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Das Buch Jesaja gehört zu den bedeutendsten Schriften des Alten Testaments und ist in einem Zeitraum von ca. vierhundert Jahren entstanden. Den Grundstock für diese große literarische Kathedrale legte der Prophet Jesaja ben Amoz im letzten Drittel des achten vorchristlichen Jahrhunderts. Schüler- und Tradentenkreise sorgten für ein langsames Anwachsen der jesajanischen Überlieferung. Neue und starke Wachstumsimpulse brachte die Verarbeitung der babylonischen Gefangen schaft und die nur schleppende Restauration in persischer Zeit.
Das Buch Jesaja
Theologie | Religionswissenschaft
Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
ISBN 978-3-8252-4647-1
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Berges | Beuken
Ulrich Berges und Willem Beuken stellen nach einer Einleitung in die Forschungsgeschichte des Jesajabuches die gesamte Schrift in ihrer Endgestalt als literarisches Drama vor.
Ulrich Berges | Willem Beuken
Das Buch Jesaja Eine Einführung
UTB 4647
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York
Ulrich Berges / Willem A.M. Beuken
Das Buch Jesaja Eine Einführung
Vandenhoeck & Ruprecht
Ulrich Berges, geb. 1958 in Münster/Westfalen studierte Theologie und Bibelwissenschaften in Eichstätt, Salzburg, Rom und Jerusalem. Nach Lehrstühlen in Lima/Peru, Nimwegen/Niederlande und Münster/Westf. ist er seit 2009 Professor für alttestamentliche Wissenschaften an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Bonn und u.a. Mitglied der NRW-Akademie der Wissenschaften und Künste in Düsseldorf Willem Beuken, geb. 1931 in Helmond/Niederlande studierte in Amsterdam und Rom. Professuren in Nimwegen (1985–1989) und Leuven (1989–1996). Langjähriges Mitglied der Päpstlichen Bibelkommission und Gastprofessor in Pretoria/ Südafrika
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm UTB-Band-Nr. 4647 ISBN: 978-3-8252-4647-1
Vorwort
Wie man auch ohne Kunstführer eine mittelalterliche Kathedrale mit Gewinn besuchen kann, so kann man auch das Buch Jesaja, das über die Zeitspanne von fast einem halben Jahrtausend entstanden ist, ohne weitere Anleitung lesen. Aber mit Führung sieht man mehr, versteht Zusammenhänge und beginnt selbst, Neues im Alten zu entdecken. Schauen muss man aber immer persönlich, lesen auch! So möchte dieses Lehrbuch den Einstieg in eines der wichtigsten und schönsten Bücher des Alten Testaments erleichtern, die eigene Lektüre befördern, sie nicht ersetzen, sondern beleben und bereichern. Die Autoren sind nun schon fast zwanzig Jahre in intensivem Austausch über das Jesajabuch eng verbunden und verantworten die Kommentierung in HThKAT. Hier wie dort hat der Altmeister den ersten Teil (Jes 1–39), sein Nachfolger aus Nimweger Zeiten den zweiten Teil bearbeitet (Jes 40–66), doch ist dies ein gemeinsames Buch. Es war eine große Freude, den Weg der Konzeption und Durchführung miteinander zu gehen und das Ergebnis der interessierten Leserschaft nun vorlegen zu können. Dem Ansatz der »diachron reflektierten Synchronie« folgend werden sowohl der literarische Endtext als auch seine möglichen Entwicklungsstufen beleuchtet, Geltung und Genese gleichermaßen mitbedacht. Ein erster Dank gilt Frau Prof. Dr. Karin Finsterbusch, welche uns mit dieser ehrenvolle Aufgabe betraute, danach dem Verlag in der Person von Herrn Reissing. Eine besondere Anerkennung zollen wir Herrn Dr. theol. Bernd Obermayer für alle Mühen, mit denen er die Manuskriptvorlagen bis zur Drucklegung begleitete. Herrn Mag. theol. Sebastian Kirschner danken wir für die Durchsicht der Bibelstellen und die übrigen Korrekturarbeiten. Das Jesajabuch und der Psalter sind Geschwisterbücher und so dürfen wir in stiller Trauer und aufrichtiger Freundschaft dieses Lehrbuch dem Gedenken an Frank-Lothar Hossfeld widmen. Zusammen mit Erich Zenger hat er nicht nur die Psalterexegese zu neuen Ufern geführt, sondern der alttestamentlichen Wissenschaft insgesamt Gewicht und Stimme verliehen. Ulrich Berges Neujahr 2016 Willem Beuken Bonn Leuven
in memoriam Frank-Lothar Hossfeld (* 19. 6. 1942 † 2. 11. 2015)
Inhalt
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Zum Neuansatz der Schriftprophetie im Jesajabuch . . . . . . . . . . . 9 2. Zentrale Eckpunkte der Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3. Die Kernphasen der Verschriftung des Jesajabuches . . . . . . . . . . . 17 4. Die Texttraditionen des Jesajabuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 5. Aktuelle entstehungsgeschichtliche Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 6. Aktuelle Modelle der Endtextlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 7. Theologie im Buch Jesaja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 7.1 Die buchübergreifenden Gottesnamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 7.2 Spezifische Gottesnamen und Metaphern für einzelne Teile des Jesajabuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 7.3 Rückblick und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
II. Auslegung von Jesaja 1–66 Synchrone Textbetrachtungen, diachron reflektiert . . . . . . . . . 50 I. Teil Jes 1–12 Zion zwischen Anspruch und Wirklichkeit . . . . . . . . 50 I. Akt Jes 1–4 Zweifache Ouvertüre: Aussicht auf Zions Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 II. Akt Jes 5,1–10,4 Die Immanuelschrift in einem mehrfachen Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 III. Akt Jes 10,5–11,16 Doppelbild konträrer Herrscherprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Jes 12 Loblied der in Hoffnung Erlösten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 II. T eil Jes 13–27 Untergang aller Tyranneien gegenüber Jhwh, dem König auf Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 I. Akt Jes 13–23 Zehn Völkersprüche: das Gericht über irdische Mächte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 II. Akt Jes 24–27 Jhwhs Gerechtigkeit schafft Ordnung im Chaos der Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
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Inhalt
III. Teil Jes 28–35 Die Durchsetzung der Königsherrschaft Jhwhs auf Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 I. Akt Jes 28–33 Sechs Weherufe gegen die Übeltäter in Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 II. Akt Jes 34–35 Diptychon: Gericht über Edom und Heil für die Heimkehrenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
IV. Teil Jes 36–39 Drei Erzählungen von der Errettung der Gottesstadt und des Davidssohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
V. Teil Jes 40–48 Aus Babel zurück in die Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I. Akt Jes 40 Zion-Jakob-Ouvertüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 II. A kt Jes 41,1–42,12 Ohnmacht der Götter und Jhwhs Zusage für Jakob/Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 III. Akt Jes 42,13–44,23 Jhwh und sein blinder und tauber Knecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 IV. Akt Jes 44,24–48,22 Jhwhs Sieg durch Kyrus und der Fall Babels und der Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 VI. Teil Jes 49–54 Der Knecht und Mutter Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 I. Akt Jes 49,1–26 Selbstvorstellung des Knechts und Zions Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 II. Akt Jes 50,1–51,8 Überzeugungsarbeit an Zions Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 III. Akt Jes 51,9–52,12 Jhwhs Rückkehr zu Zion und die Heimkehr der Zerstreuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 IV. Akt Jes 52,13–54,17 Leiden und Erhöhung von Knecht und Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 VII. Teil Jes 55–66 Die Knechte Jhwhs und ihre Gegner auf dem Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 I. Akt Jes 55,1–56,8 Umfang der Gemeinde und Zulassung 193 II. Akt Jes 56,9–57,21 Prophetische Anklagen und Heilsworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 III. Akt Jes 58–59 Gründe der Heilsverzögerung . . . . . . . . . . 201 IV. Akt Jes 60–62 Jerusalems und Zions zukünftige Herrlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 V. Akt Jes 63–64 Rückblick auf die Geschichte und Bittgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 VI. Akt Jes 65–66 Jhwhs Antwort und die Spaltung der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
I. Einleitung
1. Zum Neuansatz der Schriftprophetie im Jesajabuch Die letzten Jahrzehnte der alttestamentlichen Prophetenforschung im Allgemeinen und des Jesajabuches im Besonderen1 zeichnen sich durch eine grundlegende Neuorientierung aus. Galt zuvor die ganze Aufmerksamkeit möglichen Entwicklungsstufen mit ihren unterschiedlichen Redaktionen, Erweiterungen und Glossierungen (diachrone Analyse), so rückte die Frage nach Aufbau und Struktur der prophetischen Bücher immer mehr in den Mittelpunkt (synchrone Analyse). Richtete sich früher das Hauptinteresse auf die vermeintlich ältesten prophetischen Worte (Einzellogien), die wie Schätze aus dem Geröll der sie überlagernden Schichten herausgelöst werden mussten, um so die Stimme der inspirierten Gottesmänner vernehmen zu können, hat sich das Bild gänzlich gewandelt. Die Erkenntnis brach sich Bahn, dass das prophetische Gotteswort nur innerhalb der prophetischen Schriften zu hören ist – und nicht losgelöst oder unabhängig von diesen. Als Leitspruch gilt nun: Wer die Propheten hören will, kommt an den prophetischen Büchern nicht vorbei! In ihnen ist das Gotteswort für die jeweilige Zeit verfasst, überliefert, ergänzt und immer wieder aktualisiert worden. So sind die jüngeren und jüngsten Worte der Prophetie nicht das Ergebnis theologisch unbedeutender Epigonen, sondern die Frucht einer jahrhundertelangen Traditionspflege mit intensiver Durchdringung des Gotteswillens für Israel und die Völker. Die einstige Vorstellung, Schriftprophetie basiere ausschließlich oder zu großen Teilen auf charismatischen Einzelgestalten, die das an sie ergangene Gotteswort nach der Verkündigung für die Nachwelt aufzeichneten oder durch Schülerkreise aufschreiben ließen, ist nicht mehr haltbar. Insgesamt kann die literarische Entwicklung, die zu den großen Prophetenschriften führte, mit dem jahrhundertelangen Prozess verglichen werden, in dem die großen mittelalterlichen Kathedralen entstanden. An ihrer komplexen Struktur haben unzählige Baumeister mitgearbeitet, jeder auf seine Art und Weise. Sie dienten der gemeinsamen Sache, ohne dass von Anfang an ein allumfassender Masterplan vorgelegen hätte. Wie jeder Stein seine eigene Geschichte hat, aber nur im Ganzen des Bauwerkes seine eigentliche Funktion erfüllt, so auch jeder Spruch im Gesamtkunstwerk der prophetischen Schrift.2 1 2
Einen guten Überblick bietet Höffken 2004. Berges 2006, S. 190.
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I. Einleitung
Die Frage nach der Endkomposition des Jesajabuches kam mit Ausnahme der wichtigen Kommentierung durch James Muilenburg und einer Studie von Joachim Becker3 erst ab den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts auf.4 Dabei war die englischsprachige5 Exegese dieser neuen Fragestellung gegenüber aufgeschlossener als die deutschsprachige, die überwiegend diachron ausgerichtet blieb. So musste Rolf Rendtorff noch im Jahre 1984 mit Bedauern feststellen: »Die Frage nach der Komposition des Jesajabuches in seiner jetzt vorliegenden Form gehört nicht zu den allgemein anerkannten Themen der alttestamentlichen Wissenschaft«. 6 Eine solche negative Einschätzung ist heute nicht mehr zu hören. Nun heißt es: »Wer zum Propheten will, ist zuerst an das Buch gewiesen. Gegenüber der lange alles dominierenden Rückfrage nach den prophetischen Personen ist deshalb die klärende Nachfrage nach den prophetischen Büchern jetzt die vordringliche Aufgabe«.7 Die einst so hitzig geführte Debatte um die Vorherrschaft synchroner oder diachroner Methoden ist der Einsicht gewichen, dass beide Ansätze ihre Berechtigung in den biblischen Büchern selbst haben. Deren Endgestalt ist das Resultat eines oft jahrhundertelangen Entstehungsprozesses, der nur noch in den großen Linien nachgezeichnet werden kann. Zudem sieht man jetzt die Grenzen beider Ansätze klarer als zuvor: Einerseits kann keine der synchronen Endtextlesungen alle Einzelaspekte auf ein Schema reduzieren, andererseits kann keines der diachronen Modelle alle Entwicklungsstufen des Buches einholen! Wenn beide Zugangsweisen legitim sind, sollten auch beide zur Anwendung kommen. Genau dafür steht die »diachron reflektierte Synchronie«. Sie setzt beim Endtext ein, lässt aber die Rückfrage nach den geschichtlichen Entstehungsprozessen nicht außer Acht.8 Beide Aspekte sind in der Auslegung gleichermaßen zu berücksichtigen. So kann die Leserschaft einen Eindruck davon gewinnen, wie die Endgestalt des Textes immer auch das Resultat seiner Geschichte ist. Als Vergleich mag hilfreich sein, dass wir unsere Mitmenschen in ihrem jeweiligen Sosein auch besser verstehen, wenn wir ihre Lebensgeschichte kennen! 2. Zentrale Eckpunkte der Forschungsgeschichte Die Forschungsgeschichte des Jesajabuches kann unter dem Motto zusammengefasst werden: Vom Propheten über drei Bücher zum einen Buch. In der vormodernen Zeit galt Jesaja ben Amoz als Autor der gesamten Schrift, die seinen Namen
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Muilenburg 1956, S. 381–773; J. Becker 1968; Melugin 1976; 1997 und 2008. Rendtorff 1984; Watts 1985; 1987. Brueggemann 1998a; 1998b; Childs 2001; Blenkinsopp 2000; 2002 und 2003. Rendtorff 1984, S. 295. Steck 1996, S. 7. Berges 1998, S. 535ff.
2. Zentrale Eckpunkte der Forschungsgeschichte
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trägt. Gleiches ist auch heute noch in konservativen Kreisen der Fall.9 Die Ansicht stützt sich besonders auf die Überschrift in 1,1, wonach der Prophet den Inhalt der Schriftrolle in den Tagen der Könige Usija, Jotam, Ahas und Hiskija schaute, die alle Nachfolger auf dem Thron Davids in Jerusalem in der zweiten Hälfte des 8. Jh. waren. Dass Jesaja zwischen 734 und 701 während der neuassyrischen Expansionsbewegungen von Tiglatpileser III., Salmanassar V., Sargon II. und Sanherib aufgetreten ist, kann als gesichert gelten. Er erlebte den Untergang des Nordreiches im Jahr 722 und auch den Feldzug Sanheribs in den Jahren 703–701, der Juda völlig desolat zurückließ. Dabei hatte sich die Hauptstadt Jerusalem nur mit knapper Not dem Untergang entziehen können. Von daher ist es kein Zufall, dass Jesaja als einziger der Schriftpropheten auch im deuteronomistischen Geschichtswerk (Jos–2 Kön) genannt ist, und zwar in der Erzählung über die Belagerung Jerusalems durch die Assyrer (2 Kön 18–20; Jes 36–39). Dieser Prophet war mit dem Schicksal Jerusalems und des Zion zutiefst verbunden. Der Legende nach, wie sie im »Martyrium Jesaiae« aus dem letzten Drittel des 1. Jh. n.Chr. wiedergegeben ist, hat er unter dem judäischen König Manasse (697–642) das Martyrium erlitten, indem er zersägt worden sein soll (vgl. Hebr 11,37). Dass das Jesajabuch seit frühester Zeit als eine einheitliche Schrift rezipiert und überliefert wurde (LXX; Qumran; NT; Patristik), kann nicht verwundern. Schon der Sirazide preist Jesaja im Lob der Väter als großen und zuverlässigen Seher (Sir 48,22–25), der dem todkranken König Hiskija das Leben verlängerte (Jes 39) und die Trauernden Zions tröstete (Jes 40): »Für fernste Zeit verkündete er das Kommende und das Verborgene, bevor es geschah« (Sir 48,25). Dass Jesaja in Jes 1,1 als derjenige vorgestellt wird, der die »Schauung schaut«, ist ein wichtiges Indiz für die Rezeption dieses Propheten in der Schriftrolle selbst. Dabei zielt die Überschrift nicht auf die Verfasserschaft Jesajas im eigentlichen Sinne ab, sondern auf seine Autorität, die dieser Schrift zugrunde liegt. Interessanterweise hält der babylonische Talmud Jesaja gar nicht für den Verfasser der Rolle, sondern Hiskija und sein Kollegium, die zudem das Buch der Sprüche, das Hohelied und Kohelet verfasst haben sollen (Baba bathra 14b–15a). Damit scheint bereits eine editorische Tätigkeit durch, für die keine Einzelperson, sondern ein Kollektiv verantwortlich zeichnet. Einer der Faktoren für die Annahme einer kollektiven Verfasserschaft lag sicherlich in der Zeitspanne, die sich von der assyrischen bis in die Zeit der Perser erstreckte. Wahrscheinlich war schon der frühjüdischen Tradition aufgegangen, dass der historische Jesaja den Perserkönig Kyrus kaum namentlich angekündigt haben konnte (Jes 44,28; 45,1). Darauf deutet auch der rabbinische Homilien-Midrasch Pesiqta de Rav Kahana 16,10 aus dem 5. Jh. n.Chr. hin, wo die Frage gestellt wird, warum es in Jes 40,1 nicht wie sonst Gott »hat gesagt« (rma), sondern Gott »sagt« (rmay) heiße. Damit wird betont, dass Gott weiter redet, obschon der Prophet von 9 So Oswalt 1998, S. 25; vgl. auch Motyer 1993; sowie Allis 1950; Young 1954; Lessing 2011. Diese Kommentare bieten trotz der Einheitsthese durchaus wichtige Detailbeobachtungen zur Sprache, Motivik und Theologie des Jesajabuches.
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I. Einleitung
der Bühne abgetreten ist. Noch expliziter geht der jüdische Gelehrte Abraham Ibn Ezra auf dieses besondere Phänomen des Jesajabuches ein, das darin besteht, dass der Prophet ab der Mitte (ab 39) gar nicht mehr vorkommt und auch gar nicht mehr auftreten kann. Denn er hätte ja über 200 Jahre alt werden müssen, um die Zeit der Befreiung aus Babel durch die Perser mitzuerleben! In seinem 1145 im italienischen Lucca verfassten Jesaja-Kommentar meint Ibn Ezra, man solle sich in dieser Frage am Buch Samuel orientieren, denn auch dieser habe sein Buch nur bis 1 Sam 25,1 geschrieben, wo von seinem Tod berichtet wird. Wohl aus Rücksicht auf die jüdische Orthodoxie hatte der mittelalterliche Exeget nicht noch deutlicher gesagt, dass Jesaja nicht der Verfasser der ganzen Schrift gewesen sein könne. Der geschichtliche Graben, der zwischen dem historischen Jesaja und der in Jes 40ff. vorausgesetzten Zeit des Exils und des Nachexils liegt, ließ sich mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelauslegung nicht mehr mit dem Hinweis auf die Überschrift »Vision Jesajas« überbrücken. Hätte Jesaja ben Amoz nur mit vagen Andeutungen auf die Zukunft verwiesen, wäre das vielleicht noch zu tolerieren gewesen, aber mit »Kyrus« (559–530) war der Begründer des persischen Großreiches namentlich genannt worden. Zum Vergleich: was sollten heutige Adressaten mit der Information anfangen, im Jahre 2150 werde eine wichtige Persönlichkeit die Weltgeschichte beeinflussen? Dass der historische Jesaja die assyrische Bedrohung mit Scharfblick wahrgenommen hat und theologisch interpretierte, bedarf keiner Begründung. Dass er darüber hinaus das Ende des babylonischen Exils durch die Perser ankündigte, ist historisch unhaltbar. Der garstige Graben der Geschichte lässt sich auch nicht mit dem Verweis auf die besondere Qualität der Schrift überspringen, wie dies mancherorts noch versucht wird: »Isaiah of Jerusalem did indeed predict the Babylonian exile, and in so doing showed how the towering theology that he applied to events in his own lifetime would become even more towering in relation to those new situations that he could see in outline, but not in detail«.10 Der geschichtliche Graben zwischen dem Propheten vom Ende des achten Jahrhunderts und der exilisch-nachexilischen Zeit lässt sich auch nicht durch die Vorstellung einer Verbalinspiration zuschütten, nach dem Motto: wenn Gott durch seine Propheten Vorhersagen machen will, kann ihm das keiner verbieten! So ist es nicht verwunderlich, dass die historische Bibelkritik gerade bei dieser Problematik ansetzte.11 Hier trafen traditionelle Schriftauslegung und historischkritische Rückfrage ganz unversöhnlich aufeinander. So schreibt Johann Christoph Döderlein (1746–1792), Professor an der fränkischen Universität zu Altdorf: »Die Dogmatik der Christen kann nicht die Dogmatik der Zeitgenossen des Esaias seyn, und wo Cyrus beschrieben ist, da denke ich nicht an den Meßias.«12 Danach stellt er die entscheidende Frage, »ob es nicht glaublich sey, daß dieser ganze Abschnitt erst während des Babylonischen Exils sey niedergeschrieben worden«. Erst in der 10 Oswalt 1998, S. 6. 11 Dazu sehr informativ Moser 2012. 12 Döderlein 1781, S. 832; zitiert nach Vincent 1977, S. 17.
2. Zentrale Eckpunkte der Forschungsgeschichte
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dritten Auflage seines Jesaja-Kommentars formuliert Döderlein explizit die These, dass die Buchrede (»oratio«) ab Kap. 40 nicht von Jesaja stamme, sondern am Ende des Exils von einem anonymen bzw. homonymen, also gleichnamigen Propheten geschrieben worden sei. Auch betont er, dass die Namenlosigkeit des Verfassers dem Ansehen von Jes 40–66 keinen Abbruch tue, denn die Autorität hänge ja nicht vom Verfasser ab, sondern vom Inhalt der Schrift und ihrem Nutzen für das Gottesvolk in einer konkreten geschichtlichen Situation. Dies ist in Exegese, Theologie und Kirche allzu oft überhört worden, denn nicht die Boten stehen im Zentrum der alttestamentlichen Schriften, sondern die Botschaft selbst ist entscheidend. Zu wirklicher Popularität gelangte die These von Döderlein erst durch den großen Jesaja-Kommentar von Bernhard Duhm aus dem Jahre 1892. Darin spricht dieser zum einen die vier Gottesknechtslieder und die Götzenpolemiken dem exilischen Anonymus ab und weist zum anderen die Kapitel 56–66 einem dritten, noch späteren Propheten zu, den er der Einfachheit halber »Tritojesaja« nennt. Damit hat sich Duhm nicht nur als Erfinder von »Tritojesaja« in der Forschungsgeschichte verewigt, sondern auch als der Exeget, der dem Anonymus von Döderlein einen Namen gab, nämlich »Deuterojesaja«. Die alternative Ansicht, Jes 40–66 stelle eine Anthologie vieler anonym gebliebener Autoren dar, war damit auf lange Zeit marginalisiert.13 Vor dem Hintergrund einer romantischen Idee des wahren Propheten entwirft Duhm ein lebendiges Bild von »Deuterojesaja«, den er aber wegen der Vorliebe für Baumsorten und Küstenstreifen weder in Babylonien noch in Juda, sondern im Libanon lokalisiert. Die alttestamentliche Wissenschaft der letzten 100 Jahre ist von der Hypothese eines anonymen Propheten »Deuterojesaja« zutiefst geprägt worden. Aus dem exegetischen Kunstnamen wurde der Eigenname eines Verfassers, der die Summe der Prophetie und den Höhepunkt des AT verkörpern sollte.14 Es war aber gerade die Anonymität, an der die Kritik ansetzte. Mit beißender Ironie hält z.B. Wilhelm Caspari den Duhmschen Deuterojesaja für »eine Zimmerpflanze auf dem Gelehrten-Schreibtische.«15 Zur Diskussion stand und steht nicht die Besonderheit der Kapitel 40ff., sondern ihre vermeintliche biographische Verankerung. Hinter »Deuterojesaja« eine historische Prophetengestalt zu vermuten, ist in der Exegese immer noch sehr verbreitet16, doch nehmen die Stimmen zu, die für eine alternative Sichtweise plädieren.17 Dass die Lieder vom Gottesknecht dieses biographische Vakuum nicht füllen können, wird ebenfalls immer deutlicher wahrgenommen.18 Auch weisen redaktionskritische Studien einer möglichen deuterojesajanischen Grundschicht immer weniger Texte zu.19 13 Moser 2012, S. 89–96. 14 Siehe Duhm 1916, S. 291f. 15 Caspari 1934, S. 244. 16 Hermisson 2003 und die weiteren bisher erschienen Faszikel. 17 Vgl. Albertz 2001, S. 283–286; Dietrich u.a. (Hg.) 2014, S. 305f.319f. 18 Kratz 2003, S. 98; Levin 2003, S. 85; Gerstenberger 2005, S. 248. 19 Vgl. Kratz 1991; van Oorschot 1993; Werlitz 1999.
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I. Einleitung
Gegenüber der breiten Akzeptanz des Duhmschen »Deuterojesaja« hat sich dessen Ansicht über »Tritojesaja« nie flächendeckend durchsetzen können. Hier dachte man schon sehr früh an Kreise von Schriftgelehrten. Doch im Sog der alles beherrschenden Deuterojesaja-Hypothese wurden diese als Schüler des exilischen Anonymus missverstanden.20 Dass »Deuterojesaja« in Theologie und Kirchen so populär werden konnte, hing nicht zuletzt vom christlich geprägten Prophetenbild ab. Man wollte so wichtige Texte nicht einfach namenlosen Schreibergruppen zuweisen. Von daher ist die vorsichtige Anfrage von Diethelm Michel zum Rätsel Deuterojesajas in der Theologischen Realenzyklopädie aus dem Jahre 1981 mit einem klaren Ja zu beantworten: »Es ist also zu fragen, ob bei der Postulierung eines Propheten Deuterojesaja nicht die Ansicht Pate gestanden hat, eine so überzeugende theologische Leistung könne nur von einem großen Individuum stammen.«21 Zu den kritischen, viele Jahrzehnte überhörten Stimmen von Caspari, Vincent und dem frühen Michel mit seiner Antrittsrede von 196722 gehört auch die kleine Monographie von Joachim Becker »Isaias – der Prophet und sein Buch« aus dem Jahre 1968. Seine damalige Einschätzung hat nichts an Wert eingebüßt: »Die verbreitete Vorstellung von einer kurz vor 539 wirkenden – aus Verlegenheit ›Deuteroisaias‹ genannten – Prophetengestalt entspringt unbewußt dem Bestreben, einen angesehenen und bedeutsamen Text wie Is 40–55 vor dem Schicksal der redaktionellen Anonymität, die ihn exegetisch zur Bedeutungslosigkeit verurteilt hätte, zu bewahren. Oder umgekehrt: Man kann den Text nicht als redaktionell gelten lassen, weil er bedeutend ist, und schafft daher künstlich die Prophetengestalt des ›Deuteroisaias‹.«23 Dieses Festhalten an der individuellen Gestalt des Propheten wurde sicherlich auch durch den Druck der kirchlichen Dogmatik befördert, die für ihre Inspirationslehre biographisch fassbare Personen als erforderlich erachtete.24 Die Annahme kollektiver Verfasserschaften ist nur auf den ersten Blick ungewöhnlich, und zwar dann, wenn es prophetische Texte betrifft. Bei der Erforschung des Pentateuchs sind die priesterlichen, nicht-priesterlichen und deuteronomischen Traditionen nie als das Ergebnis individueller Autoren verstanden worden. Hinter den Deuteronomisten und den Verfassern des Chronistischen Geschichtswerkes stehen gleichermaßen theologische Gruppen und keine Einzelpersonen. Bei den Psalmen werden die Sängergilden, die für einzelne Lieder und Liedsamm20 Elliger 1933. Derzeit geht man bei »Tritojesaja« fast einstimmig von schriftgelehrter Prophetie aus; vgl. Lau 1994; Gärtner 2006. 21 Michel 1981, S. 250; siehe Ders. 1977; neu abgedruckt in Ders. 1997; auch Coggins 1998, S. 91. 22 Aus Sorge vor Missverständnissen veröffentlichte D. Michel seine Gedanken erst Jahre später: »Ich habe weitere zehn Jahre mit der Veröffentlichung gewartet, weil mir aus zahlreichen Gesprächen deutlich geworden war, wie leicht meine Argumente unter der vorherrschenden Annahme einer prophetischen Persönlichkeit ›Deuterojesaja‹ missverstanden werden können.« (Michel 1997, S. 199, Anm. 1). 23 J. Becker 1968, S. 38. 24 So verurteilte die Päpstliche Bibelkommission im Jahre 1908 die Ansicht, das Buch Jesaja sei wegen des exilischen Ursprungs der Kapitel 40–66 nicht gänzlich auf den Propheten zurückzuführen (ASS 41 [1908], S. 613).
2. Zentrale Eckpunkte der Forschungsgeschichte
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lungen verantwortlich waren, zum Teil namentlich genannt (Korachiter: Ps 42–49; 84–85; Asafiten: Ps 50; 73–83; vgl. Jeduthun: Ps 39; 62; 77; Heman: Ps 88; 1 Chr 16,41–42; 25,1–6). Das Wissen um kollektive Verfasserschaften hat sich in der jüdischen Tradition erstaunlicherweise erhalten, wie der babylonische Talmudtraktat Baba bathra 14b–15a deutlich zeigt. Dort heißt es unter anderem, Hiskija und sein Kollegium hätten Jesaja, Sprüche, das Hohelied und Kohelet geschrieben.25 Die Ansicht, hinter den Autoren des Jesajabuches stünden Kollektive, hatte sich zunächst an der Vorstellung einer Jesaja-Schule26 festgemacht, sowie an der einer Deuterojesaja-Schule.27 Für erstere ist es durchaus plausibel und für die Überlieferungsbildung wohl unerlässlich, von einer Tradentengruppe am Ende des 7. Jh. auszugehen, die besonders für eine erste Abfassung der sogenannten Immanuelschrift in Jes 6–8 verantwortlich zeichnete. In Bezug auf Kap. 40–66 hätten die Schüler des großen exilischen Anonymus seine Worte bewahrt, fortgeschrieben und in die jetzige Endfassung gebracht. Demnach wäre Deuterojesaja nicht die Einzelfigur im Sinne von Duhm gewesen, sondern als »chef du groupe« aufgetreten28, dessen Botschaft nach seinem Tod von seinen Schülern gesammelt und herausgegeben worden sei.29 Diese Hypothese hat aber mit der Rückfrage zu kämpfen, warum dessen Name so konsequent verschwiegen worden wäre. Zudem lässt sich in 40ff. keine Auftrittsszene eines Propheten entdecken, ganz im Gegensatz zum ebenfalls exilischen Ezechiel (vgl. Ez 1,1; 24,1; 26,1; 29,1). Konträr zum Ezechielbuch, wo viele Texteinheiten mit »das Wort Jhwhs erging an mich« (u.a. 6,1; 7,1; 12,1.8) eingeleitet werden, fehlt dies in 40ff. völlig (zu 40,6; 48,16, siehe die Auslegung). Die 1. Person Singular im zweiten und dritten Gottesknechtslied (49,1ff.; 50,4ff.) kann diese Lücke nicht füllen, denn hier dominiert eine formgebundene Sprache, die keine Rückschlüsse auf eine historische Einzelperson zulässt.30 Dass das Leiden des Knechts im vierten Gottesknechtslied (52,13ff.) nicht auf das Martyrium eines anonymen Propheten auszulegen ist31, hatte bereits Julius Wellhausen unterstrichen: »Die Annahme ist abenteuerlich, daß im Exil ein unvergleichlicher Prophet, womöglich von seinen eigenen Landsleuten, zum Märtyrer gemacht, dann aber verschollen wäre. Die Aussagen passen auch nicht auf einen wirklichen Propheten. Der hat nicht die Aufgabe und noch weniger den Erfolg, alle Heiden zu bekehren.«32 25 Goldschmidt 1996, S. 56. Die Schreibweise einiger biblischer Eigennamen wird hier vereinfacht wiedergegeben. 26 Eaton 1982. 27 Schmitt 1979 und 2005, S. 322. 28 Albertz 2001. 29 Vgl. Schmid 2006, S. 328, der hinter den kleinen Einheiten in Jes 40–55 ursprünglich mündliche Verkündigung vermutet: »Man darf deshalb nach wie vor mit einem Propheten ›Deuterojesaja‹ hinter Kap. 40ff. rechnen, auch wenn wir seinen Namen nicht kennen.« 30 Vgl. Hermisson 1999, Sp. 684–685, der jedoch dezidiert für »Deuterojesaja« als historische Figur eintritt. 31 Erneut Blenkinsopp 2002, S. 356: »the Servant is none other than the author of the core of these chapters, the so-called Deutero-Isaiah«. 32 Wellhausen 1958, S. 152, Anm. 1.
