidende Eindruck war aber, dass die Musik in gewisser Weise selbst den Raum der Installation hervorgebracht hat. Auf ganz andere Weise arbeitet der Komponist und Installationskünstler Georg Nussbaumer seit vielen Jahren an Musiktheaterinstallationen, in denen er sich immer wieder mit Elementen und Versatzstücken des unerschöpflichen Wagnerkosmos beschäftigt. In Ringlandschaft mit Bierstrom 87 löst er die Partituren des ›Rings‹ vollständig auf und macht sie zu einem Materialfundus für eine 16-stündige Installation, in der akustisch wie visuell immer wieder Anspielungen und Assoziationen aus dem Wagnerkosmos aufscheinen und wieder in einem großen Klanggebilde vergehen. Die Musiker/-innen des Solistenensemble Kaleidoskop agieren räumlich – aber nicht musikalisch – getrennt in unterschiedlichen Installationen, die mit der Nussbaumer eigenen drastischen Fantasie im Urgrund des Mythos Wagner stöbern. In gewisser Weise sind diese Musiktheaterinstallationen von Nussbaumer ins Reale umgestülpte und für das Publikum begehbare, innere Assoziationsräume oder Resonanzräume, in denen Nussbaumers Wagnerobsessionen widerhallen. Solche räumlich-installativen Formen, wie sie sich bei Schneiders oder Nussbaumers Operninstallationen und bei vielen anderen gegenwärtig zeigen, sind Konsequenz einer spezifischen inhaltlichen und musikalischen Disposition. Sie sind nicht etwa nachträgliche ›Regieeinfälle‹ oder bloße Inszenierungsstrategien, sondern setzen bei einem gewandelten Musikverständnis selbst an (Schneider) bzw. lassen Musik und Szene, Hörraum und Sehraum gleichzeitig und in ihrer unmittelbaren Wechselbeziehung auseinander hervorgehen (Nussbaumer).
Produktionshaus für Musiktheater in Berlin, das sich konsequent experimentellen und neuen Formen von Musiktheater verschrieben hat. 87 | Zusammen mit dem Solistenensemble Kaleidoskop, Donaueschinger Musiktage und Sophiensaele, Berlin, 2013. Weitere Beispiele sind: Milchstrom, Fragebett, Gralsmaschinen – Ein Lohengrin-Gelände, Kunstfest Weimar, 2013; Die Jaffa Orangen des Richard W. – ein israelisches Rheingold, Radialsystem V in Berlin und Operadagen Rotterdam, 2012.
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Abbildung 3: »Ringlandschaft mit Bierstrom – ein Wagner-Areal« (UA) St.Johannes-Evangelist-Kirche, Berlin 2013 In den Formen und Formaten, die sich in den unterschiedlichen Bereichen des Freien Musiktheaters gegenwärtig entwickeln, zeichnen sich ähnliche Grundzüge ab, wie sie für die Entwicklung des Theaters insgesamt charakteristisch sind und die mit Schlagworten wie der Performativität und Ereignishaftigkeit des Theaters, der hervorgehobenen Rolle körperlicher und materieller Vollzüge und Prozesse oder eben dem Arbeiten mit Atmosphären und Räumen nur grob skizziert sind. Das Musiktheater muss innerhalb dieses Szenarios seine Positionen jeweils anhand der Frage des Verhältnisses zwischen Musik und Szene bzw. zwischen Hören und Sehen bestimmen. Die Musik in ihrem grundsätzlich nichtsprachlichen, performativen und emotionalen Charakter ist dabei ein prädestiniertes Element gegenwärtigen Theaters – auch im Sprechtheater. Aber es ist Sache des Musiktheaters, die Verhältnisse von Hören und Sehen grundsätzlich zu befragen, zu komponieren und zu ›bespielen‹. Vor diesem Hintergrund ist eine Richtung des Freien Musiktheaters interessant, die nicht primär narrativ, sondern quasi phänomenologisch ausgerichtet ist und direkt spezifische Wahrnehmungsverhältnisse untersucht.88 Manos Tsangaris hat hierfür mit winzig. Musiktheaterminitaturen – Musiktheater für ein Haus (1993/98)89 ein Format erfunden, das er seither in einer Reihe von Stücken stetig weiterentwickelt und mit immer neuen Elementen
88 | Vgl. dazu Rebstock, Matthias: »Im Fluchtpunkt der Sinne. Musiktheater als Arbeit an einer Phänomenologie des Hörens«, in: Christa Brüstle/Clemens Risi/Stephanie Schwarz (Hg.), Macht Ohnmacht Zufall, Berlin: Theater der Zeit 2012. 89 | Uraufführung war in der Alten Feuerwache Köln 1993.
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erweitert.90 Winzig besteht aus einer Reihe von Musiktheaterminiaturen von wenigen Minuten Dauer, denen jeweils eine ganz spezifische Konstellation zugrunde liegt, wie sich Zuschauer/-innen und Musiker/-innen zueinander und im Raum verhalten. Nach dem Schaubudenprinzip kann immer eine begrenzte Anzahl von Zuschauenden eine Miniatur sehen, danach wird eine andere Gruppe hereingelassen, und das Stück wird wiederholt. Daneben gibt es Stücke, die installativ angelegt sind und ohne Unterbrechung über die Dauer der gesamten Aufführung gespielt werden. Hier bestimmt das Publikum über die Verweildauer selbst. Für alle Stücke mit begrenzter Dauer ist charakteristisch, dass sie aus vollkommener Dunkelheit heraus beginnen und über genau auskomponierte Lichtverläufe verfügen, die genau wie die Aktions-, Instrumentalund Vokalparts in der Partitur festgelegt sind. Das Stück winzig aus dem Zyklus winzig ist beispielsweise im Prinzip für eine klassische Konzertsituation geschrieben. Sechs Musiker/-innen sitzen auf der Bühne, sieben Personen bilden das Publikum. Unter diese sieben mischen sich drei weitere Musiker/-innen als »künstliches Publikum«91, die zu Beginn des Stückes mit Bonbonpapieren rascheln, Kommentare abgeben und andere typische Konzertrituale aufgreifen. Während des Stücks ›bespielen‹ sie ihre Sitznachbar/-innen direkt an deren Ohren, sodass sich der intime Nah-Hörraum mit dem öffentlichen des ›Konzerts‹ auf der Bühne überlagert. Bei Sessellift ist die Situation auf andere Weise intim: hier sitzen zwei Zuschauer/-innen einem ›Fahrstuhlführer‹ gegenüber. Das Stück dauert so lange, wie eine Fahrstuhlfahrt nach oben und wieder hinunter dauert. Während der Fahrt führt der Fahrstuhlführer kleine rituell anmutende Instrumentalaktionen durch. Es gibt eine Art Schrein bzw. eine Minibühne, auf der im Däm90 | Weiterentwicklungen des Konzepts von winzig sind: Die Döner-Schaltung. Stationentheater für großes Ensemble, Bühnen der Stadt 2004; Drei Räume Theater Suite. Stationentheater für großes Ensemble, Donaueschinger Musiktage 2004; Diskrete Stücke. Stationentheater. Hörszenen für einzelne Betrachter, WDR, Musik der Zeit 2007, oder Batsheba. Eat The History! Installation opera für Schauspieler, Sänger, Chor und Orchestermäander, Donaueschinger Musiktage und Magazin der Staatsoper unter den Linden 2008/2009. Die Weiterentwicklung des Konzepts besteht unter anderem darin, dass Tsangaris sein ›phänomenologisches‹, abstraktes Konzept von winzig mit inhaltlichen und narrativen Momenten kreuzt und daraus eine neue Erzählform entwickelt. Siehe hierzu auch Rebstock, Matthias: »Vom Erzählen im Neuen Musiktheater«, in: positionen 55 (2003), S. 18-21. Zum Stationentheater von Manos Tsangaris siehe auch: Hiekel, Jörn Peter: »Erhellende Passagen«, in: Musik und Ästhetik 52 (2009), S. 48-60; und Cloot, Julia: »Gesamtkunstwerk und multimediales Musiktheater«, in: Udo Bermbach/Dieter Borchmeyer/Hermann Danuser (Hg.): Wagner und die Neue Musik, (wagnerspectrum Heft 2/2010), Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 121-142. 91 | Partitur von winzig, Thürmchen Verlag 2006.
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merlicht »ein figurenähnliches Bündel, eine kleine Taschenlampe, ein kleiner Knochen«92 zu sehen sind. Am Wendepunkt der Aufzugfahrt öffnet sich die Türe, und man blickt durch ein Fenster auf Passanten, die gerade unterwegs zu einem andere Stück sind und sich unbeobachtet glauben. Im Fenster hängen zwei Tierpräparate: »ein Vogel und ein Fisch«93. Winzig befragt mit solchen Mitteln das Verhältnis zwischen Publikum und ›Bühne‹, spielt unterschiedlichste Konstellationen von Sehen und Hören durch und versetzt die Zuschauer/-innen jeweils in konkrete Wahrnehmungssituationen, zu denen sie sich auf die ein oder andere Weise aktiv verhalten müssen. Die gesicherte und in diesem Sinne objektive Beobachterposition des Konzert- bzw. Opernhauses wird konsequent unterlaufen.
2.4 I nter ak tivität und I ntermedialität Das Musiktheater der sechziger Jahre war von vornherein eng mit den jeweils aktuellen, technologischen Entwicklungen verknüpft. Man denke an Variations V (1965) von John Cage, in denen Tanzbewegungen über verschiedene Systeme von Photozellen in Klang übersetzt wurden, oder an seine Experimente mit Schallplattenspielern oder Radiogeräten (imaginary landscape No. 5, radio music)94; oder an die Experimente von Alvin Lucier mit verstärkten Gehirnströmen (Music for Solo Performer, 1965) oder die live-elektronischen Musiktheaterarbeiten von Gordon Mumma oder Robert Ashley in der ONCE group.95 Wesentliche Impulse erhielt das Musiktheater dabei auch immer durch die Entwicklungen im Bereich der elektronischen Musik und der Computermusik. Anders als im Theater gab es hier bereits sehr früh hoch subventionierte Institutionen, in denen sich Künstler/-innen und Techniker/-innen bzw. Programmierer/-innen gegenseitig zu immer neuen Innovationen beflügelten.96 Fanden sich diese Studios für elektronische Musik bzw. Computermusik zunächst hauptsächlich an den großen Rundfunkanstalten97, sind es heute meist 92 | Ebd. 93 | Ebd. 94 | Vgl. Zeller, Hans Rudolf: »Medienkomposition nach John Cage«, in: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.), John Cage I (= Musikkonzepte-Sonderband), München: edition text+kritik 1990. 95 | Vgl. hierzu Dietrich, Ralf: »Unzensierte Simultaneität der Stimmen. Robert Ashleys Frühwerk«, in: MusikTexte 88 (2001), S. 63-80. 96 | Vgl. hierzu Scholl, Steffen: Musik – Raum – Technik. Zur Entwicklung und Anwendung der graphischen Programmierumgebung »Max«, Bielefeld: transcript 2014. 97 | Zum Beispiel Studio des WDR Köln, RAI Mailand, Siemens Studio für elektronische Musik München, Institut für Sonologie Utrecht.
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eigenständige Institutionen98 oder Einrichtungen an Universitäten99, in denen Software und Interfaces entwickelt werden, die auch für den Bereich des Musiktheaters relevant sind. Tatsächlich bewegen wir uns hier aber in einem Grenzbereich dessen, was üblicherweise noch als Musiktheater bezeichnet wird, hin zu Feldern wie »Medienkunst«, »Intermedia« oder »Multimedia« mit ihren Themenkomplexen Mensch-Maschine bzw. extended bodies100 oder hin zum Tanztheater. Diese Verbindung zeigt sich zum Beispiel in der Arbeit des Theater der Klänge in Düsseldorf. Das Theater der Klänge wurde 1987 vom Komponisten Jörg U. Lensing gegründet, der es bis heute leitet. Lensing hat sich schon sehr früh mit Möglichkeiten beschäftigt, wie Bewegung, Musik und Video per Computer verbunden und verschaltet werden können. Die Suite Intermedial von 2010 stellt in dieser Reihe so etwas wie ein Resümee all dieser Erfahrungen dar. Dabei wird der Theaterraum selbst zu einem komplexen Instrument. Die Performer/-innen – Lensing arbeitet überwiegend mit Tänzer/-innen – lösen durch ihre Bewegungen gezielt Klänge aus, auf die sie wiederum in ihren Bewegungen reagieren können. Eine solche Feedbackschleife existiert auch für Bewegung und Video. Die einzelnen Teile des Stücks wurden über Improvisationen im Raum und fortwährende Weiterentwicklung der programmierten max/msp patches entwickelt. Eine Partitur gibt es nicht. Die Präzision der Aufführung wird durch die Genauigkeit der Bewegungsfolgen der Tänzer/-innen erreicht. Da von der komplexen Verschaltung des Raumes für das Publikum nichts sichtbar ist, ist der Eindruck des Stücks eher der einer Tanzperformance. Vom Ansatz und der Denkweise geht es aber um eine Form der Komposition bzw. um »Composed Theatre«.101 Neben solchen Formen interaktiven Medieneinsatzes fallen gegenwärtig eine Reihe von Arbeiten auf, die die Mediengrenzen erkunden, indem sie bestimmte Projekte in unterschiedlichen Medien realisieren und ineinander überführen. So zeichnet sich zum Beispiel die Arbeit des liquid penguin ensemble 102 dadurch aus, dass Stücke unterschiedliche mediale Aggregatzustände 98 | Zum Beispiel das IRCAM in Paris, das STEIM in Amsterdam oder das ZKM in Karlsruhe. 99 | Zum Beispiel das Institut für Sonologie in Utrecht bzw. Den Haag oder das Elektronische Studio der TU-Berlin. 100 | Vgl. zum Beispiel http://www.medienkunstnetz.de/themen/cyborg_bodies. Und Dixon, Steve: Digital Performance. A History of New Media in Theater, Dance, Performance and Installation, Cambridge: The MIT Press 2007. 101 | Für eine ausführlichere Darstellung der Arbeitsweise siehe M. Rebstock/D. Roesner (Hg.): Composed Theatre, S. 155-168. 102 | Das liquid penguin ensemble wurde 1997 von der Regisseurin Katharina Bihler und dem Komponisten Stefan Scheib in Saarbrücken gegründet.
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annehmen können. Dabei bewegen sie sich zwischen Neuer Musik, Musiktheater, Installation und Hörspiel. Gras wachsen hören begann zum Beispiel als Installation mit von Pflanzen gesteuerten Klängen. Danach folgten drei Versionen, die durch je einen Gast ihre Form erhielten: Konzertant mit dem Schlagzeuger Dirk Rothbrust, eine Tanzperformance durch die Zusammenarbeit mit der Tänzerin Annick Pütz und eine Theaterperformance mit dem Schauspieler Bernd Neunzling. Die Texte dieser letzten Version waren dann wiederum Keimzelle für das Hörspiel Gras wachsen hören. Auch Bout du Monde existiert sowohl als musiktheatrale Performance wie auch als Hörspiel. Geht es hier um das sukzessive Übersetzen eines Themas in unterschiedliche mediale Formate, arbeitet der holländische Komponist und Regisseur Michael van der Aa mit der Reibung, die sich zwischen Film und Liveperformance ergeben. In Up-Close, einer 30-minütigen »film opera«103, tritt die Cellistin Sol Gabetta in einen imaginären Dialog mit ihrem Alter Ego als alte Frau (gespielt von Vakil Eelman). Auf der Bühne befindet sich ein Streichorchester, die Solistin sitzt an der Position, an der normalerweise die Dirigentin/der Dirigent stehen würde. Seitlich daneben ist eine Videoleinwand platziert, davor ergibt sich eine leere Bühnenfläche. Der Film changiert zwischen zwei Arten von Schauplätzen: Wir sehen die alte Frau in einem Wald, später in einem verlassenen Haus. Sie schreibt rätselhafte Codes auf kleine Zettel, die sie im Haus in Einmachgläser steckt. Dann sehen wir die Frau aber plötzlich im selben Raum, in dem das Konzert stattfindet: Die Orchesterbestuhlung ist zu sehen, die Pultlampen sind an, aber der Raum ist leer. Die alte Frau in diesem verlassenen Bühnenraum im Film scheint der jungen Solistin beim Spielen auf der realen Bühne zuzusehen. Zwei Zeitebenen berühren sich in Film und Bühnenrealität. Später kommt es zu Parallelhandlungen: Beide Frauen tragen eine große Stehlampe durch den Raum in perfekter Synchronisation, aber zu einer echten Begegnung kommt es nicht. Die Zeitebenen bleiben in surrealer Gleichzeitigkeit. Dennoch gibt es scheinbar kausale Verbindungen zwischen den zwei ›Welten‹: In der Mitte des Stücks sehen wir im Film, wie die alte Frau eine Maschine anschaltet, mit der offenbar die Blätter mit den Codes zu entschlüsseln sind. Genau in dem Moment des Anschaltens setzt das Streichorchester nach längerer Pause wieder ein, als wäre die Filmrealität ursächlich mit der Bühnenrealität verbunden und könnte das Orchester ›anschalten‹. Michael van der Aa spielt in seiner Arbeit raffiniert mit den Topoi der Filmmusik. Scheint der Film zunächst das Cellokonzert zu begleiten, wird er später zu dessen ›eigentlicher‹ Realität bzw. zu dessen ›meta-physischer‹ Bedingung. Die Medien treten auf neue Weise in Dialog miteinander, ihre Realitäten durchdringen und reflektieren sich.