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I. Einleitung
So gewinnt in den letzten Jahren die Ansicht immer mehr an Boden, dass sich aus Jes 40–66 keine prophetischen Einzelgestalten ableiten lassen.33 Im Mittelpunkt steht der Text selbst, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er mehr als andere prophetische Schriften eine dramatisch fortschreitende Entwicklung aufweist. Vom Anfang bis zum Ende geht es um Jerusalem und Zion als Zentrum und Ziel der Gottesherrschaft über Israel und die Völker. Dieses Drama der Reinigung und Bedrohung, der Gerichtsansagen und Heilsankündigungen kreist in immer neuen Anläufen um die Zukunft der Gottesstadt, dem Ziel der Geschichte Jhwhs mit seinem Volk und den Völkern. Wie immer man die Gesamtanlage des Jesajabuches bewertet und welche Entwicklungsstufen auch vorgeschlagen werden, auf die Annahme professioneller Schriftgelehrter kann heutzutage kein Erklärungsversuch mehr verzichten. Odil Hannes Steck, der sich wie kaum ein anderer um das Phänomen der schriftgelehrten Prophetie verdient gemacht hat, charakterisiert diese Literaten folgendermaßen: »Fachleute, geschulte und sich schulende Insider, die ihre Schriften im Dienste fließender Relecture aufs genaueste in Abfolge und Aussage kennen – professioneller Autoren- und Leserkreis in einem. Erst nach der Kanonisierung, als der Fluß produktiver Relecture zum Stehen gekommen war, wird dies anders und kann exegetisch vereinzelndem Gebrauch bis hin zu atomistischer Auslegung weichen. Zuvor jedoch sind es Fachleute, die ganze Bücher und Bücherfolgen betreuen.«34 Sie waren keine Autoren im modernen Sinne, sondern Begründer theologischer Diskurse und Diskursgemeinschaften, die miteinander in Kontakt und mitunter auch in Konkurrenz zueinander treten konnten: »Nebeneinander, aber nicht unabhängig voneinander existierten schulmäßig funktionierende Diskurse der Fortschreibung als Auslegung autoritativer Worte, die dem jeweiligen Diskursgründer zugeschrieben wurden. Während für die priesterliche Schriftgelehrsamkeit Mose als Diskursgründer galt, dem auch die nachexilischen fortschreibenden Auslegungen seiner Worte aus vorexilischer und exilischer Zeit in Deuteronomium und Priesterschrift in den Mund gelegt und damit autorisiert wurden, wurden in Kreisen der Tradentenprophetie Worte der prophetischen Diskursgründer eines Jesaja, Jeremia oder Ezechiel fortschreibend ausgelegt und diesen Diskursgründern in den Mund gelegt und erhielten so ihre Legitimation durch die prophetische Autorität in Konkurrenz zu Mose Funktion, Offenbarungsmittler göttlicher Worte zu sein.«35 Für Kap. 40–66 bietet sich das Paradigma schriftgelehrter Prophetie auch deshalb so sehr an, weil gerade diese Kapitel eine Vielzahl von alttestamentlichen Überlieferungen und Motiven aufnehmen und aktualisieren. Dazu gehören die Väter- und Exodustradition, die prophetische Gerichtsverkündigung, jesajani33 Levin 2003, S. 85: »Doch ist die Frage nach der Person des Propheten bei diesem Buch noch weniger angemessen als sonst. Die eigene Prägung, die Deuterojesaja besitzt, beruht vor allem auf den verwendeten Gattungen. Sie ist keine individuelle Signatur.« 34 Steck 1996, S. 168; vgl. Kratz 2007, der die anti-institutionelle Richtung der biblischen Prophetie unterstreicht (Kratz 2007, S. 145: »marginalisierte Eliten«). 35 Otto 2007, S. 161.
3. Die Kernphasen der Verschriftung des Jesajabuches
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sche Ausdrücke wie der »Heilige Israels«, Anleihen aus Jeremia und Ezechiel sowie die deuteronomische Worttheologie. Dazu kommen noch Jerusalemer Topoi wie Zion und David, sowie die priesterschriftliche Verknüpfung von Schöpfung und Geschichte und die Tradition der Psalmen mit ihrer starken Fokussierung auf den Gottesberg und die Gottesstadt.36 Die Vernetzung und kreative Ausgestaltung all dieser Traditionen kann nicht das Werk einer einzelnen prophetischen Person sein, sondern ist das Ergebnis intensiver Traditionspflege durch literarisch geschulte Kreise, die auf babylonischem Boden beginnend im Aufkommen der persischen Weltmacht das Heilszeichen Jhwhs für einen Neubeginn und die Rückkehr zum Zion erblickten. 3. Die Kernphasen der Verschriftung des Jesajabuches Für die ca. 400 Jahre andauernde Entstehungsgeschichte des Jesajabuches (700– 300) lassen sich mit aller gebotenen Vorsicht einige Kernphasen der Verschriftung bestimmen. Das Fundament legten Jesaja ben Amoz und sein Schülerkreis, den dieser während der syrisch-efraimitischen Krise (734–732) um sich sammelte. Die jüdische Tradition hält seinen Vater »Amoz« (nicht zu verwechseln mit »Amos«) für einen Bruder des Königs Amazja (796–781), dem Vater Usijas, so dass Jesaja ein Neffe des judäischen Königs gewesen wäre, in dessen Todesjahr er seine Sendung zum Propheten empfangen hätte (bMegilla 10b). Wenn diese Tradition auch nicht zu beweisen ist, so spricht sie doch für eine große Nähe Jesajas zum Königshaus und zur Sphäre der Innen- und Außenpolitik. Nach Jes 6,1 fällt die Vision der Herrlichkeit Jhwhs im Jerusalemer Heiligtum, die Reinigung und Sendung des Propheten in das Todesjahr Usijas, so dass damit – bei aller Unsicherheit der unterschiedlichen Chronologien – ungefähr das Jahr 734 erreicht ist. Für die Auslegung der ersten Kapitel ist dies nicht nur ein geschichtliches Datum, sondern auch ein strukturell wichtiges Element, denn die Sendung des Propheten findet – anders als z.B. bei Jeremia und Ezechiel – nicht bereits zu Beginn des Buches, sondern erst nach dem Vorspann der Kapitel 1–5 statt. Somit folgt der Verstockungsauftrag (6,9ff.) in der Textchronologie den ersten Kapiteln nach, in denen der Prophet seinen Zuhörern die Alternative »Gericht oder Heil« in aller Deutlichkeit vor Augen geführt hat. Der Auftrag an den Gottesmann, das Herz des Volkes zu verhärten, trifft die Adressaten weder unschuldig noch unvorbereitet! In den Anfangsjahren der Verkündigung hat sich Jesaja vor allem innenpolitisch geäußert. Dabei stellt er durchaus eine heilvolle Zukunft in Aussicht, aber nur unter der Bedingung einer wirklichen Verhaltensänderung (vgl. 1,19f.). Die Konditionierung der Heilsbotschaft bedeutet kein diplomatisches »sowohl als auch«, sondern das Ernstnehmen der individuellen und gesellschaftlichen Verantwor36 Siehe die Aufzählung bei Hermisson 1999, Sp. 687; Weber 2009, S. 317, Anm. 298f.
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tung, die sich aus dem personalen Verhältnis Jhwhs zu seinem Volk ergibt. Dem Propheten, der selbst aus der Oberschicht stammt, ist jegliche Arroganz zutiefst zuwider: »Ja, ein Tag für Jhwh Zebaot kommt über alles Stolze und Hohe, über alles Erhobene – es wird erniedrigt!« (2,12). Diese Thematik durchzieht die Kap. 1–39 und gehört zu den Grundpfeilern seiner Verkündigung und ihrer Fortschreibung (vgl. 2,12–17; 3,16–24; 5,15; 9,8; 10,12.33; 13,11.19; 14,11.13; 16,6; 23,9; 25,11; 28,1.3; 37,23). Zumindest die Selbstberichte in der sogenannten Immanuelschrift (6,1–8,18) werden von der Mehrzahl der Ausleger dem Propheten belassen. Dass der Text nach der Überschrift (1,1) mit 6,1 zum ersten Mal eine weitere chronologische Notiz bietet, markiert eine deutliche Zäsur. Die Geschichtlichkeit des sogenannten syrisch-efraimitischen Krieges (734–732) wird in der jüngeren Forschung immer mehr bezweifelt. Dies tut aber der Tatsache keinen Abbruch, dass die Überlieferung dem Propheten Jesaja für die Zeit der zunehmenden Bedrohung durch das assyrische Reich eine besondere Rolle zuweist. Nicht um Geschichte geht es den Verfassern der Immanuelschrift, sondern um die theologische Aussage, dass wahre Sicherheit nicht auf politischen Bündnissen, sondern auf dem Vertrauen auf Jhwh gründet. Genau diese Weisung (»Tora«) versiegelt der Prophet in seinen Schülern (8,16), zu denen auch die aufmerksamen Leserinnen und Leser des Jesajabuches gehören! Wie politisch engagiert Jesaja seine prophetische Sendung verstanden hat, lässt sich gut an der Zeichenhandlung ablesen, die er während der Aufstände der philistäischen Städte unter Leitung Aschdods in den Jahren 713–711 ausführte (Jes 20,1–6). Erneut versuchten die Nachbarn, den kleinen judäischen Staat mit der Hauptstadt Jerusalem in einen Aufstand gegen Assur zu verwickeln. Dagegen protestierte der allseits bekannte Jesaja in höchst provokanter Weise: Drei Jahre lang lief er »nackt« und »barfuß«, d.h. wie ein Kriegsgefangener in Jerusalem als »Zeichen und Mahnmal« umher. Seine Botschaft war klar: Wer sich auf einen anti-assyrischen Aufstand einlässt und dabei auf militärische Unterstützung durch Ägypten hofft, wird als Kriegsgefangener enden! Diese werden in altorientalischen Reliefs – falls es sich um männliche Gefangene handelt – meist nackt dargestellt. Ein weiteres biographisierendes Textelement stellt Jes 22 dar, wo Jesaja den völlig deplatzierten Jubel der Jerusalemer Bevölkerung scharf verurteilt. Die Szene lässt sich am besten auf das Ende der Aufstandsbewegungen im Jahre 711 beziehen. Der judäische König Hiskija, der sich noch rechtzeitig von der Rebellion seiner Nachbarn distanziert hatte, rettete sich und Jerusalem in allerletzter Minute. Im Hintergrund der Kapitel 28–39 steht die politische Lage der Jahre 705–701, in denen Juda erneut versucht war, seine Loyalitätspflicht gegenüber Assur durch eine Allianz mit Ägypten aufzukündigen (vgl. 31,1ff.). Die Notizen über die öffentliche Tätigkeit Jesajas kulminieren in den Berichten über sein Auftreten während der Belagerung Jerusalems durch die Truppen Sanheribs im Jahre 701. Die
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biblische Überlieferung spricht davon, dass der Äthiopier Tirhaka in Richtung Jerusalem gezogen, woraufhin Sanherib zeitweilig von Jerusalem abgerückt sei (37,9; 2 Kön 19,9). Damit liegt jedoch eine Mischung von geschichtlichem Faktum, Halbwahrheit und Unwahrheit vor: Wahr ist, dass es zu einer Schlacht zwischen assyrischen Kräften und dem Hilfskontingent aus Ägypten bei Elteke gekommen ist. Unwahr ist, dass Tirhaka damals bereits den Königstitel trug, denn im Jahre 701 war noch sein Bruder Schebitku (Schabataka) an der Macht. Doch könnte Tirhaka als Zwanzigjähriger am Kampf mit den Assyrern teilgenommen haben. Nach der Schlacht von Elteke schlug Sanherib sein Hauptlager in Lachisch auf und belagerte damit die wichtigste Stadt auf dem Weg nach Jerusalem. Die Situation von Jerusalem und ihrem König Hiskija war daraufhin hoffnungslos. Die assyrischen Annalen sprechen davon, dass 46 Städte in Juda erobert und 205.105 Gefangene weggeführt worden seien37, während Hiskija wie ein Vogel im Käfig eingeschlossen sei. Hiskija blieb nichts anderes übrig, als sich dem Groß könig Sanherib zu beugen und die exorbitante Tributlast von 810 kg Gold und 8.100 kg Silber auf sich zu nehmen. Sowohl die assyrischen Annalen als auch die biblischen Texte stimmen darin überein, dass es in Jerusalem, im Gegensatz zu Lachisch, nicht zu einer regulären Belagerung, sondern nur zu einer Blockade der Stadt gekommen war. Dass Sanherib weder einen Pfeil in die Stadt schoss, noch einen Wall gegen sie aufschüttete, machen die biblischen Verfasser in 2 Kön 19,32; par. Jes 37,33 post factum zum Beweis für den göttlichen Schutz in allergrößter Not. Obwohl es in den assyrischen Quellen heißt, Hiskija habe den Tribut Sanherib nach Ninive hinterhergeschickt, hat das nicht etwa mit einem überstürzten Abzug des Assyrers aus Juda zu tun, sondern damit, dass er Wichtigeres zu tun hatte, als darauf zu warten, bis Hiskija die ihm auferlegte Menge an Gold und Silber unter größten Mühen zusammengebracht hatte. Nach 2 Kön 18,16 musste Hiskija die Türen des Tempels und die mit Gold und Silber überzogenen Pfosten zerschlagen lassen, um die Edelmetalle nach Assur abliefern zu können. Von dieser Tributzahlung will die Jesaja-Überlieferung nichts wissen und lässt die Notiz von 2 Kön 18,14–16 einfach aus. Im Jesajabuch rettet Hiskija sich und Jerusalem nicht durch eine Tributzahlung, sondern durch die Fürsprache des Propheten und das Gebet des frommen Königs! Die Tatsache, dass Sanherib auch nach 701 sehr aktiv blieb und keineswegs an militärischer Kraft eingebüßt hatte, verweist den Tod von 185.000 Assyrern vor den Toren Jerusalems durch Jhwhs Boten ins Reich der Legenden (2 Kön 19,35– 37; Jes 37,36–38; 2 Chr 32,21–22).38 Dass noch Flavius Josephus ein Gebiet im Nordwesten Jerusalems als »Heerlager der Assyrer« bezeichnet, in dem dann auch Titus im Jahre 70 n.Chr. sein Lager aufgeschlagen habe, spricht für die Langlebig37 Zur hohen Zahl siehe Mayer 1995, S. 41–43; Gonçalves 1986, S. 115: »peut-être l’ensemble de la population des territoires judéens conquis«. 38 Nach Herodot (Hdt. 2, 141) wird Sanherib in seinem Heerlager gegen Ägypten, das er in Pelusium aufschlug, des Nachts von einer Mäuseschar überrascht, die die Waffen seiner Soldaten kampfuntauglich nagen.
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keit der biblischen Fiktion bezüglich der Niederlage Assurs vor den Toren der Gottesstadt (vgl. 1 Makk 7,41; 2 Makk 8,19; 15,22; Sir 48,21). Der Abzug Sanheribs wurde von den Tradenten des Jesajabuches zum historischen Beweis für den unverbrüchlichen Schutz Jhwhs für Zion und Jerusalem stilisiert. Dazu passte natürlich keine Tributzahlung des frommen Königs! Allzu gern hätten die biblischen Autoren wohl auch Sanherib unter die toten Assyrer gerechnet, der es gewagt hatte, Jerusalem und Jhwhs Tempel, den irdischen Wohnort des himmlischen Weltenkönigs anzugreifen. So stark ließ sich die Weltgeschichte dann aber doch nicht umschreiben! Zumindest reichte es, ihn im eigenen Tempel von seinen Söhnen ermorden zu lassen (Jes 37,38; par. 2 Kön 19,37). Dass Sanherib durch die Hand seiner Söhne getötet wurde, ist zwar historisch korrekt. Dies geschah jedoch nicht schon kurz nach 701, sondern erst im Jahre 681. Die Jerusalemer Jesaja-Tradition muss in der langen Regierungszeit Manasses (697–642) bewahrt und gepflegt worden sein. Die Legende vom Martyrium des Propheten unter diesem König gibt davon zumindest ein indirektes Zeugnis ab. Jesajas Mahnung, Juda solle sich anti-assyrischer Koalitionen enthalten, fiel bei Manasse sicherlich auf fruchtbaren Boden, nicht aber sein ebenso grundsätzlicher Appell, sich allein auf Jhwh zu verlassen. Hiskijas Sohn steuerte einen realpolitischen Kurs und unterwarf sich voll und ganz der assyrischen Großmacht. Zum Zeichen seiner Vasallentreue ließ er in beiden Tempelvorhöfen »Altäre für das ganze Heer des Himmels« bauen (2 Kön 21,5). Nach dem Tod Assurbanipals (669–627) ging das assyrische Großreich nicht zuletzt wegen des Erstarkens der Meder (Kyaxares, 625–585) und der Neubabylonier (Nabopolassar, 626–605) sehr schnell dem Ende entgegen. Im Jahre 614 fällt die Stadt Assur und 612 die assyrische Hauptstadt Ninive durch eine Koalition der beiden aufstrebenden Mächte. In dieser Endphase des assyrischen Reiches gelang es dem judäischen König Joschija (639–609), die staatliche und kultische Unabhängigkeit Judas und Jerusalems wiederherzustellen. Er machte die Assimilationspolitik seines Großvaters Manasse rückgängig, führte eine tief greifende Kultreform durch und entfernte alle Symbole assyrischer Gottheiten aus dem Jerusalemer Tempel (2 Kön 22–23). In der modernen Forschung gehen viele Ausleger davon aus, dass in den Jahrzehnten unter Joschija die Jerusalemer JesajaTradition, die unter Manasse nur unterschwellig tätig sein konnte, einen großen Wachstumsschub erhielt, und zwar unter dem Eindruck der sich erfüllenden Gerichtsansage gegen das assyrische Weltreich. In seiner einflussreichen Monographie »Die Jesaja-Worte in der Josiazeit« spricht Hermann Barth von einer »Assur-Redaktion«, die u.a. 8,23b–9,6; 10,16–19; 14,20b–27; 17,12–14; 28,23–29; 30,27–33; 31,5.8b–9; 32,1–5.15–20 umfasst. Auch Jacques Vermeylen nimmt eine redaktionelle Überarbeitung in der Zeit des Joschija an (u.a. 2,2–4; 7,15; 8,23b– 9,6a; 11,1–5; 22,19–23). In der englischsprachigen Exegese wurde dieser Ansatz besonders von Martin Sweeney aufgenommen39 und auf weitere Texte ausgedehnt 39 U.a. Sweeney 1996, S. 57–59.
3. Die Kernphasen der Verschriftung des Jesajabuches
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(Jes 7; 11; 27; 32; 36–39), so auch auf die Heimkehrtexte in 11,11–16; 19,18–25; 27,6–13. Letztere hätten dazu gedient, eine Repatriierung von Exilierten des Nordreiches zu propagieren, die 722 von Assur deportiert worden waren. Die dramatischste Zeit begann mit dem plötzlichen Tod Joschijas im Jahre 609, der sich dem ägyptischen Pharao Necho II. (609–594) bei Megiddo entgegengestellt hatte. Möglicherweise war Joschija durch hochfliegende davidische Restaurationsvorstellungen dazu verleitet worden, die direkte Auseinandersetzung mit dem Ägypter zu suchen, um so die erst kürzlich gewonnene Unabhängigkeit von Assur zu verteidigen. Gegen das übermächtige ägyptische Heer hatte Joschija in der Ebene von Megiddo keine Chance. Doch die ägyptische Präsenz sollte nur von kurzer Dauer sein, denn die Truppenkontingente des Pharao konnten sich zwar bis zur Schlacht bei Karkemisch im Jahre 605 im Norden halten, wurden dann aber vom neubabylonischen Kronprinzen Nebukadnezzar am Nordlauf des Euphrat vernichtend geschlagen. So gerieten das Haus David, Jerusalem und Juda in den Strudel der Ereignisse, die im Jahre 597 zur ersten Deportation der Königsfamilie und zehn Jahre später zur Zerstörung des Tempels, der judäischen Hauptstadt und zur Exilierung der gesamten Oberschicht führen sollten. Möglicherweise sind die Hiskija-Jesaja-Erzählungen, wie sie in 2 Kön 18–20; par. Jes 36–39 vorliegen, zu dem Zweck überarbeitet worden, die Widerstandskraft des Königshauses und der Jerusalemer Bevölkerung während der Jahre zwischen der ersten Wegführung (597) und der zweiten Deportation (586) zu festigen.40 Insgesamt ist für die Kapitel 1–39 mit jesajanischen Grundbeständen zu rechnen, auch wenn diese nicht mehr versgenau zu rekonstruieren sind. Ein kritisches Minimum ist geradezu gefordert, denn jede Tradition braucht einen Kern, den sie weiterentwickelt. Dass Jesaja einen Schülerkreis um sich sammelte, der nach dessen Tod seine Predigt in schriftlicher Form weiterführte, sollte also nicht in Abrede gestellt werden. Daraus ergibt sich aber nicht ipso facto eine Jesaja-Schule, die für Kap. 40–66 verantwortlich gewesen wäre.41 Dass der historische Jesaja ursprünglich nur ein Unheilsprophet gegen die Fremdvölker und damit ein reiner Heilsprophet für das eigene Volk gewesen sei42, ist sehr unwahrscheinlich. Dieser Theorie folgend wären alle Unheilsorakel exilisch-nachexilischen Ursprungs, weil man post eventum den großen Propheten zum Warner vor der Katastrophe habe machen wollen. Hätte der historische Jesaja aber nie vor dem Ungehorsam gewarnt, wäre er doch vielmehr der Falschprophetie überführt worden! Auf den ersten Blick scheint die Dissertation von Matthijs de Jong »Isaiah among the Ancient Near Eastern Prophets« denen Recht zu geben, die den historischen Jesaja nur als Heilspropheten sehen wollen. Demnach sei der Grundbestand in Jes 6–9; 10–11; 28–32 »basically pro-state« ausgerichtet.43 Eine solche Staatsräson sei auch das Merkmal der neuassyrischen Pro40 Vgl. Hardmeier 1990. 41 Albertz 1990. 42 U. Becker 1997, S. 59. 43 De Jong 2007, S. 83.
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phetie des siebten Jahrhunderts unter Asarhaddon (681–669) und Assurbanipal (669–627) gewesen. Doch verschweigt de Jong auch nicht die Differenzen zur Prophetie Mesopotamiens: Zum einen sind dort z.B. Wehesprüche unbekannt, zum andern scheint auch Jesaja eine sehr viel größere öffentliche Rolle gespielt zu haben, als das bei den neuassyrischen Propheten der Fall war. Zudem ist die jesajanische Verkündigung, die durch das Gericht hindurch zur Heilsansage kommt, ebenfalls auf die Erhaltung des Staates ausgerichtet. Wenn Jesaja vor politischen Allianzen mit Ägypten gegen Assur warnt, dann tut er das aus tiefster Sorge um Juda und Jerusalem! Eine weitere Kernphase der Buchentstehung liegt in exilischer Zeit, die textweltlich mit dem Trostaufruf in 40,1ff. beginnt. Schon häufig ist gesehen worden, dass Kap. 40–48 und Kap. 49–54 zwei zu unterscheidende Entitäten sind. Erstere handelt vom Geschick Israels in Babel, letztere stellt Jerusalem und Zion in den Mittelpunkt. Mit Jes 48 kommen wichtige Themen an ihr Ende, so »Babel und Kyrus« (41,1–5.25; 43,14; 44,24–45,7; 45,13; 46,11; 48,12–16a), die »früheren und späteren/neuen Dinge« (41,21–29; 42,6–9; 43,8–13; 44,6–8; 45,21; 46,8–11; 48,3–8.14–16), die »Fremdgötterpolemik« (40,19–20; 41,6–7; 42,17; 44,9–20; 45,20; 46,1–7; 47,9b–15) und die Aussagen über die »Unvergleichbarkeit Jhwhs« (40,12–18.21–31; 41,21–28; 42,14– 17; 45,9–13; 46,3–5; 48,1–11). Nach Jes 48 ist von all dem nichts mehr zu hören, was deutlich dafür spricht, dass sich der geschichtliche Kontext vom babylonischen Exil zum nachexilischen Jerusalem verschoben hat. Dafür spricht auch der Befehl in 48,20ff., aus Babel und Chaldäa auszuziehen und sich auf den Weg in die Heimat zu machen. Ein Spezifikum der Kapitel 49–54 (nicht 55 einschließend) betrifft den regelmäßigen Wechsel von Passagen über den Knecht (49,1–13; 50,4–11; 52,13– 53,12) und Zion/Jerusalem (49,14–50,3; 51,1–52,12; 54,1–17a). Einen wichtigen Einschnitt markiert 54,17b, wo erstmalig nicht vom Knecht, sondern von den Knechten die Rede ist, was von da an bis zum Ende des Buches durchgehalten wird (56,6; 63,17; 65,8.9.13.14.15; 66,14). Diese Knechte sind die Nachkommen des Knechts (53,10) und zugleich die kostbaren Kinder Zions (54,13). Die opinio communis, zumindest ein Teil der Kap. 40ff. seien im babylonischen Exil verfasst worden, wurde besonders von Hans Barstad und seiner Schülerin Lena-Sophia Tiemeyer in Frage gestellt.44 Beide votieren für eine Gesamtabfassung im nachexilischen Jerusalem. Aus den akkadischen Lehnworten (u.a. in 40,20; 41,25) könnten keine Schlüsse für eine Verschriftung in Babylon gezogen werden, denn wir Heutigen besäßen mit dem AT nur einen sehr kleinen Teil der einst lebendigen Sprache. Zudem beinhalte das Biblische Hebräisch insgesamt sehr viele Hapaxlegomena. Darüber hinaus seien die meisten, wenn nicht gar alle Texte in 40ff., die von einem Weg durch die Wüste sprechen, metaphorisch zu verstehen. Diese meinten also gar keinen Zug durch die terra intermedia zwischen Babel und Jerusalem.45 Mit Recht betonen beide, dass von einer totalen Verwüs44 U.a. Barstad 1989; Tiemeyer 2011. 45 Hierzu auch Lund 2007.
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tung Judas keine Rede sein könne. So habe es u.a. in Mizpa, Gibea, Bethel und Gibeon Enklaven gegeben, die eine literarische Tätigkeit in Juda durchaus zugelassen hätten. Trotz dieser wichtigen Hinweise ist doch sehr auffällig, dass zentrale Themen wie Babel, Kyrus oder die Fremdgötterpolemik auf Kap. 40–48 beschränkt bleiben und die Perspektive nach 49 eindeutig zu Zion/Jerusalem wechselt. Dass ein Kern von Kap. 40–48 im babylonischen Exil entstanden ist, von exilierten Schreibern (Leviten?) in die Heimat mitgebracht und in Jerusalem fortgeschrieben wurde, bleibt die wahrscheinlichste Annahme, die auch in diesem Lehrbuch vertreten wird. Die letzte Kernphase liegt in der Zeit der nachexilischen Restauration in der zweiten Hälfte des 5. Jh., in die der Wiederaufbau und die Wiedereinweihung des Tempels (520–515) sowie die national-religiösen Bemühungen unter Esra und Nehemia fallen. Hierzu passt die redaktionsgeschichtliche Mehrheitsmeinung, dass Jes 60–62 den ältesten Kern des letzten Großteils des Jesajabuches bilden. Die Schlagworte »Opfer« (60,7), »Mauern und Tore« (60,10f.18; 62,6), »mein heiliger Ort« ([=Tempel] 60,13; 62,9), »Priester« (61,6) weisen auf eine Zeit hin, in der der Jerusalemer Opferkult wieder in Gang gekommen ist und man erwartet, dass sich die Völkerwelt am Aufbauprojekt mit reichen Gaben beteiligen werde. Zugleich ist die Zukunftsvision des göttlichen Lichts über Zion/Jerusalem eng verbunden mit der Hoffnung auf eine gerechte Ordnung (60,17b.21; 61,1–3.8.10f.; 62,1f.). Um dieses Zentrum legen sich drei sukzessiv entstandene Rahmen, die mit der Ausweitung der Tempel-Bürgergemeinde auf Fremde und Völker (56,1–8; 66,18–24), mit der Trennung zwischen Gerechten und Frevlern (56,9–58,14; 65,1–66,17) und kollektiven Klagen über das bisherige Ausbleiben des göttlichen Heils (59; 63,1–64,11) zu tun haben. Die Inklusion von Gerechten aus den Völkern und die Exklusion von Frevlern aus dem eigenen Volk sind zwei Seiten einer Medaille! Nach Paul Hanson geht diese Spaltung im nachexilischen Israel zwischen Frommen und Frevlern auf prophetisch-eschatologische Gruppen zurück, die einen erbitterten Kampf gegen die priesterliche Tempelaristokratie führten und im Zuge dessen immer stärker an den Rand gedrängt wurden.46 Diese radikale Kontrastierung ist zu schematisch, denn die Trägerkreise im Jesajabuch lehnen Tempel, Opfer und Priesterschaft keineswegs grundsätzlich ab. So stellt Bruce Schramm die entscheidende Frage, wie denn eine tritojesajanische Redaktion so erfolgreich am Gesamtbuch Jesaja mitgearbeitet haben könne, wenn es sich dabei nur um eine marginalisierte Gruppe gehandelt hätte!47 Mit dem Ende der persischen Periode wird auch das Jesajabuch in seinen tragenden Teilkompositionen zum Abschluss gekommen sein, denn vom Aufkommen Alexanders des Großen sind keine eindeutigen Spuren zu entdecken.48 Diese Schlussphase der Genese des Jesajabuches liegt bereits nahe am Ende des 46 Hanson 1975, mit starker Beeinflussung durch Plöger 1959. 47 Schramm 1995, S. 81–111. 48 Anders Steck 1985, S. 69–71, der schon eine ptolemäische Beeinflussung annimmt.
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I. Einleitung
Traditionsprozesses der Prophetenbücher überhaupt.49 Da im Lob der Väter (Sir 48f.) neben Jesaja (48,23–25), Jeremia (49,7) und Ezechiel (49,8) auch das Dodekapropheton (49,1050) genannt wird, muss der Kanon der Schriftpropheten um die Mitte bzw. am Ende des 3. Jh. festgestanden haben. 4. Die Texttraditionen des Jesajabuches51 Der massoretische Text, auf den sich die Kommentierung in diesem Lehrbuch bezieht, stützt sich auf den Codex Leningradensis aus dem Jahre 1008/1009 n.Chr.52 Zudem liegt mit dem Aleppo-Codex aus dem Jahre 895 n.Chr. ein ebenfalls äußerst wichtiger hebräischer Textzeuge vor.53 Beide Texte stammen aus dem Hause des Gelehrtengeschlechts Ben Ascher aus Tiberias am See von Genezareth und unterscheiden sich vor allem in Bezug auf die Vokalisierung. Demgegenüber bieten die beiden Jesajarollen aus Qumran natürlich noch den unvokalisierten Text. Die erste Rolle (1QJesa) aus der Mitte des 2. Jh. v.Chr. hat den gesamten Jesajatext in ausgesprochen hoher Qualität bewahrt. Die zweite Rolle (1QJesb) vom Anfang des 1. Jh. v.Chr. ist dagegen fragmentarischer erhalten geblieben: Sie beginnt mit Jes 7,22, es fehlen aber u.a. Jes 9 und 11 und erst für die zweite Hälfte des Jesajabuches ist sie vollständiger. Obschon sie jünger ist als die erste Rolle, bietet sie einen archaisierenden hebräischen Text, hat schwierige Lesarten bewahrt und steht insgesamt dem massoretischen Text näher.54 Neben diesen beiden Jesajarollen aus der ersten Höhle sind besonders in der vierten (4Q) eine große Anzahl von Jesajafragmenten gefunden worden, die etwa von 100 v.Chr. bis 50 n.Chr. datieren.55 Sie bestätigen das Bild einer reichen Überlieferung, die am Beginn der Zeitenwende noch keinen einheitlichen hebräischen Text des Jesajabuches kannte. Der Konsonantenbestand des späteren mittelalterlichen massoretischen Textes ist in der Gruppe der proto-massoretischen Qumrantexte am stärksten vertreten (so auch 1QJesb). Eine viel kleinere Gruppe bietet eine zum Teil abweichende Orthographie und Morphologie, die anscheinend im Schreibermilieu von Qumran gepflegt wurden (dazu gehört 1 QJesa). Die Jesajafragmente aus 4Q nehmen hier eine Zwischenstellung ein. Es handelt sich aber bei keinem 49 Steck 1991, S. 119. 50 »Ferner die Zwölf Propheten: Ihre Gebeine mögen von ihrer Stätte emporsprossen. Sie brachten Heilung für Jakobs Volk und halfen ihm durch zuverlässige Hoffnung«. 51 Dazu immer noch sehr wertvoll van der Kooij 1981. 52 Die Bezeichnung »Leningradkodex« hat sich eingebürgert, obschon die Stadt wieder St. Petersburg heißt. Von diesem Kodex ist eine neue wissenschaftliche Ausgabe in Arbeit (Biblia Hebraica Quinta). Der Jesaja-Text wird von A. van der Kooij bearbeitet und herausgegeben. 53 Vgl. die Ausgabe von Goshen-Gottstein (Hg.) 1976 im Rahmen der Hebrew University Bible. Sie bietet einen besseren wissenschaftlichen Apparat als die Biblia Hebraica Stuttgartensia. 54 Siehe Parry / Qimron (Hg.) 1999; Ulrich / Flint (Hg.) 2010. 55 Ulrich (Hg.) 2013; siehe Metzenthin 2010.
4. Die Texttraditionen des Jesajabuches
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dieser Textzeugen um eine separate, eigenständige Rezension, denn dazu ist der überlieferte Textbestand – trotz aller Differenzen – viel zu einheitlich. Von den alten Versionen des Jesajabuches ist die der Septuaginta (LXX)56, der griechischen Übersetzung, von besonderer Bedeutung, nicht zuletzt wegen ihrer Rezeption im Neuen Testament. Die hebräische Vorlage der JesLXX wird nicht wesentlich anders gelautet haben als jene des JesMT. Doch die griechische Übersetzung hatte nicht nur das Ziel, gutes Koine-Griechisch zu schreiben und unklare Passagen zu verdeutlichen (was nicht immer gelang, denn manchmal verschlimmbesserte sie den Text), sondern verfolgte auch ein aktualisierendes Interesse, was geschichtliche Umstände, Rechtsbräuche und theologische Ansichten angeht.57 Diese Freiheit der Übersetzung kann Worte, Satzteile und auch ganze Sätze betreffen, was bei manchen Passagen auf ein ganz neues Textverständnis hinausläuft, wie es danach in den Targumim der Fall sein wird. Anders als im hebräischen Text, wo dem Gottesknecht ein Grab bei den frevlerischen Reichen zugeteilt wird, verspricht Jhwh in der LXX-Version, die Bösen anstelle des Gerechten dem Tod preiszugeben: »Und ich werde die Bösen anstelle seines Grabes und die Reichen anstelle seines Todes geben« (53,9aLXX). Der griechische Übersetzer präsentiert Gott nicht als gewalttätig gegenüber seinem Knecht, wie dies im hebräischen Text der Fall ist: »Jhwh aber hatte es gefallen, ihn zu zermalmen, ließ erkranken« (53,10aMT). Die LXX stellt ihn vielmehr in positivem Licht dar: »Aber der Herr will ihn reinigen von dem Unglücksschlag« (53,10aLXX). In textkritischer Hinsicht kommt JesLXX besonders dann ein großes Gewicht zu, wenn die griechische Lesart mit Bezeugungen aus Qumran gegen JesMT übereinstimmt.58 Der Targum Jonathan stellt die aramäische Wiedergabe der Prophetenbücher dar (gegenüber Targum Onkelos für den Pentateuch). Targumim wurden im Synagogengottesdienst gebraucht, um den vorgetragenen hebräischen Bibeltext dem gewöhnlichen Volk verständlich zu machen. Der Targum Jonathan ist in Palästina entstanden, wurde aber während des vierten oder fünften Jahrhunderts n.Chr. in Babylon einer stark vereinheitlichenden Redaktion unterzogen. Die Datierung des Targums bleibt sehr schwierig. Man kann das Material zwar bis zu einem gewissen Grad der tannaitischen oder amoräischen Periode (vor bzw. nach dem Abschluss der Mischna ca. 200 n.Chr.) zurechnen – was die erste Periode betrifft, sogar einer Zeit vor oder nach dem Bar Kochba Aufstand (135 n.Chr.) – doch lassen sich keine literarhistorischen Schichten abheben. Der Targum stellt eher ein jahrhundertelang gepflegtes jüdisches Ethos dar, als dass es das Schriftprodukt einer historischen Epoche wäre.59 Er vergegenwärtigt die Wirkungsgeschichte Jesajas im frührabbinischen Judentum nach der Verwüstung Jerusalems 56 Ziegler (Hg.) 1983; Kraus / Karrer (Hg.) 2009 und die beiden Ergänzungsbände von 2011; Seeligmann 2004. 57 Siehe u.a. Troxel 2008; van der Kooij / van der Meer (Hg.) 2010. 58 Unverzichtbar ist in diesen Fragen Barthélemy 1986. 59 Chilton (Hg.) 1987; den aramäischen Text und eine englische Übersetzung bietet auch Stenning (Hg.) 1949.
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I. Einleitung
im Jahre 70 n.Chr. Jesajanische Themen wie Gericht und Heil, Tempelkult und der Gesalbte werden auf ganz eigene Weise interpretiert, um die erlebte und erlittene Geschichte im Lichte des weiterhin gültigen Gotteswortes zu deuten. So stellt z.B. Jes 53Tg eine explizite Identifikation des Knechts mit dem »Messias« her, dem fast alle Leidensaspekte fehlen, auf dem dafür aber die Hoffnung ruht, er werde Israel aus der Unterdrückung der Völker erretten und für die Wiedererrichtung des zerstörten Heiligtums sorgen. Die syrische Übersetzung, die Peschitta, stammt aus der frühchristlichen syrischen Kirche und wird um rund 300 n.Chr. datiert. Ihre Bedeutung liegt in der Tatsache, dass sie auf einer proto-massoretischen Textform basiert, allerlei Beziehungen zum Targum aufweist und zum Teil rabbinische Erklärungen verarbeitet. Besonders dort, wo sie zusammen mit einer oder mehreren der alten Übersetzungen vom MT abweicht, ist sie textkritisch beachtenswert. In der lateinischen Übersetzung, der Vulgata (zwischen 391 und 405 in Bethlehem verfasst), folgt Hieronymus grundsätzlich dem MT gegen LXX, weicht aber auch in vielen Fällen davon ab. Das hat mehrere Gründe: die teilweise größere Deutlichkeit der LXX, rabbinische Erklärungen, christliche Interpretationen und alte Handschriften, zu denen er Zugang hatte. Man konsultiert diese Übersetzung des Buches Jesaja (392–393) am besten zusammen mit dem Jesaja-Kommentar des Hieronymus, den er im Jahre 410 vollendete.60 Schlussendlich hat Origenes in seiner Hexapla (ca. 245 n.Chr.) Fragmente aus drei griechischen Übersetzungen aus dem dritten Jahrhundert n.Chr. bewahrt, die für die Textanalyse des Jesajabuches von Bedeutung sind.61 Sie stammen von Theodotion (ca. 100 n.Chr. aus der Schule Hillels), Aquila (ca. 125 n.Chr. aus der Schule Aqibas) und Symmachus (ca. 200 n.Chr. aus der Schule von Jehuda haNasi). Alle drei Übersetzer gehörten also dem Milieu jüdischer Gelehrter an, wobei bei Symmachus auch ein jüdisch-christlicher Einfluss (Ebioniten) spürbar ist. Sie stellten sich auf unterschiedliche Weise die Aufgabe, JesLXX besser an JesMT anzupassen. So versucht Theodotion, der hebräischen Wortfolge möglichst nahe zu kommen, Aquila arbeitet stark ideolektisch (konkordanter Wortschatz), während Symmachus darauf aus ist, die Treue gegenüber dem MT mit gutem KoineGriechisch zu kombinieren. 5. Aktuelle entstehungsgeschichtliche Modelle Die Hypothesen, welche die Entstehung des Gesamtbuches zu fassen suchen, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe vertritt ein Kontinuitätsmodell: Demzufolge habe Deuterojesaja bewusst auf Protojesaja aufgebaut, den ersten Teil redigiert und als Einleitung seinen eigenen Kapiteln vorangestellt. Dies 60 Gryson u.a. (Hg.) 1993; 1994; 1996; 1998; 1999. 61 Siehe auch Fürst / Hengstermann 2009.
5. Aktuelle entstehungsgeschichtliche Modelle
27
könne man u.a. daran erkennen, wie stark Jes 6 auf 40,1–8 eingewirkt habe. Aus den engen Querbezügen müsse man folgern, dass Deuterojesaja sein eigenes Werk als kongeniale Fortsetzung der jesajanischen Verkündigung angesehen habe bzw. dass er dessen Jerusalemer Worttradition seiner eigenen Predigt vom Ende des babylonischen Exils als Prolegomenon voranstellte.62 Diesen Ansatz von Hugh Williamson führt sein Schüler Jacob Stromberg noch einen Schritt weiter: Tritojesaja habe diese Art der Rezeption und Redaktion von Deuterojesaja fortgesetzt und könne somit als Leser und Redaktor des ganzen Jesajabuches gelten.63 Dies sucht er an Passagen wie 1,27–31; 6,13; 4,2–6; 11,10; 36–39; 48,22; 54,17b nachzuweisen. Da ergänzende Fortschreibungen in der Antike nicht in eine bestehende Schriftrolle eingetragen wurden, habe Tritojesaja seine eigenen Kapitel zusammen mit den Überarbeitungen von Kap. 1–55 bei einer notwendig gewordenen Neuanfertigung der Jesajarolle angefügt.64 Die zweite Gruppe von Forschern favorisiert ein Kombinationsmodell: Danach wäre das Buch durch die redaktionelle Zusammenfügung ehemals relativ unabhängiger Großteile entstanden. Zu den Hauptvertretern dieser Richtung gehören Odil Hannes Steck und Jacques Vermeylen. Letzterer geht von einer protojesajanischen Sammlung aus, die um das Jahr 480 eine vergleichbare Struktur aufwies wie das Ezechiel- und das Jeremiabuch (in der LXX-Fassung): Prophetische Orakel gegen Juda und Jerusalem (Kap. 1–12), Gerichtsworte gegen die Völker (Kap. 13–27) und Verheißungen für das Gottesvolk (Kap. 28–35). Die Kapitel 36–39 seien ein historisches Supplement (vgl. 2 Kön 18–20), das die Sammlung beschlossen habe.65 Für Jes 40–55 geht Vermeylen von einer relativen Geschlossenheit dieser exilisch-nachexilischen Komposition aus, die nach 480 mit der protojesajanischen Sammlung verbunden worden sei. Für den letzten Teil des Jesajabuches verzichtet er auf das Postulat eines Einzelpropheten »Tritojesaja«, sondern geht für diese Kapitel gänzlich von schriftgelehrter Prophetie aus. Der Kern der Aussage von Kap. 60–62 beziehe sich nicht auf den Tempelwiederaufbau, sondern auf die Errichtung der Jerusalemer Stadtmauern (60,10; 62,6), was gut in die Zeit Nehemias passe. Die Bezüge zielten nicht nur auf 40ff. ab, sondern beträfen schon die vorderen Kapitel. So wäre 56,9–62,12 Schritt für Schritt mit Blick auf 1,2–2,5 verfasst worden. Eine großjesajanische Redaktion sei nach der Zeit Nehemias für die jetzt vorliegende Endgestalt des gesamten Buches verantwortlich. In vielzähligen Detailstudien kommt Steck zu analogen Ergebnissen. Auch er hält die tritojesajanischen Kapitel für reine Fortschreibungsprophetie, was bei Kap. 60–62 mit den Rückverweisen auf Jes 40ff. besonders deutlich zu Tage trete. Den Zusammenschluss mit der protojesajanischen Sammlung setzt Steck aber deutlich später als Vermeylen an. Dieser sei erst im Zuge einer sogenannten »Heimkehr-Redaktion« erfolgt (vgl. 11,11–16; 27,[12].13; 62,10–12), in einer frühen Phase der 62 63 64 65
Williamson 1994, S. 113. Stromberg 2011. Stromberg 2011, S. 144. Vermeylen 1989, S. 28–34.
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I. Einleitung
Diadochenkämpfe nach dem Tod Alexanders des Großen (323). Als Brückentext zwischen den beiden Großteilen sei Jes 35 eigens für die Gesamtrolle verfasst worden.66 In der Zeit der Konsolidierung unter den Ptolemäern (ca. 270) seien noch kleinere Ergänzungen eingefügt worden, die jedoch nicht mehr strukturbildend gewirkt hätten (vgl. 19,18–25; 25,6–8). Die diachrone Gesamthypothese von Ulrich Berges67 zielt in die gleiche Richtung, doch versteht er bereits Jes 33 als ersten Brückentext. Dabei kann er auf die Untersuchung von Willem Beuken zurückgreifen, der dieses Kapitel als »Spiegeltext« bezeichnet, in dem sich das ganze Buch wie in einem Prisma spiegelt. Einschränkend ist zu sagen, dass die Verweise zu den nachfolgenden Kapiteln deutlich geringer ausfallen als die zu den vorangegangenen.68 Für Steck ist Jes 35 der Text schlechthin, der die Brücke zwischen den beiden Großteilen des Buches schlägt.69 Das Kapitel erfülle zweierlei Aufgaben: Zum einen stelle es mit der hellen Zukunft für Zion ein Gegenbild zur dunklen Vernichtungsszene gegen Edom in Jes 34 dar, zum anderen verweise es deutlich auf die Heilsverkündigung ab Jes 40ff. Die Brückentexte in Jes 33 und 35 sind kompositionstechnisch aber nur dann sinnvoll, wenn die Hiskija-Sanherib-Erzählungen in Jes 36–39 – wie auch immer ihr Verhältnis zu 2 Kön 18–20 zu bestimmen ist – noch nicht in die Mitte der Jesajarolle eingestellt worden waren. Wäre es anders gewesen, hätte man die Brückentexte doch eher hinter Jes 36–39 platziert! Das Interesse an Jes 36–39 für die Gesamtanlage des Jesajabuches geht besonders auf Peter Ackroyd zurück. Demnach weist die Erzählung der babylonischen Delegation am Ende der Berichte über Krankheit und Heilung von König Hiskija auf die Exilsgeschehnisse voraus, die den Hintergrund von 40ff. bilden.70 Die Auslassung der Notiz über die Tributzahlung, durch die der König sich, seine Familie und ganz Jerusalem vor den Truppen Sanheribs rettete (2 Kön 18,14–16), und die Einfügung des Hiskija-Psalms (Jes 38,9–20) werden auf das Konto derer gehen, die diese Kapitel in die Mitte der Jesajarolle einstellten. Offenbar wollte man alle Traditionen, die Jesaja betrafen, in einer Rolle zusammenfassen. Dies war der letzte Schritt, durch den Jesaja zum Mahner, Heiler und Visionär wurde, dem nichts mehr am Herzen lag als das Heil und die Rettung der Frommen auf dem Zion. 6. Aktuelle Modelle der Endtextlesung Die ersten Versuche einer Gesamtbetrachtung kamen aus der englischsprachigen Exegese. So setzte William Brownlee in Weiterführung der Arbeit von Leon Liebreich bei der Beobachtung an, dass es in der großen Jesajarolle von Qumran 66 67 68 69 70
Siehe die Zusammenfassung bei Steck 1985, S. 80. Berges 1998, S. 247 und das Schaubild S. 551. Beuken 1991, S. 28. Steck 1985, S. 39–41. Ackroyd 1987, S. 338.
6. Aktuelle Modelle der Endtextlesung
29
(1QJesa) eine deutliche Zäsur zwischen Jes 33 und 34 gibt. Die Plene-Schreibung nimmt ab Kapitel 34 zu, wobei der Schreiber identisch geblieben ist, was sich aus dem homogen bleibenden Schriftbild ergibt.71 Daraus zieht Brownlee die Schlussfolgerung einer zweiteiligen Komposition der Kapitel 1–33 und 34–66, die aus jeweils sieben Sektionen bestehe. Das Generalthema sei die Dialektik zwischen »ruin and future blessedness«72, die schon im Kontrast von 1,24–25 und 1,26–27 präfiguriert sei. Dagegen bleibt kritisch anzumerken, dass wichtige Themen des Buches hier noch nicht angesprochen sind, wie z.B. die Fremdgötterpolemik der Kapitel 40–48. Auch sieht Brownlee selbst, dass der »Knecht« in der zweiten Hälfte kein Pendant in der ersten habe.73 Eine zweiteilige Gesamtstruktur nimmt auch Marvin Sweeney in seinem Kommentar zu Jes 1–39 an. Danach kündige die erste Hälfte das Gericht und die nachfolgende Restauration an, während die zweite betone, das Gericht sei beendet und der Wiederaufbau könne beginnen.74 Trotz aller Divergenzen in Bezug auf die entstehungsgeschichtlichen Stufen besteht Einigkeit darüber, dass das Großjesajabuch nicht einfach die Summe disparater Einzelteile ist, sondern eine dynamische Komposition darstellt. Dabei ist mit Jes 39 ein deutlicher Einschnitt gegeben, denn danach tritt der Prophet als Akteur nicht mehr in Erscheinung. Doch greift ein einfaches Blocksystem in der Form von Kap. 1–39//40–66 (oder alternativ Kap. 1–33//34–66) zu kurz. Beide Hälften umfassen allzu unterschiedliches Material, als dass sie jeweils als eine Auslegungseinheit gelten könnten. Beide Hälften bestehen aus Teilkompositionen, die zusammengenommen ein literarisches Drama bilden.75 Dieses lässt sich in Akte und Szenen einteilen, was keinem modernen Rezeptionsempfinden geschuldet ist, sondern durch Textsignale gestützt wird. So fällt etwa die Abschlussfunktion von Jes 12 für die ersten zwölf Kapitel ins Auge.76 Dieser hymnische Text beschließt die erste Teilkomposition, in der viele zentrale Themen des Jesajabuches bereits anklingen. Die Verfasser des vorliegenden Studienbuches vertreten die Ansicht, dass die unterschiedlichen Teilkompositionen einerseits aufeinander aufbauen, andererseits aber eigene Entwicklungen durchlaufen haben. Für großflächige endredaktionelle Bearbeitungen, die den gesamten Textbestand vereinheitlicht hätten, gibt es keine Anzeichen, wohl aber für punktuelle Verknüpfungen über die Grenzen der einzelnen Teilkompositionen hinweg (so u.a. 1,31 und 66,24). Für die nachfolgende Auslegung bedeutet dies, dass die jeweiligen Akte zuerst für sich als selbstständige Einheiten analysiert werden. Darüber hinaus werden die intratextuellen Verbindungen ins Jesajabuch und die intertextuellen Bezüge zu anderen alttestamentlichen Schriften mitbedacht. Eine Aufarbeitung und Gewichtung aller schriftgelehrten Bezüge des Jesajabuches steht noch aus 71 72 73 74 75 76
Brownlee 1952; 1964, S. 247. Brownlee 1964, S. 255. Brownlee 1964, S. 249. Sweeney 1996, S. 41. Matheus 1990. Dazu auch van Wieringen 1998.
30
I. Einleitung
und könnte nur durch mehrere Monographien geleistet werden. Das Problem besteht nicht etwa in einer zu geringen Zahl an Querverbindungen, sondern an ihrer unübersichtlichen Fülle. Dies bringt Gerald T. Sheppard so auf den Punkt: »Our problem is no longer that there are so few obvious connections between parts of the book, but there are so many and they seem so independent and disparately related«.77 Insofern im Folgenden von »Akten« und »Szenen« die Rede ist, will diese Begrifflichkeit das voranschreitende Geschehen andeuten, das dem Jesajabuch zu eigen ist. Es geht also nicht um ein Theaterdrama, das in Jerusalem im fünften oder vierten Jahrhundert zur Aufführung gekommen wäre.78 Für eine solche Praxis fehlt im Antiken Israel jeder Beleg. Es geht im Jesajabuch um ein literarisches Drama. Wer die Schrift zur Gänze liest bzw. hört, der wird Zeuge eines dramatischen Geschehens, in welchem Zion/Jerusalem vom Ort des Gerichts zum Ort des Heils für alle Gerechten in Israel und aus den Völkern wird. Dies ist die »story«, der »plot«, den der Handlungsablauf in Szene setzt und der sich nicht auf einer Bühne, sondern in der Vorstellung, der Imagination der Leser und Hörer ereignet. Was Helmut Utzschneider für das Michabuch aufgezeigt hat, gilt auch für das Jesajabuch: »In Anlehnung an die Theatersprache bezeichnen wir solche durch einen Plot bedingte Großeinheiten als Akte, wenn und insofern sie erkennbar Teile eines noch größeren Ganzen, eben des dramatischen Textes eines bestimmten Prophetenbuches oder eines Teiles desselben sind«.79 Für das Jesajabuch gehen die Verfasser dieses Lehrbuches von sieben Teilen, d.h. Teilkompositionen aus, die sich ihrerseits in »Akte« und »Szenen« einteilen lassen.80 Dem Ansatz einer »diachron reflektierten Synchronie« folgend und gemäß den obigen Ausführungen zu einigen Modellen der Entstehungsgeschichte ist es selbstredend, dass die Einteilung in Akte und Szenen keine einheitliche Genese unterstellt. Die Einschätzung von Helmut Utzschneider trifft erneut auch für das Jesajabuch zu: »Wir wollen durch unsere am Endtext orientierte Auslegung auch nicht unterstellen, dass das Michabuch keine literarische Vorgeschichte gehabt hat […] Gewiss hat es – wie in allen anderen prophetischen Büchern des AT – auch hier Fortschreibungen und Redaktionen gegeben. Wir aber sind der Meinung, dass sich die Autoren und Redaktoren, die mutmaßlich zu verschiedenen Zeiten zur Entstehung des vorliegenden Michabuches beigetragen haben, des dramatischen Charakters und Stils ihrer jeweiligen Textvorlage (also der literarischen Vorstufen des Michabuches) stets bewusst waren und diese unter der gleichen Stilvorgabe fortgeschrieben haben.«81 77 Sheppard 1992, S. 575. 78 Anders Baltzer 1999. 79 Utzschneider 2005, S. 13. 80 Utzschneider 2005, S. 13. Die Szenen lassen sich wiederum in Auftritte ordnen, »die Redesituationen, die im Text durch jeweils bestimmte dramatis personae als Sprecher bzw. Angesprochene gebildet werden« (Utzschneider 2005, S. 12). 81 Utzschneider 2005, S. 15f.
6. Aktuelle Modelle der Endtextlesung
31
Für das Jesajabuch wird nun die folgende Einteilung vorgeschlagen. Die Einzelauslegungen werden sich an diesem Aufbau orientieren und ihn weiter erläutern. I. Teil 1–12
Zion zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Überschrift 1,1
Vision und Königszeit
I. Akt 1–4 Zweifache Ouvertüre: Aussicht auf Zions Verwandlung I. Szene 1,2–2,5 Vom Gericht über Israels Bluttaten zu Jhwhs Tora für die Völker II. Szene 2,6–4,6 Vom Gericht gegen jeden Hochmut zu Jhwhs Schutz auf Zion II. Akt 5,1–10,4
Die Immanuelschrift in einem mehrfachen Rahmen
Prolog mit Anh. 5 Der Weinberg des Freundes / Wehe und Zorn gegen die Gottlosen I. Szene 6 Jesaja berufen von Jhwh als König und Israels Verstockung II. Szene 7
Das nicht erbetene Zeichen: »Gott mit uns«
III. Szene 8,1–18
Die Weisung versiegelt unter Jesajas Jüngern
Epilog mit Anh. 8,19–10,4 Geburt des gerechten Davidssohnes / Zorn gegen Efraim und Wehe den Frevlern III. Akt 10,5–11,16
Doppelbild konträrer Herrscherprofile
I. Szene 10,5–34
Wehe dem Hochmut Assurs
II. Szene 11,1–16
Jhwhs Geist für das Reis Isais
Loblied 12
Loblied der in Hoffnung Erlösten
II. Teil 13–27 Untergang aller Tyranneien gegenüber Jhwh, dem König auf Zion I. Akt 13–23
Zehn Völkersprüche: das Gericht über irdische Mächte
I. Szene 13–19
Erste Reihe Völkersprüche
32
I. Einleitung
II. Szene 20,1–6
Prophetische Zeichenhandlung
III. Szene 21–23
Zweite Reihe Völkersprüche
II. Akt 24–27 Jhwhs Gerechtigkeit schafft Ordnung im Chaos der Völker I. Szene 24–25
Weltgericht und Jhwhs Königsherrschaft auf Zion
II. Szene 26 Das Lied vom Vertrauen der gerechten Nation in Jhwhs Stadt III. Szene 27 Die Sammlung der Vertriebenen zur Anbetung Jhwhs auf dem heiligen Berg
III. Teil 28–35 Die Durchsetzung der Königsherrschaft Jhwhs auf Zion I. Akt 28–33
Sechs Weherufe gegen die Übeltäter in Zion
I. Szene 28 Wehe den Betrunkenen Efraims und den Herrschern Jerusalems II. Szene 29,1–14
Wehe Ariel, Ortschaft, wo David lagerte
III. Szene 29,15–24
Wehe denen, die einen Plan vor Jhwh verbergen
IV. Szene 30
Wehe den widerspenstigen Kindern
V. Szene 31
Wehe denen, die Hilfe suchend nach Ägypten ziehen
VI. Szene 32 Zwei Anhänge: Verheißung von gerechten Verwaltern und Aufruf zur Trauer VII. Szene 33 Wehe den Gottlosen / Jhwh schafft Gerechtigkeit in Zion II. Akt 34–35 Diptychon: Gericht über Edom und Heil für die Heimkehrenden I. Szene 34 Die Verödung Edoms als Anfang des Gerichts über die Völker II. Szene 35
Die blühende Wüste und der Weg zurück zum Zion
6. Aktuelle Modelle der Endtextlesung
33
IV. Teil 36–39 Drei Erzählungen von der Errettung der Gottesstadt und des Davidssohnes I. Szene 36–37
Wem gebührt die Herrschaft über Zion?
II. Szene 38
Hiskijas Krankheit und Genesung
III. Szene 39
Hiskijas Vertrauen erprobt
V. Teil 40–48
Aus Babel zurück in die Heimat
I. Akt 40
Zion-Jakob-Ouvertüre
I. Szene 40,1–11
Zion/Jerusalem-Ouvertüre
II. Szene 40,12–31
Jakob/Israel-Ouvertüre
II. Akt 41,1–42,12 Ohnmacht der Götter und Jhwhs Zusage für Jakob/ Israel I. Szene 41,1–20
Rechtsstreit um die Geschichtsmächtigkeit
II. Szene 41,21–42,12 Gerichtsrede und Präsentation des Knechts III. Akt 42,13–44,23
Jhwh und sein blinder und tauber Knecht
I. Szene 42,13–43,13 Jhwhs Überzeugungsarbeit am Knecht II. Szene 43,14–44,8 Tilgung von Schuld und Verheißung von Segen III. Szene 44,9–23
Kultbildpolemik
IV. Akt 44,24–48,22 Jhwhs Sieg durch Kyrus und der Fall Babels und der Götter I. Szene 44,24–45,25 Jhwh, Kyrus und die Perser II. Szene 46
Niederlage der Götter Babels
III. Szene 47
Das Ende Babels und ihrer Beschwörungen
IV. Szene 48
Rückblick auf das Exil und Aufruf zum Auszug
VI. Teil 49–54
Der Knecht und Mutter Zion
I. Akt 49,1–26
Selbstvorstellung des Knechts und Zions Zweifel
34
I. Einleitung
I. Szene 49,1–13
Präsentation des Knechts
II. Szene 49,14–26
Argumentation gegen Zions Zweifel
II. Akt 50,1–51,8
Überzeugungsarbeit an Zions Kindern
I. Szene 50,1–11
Der Knecht und die Jhwh Fürchtenden
II. Szene 51,1–8
Aufruf an die Jhwh Suchenden
III. Akt 51,9–52,12 Jhwhs Rückkehr zu Zion und die Heimkehr der Zerstreuten I. Szene 51,9–16
Gebetsruf an Jhwh und seine Antwort
II. Szene 51,17–23
Die Heilswende bricht an
III. Szene 52,1–12
Vorbereitungen und Rückkehr Jhwhs
IV. Akt 52,13–54,17
Leiden und Erhöhung von Knecht und Zion
I. Szene 52,13–53,12 Leiden und Erhöhung des Knechts II. Szene 54,1–17
Leiden und Erhöhung Zions
VII. Teil 55–66
Die Knechte Jhwhs und ihre Gegner auf dem Zion
I. Akt 55,1–56,8
Umfang der Gemeinde und Zulassung
I. Szene 55,1– 13
Weltweite Einladung
II. Szene 56,1–8
Zulassungsbedingungen
II. Akt 56,9–57,21
Prophetische Anklagen und Heilsworte
I. Szene 56,9–57,13
Prophetische Anklage
II. Szene 57,14–21
Prophetisches Heilswort
III. Akt 58–59
Gründe der Heilsverzögerung
I. Szene 58
Klärungen der Sabbat- und Fastenfrage
II. Szene 59
Abweisung der Klage, Jhwh könne nicht retten
IV. Akt 60–62
Jerusalems und Zions zukünftige Herrlichkeit
I. Szene 60
Lichtvision über Zion
7. Theologie im Buch Jesaja
II. Szene 61
Die Geistsalbung der Zionsgemeinde
III. Szene 62
Die Wächter und Erinnerer Jhwhs
V. Akt 63,1–64,11
Rückblick auf die Geschichte und Bittgebet
I. Szene 63,1–14
Jhwhs geschichtliche Rettung in der Zeit des Mose
35
II. Szene 63,15–64,11 Bittgebet der Knechte VI. Akt 65–66
Jhwhs Antwort und Spaltung der Gemeinde
I. Szene 65
Heil den Knechten und Untergang den Gegnern
II. Szene 66
Das neue Jerusalem – Zion als Mutter der Knechte
7. Theologie im Buch Jesaja Der Begriff »Theologie«, wie wir ihn im Folgenden verstehen, umfasst sowohl das Sprechen über Gott als auch das Sprechen Gottes. In Bezug auf Ersteres hat das Buch Jesaja vielfältigen Anteil daran, wie das Biblische Israel im Laufe der Jahrhunderte seine Art der Rede über Gott entwickelt hat. Dabei waren das Gottesvolk in den unterschiedlichen Geschichtsetappen und seine Sprachbilder von Jhwh stets in Bewegung. Auch der historische Jesaja, seine Schüler- und Tradentenkreise sowie die Endredaktoren des Gesamtbuches haben ihre oft kritische Haltung gegenüber der Art und Weise, wie Israel sein Gottesverhältnis lebt, immer wieder zum Ausdruck gebracht. Das Jesajabuch legt von dieser intensiven Auseinandersetzung ein beredtes Zeugnis ab. Der Prophet übermittelt auch Gottesrede. Er spricht über Gott und Volk, über Gegenwart und Zukunft, wobei seine Aussagen ihre Geltungen nicht aufgrund gesellschaftlich akzeptierter Normen beanspruchen, sondern ob der Tatsache, dass Gott ihn mit einer speziellen Botschaft zu Israel sandte (Jes 6; vgl. 40,1–11; 49,1–6; 61). Die Botenformel »so spricht Jhwh« legitimiert diesen besonderen Anspruch des prophetischen Wortes. Aber gerade weil Gott und Prophet eine große Nähe bezüglich der Wortverkündigung aufweisen, ist die Grenze zwischen mitgeteiltem Gotteswort und auslegendem Prophetenwort oftmals so fließend. Übrigens wird in der späteren Auffassung des Kanons das corpus propheticum, ja die ganze Schrift als Wort Gottes angesehen. Von daher eignet sich die Unterscheidung zwischen Gottes- und Prophetenwort nicht als Kriterium einer Theologie des Jesajabuches. Im Gegenteil, die theologische Reflexion hat diese Spannung anzuerkennen und auszuhalten. Das Wort Gottes ist eben keine bloße Idee, sondern ein Geschehen von weltweiter Tragweite, wie es 1,2a prägnant zum Ausdruck bringt: »Hört, ihr Himmel! Horch auf, Erde! Denn Jhwh spricht«.
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7.1 Die buchübergreifenden Gottesnamen Die lange Entstehungsgeschichte dieses prophetischen Buches bringt es mit sich, dass sich die theologischen Kernelemente über die einzelnen Teilbereiche hin erstrecken, aber in jeweils unterschiedlichen Konstellationen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn die Hauptaktanten im literarischen Drama (Jhwh, der Prophet, sein Wort, Israel, Zion und die Völker) bleiben trotz ihres wechselnden Auftretens – Resultat der unterschiedlichen entstehungsgeschichtlichen Kontexte – identisch. Im Verlauf dieser großen prophetischen Schrift gewinnt sowohl das Sprechen über Gott als auch das Sprechen Gottes an Farbe und Kontur. Bevor der Eigenname Jhwh untersucht wird, ist zunächst der Gebrauch des Appellativums »Gott« im Jesajabuch zu klären. Der Begriff la »Gott« dient dem Bekenntnis zu Jhwh. In Jes 1–39 ist er durchgehend als Attribut eingesetzt, um Gottes Besonderheit (5,16: »heilig«; 7,14; 8,10: »mit uns Gott«; 9,5; 10,21: »Held«; 12,2; 43,11: »Rettung/Retter«) oder Einzigkeit (14,13; 31,3) auszudrücken. In Kap. 40–54 unterstreicht la die monotheistische Auffassung über Jhwh als göttlichen Schöpfer (40,18; 42,5; 43,10–12; 44,6–8.15–17; 45,14f.20–22; 46,9). In Kap. 55–66 besitzt der Begriff keine besondere Pragmatik mehr (mögliche Ausnahme 64,3). Der Intensitätsplural mit der Singularkonstruktion desselben Wortes, µyhla, entwickelt sich in der Verbindung »der Gott Israels« vom Appellativum (37,16; vgl. 13,19; 58,2) zum Attribut des Eigennamens hwhy »Jhwh« (37,16; vgl. 17,6; 21,10.17; 24,15; 29,23; 37,21; 41,17; 45,3; 48,1.2; 52,12). Im sogenannten tritojesajanischen Textbestand kommt die Bezeichnung »Gott Israels« gar nicht mehr vor. Der Gebrauch des Tetragramms hwhy »Jhwh« und anderer Gottesbezeichnungen ist über das gesamte Jesajabuch nicht gleichbleibend. Dieses Phänomen ist aber noch nicht wirklich erfasst und monographisch aufgearbeitet worden.82 Dass diese Epitheta eine programmatische Funktion besitzen können, ist aus 1,24 ersichtlich: »Spruch des Herrn, Jhwh Zebaot, des Starken Israels«. Die Kombination von ˜wdah »der Herr« und twabx hwhy »Jhwh Zebaot«/»Jhwh der Heerscharen« begegnet nur in Kap. 1–39, und immer in Gerichtsankündigungen über Juda und Jerusalem (1,24; 3,1; 10,16.33; 19,4). Dagegen wird der Gottestitel ryba »der Starke« Israels bzw. Jakobs in Heilsankündigungen oder Danksagungen gebraucht (49,26; 60,16; Gen 49,24; Ps 132,2.5; Sir 51,12). So passt dieser Vers bestens zur Einleitung des Buches Jesaja, und zwar in eine Gottesrede, welche die Restauration Zions mit dem Gericht über die Stadt verbindet (Jes 1,24–26). Der Eigenname Gottes »Jhwh« kommt im gesamten Buch Jesaja ca. 450mal vor. Eine Aufarbeitung der Verwendung des Eigennamens kann in dieser Einleitung nicht geboten werden. Die Erweiterung des Namens hwhy »Jhwh« zum Epitheton twabx hwhy »Jhwh Zebaot« ist in den Buchteilen unterschiedlich stark vertreten (in Protojesaja 57 von 241 Mal; in Deuterojesaja 6 von 126 Mal; Tritojesaja 0 von 83 Mal). Diese Daten und andere Faktoren lassen vermuten, dass der 82 Rösel 2000.