103 | Rutherford-Johnson, Tim, Up-Close, DVD, booklet, disquiet media 2011.
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Abbildung 4: Vakil Eelman in »Up Close«
2.5 Verkörperte und körperlose Stimmen Es liegt auf der Hand, dass die Auseinandersetzung mit der Stimme für das Freie Musiktheater ein zentrales Anliegen und ständige Herausforderung ist. Ich beschränke mich hier auf drei Traditionslinien, die mir heute besonders interessant scheinen.104
104 | In den letzten Jahren hat dazu auch ein verstärktes Interesse der Theater- und Medienwissenschaften am Thema Stimme beigetragen, innerhalb dessen immer wieder auch die Stimme im Musiktheater thematisiert worden ist. Vgl. Kolesch, Doris/Pinto, Vito/Schrödl, Jenny (Hg.): Stimm-Welten, Bielefeld: transcript 2009; Felderer, Brigitte (Hg.): Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin: Matthes&Seitz 2005; Kittler, Friedrich/Macho, Thomas/Weigel, Sigrid (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin: Akademie-Verlag 2008; Rebstock, Matthias: »Drama der Stimmen. Zum Verhältnis von Körper und Stimme in David Martons Wozzeck«, in: Stephanie Schroedter (Hg.), Bewegungen zwischen Hören und
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Für das Neue bzw. Experimentelle Musiktheater der fünfziger und sechziger Jahre war zunächst ein materialorientierter Ansatz bestimmend, der Lautlichkeit in Auseinandersetzung mit der damaligen phonetischen Forschung als abstraktes Klangmaterial auffasste und komponierte. Sprache und Stimme wurden herausgelöst aus ihren ursprünglichen Kommunikationssituationen und als Lautmaterial untersucht. Dabei wurde auch der Bereich des Expressiven in seinen Extremen erforscht, aber weitgehend unabhängig von Situationen oder Handlungen, die solche Emotionen motiviert hätten. Es ging zum Beispiel um den Schrei, das Weinen oder das Lachen selbst. 105 Gleichzeitig wurde der traditionelle Operngesang in diesem Bereich fast vollständig ausgeblendet.106 In den siebziger Jahren trat mit einer ganzen Generation von Vokalperformerinnen eine neue Art des Singens jenseits des Operngesangs auf. Künstlerinnen wie Meredith Monk, Joan La Barbara oder Laurie Anderson, aber auch Komponisten wie Robert Ashley wandten sich archaischen oder rituellen Funktionen von Stimme und Gesang zu, wie dem Geschichtenerzählen in oralen Kulturen oder nichtwestlichen Gesangstechniken im kultischen Bereich. Ebenso spielt in der neu entstandenen Vokalperformance die Auseinandersetzung mit Pop- und Jazzgesang eine große Rolle, zum Beispiel bei Pamela Z. In beiden Fällen ging die Erweiterung der stimmlichen Möglichkeiten einher mit der Erforschung der jeweils neuesten technologischen Möglichkeiten, die durch Mikrofon und seit den achtziger Jahren Echtzeitklangbearbeitung eröffnet wurden. Während an den Opernhäusern die Vorrangstellung des traditionellen Operngesangs ungebrochen ist, hat sich das Freie Musiktheater intensiv mit diesen neuen Möglichkeiten beschäftigt. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Verhältnis von Körper und Stimme bzw. Phänomenen der körperlosen Stimme und der den Reproduktionstechniken eingeschriebenen
Sehen. Denkbewegungen über Bewegungskünste, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 325ff. 105 | Referenzstücke wären zum Beispiel Aventures und Nouvelles Aventures (196265) von György Ligeti, Anagrama (1957/58) von Mauricio Kagel oder Aria (1958) von John Cage. Vgl. hierzu Klüppelholz, Werner: Sprache als Musik. Studien zur Vokalkomposition bei Karlheinz Stockhausen, Hans G. Helms, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel und György Ligeti, Herrenberg: Musikverlag Gotthard F. Döring 1976. 106 | Aber auch für den Bereich der Neuen Oper spielte das Ausloten der Extreme von Stimmlichkeit und Gesang eine Rolle. Eric Salzman und Thomas Desi verweisen hier zum Beispiel auf den Einfluss, den der englische Sänger Roy Hart mit seinen erweiterten Stimmtechniken auf Komponisten wie Peter Maxwell Davies, Hans Werner Henze oder Harrison Birtwhistle ausgeübt hat. Vgl. E. Salzman/T. Desi (Hg.): The New Music Theatre, S. 275.
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Tendenz zur Wiederverkörperung der Stimmen.107 Durch die wesentliche Rolle von Körperlichkeit und Gestik drängen solche Performances von sich aus in Richtung Theater. Der Komponist und Vokalperformer Alex Novitz hat zum Beispiel zusammen mit dem Studio STEIM in Amsterdam ein System entwickelt, bei dem er mittels zweier Wii-Controller seine eigenen Vokalklänge bearbeiten kann. Mittels bestimmter Bewegungen kann er Klänge samplen, durch andere Bewegungen beispielsweise loopen, in der Tonhöhe modulieren, filtern etc. Auf diese Weise kann er auf der Basis seiner eigenen Sounds und durch ein bestimmtes Repertoire an Bewegungen und Gesten komplexe Strukturen entstehen lassen. Aus Sicht der Rezipierenden bleibt diese genaue Verbindung zwischen Klang und Gestik, zwischen Hören und Sehen, auf produktive Weise undurchschaubar: Mal ergeben sich Korrelationen, etwa bei punktuellen Klängen und ruckartigen Bewegungen, mal laufen die Ebenen auseinander und entwickeln je eigenständige Verläufe. Die körperlichen Bewegungen erscheinen dabei häufig wie eine eigene visuelle Musik, ähnlich wie die Bewegungen eines Dirigenten/ einer Dirigentin ohne Orchester bestimmte musikalische Vorstellungen hervorrufen.108 Diese sichtbare ›Körpermusik‹ und die tatsächlich aus den Lautsprechern erklingende Musik treten in Reibung zueinander. Und schließlich bilden die direkt erzeugten Vokalaktionen mit der ihnen eigenen Körperlichkeit noch eine dritte Ebene. Miguel Azguime, Komponist, Performer und Leiter des miso Ensembles in Lissabon nutzt ebenfalls die technischen Möglichkeiten, um Stimme in einen theatralen Raum zu projizieren. In seinem Musiktheater Salt Itinerary. Für Stimme, live-electronic und multimedia (2003/06) geht er von der Zwitternatur des Wortes aus: Das Wort ist Lautgebilde und Schriftzeichen gleichermaßen und verbindet so das Akustische mit dem Visuellen. Azguime agiert selbst als Performer auf der Bühne, die nur aus Tisch und Stuhl sowie einer großen Projektionsfläche besteht. Er führt von ihm geschriebene, durchmusikalisierte Lautgedichte auf, die die Videobilder auf der Projektionsfläche steuern. So entsteht zum Beispiel in einer Szene eine animierte Buchstabenlandschaft, die Azguime als Performer selbst anzugreifen scheint und ihn schließlich völlig überdeckt und ›auslöscht‹. Die physische Präsenz von Azguime verschwindet in dem von ihm selbst initiierten Buchstabendickicht und in einer Klangwolke, die sich durch die Elektronik längst von dem Körper gelöst hat, der sie ursprünglich einmal ›herauf beschworen‹ hat. Auch hier verschwimmen also 107 | Vgl. Macho, Thomas: »Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme«, in: Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hg.), Stimme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 108 | Vgl. Schnebel, Dieter: Nostalgie, Solo für einen Dirigenten (= visible music II), Mainz: Schott 1962.
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durch die technische Rückkopplung die Grenzen zwischen Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion sowie Realraum und technologisch erzeugten Räumen. Neben den beiden genannten Bereichen spielt die Wiederentdeckung des Chorischen speziell für den Bereich eines musikalisierten, postdramatischen Theaters eine wichtige Rolle. Der Chor tritt als akustische und visuelle Einheit von Körpern auf. Aus ihm können einzelne Körper und Stimmen heraustreten, er hebt aber auch Stimme als Ausdruck von Individualität auf, zieht sie zu einer »neuen, unheimlich verselbständigten Chor-Stimme, die weder individuell noch auch nur abstrakt kollektiv ist«109, zusammen. Zusätzlich zu dem damit angedeuteten Themenkomplex von Stimme, Individualität und (Kollektiv-)Körper ist für unseren Kontext die Musikalisierung von Sprache von besonderem Interesse, die mit dem chorischen Sprechen einhergeht. Wie oben bereits erwähnt, ist hier der Einfluss, den das chorische Theater von Christoph Marthaler auf das Freie Musiktheater im deutschsprachigen Raum ausgeübt hat, kaum zu überschätzen. Seine Techniken, Sprache zu musikalisieren, sein Ansatz, die Dramaturgie eines Stücks auf musikalisch-kompositorischen, collageartigen Prinzipien aufzubauen110, und die zentrale Rolle, die der chorische A-cappella-Gesang spielt, wurden für eine Reihe von Ensembles zum Ausgangspunkt für die je eigenen Erkundungen.111
2.6 M usiker /- innen als D arsteller /- innen Ich hatte im Kapitel zu den Arbeitsprozessen bereits darauf hingewiesen, dass sich durch die Veränderungen in den Prozessen und durch Probentechniken, die sich an solchen des Freien Theaters orientieren, die klassische Rollen- und Kompetenzverteilung verschiebt: wir sehen Schauspielerinnen, die singen, Tänzer, die sprechen und singen, und Musikerinnen, die als Darstellerinnen auftreten. Während für die Oper – und das gilt auch für weite Teile der freien Opernproduktionen – die Trennung zwischen den Sänger-Darstellern auf der Bühne und den Instrumentalensembles im Graben (bzw. irgendwo außerhalb der Bühne) typisch ist, richtet sich in vielen Bereichen des Freien Musiktheaters das Interesse genau auf die Auflösung dieser strikten Trennung. Falk Hübner hat eine Systematisierung unterschiedlicher Formen entwickelt,
109 | H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 235. 110 | Zur musikalischen Dramaturgie vgl. D. Roesner: Musicality in Theatre, S. 212f. 111 | Zum Beispiel Musiktheater bruit, schindelkilliusdutschke oder das Ensemble leitundlause.
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wie Musiker als Performer auftreten können.112 Am einen Ende der Skala steht hier die Theatralisierung des Instrumentalspiels selbst: Die Musikerinnen tun zunächst nichts anderes als ihre Instrumente zu spielen. Die Wirkung einer Theatralisierung, die in der Wahrnehmung des Publikums entsteht, wird zum Beispiel durch die Art der Instrumente erzeugt, durch ungewöhnliche Spieltechniken113, durch szenische Parallelaktionen oder Ähnliches. Die Skala erstreckt sich dann über Formen, in denen Musikerinnen zusätzliche Aktionen ausführen, weiter über einfache Formen der Verkörperung einer theatralen Rolle bis zum anderen Ende der Skala. Hier stehen Performer, die gleichermaßen als Schauspieler wie als Musiker in Erscheinung treten: zum Beispiel Jörg Kienberger oder Clemens Sienknecht aus der ›Marthaler-Familie‹, Marie Goyette und Jan Czajkowski aus der ›David-Marton-Familie‹, Sir Henry an der Volksbühne Berlin, Françoise Rivalland oder Jean-Pierre Drouet im Umfeld von Georges Aperghis oder Martin Hägler in den Stücken von Ruedi Häusermann. Den Zwischenformen sind keine Grenzen gesetzt. Tatsächlich hat bereits Mauricio Kagel diese Möglichkeiten in seinem Instrumentalen Theater der sechziger Jahre systematisch erkundet und durchgespielt.114 Neu ist aber die Selbstverständlichkeit und Offenheit, mit der sich heute Musiker/-innen und Ensembles solchen performativen Aufgaben gegenüber verhalten. Ebenso ist auffällig, dass sich hier ein Feld zwischen Musiktheater und Tanztheater eröffnet hat, insofern sich nämlich zunehmend Choreographinnen und Choreographen für das Musikmachen als körperlichen Bewegungsablauf interessieren.115 Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist das Projekt Movements für Lachenmann (und später More Movements für Lachenmann), das der französische Choreograph Xavier Le Roy mit verschiedenen Musiker/-innen durchgeführt hat, unter anderem vom Kammerensemble Berlin und dem Klangforum Wien.116 Für Lachenmanns Salut für Caudwell ließ er zwei Gitarristen die Partitur von den Bewegungen her exakt ausführen – aber ohne Instrumente. Die Musik wurde in perfekter Synchronisation von zwei anderen 112 | F. Hübner: Shifting Identities. Er stützt sich hierbei auf Michael Kirbys Kategorien zwischen not-acting und complex acting. Vgl. Kirby, Michael: A Formalist Theatre, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1987. 113 | Vgl. Schnebel, Dieter: »Sichtbare Musik«, in: ders., Anschläge – Ausschläge. Texte zur Neuen Musik, München: Hanser 1993 (zuerst 1966), S. 262-300. 114 | Vgl. Rebstock, Matthias: Komposition zwischen Musik und Theater. Das instrumentale Theater von Mauricio Kagel zwischen 1959 und 1965, Hofheim: Wolke 2007. 115 | Vgl. hierzu auch Petra Sabischs Studie in diesem Band. Sie verweist in Kapitel 2.5 auf das Konzert als thematischen Schwerpunkt des Tanzfestivals sommer.bar, das von 2006 bis 2011 im Rahmen von Tanz im August stattgefunden hat. 116 | In einer Produktion der taschenoper wien, 2005, bzw. von Le Kwatt, Montpellier, 2008.
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Gitarristen hinter einer schwarzen Wand gespielt.117 Die Bewegungen, die normalerweise nur funktional sind und zur Klangerzeugung dienen, werden zur Hauptsache, zu einer Choreographie und lassen die vollkommene Ökonomie und Präzision der über Jahrzehnte verinnerlichten Bewegungsabläufe von Musiker/-innen hervor- und in Dialog treten mit Lachenmanns Musik. Gleichzeitig hört man Lachenmanns Musik völlig neu, da man die Klänge nicht mehr optisch an ihre Klangerzeugung rückbinden kann, wie sonst im Konzert.
2.7 Konzeptualisierung, Wirklichkeitsbefragung, Forschung Das freie Sprech- und Tanztheater agiert heute hochgradig selbstreferentiell und hinterfragt durch die Arbeit an Formaten, Wahrnehmungsmustern und Mediengrenzen immer wieder die Bedingungen der eigenen Arbeit. Seit einem Jahrzehnt ist zudem ein besonderes Interesse an der Arbeit mit nichtprofessionellen Darsteller/-innen und eine Tendenz zum Dokumentarischen und Politischen zu beobachten.118 Diese Entwicklungen hat längst auch an den Stadt- und Staatstheatern Platz gegriffen, nicht zuletzt dadurch, dass die prägenden Akteur/-innen des Freien Theaters inzwischen auch an den Häusern agieren. Viele Akteur/-innen begreifen dabei ihre Arbeit als Forschung. Vor dem Hintergrund der seit den BolognaReformen im akademischen Bereich intensiv geführten Debatten um künstlerische Forschung einerseits und den soziologischen und wissenschaftstheoretischen Diskursen zu neuen Wissensformen andererseits geht es hierbei nicht mehr nur um eine metaphorische Redeweise.119 Durch die Beschränkung auf das etablierte Repertoire und die Doktrin einer musikalischen Werktreue bestehen für solche Ansätze an den Opernhäusern kaum Spielräume, jedenfalls nicht auf den großen Bühnen.120 Im 117 | Mit Gunter Schneider, Barbara Romen, Tom Pauwels und Günther Lebbing. 118 | Im deutschsprachigen Raum stehen für diese Zusammenhänge exemplarisch die Arbeiten von Rimini Protokoll, Gob Squad, She She Pop, God’s Entertainment, Hans-Werner Kroesinger oder die Theaterprojekte des International Institute for Political Murder. Vgl. auch Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.):
Politisch Theater machen.
Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld: transcript 2011. 119 | Zur Diskussion über die Konvergenz von Künsten und Wissenschaften siehe zum Beispiel Mersch, Dieter/Ott, Michaela (Hg.): Kunst und Wissenschaft, München: Wilhelm Fink 2007; Bippus, Elke (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich: diaphenes 2009; Tröndle, Martin/Warmers, Julia (Hg.): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst, Bielefeld: transcript 2012. 120 | In vielen Häusern mangelt es schlicht an kleineren Spielstätten, auf denen solche Ansätze erprobt werden könnten. Vgl. hierzu M. Rebstock: »Musiktheater«.
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Freien Musiktheater lassen sich hier hingegen eine ganze Reihe von Ansätzen finden. Dabei ist die zentrale Frage, wie das Spezifikum des Musiktheaters, nämlich mit musikalischen Mitteln zu arbeiten, jeweils konzeptionell und als Forschungsinstrument produktiv gemacht werden kann. Häufig anzutreffen sind hier Ansätze, die auf die musique concrète oder die Soundscape-Forschung von Murray Schafer zurückverweisen: in einer Recherchephase wird konkretes Klangmaterial gesammelt, das als Ausgangspunkt für die kompositorische Arbeit dient.121 Der Komponist Hannes Seidl und der Videokünstler Daniel Kötter haben sich mit ihren konzeptionell angelegten Musiktheaterproduktionen in den letzten Jahren einen Namen gemacht. In einer Reihe von gemeinsamen Arbeiten beschäftigen sie sich mit dem Alltag bestimmter Personengruppen und haben diese auf die Bühne gebracht.122 Sie begleiten die Menschen mit der Kamera in ihrem Alltag und gewinnen aus der Tonspur der Filmaufnahmen das Basismaterial für Seidls Kompositionen. In Freizeitspektakel123 treten hingegen keine Laien auf, sondern die Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Kötter und Seidl haben sie einen Tag, von morgens um 8 Uhr bis abends 20 Uhr begleitet, bis zum Beginn eines Konzertauftritts. Man sieht die fünf Sänger/-innen bei alltäglichen Handlungen, sieht sie – in deutlich inszenierten Situationen – Barockarien singen, sieht sie, wie sie sich auf ein Konzert vorbereiten, sodass die letzte Filmsequenz der Moment unmittelbar vor dem Auftritt auf die Bühne um 20 Uhr ist. Der Musiktheaterabend besteht dann aus einem Konzert der fünf Vocalsolisten, die Musik von Hannes Seidl aufführen, und den fünf Filmporträts, die auf schmale Projektionsflächen in Lebensgröße direkt neben jeder Sängerin/jedem Sänger erscheinen. Was visuell getrennt ist und parallel läuft, wird musikalisch verbunden, und zwar dadurch, dass Hannes Seidl die Tonspur der Filme als Ausgangspunkt für seine Vokalkomposition nimmt und häufig den Soundtrack durch Vokalklänge doppeln lässt. Akustisch verschwimmen also die Grenzen zwischen der privaten und der öffentlichen Wirklichkeit der Sänger/-innen, die visuell als weitgehend getrennt vorgeführt werden. Liegt Kötters und Seidls Arbeiten eine Wirklichkeit erforschende und dokumentierende Haltung zugrunde, hat sich das Berliner Ensemble a rose is um den Komponisten und Regisseur Julian Klein ganz explizit auf den Bereich der künstlerischen Forschung verlegt. Zusammen mit dem Radialsystem V und damaligen Mitgliedern der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gründete a rose is 2009 das Institut für künstle121 | Ein weiteres Beispiel wäre die Arbeit von Oper Dynamo West, siehe 2.2. 122 | Zum Beispiel in Falsche Freizeit. Elektronische Arbeitsplätze für den Ruhestand, Sophiensaele 2010, oder in Falsche Arbeit. 4 konzertante Selbstdarstellungen, Festival Sommer in Stuttgart 2008. 123 | Freizeitspektakel. Für die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, Biennale Venedig 2010.
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rische Forschung. Seither sind eine Reihe von Projekten entstanden, die meist in Kooperation mit universitären Einrichtungen durchgeführt wurden. Ziel ist eine Durchdringung von wissenschaftlichen und künstlerischen Strategien und die Etablierung einer Forschung, die nicht mehr nur den Wissenschaften vorbehalten ist. In dem Projekt Do birds tango? von 2010 kooperierte a rose is mit der Verhaltensbiologin Constance Scharff, Leiterin einer interdisziplinären Arbeitsgruppe an der Freien Universität Berlin zum Thema Vogelgesang. Gemeinsam entwickelten sie ein Musiktheaterprojekt zur Rhythmik und Emotionalität des Gesangs von Zebrafinken. Dabei lebten eine Reihe von Musiker/-innen über längere Zeit mit jungen Zebrafinken, zogen sie auf und ›bespielten‹ sie drei Mal täglich mit musikalischen Mustern. Aus wissenschaftlicher Perspektive handelte es sich hierbei um ein Experiment zum Lern- und Kommunikationsverhalten der Vögel. Aus künstlerischer Perspektive erlebte man einen Musiktheaterabend über (Vogel-)Stimmen und Gesang sowie das Zusammenleben zwischen Mensch und Tier.
Abbildung 5: »Freizeitspektakel«, Stuttgart 2010
2.8 Oper als Material Stücktexte als Material zu begreifen, sie zu dekonstruieren, mit anderen Texten oder Materialien zu durchkreuzen und wieder neu zusammenzusetzen, solche Techniken gehören zu den Möglichkeiten des Regietheaters, die im Bereich des Sprechtheaters längst durchgesetzt sind. An den Opernhäusern sorgen hingegen schon kleinste Eingriffe in die musikalische Partitur für heftige Kontroversen und eine Werktreuedebatte, die, schaut man aus anderen Bereichen avancierter Künste hinüber zur Oper, mit kaum nachvollziehbarer Emotionalität geführt wird –so als gälte es einen letzten Tabubruch zu verhindern. Dabei
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gibt es im Bereich der Oper kaum eine drängendere Frage als die, wie wir mit dem besonderen kulturellen Vermächtnis umgehen können, das die Repertoireopern darstellen, und wie wir es schaffen, dem von ihnen an uns gerichteten Anspruch nachzukommen, ihnen künstlerisch auf Augenhöhe zu begegnen.124 Für das Freie Musiktheater bildete die Möglichkeit, mit den Repertoireopern szenisch und musikalisch frei umgehen zu können, von Anfang an eine der Grundmotivationen (siehe 1.3). Allerdings blieb es hier oft nur bei mehr oder weniger weitgreifenden Bearbeitungen. Wenn Opernpartituren zum Material werden, ist damit aber mehr gemeint, auch wenn die Übergänge fließend sind: Es geht um Ansätze, bei denen die Opernstoffe und -kompositionen Ausgangspunkt, Referenzfolie, Materialfeld sind, die sich aber als Neukompositionen bzw. neue Stücke verstehen. Aufgeführt werden nicht die Opern – wie auch immer stark bearbeitet –, sondern Eigenkreationen, die sich mit den Opern auseinandersetzen, ähnlich wie wir das aus Formen des postdramatischen Theaters oder der Dekonstruktion von Theatertexten bei Frank Castorf kennen. David Marton, der sich bezeichnenderweise im Schauspiel einen besonderen Namen gemacht hat, aber nicht an den Opernhäusern inszeniert, formuliert diesen Ansatz treffend und knapp: »Ich mache Theater, musikalisches Theater, und dazu nutze ich immer wieder Opernmaterial.«125 Mit einem solchen Ansatz arbeitet zum Beispiel die Veenfabriek in Leiden. In ihrer Produktion Orfeo naar Monteverdi von 2010 greifen sie Madrigale aus Monteverdis Orfeo auf, überblenden sie mit elektronischen Klängen, minimal music, experimentellen, frei improvisierten Elementen und Popsongs. Hier wird nicht die Geschichte von Orpheus und Euridike erzählt, sondern ihr Klima von Sehnsucht, Verzweiflung und Verlangen aufgegriffen. Im Zentrum steht dabei der Schauspieler und Sänger Jeroen Willems, der von einem Instrumentalensemble begleitet wird. Seine Position in diesem Konzertsetting ist die des Sängers, des Stars und von daher des Orpheus, aber er verkörpert ihn nicht, bleibt zumindest immer auch er selbst mit seiner ihm eigenen hypnotischen Bühnenpräsenz. 124 | Und die Frage wird umso drängender, sofern man den innovativen Impuls, der vom Regietheater in der Oper von Regisseuren wie Hans Neuenfels oder Ruth Berghaus seit Mitte der siebziger Jahre ausging, für verbraucht hält. Diese Position bildete zum Beispiel den Ausgangspunkt für das Forschungsprojekt Zukunft der Oper, das Barbara Beyer an der Kunstuniversität Graz durchgeführt hat. In diesem Rahmen entstanden drei Versionen von Mozarts Così fan tutte, die nach neuen Wegen gesucht haben. Siehe hierzu: Beyer, Barbara/Kogler, Susanne/Lemberg, Roman (Hg.): Die Zukunft der Oper, Berlin: Theater der Zeit 2014. 125 | David Marton in Eilers, Dorte Lena und Raddatz, Frank: »Angriffe aus der Gegenwelt. Die Regisseure David Marton und Sebastian Baumgarten über Musik, Theater und die Zukunft der Oper«, in Theater der Zeit (2012), S. 13-18, hier S. 13.
Spielarten Freien Musiktheaters in Europa
Abbildung 6: »Orfeo naar Monteverdi«, Leiden in der Scheltemagebouw 2009
3. A bschluss Ziel meiner Ausführungen war es, Fragestellungen und Themenfelder zu eröffnen, die aus meiner Sicht für eine eingehende Beschäftigung mit dem Freien Musiktheater in Europa tragfähig sein können. Eine solche Forschung müsste – stärker als ich das hier tun konnte – den jeweils unterschiedlichen theatergeschichtlichen und kulturpolitischen Hintergründen Rechnung tragen. Sie müsste sich mit der jeweiligen ›Kultur des Freien Musiktheaters‹ befassen: mit der Existenz und Beschaffenheit seiner gesellschaftlichen Verankerung, mit den Fördersystemen, den Produktionsstrukturen, mit der Nachfrage durch ein Publikum und den Strukturen, wie die Rezeption und die Rückführung in einen öffentlichen Diskurs organisiert ist. Die künstlerischen Praktiken und Prozesse finden vor diesem Hintergrund statt; sie entstehen in Reaktion auf die Bedingungen und formen diese gleichzeitig mit. Da das Freie Musiktheater in den wenigsten Ländern in Europa eine breite kulturelle Verankerung hat, liegt seine Zukunft wahrscheinlich in der internationalen Vernetzung und dem Auf bau einer internationalen Perspektive.126 Für dieses Unterfangen könnte eine eingehendere, international aufgestellte Forschung zum Freien Musiktheater in Europa einen wichtigen Beitrag leisten.
126 | Die Neuköllner Oper in Berlin hat diese Konsequenz für sich bereits gezogen. Mit den Festivals open op! Europäisches Festival für anderes Musiktheater 2010 und Move op! Festival für Musiktheater unter prekären Bedingungen 2013 setzte sie Akzente und initiiert seitdem verstärkt internationale Koproduktionen.
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Matthias Rebstock
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Spielarten Freien Musiktheaters in Europa
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Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft Kulturpolitische Überlegungen zur Förderung der darstellenden Künste Wolfgang Schneider
»Wie wäre es mit einer kleinen Portion Empörung, was die Kulturpolitik betrifft?«, heißt es in einem Heft der Deutschen Bühne in der sogenannten »Saisonbilanz« zur Spielzeit 2011/2012.1 Die Theaterkritiker2 sind von den politischen Verantwortlichen mehr als enttäuscht. Der Ärger wird aufgelistet; dass Theater bei vielen Kommunalpolitikern immer erstrangig eine Kostenfrage sei; dass absurde Sparszenarien von Städten in Zeiten der Finanzkrisen immer nur einzig und allein Schließungs- und Zusammenlegungsfantasien zur Folge haben; dass Ignoranz kulturpolitische Erosionen und die Entwertung der Kunst widerspiegeln. Auch Selbstkritik scheint angebracht, indem »das Fehlen einer Debattenkultur in den Feuilletons«3 moniert wird. In der Tat macht die Theaterkritik in den Printmedien, Hörfunk und Fernsehen munter weiter: Es gilt nach wie vor, Inszenierungen zu rezensieren, es dominiert wie einst und immerdar die klassische Theaterkritik, es fehlt die Theaterpolitikkritik. Berlin, Salzburg, Bayreuth sind die Stationen; Kammerspiele, Thalia, Schaubühne die Gegenstände; und immer wieder die üblichen Verdächtigen, das gleiche Personal an unterschiedlichen Orten, die Champions League als closed shop. Das System bleibt meist unhinterfragt. Impulse zur Reform der Strukturen sind im Feuilleton noch nicht zu erwarten. Ganz im Gegensatz zum World Wide Web. Www.impulse.de setzt dezidiert auf analytische Beiträge zur Theaterlandschaft, www.theaterpolitik.de trägt den Anspruch schon im Titel und 1 | Detlef Brandenburg: »Gesamtkunstwerk Theater«, in: Deutscher Bühnenverein (Hg.): Die Deutsche Bühne Nr. 8 (2012), S. 26-35, hier S. 35. 2 | Für eine bessere Lesbarkeit wird in diesem Beitrag auf eine geschlechterspezifische Schreibweise verzichtet, die weibliche Form sowie weitere Formen sind stets mitgemeint. 3 | Detlef Brandenburg: »Gesamtkunstwerk Theater«, in: Deutscher Bühnenverein (Hg.): Die Deutsche Bühne Nr. 8 (2012), S. 26-35, hier S. 35.