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Titel »Jhwh Zebaot« aus dem Jerusalemer Kult stammt (6,3.5; 8,13.18) und bereits vom Propheten Jesaja in seiner Verkündigung (2,12; 3,1; 5,7.9.16.24; vgl. 22,5.12.14), sowie von der ersten Redaktion seiner Orakel gebraucht wurde (21 Mal in Kap. 1–12). Der Titel bringt zum Ausdruck, dass Jhwh die Geschichte Jerusalems und Judas in aller Machtfülle leitet. In den Völkersprüchen (Kap. 13–23) und der sogenannten Apokalypse (Kap. 24–27) steht er für die göttliche Befehlsgewalt über die ganze Erde (27 Belege in 13,4 bis 24,23 sowie 25,6). In den explizit monotheistischen Aussagen der Kap. 40–54 verbindet dieses Epitheton Jhwhs Autorität über die Geschichte Israels mit seiner Herrschaft über den ganzen Kosmos (44,6; 45,12–13; 47,4; 48,2; 51,15; 54,5). In Kap. 55–66 fehlt der Titel völlig. Möglicherweise hat dies damit zu tun, dass »Jhwh Zebaot« die beiden Traditionslinien der Zions- und der Königsideologie voraussetzt. Gerade letztere ist aber in der nachexilischen Prophetie deutlich schwächer ausgeprägt.83 In der LXX bezeichnen die griechischen Übersetzungen von twabx hwhy als παντοκράτωρ oder κύριος τῶν δυνάμεων Jhwhs unbegrenzte und unangreifbare Macht über den Kosmos. Der Bericht über Jesajas Vision und Sendung bietet neben dem Titel »Jhwh Zebaot« (6,3.5) auch den Begriff ynda »Herr«, und zwar fast als Eigennamen (6,1.8.11). Im ersten Buchteil steht ynda »Herr« überwiegend allein, ohne das Tetragramm (vgl. 3,17.18; 4,4; 7,14.20; 8,7; 9,7.16; 10,12; 11,11; 21,6.8.16; 28,2; 29,13; 30,20; 37,24; 38,14), danach meist zusammen mit diesem (vgl. 40,10; 48,16; 49,22; 50,4.5.7.9; 51,22; 52,4).84 Im Visions- und Sendungsbericht stehen die Bezeichnungen »Jhwh Zebaot« und »Herr« mit dem Titel »König« (6,5) zusammen, im Kontext seines himmlisch-herrschaftlichen Thronens (V. 1–7). Der Titel und die Wurzel ˚lm »herrschen/König sein« werden in Jes 1–39 eher sparsam verwendet, obschon der universale Charakter der göttlichen Majestät über Himmel und Erde – gegründet und gefestigt auf dem Berg Zion – ab Jes 6 die Basis für die eschatologische Perspektive dieses Buchteils bildet (24,23; 33,22). Man vermutet, dass Jesaja das Paradigma der weltweiten Königsherrschaft Jhwhs auf Grundlage der konkreten politischen Erfahrungen mit der neuassyrischen Reichsideologie entwickelt hat. 85 Dafür spricht, dass Jesajas Verkündigung in die Zeit der unaufhaltsamen Ausbreitung Assurs bis hin zum Status eines Weltreiches fiel (von Tiglatpileser III. [745– 727] bis Sanherib [705–681]). Dabei stellen aus Perspektive des Gottesvolkes das Ende des Nordreiches Israel (722) und der verheerende Feldzug gegen Juda und Jerusalem (701) die zentralen Ereignisse dar. Jesaja, der bekannte und geachtete Prophet, kannte die kulturelle und religiöse Propaganda des neuassyrischen Reiches, die zu dessen Legitimation diente. Noch uns Heutigen ist sie in der Literatur Assurs und den imperialen Palastreliefs aus Ninive zugänglich. Jesaja scheint mit dem Topos der Königsherrschaft Gottes in 83 Berges / Spans 2012, S. 181. 84 Protojesaja kennt aber auch die Verbindungen twabx hwhy ˜wdah(1,24; 3,1; 10,16.33; 19,4) und ynda twabx hwhy (3,15; 10,23–24; 22,5.12.14–15; 28,22). 85 Abernethy (Hg.) 2013.
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zweifacher Hinsicht bekannt gewesen zu sein: Nach der alten Tradition der Stämme Israels herrschte Jhwh über sein Volk, das er sich erworben hatte (Dtn 33), während er im Kult des Jerusalemer Stadtstaates als residierender König auf dem Berg Zion verehrt wurde (Ps 24). Der Prophet hat Jhwhs Königtum im Grunde genommen zum selben weltweiten Umfang ausgebaut, wie es in der assyrischen Reichsideologie für den Hauptgott Assur der Fall war, der über alle Völker seine unbegrenzte Macht ausübte bzw. ausüben ließ. Natürlich stützte sich Jhwhs Herrschaft nicht auf militärische Stärke, vielmehr besaß er eine andere, noch größere Waffe: Als Schöpfer von Himmel und Erde (6,1–4) hatte er alleinige Autorität über Schöpfung und Geschichte! Auf diese Weise konnte Jesaja die für unüberwindbar gehaltene Kriegsmacht als dem Schöpfergott Jhwh unterworfen darstellen. So ist Assur nicht mehr als ein Werkzeug in Gottes Hand zur Lenkung der Geschicke von Israel, Juda, Jerusalem und den Völkern (10,5–34). Eine ähnliche ideologische Entwicklung zeigt sich beim Thema des Königtums Jhwhs in Ps 93–100. Zudem erklärt dieser Hintergrund auch die auffällige Tatsache, dass der Königstitel für Jhwh in der Überlieferung und den redaktionellen Überarbeitungen der jesajanischen Orakel nur selten vorkommt: Jhwh und die assyrischen Zwingherren konnten unmöglich unter ein und demselben Titel subsummiert werden. Deshalb weicht der Königstitel der Bezeichnung »Herr«, wie aus Kap. 36–37 deutlich wird. In diesen Kapiteln wird »König« überaus häufig für den assyrischen Herrscher gebraucht, nicht aber für Jhwh. Dieser nimmt die höchste und einzigartige Stellung ein: »Du thronst über den Cherubim, du bist es, der da Gott ist, du allein, für alle Königreiche der Erde« (37,16). Die Eröffnung von Kap. 40ff. nimmt den Topos der Herrschaft Jhwhs erneut auf: »Siehe, der Herr Jhwh, als Starker kommt er, sein Arm herrscht für ihn […] Wie ein Hirt weidet er seine Herde« (40,10–11; vgl. 37,22–23). Die Wahl des Begriffs lvm »herrschen« anstelle von ˚lm »König sein« folgt dem Wortgebrauch in Kap. 36–37, wo dieses Wort ebenfalls für den machtversessenen Sanherib reserviert blieb. Jhwh aber übertraf ihn und seinen Gott Assur in allen Belangen. Darüber hinaus bekommt das Thema ein neues Element, weil es in 40,9 Zion als Freudenbotin ist, die Jhwh als Herrscher ankündigt. Diese Vorstellung prägt die Kap. 40–54, wie besonders an 52,7 ersichtlich ist, wo Jhwh siegreich zum Zion kommt. Die Grundlage all dessen besteht darin, dass er »der König Jakobs/Israels« ist (41,21; 43,15; 44,6). Die Kap. 55–66 setzen das Thema der weltweiten Herrschaft Jhwhs nur indirekt fort (63,19: »Wir sind wie die geworden, über die du nie geherrscht hast«), betonen aber die Zugangsmöglichkeit zum Berg Zion auch für Menschen aus den Völkern (56,1–8). Dabei wird die Frage, wo Gott zu finden sei, so beantwortet, dass seine Hoheit in keiner Weise seine Präsenz beeinträchtigt (57,14–15: »In der Höhe und als Heiliger wohne ich bei den Zerschlagenen und Erniedrigten«; 59,20: »Der Erlöser wird nach Zion kommen«; 62,11: »Sagt der Tochter Zion: Sieh, dein Heil kommt […] seine Belohnung zieht vor ihm her«; 66,1: »Der Himmel ist mein Thron […] Was für ein Haus wollt ihr mir bauen?«).
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Der Titel »der Heilige Israels« umschreibt Jhwhs Wesen nicht auf statische Weise in moralischer oder kultischer Hinsicht, sondern als Beziehungsgeschehen mit seinem Volk. Die Beifügung »Israel« zeigt keine Begrenzung an, sondern eine konkrete Verortung. Denn in Israel, in Zion, stellt Gott seine Souveränität vor den Augen der Völker unter Beweis (12,6; 43,3; 45,11; 49,7; 55,5; 60,14). Die Häufigkeit dieses Titels, der über alle Buchteile hinweg vorkommt (in Protojesaja 13 Mal, in Deuterojesaja 10 Mal, in Tritojesaja 3 Mal gegenüber 6 Mal im gesamten übrigen AT)86, zeugt von seiner bleibenden Bedeutung, sowohl vorexilisch als auch während und nach dem Exil. Literaturgeschichtlich betrachtet stammt der Begriff wie schon der Titel »König« aus der Sendungsvision des Propheten, insbesondere aus dem Lobgesang der Seraphen: »Heilig, heilig, heilig ist Jhwh Zebaot« (6,3). Wahrscheinlich hat der historische Prophet den Titel aus dem Jerusalemer Kult übernommen und ihn auf Jhwhs wunderliches Handeln an Israel angewendet. Die Jesaja-Überlieferung sowohl vor (7. Jh.) als auch nach dem Exil (6. und 5. Jh.) hat diesen Titel zu einer Ikone für Jhwhs bleibende Verbundenheit mit seinem Volk gemacht, eine Beziehung, die sich vom Gericht zum Heil entwickelte. Vor diesem Hintergrund hat der eben zitierte Lobgesang der Seraphen in buchredaktioneller Hinsicht eine Bedeutung bekommen, die den kultischen Kontext der Szene übersteigt. Das dreimal »Heilig« drückt einerseits die höchste Form von Verwirklichung aus, spiegelt andererseits aber auch die Schwierigkeit wider, anzugeben, worin diese Eigenschaft eigentlich besteht. Das wird am beinahe tautologischen Versuch in 5,16 deutlich: »Der heilige Gott erweist sich als heilig durch Gerechtigkeit«. Die Unbegreiflichkeit gehört wesenhaft zur göttlichen Heiligkeit, aber nicht etwa in metaphysischer, sondern in historischer Hinsicht (40,25; 45,11). Jhwh, der Gott, der sich Israel auserwählt hat und ihm treu bleibt, obwohl dieses Volk ihn verschmäht (1,4; 5,19.24; 30,11; 31,1), offenbart sein Engagement in Gericht und Heil bzw. besser: in einem Heil, das durch die Schule des Gerichts hindurch gegangen ist (10,20; 41,14; 43,14; 48,17; 54,5; 55,5). Diese notwendige Verbindung heißt hqdx »Gerechtigkeit«. Sie betrifft die sozialen Verhältnisse in Israel (29,19), aber auch die Beziehung zu den Völkern (49,7; 60,9.14). Die Verwirklichung dieses Heiles zeichnet Jhwh aus und wird letztendlich zu seiner Anerkennung führen (12,6; 29,23; 37,23; 41,16.20). Das Thema der »Herrlichkeit« (dwbk) Jhwhs ist auf unterschiedlichen Entstehungsstufen des Buches anzusiedeln. Den sowohl synchronen als auch diachronen Ausgangspunkt bildet die Tempelvision des Propheten und darin insbesondere der Ruf der Seraphen: »Heilig, heilig, heilig ist Jhwh Zebaot. Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit« (6,3). Die zeitliche Angabe in V. 1 »im Todesjahr des Königs Usija« (vermutlich 734) sollte ernst genommen werden. Jesajas Auftreten 86 Jes 1,4; 5,19.24; 10,20; 12,6; 17,7; 29,19.(23); 30,11.12.15; 31,1; 37,23; 41,14.16.20; 43,3.14; 45,11; 47,4; 48,17; 49,7; 54,5; 55,5; 60,9.14. Das Attribut »heilig« für Jhwh kommt auch ohne die explizite Nennung »Israels« vor, ist aber immer von dieser Beziehung geprägt: Jes 5,16; 6,3; 10,17; 40,25; 43,15; 57,15. Der Titel findet sich zudem in 2 Kön 19,22; par. Jes 37,23; Jer 50,29; 51,5; Ps 71,22; 78,41; 89,19.
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beginnt zu der Zeit, als Assur seine Macht über das Nordreich Israel und den Küstenstreifen ausbreitete, was Juda nicht unberührt lassen konnte (vgl. den syrisch-ephraimitischen Krieg, 734–732). »Siehe, der Herr lässt die reißenden Wassermassen des Stroms – den König von Assur und seine ganze Herrlichkeit – emporsteigen […] Er wird sich auf Juda zubewegen […] seine ausgebreiteten Ränder werden die Weite deines Landes füllen, Immanuel« (8,7–8; vgl. 7,16–17). Möglicherweise ist die explizierende Identifizierung »den König von Assur und seine ganze Herrlichkeit« redaktioneller Art. Sicher ist jedoch, dass damit eine Verbindung zur Tempelvision gelegt wird. Der historische Prophet sah die überwältigende Macht des Königs von Assur als von Jhwh gewollt und dem Gott, der in Jerusalem thront, untergeordnet an. »Herrlichkeit« meint in beiden Texten Herrschaft, und zwar im Sinne von Macht und Ausstrahlung. Die Verbindung von »Herrlichkeit« (dwbk) mit »Erde/Land« (≈ra) spielt dabei auch eine Rolle (6,3.11–12; 8,8), wobei der zweite Begriff jeweils weiter oder enger gefasst wird: »Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit« (6,3) und »seine Ränder werden die Weite deines Landes füllen, Immanuel« (8,8). Der Begriff »Herrlichkeit« meint hier die Autorität und Befehlsgewalt über ein bestimmtes Gebiet. Von daher verweist der Terminus »Erde/Land« im Lobgesang der Seraphen auf Jhwhs Machtsphäre, die sich über den Tempel von Jerusalem hinaus auf den ganzen Kosmos erstreckt, ebenso wie sich sein Thron in höchste Höhen erhebt und allein schon der Saum seines Gewandes das Heiligtum erfüllt (6,1–2).87 Demgegenüber wird im Orakel über Assurs Feldzug dessen Eroberung auf »die Weite deines Landes, Immanuel« begrenzt (8,8). Hinter diesen Texten verbirgt sich die Auseinandersetzung des Propheten mit der Elite und dem Volk in Jerusalem. Die Übermacht von »Jhwh Zebaot«, die auch der König von Assur zu spüren bekommt, bedeutet wider Erwarten nicht, dass Juda von Not und Gericht ausgenommen bliebe. Im Gegenteil, »Umkehr« und »Heilung« kann es für diejenigen nicht geben, die für Jhwhs Botschaft taub sind. Deshalb wird die Verwüstung des Landes auch vollständig sein (6,10–12; 8,8: »bis zum Hals«). Aber in der Fortsetzung bezeugt Jesaja, dass Assur nicht im eigenen Namen auftritt, sondern nur ein Strafwerkzeug in der Hand Jhwhs ist (10,5–15). Assurs »Herrlichkeit« wird im Feuer des »Lichts Israels« und in der Flamme »seines Heiligen« zerstieben (10,16–18). Das Thema der »Herrlichkeit Jhwhs« setzt sich auch nach den Kap. 1–12 fort. In dem Maße, wie die Völker, Jakob und die Angesehenen in Jerusalem ihre »Herrlichkeit« im Strafgericht verlieren (14,18; 16,14; 17,4; 21,16; 22,18.24), wird Jhwhs Königsherrschaft in »Herrlichkeit« auf dem Berg Zion vor den Ältesten des Gottesvolkes antizipiert (24,23; vgl. Ex 24,9–11).
87 Th. Wagner 2012, S. 134–144, hat diesen Konnex zwar gesehen, doch verkennt seine kohärente Übersetzung »Fülle des Landes« (6,3) die besondere Tragweite dieses Begriffs im Gesamt der Tempelvision.
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Damit bekommt das Motiv aus der Predigt des Propheten eine wichtige Rolle in der Endredaktion des Buches, denn es verbindet den zweiten und dritten Großteil: »Die Herrlichkeit Jhwhs wird sich offenbaren, und gemeinsam wird alles Fleisch es sehen« (40,5; vgl. 35,2) und »Ich komme, um alle Nationen und Zungen zu versammeln, und sie werden kommen und meine Herrlichkeit sehen« (66,18– 19). Die Bucheinleitung hatte diese Klammer bereits durch die Verbindung von Zion mit dem Zeltheiligtum in der Wüste vorbereitet (4,5; vgl. Num 9,15–16). So wurde »Jhwhs Herrlichkeit« zu einem übergreifenden Heilsbild in jesajanischer Perspektive. Im zweiten Buchteil betont diese Herrlichkeit Jhwhs Vollmacht über sein Volk angesichts seiner unvergleichlichen Überlegenheit über die Götter Babels (Jes 42,5–12, bes. V. 8; 43,1–7, bes. V. 7; 48,11). Im dritten Buchteil wird unterstrichen, dass die notleidende nachexilische Gemeinde nur dann und insofern Jhwhs Herrlichkeit erwarten kann, wenn sie den Imperativ des gerechten Handelns in die Tat umsetzt (58,8; 59,19; 60,1–2; 62,2). 7.2 Spezifische Gottesnamen und Metaphern für einzelne Teile des Jesajabuches In den einzelnen Buchteilen finden sich noch weitere Epitheta und Sprachbilder für Jhwh, die mit den besonderen historischen und religiösen Situationen der Verfasser zu tun haben. Gottestitel und Metaphern fließen manchmal auch ineinander über. Die Begriffe sind vielzählig und variantenreich. Sie gewähren einen Einblick in die Intensität des prophetischen Nachdenkens über die Beziehung Jhwhs zu seinem Volk und beweisen, wie kreativ die Autoren mit solchen Sprachbildern umzugehen wussten. Überblicksartig seien genannt: »Eltern/Vater« (1,2; 30,1.9; 43,6; 45,10; 63,8.16; 64,7), »Richter/Anwalt/Rechtsgegner« (1,18; 2,4; 3,13; 33,22; 34,8; 43–45 passim; 49,25; 50,8; 51,22), »Lehrer« (2,3; 28,26; 30,21), »Winzer« (5,1–7; 27,2–7; 63,3–6), »Bauherr« (5,2; 25,2; 26,1; 28,16–17; 44,26; 54,11– 12), »Fels« (8,14; 17,10; 26,4; 30,29; 44,8), »Festung« (17,10; 25,4; 26,1; 27,5), »Arzt« (30,26; 38,16; 57,18–19), »Hirt« (40,1188). In Kap. 1–39 stößt man vielfach auf die Vorstellung von Jhwh als »Kämpfer«, der den Streit mit seinen Feinden innerhalb und außerhalb des Gottesvolkes/ Zions angeht. Das Bild findet sich zwar auch in Kap. 40–66 (42,13; 49,25–26; 59,16–19; 63,1–4; 66,15–16)89, aber durch die stärkere Ausrichtung von Jes 1–39 auf das unvermeidliche Strafgericht nimmt das Motiv des kämpfenden Jhwh einen prominenteren Platz ein. So ist er in der Einleitung des Buches »der Starke Israels« (ryba), der, um Zion von aller Ungerechtigkeit zu reinigen, gegen seine Feinde, die gottlosen Richter, vorgeht (1,24). Dieser singuläre Name stellt eine bewusste Abänderung des nordisraelitischen Titels »der Starke Jakobs« dar (Gen 49,24; Jes 49,26; 60,16). Programmatische Bedeutung hat des Weiteren die Tatsa88 Singulär für Gott im Jesajabuch, siehe Berges 2008, S. 113f. 89 Implizit wird Jhwh als Feldherr in 40,26; 45,2; 49,2; 51,9 dargestellt.
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che, dass der verheißene Sohn aus dem Geschlecht Davids den Titel Jhwhs »Gott Held« (rwbg la) als einen seiner Thronnamen zugesprochen bekommt. Diese Bezeichnung vergegenwärtigt den göttlichen Willen, dem eigenen Volk sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zeit der assyrischen Bedrohung und Übermacht zur Seite zu stehen (10,21; 42,13: »Kriegsmann«). Dass Israel weder Assur noch Babel militärisch gewachsen war, spricht nicht gegen Jhwhs Fürsorge für sein Volk, sondern führt zur überraschenden göttlichen Initiative, die Heere der »Nationen in der Ferne« als Feldherr für seine Ziele einzusetzen und zu befehligen (5,26–30; 7,18–20; 8,7–10; 9,10–11; 10,5–19.24–27). In den Völkerorakeln (Kap. 13–23), besonders im Spruch gegen Babel (Kap. 13), kommt Jhwhs militärische Macht exemplarisch zur Geltung. Dies geschieht so, dass er seinen Streit gegen Jerusalem, die Stadt, die ihm untreu wurde, nicht aus den Augen verliert (22,1– 14). In der Sammlung von Weherufen mit nachfolgenden Anhängen (Kap. 28–33) verdichtet sich die Vorstellung von Jhwh als Kämpfer zu einem Paradox: Gott kämpft sowohl gegen die Stadt und ihre gottlosen Herrscher (28,18–22; 29,1–5; 30,15–17) als auch für ihre Verteidigung und um ihre Inbesitznahme (29,6–8; 30,29–33; 31,4–9; 33). Das Paradigma des göttlichen Kämpfers setzt sich in den folgenden Kapiteln fort. Sein »Schwert über Edom« ist der Anfang des Gerichts über die Völker (Kap. 34) und findet einen ersten Höhepunkt im wundersamen Schutz Jerusalems angesichts der assyrischen Belagerung durch Sanherib (Kap. 36–39). Wer so erfolgreich gegen Assur für seine Stadt eintritt, der kann später auch gegen Babel den Sieger aus dem Osten herbeirufen, d.h. den Perser Kyrus, und ihm die Siege in den Schoß legen (41,2f.; 44,28; 45,1.13; 46,11; 48,14f.). Auf literarischer Ebene scheint die sogenannte Apokalypse (Kap. 24–27) dieses Paradigma der militärischen Überlegenheit Jhwhs über die Weltmächte zu unterbrechen. In Wirklichkeit aber hebt sie es nur auf das allerhöchste Niveau. Denn nun kämpft Jhwh gegen die ganze Erde und macht sie zur Einöde, wenn und insofern ihre Bewohner dem Unrecht freien Lauf lassen (Kap. 24). Doch ist nicht die Vernichtung das letzte Ziel, sondern die Aufrichtung der Königsherrschaft Jhwhs in Jerusalem, der Stadt, die von der Spelunke der Gottlosen zum Bollwerk der Gerechtigkeit werden soll (Kap. 25–26). Das Bild von Jhwhs Kampf gegen die weltweite Ungerechtigkeit überlagert sich hier mit dem von der Bestrafung Ägyptens, dem Zwingherren par excellence (26,20–21; vgl. Ex 12,21–30), und der Unterwerfung aller Chaosmächte (27,1). Für die Kap. 40–54 ist charakteristisch, dass Jhwhs Sorge für Israel wesentlich damit zusammenhängt, dass er auch den Kosmos hervorgebracht hat. Die gewöhnliche Trennung von Schöpfung und Erlösung hilft hier nicht weiter. Das Verb arb »schöpfen« kennt im AT immer nur Jhwh als Subjekt. Zwar umgibt das Motiv »Jhwh als Schöpfer« das ganze Buch Jesaja (vgl. 4,5 und 65,17; 66,22), aber es ist in den sogenannten deuterojesajanischen Kapiteln verstärkt belegt, zuvorderst in deren Eröffnungsteil. Jhwh hat das Universum geschaffen und dieses für Israel unleugbare Faktum wird gegen die Klage in Stellung gebracht, Jhwh habe weder die Macht noch den Willen, sein Volk aus dem babylonischen Exil zu be-
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freien (40,22–28; 41,20). Durch die Berufung des Knechts für Israel und die Völker entbehrt diese Klage aber jeglicher Grundlage. In den Gerichtsreden der Kap. 43–45 wird der Knecht Israel zum Zeugen für Jhwhs einzigartige Befehlsgewalt über den Kosmos, die auf seinem schöpferischen, universellen Heilswillen gründet (48,18–22). Der Terminus »schöpfen« wird regelmäßig ergänzt oder ersetzt durch vier andere Begriffe: »bilden« (rxy), »machen« (hc[ und l[p) und »[den Himmel] ausbreiten« (hfn). Folgende Verse seien hier besonders genannt: 42,5: »Der den Himmel geschaffen hat und ihn ausbreitet« (vgl. 44,24); 43,7: »alle, die ich zu meiner Ehre geschaffen habe. Ich habe sie gebildet, ja, ich habe sie gemacht«; 45,7: »Der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Heil vollbringt und Unheil schafft, ich Jhwh, bin es, der all dies vollbringt«. Diese Schöpfungsverben spielen im zweiten Buchteil eine wichtige Rolle, und zwar mit unterschiedlicher semantischer Aufladung. »Bilden« lässt an die kunstvolle Arbeit des Töpfers denken (rxy: 41,25; 43,1.7.21; 44,2.9–12.21.24; 45,7–11.18; 46,11; 49,5); »machen« zielt stärker auf das Ergebnis des Tuns (hc[: 40,23; 41,4.20; 42,16; 43,7; 44,2.13–17.23–24; 45,7.12.18; 46,4.6.10–11; 48,3.5.11.14; 51,13; 54,5) oder des Arbeitens ab (l[p: 41,4; 43,13; 44,12.15; 45,9–11). »[Den Himmel] ausbreiten« betrifft das von Gott Ausgespannte über der Erde, das zugleich die Schwelle zu der ihm eigenen Domäne markiert (hfn: 40,22; 42,5; 45,12; 51,13; 54,2). Zusammen decken diese Verben das allumfassende Handeln Gottes ab. In diesem Kontext steht Jhwhs Führung der Geschicke Israels an oberster Stelle; sie ist aber transparent hin auf seine Macht über den gesamten Kosmos (43,15–17; 44,1–4.21–24; 45,11–13.18). Im letzten Buchteil klingt dieses Thema noch nach (64,7; 65,17), so wie der erste es präludierte (27,11; 37,26). Das Bekenntnis zu »Jhwh als Schöpfer« hat seinen Ort in der monotheistischen Gottesvorstellung: Israels Gang durch die Jahrhunderte zeugt von der Geschichtslenkung durch den einen und alleinigen Gott, der den Kosmos in Zeit und Raum zugunsten des Lebens auf der Erde ordnet und erhält. Wahrscheinlich entstand diese Schöpfungstheologie in der Auseinandersetzung mit den Hauptgottheiten Marduk im Kult Babels bzw. Ahuramazda in der persischen Reichsideologie.90 Sie nimmt nicht nur in Deuterojesaja, sondern auch in den Psalmen, der Priesterschrift und in der Weisheit eine zentrale Stellung ein. Zwei weitere, für Jes 40–54 bedeutsame Epitheta stehen mit dem Titel des »Schöpfers« in enger Verbindung: lawg »Erlöser« (M. Buber: »Auslöser«) und [yvwm »Retter« (M. Buber: »Befreier«). Die Bezeichnung »Erlöser« stammt aus der Rechtssphäre und setzt eine Verantwortlichkeit aufgrund von Verwandtschaftsbanden innerhalb des Stammes, des Clans oder der Großfamilie voraus.91 In Kap. 40–66 steht der Titel überwiegend in Gottesreden, in denen sich Jhwh seines Bandes mit Israel bewusst ist und sich verpflichtet fühlt, seinem Volk beizustehen (41,14; 43,1.14; 44,6.22–24; 47,4; 48,17; 49,7.26; 52,9; 54,5.8; 59,20; 60,16; 63,9.16). 90 Hartenstein 2013. 91 Ringgren 1973.
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I. Einleitung
Der Titel »Retter« ist in Deuterojesaja nur selten in profanem Sinn gebraucht, sondern meist in typisch religiösem Sinne eingesetzt. Zudem ist das Wort »Rettung« (h[wvy) Bestandteil des Namens »Jesaja« (why[vy »Jhwh ist Rettung«) und zieht sich als roter Faden durch das ganze Buch (12,2–3; 25,9; 26,1.18; 33,2.6; 49,6.8; 51,6.8; 52,7.10; 56,1; 59,11.17; 60,18; 62,1). In Kap. 40–66 ist das Wort immer mit Jhwh als Subjekt verbunden (bereits in 25,9; 33,22; 35,4; 37,20.35; 38,20; danach in 43,3.11–12; 45,15.17.21–22; 49,25–26; 59,1; 60,16; 63,1.8–9). Die göttliche Rettung ist übrigens ein fester Bestandteil des prophetischen Diskurses. Von daher ist der Aspekt des zu Hilfe Kommens in der Not ebenso stark wie der des effektiven Errettens aus der Not.92 Des Weiteren zeichnet Jes 40–54 die kraft- und machtvolle Redeweise aus, mit der Jhwh sein unvergleichbares Gottsein zum Ausdruck bringt: »ich bin Jhwh, der …« (hwhy yna)93 oder »ich bin es …« (awh yna)94 mit nominaler oder verbaler Ergänzung. Als Beispiel kann die folgende Passage dienen: »Ich, ich bin Jhwh, und keinen Retter gibt es außer mir. Ich war es, der es verkündet hat, und ich habe gerettet, und ich habe es hören lassen, und kein fremder Gott war bei euch. Und ihr seid meine Zeugen, Spruch Jhwhs, und ich bin Gott. Auch künftig bin ich es, und keinen gibt es, der aus meiner Hand rettet. Ich mache es, und wer könnte es wenden?« (43,11–13). Die Fachliteratur spricht in diesem Zusammenhang von einer göttlichen Selbstvorstellungsformel, die Parallelen in vergleichbaren Texten der altorientalischen Literatur besitzt, in denen sich eine Gottheit oder ein durch sie ermächtigter König als unbestrittene Autorität präsentiert.95 Dennoch ist ein wesentlicher Unterschied zu beachten: Jhwh stellt sich nicht in erster Linie denen vor, die ihn noch nicht kennen (vgl. Ex 3,13f.), sondern unterstreicht seinen Rettungswillen und seine Rettungsmacht zugunsten Israels in der Notsituation des babylonischen Exils. Damit erhebt er Anspruch auf eine exklusive Stellung als einzige Gottheit, die effektiv retten kann (45,20–25), im ausdrücklichen oder impliziten Kontrast zu den Göttern der Völker, besonders den babylonischen (vgl. 1 Kön 18,39: »Jhwh, er ist Gott« [implizit: »und nicht Baal«]). Die Struktur dieser Sätze, besonders die Position des Prädikats, lässt auf zwei Funktionen schließen: Selbstvorstellung und Ausschließlichkeitsaussage. Den Ausschlag gibt immer der individuelle Redekontext.96 Manchmal gibt Gott seinem Namen eine inhaltliche Füllung, die Israel in seiner Not nicht bestätigen kann oder will (»Ich bin Jhwh, ein zuverlässiger und rettender«, d.h. kein ohnmächtiger oder uninteressierter Gott) und/oder er beansprucht diese einzigartige Stellung ausdrücklich für sich allein (»Ich bin Jhwh, ein zuverlässiger und rettender Gott«, d.h. kein anderer ist es). Mit anderen Worten, manchmal steht Israel seinem 92 Fabry 1982, Sp. 1040f. 93 Jes 41,4.10.13.17; 42,6.8; 43.3.10–11.15; 44,6.24; 45,3.5–8.18–19.21; 46,9; 48,17; 49,23.26; 51,15. 94 Jes 41,4; 43,10.13.25; 46,4; 48,12; 52,6 (vgl. Dtn 32,39; Ps 102,28). 95 Bereits Zimmerli 1963; Albani 2003. 96 Vgl. Williams 2000, S. 15–41; Diesel 2006, S. 281–342.