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ganz vorne dran, was kulturpolitische Akzentsetzungen und Aktualität betrifft: www.nachtkritik.de. Die Entdeckung der Theaterlandschaft steht noch aus, die Vermessung der dramatischen Welt hat noch nicht stattgefunden. Denn allzu oft sind es die großen Apparate, die die Lufthoheit in der Kulturpolitik geltend machen, allzu wenig wird ein Zusammendenken gepflegt oder gar ein Zusammentun ausprobiert. Dabei hat die Enquetekommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages schon 2007 in ihrem Abschlussbericht formuliert, dass sie Ländern und Kommunen empfiehlt, »regionale Theaterentwicklungsplanungen zu erstellen, mittelfristig umzusetzen und langfristig die Förderung auch darauf auszurichten, inwiefern die Theater, Kulturorchester und Opern auch Kulturvermittlung betreiben, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung zu erreichen«4. Ausdrücklich wird auf die Vielfalt von Kooperationen, Netzwerken und Modellen hingewiesen sowie darauf, diese zu stärken. Allein, es fehlt der Wille! Die Kommunen klagen über klamme Kassen und kennen nur noch Kennzahlen, fordern Platzauslastung und kürzen künstlerische Etats – an den Strukturen ändern sie rein gar nichts. Die Länder fördern, was schon immer gefördert wurde, von Haushalt zu Haushalt – Korrekturen im Konzept sind längst schon überfällig. Und der Bund? Der hat keine Kompetenz, macht aber indirekt Theaterpolitik. Er lässt machen: durch die Bundeskulturstiftung, den Fonds Darstellende Künste und den Hauptstadtkulturfonds. Ohne diese Fördereinrichtungen gäbe es im föderalen deutschen Staat keine Kulturpolitik für Theater! Das muss man so pointiert formulieren, das muss die kulturelle Kaste erstmal kapieren, das muss man endlich auch mal in den politischen Gremien diskutieren. Da haben sich die Länder bei der letzten Föderalismusreform ihre sogenannte Kulturhoheit bestätigen lassen; aber sie überlassen die Theaterreform dem Bund. Und der lässt seine kulturpolitischen Instrumente an der langen Leine agieren.5 Die Bundeskulturstiftung mischt sich massiv in die Theaterlandschaft ein. Die Programme Heimspiel, Doppelpass und Wanderlust wenden sich direkt an die Stadttheater und weisen auf die Baustellen, die es zu bewerkstelligen gälte: Der Publikumsschwund bei den Bildungsbürgern und die Exklusion der breiten Bevölkerung sowie die Selbstbezogenheit und Deutschtümelei der darstellenden Künste. Es geht um die Förderung des Stadttheaters als Theater der 4 | Deutscher Bundestag (Hg.): Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, ConBrio Verlag, Regensburg 2008. S. 117. 5 | Wolfgang Schneider: »Wuppertal ist überall! Die kulturpolitische Krise der Dramatischen Künste offenbart Reformbedarfe in der deutschen Theaterlandschaft«, in: Eckhard Mittelstädt/Alexander Pinto (Hg.), Die freien Darstellenden Künste in Deutschland. Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven. transcript Verlag, Bielefeld 2013, S. 21-32.
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Stadt und damit als Theater aller Bürger, es geht um die Internationalisierung von Ensemble und Repertoire, um die Kooperation mit Freien Theatern und die Koproduktion im weltweiten Austausch. »Im Fonds Doppelpass werden gezielt Kooperationen von freien Gruppen und festen Tanz- und Theaterhäusern unterstützt. Mit diesem Programm möchte die Kulturstiftung des Bundes die freien Szenen und Theaterinstitutionen in Deutschland zum Erproben neuer Formen der Zusammenarbeit und künstlerischer Produktion anregen. Die Förderung will Künstlerinnen und Künstlern beider Seiten den nötigen Freiraum eröffnen, um ihre Strukturen und Arbeitsweisen produktiv zu verbinden. Im Rahmen der Kooperation sollen beiden Partnern wertvolle neue Erfahrungen und Perspektiven ermöglicht werden: Die Theater können den freien Gruppen mehr Aufführungsmöglichkeiten und eine attraktive Infrastruktur mit hoher organisatorischer und künstlerischer Kompetenz bieten. Gleichzeitig eröffnet ihnen die Zusammenarbeit mit freien Gruppen die Konfrontation mit anderen inhaltlichen und organisatorischen Herangehensweisen zur Bereicherung und Reflexion ihrer bewährten Formen, Methoden und Themen.« 6
Wieso braucht es das? Der Skandal ist nicht etwa, dass auch noch Bundesmittel in die Theaterbetriebe der Kommunen und Länder fließen, der Skandal ist das Desiderat, das damit beschrieben wird.7 Und dann kommt es auch noch zum offiziellen Ritterschlag für die Theater- und Orchesterlandschaft in Deutschland: Die Deutsche UNESCO-Kommission erhebt das System zum immateriellen Weltkulturerbe – zumindest in die erste Liste für die Bundesrepublik. Mehr oder weniger hatten Intendanten der städtischen und staatlichen Bühnen zusammen mit ihren Trägern, den Bürgermeistern und Kulturministern darüber beraten, aber per Beschluss die Initiative auf ihrer Jahreshauptversammlung 2013 in Kiel postuliert. Der damalige Präsident wird bei dpa dahingehend zitiert, dass es zunächst einmal vor allem darum gehe, die Theaterlandschaft zu schützen, »dass sie nicht in zehn oder 15 Jahren total anders aussieht« 8. Aber muss es nicht genau darum gehen? Gilt es nicht Theater zu reformieren, Vermittlung zu entwickeln, Strukturen zu planen, um die darstellenden Künste zukunftsfähig zu machen? Und dazu braucht es konzeptionelle Ansätze, Impulse aus der Theorie für die Praxis, Erkenntnisse aus der Geschichte, Erfahrungen aus der Gegenwart, Modelle für die Zukunft – ganz im Sinne des kulturpolitischen 6 | Kulturstiftung des Bundes (Hg.), http://www.kulturstiftung-des-bundes.de 7 | Siehe auch Wolfgang Schneider: »Nadelstiche für’s System. Theaterkunst braucht Kulturpolitik«, in: Stiftung Genshagen (Hg.), Plattform Theater – Darstellende Künste im Umbruch. Beiträge zur Kulturellen Bildung, Genshagen, Stiftung Genshagen, 2013, S. 38-45. 8 | Stuttgarter Nachrichten, 24. Mai 2013
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Instrumentariums einer Kulturentwicklungsplanung, mit einer Stärken- und Schwächeanalyse, mit einem Diskurs aller Beteiligten, mit Zielbeschreibungen und Umsetzungsstrategien. Und vor allem braucht es Mut, die Reform anzugehen.
The ater ent wickeln und pl anen Im Rahmen einer Ringvorlesung im Wintersemester 2012/2013 am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim machten sich Kultur- und Theaterwissenschaftler mutig daran, ihre Erkenntnisse uns der Geschichte von Ästhetik und Dramaturgie der darstellenden Künste in den Strukturen von Politik und Management der Theater zu überprüfen, zu diskutieren und zu bewerten. Provokant stellt in diesem Zusammenhang Annemarie Matzke, Professorin und Performerin, die These in den Raum, dass es das Freie Theater nicht gibt. Dabei geht sie dem Begriff auf den Grund, weist auf Problematiken und Potenziale hin und leitet ihn historisch über die Entstehung neuer Theaterformen her. Demnach definieren nicht die Ästhetik oder politische Ziele den Rahmen des Begriffs, sondern die anderen, neuen Produktionsweisen, die sich von den traditionellen Produktionsformen des Stadttheaters unter anderem in der Arbeitspraxis unterscheiden. Dabei sind eine Vielfalt der neuen Produktionsweisen und damit keine Einheitlichkeit des ›Freien Theaters‹ zu konstatieren. Matzke betont, dass es um die Infragestellung des Begriffs geht, ohne die ästhetische und gesellschaftliche Relevanz anzuzweifeln. Sie beschreibt die gegenwärtige Tendenz, die durch einerseits Flexibilisierung und andererseits neue Formen kollektiven Produzierens als Abbild gesellschaftlicher Pluralität bestimmt ist. Das Forschen am Theater ist auch für Matzke das Potenzial kollektiver Theaterformen. Heiner Goebbels, Professor und Präsident der Hessischen Theaterakademie, versteht die zeitgenössischen darstellenden Künste immer auch als Institutionskritik. Er konstatiert aber auch, dass sich die darstellenden Künste im Gegensatz zu den bildenden Künsten nur schwer von ästhetischen Konventionen trennen können und die Theater-, Oper- und Konzerthäuser mit ihrer architektonischen Struktur strengen Hierarchien unterliegen. Die Ausbildungsstätten wiederum folgen einer ideologischen Tradition und sind keine Forschungslabore, wie es Goebbels gerne sehen würde, sondern bedienen den Markt. Deshalb fordert er unter anderem freie Häuser ohne Effektivitäts-, Auslastungs-, Repertoirevorgaben, ohne festes Orchester, Chor, Schauspieloder Tanzensemble, aber finanziell ausgestattet wie Opernhäuser, Stadt- oder Staatstheater. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, setzt Theater in Beziehung zur alles in der Gesellschaft durchziehenden Deregulierung. So passt
Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft
sich auch die öffentliche Förderpraxis den marktwirtschaftlichen Kriterien der Gegenwart an und Kunst und Kultur wird nur noch gefördert, wenn sie evaluierbar und messbar ist. Oberender sieht demnach einerseits einen großen Machtzuwachs der Politik, die mittels Fonds und Stiftungen auf die Produktionsprozesse Einfluss nimmt. Andererseits muss der Künstler zum Projektmanager werden, was wiederum die künstlerischen Produktionsformen beeinflusst. Dieser neue Geist in der Welt des Kulturbetriebs führte zur Entstehung einer Institution neuen Typs. Zugespitzt stellt er die Frage, was wir in Zukunft fördern wollen: Fest oder Feier, Projekt oder Institution. Thomas Schmidt, Professor für Theatermanagement an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main, beginnt mit einer Beschreibung der aktuellen Theaterlandschaft. Sie ist zerklüftet, produktiv, innovativ und diskursiv. Gleichzeitig steckt das öffentlich finanzierte Stadt- und Staatstheatersystem in der größten Umbruchssituation seit dem Zweiten Weltkrieg. Er nennt Indikatoren für diesen Umbruch und formuliert Fragestellungen, vor deren Beantwortung alle Theater stehen. Reformvorschläge werden aus diesen Fragen entwickelt, Möglichkeiten des Krisenmanagements aufgezeigt. Dabei spielt eine Rolle, was als Erfolg im Theater definiert wird. Als eine Lösung sieht Schmidt die Zusammenarbeit von der Institution Theater mit dem Freien Theater, eine gerechte Aufteilung von Ressourcen und damit eine Umgestaltung der Förderstruktur. Alexander Pinto, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HafenCity Universität Hamburg und Akteur des Freien Theaters, leitet den Perspektivwechsel ein, indem er das Freie Theater als Bereiter des künstlerischen Nährbodens beschreibt. Dass sich das Freie Theater auf Nischensuche begeben hat, ist Folge des Quasimonopols der Stadt- und Staatstheater. Zwar gibt es im Freien Theater kaum ein ›Normalarbeitsverhältnis‹ und es herrscht eine soziale Ungleichheit zwischen den beiden Systemen, das bietet aber wiederum für Freie Theater die Möglichkeit, Mittel verstärkt in die künstlerische Entwicklung zu investieren, während die Stadttheater unter dem Finanzdruck ächzen. Die eigenen Institutionalisierungstendenzen sieht das Freie Theater kritisch, damit behält es die Entwicklung des Theaters an sich im Blick. Das Potenzial zur Kreierung eines Möglichkeitsraums für die Entwicklung steckt Pinto zufolge in der Eigenlogik der Stadt, wobei das Freie Theater als Impulsgeber fungieren kann.9
9 | Siehe auch Wolfgang Schneider (Hg.): Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste, Bielefeld, transcript Verlag, 2013.
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The aterkooper ationen als europäische I mpulse Es gibt europäische Theaterfestivals und europäische Theaternetzwerke, es gibt europäische Theaterförderung und europäische Theaterpreise, es gibt europäische Theateraustauschprogramme und europäische Theaterproduktionen. Europa und Theater gehören scheinbar zusammen, die Theater in Europa sind so etwas wie die säkularen Kathedralen einer kulturellen Identität; denn kaum eine der Künste ist so grenzüberschreitend organisiert wie das Theater. Das hat seine Gründe, das hat seine Geschichte. Das Theater ist nämlich nicht einfach so erfunden worden, es hat sich im kulturellen Prozess von seinen archaischen Ausdrucksformen befreit und zum Drama entwickelt; zum Drama des Menschen selbst, der von Anfang an im Zentrum stand, ob er sich mit den Göttern im griechischen, mit dem Glauben im spanischen, mit der Selbstzerrissenheit im elisabethanischen, der Schuld im klassisch-aufklärerischen oder der Gesellschaft, dem Individualismus, dem Nichts und dem Absurden im modernen Theater herumzuschlagen hatte. Das homerische Griechenland kannte die Tanz- und Opferzeremonien, die Kult- und Wettspiele und entwickelte schließlich das antike Schauspiel. Die Tragödie erhielt erstmals offizielle Weihen, als die Dionysosfeier 534 vor Christus zum Staatskult erhoben wurde und der berühmte Schauspieler Thespis aus Ikara den Auftrag bekam, das Ganze zu inszenieren. Mit dieser kulturpolitischen Maßnahme beginnt der Prozess der Entstehung des europäischen Theaters. Es waren griechische und römische Dramatiker, spanische und französische Regisseure sowie englische und deutsche Intendanten, die das Theater prägten. Und es waren die Theatertexte und ihre Inszenierungen, die von Anfang an durch Europa wanderten, die zum Austausch und Dialog beitrugen und europäische Beziehungen entstehen ließen. Das Theater ist nicht in Europa erfunden worden, aber Europa hat durch das Theater zusammengefunden. Das Repertoire spricht eine deutliche Sprache: Euripides und Aristophanes, Shakespeare und Moliere, Goethe und Schiller, Tschechow und Ibsen, Büchner und Brecht schrieben die Klassiker der dramatischen Literatur, die in ganz Europa nach wir vor auf den Bühnen zu sehen sind. Aber keine Bühnenlandschaft gleicht der anderen. Während die gleichen Stücke in verschiedenen Inszenierungen von Oslo bis Madrid, von London bis Bukarest zu sehen sind, differieren die Theatersysteme zum Teil ganz erheblich. Auch das ist Europa! – geprägt von absolutistischen Herrschern mit Repräsentationsanspruch, vom bürgerschaftlichen Engagement oder von der Eigeninitiative der Künstler, aber auch vom Markt und seinen kommerziellen Möglichkeiten. Die europäische Theaterszene verfügt über unterschiedliche Ansätze: Staatstheater und Stadttheater, Landesbühnen und Theateragenturen, Freie Theater und private Theater, Musicalbühnen und Theaterhäuser,
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mit und ohne Ensemble, institutionalisiert oder projektorientiert, Spielpläne im Repertoirebetrieb oder en suite. Über alle Organisationsformen hinaus zeichnet das Theater in Europa aus, dass es – meistenteils – mobil ist. Aufführungen finden nicht nur an den Produktionsstätten statt, Aufführungen touren; in der Region, im Lande, aber auch im europäischen Ausland. Man könnte sagen, ein Prinzip des Theaters in Europa ist die Pflege des Gastspiels. Und das beeinflusst wiederum die Akteure, gelegentlich auch die Kulturpolitik. Theater hat das Bedürfnis zu kommunizieren, mit dem Publikum, aber auch mit anderen Theatern. Ich behaupte, die Theaterkünstler sind nicht nur Botschafter ihrer Geschichten, sie sind auch Botschafter von Zeitgeist und Diskursen, sie sind Botschafter einer europäischen Idee des permanenten Dialogs. Meine These ist, das dem Theater Europa geradezu immanent ist, dass Theater Europa (be-)lebt, indem Theater durch Koproduktionen, Festivals und Netzwerke Europa immer wieder neu erfindet, ein Europa als Modell von Dialog und Austausch. Wer die europäische Theaterlandschaft studiert, findet in allen Bereichen dialogische Veranstaltungen und programmatische Austauschprogramme, ja, man kann konstatieren, Europa ist durch Theater miteinander verwoben. Trotz der Sprachunterschiede findet ein reger Künstleraustausch statt, trotz der unterschiedlichen Strukturen kommt es immer wieder zum gemeinsamen Schaffen, trotz der Vielfalt vor Ort sind Festivals immer noch besondere Ereignisse des gegenseitigen Sichkennenlernens. All diese Mobilität und Flexibilität ist auch deshalb möglich, weil eine schier unübersehbare Anzahl von Vereinen, Verbänden und Verbünden sich selbst organisiert. Netzwerke schaffen die Basis der europäischen Theaterbeziehungen. Und das hat mittlerweile auch die Kulturpolitik erkannt und fördert dieselben.10 Es gab eine Zeit in Europa, die war reif für innovative Produktionen der darstellenden Kunst und die Stunde schlug für Projekte, die zwar an einem Ort mit Künstlern aus ganz Europa entstanden, aber nur finanziell möglich waren, weil die Distribution in ganz Europa verabredet war. Das Kaaiteater in Brüssel mit Hugo de Greef gehörte dazu, das Theater am Turm in Frankfurt am Main mit Tom Stromberg, das Hebbel-Theater in Berlin mit Nele Hertling, aber auch die Wiener Festwochen und das Festival d‘Avignon, das Theater in der Gessnerallee in Zürich und Kampnagel in Hamburg. So entstanden »Europäische Produktionszentren« und genauso hieß auch mal ein Programm, das im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main über die Produktionsbedingungen, unter denen Kunst entsteht, und über Fördermodelle europäischer 10 | Siehe auch Wolfgang Schneider: »Theater (be-)lebt Europa. Die Kulturpolitik der Dramatischen Kunst mittels Koproduktion, Festivals und Netzwerken«, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2007. Thema: Europäische Kultur, Essen, Klartext Verlag, 2007, S. 303-312.
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Künstlerhäuser informierte. Vorgestellt wurden europäische Produktionszentren für zeitgenössische darstellende Kunst. Vorträge und Diskussionsforen ergänzen die Aufführungen. So avantgardistisch die Inszenierungen, so alternativ sind ihre Entstehungszusammenhänge. Die Künstler- oder Theaterhäuser sind nicht mit den Tankern der großen Bühnen vergleichbar, ihre Struktur unterscheidet sich von den großen Apparaten, sie sind durch Flexibilität gekennzeichnet und passen sich den Produktionsbedingungen an, die die projektbeteiligten Künstler brauchen. Das Theaterhaus wird somit auch zum Modell des modernen Stadttheaters, ist beispielhaft für eine zukünftige Theaterlandschaft und versteht sich als interdisziplinäres, interaktives und integratives Zentrum der Theaterkünstler. Es integriert Produktion, Distribution und Rezeption, es versteht sich als Experimentierbühne, Forschungsanstalt und Laboratorium für neue Spielweisen.
The ater und I nterkultur alität Die Studien, die im Rahmen des Forschungsprojektes zur Rolle der Freien Theater im europäischen Theater der Gegenwart entstanden, haben Tiefenbohrungen vorgenommen und die zeitgenössischen Entwicklungen beobachtet, analysiert und reflektiert. Bei aller Fokussierung auf die theaterästhetischen Erscheinungsformen werden auch kulturpolitische Implikationen erkennbar, werden über Produktionsprozesse Rahmenbedingungen identifiziert, werden mittels der Expertenbefragungen auch Desiderate in der Theaterförderung offenbar. Zwei Beispiele mögen die kulturpolitischen Herausforderungen markieren. Integration ist in Zeiten von Globalisierungsprozessen eine der großen Herausforderungen gesellschaftlichen und politischen Handelns. Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, religiöser Orientierung und kultureller Tradition soll eine gleichberechtigte Teilhabe am alltäglichen Leben gewährt werden. Ziel von Integration ist auch die Respektierung kultureller Vielfalt in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft. Kulturpolitik kann im Integrationsbemühen eine zentrale Rolle spielen, in dem sie zum Verständnis sowie zur Anerkennung kultureller Differenzen beiträgt. Interkultur wird in diesem Zusammenhang als Schlüsselbegriff benutzt, um den Anspruch von Kulturpolitik zu definieren und Integration mittels kultureller Praxis zu ermöglichen. Das Ziel, gleiche Teilhabe für alle Menschen zu ermöglichen, wird im Kontext einer von kultureller Vielfalt und stetigen Veränderungen geprägten Gesellschaft nur fruchtbar, wenn Vorstellungen von kulturellen Identitäten und künstlerischen Arbeiten als prozesshaft verstanden und Transformationen –
Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft
im Sinne des Wahrnehmens und Hinterfragens von Grenzen und Schwellen – als Kraft und Motor von gesellschaftlichen Entwicklungen begriffen werden. In den Diskursen zur Gestaltung der Gesellschaft vor dem Hintergrund kultureller Verschiedenartigkeit erfährt das Verständnis von und der Umgang mit Differenz besondere Bedeutung und erfordert deren Anerkennung, nicht im Sinne eines Multikulturalismus, sondern als Konzept der Transkulturalität. In der praktischen Umsetzung interkulturellen Agierens im konzeptionellen und kulturpolitischen Rahmen ist, neben dem Agenda-setting insbesondere für die Kommunalpolitik, der tabulosen Umverteilung von öffentlicher Kulturförderung und der internen Umstrukturierung in Kulturbetrieben, ein ausgewogenes Abwägen von besonderer Betonung und selbstverständlicher Praxis notwendig. Für das Gelingen interkultureller Konzepte in der Kulturarbeit sind Infrastruktur, Netzwerkbildung und Zugangsvoraussetzungen zentrale Faktoren, um Möglichkeiten für vielfältige Partizipation zu schaffen, die den Weg für Beziehungen ebnen, welche von Empathie für das Neue statt von Angst gegenüber dem Fremden geprägt sind. Drei große Arbeitsbereiche wären für eine interkulturelle Erneuerung der Kulturlandschaft anzugehen. Erstens und grundlegendes Handlungsfeld ist die kulturelle Bildung. Denn wenn es der Gesellschaft nicht gelingt, durch die Schulpflicht das außerschulische Kulturleben mitzugestalten – als Schule des Sehens und Hörens –, dann werden auch weiterhin große Bevölkerungskreise vom Kulturangebot ausgeschlossen bleiben und neue kulturelle Ausdrucksformen – im besten Falle – nur jenseits der öffentlichen Kulturpolitik vegetieren können. Das Plädoyer muss gerade auch nach der Kenntnis der jährlichen Bildungsberichte der Bundesregierung und aller Bemühungen der Länder, kulturelle Bildung in Sonntagsreden als gesellschaftliche Aufgabe zu beschreiben, nach wie vor für eine Implementierung in die Curricula gelten – nachzulesen im Schlussbericht der Kultur-Enquete als Sondervotum. Es braucht aufs Dringendste ein Schulfach »Kulturelle Bildung«, einen Lernbereich vom Kindergarten bis zur Volkshochschule, einen bildungspolitischen Schwerpunkt auf Kultur im lebenslangen Lernen. Zweites Handlungsfeld ist die konsequente Weiterentwicklung von audience development als ganzheitliches Kulturmanagementkonzept, damit sich Kulturbetriebe mit ihrem sich verändernden Publikum weiterentwickeln können. Audience development als Instrument systematischer Publikumsentwicklung ist ein die gesamte Institution, ihre Auf bau- und Ablauforganisation umfassendes Konzept – eine institutionelle Querschnittsaufgabe. Und nur die Selbstverpflichtung eines gesamten Kulturbetriebes zur kulturellen Vielfalt führt zu einem kulturell diversen Publikum. Traditionelles Marketing allein, welches sich darauf fokussiert, ein vorhandenes Produkt zu verkaufen, und der Gewinnmaximierung alles Bemühen um den Kunden unterordnet, kann nicht mehr genügen.
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Um kulturelle Angebote für unterschiedliche Zielgruppen zu gestalten, positionieren, kommunizieren, vertreiben und vermitteln, arbeitet das audience development in der Praxis mit Ansätzen aus dem Kulturmarketing, der Kultur-PR, der Besucherforschung, Kunstvermittlung und kulturellen Bildung. Der in den 90er Jahren in angelsächsischen Ländern eingeführte Begriff geht von einem Kulturmanagementverständnis aus, welches sich auf die zentrale Bezugsgröße eines Kulturbetriebs konzentriert: das Publikum. Der Wechsel von der in Deutschland traditionellen Angebotsorientierung zur Nachfrageorientierung führt nicht notwendigerweise, wie oft von Bourdieu proklamiert, zu einer Verflachung der Kunst. Teilhabegerechtigkeit und eine Demokratisierung von Kultur, die mit dem Abbau der Elitenkultur einhergeht, zählen zu den prominentesten Argumenten für das audience development. Neben dieser soziokulturellen Perspektive existieren jedoch auch noch andere Blickrichtungen. Auch die Kulturpolitik hat den Anspruch, möglichst einen Gesellschaftsquerschnitt in den Publika der geförderten Kulturinstitutionen vertreten zu sehen. Dies geschieht auf der Basis der Überzeugung, dass Kunst eine nachhaltige und bereichernde Wirkung auf das Leben der Menschen haben kann, und dem Bewusstsein, Kommunikation, Identität und Gemeinschaftsgefühl in einer Gesellschaft durch Kunst und Kultur zu stärken. Zudem kann nur eine Teilhabe möglichst vieler die Vergabe von Steuergeldern an öffentliche Kulturbetriebe rechtfertigen. Berührungsängste mit der Hochkultur und der Befürchtung, dass Kunst langweilig oder unverständlich ist, kann nur mit einer konsequenten Vermittlungsarbeit entgegengewirkt werden. Die Zielperspektive ist eine intensive Auseinandersetzung des Publikums mit der Kultur. Damit dies gelingen kann, müssen Vorwissen und bestimmte Codes vermittelt werden, mit denen künstlerische Produktionen entschlüsselt werden können. Kurzfristig kann dies durch direkte Kulturvermittlungsbemühungen in den Kulturinstitutionen selbst geschehen. Die Instrumente dafür reichen von medialen Vermittlungshilfen, wie zum Beispiel Audioguides, über dialogisch gestaltete Führungen bis zur Anregung eigener gestalterischer Auseinandersetzung etwa in Workshops. Die Qualität der Vermittler ist hierbei entscheidend. Von zentraler Bedeutung ist eine langfristig angelegte und auf die gesamte Bevölkerung ausgerichtete kulturelle Bildung. Deshalb wird eine verstärkte Kooperation der Kulturbetriebe mit Vereinen, außerschulischen Einrichtungen und vor allem den Schulen selbst empfohlen. Nur über letztere kann der flächendeckende und insbesondere vom sozialen Hintergrund des Kindes unabhängige frühe Zugang zu Kunst und Kultur garantiert werden. Sowohl kurzfristige als auch langfristige Vermittlungsbemühungen sollten kulturelle Bildung zunehmend auch als interkulturelle Bildung begreifen. Hierfür müssen Kulturvermittlungsinhalte und -angebote entwickelt werden, die verstärkt interkulturelle Aspekte mit einbeziehen.
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Handlungsfeld Nummer drei betrifft die soziokulturellen Zentren, mittlerweile überall in Europa verbreitet, kommunalpolitisch durchgesetzt, nach wie vor aber fragil in der Finanzierung und programmatisch anfällig, was langfristiges Planen betrifft. Grundsätzlich gibt es aber eine Ausrichtung auf die Partizipation breiter Bevölkerungsschichten; Menschen aus dem Umfeld der Einrichtungen – ganz gleich welchen Alters, welcher Herkunft oder sozialen Stellung – prägen deren Alltag, auch ohne dass sie ausdrücklich zur Zielgruppe erklärt werden müssen. Soziokulturelle Einrichtungen sind somit erprobte und bewährte Orte für interkulturelle Kommunikation und Teilhabe – und von Anfang an sowie mehr und mehr Orte der darstellenden Künste, sowohl Ort von Gastspielen Freier Theater als auch von partizipativer Theaterarbeit.
K inderthe ater und J ugendthe ater Die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages hat Ende 2007 ihren umfassenden Bericht der Politik und der Öffentlichkeit präsentiert. Seitdem wird die Bedeutung dieser Bestandsaufnahme vielfach diskutiert und differenziert betrachtet, sie dient der kulturpolitischen Standortbestimmung und markiert die Reformagenda der deutschen Kulturlandschaft. »Kinder- und Jugendtheater spielen eine wichtige Rolle im Theatersystem Deutschlands«, heißt es in der Bundestagsdrucksache. »Sie wenden sich als Sparte in Stadt- und Staatstheatern, als eigenständige Bühne oder als freie Kinder- und Jugendtheater einer jungen Zielgruppe zu, sind mit ihren Stücken und deren Inszenierungen nah an der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen und nehmen einen Bildungsauftrag wahr. Kulturelle Bildung ist eine Form der Weltaneignung. Deshalb muss ein Theater für junge Zuschauer deren Sehweise in den Mittelpunkt rücken. Junge Zuschauer trainieren im Theater die Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu entschlüsseln, ihre schöpferische Kraft zum abstrakten Denken und das kreative Vermögen zur Weltaneignung«.11
Die heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellen komplexe Anforderungen an jeden Menschen. Insbesondere für junge Menschen hat das zur Folge, sich von früh an immer wieder mit der eigenen Entwicklung und Zukunftsperspektive kritisch auseinanderzusetzen, immer wieder Entscheidungen treffen zu müssen, gegebenenfalls neue Wege zu gehen und selbst organisiert zu handeln. Für diesen Prozess brauchen junge Menschen eine starke Persönlichkeit. Diese können sie an verschiedenen Orten entwickeln: in der Familie, in der Schule, aber auch bei allen anderen Aktivitäten im Bil11 | Deutscher Bundestag (Hg.): Schlussbericht. S. 109
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dungssektor. Die kulturelle Kinder- und Jugendbildung ist ein solcher unverzichtbarer Bildungsort. Sie vermittelt Kunst und Kultur und durch sie werden grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben: Entwicklung von Lesekompetenz, Kompetenz im Umgang mit Bildsprache, aber auch Disziplin, Flexibilität und Teamfähigkeit. Mit kultureller Bildung werden Bewertungs- und Beurteilungskriterien für das eigene und das Leben anderer sowie für die Relevanz des erworbenen Wissens erlangt. Kulturelle Bildung geht nicht in Wissensvermittlung auf, sondern ist vor allem auch Selbstbildung. Neben diesen Effekten für die Persönlichkeit des Einzelnen hat kulturelle Bildung auch eine Wirkung für die Kultur selbst: sie sorgt für die Nachwuchsbildung, sowohl auf der Seite der Kulturschaffenden als auch auf der Seite der Kulturnutzer. Kulturelle Bildung trägt nicht zuletzt zur Wahrung und Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe in Deutschland bei. Kulturelle Eigenaktivität und Beteiligung sind somit entscheidende sozialisierende Instanzen und bedürfen des Schutzes und der Förderung durch nationale wie internationale Politik. Die UN-Kinderrechtskonvention formuliert zur Teilhabe am kulturellen und künstlerischen Leben im Artikel 31 Folgendes: »(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit an, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilhabe am kulturellen und künstlerischen Leben. (2) Die Vertragsstaaten achten und fördern das Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und fördern die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung sowie für aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung.«12
Alle europäischen Staaten haben diese Konvention ratifiziert, Deutschland es hat sich aufgrund seines Verständnisses als Kulturstaat zur Aufgabe gemacht, kulturelle Bildung unter den besonderen Schutz und die kontinuierliche Förderung des Staates sowohl auf Bundes- wie auch Länderebene zu stellen. Die Rahmenbedingungen sind geschaffen, aber die Umsetzung ist problematisch: Kulturelle Partizipation, ob produktiv oder rezeptiv, ist nicht für alle jungen Menschen gleichermaßen zugänglich. Hier gilt es, mehr zu tun! Auch wenn Schulen, Jugendtheater oder der öffentliche Raum Spielorte sind, sollte die Originalität der Alternativen eher kritisch gesehen werden. Auch das Theater für die Allerkleinsten bedürfe einer Bühne, die sich von künstlerischem Anspruch ableite, ein Theaterhaus für Kinder wäre deshalb die richtige Investition, der dritte Ort für die junge Generation neben Familie und Schule. In einem weiteren Postulat wird vor einer Schieflage gewarnt, wenn 12 | Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend: Übereinkommen über die Rechte des Kindes. VN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien. Artikel 31. S. 23.