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Gott im Disput gegenüber und wird aufgefordert, auf Jhwh zu vertrauen und fremde Götter abzuweisen (Selbstvorstellung). Manchmal bilden die Fremdgötter die Gegenpartei im Rechtsstreit Jhwhs, dann ist Israel als Zuhörer und Zeuge präsent (Ausschließlichkeitsaussage). In der oben zitierten Passage (43,11–13) richtet sich Jhwh an Israel, in anderen Texten ändert sich die Sprechrichtung von Israel zu den Göttern (41,21–24). Der Kontext, d.h. der Redeverlauf ist in jedem Fall ausschlaggebend. Im Grunde wird Israel immer aufgefordert, Jhwhs einzigartigen Heilswillen und seine unvergleichbare Rettungsmacht zu bezeugen. Nur wer sich im babylonischen Exil angesichts der imperialen Götterprozessionen zu Jhwh, zu Jerusalem, zum Zion bekennt, ist der wahre Knecht: »Ihr seid meine Zeugen […] und mein Knecht, den ich erwählt habe« (43,10). Wo demgegenüber die Fremdgötter und ihre Anhänger angesprochen sind, soll dies der Ermahnung Israels dienen. Angesichts der Skepsis seines Volkes betont Jhwh seinen Anspruch auf alleinige Verehrung. Es soll wissen, dass er den Lauf der Geschichte bis in die Gegenwart hinein bestimmt hat, was der Siegeszug des Kyrus vor den Augen der ganzen Welt unter Beweis stellt. Wie er den Helden aus dem Osten rief (41,2–4), so erwählte er sich auch Israel zu seinem Diener, rettete Jakob, dessen Treulosigkeit er vorhergesagt (43,10–13) und den er von Mutterschoß an bis ins hohe Alter zu tragen versprochen hatte (46,3–5). Mit der gleichen Intensität, mit der Jhwh sich als »der Erste und auch der Letzte« um Israels Existenz kümmert, herrscht er auch über Himmel und Erde (48,12–14). Aus diesem Engagement für Israel ergibt sich, dass er allein, Jhwh, dieses Volk befreien kann und befreien wird: »nur ich, aber ich gewiss«.97 Er wischt dessen Sünden aus (43,25), tröstet ihn (51,12) und führt ihn zur Erkenntnis seines Namens (52,6). Kurzum, Jhwhs einzigartiges Gottsein und seine alles übertreffende Macht manifestieren sich in seinem effektiven Engagement für Israel: Weil er der allein rettende Gott ist, ist er auch der einzige! Der Satz »Ich bin Jhwh/Ich bin es« ist also kein Gottestitel, sondern bezeichnet den Einzigkeitsanspruch und die Rettungsabsicht dieses Gottes, zu dessen Bekenntnis Israel vor den Augen der Völker aufgefordert und bestimmt ist. Diese Aussage hat sich zum Schlüsselwort monotheistischer Gottesvorstellung entwickelt, und zwar nicht als ein von außen auferlegtes Theorem, sondern als die erfahrbare und erfahrene Garantie der Errettung eines unterjochten Volkes. Die Theorien zur Entstehung des dritten Buchteils (Kap. 55–66) fallen recht unterschiedlich aus, doch spricht man ihm im Allgemeinen eine gewisse Eigenheit zu. Das Hauptthema ist Zion, und zwar genauer der Gegensatz zwischen dem schleppenden Wiederaufbau und den hohen Erwartungen, die Jhwh für seine Stadt hegt. Da diese Kapitel nach allen Entwicklungshypothesen eng an Jes 1–39 und 40–54 anschließen, ist es nicht verwunderlich, dass die Gottesnamen und Metaphern weiterentwickelt werden, wobei spezielle inhaltliche Akzentuierungen auffallen. Zwei Beispiele sollen zur Illustration dienen: 97 Hermisson 2003, S. 114.
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I. Einleitung
Jhwh steht gegenüber Zion im besonderen Verhältnis eines Ehemannes zu seiner Braut bzw. Frau. Die Personifikation der Stadt hatte schon zuvor Spuren im Buch hinterlassen. So bezeichnet Jhwh sie in der Einleitung als Hure, die er zur »Stadt-der-Gerechtigkeit« (1,21–23) umformen will. Der Prophet lädt sie dazu ein, die Großtaten Gottes unter den Völkern zu verkünden (12,6). Als »die Jungfrau, die Tochter Zion« erhebt sie ihre Stimme gegen den König von Assur (37,22–23), als Freudenbotin kündet sie den Städten von Juda die siegreiche Ankunft Jhwhs an (40,9). In ihrer Klage nimmt Zion in den Kap. 49–54 eine neue Gestalt an: »Verlassen hat mich Jhwh, der Herr hat mich vergessen« (49,14), worauf Gott sofort antwortet: »Vergisst eine Frau ihren Säugling, dass sie sich nicht erbarmt über den Sohn ihres Leibes? Selbst wenn diese es vergessen würden, werde doch ich dich nicht vergessen« (49,15). Jhwh spricht Zion als Mutter der verlorenen und wiedererlangten Kinder an (V. 17–26), wobei sie zugleich Züge einer Braut annimmt: »Wie Schmuck wirst du sie alle [=deine Kinder] anlegen, und wie eine Braut wirst du sie dir umbinden« (V.18). Die nachfolgende Passage geht noch einen Schritt weiter, denn darin ist Mutter Zion nun explizit Jhwhs Braut: »Wo ist denn der Scheidebrief eurer Mutter, mit dem ich sie verstoßen hätte?« (50,1; vgl. 51,18: »Keines von all [ihren] Kindern leitet sie«). Die Brautmetapher kommt in Kap. 54 zur vollen Entfaltung, und zwar im Verhältnis Jhwhs zu einer namentlich nicht genannten Frau, hinter der sich niemand anders als Zion verbergen kann. Ihre neue Kinderschar wird zahlreich sein (V. 1–3), »denn der dich gemacht hat, ist dein Gemahl, Jhwh Zebaot ist sein Name, und dein Erlöser ist der Heilige Israels« (V. 5). In Kap. 55–66 wird dieses Paradigma fortgesetzt, wobei der Aspekt Zions als Braut Jhwhs nicht mehr ganz so eng mit ihrer Mutterschaft verbunden ist. Doch im Bild der Stadtfrau kommt dieses Motiv erneut zum Tragen (60,4.9.14.16; 66,7–11). Eine ähnliche Metaphorik scheint auch in 61,10–11 vorzuliegen. Es ist exegetisch umstritten, wer hier spricht: der gesalbte Herrscher, der Freudenbote der Befreiung und des Trostes für Zion (V.1–9)98 oder diejenigen, zu denen er gesandt ist, d.h. die »Trauernden um Zion« (V. 3), die in Zukunft »Priester Jhwhs, Diener unseres Gottes« heißen sollen (V. 6), kurzum Zion selbst.99 Falls man V. 10–11 »als Gotteslob derer verstehen [kann], denen das Ich V. 1–4 eine sozioökonomische Wende im nachexilischen Jerusalem zusagt«100, benutzt diese Gruppe die Metapher des Brautschmucks um ihre engste Verbindung mit Jhwh zum Ausdruck zu bringen: »wie der Bräutigam nach Priesterart den Kopfschmuck trägt und wie die Braut sich schmückt mit ihrem Geschmeide« (V. 10). 98 Die Kernfrage lautet, ob diese Figur buchextern (als König oder Hohepriester) oder buchintern (als Prophet Jesaja oder der Knecht) modelliert ist. Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten siehe die Übersicht bei Achenbach 2007, S. 199–212. 99 Einige Ausleger nehmen an, dass der Sprecher in Jes 61 eine zusammengesetzte Identität besitzt. So soll in V. 10–11 der (prophetische) Sprecher von V. 1–3 proleptisch im Namen Zions auf das Orakel von V. 1–9 reagieren (Koole 2001, S. 292; Oswalt 1998, S. 574; Blenkinsopp 2003, S. 231; Spans 2015, S. 40–50; Labouvie 2013, S. 180–183). 100 Spans 2015, S. 41.
7. Theologie im Buch Jesaja
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Dieses Bild findet in 62,4–5 eine breite Ausgestaltung: Die weibliche Figur Zion wird nun als Gemahlin des Königs Jhwh vorgestellt: »Du wirst ein königlicher Kopfschmuck in der Hand deines Gottes sein« (V. 3; parallel zum Kopfschmuck des Bräutigams in 61,10). Die früheren Bezeichnungen der Stadt und des Landes »Verlassene/Verwüstete« (vgl. 54,1.6–8) gelten nicht länger und die neuen Namen »mein-Gefallen-an-ihr/in Besitz Genommene«, d.h. »Verheiratete«, stellen die Beziehung von Jhwh und Zion als erste, immer gültige Liebe dar (V. 4). Die Bildsprache nimmt danach eine gewagte Wendung, indem ihre Mutterschaft als Ehe mit ihren Kindern ausgeführt wird: »Denn wie ein junger Mann eine Jungfrau in Besitz nimmt, so werden deine Söhne dich in Besitz nehmen, und wie der Bräutigam sich an der Braut freut, so freut sich dein Gott an dir« (V. 5). Diese Umformung der Metapher verfolgt ein bewusstes Ziel: »Die Gestalt Zion in ihrer besonderen Bindung zu ihrem Gott Jhwh wird damit zur Gewährsfrau für das Landeigentum ihrer Kinder, das heißt für die Vorstellung eines (wieder)besiedelten Geländes«.101 In Jes 55–66 besitzen einige Epitheta und Attribute Jhwhs aus den vorangegangenen Teilen eigene Funktionen, denen hier in Auswahl nachgegangen werden soll: Das weite Bedeutungsfeld des Wortes jwr erstreckt sich von den physischen Phänomenen von »Wind, Sturm« über »Hauch, Atem« bis hin zu den anthropologischen Grundbegriffen »Leben, Geist, Gemüt«102. Im Buch Jesaja wird das Wort jwr für Gottes aktives Auftreten nach außen gebraucht (11,15; 30,28; 32,15; 34,16; 40,13; 48,16; 59,19). Damit unterstreicht Jhwh seine ganz eigene Kompetenz, die ihn von Menschen unterscheidet (30,1), mit der er aber auch seine Funktionsträger ausstatten kann (42,1; 44,3). Hieraus ergibt sich die Bedeutung von jwr als dynamische göttliche Präsenz in von Jhwh erwählten Menschen (11,2; 59,21; 61,1; 63,14), teils verstärkt durch die Eigenschaft »heilig« (64,10.11). Als göttliche Attribute kommen im Jesajabuch auch rwa »Licht« und hgn »Glanz«, teils mit va »Feuer« verbunden, vor (im Gerichtskontext in 4,5; 10,16–17; 26,11; 29,6; 31,9; 33,14).103 In Kap. 60 ist diese Motivik besonders präsent und dominiert die ganze literarische Einheit. Den Anstoß dazu legte schon die Ouvertüre des Buches mit dem Aufruf an das Haus Jakob, wie die Völker zum Berg Zion zu gehen und darüber hinaus »im Licht Jhwhs« zu wandeln (2,1–5). In 60,1–3 ist dies weiter ausgestaltet, denn Jerusalem selbst wird zur Lichtträgerin ob der vorherigen Ankunft der »Herrlichkeit Jhwhs«. Die Völker machen sich dann auf den Weg und bringen der Mutter Zion ihre verstreuten Kinder zurück (V. 4–9). Das Thema erreicht seinen Höhepunkt in der Verheißung, Jhwh werde mit all seiner Herrlichkeit das Licht der Sonne und des Mondes ersetzen (60,19–20). Mit dem Gottestitel ba »Vater« wird Jhwh im Bekenntnis von 63,16; 64,7 direkt angesprochen. So ausdrücklich kommt dies im Jesajabuch nur hier vor, auch wenn 101 Spans 2015, S. 299. 102 Gesenius18, S. 1225-1227. 103 Andere Texte, in denen »Licht« bzw. »Feuer« als Instrument oder Produkt Jhwhs begegnen, bleiben hier außen vor (vgl. 30,30; 45,7; 51,4; 58,8.10; 59,9; 62,1).
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I. Einleitung
die Vorstellung von Gott als Vater dem Buch insgesamt nicht fremd ist: »Kinder habe ich aufgezogen […] sie aber haben mit mir gebrochen« (1,2); »Es ist ein widerspenstiges Volk, verlogene Kinder« (30,9). Trotz allem hält Jhwh an seiner elterlichen Fürsorgepflicht und seinem Erziehungsrecht fest: »Bring meine Söhne/ meine Töchter zurück […] Ich habe sie zu meiner Ehre geschaffen, gebildet, gemacht« (43,6–7). Das prophetische Wehe von 45,9 weist in dieselbe Richtung: »Wehe dem, der zum Vater sagt: ›Was zeugst du?‹«. Das Bekenntnis zu Jhwh als Vater in 63,16; 64,7 bildet auch keine Ausnahme im alttestamentlichen Zeugnis, sondern ist im gesamten AT breit belegt (Ex 4,22–23; Dtn 1,31; 8,5; 32,6.18; Jer 3,4.19; 31,9; Hos 11,1–3; Mal 1,6; Ps 103,13). Die Vorstellung hat Anteil an der allgemeinen altorientalischen Konzeption der Götterwelt. Die Metapher des »[Ur-]Vaters« dient dabei zur Erklärung unterschiedlicher Dimensionen dieser vorgestellten Wirklichkeit: das Beziehungsgefüge innerhalb eines Pantheons, die Entstehung des Kosmos, die Herrschaft des Königs als Platzhalter der Götter, die soziale hierarchische Ordnung und sogar die Möglichkeit einer Existenz nach dem Tod.104 Das Bekenntnis zu Jhwh als Vater in 63,16; 64,7 nimmt insofern einen besonderen Platz ein, als es dort in Konkurrenz zum Verhältnis des Gottesvolkes zu seinen Erzvätern steht: »Abraham hat nichts von uns gewusst, und Israel kennt uns nicht« (63,16). Doch bedeutet dies keine Abkehr von den eigenen Traditionen (vgl. 45,10; 51,2; 58,14), denn Jhwhs Vaterschaft wird mit zwei weiteren Elementen ausgestaltet: »Du bist unser Erlöser seit uralten Zeiten« (63,16) und »Du bist unser Bildner, wir alle sind das Werk deiner Hände« (64,7; vgl. 45,10). Die Metapher der Vaterschaft betont – besonders aus Sicht der Kinder – den Aspekt der Einzigkeit, denn ein Kind kann nur immer einen leiblichen Vater haben (wie auch nur eine leibliche Mutter). Der Vatertitel fügt genau diesen Aspekt der Einzigkeit den Epitheta wie »Erlöser« und »Bildner« hinzu. 7.3 Rückblick und Fazit Eine beschreibende Inventarisierung der Epitheta und Gottes-Metaphern im Buch Jesaja hat nur dann und insofern ihren Auftrag erfüllt, wenn sie der individuellen Lektüre und dem eigenen Verständnis dieser prophetischen Schrift dient. Das exegetisch-bibeltheologische Wissen um die Tätigkeit von Schülerkreisen, Tradenten und Schreibergilden im Laufe der Jahrhunderte soll die persönliche Wahrnehmung dabei bereichern. Das subjektive Erleben im Lesevorgang stellt keinen Mangel dar, sondern ist die notwendige Voraussetzung für eine persönliche Auseinandersetzung mit der Vision, die das Jesajabuch entfaltet. Eine Theologie des Buches Jesaja, die den Gottestiteln und göttlichen Attributen nachgeht, kann nicht statisch sein, weil Israel seine Erfahrungen mit Jhwh im Laufe der turbulenten Geschichte, die das Buch abbildet, immer wieder neu ausrichtete und anpasste. Jhwh ist nicht nur im Buch Jesaja, sondern in der Bibel 104 Ringgren 1973, Sp. 1–7; Vanoni 1995, S. 32–38.
7. Theologie im Buch Jesaja
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überhaupt sowohl ein Gott im Wandel als auch ein Gott des Wandels.105 Aus historischer Sicht könnte man sich möglicherweise wünschen, das Jesajabuch böte eine geradlinige Entwicklung seiner Gottesbilder, vom ersten Auftreten des Propheten in assyrischer Zeit bis zu den Problemen der nachexilischen Tempelgemeinde in der persischen Periode. Das ist aber nicht der Fall. Der Prophet spricht von zwei Brennpunkten aus: Das Heute ist für ihn die Frucht der Vergangenheit und zugleich die Saat für die Zukunft. Weil dem so ist, präsentiert das Buch Jesaja Jhwh trotz aller geschichtlichen Umbrüche als mit sich selbst eins bleibend. So ist es auch möglich, dass die Gotteserfahrung aus einer Periode (assyrisch, babylonisch, persisch) auch für die anderen Zeiten gilt. Mit anderen Worten: einige Namen und Epitheta Jhwhs überspannen das ganze Buch, teils mit Bedeutungsverschiebungen, andere Begriffe bleiben auf einige Buchteile beschränkt. Insgesamt ergeben sie ein dynamisches Gottesbild desjenigen, der von sich sagt: »Ich, Jhwh, bin der Erste, und noch bei den Letzten bin ich derselbe« (41,4b).
105 Hartenstein 2012.
II. Auslegung von Jesaja 1–66 Synchrone Textbetrachtungen, diachron reflektiert
I. Teil Jesaja 1–12 Zion zwischen Anspruch und Wirklichkeit Der exegetische Zugang in das Buch Jesaja erfolgt in »diachron reflektierter Synchronie«, wie dies im Einleitungskapitel bereits dargelegt wurde. Wenn man die Kap. 1–12 unter dieser Perspektive betrachtet, wird deutlich, dass diese Teilkomposition in literarkritischer Hinsicht zugleich älteres und jüngeres Material enthält. Theologisch liefern diese Kapitel die Basis für das ganze Buch und stellen auf synchroner Ebene den »Plot« des Gesamtwerkes dar. Die Teilkomposition der Kap. 1–12 bildet ein abgerundetes Ganzes. Ihr Aufbau gliedert sich – nach der Überschrift (1,1) – in drei Akte: eine zweifache Ouvertüre (1,2–4,6), die zur gerahmten und erweiterten »Immanuelschrift« führt (6,1–8,18 in 5,1–10,4), an die sich das Doppelbild zweier Herrscherprofile (10,5– 11,16) und ein Loblied (Kap. 12) anschließen. Parallel zum Textverlauf beschreitet die Leser- bzw. Hörerschaft einen Weg, der von der Anklage über das Gericht zum vorweggenommenen Dank für die erwartete Erlösung führt. Wer für diese Komposition verantwortlich zeichnet, ist nicht leicht zu bestimmen. Aber da sich diese Struktur im Buch mehrfach findet, geht sie wahrscheinlich auf diejenigen zurück, die dem Buch insgesamt seine Endgestalt gaben. Das Loblied in Jes 12 verleiht der Komposition auf der einen Seite einen abgeschlossenen Charakter, führt auf der anderen aber zur Erwartung von etwas Neuem. Diese Kantate dient der Verheißung, die in den vorangegangenen Kapiteln entfaltet wurde: der Erwartung des »Immanuel«, d.h. »Gott mit uns«, und zwar in Gericht und Heil (7,14). Die Kap. 1–12 präsentieren die Aktanten des gesamten Buches: Jhwh, Volk und Land Israel sowie die Tochter Zion auf der einen, die Götter und die Völker auf der anderen Seite, wobei Assur an vorderster Front steht. Die Darstellung der Protagonisten des Buches erfolgt dabei auf eine für die Leserlenkung wichtige Art und Weise, und zwar vor dem Hintergrund von Exil und Nachexil. Die in diesen Epochen zentrale Perspektive fußt auf der Entwicklung vom Gericht zum Heil. Analog dazu bereitet die zweifache Ouvertüre (1,2–4,6) nicht nur die Szenerie für die erste Teilkomposition, sondern dient dem gesamten Jesajabuch als Einleitung. So schärfen zahlreiche Verbindungen zwischen den ersten und den letzten Kapiteln das Profil Jerusalems als Ziel der Wallfahrt des geläuterten Israel und der Völker: Dorthin ziehen sie hinauf, zum Berg Jhwhs, zu seinem Haus, d.h. zu
I. Teil Jesaja 1–12 Zion zwischen Anspruch und Wirklichkeit
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seinem Tempel. Auch auf das zentrale Ereignis von Kap. 1–12, die Vision von Jhwhs Herrlichkeit (Kap. 6), wird am Anfang von Deuterojesaja (Kap. 40) und am Schluss von Tritojesaja (Kap. 66) Bezug genommen. Die Entwicklung des Großjesajabuches im 5./4. Jh. hat Jes 1–12 eindeutig ihren Stempel aufgedrückt. Die Entstehungsgeschichte dieser Kapitel hängt einerseits mit der des Gesamtbuches zusammen. Sie ist andererseits aber auch stark autonom verlaufen. Selbst wenn sich die Forschung bis dato noch nicht einmal über die großen Linien dieser Prozesse hat verständigen können, ist zumindest allgemein anerkannt, dass Jes 1–12 einige der grundlegenden Orakel des historischen Propheten beherbergen. Die Autoren dieses Lehrbuches rechnen mit verschiedenen Phasen in Überlieferung und Redaktion, halten es aber nicht für möglich, diese für alle einzelnen Verse oder Versteile trennscharf nachzuweisen. Folgendes Entwicklungsmodell scheint derzeit vertretbar: An der literarhistorischen Basis steht die sogenannte »Denkschrift«, besser »Immanuelschrift« (6,1– 8,18). Sie besteht aus drei Szenen: zwei Ich-Erzählungen (Kap. 6 und 8,1–18), die einen Er-Bericht (Kap. 7) rahmen. Diese Einzelüberlieferungen stammen vermutlich aus dem Jüngerkreis des Propheten. Diese Trias ist sukzessiv überarbeitet worden, und zwar mittels eines Prologs (5,1–7) und eines Epilogs (8,19–9,6). Die dort angesprochenen Themen »Verwüstung des Landes und Exilierung« lassen die angekündigten Nöte des 8. Jh. schon auf die Zeit nach dem Fall von Jerusalem im Jahre 586 hin transparent werden. Solch eine durchdachte literarische Struktur kann nur das Ergebnis nachexilischer, schriftgelehrter Kreise sein. Für den weiteren Ausbau der bereits ergänzten Immanuelschrift zur Endgestalt von Kap. 1–12 sind weitere Hinzufügungen entscheidend, die man diachron nur schwer unterscheiden kann. Synchron lässt sich jedoch sehr wohl eine Differenzierung vornehmen, und zwar von der Gesamtperspektive des Buches her. Das betrifft erstens die zweifache Ouvertüre in 1,2–2,5 und 2,6–4,6, zweitens das Doppelbild der Kap. 10–11 und drittens das Schlusslied in Jes 12. Man darf sich die Bearbeitungen nicht als eine zusammenhängende Initiative eines einzigen Schreiberzirkels und schon gar nicht als die einer singulären Schreiberpersönlichkeit zu einem einzigen Zeitpunkt vorstellen, denn dafür ist das literarhistorische Bild der Einzelpassagen viel zu pluriform und mehrschichtig. Es ist vielmehr an eine Entwicklung zu denken, die ihre Absicht erst anhand der Endgestalt preisgibt. Es geht dabei im Wesentlichen um den Verlauf des göttlichen »Plans« (siehe zu 5,19; 8,10; 11,2). Dieser nimmt seinen Ausgangspunkt bei Anklage und Gericht (1,1–31; 2,6–4,1), jedoch nicht ohne in der Ferne die Aussicht auf das endgültige Heil anzubieten (2,1–5; 4,2–6). Doch zuvor muss die unterdrückende Großmacht Assur fallen, die Jhwh herausforderte (10,5–34). Erst dann kann es zur Herrschaft des Sprösslings Isais kommen, der die Zerstreuten Israels sammelt (Kap. 11), worauf sich das Danklied der Erlösten anschließt (Kap. 12).
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II. Auslegung von Jesaja
I. Akt Jesaja 1–4 Zweifache Ouvertüre: Aussicht auf Zions Verwandlung Die Überschrift in 1,1 fungiert als Echtheitsbeweis für die Vision, die sich im Buch entfaltet. Dadurch wird Jesaja ben Amoz aber nicht zum Autor, sondern zur Autorität, auf die alles zurückgeht, was in der nach ihm benannten Schrift steht. Dies gilt sowohl für die Texte in Kap. 1–39 als auch für die in Kap. 40–66. Damit wird Jesaja ben Amoz zum Verkündiger von Unheil und Heil, sein Buch zur Magna Charta der Gemeinde Israels in der Zeit des Zweiten Tempels (vgl. 2 Chr 32,32). Der Begriff »Vision« (vgl. Obd 1; Nah 1,1; Hab 2,2–3) deutet hier auf keine besondere seherische Fähigkeit hin, sondern unterstreicht den Ursprung und die Reputation der Prophezeiungen, wobei der Singular deren Vielzahl auf einen Nenner bringt. Die geschichtliche Notiz verankert Jesajas Amtszeit in der Zeit der gewaltsamen Ausbreitung des neuassyrischen Reiches, welche die Regierung der vier genannten Könige von Juda dominierte (von der zweiten Hälfte bis zum Ende des 8. Jh.). Die Prophezeiungen Jesajas setzten diesen Hintergrund voraus und behielten ihre Aktualität im 7. Jh. bis zum Fall Ninives (612) und darüber hinaus bis zur Verwüstung Jerusalems (586). Wegen ihrer Bedeutung, die sich durch die eingetretenen Katastrophen nur noch erhöht hatte, wurden diese Orakel zum einen als Komposition gesammelt und weiterentwickelt, zum anderen nach der Rückkehr aus dem Exil mit dem anwachsenden Textbestand von Jes 40ff. als gemeinsame jesajanische Tradition gepflegt und aktualisiert. Auf die Überschrift folgt die Ouvertüre mit zwei parallel verlaufenden Szenen: 1,2–2,5 und 2,6–4,6. Beide entwickeln sich jeweils von der Anklage gegen und dem Gericht über Juda und Jerusalem (1,2–31; 2,6–4,1) hin zur Verheißung, Jhwh selbst werde Zion erneuern (2,1–5; 4,2–6). Dorthin ziehen die Völker, um Tora zu empfangen (2,1–5), und dort wird der geheiligte Rest unter Jhwhs Schutz in Sicherheit wohnen (4,2–6). Beide Bewegungen ergeben eine der wesentlichen Perspektiven des Jesajabuches. Sie gehören zur redaktionellen Einfassung des Buches. Die Reinigung Zions/Jerusalems von Sünde und Frevlern und die Wallfahrt der Weltvölker zu diesem Ort der Präsenz Gottes verbinden Anfang und Ende des Jesajabuches in semantischer, thematischer und theologischer Hinsicht (vgl. 66,15–24). Die doppelte Ouvertüre des Jesajabuches ist diachron betrachtet aus älterem, prophetisch anmutendem Material gebildet worden. Weitere Rückfragen nach »authentischen« Jesajaworten sind jedoch nicht zu beantworten, denn dafür ist die Unterscheidbarkeit zu gering. Die formgeschichtliche Parallelität der beiden Szenen und ihre fast stereotype Verbindung durch den Ausdruck »Haus Jakob« (2,5–6; vgl. 65,9) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Abschnitte über die Völkerwallfahrt zum Zion (2,1–5) und über den Einbruch des Gottesschreckens gegen das Treiben aller Hochmutigen der Erde (2,6–22) so präsentiert sind, als würden hier Utopia und Dystopia aufeinanderstoßen.1 Die Bestürzung, die 1
Landy 2012.
I. Teil Jesaja 1–12 Zion zwischen Anspruch und Wirklichkeit
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durch diese Kollision hervorgerufen wird, erzeugt eine große Spannung und innere Dynamik für die weitere Lektüre des so eröffneten Jesajabuches. I. Szene Jesaja 1,2–2,5 Vom Gericht über Israels Bluttaten zu Jhwhs Tora für die Völker Der Aufbau wird in synchroner Hinsicht bestimmt durch feststehende Ausdrucksweisen der Redeeröffnung: »Hört/horch(t)« (V. 2.10), »Kommt doch, spricht Jhwh« (V. 18), »Ach, sie ist geworden« (V. 21 [Beginn eines Leichenliedes]), »Darum, Spruch des Herrn« (V. 24) und den häufig eine Einheit beschließenden Ausdruck: »Der Mund Jhwhs hat gesprochen« (V. 20). Die Redesituation ist ganz und gar (nach)exilisch gefärbt. Lässt man all diese Struktursignale zu ihrem Recht kommen, so besteht Kap. 1 aus den Abschnitten V. 2–9, V. 10–20 und V. 21–31. Sie stellen sukzessiv das Volk, die Führer des Volkes und Zion in den Mittelpunkt. Der vierte Abschnitt (2,1–5) ist nicht mehr diskursiv gestaltet, sondern beschreibt Zions endzeitliche Funktion für die Völker. Der erste Abschnitt (1,2–9) präsentiert Jesaja als einen Propheten von universaler Reichweite (V. 2: »Himmel und Erde«), der dem sündigen Volk, das unter dem Gericht gebeugt geht, verkündet, auch dieser Zustand mache unter Gottes Führung noch Sinn, denn Jhwh habe ja einen Rest übriggelassen. Der Prophet bettet Gottes Anklage gegen Israel (V. 2–3) in seine eigene Botschaft, den Weheruf (V. 4–9), ein. Darin verweist er auf die anhaltenden Folgen des Gerichts über das Land und die Stadt, das nun Wirklichkeit geworden ist. Die Verwüstung des Landes (1,6–9) könnte sich auf Katastrophen aus der Zeit Jesajas beziehen (den syrischefraimitischen Krieg [734–732], den Untergang des Nordreiches [722], Sanheribs Feldzug gegen Juda [701]), aber auch auf die Notsituation nach der Eroberung Judas und Jerusalems durch die Babylonier (586). So entsteht das Bild von Jesaja als dem Propheten des Buches, der sowohl den Untergang Israels, besonders den von Juda und Jerusalem, und darüber hinaus die Exilierung ankündigte als auch die Errettung des Restes nach Jhwhs Plan vorhersah (V. 9). Während er am Beginn auf der Seite Gottes gegen Israel steht (ab V. 5), ist er am Schluss mit seinem Volk solidarisch (V. 9: »wir«). Der zweite Abschnitt (1,10–20) ist eine Art Mustertext für Jesajas Kritik an den Führern und der Bevölkerung der korrupten Stadt. Der Name »Jerusalem« fällt nicht, was die Anrede »Sodom/Gomorra« noch dramatischer macht (V. 10). Die Kultkritik der V. 11–13 bezieht sich ohne Zweifel auf Zion, die ja bereits in V. 8–9 genannt war. In dieser Auftrittsskizze wird Jesaja zugleich als der Verkündiger von Jhwhs »Wort« und als Lehrer seiner »Tora« präsentiert (V. 10). Das Miteinander von Prophetenspruch und Rechtsbestimmung zielt weder unter historischem Blickwinkel, noch im literarischen Sinn auf die viel spätere kanonische Zweiteilung in Gesetz und Prophetie, sondern lädt die Adressaten des Buches ein, Jesaja auf einer Linie mit Mose zu betrachten.2 Wie dieser als Weisheitslehrer die Be2
Groenewald 2013.
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II. Auslegung von Jesaja
folgung der Tora anmahnt (Deuteronomium), so unterrichtet Jesaja das Volk darüber, was Jhwh gefällt (V. 10–17) und wie es im Falle des Gehorsams dem Elend zum Trotz doch noch zu einem glücklichen Leben im Land gelangen kann (V. 18–20). Nach dem Aufruf, die Lehre anzunehmen (V. 10), konkretisieren zwei Fragen und Antworten die eigentliche Weisung, die konkrete Tora: Welchen Nutzen könnte Jhwh von Opfertieren haben (V. 11)? Fordert er den häufigen Besuch des Heiligtums (V. 12)? Die Antworten darauf werden in einem negativen Teil – was man nicht und warum man es nicht tun sollte (V. 13–15) – und in einem positiven Teil – was man sehr wohl tun soll (V. 16–17) – ausgearbeitet. Die Verbindung zwischen beiden liegt in der Anklage, die Hände, mit denen man Opfergaben darbringt (V. 12) und bittet (V. 15a), seien mit Blut beschmiert (V. 15b). Kult- und Sozialkritik sind dabei nicht willkürlich verbunden, sondern haben eine gemeinsame anthropologische Basis: die Unteilbarkeit des Menschen. Der nachfolgende Prozess (V. 18–20) hat nicht den Charakter einer bedingungslosen Gerichtsankündigung, da die vorausgehende Anklage in die Form einer Belehrung gekleidet ist, die eine positive Verhaltensänderung zumindest als Möglichkeit offen hält. Die literarische Gattung des Gerichtsverfahrens ist kontextuell angepasst: Sie schließt eine bindende Regelung in Bezug auf die erwartete und geforderte Verhaltensänderung ein. Konkret heißt das: Wie die Hörer der Verkündigung des Propheten, so sind auch die Adressaten des Buches dazu aufgefordert, ihr soziales und religiöses Verhalten zum Positiven zu verändern. Dass diese Erwartung zum Teil schon auf fruchtbaren Boden gefallen war, zeigt die Errettung eines Restes, der sich danach in den Schülern Jesajas, dem Knecht und den Knechten fortsetzt. Der grausige Schlussvers in 66,24 unterstreicht dagegen, dass die Zeit der Entscheidung nicht auf ewig offen steht. Der dritte Abschnitt (1,21–31) zeichnet ein programmatisches Bild von Jesajas Verkündigung in Bezug auf das große, einheitsstiftende Thema des Jesajabuches: Zion. In der ersten Perikope (V. 21–26) wird Zion als das Opfer gewissenloser Führer präsentiert, die zuvor schon unter Anklage standen. Die prophetische Totenklage, die durch einen Schuldaufweis begründet ist (V. 21–23), und der Gottesspruch (V. 24–26) werden durch die Ausdrücke »treue Ortschaft«, »voll des Rechts«, »Stadt des Rechts« (V. 21.26) umschlossen. Diese Verbindung spielt bei der Eröffnung des Jesajabuches insofern eine wichtige Rolle, als das Urteil allein den Sündern, das heißt Jhwhs Feinden, gilt (V. 24). Demgegenüber ist Zion die Wiederherstellung gerechter Verhältnisse verheißen (V. 25–26). Die zweite Perikope arbeitet den zuvor ergangenen Gottesspruch weiter aus (V. 27–31). Die Wiederherstellung von Zions moralischer Integrität bedeutet zugleich ihre Errettung (V. 27). Dem steht der völlige Untergang der Sünder gegenüber (V. 28–31), wie dieser am Ende des Buches ebenfalls in Szene gesetzt wird (Jes 66). Die drei ersten Abschnitte klingen zwar wie die Verkündigung eines Propheten des 8. Jh., sprechen aber zugleich in die gesellschaftliche Zerklüftung des nachexilischen Israels hinein. Die Problem- und Gedankenwelt des Exils und Nachexils
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ist mit Händen zu greifen. Darauf verweist zum einen der theologisch zentrale Restgedanke, der die Golagemeinde legitimiert (V. 9), zum anderen das Angebot zur Vergebung mit der Alternative von Gehorsam und Widerspenstigkeit (V. 18–20; vgl. Dtn 11,26–28; 30,11–20). Darüber hinaus deutet der Kontrast zwischen den »Sündern« und »denen, die sich bekehren« (V. 24.27) auf die nachexilische Zeit hin (vgl. u.a. die Spannungen in der Jerusalemer Tempelgemeinde unter Esra und Nehemia). Der vierte Abschnitt (2,1–5) besteht seiner literarischen Form nach aus einer neuerlichen Überschrift (V. 1), einer Heilsschilderung (V. 2–4) und einer Selbstaufforderung (V. 5). Die Heilsschilderung kündigt nicht etwa Jhwhs Eingreifen an, denn dies ist schon in 1,24–26 geschehen. Als Folge davon wird hier dem Berg mit dem Haus Gottes eine kosmische Hoheit in Aussicht gestellt. Sie ist der Grund für seine zukünftige Rolle als Ausgangspunkt der Tora-Belehrung und Friedensstiftung. Diese Faszination regt die Völker an, gemeinsam eine Pilgerfahrt zum Zion zu unternehmen, damit sie dort Tora/Gottes Wort lernen (V. 2–3). Folglich wird Jhwh zwischen ihnen Recht sprechen, woraufhin sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden können (V. 4). Am Ende ermahnt der Prophet das Haus Jakob, der Aufforderung der Völker zu folgen: »Kommt doch! Wir wollen gehen im Licht Jhwhs!« (V. 5; vgl. V. 3). Die Gleichstellung von Tora und Jhwhs Wort in 2,3 setzt die Warnung von 1,10 fort. In beiden Kontexten bezieht sich diese Parallelisierung nicht etwa auf schriftlich fixierte Gebote, sondern betont die göttliche Autorität, wenn es um das sittliche Verhalten von Menschen geht. Diese Autorität Jhwhs legitimiert in 1,10 die Predigt des Propheten an die ungläubigen Einwohner Jerusalems und ist zugleich der Maßstab für die Leserschaft des Jesajabuches. Die Erhöhung Zions ist kein geographisches Phänomen, sondern regt die Wallfahrt der Völker zur Quelle der ethischen Belehrung an. Dies kann aber erst und nur dann funktionieren, wenn sich das »Haus Jakob« daran macht, im Licht Jhwhs zu wandeln. Die Belehrung der Völker macht die Vorrangstellung Israels als auserwähltes Volk keineswegs zunichte! Der Abschnitt passt unter diachronen Gesichtspunkten zur Situation der nachexilischen Gemeinde, als Israel eine ethnische Gruppe innerhalb des Persischen Reiches geworden war. Da sich diese Verse auch noch in Mi 4,1–3 finden, gibt es eine anhaltende Diskussion darüber, in welchem Buch sie ursprünglich beheimatet waren. Die kontextuellen Argumente sprechen eher für das Buch Micha als für das Jesajabuch.3 Insgesamt gesehen sind die zwei thematischen Bestandteile, Zions Erwählung durch Jhwh und seine Anerkennung durch die Völker, auch vorexilisch nachweisbar und Jesaja keineswegs fremd. So fließen am Ende der ersten Szene der Ouvertüre drei aus diachroner Sicht unterschiedliche Motive ineinander: Die Bedeutung Zions als Gottes Wohnsitz passt zu Protojesaja, die Anerkennung Jhwhs durch die Völker zu Deuterojesaja und der Völkerzug zum 3
Kessler 1999, S. 178–181.