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ein unverhältnismäßig großer Anteil von Fördergeld in Vermittlungs- und Partizipationsformate fließen würde. Theater sei eben nicht nur Selbstverständigung auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern auch eine Selbsterfahrung. Learning by Doing sei eine Seite der Medaille, Learning by viewing eine andere. Im Zuge von verengten Konzepten der kulturellen Bildung scheinen sich die Gewichtungen zu verschieben, gäbe es zusätzliche Unterstützung vor allem für theatrale Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen. Und ein Schulfach »Darstellendes Spiel« rekurriere in seiner terminologischen Weise Theater als Kreativworkshop, da es ja wie in der Kunsterziehung das Zeichnen oder im Musikunterricht das Singen nur ein Teil des Curriculums sein könne. Eine letzte Forderung widmet sich der Vereinigung von Kunst und Kultur, gerade wenn es um die Jüngsten der Jungen geht. Gestärkt werden sollte der Eigenwert des Theaters, nicht mögliche Transfereffekte; Theater müsse ein GegenOrt bleiben für eine Aus-Zeit in einem Spiel-Raum.13 Das Theater ist das außergewöhnliche Ereignis, das es ermöglicht, alles, was sonst gilt, auf den Kopf zu stellen, die gewohnten Gesetze außer Kraft zu setzen. Damit ist eine ganz andere Qualität angesprochen, als die, die wir gewöhnlich dem Begriff des Lernens zuordnen, das doch eine gewisse Beherrschung von Zusammenhängen, Erfahrungen und Wissensgegenständen hervorbringen soll, Orientierung und Übersicht geben soll und die Möglichkeit, das Gelernte reflexiv zu beurteilen und auf die jeweiligen Kontexte zu beziehen. Im Kinder- und Jugendtheater geht es – im besten Falle – um ästhetische Vieldeutigkeit, wird – im besten Falle – eine überschneidende Sinnenfreude inszeniert und kann – im besten Falle – ein Erfahrungsraum geschaffen werden, der Beweglichkeit im spielerischen Sinne freisetzt. Kinder- und Jugendtheater kann als außerschulischer Lernort der schulischen Bildung zuarbeiten. Das wäre doch eine große Chance: Die Kombination von schulischer und außerschulischer kultureller Kinder- und Jugendbildung! Kinder- und Jugendtheater könnte Partner von Schule sein, es könnte integraler Bestandteil des Curriculums werden. Es muss selbstverständlich sein, dass die Schule auf das Theater zugeht. Es muss selbstverständlich sein, dass Theater Schule versorgt. Es muss selbstverständlich sein, dass beide miteinander kooperieren. Schülertheatertage beweisen hier und da eine solche Zusammenarbeit, spezielle Abonnements belegen ein gegenseitiges Interesse, Theaterpädagogen in Schulen und Theaterpädagogen im Theater planen gemeinsam für Schule und Theater. Ästhetische Bildung ist notwendig, Kinder- und Jugendtheater kann die Not wenden – die Not der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.
13 | Siehe auch Schneider Wolfgang (Hg.): Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung, transcript Verlag, Bielefeld 2009.
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Vieles von dem, was menschliche Wesen einander mitzuteilen haben und mitteilen müssen, um stabile soziale Strukturen aufzubauen, sagen die Hirnforscher, lasse sich in rationaler Sprache allein nicht fassen. Darum leiten sie die Notwendigkeit ab, auch die nichtsprachliche Kommunikationskompetenz optimal zu entwickeln, und auch diese bedürfen der Einübung und Verfeinerung. Diesen Bildungsauftrag nimmt seit Jahrzehnten das Kinder- und Jugendtheater wahr. Zur Entwicklung eines differenzierten Wahrnehmungsund Urteilsvermögens kann das Theater für Kinder und Jugendliche ebenso beitragen wie zur künstlerischen Geschmacksbildung, indem es mit seinen mehrdimensionalen, dichterischen Bildern sinnliches Anschauungsmaterial liefert. Allein die Bedeutung, die der Geschichte und ihrer dramatischen Darbietung beigemessen wird, kann dazu beitragen.
F reies The ater br aucht K ulturpolitik Es gibt gute Gründe, eine allumfassende Neudefinition der darstellenden Künste vorzunehmen, längst überfällig sind Reformen in der Theaterlandschaft – ein Terminus, der sich erst langsam durchzusetzen scheint, obwohl es doch so hilfreich wäre, Theater endlich einmal auch von der Bevölkerung her zu denken und zu gestalten. Auch die darstellenden Künste sollten in der Demokratie für alle da sein. Denn sie können eine gesellschaftliche Rolle spielen. Um der Bedeutung der Künste gerecht zu werden, bedarf es kulturpolitischer Maßnahmen, die insbesondere die kulturelle Teilhabe fördern. Das Problem ist, dass nicht jeder in der Lage und willens ist, aus Kunsterlebnissen ideellen Gewinn für sich selbst zu ziehen. Die Welt der Kunst ist kein Ort, wo sich jeder zu Hause fühlt. Nicht jedem bietet sich hier eine Gelegenheit, den Sinn des Lebens zu hinterfragen, nach individueller geistiger Bereicherung zu suchen oder einfach nur Spaß zu haben. Die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« schreibt dazu im ersten Kapitel ihres Abschlussberichts, das den Titel »Die Bedeutung von Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft« trägt: »Wenn dennoch indirekt auch für [diese Menschen] die Künste diese Bedeutung haben, dann über mehrfache Vermittlung durch Medien und Öffentlichkeiten. So haben die Künste diese Bedeutung auch indirekt, als Teilbereich der Kultur. Denn wenn irgendwer die Freiheit und Würde des Einzelnen diskutiert, einfordert, in aller Widersprüchlichkeit darstellt, die symbolischen Formen bereitstellt, in denen sie überhaupt gedacht und vor allem erlebt werden können, dann geschieht dies vor allem im Medium der Künste. Durch die Künste werden Individualität und soziale Gebundenheit thematisiert. Damit wirken die Künste weit über die Sphäre der künstlerischen Kommunikation in die Gesellschaft und prägen deren menschliche Sinn- und Zwecksetzung. Und deshalb bedarf es
Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft einer Kulturpolitik, die sich als Gesellschaftspolitik versteht und daher Kunst und Kultur ermöglicht, verteidigt und mitgestaltet.«14
Die Darstellung von Dingen, die bisher unsichtbar waren oder die zu denken wir nie gewagt hätten, ist besonders hilfreich, wenn es darum geht, uns in die Lage zu versetzen, der Welt näherzukommen, und nach Antworten auf das zu suchen, was uns bewegt. Die in den Kulturwissenschaften diskutierte Kategorie des Kontingenzbewusstseins meint, die Suche nach einer Möglichkeit, unsere Realwelt zu formen, die in sich eine Vorstellung der Zukunft trägt. Kunst sollte die bestehende Realität hinterfragen und neue Anstöße geben. Anderen akademischen Diskursen zufolge ist die Kunst seit Jahrhunderten der sensibelste Seismograf der kommenden Menschheitskrise. Kunst kann neue Themen eröffnen und uns dahin führen, dass wir die Welt anders sehen und vielleicht auch anders mit ihr umgehen. Wo sich die darstellenden Künste einmischen, können sie in den öffentlichen Raum hineinwirken und die gesellschaftliche und politische Entscheidungsfindung beeinflussen. Theater kann zu einem Meinungsaustausch führen und zum Nachdenken anregen. Sie kann sogar unser Verhalten im Alltag und die reale Welt um uns herum verändern. Im Idealfall kann Theaterkunst den öffentlichen Raum wieder beleben; was früher als normal galt, kann somit in einem anderen Licht erscheinen, etwa durch überraschend anregende Assoziationen, Irritationen oder gar Provokationen. So erhalten wir neue Ideen, wie wir die Zukunft bewohnbarer machen können. Darüber hinaus bietet uns die große Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen ausreichend Gelegenheit zur Bewertung individueller Fragen und Bedürfnisse. Insbesondere das zeitgenössische Freie Theater wirft mit seiner Kritik grundlegende Fragen auf und bereitet mit seinen experimentellen Ansätzen den Weg für eine gesicherte Zukunft. Im besten Fall können diese darstellenden Künste unser Urteilsvermögen in Bezug auf das schärfen, was im Leben wirklich wichtig ist. Außerdem hilft uns die Kunst, Zusammenhänge zu erkennen und aufzuzeigen. Modell einer konzeptbasierten Kulturpolitik könnte eine Theaterentwicklungsplanung sein. Was heißt das für die Theaterlandschaft? Zunächst einmal: Bestandsaufnahme. Die Werkstatistik aus Köln dient als Basis, aber Daten und Fakten des freien Theaters wären ebenso zu ergänzen wie die des Amateurtheaters. Was fehlt, ist ein Jahrbuch der darstellenden Künste, das seinen Namen verdient! Was fehlt, ist eine Theaterentwicklungsplanung, die ›zusammen denkt‹, was zusammengehört! Die ›Champions League‹ und den ›Laiensclub‹,
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die Staatsoper und die Waldbühne, das theaterpädagogische Zentrum und das Freie Theater. Was fehlt, ist eine konzeptbasierte Kulturpolitik!15 Denn selbst die kommunale Lobby kommt mittlerweile zu der Erkenntnis, »dass durch den geringen Anteil der Kulturetats an den Gesamtausgaben nur geringe Haushaltseffekte zu erreichen sind, bereits geringfügige Kürzungen aber häufig zu irreparablen Schäden in der kulturellen Infrastruktur führen«, wie Klaus Hebborn in den Kulturpolitischen Mitteilungen formuliert.16 Der Kulturdezernent des Deutschen Städtetages denkt deshalb auch über Kooperationen, Fusionen und sogar über den – wenn auch »behutsamen« – Umbau der kommunalen Kulturpolitik nach und sieht neue Strukturen als notwendig an. Auch der neue Vorsitzende des Kulturausschusses im Bundestag, Siegmund Ehrmann, ist der Ansicht, dass die öffentliche Kulturfinanzierung der kritischen Überprüfung bedarf. »Man muss doch öffentlich darüber streiten können, ob etwas und in welchem Umfang sinnvoll ist, zu welchem Ergebnis man dann auch immer kommen mag. Vielleicht kommt dabei ja auch eine Qualitätsverbesserung heraus.«17 Fördermodelle gehören in der Tat auf den Prüfstand, auch eine »Gewichtung der Förderungen« ist eine berechtigte Forderung. Aber Kulturpolitik in Deutschland hat vor allem ein Problem: »Kultur für alle« ist noch lange nicht realisiert! Es sind weiterhin nur die happy few, die regelmäßig am klassischen Kulturbetrieb teilhaben. Kulturpolitik ist zudem vornehmlich eine Förderung der Infrastruktur, die Institutionalisierung verbraucht alle Mittel, die den Projekten und prozessorientierten Programmen fehlen. Kulturpolitik ist eine Förderung von Kulturbetrieben geblieben und sie kommt vor allem den Städten zugute. Verwaltung und Erhaltung, Objekte und Apparate verschlingen die öffentliche Kulturförderung, die dank der Steuern aller Bürger wenigen zur Verfügung stehen. Die Produktion steht im Vordergrund, die Rezeption kommt zu kurz, nur die Brosamen gehen in die kulturelle Bildung. Und das ist die große Chance des Freien Theaters. Wer macht denn Theater vor Ort, in der Diaspora, im kulturellen Niemandsland? Wer schickt sich an, Zugänge zu schaffen, die Breite der Bevölkerung zu erreichen, Kultur für alle 15 | Siehe auch Wolfgang Schneider: »Es geht um die Zukunft unserer Theaterlandschaft. Eine kulturpolitische Polemik aus gegebenem Anlass«, in: Fonds Darstellende Künste (Hg.), Report Darstellender Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland, Essen, Klartext Verlag, 2010, S. 21-25. 16 | Klaus Hebborn: »Kultur in Deutschland aus Sicht der Städte«, in: Kulturpolitische Mitteilungen. Zeitschrift für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft: Kulturhauptstadt Europas, Nr. 127 (2009). S. 8-10, hier S. 9. 17 | TAZ, http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=k u&dig=2009%2F12%2F15%2Fa0028&cHash=ba9c0cf4e9ddc01db2d4ed7a6dba88ba
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als kulturelle Bildung zu verstehen? Wer ist denn des Bürgers Bühne? Partizipation wird als dramatisches Ereignis derzeit neu erfunden, aber das Patent für die Praxis haben die Freien Theater. Das Ziel muss also sein: Mehr Theater für mehr Menschen!, und zwar in einer Theaterlandschaft, die vielfältig strukturiert ist und diverse Formen der darstellenden Künste zu ermöglichen weiß. Aber auch das Freie Theater wird sich ändern müssen, schon allein des demografischen Wandels und der globalen Entwicklung wegen. Berührungsängste der Profis mit den Amateuren (und vice versa) waren gestern, heute gilt es, vernetzt zu operieren. Und wir sollten uns immer wieder versichern, dass wir nicht allein auf der Welt sind. Bei allem Stolz auf unsere theatrale Tradition tut der Blick über den Tellerrand gelegentlich ganz gut.
The aterförderung im europäischen V ergleich Wenn es um gute Theaterförderung geht, ist ein Blick gen Norden unumgänglich. Skandinavische Kulturpolitik weiß durch alle Höhen und Tiefen – ob Sozialdemokraten oder Konservative in den Regierungen das Sagen haben, in Zeiten ökonomischer Prosperität oder Rezession – Akzente zu setzen, wenn die Entwicklung der darstellenden Künste auf der Agenda steht. Die besten Beispiele finden sich im Kinder- und Jugendtheater. Stockholm im März 1998: Die UNESCO beschließt die Weltdekade der Kultur mit einem Report und einem Event. Rund 5000 mehr oder weniger wichtige Menschen bewegen sich auf politischem Parkett. The Power of Culture ist eine »intergovernmentale« Zusammenkunft für Cultural Policy and Development. 150 Nationen sind vertreten, 70 Kulturminister kommen zu Wort, Experten präsentieren Papiere und diplomatische Beamte sowie beamtete Diplomaten sammeln die Statements, um sie in einem draft action plan der Kulturpolitik der Länder anzuempfehlen. Rund zehn Kilo Papiere produziert der Kongress, der letztendlich den Grundstein für das »Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen« (2005) gelegt hat. Das ist eine ordentliche Ausbeute, zumal sich darunter auch ein Text befindet, der sich dezidiert mit »Culture for children and young people« 18 auseinandersetzt. Er stammt von einer Schwedin und beschäftigt sich mit dem Recht der Kinder und Jugendlichen auf Kunst. Britt Isaksson vom schwedischen Kulturrat plädiert auf 14 Seiten für die Integration junger Menschen in das kulturelle Leben. Kreativität muss früh gefördert werden, um die Kommunikationsfähigkeit der Menschen zu erhalten. Die Herausforderungen einer 18 | Britt Isaksson: Culture for Children and Young People, 1998, auf UNESCO (Hg.): http://unesdoc.unesco.org/Ulis/cgi-bin/ulis.pl?catno=111819&set=005630BB37_3_ 378&gp=0&lin=1&ll=1
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globalen Medienlandschaft dürfen nicht dem Markt überlassen bleiben, es gelte auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene Einfluss zu nehmen auf die Entwicklungen. In diesem Zusammenhang erörtert sie am Beispiel von Kinderbüchereien die Bedeutung einer kulturellen Bildung. Sie kommt zu dem Schluss, dass ohne Imagination unsere Gesellschaft Rückschritte erleidet, und propagiert deshalb die Künste, die in ihrer Vielfalt zur ästhetischen Erziehung beitragen – ein Leben lang. Auch Kinder- und Jugendtheater wird in Schweden gefördert, auch mittels eines Schulgesetzes. Jedes Jahr sollen alle Schüler zweimal Theater besuchen können. Bei zwei Millionen Kindern und Jugendlichen braucht es also Kapazitäten für vier Millionen Plätze des potentiellen Publikums. Öffentliche Investitionen in dramatischen Produktionen heißt in einem Flächenland die Förderung von mobilen Theatergruppen und flexiblen Spielformen. Das ist in Dänemark ganz ähnlich. Der erste Eindruck zeigt: einen riesigen Fuhrpark, LKWs, Kleinbusse, Anhänger. Das dänische Kinder- und Jugendtheatertreffen ist mobil. Die Truppen reisen durchs Land, fahren vor, laden aus, bauen auf und bauen ab, und weiter geht’s. Ein mühsames Geschäft, aber nur so ist ein Geschäft zu machen. Ende April jeden Jahres versammeln sich die meisten von ihnen zu einem nationalen Festival irgendwo im Lande – in alter Tradition, denn schon 1971 gab es eine solche Zusammenkunft. Und sie ist wichtiger denn je. In den Vorstellungen sitzen Büchereileiterinnen, die über einen Gastspieletat verfügen, Schulleiter buchen für das nächste Schuljahr, Frauen und Männer der Kulturämter stellen ihr Programm zusammen. Da trifft der alte bärtige Vorsitzende des Theatervereins aus Roskilde die junge blonde Jugendhausleiterin aus einem Vorort von Kopenhagen. Für sie gibt es ein Wochenendarrangement mit sage und schreibe 200 Vorstellungen an zwei Tagen. Gespielt wird an allen möglichen und unmöglichen Orten. Ganze Schulen sind besetzt, aus Klassenzimmern werden Kleinstbühnen, der Biologiesaal wird zum Erzähltheater umfunktioniert, in der Aula reichen sich die Theatergruppen die Klinke in die Hand. Und in der Sporthalle stehen bis zu acht Bühnendekorationen. Sie werden reihum bespielt: eine organisatorische Meisterleistung! Sie ist verbunden mit einer kulturpolitischen Absicht: neben der Produktion auch die Distribution zu befördern. Denn es sind die Aufführungen, die die öffentlichen Mittel erhalten. Der Staat stützt die Rezeption von Theater. Dezentralität ist ein Kriterium der Kulturpolitik auch in Finnland. Es sind zumeist die Gesamtschulen in den Stadtteilen der größeren und in den Regionen der kleineren Städte, die als Kulturzentren in den Kommunen fungieren. Und alle, die dereinst die PISA-Sieger vor Ort besucht haben, hätten sehen können, was auch zum Erfolg in der Vergleichsstudie zu den Bildungsstandards der Länder in der OECD führte – nämlich die Architektur, Konzeption und Praxis von Kultur: mittendrin in jeder Schule eine Mediathek und eine Bühne als Blackbox, letztere fast exklusiv bespielt von den Freien Theatern.
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In Norwegen ist es das Programm eines »Kulturellen Schulrucksacks«, der Allgemeinbildung und Theaterkunst zusammenbringt und dafür sorgt, dass von der ersten bis zur zehnten Klasse alle Schüler Theater sehen und Theater spielen können. Das kulturpolitische Instrument ist die Förderung Freier Theater, die sich unter anderem über ein Gutscheinsystem finanzieren. Öffentliche Theaterförderung in Europa ist Sache von lokalen und regionalen politisch Verantwortlichen und wird durch nationale Programme ermöglicht; zuständig ist die kommunale Kulturpolitik, die nationale und gelegentlich auch in deren Auftrag ein Kulturrat. In Frankreich, Spanien, Italien und vielen Ländern Zentral- und Osteuropas zum Beispiel ist die Theaterförderung in den Kulturministerien angesiedelt, in Großbritannien, Irland und den nordischen Ländern kommt die staatliche Finanzierung vom jeweiligen Arts Council, eine Agentur jenseits der Regierungen, nach dem Prinzip der ›Armeslänge‹ operierend. Auffällig ist allemal die eher zunehmende Unterschiedlichkeit im Dualismus der staatlichen Kunstbetriebe und Freien Szenen. Differenzen sind auch im Verhältnis Kunst und Kommerz evident, ebenso eine permanente Auseinandersetzung mit den Gesetzen des Marktes und der Ökonomie des privaten Sponsorings. In Griechenland, Spanien, Portugal und Italien sind die Förderungen des Freien Theaters den nationalen Haushaltskonsolidierungen zum Opfer gefallen. Einzig die Regionen und reichere Kommunen sind es, die mit Projektförderungen die darstellenden Künste jenseits der großen Opernhäuser am Leben erhalten. In Belgien sind es gleich drei Gemeinschaften, die in der Theaterförderung aktiv sind; getrennt nach den regionalen Territorien und den drei Sprachen. In Flandern ist Kultur Auftrag der flämischen Regierung, zuständig ist ein Ministerium für Kultur, Jugend, Sport und Medien. Dessen Kulturpolitik basiert auf einem Parlamentsbeschluss, dem sogenannten Kunstdekret, verabschiedet 2004, 2006 in Kraft getreten, dem Dekret für die darstellenden Künste von 1993 folgend und der legislativen Entscheidung für ein Theaterdekret von 1975. Das Kunstdekret zielt auf eine integrierende Praxis für alle professionellen Felder der Künste und eine nachhaltige Rahmung der Förderung. Dazu zählen sowohl die Vierjahresprogramme als auch die Zweijahresalimentierung, die Projektförderung, die Unterstützung von Künstlern und von internationalen Kulturorganisationen mit Sitz in Flandern. Seit 2012 und einer neuen Regierung gibt es aber immer mehr Ungewissheiten über die Zukunft der Förderung und der Budgets. Das meiste Geld geht zunehmend in langfristige Förderungen, die kleinen Budgets für Projekte werden gekürzt. Das flämische Theaterinstitut schreibt auf seiner Website19 von einer guten Ausgangsposition mit dem Kunstdekret, das bisher nach Entwicklung, Produktion, Präsentation, Partizipation und Reflexion fördert. Die große Herausforderung aber sei, wie 19 | Flanders Arts Institute, http://www.vti.be
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die Kulturpolitik auf die enorme Produktivität der darstellenden Künste reagiere, wie das Fördersystem Wege finde, um neue Theatergruppen und neue Theaterkünstler zu integrieren und auf hohen Niveau zum Blühen und Wachsen zu bringen. Lange Jahre war das niederländische Theaterinstitut ein kulturpolitisches Modell, auch was die Unabhängigkeit von Staat, Provinzen und Kommune betrifft. Künstlerische Köpfe wie Dragan Klaic, langjähriger Leiter in der Amsterdamer Zentrale, hatten Mittel und Möglichkeiten, um Impulse zu setzen und Innovationen zu begleiten. Die neuen konservativen Regierungen stellen aber die öffentliche Förderung infrage und beendeten mit drastischen Budgetkürzungen die Zeit des kulturellen Engagements und der künstlerischen Steuerung. Geblieben ist nach der Schließung des Theaterinstituts 2013 nur noch die Theaterkollektion mit Bibliothek und Archiv, die jetzt an der Universität von Amsterdam untergebracht ist. Über einen Fonds der darstellenden Künste werden fünfmal im Jahr nur noch jene Theater gefördert, die außerhalb der Niederlande auf Festivals und bei Gastspielreisen an substanziellen und internationalen Programmen teilnehmen. Mehr oder weniger geht es also nur noch um Reise- und Transportkosten, in geringem Umfang auch um die Förderung von Workshops, Meisterklassen oder Seminaren. Das Budget betrug 2014 gerade nur noch 940.000 Euro. Neu ist ein Fonds der kulturellen Partizipation, der Teilhabe in den Künsten fördert, damit Menschen eine aktivere Rolle bei künstlerischen Aktivitäten spielen können. Bekundet wird eine enge Zusammenarbeit mit lokalen Partnern, die Förderung von Institutionen der kulturellen Bildung, Debatten und Forschungen sowie der Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen in den Amateurkünsten und der populären Kultur. Seit 2009 werden jährlich 14 Millionen Euro zur Qualifizierung von kultureller Bildung, 3,5 Millionen Euro für innovative Amateurkunst und drei Millionen Euro für Talent- und Evententwicklung von staatlicher Seite zur Verfügung gestellt. Auch Freie Theater profitieren von der Förderung, sofern sie die Kriterien der Kuratoren erfüllen. Ausführliche Informationen über die Theaterförderung in Europa liefert ein »Fund-Finder«, die Onlinepublikation von IETM, dem internationalen Netzwerk für zeitgenössische darstellende Künste (früher: Informal European Theater Meeting), die sich als kulturpolitischer Kompass für Fördermöglichkeiten in Europa versteht und internationale sowie interdisziplinäre Programme auflistet.20 Neben den bekannten Kulturförderungen der Europäischen Union wie etwa Creative Europe werden auch Projekte wie Horizon 2020, European Regional Fund oder Interreg vorgestellt, die allesamt auch der Unterstützung des Künstlerischen dienen können. Denn insbesondere Freie Theater sind immer wieder einmal Träger von Projekten mit sozialen Anliegen, Impulsgeber zur Stadtentwicklung oder Veranstalter interkultureller Dialoge. Schnell wird 20 | Vgl. IETM, http://www.ietm.org
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aber deutlich, dass Projekte nur eine Förderung auf Zeit möglich machen, ein Phänomen, das auch die Instrumente wie Crowdfunding, Start-ups für Entrepreneurship oder die klassische Festivalförderung prägt. Immer aber geht es um die Mobilität von Künstlern in Europa, zunehmend auch um den interkontinentalen Austausch.
The aterent wicklungspl anung als M odell Theaterpolitik ist allzu oft vor allem Theaterförderung. Ein Einblick auf die Förderung Freier Theater im föderalen Deutschland offenbart das Instrumentarium. Gefördert werden landauf landab Theaterprojekte, insbesondere »innovative und experimentelle«21 (Nordrhein-Westfalen), »zur Erhaltung der Vielfalt«22 (Saarland) und solche, die sich durch »künstlerische Qualität, Originalität und Modellcharakter«23 (Baden-Württemberg) auszeichnen. Mittelfristige Maßnahmen sind die sogenannten Konzeptionsförderungen; »eine Spitzenförderung«, das als »Gütesiegel«24 (Baden-Württemberg) gewertet wird; sie sind auf zwei, drei oder vier Jahre beschränkt (Hamburg, Niedersachsen). »Der Staat trägt gemeinsam mit den Kommunen Verantwortung auch für die nicht staatlichen Theater in Bayern«25. Deshalb gilt auch die institutionelle Förderung von Freien Theatern (zum Beispiel Mummpitz und Pfütze in Nürnberg), »um in allen Landesteilen eine angemessene Versorgung mit Theaterangeboten zu gewährleisten«26. (Steiermark) Alle Länder fördern auch Festivals des Freien Theaters Impulse (NordrheinWestfalen), Made in Hessen (Hessen), 100 Grad (Berlin). Theaterförderung heißt auch Theaterwertschätzung, deshalb gibt es auch Theaterpreise als kulturpoli-tische Initiative, die Gelder sind »mit der Uraufführung des prämierten Stückes«27 21 | NRW Landesbüro Freie darstellende Künste, http://www.nrw-landesbuero-kultur. de/index.php?article_id=10 22 | Saarland. Künstler- und Kulturförderung, http://www.saarland.de/10104.htm 23 | Landesverband Freie Tanz- und Theaterschaffende Baden-Württemberg e.V. Projektförderung »Kulturelle Bildung«, http://www.laftbw.de/foerderinstrumente/projekt foerderung_kulturelle_bildung 24 | Landesverband Freie Tanz- und Theaterschaffende Baden-Württemberg e.V. Konzeptionsförderung, http://www.laftbw.de/foerderinstrumente/konzeptionsfoerderung 25 | Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst. Förderung nichtstaatlicher Theater, http://www.km.bayern.de/kunst-und-kultur/foerde rung/foerderung-nichtstaatlicher-theater.html 26 | Ebd. 27 | Frauen Kultur Büro NRW, http://www.frauenkulturbuero-nrw.de/index.php/foerder recherche/theater/
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(Nordrhein-Westfalen) gekoppelt, sie dienen der Unterstützung der nächsten Produktion (Niedersachsen) oder gehen an Künstler und Ensembles für ihre außergewöhnliche Begabung und hervorragende Leistung (Bayern, Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern). Gefördert werden auch Theaterproduktionen, die bereits durch öffentliche Mittel entstanden sind und wo weitere Aufführungen möglich gemacht werden sollen. Gastspielförderung geht an Veranstalter, Künstler und Gruppen (Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg). Zusätzliche Aufführungsförderungen und Wiederaufnahmeförderungen gehen in die gleiche Richtung, »Vorstellungen einer Produktion in der Heimatkommune zu steigern«28 und »mit viel Aufwand erstellte Produktionen nochmals aufzuführen«29 (Baden-Württemberg). Zur Förderung des Freien Theaters dienen auch Stipendien, dazu zählen Arbeitsstipendien, Reisestipendien und Aufenthaltsstipendien (Brandenburg). »Durch die vergebenen Stipendien soll es den Künstlerinnen und Künstlern möglich sein, sich für einen begrenzten Zeitraum intensiv ihrer künstlerischen Arbeit zu widmen.«30 (Mecklenburg-Vorpommern) Zusätzliche Mittel stehen auch für den internationalen Austausch zur Verfügung, internationale Kooperationen werden ebenso gefördert wie internationale Koproduktionen. (Hamburg) Vor allem der Bund ist hier über die Auswärtige Kulturpolitik und ihre Mittlerorganisation wie insbesondere das Goethe-Institut aktiv und ermöglicht dem Freien Theater künstlerische Entwicklungspotenziale im europäischen und internationalen Kontext. Schließlich ist es die Unterstützung der Selbstorganisation des Freien Theaters zur Stärkung der Künstler als Zivilgesellschaft, die als weitere Fördermaßnahme durchgesetzt wurde. Netzwerk, Landesverbände und der Bundesverband Freier Theater dienen der Beratung, dem Austausch und der Interessenvertretung. Deshalb fördern Länder und der Bund Lobbyarbeit und Serviceleistungen.
28 | Landesverband Freie Tanz- und Theaterschaffende Baden-Württemberg e.V. Aufführungsförderung, http://www.laftbw.de/foerderinstrumente/auffuehrungsfoerderung 29 | Landesverband Freie Tanz- und Theaterschaffende Baden-Württemberg e.V. Wiederaufnahmeförderung, http://www.laftbw.de/foerderinstrumente/wiederaufnahmefoerderung 30 | Mecklenburg-Vorpommern. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Künstlerstipendien, http://www.regierung-mv.de/Landesregierung/bm/Kultur/Künstler stipendien
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D ie Top Ten der F örderung des F reien The aters • • • • • • • • • •
Projektförderung Konzeptionsförderung Institutionelle Förderung Festivalförderung Förderung durch Theaterpreise Nachwuchsförderung Gastspielförderung, Aufführungsförderung, Wiederaufnahmeförderung Förderung durch Stipendien Förderung des internationalen Austauschs Förderung der Interessenvertretungen
Aber all die kulturpolitischen Instrumente bedürfen der Rahmung: Es braucht eine konzeptbasierte Kulturpolitik. Das Ziel könnte also eine Theaterentwicklungsplanung sein. Das Profil könnte die Standortsensibilität werden. Das Theater, das mit der jeweiligen Region oder Stadt zu tun hat, muss dabei im Mittelpunkt stehen, vor Ort recherchieren, suchen, Themen aufspüren und das nutzen, was regional wichtig erscheint. Das muss nicht nur geschehen, um regionales Publikum zu bekommen, sondern weil man an dieser Stelle einen tieferen Einblick in die Gesellschaft nehmen kann. Das Prinzip dabei muss sein, eine kulturelle Vielfalt zu gewährleisten, nämlich verschiedene Formen und auch verschiedene Strukturen von Theater.31 Eine kulturpolitische Aufgabe wäre es dann, Theaterförderung auch als Risikoprämie zu verstehen. Das heißt, nicht das, was sowieso funktioniert und erfolgreich ist, sondern auch den Prozess und das Scheitern zu belohnen. Diese Förderungskategorie ist völlig vernachlässigt worden. Wenn ein Intendant heute ökonomische Misserfolge hat, verliert er schneller seinen Job als ein Fußballtrainer in der Bundesliga. Dass die freien Theater evaluieren müssen und nachweisen müssen, dass sie gute Arbeit geleistet haben, und belegen müssen, was alles stattgefunden hat, ist positiv zu werten. Aber warum gilt das nicht für alle Theater? Warum müssen sich nicht auch die Stadt- und Staatstheater regelmäßig befragen lassen, was sie getan haben, um ein neues Publikum zu entwickeln oder um beispielsweise Theater und Schule zusammenzubringen? Ein kulturpolitisches Kriterium einer solchen Theaterentwicklungsplanung wäre Interdisziplinarität. Das jetzige System ist diesbezüglich völlig überholt. Wo gibt es das noch, dass wir vom Sprechtheater reden, dass das 31 | Siehe auch Wolfgang Schneider: »Von Projekt zu Projekt – am Katzentisch der Kulturpolitik? Die Rolle des Freien Theaters in einer zukünftigen Theaterlandschaft«, in: Fonds Darstellende Künste (Hg.), Freies Theater in Deutschland. Förderstruktur und Perspektiven, Essen, Klartext Verlag 2007, S. 82-90.