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II. Auslegung von Jesaja
Zion zu Tritojesaja. Zu dieser Gesamtperspektive trägt zuerst der Prophet mit seinen Schülern bei, danach der sehende und hörende Knecht, und schließlich dessen Nachkommen, die Knechte. II. Szene Jesaja 2,6–4,6 Vom Gericht gegen jeden Hochmut zu Jhwhs Schutz auf Zion Diese Szene ist aus vier Abschnitten zusammengestellt: zunächst drei Schilderungen des Gerichts, zum einen über allen Hochmut gegen Jhwh (2,6–22), zum anderen über jene Männer, die in Jerusalem Unrecht begehen (3,1–15), sowie über deren leichtfertige Frauen (3,16–4,1). Daran schließt sich als vierter und letzter Teil eine Beschreibung der Reinigung Zions beim Erscheinen Jhwhs an (4,2–6). Der innere Zusammenhang ist hier zwar weniger stark ausgeprägt als in der ersten Szene der Ouvertüre, dennoch streben die beiden Abschnitte über die Männer und Frauen Jerusalems einem gemeinsamen, negativen Höhepunkt zu: von einem nach Beruf und Stand geordneten Sozialgefüge (3,1–3) hin zu anarchischen Zuständen, bei denen die Männer ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den Frauen nicht mehr nachkommen (4,1). Der Schlussabschnitt über die Reinigung Zions verbindet die zwei vorangegangenen Abschnitte durch den Hinweis auf den Unrat der Töchter Zions und die Bluttaten Jerusalems (die Frevel der Führungskräfte; vgl. 4,1 mit 3,17.24 und 3,9.14–15). Der erste Abschnitt (2,6–22) dient im Rahmen der Ouvertüre dem übergreifenden Thema des Gerichts über Juda und Jerusalem. Zum einen ist er mit 2,1–5 durch den Scharnierbegriff »Haus Jakob« verbunden (2,5–6; vgl. 48,1!). Die universale Bedeutung des Ziongottes, die ihren sichtbaren Ausdruck in Zion als dem höchsten der Berge findet (V. 2–3), gründet in seinem Auftreten als Richter über alle Hochmütigen der Erde (V. 11.17.21). Zum anderen nimmt dieser Abschnitt auch eine prospektive Funktion wahr, und zwar durch den Kehrvers »der Schrecken Jhwhs und die Pracht seiner Hoheit« (V. 10.19.21). Im Laufe des Buches wird der »Schrecken Jhwhs« gegen die Sünder innerhalb und außerhalb Israels agieren (19,16–17; 24,17–18; 33,14; 44,11). Die »Pracht Jhwhs« wird sich den Rückkehrern Zions offenbaren (35,2; vgl. 63,1), während seine »Hoheit« die Hybris der Völker vernichtet (13,11.19; 14,11; 16,6; 23,9), aber seinen Treuen als Erlösung zugutekommt (24,14; 60,15). Anklage und Gerichtsankündigung stehen in einem dialogischen Rahmen: Erstere ist gerahmt durch eine Anrede an Gott (V. 6a.9b), Letztere durch eine Anrede an Menschen (V. 10a.22). Die Anklage skizziert zunächst die Schwere des moralischen Verfalls (V. 6–8: fremdländische Wahrsagerei, Gold und Silber, militärische Aufrüstung und Fremdgötter). Es folgt keine Gerichtsankündigung im Namen Jhwhs, sondern ein Spruch über die Erfahrung, dass Menschen zu Fall kommen (V. 9a). Der Kern der Gerichtsankündigung in V. 12–17 besteht aus der Schilderung »eines Tages für Jhwh« mit seinen Folgen für alle Orte und alle Arten des Hochmuts. Diese wiederum ist gerahmt durch eine monitio per absurdum,
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sich vor Jhwhs schrecklicher Theophanie (V. 10) und ihren fatalen Auswirkungen zu verbergen (V. 19). Die Warnung wird in V. 11 fortgeführt durch den Ausblick auf die Erniedrigung der Hochmütigen (vgl. V. 17). Im Zuge der Warnung (V. 19) soll es zum Wegwerfen der Fremdgötter kommen (V. 20; vgl. V. 6a–8). Am Ende wiederholt V. 21 mit etwas anderen Begriffen die Aussage von V. 19. Mit der Ankündigung eines Tages für Jhwh gegen alles, was sich gegen ihn erhebt (V. 12–17), enthält der Abschnitt einen Kern, den man im Allgemeinen dem historischen Propheten zuspricht. Um diesen Kern herum hat sich ein Rahmen gelegt, der den Fremdgötterkult anprangert (V. 6–9.20–22). Diese Anklage könnte aus jeder Epoche der prophetischen Überlieferung stammen. Doch sind die Kultbildpolemik und die Gerichtsreden gegen die Völker anders gelagert, als dies etwa in Kap. 40–48 der Fall ist. Das erste Segment weist in V. 6–7 Spuren der gegen die Auslandspolitik gerichteten Predigt Jesajas ben Amoz auf, das zweite ist eher weisheitlich ausgerichtet (V. 22). Der Rahmen präsentiert den Propheten als Mittler zwischen Gott und Volk und verrät so das wachsende Interesse der Redaktion an der theologischen Bedeutung des Propheten und seines Amtes (V. 6a.9b.22). Der zweite Abschnitt (3,1–15) ist literarisch durch die Klammer »der Herr, Jhwh Zebaot« als Einheit ausgewiesen. Das erste Segment skizziert die gesellschaftliche Erschütterung, die das Strafgericht für das Land mit sich bringt (V. 1–7), das zweite den moralischen Verfall, über den Gott das Urteil fällt (V. 8–15). Beide Segmente beginnen mit »Jerusalem/Juda« (V. 1.8). Der Tag Jhwhs über alles, was sich gegen ihn erhebt (2,12), trifft zuerst die Oberschicht seines eigenen Volkes (3,1–15). Ihr Sturz bekommt so den Charakter einer Lehrstunde, denn er bestätigt die traditionelle Weisheit, dass der Gerechte und der Sünder genau das als Lohn bzw. Strafe empfangen, was sie verdient haben (V. 8–11). Zudem wird deutlich, dass Jhwh für die Opfer der Ungerechtigkeit Partei ergreift (V. 12–15). Insgesamt gesehen wendet dieser Abschnitt eine Volksklage (V. 1–7) und eine weisheitliche Antithese (V. 10–11) mit dem jesajanischen Motiv des Hochmuts der Elite gegen Jhwh (V. 8) und dem Rechtstreit gegen sie (V. 12–15) auf Jerusalem und Juda an. Dabei verdeutlichen die Tempora der Verben die Gleichzeitigkeit zwischen dem Propheten, der das Gericht für die nahe Zukunft ankündigt, und der Leserschaft, die bereits darauf zurückblickt. So können und müssen die Adressaten des Buches das Urteil aus der Zeit Jesajas mit seinen Folgen als ihre eigene Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen. Der dritte Abschnitt (3,16–4,1), die Prophetie gegen die Töchter Zions, gliedert sich in eine Anklage mit Gerichtsankündigung (V. 16–17) und das Strafgericht (3,18–4,1). Er bildet ein Pendant zur Prophetie gegen die männlichen Anführer der Stadt (3,1.8: »Jerusalem/Juda«). Mit dieser Doppelung wird deutlich, dass die ganze Bevölkerung für das Strafgericht verantwortlich ist. Allerdings nehmen beide Abschnitte nur die höheren Schichten ins Visier: die Oberhäupter mit den Mitgliedern der Handwerkergilden und deren prunksüchtige Frauen. Was Letztere betrifft, so gehörten modische Kleider und anderer Luxus noch nicht zum allgemeinen Schönheitsideal.
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II. Auslegung von Jesaja
Bei der Ausgestaltung sind folgende literarische Mittel eingesetzt worden: 1.) Die Litanei der Modeartikel (V. 18–23) fungiert als Echo auf die Litanei der gesellschaftlichen Autoritäten (V. 2–3). Beide stehen unter dem Leitgedanken »Jhwh entfernt«. 2.) Beide Prophetien enden mit einem kurzen Dialog, der die große Not beider Bevölkerungsgruppen skizziert (3,6–7; 4,1). Zudem verweist der wiederholt eingesetzte Begriff »die Töchter Zions« (V. 16.17) bereits zu Beginn auf ein Hauptthema des gesamten Jesajabuches: An Jerusalems Frauen wird sowohl der Untergang (1,8; 4,4; 10,32) als auch die Wiederherstellung Zions sichtbar (37,22; 52,2; 62,11). Auch der Streit um einen Ehemann und damit um das Ende der Schande bildet ein thematisches Pendant zu den Versen über Zions neue Hochzeit mit Jhwh (54,1–8; 62,1–5). Diachron ist der Abschnitt nur schwer einzuordnen. Abgesehen von der Liste der Modeartikel (V. 18–23) ist der Abschnitt im zeitlosen Sprachstil der Volksklage gehalten, insbesondere im Stil der Frauenklage über die Nöte einer Nachkriegszeit. Zusammen mit dem Drohwort gegen die Männer (3,1–15) verdeutlicht die ganze Passage den umfassenden Charakter des Gerichts. Zudem bereitet sie antithetisch den nachfolgenden Abschnitt vor: die Reinigung der Töchter Zions. Der vierte Abschnitt (4,2–6) folgt rein syntaktischen Regeln. Der erste Satz (V. 2) wird durch den makrosyntaktischen Ausdruck »an jenem Tag« eingeleitet. Daran schließen sich zwei weitere Sätze an (V. 3–4: »Geschehen wird es«; V. 5: »Dann schafft er«). Eine neue syntaktische Einheit beendet den Abschnitt in V. 5b–6 (»Ja, über aller Herrlichkeit«). Die Passage beschließt die zweite Szene der Ouvertüre: Jhwh wird der Beschmutzung Jerusalems durch seine Anführer und deren vornehme Frauen ein Ende bereiten (V. 4). Der Abschnitt verweist dabei auf die erste Szene, die das Ende der desolaten Lage Zions in den Blick nahm: Die ärmliche Laubhütte des kleinen Rests wird durch Jhwhs Erscheinen zum Schutzdach (vgl. V. 5–6 mit 1,8–9), wodurch die Verlassenheit des Landes eine positive Wendung nimmt (vgl. V. 2 mit 1,7.19). Zion kann mit ihrer Tora nur deshalb zum Mittelpunkt der Völkerwelt werden (2,3), weil Jhwh sie wieder zum Ort von Reinheit und Gerechtigkeit erschafft (4,4). Überdies blickt die Passage auf den Schlussteil des Jesajabuches voraus. Die Erwartung eines geläuterten Zion präjudiziert die Trennung zwischen den Knechten Jhwhs und den Sündern auf Gottes Berg in Kap. 56–59 und 65–66, während die zukünftige Stadt mit ähnlichen Begriffen wie in Kap. 60–62 beschrieben wird (vgl. »Spross« in 4,2 und 61,11; »Herrlichkeit« in 4,5 und 60,1–2.13; 61,6; 62,2; »Hoheit« in 4,2 und 60,15; »Schmuck« in 4,2 und 60,7.19; 62,3). In diachroner Hinsicht kann man die nach Ziel und Motiven buchübergreifende Funktion dieser Passage schwerlich dem historischen Jesaja zuschreiben. Zwar enthält auch die Predigt des Propheten das Thema »Zion/Jerusalem«, aber der vorliegende Abschnitt spiegelt die spezifische Erwartung von Entronnenen, einer Restgemeinde auf dem Zion wider (V. 2–3), wie dies auch in Kap. 55–66 der Fall ist. Jhwhs Gegenwart auf dem Zion hat diese Gruppe als ein heiliges, beschütztes Gemeinwesen erschaffen.
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Theologischer Ertrag zum I. Akt (Jes 1–4) Die liberale Exegese des 19 Jh. hatte die Schriftpropheten als den Höhepunkt eines ethischen Monotheismus angesehen, wonach diese in deutlichem Kontrast zum älteren kultischen und nationalen Gottesverständnis stünden. Wer aber von dieser Warte aus das Jesajabuch nach einer theoretischen Abhandlung über das Handeln Gottes und der Menschen durchsucht, wird enttäuscht. Zwar unterstreicht die Ouvertüre den hohen Stellenwert des öffentlichen und privaten Handelns, bietet aber kein Lehrstück theonomer Moral. Die Beziehung Israels zu seinem Gott erscheint hier notwendigerweise als »Gerechtigkeit und Recht«, weil Jhwh sich zutiefst als Bringer und Garant des Heils offenbart.4 Deshalb ist moralisches Handeln von Beginn dieses Buches an Gegenstand der prophetischen Predigt, und zwar als Anklage gegen Missstände, als Warnung vor der Katastrophe, als Aufruf zur Umkehr, aber auch in der Überzeugung, dass Jhwh letztendlich das Heil wirken wird. Die Ouvertüre leitet das literarische Drama ein, das die Geschichte Israels und Zions vom Untergang zur Wiederherstellung vor Augen führt. Jhwh und sein auserwähltes Volk spielen dabei die Hauptrollen. Die Leserschaft ist in dieses Drama hineingenommen, das sich auf der Bühne von Himmel und Erde abspielt (1,2). II. Akt Jesaja 5,1–10,4 Die Immanuelschrift in einem mehrfachen Rahmen Die Komposition stellt in ihrem Kern ein Gefüge von drei Szenen dar: zwei IchErzählungen (6,1–13: Beauftragung des Propheten; 8,1–18: Versieglung von Jesajas Predigt unter seinen Jüngern) und einem Er-Bericht in der Mitte (7,1–25: Zeichen des Immanuel). Dieses Triptychon wurde sukzessiv gerahmt: In einer ersten Erweiterung kamen das Weinberglied als Prolog (5,1–7) und die Ankündigung eines gerechten Davidssohnes als Epilog hinzu (8,19–9,6). Die zweite Erweiterung fügte die Wehesprüche in 5,8–30 und das Kehrversgedicht über Jhwhs Zorn und seine ausgestreckte Hand in 9,7–10,4, hinzu. Der gesamte redaktionelle Prozess hat sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Nach Ansicht vieler Exegeten geht der Kern der Berichte (Jes 6; 7; 8,1– 4.11–18) auf die Tätigkeit des historischen Propheten in Zusammenhang mit dem syrisch-efraimitischen Krieg (734–732) zurück. Besonders der Schluss von Kap. 8 weise darauf hin, dass Jesaja ben Amoz die schriftliche Fixierung und Überlieferung seiner Orakel selbst in Gang gesetzt habe (8,16–18). Der Kern des Er-Berichtes (Jes 7) gehe auf seine Anhänger zurück. Sowohl die Zusammenfügung der drei Szenen zu einem Triptychon mit gemeinsamer Rahmung als auch der Ausbau dieser Immanuelschrift zur Komposition von Jes 1–12 deuten auf teils vor-, teils nachexilische schriftgelehrte Kreise hin. Das Material wurde miteinander verschränkt, wobei die Grundstruktur erhalten blieb. Nur im Leseakt kommt man 4 Vgl. Soete 1989.
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der Inszenierung des Propheten Jesaja durch diese schriftgelehrten Kreise auf die Spur. Hier zeigt sich die grundlegende Dialektik der Traditionsbildung: Zum einen steht der historische Prophet an der Basis einer Tradition, die auf allerlei Wegen zum Buch führt. Zum anderen erschafft genau diese Tradition ihren Propheten, den Visionär des Buches. Prolog Jesaja 5,1–7 Der Weinberg des Freundes Die hohe literarische Qualität dieser Verse ist u.a. daran abzulesen, dass Kolometrie und rhetorische Struktur zusammenfallen. Was die Kolometrie betrifft, folgen auf die Eröffnung (V. 1a) vier Stanzen mit jeweils vier Zeilen; nur die dritte Stanze hat eine Zeile mehr (V. 1b–2.3–4.5–6.7). Der rhetorische Aufbau wird durch den Sprecher und die Sprechrichtung bestimmt. Der Prophet führt das Wort bei der Eröffnung und in der ersten, narrativ gehaltenen Stanze. Zu wem er spricht, bleibt noch offen (V. 1b–2). In den folgenden zwei Stanzen, die jeweils mit »nun« beginnen, wendet sich der Eigentümer des Weinberges an die Bewohner Jerusalems und Judas. In der zweiten Stanze tut er dies mit einer Aufforderung und zwei Fragen (V. 3–4), in der dritten mit seinem Plan (V. 5–6). In der letzten Stanze gibt der Prophet die Deutung der Allegorie: Jhwh ist der Besitzer und Israel der Weinberg (V. 7). Der innere Zusammenhang des Liedes wird durch die ausgefeilte konzentrische Struktur von wiederkehrenden und zum Teil kontrastierenden Lexemen unterstrichen. Wegen ihres appellativen Charakters hält man diese Allegorie gerne für ein Paradebeispiel der Rhetorik Jesajas. Zugleich deutet die Schlussfolgerung, Jhwhs Enttäuschung über Israel, auf eine Reflexion in zeitlichem Abstand zum historischen Propheten hin (V. 7). Darüber hinaus wird das Ende Israels in einen kosmologischen Sinnzusammenhang gestellt. Insgesamt gesehen geht diese Allegorie auf die Verkündigung Jesajas ben Amoz in der Form einer späteren Überarbeitung zurück. Durch die Einführung neuer Elemente dient das Lied auch dem Fortgang des Jesajabuches. Zunächst spricht der Prophet selbst: Seine Beziehung zu Jhwh, seinem »Freund«, wird nun thematisiert (vgl. 3,12). Durch die Ausweitung der Personengruppe, »die Einwohner von Jerusalem/die Männer von Juda« (V. 3) zu »Haus Israel/die Männer von Juda« (V. 7a), kommt ganz Israel in Vergangenheit und Gegenwart in den Blick (vgl. 1,3). Die Angesprochenen werden in V. 3 dazu eingeladen, zwischen Jhwh und seinem Weinberg zu richten. Aber in V. 7 scheint es der Weinberg zu sein, der sich als Metapher für ganz Israel selbst verurteilen muss. Der Schluss lässt offen, ob das Urteil ausgeführt und der Weinberg verwüstet wurde, denn er spricht nur von Jhwhs tiefer Enttäuschung. So bleibt die Frage: Was wird mit dem Weinberg geschehen (V. 7b)? Anhang Jesaja 5,8–30 »Wehe« und »Zorn« gegen die Gottlosen In synchroner Betrachtungsweise enthält die Komposition sechs Prophetensprüche (5,8–23), die sich zwar in Art und Umfang unterscheiden, aber alle mit dem
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Thema des Weinbergliedes, »Rechtsbruch statt Rechtsspruch« (5,7), verbunden sind. Die Prophetensprüche werden von einer Urteilsankündigung (dreimal »darum«) abgeschlossen, in deren Mitte die Passage über Jhwhs »Zorn/ausgestreckte Hand« steht (5,24–30). Diese Abfolge, die von der mehrfachen Übertretung der Tora zum eingetroffenen Gericht führt, ist durch den Bauplan der Immanuelschrift bedingt. Die gesamte Anlage besitzt mit dem Kehrversgedicht über Jhwhs »Zorn/ausgestreckte Hand« (viermal in 9,7–20) und einem Wehespruch (10,1–4) ein Pendant am Ende der Immanuelschrift. Die Wehesprüche exemplifizieren die Anklage des Weinbergliedes, die auf das Fehlen von Recht und Gerechtigkeit abhebt (5,7). Da sie jeweils bestimmte Gruppen vor Auge haben (V. 5–23), während das Weinberglied das ganze Volk beschuldigt, gehen sie vermutlich auf eine frühere Phase der prophetischen Verkündigung zurück. Dagegen fassen der zweite und dritte »Darum«-Spruch des Strafgerichts die verschiedenen Feldzüge Assurs (und Babels?) gegen Israel und Juda in einer einzigen Perspektive zusammen (V. 25–29). Auch hier geben die Wehesprüche, wie schon das Weinberglied, die Verkündigung Jesajas ben Amoz in der Ausgestaltung der Überlieferung wieder. I. Szene Jesaja 6,1–13 Jesaja berufen von Jhwh als König und Israels Verstockung Anders als in den Büchern Jeremia, Ezechiel und Hosea steht die Beauftragung Jesajas ben Amoz in synchroner Hinsicht nicht am Beginn des nach ihm benannten Buches, sondern um einige Kapitel nach hinten verschoben. Die Leserschaft wird durch das Weinberglied und die Wehesprüche auf die Beauftragung vorbereitet. Beide stellen den moralischen Verfall in Juda und Jerusalem an den Pranger, so dass Jesajas Auftrag, dem Volk den Untergang als Strafe für dessen Verbohrtheit anzukündigen (6,9–12), gut begründet erscheint. Jesaja wird in Kap. 6 nicht allgemein zum Propheten berufen, sondern zum Propheten der Verstockung und ihrer Konsequenzen. Die Entfernung der schützenden Hecke um den Weinberg (5,5) hat letztlich die Verödung des Landes zur Folge (6,12). Für Jes 6 ist es passender von einer »Beauftragung des Propheten« zu sprechen als von einer »Berufungserzählung«. Zwar finden sich einige formgeschichtliche Elemente, die auch in Berufungserzählungen anderer Propheten vorkommen, wie Gottesbegegnung, Sendung, Inauguralhandlung und weiterführende Frage, doch kommt es in Jes 6 gerade nicht zur Erstbestimmung als Prophet (vgl. Jer 1; Ez 1–3; Am 7). Denn Jesaja verkehrt bereits in Jhwhs Gegenwart und empfängt im Zuge dessen einen ganz bestimmten Auftrag (vgl. 1 Kön 22,19–23; Sach 1,7–17; Ijob 1,6–12). Diese Präzisierung ist wichtig, um die Funktion von Jes 6 zu Beginn der Immanuelschrift adäquat bestimmen zu können. Dabei liefert 6,9–11 den Erklärungshintergrund für den ursprünglichen Schluss der Immanuelschrift in 8,16–18 (vgl. 6,11: »Bis wann?« mit 8,17: »Ich will warten auf Jhwh«).
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Doch ist dies nicht die einzige Funktion des Kapitels, denn Jesajas Gotteserfahrung übersteigt den Kontext des syrisch-efraimitischen Krieges (734–732). Die eigentliche Vision (6,1–7) beschreibt Jhwhs Gegenwart im Tempel und ihre Auswirkung auf den Propheten sowohl in traditioneller als auch in origineller Sprache. Der unerwartete Verstockungsauftrag hebt sich davon kontrastiv ab. Wenn die Seraphim den Propheten reinigen können (V. 6–7), wieso nicht auch das Herz des Volkes? Die Szene teilt sich nach der Zeitangabe (V. 1a) in eine Vision (V. 1b–7) und Audition (V. 8–11), die untrennbar auf einander bezogen sind (V. 1: »Ich sah den Herrn, der da saß« und V. 8: »Ich hörte die Stimme des Herrn, der da sprach«). Die Vision besteht aus einer Reihe von Elementen: die Theophanie (V. 1–3), das Dröhnen des Tempels (V. 4) und das »Wehe mir!« des Propheten als Reaktion auf die Gegenwart Jhwhs (V. 5) sowie seine Reinigung durch den Seraph und die Kommentierung dieser Handlung (V. 6–7). Die Theophanie umfasst ebenfalls verschiedene Elemente: eine Art Beschreibung Jhwhs (V. 1), der Seraphim (V. 2) und ihres Ausrufs (V. 3). Die Audition besteht aus einem Dialog zwischen Jhwh (V. 8a.9–10.11b–13) und dem Propheten (V. 8b.11a). Es hat den Anschein, als spiele Jesaja in diesem Abschnitt lediglich eine untergeordnete Rolle: Ungebeten bekommt er eine Botschaft mit auf den Weg (V. 9a). Doch seine Rückfrage »bis wann?« (V. 11) ist eindringlich genug, um die Ankündigung eines vollständigen Untergangs auf eine neue, letzte Chance hin positiv zu durchbrechen. Diese Perspektive, dass die Möglichkeit einer heilvollen Zukunft nach dem Gericht fortbesteht, beherrscht das gesamte Buch! Die literarische Gattung und die wichtige Position des Kapitels als Bezugspunkt des ganzen Jesajabuches führen bei der diachronen Einordnung dazu, zumindest den Kern des Kapitels dem historischen Propheten zuzuschreiben. Versuche, die Erzählung als literarische Fiktion zu verstehen, durch die die nachexilische Gemeinde ihr Überleben der Katastrophe von 586 theologisch deutet, stoßen auf die Schwierigkeit, dass hier die Gotteserfahrung und Beauftragung einer einzelnen Person die eigentliche Pointe bilden. Das Kapitel zielt darauf ab, die Abweisung der prophetischen Botschaft durch das ganze Volk als ein durch Jhwh mit der Beauftragung von Jesaja bereits vorhergesehenes Geschehen zu verstehen. Wahrscheinlich wurde die im Kern autobiographische Erzählung mit den beiden folgenden Berichten (Kap. 7–8) im Laufe eines Wachstumsprozesses zu einem Triptychon zusammengefügt (6,1–8,18), das schließlich als Immanuelschrift den zentralen Platz in Jes 1–12 einnahm. Einigen Exegeten zufolge sei die ursprüngliche Erzählung auf V. 1–11 einzugrenzen. Die Zuspitzung der Verwüstung und Entvölkerung des Landes (V. 11) auf eine von Jhwh gewollte Exilierung in V. 12a sei eine spätere Aktualisierung der ursprünglichen Erzählung. Diese habe mit V. 12b–13a eine weitere Ergänzung nach sich gezogen, die auf zwei große Verheerungen des Landes in der Geschichte Altisraels verweisen sollen (des Nordreiches im Jahre 722 und des Südreiches 701 bzw. 586). Eine genaue Festlegung in dieser Frage ist jedoch nicht notwendig,
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denn die Katastrophen werden wohl ganz bewusst auf einer geschichtlichen Linie platziert (»Teleskopie«) und so durch die Adressatenschaft des Buches wahrgenommen. Unabhängig von der genauen Zielsetzung des Gleichnisses in V. 13bα (»Gleich einer Terebinthe und einer Eiche, an denen der Schaft bleibt, wenn sie ihre Blätter abwerfen«)5 bildet die Schlussbemerkung von V. 13bβ »Heiliger Same ist sein Schaft« eine Interpretation der nachexilischen Gemeinde (vgl. Esra 9,2). Diese Umdeutung korrigiert die absolute Gerichtsankündigung von V. 13a und folgt dem nachexilischen Gedankengang der Theologie vom »Rest« Israels (vgl. 1,8–9; 4,2–3). Exkurs: Die Aporie der Verstockung Jhwh verbindet die Sendung Jesajas mit dem Ziel, der Prophet solle dem Volk durch seine Predigt die Annahme eben dieser Botschaft unmöglich machen, damit die Strafe der Verwüstung und Entvölkerung des Landes unvermeidbar werde. Hier zeigt sich ein theologisches Paradoxon, das seinesgleichen sucht. Unter dem Namen «Verstockungsauftrag« hat es eine wichtige Rolle in der Geschichte der Exegese und Dogmatik gespielt: Wie kann Jhwh in Anbetracht dessen, was Israel sonst von ihm zu berichten weiß, dem Propheten befehlen, das Volk zu verstocken, »damit es nicht umkehre und Heilung finde« (V. 10)? Bereits einigen antiken Versionen galt dieser Auftrag als derart anstößig, dass sie den Text zu glätten suchten. So lauten V. 9–10 in der Übersetzung der LXX: »Mit dem Gehör werdet ihr hören und doch gewiss nicht verstehen, und schauend werdet ihr schauen und doch gewiss nicht sehen. Denn das Herz dieses Volkes verfettete, und mit ihren Ohren hörten sie schwer, und ihre Augen schlossen sie, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und umkehren, auf dass ich sie heilen werde« (Septuaginta Deutsch). Aus dem Auftrag an den Propheten, das Volk zu verstocken, macht die Septuaginta somit eine Anklage gegen das Volk. 1QJesa bietet V. 9–10 in einer Version, deren sprachliche Struktur sehr verschieden erklärt wird, je nachdem ob man sie als eine selbstständige Aussage6 oder als einen vom MT abhängigen Hypertext interpretiert.7 Jedenfalls ist der Verstockungsauftrag hier der Absicht untergeordnet, dass das Volk sich bekehre. Sowohl nach LXX als auch nach 1QJesa ist der Auftrag des Propheten also nicht von vornherein aussichtslos.8 Der Targum schränkt den Begriff »Volk« auf die Sünder ein und macht den Verstockungsauftrag zu einer Bestrafung nur dieses Teils von Israel: »Sprich zum Volk, das hört, aber nicht zu Einsicht kommt« (V. 9). Als die Theologie den Weg einer Umdeutung der eigentlichen Aussage von V. 10 nicht länger gehen konnte, wurde das Problem der göttlichen Vorherbestim5 Vgl. van der Kooij 2014. 6 Vgl. Barthel 1997, S. 68. 7 Vgl. Steck 1998, S. 8f. 8 Vgl. van der Kooij 1981, S. 84.
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mung zum Bösen immer drängender und fragwürdiger. Die moderne Exegese hat ihren Beitrag zur Lösung dieses Problems geleistet, indem ihr zufolge der Bericht von Jesajas Sendung keine allgemeingültige Aussage über das Verhältnis von menschlicher Schuld und göttlicher Ursächlichkeit macht. Der »Verstockungsauftrag« sei vielmehr nur innerhalb des näheren und weiteren Kontextes des Jesajabuches angemessen zu verstehen. Der folgende knappe Überblick über die auf dieser Prämisse aufbauenden Erklärungsversuche ist eher systematisch als chronologisch angeordnet. Zunächst gilt es zu bedenken, dass Schuld im biblischen Verständnis immer schon aus sich heraus zum Gericht wird. Gott legt Israel nicht etwa von außen eine Strafe auf. Vielmehr wird die Weigerung, die Botschaft der Propheten im Allgemeinen anzunehmen, dem Volk von innen her zum Verhängnis. Somit trägt Jesajas Beauftragung in Kap. 6 ihre fatalen Folgen von Anfang an in sich. Seine Verkündigung führt durch die Nicht-Annahme von Seiten der Adressaten zur Vollstreckung des Gerichts und findet so ihre Bewahrheitung. Dass es Israel so ergehen wird, wurde dem Propheten schon bei seiner Sendung von Gott mitgeteilt. Des Weiteren hat es im Durchgang durch die Prophetien von Jes 1–39 nie den Anschein, Jesaja ginge davon aus, dass das Volk seine Botschaft wegen einer göttlichen Vorherbestimmung nicht begreifen könne und es deshalb unweigerlich seinem Ende entgegengehe. Der Verstockungsauftrag kann deshalb nicht das prophetische Auftreten des Jesaja ben Amoz als Ganzes kennzeichnen. Zudem ist 6,9–10 nicht isoliert von 8,(11).16–18 zu betrachten, denn der eigenartige Befehl bezieht sich auf die Verkündigung Jesajas während des syrisch-efraimitischen Krieges und ist damit nur eine Erklärung post factum für dessen Scheitern in jener politischen Krise. Diese kontextbezogenen Überlegungen haben letztlich zur dominierenden These einer »Rückprojizierung« geführt: Zum Ende seines prophetischen Wirkens soll Jesaja die Abweisung seiner Botschaft in den Moment seiner Berufung hineinverlegt und seine Sendung aus diesem speziellen Blickwinkel heraus schriftlich niedergelegt haben. Damit stelle der Verstockungsauftrag nichts anderes als die bloße Wirkung der jesajanischen Predigt dar, und zwar als das von Gott anvisierte Ziel. Diese Deutung ist jedoch häufig mit allzu stark psychologisierenden Aspekten belastet worden: Der frustrierte Prophet soll demnach die Verstockung des Volkes als ein Risiko aufgefasst haben, das Gott bei seiner Beauftragung bewusst in Kauf genommen habe. Damit hätte sich Jhwh selbst zu einem verborgenen Gott gemacht (8,17). Zumindest teilweise gehört diese Auslegung einer Exegesetradition an, die für sich in Anspruch nimmt, die innere Entwicklung der Propheten aus deren Orakeln ableiten zu können. Eine Variante dieser Interpretation sieht nicht den Propheten, sondern die nachexilische Überlieferung als Urheber dieser Rückprojektion an. Sie habe in Jes 6 (als Relecture oder Eigentext) die Katastrophe von 586 als Ziel und Werk Jhwhs dargestellt. Als Gegenreaktion auf diese »Rückprojizierungsthese« bleibt der Ruf nach einer theologischen Würdigung unüberhörbar, die den Verstockungsbefehl nicht
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auf ein psychologisches Phänomen reduziert. So versucht man, dem schockierenden Auftrag einen Platz im umfassenden Plan Jhwhs mit Israel zuzuweisen, in dem auf das Gericht neues, bleibendes Heil folgt. Nach menschlichem Ermessen konnte es danach keine Zukunft mehr geben, wohl aber in der Perspektive des göttlichen Plans, der über alle geschichtlichen Brüche hinweg an sein Ziel gelangt. Hier spielen Begriffe wie »Jhwhs Ratschluss« (vgl. 5,19) und »Rest« (1,8–9; 4,3; 10,21; 11,11) eine wichtige Rolle. Die gängige Rückprojizierungsthese bedarf tatsächlich der Ergänzung und Korrektur. Jes 6 will nicht nur die Abweisung der prophetischen Predigt erklären, sondern auch Jesajas Erfahrung der Heiligkeit Jhwhs vermitteln, aufgrund derer er seine Sendung empfing. Die bestürzende Art der Begegnung mit dem »Heiligen« ist die historische, theologische und erzählerische Basis für den ebenso schockierenden Auftrag einer Verkündigung, die zur Verstockung führen soll. Jesajas Frage »Bis wann, o Herr?« (V. 11), die im Sprachstil der Klage formuliert ist, zeigt einerseits, dass er diesen Auftrag angesichts der göttlichen Heiligkeit als befremdlich erfährt, und andererseits, dass er das Ende des Gerichts auch im Interesse Gottes für möglich hält – war doch auch seine eigene Sündhaftigkeit durch Jhwhs Seraphim gereinigt worden (V. 7). So verstanden dient der Sendungsbericht entgegen der landläufigen Meinung nicht der Rechtfertigung Jesajas gegenüber dem Volk, sondern der Besinnung auf sein prophetisches Amt und sein Scheitern. Er richtet sich eher an den Kreis der Anhänger, der seine Botschaft sehr wohl angenommen hat und zu dem sich auch die Redaktion des Buches zählt. Damit ist auch die wichtige Stellung dieses Kapitels im Gesamtbuch erfasst. In diesem »resultativen Geschichtsverständnis« wird man der Dynamik gewahr, die die jesajanische Überlieferung in Gang setzte und letztlich für das Buch als Ganzes sorgte. Nicht von ungefähr orientiert sich der Verkündigungsauftrag zu Beginn der zweiten Buchhälfte (40,1–11) an der Sendung Jesajas. Darüber hinaus haben wichtige Themen des Jesajabuches ihre Wurzeln in Jes 6: mit Blick auf Gott die Titel »der Heilige Israels« (vgl. 1,4) und »Jhwh König« (24,23; 33,22; 41,21; 52,7); in Bezug auf Israel »(nicht) hören, sehen und verstehen« (1,3.20), «Verwüstung« und »Einöde« (49,8.19; 54,1.3; 61,4; 62,4; 64,19), aber auch »zurückkehren« (1,27; 9,12; 10,21–22; 19,22; 31,6; 35,10; 44,22; 49,5–6; 59,20) und »Same« (d.h. »Nachkommenschaft«: 1,4; 41,8; 43,5; 44,3; 45,19.25; 48,19; 53,10; 54,3; 55,10; 57,3–4; 59,21; 61,9; 65,9.22–23). Somit besitzt das widersprüchliche Ziel, das Jhwh der Verkündigung des historischen Jesaja mit auf den Weg gab (6,9–10), eine paradigmatische Funktion für das gesamte Buch. Nur wenn man dies übersieht, wird der Verstockungsauftrag zu einem theologischen Problem. Eine Analyse der kommunikativen Strategie, die nicht nur die Aktanten in den verschiedenen Großteilen, sondern auch die unterschiedlichen Adressaten in den Blick nimmt, ergibt, dass Jhwh durch den Prozess der Verstockung und deren Aufhebung die von ihm gewollte Ordnung der Welt in Gerechtigkeit verkündigt und verwirklicht.9 9 Vgl. Uhlig 2009.
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II. Szene Jesaja 7,1–25 Das nicht erbetene Zeichen: »Gott mit uns« In synchroner Betrachtungsweise besteht Kap. 7 aus einer Überschrift, die den Ausgang der feindlichen Invasion vorwegnimmt (V. 1), aus zwei Episoden einer Erzählung (V. 2–9 und V. 10–17) und drei abschließenden Orakeln (V. 18–20.21– 22.23–25). Die zweite Episode könnte den Eindruck erwecken, mit der ersten nur oberflächlich verbunden zu sein (V. 10: »Jhwh sprach weiter«). Doch bei genauerer Betrachtung scheint die zweite Episode die notwendige Voraussetzung der ersten zu sein. Denn diese führt die Auswirkung der Botschaft Jesajas auf Ahas nicht aus, obschon ihr Schluss, »Wenn ihr nicht vertraut, so habt ihr keinen Bestand!« (V. 9), auf eine Reaktion angelegt ist. Auf die Mahnung, einzig und allein Vertrauen garantiere bleibende Sicherheit, schweigt Ahas (V. 9). Als Jhwh ihn auffordert, sich ein Zeichen zur Bestätigung zu erbitten (V. 11), lehnt er dies ab (V. 12). Deshalb muss die Ankündigung eines von Gott auferlegten Zeichens folgen, wobei Jhwh jetzt nur noch durch den Mund des Propheten zu Ahas spricht (V. 13–17). Kurzum, die zweite Episode skizziert den Unglauben, der im davidischen Königshaus herrscht, wie die erste genau vor diesem Unglauben gewarnt hatte! Die zwei Episoden haben jeweils ein offenes Ende. Ahas antwortet weder auf die Mahnung zum Glauben (V. 7), noch auf die Ankündigung des Immanuel (V. 17). Die drei folgenden Orakel arbeiten das sicher zu erwartende Strafgericht heraus (V. 18–20.21–22.23–25). Sie sind kompositorisch notwendig, da V. 17 nach einer weiteren Ausführung verlangt. Auf die Frage, was die Tage bringen werden, »wie sie nicht gekommen sind seit dem Tage, an dem Efraim sich von Juda trennte«, lautet die vorläufige Antwort: »den König von Assur«. Die Prägnanz des Ausdrucks erhöht die narrative Spannung. Die Anlage der gesamten Erzählung verkompliziert sich durch die wechselnde Perspektive von Heil und Unheil. Das Zeichen, das mit der Verurteilung von König Ahas für dessen Unglauben einhergeht, ist ein heilvolles »Gott mit uns« (V. 14), das in der Verwüstung der angreifenden Nationen Wirklichkeit wird (V. 16). An diesem Zeichen, dem Immanuel, wird aber auch das weitere Schicksal Judas sichtbar, nämlich die Not, die der König von Assur auf Gottes Geheiß über das Volk und das Haus David bringen wird (V. 15.17). Das Zeichen enthält also in seiner Erfüllung ein weiteres Zeichen. Die Geburt des Kindes und sein Name, Immanuel, verheißen, dass Jhwhs Gegenwart bei seinem Volk (»Gott mit uns«) in der Katastrophe sichtbar wird. Somit liegt in der Einbettung des Heilszeichens in den Gerichtskontext die eigentliche Spannung der Erzählung und ihre einzigartige Botschaft. Die drei Sprüche (7,18–25), die jeweils durch »geschehen wird es an jenem Tag« eingeleitet werden, beschreiben die Folgen, die das Immanuel-Zeichen zeitigen wird. Die enge Verbindung der drei Motive, Invasion (V. 18–20), Noterfahrung (V. 21–22) und Landverwüstung (V. 23–25), macht es schwierig, einen einzelnen Vers als ursprünglichen Schluss der Ankündigung auszuweisen. Insgesamt wird die assyrische Invasion mit ihren Folgen für das Land und seine Bevölkerung
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beschrieben. Dabei wird »Immanuel« als die im Lande übrig gebliebene Bevölkerung interpretiert: Analog zum Immanuel wird auch sie sich von »Sahne/Rahm und Honig« ernähren. Auf diese Weise lernen sie, »das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen« (V. 15–16). Zugleich stellt eine große Anzahl wörtlicher Übereinstimmungen mit Jes 5 die Verwüstung des Landes als die Erfüllung der Prophetie vom Weinberg dar. Die Entstehung von Jes 7 wird mehrere Phasen umfasst haben. Diese Ansicht stützt sich auf die komplexe Bedeutungsstruktur des Erzählkerns (V. 1–17) und die drei hinzugefügten Orakel (V. 18–25). Die Überschrift führt König Ahas als den Sohn des Usija ein und knüpft so an die vorhergegangene Geschichte an (vgl. 6,1). Sie schaut auf den Beginn des syrisch-efraimitischen Krieges und seinen Ausgang zurück, und zwar unter dem Aspekt der Unüberwindbarkeit Jerusalems. Da diese im weiteren Verlauf der Erzählung aber keine Rolle mehr spielt, ist die Endgestalt der vorliegenden Erzählung später anzusetzen als die Zeit der darin geschilderten Ereignisse. Die erste Episode, in welcher der Prophet dem König angesichts des feindlichen Feldzuges Mut zuspricht (V. 2–9), weist kaum Spuren späterer Überarbeitung auf. Nur V. 8–9a gelten teils oder auch ganz als vaticinium ex eventu über den Fall des Nordreiches. Zwar übersteigt V. 9b mit seiner theologischen Aussage, »Wenn ihr nicht vertraut, so habt ihr keinen Bestand«, die historische Situierung, darf aber als Clou der Erzählung vom Treffen des Propheten mit dem König nicht fehlen. Die zweite Episode, die Ankündigung des Immanuel-Zeichens (V. 10–17), hat öfters dazu geführt, die Perspektiven von Heil und Unheil zum Kriterium für eine literarhistorische Einteilung des Kapitels zu machen. Doch im Lichte heutiger Erkenntnisse über das Auftreten der vorexilischen Propheten, die sowohl Unheil als auch Heil als Parameter der göttlichen Bemühungen um Israel ankündigten, ist dies nicht mehr tragfähig. Nur V. 15, eine Kombination von V. 22b und V. 16a, scheint ein Zusatz zu sein. Er verleiht dem Immanuel-Zeichen einen neuen Inhalt und unterbricht die Verbindung von V. 14b mit V. 16 (vgl. 8,3–4). Überdies erkennt man am Schluss von V. 17 (»den König von Assur«) eine spätere Bearbeitung, die eine geschichtliche Konkretisierung beisteuert. Die drei abschließenden Orakel (V. 18–20.21–22.23–25) werden aufgrund der gleichen Einleitungsformel ganz oder teilweise der Redaktion als eine Ausarbeitung von V. 17 zugewiesen. Die beschriebene Invasion passt gut zum Feldzug des assyrischen Königs Sanherib im Jahre 701 (vgl. Jes 36–37). Zugleich stellt eine große Anzahl wörtlicher Übereinstimmungen mit Jes 5 die Verwüstung des Landes als die Erfüllung der Prophetie vom Weinberg dar. III. Szene Jesaja 8,1–18 Die Weisung versiegelt unter Jesajas Jüngern In synchroner Betrachtungsweise bildet Kap. 8 auf der redaktionellen Schlussebene einen zusammenhängenden Ich-Bericht (V. 1.3.5.11.16–18). Unter diesem Gesichtspunkt ist der Text ein Pendant zu Jes 6. Mit Jes 7 ist er durch das Geburts-
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motiv, die Namensgebung und -deutung (V. 1–4; vgl. 7,10–17) sowie durch den Kontext des syrisch-efraimitischen Krieges verbunden, der sich bereits in einer fortgeschrittenen Phase befindet. Der Untergang von Damaskus und Samaria ist näher gekommen (V. 4; vgl. 7,7–9.16), das Gericht über das davidische Königshaus wird nicht mehr genannt (vgl. 7,10–17), wohl aber das über ganz Israel und Jerusalem (8,14). Insbesondere legt der Prophet nun sein Zeugnis in schriftlicher Form fest (8,16–18). Der kompositionelle Charakter von Jes 8 führt dazu, dass der Schluss der Perikope in der Forschung sehr unterschiedlich bestimmt wird. Unserer Auffassung nach endet die Immanuelschrift in 8,18, während V. 19–22 einen Metatext darstellen, der in V. 20 mittels Umkehrung des Wortpaars »Bezeugung/Weisung« aus V. 16 auf eben diese Schrift Bezug nimmt. Die Einheit von 8,1–18 beruht einerseits auf der Umklammerung durch Jesajas Erzählung von der Geburt eines Sohnes (V. 3) und der Interpretation der eigenen Existenz sowie die seiner Kinder (V. 18), andererseits auf der Verbindung zwischen Gottes Befehl, etwas aufzuschreiben (V. 1), und Jesajas Absicht, sein Zeugnis für seine Schüler festzulegen (V. 16). Die Wortereignisformel sorgt für die Einteilung in drei Abschnitte (V. 1–4.5–10.11–18). Das erste Segment (V. 1–4) verbindet Jhwhs Befehl, ein öffentliches Zeichen zu setzen (V. 1–2), mit einer Geburtserzählung inklusive Namensgebung (V. 3–4). Das Zeichen wird erst mit der Namensgebung des Kindes ausgelegt. Das zweite Segment (V. 5–10) besteht aus einer Unheilsankündigung gegen Juda in der klassischen Form einer Anklage (V. 6: »Weil dieses Volk«) mit göttlichem Eingreifen (V. 7–8: »Darum, siehe, der Herr«) und einem Orakel gegen die »Völker/Fernen der Erde« (V. 9–10). Letzteres ist wohl gegen Damaskus und Samaria gerichtet (vgl. V. 4.6; überdies verweist V. 10 auf die Verschwörung dieser beiden Völker gegen Juda in 7,1–17 mittels der Ausdrücke »Plan« [7,5], »es kommt nicht zustande« [7,7] und »Immanuel« [7,14]). Das Orakel könnte sich aber auch auf Assur beziehen, dessen Feindschaft gegen Juda die vorhergehenden V. 7–8 dominiert. Der Ausdruck »alle Fernen der Erde« (V. 9) bezieht sich auf die Geschichte Israels, mit dem Gott sich verbunden hat (V. 10: »Ja, Gott ist mit uns«), und bringt alle diese Feinde auf einen Nenner. Der Spruch ist in weisheitlichem Stil aus Antithesen aufgebaut, die von der Kluft handeln, die zwischen menschlichem Denken und göttlichem Lenken besteht. Das dritte Segment (V. 11–18) besteht aus einem Gotteswort an Jesaja (V. 11– 15) und einer persönlichen Erklärung des Propheten (V. 16–18). Den inneren Zusammenhang des Gottesspruches stellt der Gedanke der persönlichen Entscheidung her: Jhwh fordert Jesaja und die Seinen auf, sich nicht auf die Seite des Volkes, sondern auf die Gottes zu stellen (V. 12–13), denn »die beiden Häuser Israels/die Bewohner Jerusalems« werden zu Fall kommen (V. 14–15). Der Prophet akzeptiert Gottes Mahnung, indem er seine Botschaft in Form einer Schrift seinen Schülern anvertraut. So kommt es paradoxerweise – gerade aufgrund des göttlichen Gerichts – zur schriftlichen Überlieferung der prophetischen Orakel (V. 16).
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Die Schrift stützt sich auf Jesajas Deutung des Strafgerichts als ein unwiderrufliches Sich-Verbergen Jhwhs vor seinem Volk (vgl. 6,9–10). Jesaja sieht das Gericht nicht als das Ende seiner prophetischen Aufgabe an, sondern als die nun noch aufgeschobene Bestätigung seiner Wahrhaftigkeit. Auf das Eintreten des Wortes warten er und seine Schüler (V. 17). Die Erwartung gründet auf dem Zeichencharakter des Propheten und seiner Kinder (V. 18). Aufgrund dieses Schlusses spielt die Prophetie von 8,1–18 eine wichtige Rolle für den Fortgang des Jesajabuches. Die ganze Szene wird diachron teils in der Verkündigung Jesajas, teils in älteren Phasen der Immanuelschrift verankert. Die Zeichenhandlung (V. 1–4) und die Einordnung der Jüngerlehre (V. 11–18), beides Ich-Berichte, werden im Kern dem historischen Propheten zugeschrieben, das Völkerorakel (V. 5–10) spiegle dagegen die Perspektive der Redaktion wider. Der syrisch-efraimitische Krieg dominiert die ganze Szene in seinem theopolitischen Verlauf (V. 7–8). Es ist gerade dieser Krieg, der die Kluft zwischen dem Propheten und seinen Zuhörern vertieft (V. 11–15), so dass Jesaja seine Botschaft für die Zukunft in seinen Jüngern zu sichern versucht (V. 16–18). Jedenfalls kann die Zeichenhandlung mit Geburt und Namensgebung (V. 1–4) in der vorliegenden Form nicht der mündlichen Überlieferung entstammen, denn dafür ist die gesamte Passage viel zu knapp formuliert. Im Hintergrund stehen vermutlich zwei Ereignisse: das Aufstellen einer Schreibtafel mit einem politischen Merksatz (V. 1–2) und die Geburt eines Sohnes, der eben dieses Motto als Namen empfängt (V. 3–4). Auf Endtextebene sind beide Ereignisse ineinandergeschoben: Die Zeichenhandlung bereitet die Namensgebung vor, während das Vorhaben, sich Zeugen zu nehmen (V. 2), auf die Einsetzung der Jünger als Zeugen vorausweist (V. 16). Diachron betrachtet verweist der Name aufgrund seiner Bedeutung (d.h. wegen des angekündigten Endes von Damaskus und Samaria) auf eine frühe Phase in der Verkündigung Jesajas, als die Adressaten möglicherweise noch überzeugt werden konnten. Auch das Völkerorakel (V. 5–10) ist zweigeteilt. Die Anklage gegen Jerusalem in V. 6 spiegelt die Drohung von Damaskus und Samaria in V. 1–4 wider (vgl. 7,1–9). Die Gerichtsankündigung gegen Juda in V. 7–8 bezieht sich auf die spätere Erfahrung eines das ganze Land verheerenden Feldzuges. Sie mündet in einen Spruch gegen die Völker, der Jhwhs Übermacht über die ganze Erde zugunsten Israels proklamiert (V. 9–10). Die Redaktion hat hier sowohl die Allianz von Damaskus und Samaria als auch die Weltmacht Assur im Blick. Diese Prophetie ist zu einer Geschichtstheologie unter dem Schlagwort Immanuel, »Gott mit uns« (zwei Mal), angewachsen. Die Bestellung der Jünger (V. 11–18) kann nicht auf die Verbindung von zwei ursprünglich selbstständigen Prophetien zurückgehen (einem Gerichtswort in V. 11–15 und einem Lehrsatz in V. 16–18), denn die Entfremdung zwischen dem Propheten mit seinen Anhängern auf der einen und dem Volk auf der anderen Seite bildet die Grundlage der ganzen Passage. Aufgrund zahlreicher Verbindungen mit Jesajas Gotteserfahrung und dem Verstockungsauftrag in Kap. 6 ist der
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Text redaktionell in der Immanuelschrift verankert. Möglicherweise waren V. 16–18 der redaktionelle Schluss der Immanuelschrift. Dann würde es sich um eine (nach)exilische Reflexion handeln. Wenn man aber die Zusammenfügung von 7,1–17 und 8,1–18 mit Jes 6 in die Nähe des Auftretens von Jesaja ben Amoz stellt, würde V. 18 das Selbstverständnis im Nachklang der ersten Generationen darstellen. In diesem Fall käme man auf das 7. Jh. als wahrscheinlichen Abfassungshorizont. Epilog Jesaja 8,19–10,4 Geburt des gerechten Davidssohnes Eine redaktionelle Einschreibung fügte der Immanuelschrift einen neuen Schluss hinzu. Die Abgrenzung zu 9,7 ist eindeutig, jene zu 8,18 ist dagegen fließend, denn 8,19–20 gehen auf die vorangehenden Verse ein. Bei den Angesprochenen von V. 19 handelt es sich um dieselben wie in 8,12–13, während V. 20a auf V. 16 Bezug nimmt. Die V. 19–20 werden in V. 21–22 weiter ausgeführt. Weil man »seinen Gott« durch Geisterbefragung zu beeinflussen sucht, anstatt sich durch »die Weisung und die Bezeugung« (V. 19–20a) leiten zu lassen, gerät man in Not und »verflucht seinen Gott« (V. 21). V. 19–20 und V. 21–22 verbindet die Enttäuschung der zitierten Sprecher, dass ihre geheimen Praktiken nicht die Zauberkraft besitzen, um Heil zu schaffen. Ist dieser Zusammenhang erkannt, wird deutlich, dass sich 8,23–9,1.(6) mit dem Thema »Finsternis versus Licht« gut daran anschließen. Doch auch dieses Segment ist keine ursprüngliche Einheit: Die Anrede Jhwhs ohne Vokativ (9,2–3), die nicht vorbereitete Rede Gottes in der 3. Person (9,6), das nicht näher definierte »Uns« (9,5) und die gattungsmäßigen Unterschiede belegen diese Einschätzung. Der buchredaktionelle Charakter der ganzen Passage ist diachron betrachtet bereits an ihrer literarischen Gestalt abzulesen (8,19–21bβ: normale Prosa; V. 21bγ–23: gehobene Prosa [Parallelismus]; 9,1–6: Poesie mit dichterischem Gleichmaß). Die verschiedenen Stile korrespondieren inhaltlich mit einer Belehrung für Jesajas Schüler (8,19–20), einer Not- (8,21–22) und einer Heilsschilderung (8,23– 9,6). Letztere besteht aus einem Vergleich (8,23), einem fragmentarischen Danklied (9,1–4) mit Bericht über die Geburt eines Thronnachfolgers (9,5) und einem ihm gewidmeten Königsorakel (9,6). Die Belehrung und Notschilderung (8,19–22) sind in Sprechrichtung und Aufbau mit 8,12–15 im ersten Schluss der Immanuelschrift verwandt. Die Adressaten vernehmen, wie sie sich im Umgang mit Jhwh zu verhalten haben, und zwar im Gegensatz zu dem, was andere ihnen vorschlagen. Das Volk, das sich in V. 19 auf seinen Gott beruft, ist qua Verhalten mit dem identisch, das in V. 11 verächtlich »dieses Volk« heißt. Auf die eigentliche Mahnung, »Hin zur Weisung und zur Bezeugung!« (V. 20; vgl. die Imperative in V. 12–13), folgt die Schilderung einer Not, die Konsequenz des Fehlverhaltens ist (V. 21–22; vgl. V. 14–15). Das Unheil besteht zunächst in der Störung der Gottesbeziehung: »man verflucht seinen Gott« (V. 21), zu vergleichen mit »er wird zum Stein, an dem man anstößt« (V.
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14). Auch die Folgen sind parallel angeordnet: »in Finsternis hineingestoßen« (V. 22) stimmt mit »fallen und zerbrechen, sich verstricken und verfangen« (V. 15) überein. Die Beschreibung des Heils (9,1–6) schließt sich durch einen Vergleich (8,23) an die Notschilderung (8,21–22) an. Die redaktionelle Bearbeitung hat hier ihre Spuren hinterlassen: Dies betrifft zunächst den enigmatischen Prosasatz, der das Ende der Dunkelheit ankündigt (V. 23a), danach den Vergleich, der die zukünftige Schicksalswende für das Volk im Allgemeinen (9,1) mit Hilfe von geographischen Namen für das Nordreich konkretisiert (8,23abβ). Das Danklied (9,1–4) bleibt fragmentarisch. Sein Hauptthema, die Vermehrung der Nation (V. 1–2) nach dem Ende der Unterdrückung (V. 3–4), leitet die Ankündigung der Geburt eines Thronfolgers und seiner Thronnamen ein (V. 5). Es mündet in ein Königsorakel, das dem Haus David fortwährenden Frieden und Gerechtigkeit verheißt (V. 6). Das Orakel enthält eine neue, aktualisierende Interpretation des Immanuel und dient der anwachsenden Immanuelschrift als neuer Schluss. Exkurs: die Thronnamen in Jes 9,5 Die Diskussion um die Thronnamen spitzt sich auf die Frage zu, ob sie den neuen Herrscher meinen oder ob sie verdeutlichen wollen, wie Gott durch dessen Regentschaft auftreten wird. Die Antwort wird noch schwieriger, wenn man in Rechnung stellt, dass es ägyptische Parallelen für diese Namen gibt. Dabei sollten jedoch auch die Unterschiede mitbedacht werden, denn nach ägyptischer Vorstellung ist der Pharao – anders als der König in Israel – die leibliche Erscheinung der Gottheit. Darum legen einige Exegeten die Thronnamen, die grammatikalisch nur schwer zu deuten sind, derart reduktiv aus, dass sie auf judäische Könige applizierbar bleiben. Nach anderen gilt der altorientalische, sakrale Hintergrund des Königtums auch für Israel, mit der Einschränkung, dass die göttlichen Titel des Throninhabers hier nicht ontologisch, sondern rein funktional aufzufassen sind.10 Im Folgenden werden zunächst die Thronnamen selbst erklärt: –– »Wunderplaner« (≈[wy alp): Angesichts der Art und Weise, wie Jesaja über Jhwhs Rat in der Geschichte mit Israel spricht (14,24.27; 19,12.17; 23,9; 25,1; 28,29; 29,14), und mit Blick auf den allgemein biblischen Gebrauch des Begriffs »Wunder« (alp) für die Werke Gottes (Ex 15,11; Ps 77,12.15; 78,11–12; 88,13; 89,6; Klgl 1,9; Sir 11,4; 43,25) bedeutet der Titel nicht »wunderbarer Ratgeber« (so ElbÜ, EÜ, NZB), sondern »Planer wunderbarer Taten«. Eigentlich passt der Begriff »Ratgeber« (≈[y) gar nicht zum König, sondern zu seinem Berater (Mi 4,9; Ijob 3,14). In dieser Verbindung können die beiden Worte eigentlich nur Jhwh meinen. –– »Starker Gott« (rwbg la): Diese Übersetzung stützt sich auf den Gebrauch der zwei Begriffe an anderen Stellen (»stark« als attributive Bestimmung zu 10 Wildberger 1972, S. 380–385.
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II. Auslegung von Jesaja
»Gott«: Dtn 10,17; Jes 10,21; Jer 32,18; Neh 9,32; vgl. 1 Sam 14,52). Der Titel gehört zum Topos der göttlichen Stärke, die sich sowohl in der Schöpfung als auch in der Geschichte zeigt (Dtn 3,24; Jes 11,2; 33,13; 63,15; Jer 10,16; 16,21; Mi 3,8; Ps 21,14; 24,8; 65,7; 89,14; 145,11; Ijob 12,13; Spr 8,14). –– »Vater der Ewigkeit« (d[yba): Der Vatertitel bezeichnet nirgends die Position des Königs in Israel, wohl aber die Funktion Gottes mit Blick auf sein Volk (Dtn 32,6; Jes 63,16; 64,7; Mal 1,6; in Vergleichen: Ex 4,22; Jes 1,2; 45,9–11; Jer 3,19; 31,9; Hos 11,1; Ps 103,13; Spr 3,12). In der Theologie des davidischen Hauses gilt Jhwh auch als Vater des Königs (2 Sam 7,14; Ps 2,7; 89,27f.). Für ihn bittet man Gott um ein langes Leben (2 Sam 7,16; Ps 21,5; 72,5.17; 132,11–14). Die massoretische Schreibweise des Titels als ein Wort weist ihn als Eigennamen aus, wobei »Vater« das theophore Element darstellt. Im Rahmen dieser Namensgebung tragen beide Teile das Ihrige zum Inhalt des Namens bei (vgl. Abihail »mein Vater ist Stärke«; Abihud »mein Vater ist Herrlichkeit«; Abner »[mein] Vater ist Leuchte«; Abschalom »[mein] Vater ist Frieden«). So zeigt dieser dritte Thronname an, dass die Vaterschaft Gottes durch seine Ewigkeit qualifiziert ist. Man hat hierbei an Gott als Schöpfer gedacht, aber die Vaterschaft Jhwhs bezieht sich fast ausschließlich auf seine Fürsorge für Israel. –– »Fürst des Friedens« (µwlv rc): »Fürst« meint immer einen hohen Beamten, der unter dem König steht (2 Kön 11,14; Jes 10,8; 32,1; 34,12; 49,7; Jer 1,18; Ez 17,12; Hos 3,4; Am 1,15; Ps 148,11; Spr 8,15–16; Koh 10,16; Klgl 2,9; Dan 9,6.8; Esra 7,28; Neh 9,32). Der Begriff ist hier vermutlich gebraucht, um den Titel »König« zu vermeiden (V. 5). »Friede« fasst das zusammen, was ein König unter dem Segen Jhwhs zustande bringt (1 Kön 2,33; Jes 39,8; Mi 5,4; Ps 72,3.7; 1 Chr 22,9). Auffällig ist, dass hier zum ersten Mal im Jesajabuch das Wort »Friede« fällt, obwohl der Begriff schon zuvor mehrfach gepasst hätte (z.B. in Jes 2,1–5 oder 4,1–6). Zudem markiert der Terminus das Ende der zweiten Sammlung jesajanischer Prophetien (32,17f.) und steht auch am Abschluss von Protojesaja (39,8; vgl. 48,22; 52,7; 57,21; 66,12). Von daher kommt der erstmaligen Nennung von »Frieden« in 9,6 eine programmatische Funktion zu. Die hermeneutische Schwierigkeit der Thronnamen besteht darin, dass die ersten drei im Grunde genommen nur Gott und keinen menschlichen König meinen können. Einige alte Versionen haben das Problem auf ihre Weise zu lösen versucht. So bietet die LXX nur einen einzigen Titel: »Sein Name wird genannt: ›Engel des großen Rates‹. Denn ich werde Frieden über die Fürsten bringen«. Der Targum bezieht die ersten drei Namen auf Jhwh, den vierten auf den Messias: »Und sein Name wird vor dem Wunderplaner, dem starken Gott, der auf ewig besteht, genannt: ›Der Gesalbte, in dessen Tagen der Frieden über uns zunehmen wird‹« (Raschi folgt dieser Auslegung). Wahrscheinlich kam es bei der Auseinandersetzung mit der ersten Generation christlicher Autoren zu dieser Interpretation.11 11 Grelot 1979.