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Musiktheater ein eigener hermetischer Komplex ist genauso wie das Ballett, das Tanztheater und irgendwo auch das Kinder- und Jugendtheater sowie das Figurentheater. Gerade die Avantgarde arbeitet von jeher interdisziplinär und selbstverständlich auch am Stadt- und Staatstheater. Genauso ist es möglich, das zu leben, was unsere Gesellschaft im Moment ausmacht, nämlich die Interkulturalität. Das Tanztheater ist dagegen bereits bei einer beeindruckenden Internationalität angekommen. Seit Jahrtausenden tauscht man sich im Theater über Ländergrenzen hinweg aus. Auch Internationalität kann ein wichtiges Element für eine solche Theaterentwicklungsplanung sein. Die Teilbereiche kulturpolitischer Konzeptionen betreffen Produktion, Distribution und Rezeption. Im Moment gehen 90 Prozent der Kulturförderung in die Produktion. Es gibt einen klaren Auftrag der Kulturpolitik, etwas zu produzieren, ein Buch zu schreiben, eine Komposition zu machen, ein Theaterstück, eine Ausstellung etc. Die Frage ist aber, warum bestimmte Aufführungen nur acht oder zehn Mal gespielt werden. Warum kann man diese nicht durch eine Gastspielförderung oder andere Instrumente zusätzlich auch an anderen Orten vermarkten? Aus all dem ergibt sich zwangsläufig auch die Frage: für wen? Für die happy few? Oder Theater für alle? Und was heißt eigentlich in diesem Zusammenhang theatrale Grundversorgung? Welche kulturpolitischen Maßnahmen müssten umgesetzt werden, um sie zu gewährleisten? Welche Strukturen müsste man schaffen, um möglichst viele Menschen zu beteiligen? Ein Beispiel einer solchen Maßnahme ist das Programm TUSCH, die Verbindung von Theater und Schule, das es in vielen deutschen Städten bereits gibt. Dagegen ist in den Schulcurricula nichts passiert. Es ist so, als hätte es PISA nicht gegeben. Auf dem Feld der Lesekompetenz liegen wir wieder weit hinter den anderen Ländern. Wann wird das Bildungssystem endlich politisch reagieren und wann werden die politischen Handlungsträger aufwachen, um das zusammenzubringen, was zusammengehört, nämlich Kulturinstitutionen und Bildungsinstitutionen? Beide werden öffentlich gefördert und beide haben einen gesellschaftlichen Auftrag. Aber noch stehen einer solchen Kooperation oft der Wandertag und vieles mehr entgegen, nicht nur die Einschränkung einer Schulstunde auf 45 Minuten. Es entsteht der Eindruck, dass die darstellenden Künste, wenn sie sich von Spielzeit zu Spielzeit hangeln, ganz zufrieden mit der gegenwärtigen Situation sind. Der Entwicklung und Förderung der darstellenden Künste dient auch, die Geschichte der national, europäisch und international vernetzten Infrastruktur des Freien Theaters wahrzunehmen, zu sichten und zu beforschen. Als kulturelles Gedächtnis könnte ein Archiv des Freien Theaters dienen, das
Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft »Performance basierte Produktionsweisen ebenso einschließt wie dokumentarische Praxis, textbasiertes Spielen ebenso wie Bildertheater oder ein Theater des Atmosphärischen. Internationale Inspirationen sollten ebenso einen Ort haben, wie genreübergreifende Archivalien, Artefakte ebenso wie Fundstücke, das Readymade ebenso wie das zu Marketingzwecken angefertigte Video eines Theaterabends«,
heißt es in der Projektbeschreibung einer Initiative der Impulse Theater Biennale 2013.32 Im mission statement ist zu lesen: »Eine eigene Tradition hat sich etabliert, nun geht es darum, die Bedingungen zu verbessern, unter denen die eigene Ästhetik jenseits der Stadttheaterstrukturen weiter entwickelt werden kann. Denn diese Bedingungen bleiben weiterhin – gerade auch im Vergleich zu anderen künstlerischen Bereichen – problematisch und nicht selten prekär: Kurzfristige Finanzierungen, permanenter Legitimationsdruck künstlerischer Arbeit außerhalb der etablierten Ensemble- und Repertoirebühnen, auch die mangelnde Bereitschaft zur Anerkennung des entstandenen alternativen Theaterkanons prägen nach wie vor den Alltag des Freien Theaters.« 33
Mittlerweile fördert die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim zur Erstellung einer Studie zur Entstehung eines Archivs des Freien Theaters. Theater ist mehr, als dass jeden Abend der Lappen hochgehen muss, und Theaterpolitik sollte auch immer die gesellschaftliche Bedeutung des geförderten Gegenstands bedenken; wie es auch immer in der Philosophie begonnen haben mag. Denkbar wäre, dass diejenige Person, sich den Fuß an einem Stein stieß, und dass dieser Unfall zu folgenden Fragen motivierte: Warum liegt der Stein hier herum und warum ist überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts? Warum ist der Stein so hart und was ist das Wesen des Steins? Warum bin ich davorgelaufen bzw. wie sollte ich eigentlich handeln? Stimmt etwas mit meinen Augen nicht oder was ist hinsehen überhaupt? Man weiß nicht, wie diese Frage damals philosophisch beantwortet wurde, doch sicher ist auch, dass nicht jeder, der hinsieht, auch etwas sieht. Denn Sehen ist wahrscheinlich auch immer Übersehen, Versehen und Absehen. Hinsehen, so könnte man unterstellen, ist als solches der Versuch, so wahrzunehmen, dass der transparente Seh-Raum das intransparente Geschehene deutlich werden lässt – was natürlich die Frage aufwirft, wie man sehen muss, um sehen zu können. In Zeiten der Zeichen, die massenhaft auf uns einstürzen, ergibt es Sinn, das Sehen zu schulen. Und die beste Methode scheint immer noch die zu sein, Interesse 32 | Impulse Theater Biennale (Hg.), 2013, Projektbeschreibung, http://www.theater archiv.org 33 | Ebd.
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für das zu Sehende zu wecken. Das Theater bietet meiner Meinung nach die Möglichkeit, das Sehen in einen Kommunikationsprozess einzubinden, der zwischen Schauspieler und Zuschauspielern die Zeichen der Zeit codiert und decodiert. Voraussetzung ist allerdings, dass das Theater interessant genug ist, vielleicht sogar neugierig macht, vor allem aber etwas Bedeutsames zu bieten hat. Es braucht ein Motiv, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, die nicht oberflächlich bleibt, sondern den Zuschauer bewegt, an- und umtreibt. Es braucht Motivation, ein Sich-gegenseitig-Bedingen, wie es die Psychologie definiert. Es braucht Substanz, Brisanz und Relevanz, um sich angesprochen zu fühlen und sich Gedanken zu machen. Das alles könnte Theater sein – wenn die Reform der Theaterlandschaft kulturpolitisch endlich angegangen wird.
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Prof. emerit. Dr. Manfred Brauneck studierte Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft und Philosophie an der Universität München und promovierte dort 1965 und habilitierte 1973. Er lehrte seit 1973 Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Theater und Medien an der Universität Hamburg. Im selben Jahr Berufung als Ordentlicher Professor an die Universität Hamburg auf einen Lehrstuhl für Rezeptionsforschung, später für Theaterforschung. Brauneck kuratierte mehrere Ausstellungen, darunter 1978 zusammen mit Barbara Müller-Wesemann zum Thema Mensch und Menschmaschine. Europäisches Experimentaltheater 1910 bis 1933, die in Hamburg, Paris, Sofia, Washington und anderen Städten der USA gezeigt wurde. Forschungsprojekte zum Amateurtheater und zum Freien Theater, insbesondere zum »Ausländertheater«. Von 1986 bis 2003 war er Direktor des Zentrums für Theaterforschung und der Theatersammlung an der Universität Hamburg, von 1989 bis 2005 auch Leiter des Studiengangs Schauspieltheater-Regie, den er zusammen mit Jürgen Flimm an der Universität Hamburg aufgebaut hat. Seit 1973 hatte er zahlreiche Gastprofessuren inne, in den USA (dort auch mehrere Theaterinszenierungen), in Polen und Bulgarien. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte und Theorie des Theaters, Grenzbereiche zwischen Theater und bildender Kunst. Zu den wichtigsten Veröffentlichungen zum Theater zählen: Literatur und Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert. Zur Rezeption des naturalistischen Theaters in Deutschland. (1974); Theaterlexikon. Bd.1 (1986, erweit. 5. Aufl. 2007), Bd. 2 (2007); Naturalismus. Dokumente zur deutschen Lieratur 1880-1900 (m. Ch. Müller). (1987); Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. (1982, erweit. 5.Aufl. 2009); Klassiker der Schauspielregie. Positionen und Kommentare zum Theater im 20. Jahrhundert. (1988, 1996); Theaterstadt Hamburg (m. Zentrum f. Theaterforschung). (1989); 100 Jahre Deutsches Schauspielhaus Hamburg (m. M. Giesing u.a.). (1999); Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. 6 Bde. (1993 - 2007); Europas Theater. 2500 Jahre Gechichte - eine Einführung. (2012); Kleine Weltgeschichte des Theaters. ( 2014). 2010 wurde Manfred Brauneck mit dem Balzan-Preis für Theaterforschung ausgezeichnet.
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Das Freie Theater im Europa der Gegenwar t
Dr. Henning Fülle ist Kulturforscher und seit 2001 freiberuflicher Dramaturg für Freie Theater. Seit 2007 ist er in der Forschung und Lehre an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und der Universität Hildesheim tätig. Davor war er seit 1995 Dramaturg und Kurator, u.a. auf Kampnagel Hamburg (19972001) und für diverse Projekte, KünstlerInnen und Institutionen (Berliner Festspiele, Berlin-Brandenburgische Akademie der Künste u.a.). Er forscht zu Themen der Kulturpolitik und publiziert zum Freien Theater in Deutschland. Derzeit arbeitet er im Arbeitskreis »Performing the Archive – Archiv des Freien Theaters« und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Vorstudie dazu. Seine Dissertation Freie Gruppen, Freie Szene, Freies Theater und die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (Uni Hildesheim, Prof. Wolfgang Schneider) ist abgeschlossen und erscheint demnächst. Andrea Hensel
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Dort studierte sie von 2007-2013 im Bachelor- und Masterstudiengang Theaterwissenschaft und war von 2008-2013 als studentische und wissenschaftliche Hilfskraft tätig. Seit 2013 promoviert sie im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts Das Theater der Wiederholung (Universität Leipzig / Leitung: Prof. Dr, Günther Heeg) zum Verhältnis von Historiographie und künstlerischer Geschichtspraxis am Beispiel des Theaterhistorismus im 19. Jahrhundert. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Analyse von Freien Theaterformen und das Verhältnis von neuen Produktionsformen und theaterästhetischer Kreativität in den postsozialistischen Staaten (Ost)Europas. Dr. Tine Koch studierte in Hamburg Germanistik, Romanistik und Erziehungswissenschaften. Nach Abschluss des Ersten Staatsexamens für das Lehramt an Gymnasien promovierte sie im Bereich der Germanistik über den Topos des Welttheaters und das Motiv des Spiels in den dramatischen Werken Samuel Becketts und Thomas Bernhards. Neben ihrer Forschungstätigkeit im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters war sie von 2012 bis 2014 Lehrbeauftragte der Universität Hamburg. Im Sommer 2015 absolvierte sie das Zweite Staatsexamen mit den Unterrichtsfächern Deutsch, Französisch und Theater. Seither ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg innerhalb des Fachbereichs »Didaktik der deutschen Sprache und Literatur« in Forschung und Lehre tätig und unterrichtet das Schulfach »Theater« an einem Hamburger Gymnasium. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendliteratur; literarische Sozialisation und literarisches Lernen; ästhetische Bildung; Dramen- und Theaterdidaktik und Theaterpädagogik.
Autoren
Prof. Dr. Matthias Rebstock ist Professor für Szenische Musik an der Universität Hildesheim. Er beschäftigt sich mit Formen der Inszenierung von Musik, insbesondere mit Formen des musikalisierten Theaters, Musiktheaters und der Oper, sowie der Geschichte und Ästhetik der Neuen Musik. Zuletzt erschienen ist Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes (zusammen mit David Roesner), Bristol 2012. Er arbeitet zudem als Regisseur im Bereich des Neuen Musiktheaters. Schwerpunkt seiner Arbeit bilden Stückentwicklungen im Grenzbereich zwischen Musik und Theater sowie Uraufführungen im Spektrum von szenischen Konzerten bis neuen Opern. Regiearbeiten u.a.: Utopien von Dieter Schnebel, Uraufführung Münchner Biennale für neues Musiktheater mit den Neuen Vocalsolisten, München 2014, Expedition Freischütz zusammen mit Michael Emanuel Bauer, Staatsschauspiel Dresden 2014, Neither von Morton Feldman, Theater Bern 2013, Fernweh. Aus dem Leben eines Stubenhockers, zusammen mit Hermann Bohlen und Michael Emanuel Bauer, Neuköllner Oper 2012, Die Geisterinsel, Uraufführung der Oper von Ming Tsao, Staatsoper Stuttgart 2011, Lezioni di Tenebra, Uraufführung des Musiktheaters von Lucia Ronchetti, Konzerthaus Berlin und Parco de la Musica, Rom 2011. Dr. Petra Sabisch ist Choreographin und Philosophin (Arbeitsschwerpunkte: Choreographie und Tanzwissenschaft, Ästhetische Theorie, Methodologie, Praktische Philosophie). Sie unterrichtet an Kunsthochschulen und Kunstinstitutionen in ganz Europa (wie z.B. der University of Dance in Stockholm, der Hochschule für Musik und Tanz Köln, dem Hochschulübergreifenden Zentrum Berlin und dem Département Danse der Université Paris 8 oder dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen) 2011 erhielt Sabisch den Tanzwissenschaftspreis NRW für ihre Dissertation Choreographing Relations: Practical Philosophy and Contemporary Choreoraphy in the works of Antonia Baehr, Gilles Deleuze, Juan Dominguez, Félix Guattari, Xavier Le Roy & Eszter Salamon (epodium, München 2011). Für diese Arbeit ist Sabisch auch 2010 mit dem Doktor der Philosophie (PhD) in London ausgezeichnet worden und vom Tanzplan Deutschland, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes, gefördert worden. Prof. Dr. Wolfgang Schneider ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, Inhaber des UNESCO-Chair in Cultural Policy for the Arts in Development, Mitglied des Internationalen Theater-Instituts und der Deutschen UNESCO-Kommission, Vorsitzender der ASSITEJ e.V. und Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche. Er war Gründungsdirektor des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland, Vorsitzender des Theaterbeirates Niedersachsen, Mitglied des Beirates Tanz und Theater des Goethe-Instituts und als Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland des
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Deutschen Bundestages Berichterstatter für die Kapitel Kulturelle Bildung, Soziokultur und Theater. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. als Autor von Theater für Kinder und Jugendliche. Beiträge zu Theorie und Praxis, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Hildesheim 2012; Herausgeber von Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung, 2009, Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, 2011 sowie Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste, 2014 (alle Bielefeld) und von IXYPSILONZETT, Jahrbuch sowie Magazin für Kinder- und Jugendtheater (als Beilage von Theater der Zeit, Berlin). Dr. Azadeh Sharifi hat Germanistik, Philosophie und Jura an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg studiert und an der Universität Hildesheim am Institut für Kulturpolitik promoviert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Postmigrantisches Theater sowie Theater, Rassismus und Postkolonialismus. Sie war von 2014 bis 2015 Fellow am Internationalen Forschungskolleg »Interweaving Performance Cultures« der Freien Universität Berlin. Ihre Dissertation Theater für alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln wurde 2011 publiziert.
Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Juni 2017, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2
Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Mai 2017, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7
Katharina Rost Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance November 2016, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3250-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2016-07-20 15-14-02 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 01c8435411934290|(S.
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3) ANZ3242.p 435411934298
Theater Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit Oktober 2016, ca. 600 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3603-1
Tania Meyer Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit April 2016, 414 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3520-1
Ingrid Hentschel Theater zwischen Ich und Welt Beiträge zur Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters. Theorien – Praxis – Geschichte März 2016, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3382-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2016-07-20 15-14-02 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 01c8435411934290|(S.
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