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Die literarhistorische Exegese bietet zwei Lösungen: Einigen Auslegern zufolge ist es nach altorientalischer Königsideologie aufgrund ihrer andersgearteten Auffassung von persönlicher Identität durchaus möglich, dass der Fürst die Namen jener Gottheit trägt, die er repräsentiert.12 Andere Exegeten sind dagegen der Ansicht, dass sich die Namen derart exklusiv auf Jhwh beziehen, dass sie kein neugeborenes Königskind meinen können. Zwar kannte Israel eine Kategorie von Namen, die eine Aussage über Jhwh bzw. Gott machen (mit dem theophoren Element -ja oder -el wie z.B. bei Jesaja oder Daniel), aber diese »theophoren Namen« qualifizieren ihre Träger nicht als göttlich. Die vier vorliegenden Thronnamen sind damit jedoch nicht zu vergleichen, da sie keine Personennamen, sondern Funktionstitel sind. Die Verbindung des Trägers zu diesen Namen hat ihren Grund in dem, was Gott an ihm bewirkt und was er für seine Amtsführung bedeutet (vgl. Namensänderungen in diesem Sinne in 35,8; 47,1.5; 48,8; 56,7; 61,3; mit Blick auf Jerusalem: 1,26; 60,14.18; 62,12). Daher ist die Frage, ob ein menschlicher König tatsächlich göttliche Namen tragen kann, mit Blick auf V. 5 falsch gestellt, denn drei der vier Funktionsnamen beschreiben Jhwhs Wirken in der Regierung des neuen Fürsten. Sie bringen einerseits zum Ausdruck, dass dieser – wie jeder andere König auch – in der kosmischen Ordnung in unmittelbarer Nähe zu Gott steht. Andererseits geben sie an, auf welche Weise Gott in der Regierung des Königs wirksam wird. Demgegenüber ist der vierte Name, »Fürst des Friedens«, ein eher menschlicher Funktionsname. Er federt den allzu göttlichen Charakter der ersten drei Namen ab und präsentiert den Träger als einen Sohn aus dem Geschlecht Davids. Die literarhistorische Bewertung setzte früher mit der These ein, bei 8,23–9,6 handle es sich um eine ursprüngliche Einheit, und zwar eine Heilsverkündigung für die von Assur im Jahre 732 annektierten Gebiete des Nordreiches (8,23: »Sebulon, Naftali«). Dieses Orakel sei zur Inthronisation eines neuen davidischen Königs in Jerusalem entstanden, bei dem es sich wahrscheinlich um Hiskija, den Sohn von König Ahas handelte (9,5–6).13 Diese Forschungsmeinung wurde im Laufe der Zeit modifiziert. Der fragmentarische Charakter einiger dieser Verse lässt die Herleitung aus dem mündlichen Vortrag kaum zu. In 9,2–3 wird Jhwh ohne Namen angesprochen, in 9,5–6 kommt ein nicht näher bestimmtes »Wir« zu Wort. Während 8,23–9,4 eher nordisraelitisches Kolorit aufweist, dominiert in 9,5–6 die Jerusalemer Tradition. Gegen eine Abfassung im letzten Drittel des 8. Jh. spricht zudem, dass die Aussicht auf einen Thronwechsel in Jerusalem der Bevölkerung des Nordreiches in den Jahren vor dem Untergang (722) kaum hätte Hoffnung geben können. Als Entstehungszeit dieser Passage in ihrer jetzigen Gestalt kommt eher die Regierung Joschijas in Frage (639–609), denn als der Untergang Assurs absehbar war, begann dieser König, dem Territorium Judas Teile des untergegangenen 12 Wildberger 1972, S. 380–389. 13 Vgl. Alt 1953.
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Nordreiches einzuverleiben (2 Kön 23; 2 Chr 34). Manche Exegeten setzen die Endgestalt dieser Verse noch später an, und zwar am Ende des Exils bzw. in einem Milieu zur Zeit des Zweiten Tempels, in dem die Jerusalemer Königsideologie fortlebte. Als Begründung wird angeführt, dass sowohl die Unterdrücker als auch der Königssohn namenlos bleiben und die Davidsverheißung zeitlose Geltung besaß (siehe u.a. die Erwartungen, die sich an Serubbabel knüpften). Als Fazit kann gelten: Die Passage besteht aus Elementen, die zum Teil auf einmalige historische Begebenheiten zurückgehen (8,19–22: die Opposition gegen die Schüler Jesajas; 8,23: die Unterwerfung des Nordreiches durch Assur), aber auch zeitübergreifende Vorstellungen Israels benutzen (9,1–4: »der Tag von Midian« als Chiffre für Jhwhs Auftreten gegen feindliche Völker; 9,5–6: die Verheißung für das Haus David). Da schon die vorausgegangene Passage die Stellung des Propheten und seiner Schüler im Plan Gottes zum abschließenden Thema der Immanuelschrift machte (8,16–18), müssen die Redaktoren des Epilogs (8,19–9,6) noch später angesetzt werden. Auch sie hoffen auf einen sichtbaren Erfolg der jesajanischen Verkündigung: »Der Eifer von Jhwh Zebaot wird dies tun« (9,6). So erlangte die Perikope eine besondere Bedeutung während des Exils und in der Zeit des Zweiten Tempels. Anhang Jesaja 9,7–10,4 Zorn gegen Efraim und Wehe den Frevlern Jhwhs Strafgericht über Efraim ist das Thema dieses Abschnitts (vgl. »Efraim« in Kap. 7 passim). Das Urteil trifft Efraim nicht als fremde Nation, sondern als Brudervolk, das ebenfalls Jhwh verpflichtet ist (vgl. »[Jakob]/Israel« in V. 7.11.13.18; »das Volk« in V. 12.15). Zwar hatte das Gericht in Efraim schon zugeschlagen, aber das Volk nahm es sich nicht zu Herzen (9,11.16.20; 10,4) und hat somit noch einen »Tag der Heimsuchung« zu erwarten (10,3). Der als Weheruf stilisierte Sündenkatalog aktualisiert die Immanuelschrift für die Leserschaft des Buches (10,1–2). Der Text ist durch einen Refrain in vier Strophen gegliedert (V. 11.16.20; 10,4: »Bei all dem hat sich sein Zorn nicht gewandt, und noch ist seine Hand ausgestreckt«). Die mancherorts vorgeschlagene literarkritische Umstellung von 10,1– 4 (»Wehe« in 10,1) zu den Wehesprüchen in 5,8–24, wie auch die Umstellung von 5,25–30 (»Zorn/Hand« in 5,25) zum Kehrversgedicht in 9,7–20 werfen Probleme auf, so dass es sich empfiehlt, die Anordnung des Endtextes beizubehalten. Die interne Struktur der vier Strophen, die jeweils dem Refrain vorausgehen, ist sehr disparat. Die erste Strophe (9,7–11) ist von zwei göttlichen Haupthandlungen geprägt: »Der Herr sandte ein Wort gegen Jakob« (V. 7) und »Jhwh erhöhte die Gegner Rezins gegen es« (V. 10). Der ersten Handlung ist die Reaktion des Volkes untergeordnet (V. 8–9). Die zweite Strophe (9,12–16) ist durch das Scharnierwort »umkehren« mit der ersten verbunden (V. 11: »hat sich nicht gewandt«; V. 12: »kehrte nicht um«). Diese Strophe stellt die Handlungsweise des Volkes der Reaktion Gottes zweifach gegenüber (vgl. V. 12 mit V. 13–14, V. 15 mit
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V. 16). Die dritte Strophe (9,17–20) besteht aus zwei syntaktischen Sequenzen (V. 17 und V. 18–20 [»Durch den Grimm Jhwhs Zebaot«]). Die vierte Strophe (10,1– 4) weist keine diskursive, sondern eine dialogische Struktur auf (syntaktische Sequenzen fehlen). Nach dem Weheruf (V. 1–2) folgen zwei Fragen (V. 3). Die Antwort erfolgt in Form eines Ausrufs (V. 4a). Man pflegt auch diese Passage aus der Verkündigung Jesajas, meist während des syrisch–efraimitischen Krieges und seinen unmittelbaren Folgen, herzuleiten. Die Passage atmet das Flair einer »Geschichte des gerechten Gerichts über Israel« aus (nach)exilischer Perspektive. In der erzählten Zeit hat die Passage ihren Ort nach dem Verstockungsauftrag im Zuge der Tempelvision (6,10) sowie zwischen dem Untergang Samarias (722) und dem zu erwartenden Ende Judas. Falls die Immanuelschrift im Kern auf den Schülerkreis um Jesaja zurückgeht und ihr Grundriss in der Zeit Joschijas entstand, kann der sie umgebende Rahmen, zu dem auch 9,7–10,4 gehört, das Ergebnis dieses ein Jahrhundert dauernden Prozesses sein. Das Ziel der Redaktion wäre es gewesen, ihren Adressaten die Zukunft vorzuhalten: »Und was wollt ihr tun gegen den Tag der Heimsuchung?« (10,3). Theologischer Ertrag zum II. Akt (Jes 5,1–10,4) Das Thema »Gottes und Israels Handeln« wird in dieser Komposition entfaltet. Das Weinberglied (5,1–7) bringt neue Elemente in die theologische Diskussion ein. So ist Jhwh sowohl der Winzer, der in großer Fürsorge für seinen Weinberg einsteht, als auch derjenige, der ihn einzureißen droht. Zudem wird der Gegensatz zwischen Gottes hoher Erwartung und der enttäuschenden Qualität der Trauben, d.h. Israels Handeln, mit dem Motto »Rechtsbruch statt Rechtsspruch, Hilfsgeschrei statt Rechtsverleih« (V. 7) auf den Punkt gebracht. Danach wird das Thema durch drei Episoden intensiviert (6,1–8,18). Ging es im ersten Akt mehr darum, wie sich Jhwh und sein Volk verhalten (1,2–4,6), schreiben hier beide gemeinsam Geschichte. Die Vision des Propheten (Kap. 6) stellt der Heiligkeit Jhwhs die Dekadenz Israels gegenüber und erweist Jesajas paradoxe Situation als von Gott gewollt und geplant. Sein Auftreten gegen die Sünden und das Fehlverhalten des Gottesvolkes soll dieses nicht zur Umkehr bewegen, sondern im Gegenteil es immer mehr in die Verstockung führen, d.h. in die Unmöglichkeit, sich für den richtigen Weg zu entscheiden. Diese Paradoxie nimmt in Jesajas Begegnung mit Ahas (Kap. 7) erstmals Gestalt an. Während Gott ein Zeichen von kosmischer Bedeutung anbietet, verwehrt sich der König dagegen, von Jhwh irgendetwas zu erwarten. Damit lehnt er implizit ab, dass Jhwh sein und Israels Gott ist. Die Ankündigung eines Sohnes aber, der den Namen »Gott mit uns« trägt, zeigt an, dass Gott sich weiter um Israel sorgt und kümmert (V. 15). In Kap. 8 findet diese Auseinandersetzung seine Fortsetzung: Weil »dieses Volk« die durch Gott garantierte Sicherheit verachtet und sich von anderen Mächten Hilfe erwartet (V. 6), liefert Jhwh es an den König von Assur aus. In der sicheren Erwartung des Untergangs Israels versiegelt der Prophet die »Bezeugung/Weisung« in seinen Schü-
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lern. Sie dienen Israel nun als Zeichen dafür, dass Jhwh sich verbirgt (V. 11–18). Die Verstockung betrifft also auch die nachfolgenden Generationen. Der Epilog (8,19–10,4) beschließt die drei Erzählungen mit dem Aufruf: »Hin zur Weisung und Bezeugung!« (8,20). Damit wird der Zustand des moralischen Untergangs Israels als bekannt vorausgesetzt und zugleich die Hoffnung auf den Sohn aus dem Geschlecht Davids freigesetzt, der mit seinem Programm »Recht und Gerechtigkeit« endlich Frieden über das von der Fremdherrschaft gepeinigte Land bringen wird (8,23–9,6). III. Akt Jesaja 10,5–11,16 Doppelbild konträrer Herrscherprofile Der Nachklang zur Immanuelschrift enthält unter synchroner Perspektive ein Drohwort gegen den König von Assur (10,5–34) und die Verheißung eines Reises Isaias, das Gerechtigkeit bringen wird (11,1–16). Kap. 10 schlägt einen weiten Bogen: Aufstieg, Rebellion und Untergang des Königs von Assur als »Anti-Jhwh«, der Gottes Plan in Schöpfung und Geschichte zunichte machen will. Kap. 11 skizziert das Gegenbild anhand des Sprosses Isais, der als Träger des Geistes Gottes dessen Plan für Israel und die Welt umsetzen wird. Die semantischen Verbindungslinien zwischen beiden Perikopen sind zahlreich. Zudem sind sie durch eine syntaktische Sequenz verbunden, die von 10,33 (»Siehe, der Herr, Jhwh Zebaot, schlägt mit Schreckensgewalt die Äste ab«) bis 11,9 reicht (»Ja, das Land wird voll von der Erkenntnis Jhwhs sein«). Das Drohwort schließt insofern an das vorangehende Kehrversgedicht (9,7–10,4) an, als auch dieses mit einem Wehespruch endet (10,1: gegen die Oberschicht Efraims) und 10,5 mit einem »Wehe« gegen Assur einsetzt. Der Zusammenschluss der zwei umfangreichen Prophetien in 10,5–34 und 11,1–16 zu einem gemeinsamen Bild über das definitive Eingreifen Jhwhs in den Lauf der Geschichte, worauf Jes 12 mit dem Danklied der Erlösten antwortet, lässt in diachroner Hinsicht vermuten, dass sich diese Endgestalt einer Redaktion der Kap. 1–12 zu einer ursprünglich selbstständigen Prophetenschrift verdankt, an der auch die Gesamtbuchredaktion beteiligt war. Die Weiterentwicklung dieser zwölf Kapitel zum Großjesajabuch nimmt ihnen nichts von ihrem eigenen Charakter. Assur kommt nach Kap. 12 weiter zur Sprache (14,25; 19,23–25; 20,1–6; 23,13; 27,13; 30,31; 31,8; Kap. 36–38) und das Reis Isais besitzt in Ausrüstung und Sendung viele Gemeinsamkeiten mit dem Knecht Jhwhs in Kap. 40–55 und Kap. 61. Dies bedeutet aber nicht, dass beide Gestalten zu einem einzigen Aktant im literarischen Drama des Buches verschmolzen worden wären. I. Szene Jesaja 10,5–34 Wehe dem Hochmut Assurs Die Haupteinteilung der Perikope in die drei Segmente V. 5–19, V. 20–26 und V. 27–34 stützt sich auf den Anfangsruf »Wehe« (V. 5) und die weiterführende Zeitangabe »es wird geschehen an jenem Tag« (V. 20.27). Die drei Passagen unterscheiden sich in Bezug auf ihre dialogische Struktur.
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Im ersten Segment (V. 5–19) treten Jhwh (V. 5–6.12) und (der König von) Assur (V. 8–11.13–14) als Sprecher auf, obgleich sie nicht miteinander reden. Der gesamte Abschnitt ist als Prophetie Jesajas als dem Sprecher im Buch an die Adresse Israels gestaltet, das den Adressaten des Buches darstellt. Keiner der beiden wird explizit genannt, doch verbirgt sich der Prophet hinter der Ankündigung dessen, was Jhwh gegen Assur unternehmen wird (V. 16–19), während das Volk durch die Ankündigung präsent ist, was Gott an der »gottlosen Nation, dem Volk meines Grimmes» (V. 6) und an Jerusalem (V. 12) tun werde. Die rhetorischen Fragen von V. 15 richten sich an eben dieses Publikum. Das zweite Segment (V. 20–26) enthält eine Heilsankündigung des Propheten, die sich durch den Begriff »Rest« auszeichnet (V. 20–23), und einen unterstützenden Gottesspruch, der nach der Zusage »Fürchte dich nicht, mein Volk!« das Ende des Zorns verspricht (V. 24–26). Der Begriff »Rest« fungiert zudem als literarisches Scharnier zwischen dem ersten Segment (V. 19: »der Rest der Bäume«) und dem zweiten (V. 20: »der Rest Israels«). Dem dritten Segment (V. 27–34) fehlt der explizit dialogische Aufbau seiner beiden Vorgänger, obgleich innerhalb der Beschreibung des feindlichen Aufmarsches Angehörige des Militärs miteinander sprechen (V. 29) und auch der Prophet zu den bedrohten Städten redet (v. 30). Die gesamte Szene (V. 28–32) richtet sich jedoch implizit an dasselbe Israel, das in der ganzen Perikope angesprochen war. Dies ergibt sich aus der Ankündigung des Eingreifens Jhwhs gegen »den Wald« (eine Metapher für Assur) in den Schlussversen (V. 33–34; vgl. V. 18–19). Nicht nur das Kapitel insgesamt, sondern auch die drei Segmente für sich (V. 5–19.20–26.27–34) sind diachron betrachtet das Ergebnis eines komplizierten Überlieferungs- und Redaktionsprozesses. Die Frage des ursprünglichen Grundbestandes bleibt umstritten. Die Ortsnamen in V. 28–29 weisen nicht von vornherein auf einen bestimmten assyrischen Feldzug hin, denn die genannten Städte wurden bei unterschiedlichen Gelegenheiten besiegt und verwüstet. Im ersten Segment (V. 5–19) steht der Selbstruhm des assyrischen Königs im syrisch-efraimitischen Krieg (734–732) im Hintergrund (V. 8–11). Diese Hybris ist eingebettet in Jhwhs Absichten (V. 5–7.12) und einen prophetischen Kommentar über die göttliche Geschichtslenkung (V. 15–19). Das skizzierte Bild trifft letztlich die Perspektive des Gottesvolkes auf alle assyrischen Könige, so dass der gesamte Abschnitt als eine theologische Reflexion auf den Untergang Assurs zu lesen ist. Sie gibt die Antwort auf die wichtige Frage, warum diese Weltmacht, die doch von Jhwh ausgesandt worden war, um das Gericht an Israel zu vollstrecken, selbst zu Fall gekommen ist. Das zweite Segment (V. 20–26) geht aus verschiedenen Gründen in Form und Inhalt auf die Redaktion zurück. Das Hauptthema, »ein Rest wird umkehren« (V. 21), ist eigentlich ein nachexilisches. Doch in der Textwelt dieser Kapitel spricht Jesaja in einer Zeit nach dem Fall Samarias, in der Zion noch der Unterdrückung durch Assur ausgeliefert ist. Die Situation würde auch zur Zeit Joschijas passen, als sich der assyrische Machtverlust bereits abzuzeichnen begann (ab 620; vgl. V. 25).
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Das dritte Segment (V. 27–34) verrät seinen redaktionellen Charakter durch abrupte Übergänge zwischen den Redeeinheiten (V. 27.28–32.33–34; die letzte ist als Pendant zu 11,1 gestaltet). Die mittlere Redeeinheit vom Aufmarsch eines namentlich nicht genannten feindlichen Heeres vor Jerusalem steht verbindungslos zwischen den beiden anderen. Wahrscheinlich sind hier Erinnerungen an unterschiedliche assyrische Strafexpeditionen zu einem einzigen Feldzug verdichtet worden. Für eine konkrete Datierung dieser Verse reichen die Anhaltspunkte nicht aus. II. Szene Jesaja 11,1–16 Jhwhs Geist für das Reis Isais Jes 11 ist in synchroner Hinsicht zusammen mit 10,5–34 zu einem Diptychon gestaltet worden, ohne dass ein Unterschied auf der Zeitebene festzustellen wäre. Der syntaktische Zusammenhang von 10,33–34 und 11,1–9 ergibt eine lange, durchgängige Ereigniskette: »Siehe, der Herr, Jhwh Zebaot, schlägt die Baumkrone ab […] Ein Reis wird hervorgehen […] Der Geist Jhwhs wird auf ihm ruhen […] Er wird richten in Gerechtigkeit […] Er wird das Land schlagen […] Der Wolf wird weilen […] Der Säugling wird spielen […] Man wird nichts Böses tun«. Diese Sequenz wird durch den Satz beschlossen: »Ja, das Land wird voll von der Erkenntnis Jhwhs sein«. Der Ablauf ist gut nachvollziehbar: Der Fall des gottlosen Unterdrückers (10,33–34) und das Aufkommen des geistbegabten Schösslings (11,1) bilden ein einziges, von Jhwh initiiertes Geschehen. Die in Wirklichkeit weit auseinanderliegenden Ereignisse werden in der erzählten Zeit zu einem Kontinuum verschmolzen. Die übergeschichtliche Konfrontation spielt sich an einem einzigen Ort ab: auf dem »Berg Zion«, in »Jerusalem« (10,12.[24].32). Am Ende heißt dieser Ort: »mein [=Jhwhs] heiliger Berg« (11,9). Von hier breitet sich die Erkenntnis Jhwhs durch das Auftreten des Sprosses Isais über das ganze Land bzw. die ganze Erde aus. In Jes 11 ist kein dialogisches Element zu finden. Das Kapitel ist eine Beschreibung der Zukunft durch den Propheten für ungenannte Adressaten. Nur in V. 9a unterbricht Jhwh für einen Augenblick die Botschaft des Propheten (»mein heiliger Berg«). Das Kapitel gliedert sich in zwei Segmente, V. 1–9 und V. 11–16, die durch V. 10 verbunden sind. Dieser Vers knüpft durch das Thema vom »Wurzelspross Isais« an das erste Segment an (V. 1) und bereitet über das Motiv vom »Feldzeichen für die Völker« das zweite vor (V. 12). Das zweite Segment wird zudem durch das Thema vom »Rest seines Volkes« gerahmt (V. 11–16). Im ersten Segment (V. 1–9) unterscheidet man zwei Sequenzen von verbalen Hauptsätzen. Die erste Sequenz hat den »Reis Isais« als logisches, unter dem »Geist Jhwhs« handelndes Subjekt (V. 1–5), die zweite benennt Subjekte im Rahmen der Herrschaft des davidischen Sprosses: »der Wolf«, »der Säugling«, »man« (V. 6–9a). In der Abfolge ist die klassische Struktur von Gottes Eingreifen und seinen Folgen erkennbar. Der emphatische Satz in V. 9b »Ja, das Land wird voll von der Erkenntnis Jhwhs sein« beschließt dieses Segment.
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Auch das zweite Segment (V. 11–16) bildet eine syntaktische Einheit. Sie beginnt erneut mit der Zeitangabe »es wird geschehen an jenem Tag« (V. 11aα) und besteht des Weiteren aus zwei Sequenzen, die dieselbe Struktur aufweisen wie die erste (Gottes Eingreifen und seine Folgen). In der ersten Sequenz (V. 11aβ–14) wird der Herr zwei Mal aktiv: »Er wird seine Hand rühren« (V. 11) und »Er wird ein Feldzeichen aufrichten« (V. 12). Daran schließt sich die Schilderung zweier Folgen an: »Die Eifersucht Efraims wird weichen« (V. 13) bzw. »Sie werden nach Westen fliegen« (V. 14). Die zweite Sequenz (V. 15–16) weist dieselbe Struktur auf: Auf zwei Handlungen Jhwhs (»Er wird Ägypten mit dem Bann belegen« [V. 15a] und »Er wird zerschlagen« [V. 15b]) folgt die Darstellung der Konsequenzen: »Es wird eine Straße geben« (V. 16). In diachroner Perspektive bleibt für Jes 11 festzuhalten: Da das Kapitel als Ganzes und in seinen Teilen auf Kap. 10 abgestimmt ist und mit diesem zusammen die Vorhalle des Schlussliedes in 12 bildet, stammt seine Endgestalt von der Redaktion des ersten Buchteils. Da Thematik und Wortschatz aber jesajanische Spuren aufweisen, stellt sich die Frage, welche Segmente zumindest im Kern auf den historischen Propheten zurückgehen. Mit Blick auf V. 1–9.(10) kann man die Erwartung eines Jhwh ergebenen Herrschers aus dem judäischen Königsgeschlecht, der die religiöse Erneuerung des Landes durchführen wird, kaum dem Propheten Jesaja absprechen (Jes 7; 9,1–6). Der Topos vom »Geist Jhwhs« spielt bereits in den Erzählungen der älteren Königszeit eine Rolle (V. 2–3; vgl. 1 Sam 10,6.10; 11,6; 16,13–14; 2 Sam 23,3; 1 Kön 18,12; 2 Kön 2,9.15–16). Aus der Königsideologie stammt das Thema der gerechten politischen Führung (V. 3–5; vgl. Ps 45; 72; 89). Das Motiv der Harmonie unter allen Lebewesen als Folge der königlichen Gerechtigkeit ist auch in der altorientalischen Umwelt breit belegt (V. 6–8). Somit könnte die Passage jesajanischen Ursprungs sein. Doch legen semantische Parallelen eine buchredaktionelle Überarbeitung zumindest nahe: Denn zum einen wird V. 9 in 65,25 wörtlich wiederholt, zum anderen kennt auch der dritte Buchteil den Ausdruck »mein heiliger Berg« (56,7; 57,13; 65,11; 66,20). Neben diesem buchintern orientierten Ansatz der diachronen Einordnung gibt es Versuche, V. 1–9 von den Berichten über das davidische Königshaus in 1–2 Kön her zu datieren, denn V. 1 schließt offensichtlich an eine schwere Krise der judäischen Dynastie an (vgl. »Spross Isais« statt »Spross Davids«). Notsituationen für das Haus David gab es viele: der syrisch-efraimitische Krieg (734–732; vgl. 2 Kön 16; Jes 7), die Invasion Sanheribs (701; vgl. 2 Kön 18–19; Jes 36–37) oder die gottlose Regierung von König Amon (642–640), dessen Sohn Joschija noch als Kind auf den Thron kam und eine Reform durchführte (639–609; vgl. 2 Kön 21–22). V. 1 kann auch auf die nachexilische Zeit anspielen, als die davidische Dynastie entmachtet war und man auf einen ganz neuen Beginn hoffte, der auf den Ahnherrn Isai projiziert wurde. Diese Hoffnung muss nicht rein utopisch gewesen sein, denn es gab noch Davididen in Babel (vgl. Serubbabel in 1 Chr 3,19 sowie die Nachkommen Jojachins in 2 Kön 24,15; 25,27–30). Insgesamt gilt: man
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II. Auslegung von Jesaja
kann auch V. 1–9 vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer Situationen lesen, ohne dass sich eine als die wahrscheinlichste aufdrängen würde. Für V. 11–16 legt sich eine Herkunft vom Propheten selbst und eine erste Bearbeitung in joschijanischer Zeit dann nahe, wenn der Abschnitt eine Bestrafung Assurs und eine Rückkehr exilierter Volksgenossen, vergleichbar mit dem Exodus aus Ägypten, ankündigt. Dies gilt jedoch nicht, sollte es um eine allgemeine Rückkehr der Verstreuten Israels aus dem Exil gehen. Dieser Gedanke war dem historischen Jesaja noch fremd. In dieser Passage wird von der allgemeinen Rückkehr in einer derart theologisch durchdachten Weise gesprochen, dass sich eine Redaktion in der Zeit des Zweiten Tempels, vielleicht während Esras Restaurationsbemühungen, nahelegt. Theologischer Ertrag zum III. Akt (Jes 10,5–11,16) Dieses doppelte Herrscherprofil verfolgt ein theopolitisches Ziel. Assurs Herrschaft über die Welt wird als Selbstüberschätzung in Bezug auf seine Rolle in Jhwhs Plan entlarvt. Der König von Assur, der sich in Weisheit und Kraft gottgleich wähnte, wird zugrunde gehen (Kap. 10). Der Rest Israels wird sich bekehren und zu neuem Leben kommen unter der Führung des Schösslings aus der Wurzel Isais (Kap. 11). Diese Geschichtstheologie erweitert sich zu einer Vision, in der auch die anderen Völker ihren Platz einnehmen: Sie partizipieren an der segensreichen Herrschaft des Sohnes Isais (10,7–10.13–14.26–27; 11,10–16). Hier geht es nicht etwa um eine neue Weltordnung nach dem Modell von 2,2–5, wo die Völker Israel zum Unterricht in den Wegen Gottes vorausgehen, sondern um die Herstellung einer irdischen Ordnung, die ganz dem Frieden verpflichtet sein wird. Jesaja 12 Loblied der in Hoffnung Erlösten Unter synchroner Perspektive bildet Kap. 12 das Finale der ersten Sammlung von Jesajaprophetien (Kap. 1–11). Durch den Lobaufruf wegen des göttlichen Heils (V. 2–3) integriert der Abschnitt die Gerichtsankündigung der vorangehenden Kapitel in die darin bereits angelegte Perspektive der Rettung (V. 1: »Und du wirst sagen an jenem Tag«). Auch ist Jes 12 mit den Kap. 1–11 durch charakteristische Begriffe verbunden. Darüber hinaus besitzt das Kapitel eine zentrale Funktion in der Gesamtstruktur des Jesajabuches: Es weist auf die Ereignisse in Kap. 40–66 voraus, legt aber auch die Basis für den Ausbau von Kap. 1–11 in Kap. 13–39, was in der Forschung bislang wenig beachtet wurde. Der wichtigste, weil übergreifendste Begriff ist etymologisch mit dem Namen des Propheten »Jesaja« (why[vy) verbunden und lautet »Heil« (h[wvy). Das Wort kommt in Kap. 12 gleich drei Mal vor und steht für ein theologisches Programm. Der Ausdruck »die Quellen des Heils« (V. 3) spielt auf die Verkündigung des Propheten an, wie sie im Buch Jesaja festgehalten ist. Die Leserschaft ist dazu aufgerufen, immer wieder Heil aus diesem Buch zu schöpfen, da es die Prophetien dessen umfasst, der nicht nur
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Verkündiger von Unheil war, sondern auch von Jhwhs Bemühen um den Fortbestand Israels. Mit Blick auf die Entwicklung des Buches ist es wichtig, dass Zion und die Völker bereits hier als Aktanten des Gotteslobes auftreten, wobei Zion zum weltweiten Jubel aufruft (V. 6). Nach fast einhelliger Meinung der diachronen Ansätze geht Kap. 12 nicht auf den Propheten oder auf die Überlieferung des 7. Jh. zurück, sondern auf den Prozess, der Jes 1–12 in seine Endgestalt brachte. Dies geschah in Vorschau auf die nachfolgenden Teile des Jesajabuches, denn das Loblied speist sich aus dem Wortschatz der Kap. 1–11 und Kap. 40–66. Wie dieser Prozess genau verlaufen ist, bleibt schwierig zu bestimmen. Eine detaillierte Analyse würde den Rahmen eines Lehrbuches sprengen. Der redaktionelle Prozess setzt auf jeden Fall eine schriftgelehrte Reflexion über das Leben und die Predigt des Propheten Jesaja voraus, wie sie in der Immanuelschrift (6,1–8,18) vorliegt. So hängt die literarische Gestaltung dieses Kapitels mit der Arbeit am gesamten Buch in spätnachexilischer Zeit zusammen. Theologischer Ertrag zum Loblied (Jes 12) Es gehört zur kreativen Vision der Buchredaktion, dass sie den prophetischen Nachlass Jesajas mit einem Hymnus abschloss und ihn so der nachexilischen Gemeinde überlieferte. Damit sprach sie keiner klagenden, sondern einer Gott lobenden Gemeinde das Wort, welche aus dem Exil die Brücke zur Zeit der nachexilischen Restauration schlug. Die Generation, die Jerusalem vor dem Untergang bewohnte, lebt in denen weiter, die den Wiederaufbau der Stadt inmitten der Völkerwelt gestalten. Diese Kontinuität ist – trotz aller geschichtlichen Abbrüche – Jhwh geschuldet, der seine irdische Wohnung auf Zion hatte und weiterhin hat. In Anbetracht dessen soll die Zionsbevölkerung die Welt zur Erkenntnis Jhwhs führen. II. Teil Jesaja 13–27 Untergang aller Tyranneien gegenüber Jhwh, dem König auf Zion Die ältere Auslegung sah in den Völkersprüchen (Kap. 13–23) und der JesajaApokalypse (Kap. 24–27) isolierte Textkorpora, da sie die Abfolge der chronologisch aufgebauten Buchteile in Kap. 1–12 (Zeit des syrisch-efraimitischen Krieges, 734–732) und Kap. 28–39 (Zeit der assyrischen Invasion um 701) unterbrächen. Die Völkersprüche hätten kein detailliertes Ordnungsprinzip, die Apokalypse sei wiederum sehr spät zu datieren. Die jüngere Auslegung hat diese Kapitel jedoch unter synchronen Gesichtspunkten aus ihrer Vereinzelung befreit. Auf der Kompositionsebene der Buchteile wird die Funktion der Kap. 13–23 im Zusammenhang mit Kap. 24–27 innerhalb des Verbandes der Kap. 1–39 deutlich: »Kap. 24–27 sind das Finale zu Kapitel
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II. Auslegung von Jesaja
13–23«.14 Vor dem Hintergrund des nachexilischen Schrifttums erweist sich auch die Charakterisierung von Kap. 24–27 als apokalyptische Literatur als nicht mehr haltbar. Diese Kapitel gehören zum Übergang von Prophetie zur Apokalyptik. Doch die Bezeichnung »Jesaja-Apokalypse« bleibt weiterhin nützlich, solange der Begriff in diesem eingeschränkten Sinn verstanden wird. Die Völkersprüche in Kap. 13–23 stellen keine disparate Orakelsammlung dar, sondern haben sich, wie verschieden ihr jeweiliger Ursprung auch sein mag, derart entwickelt, dass ihre auf das eigene Volk ausgerichtete Tendenz drei Hauptmotiven des Jesajabuches untergeordnet ist.15 Dass ein Orakel über Babel jeweils an den Beginn der beiden Fünferreihen gesetzt wurde (13,1–14,23 als Eröffnung zu Kap. 13–19 und 21,1–10 als Eröffnung zu Kap. 21–23), lässt diese Nation als das Böse tout court und die übrigen Völker als in ihrem Schatten stehend erscheinen (Babylonisierung der Völkersprüche). Da das Land Israel mit Zion als Zufluchtsstätte für die Unterdrückten nach und nach in den Blick kommt (14,32; 16,1–5; 17,10; 18,7; 22,1–14; 23,18), gestaltet sich dieser Wohnort zu einer Kontrastfolie zu den Städten und Ländern, denen der Untergang droht (Zionisierung der Völkersprüche). Schließlich zielt Jhwhs Urteil immer weniger auf die Gegenüberstellung von Israel und den Völkern ab, sondern betont immer stärker den Gegensatz zwischen den böswilligen Machthabern und den wehrlosen Unterdrückten (13,9–11; 14,5–6.16–17.20.30; 16,4; 17,12–14; 19,20; 21,9–10; 23,8–9; Trennung von Frommen und Frevlern). Diese drei Fokussierungen in Kap. 13–23 bereiten das große Ereignis in Kap. 24–27 vor: das Anbrechen von Jhwhs Herrschaft über die ganze Welt, die vom Zion ausgeht. Die intratextuellen Zusammenhänge, zum einen zwischen Kap. 13–23 und Kap. 24–27, zum anderen zwischen diesen beiden Großteilen und Kap. 1–12, bilden ein engmaschiges Netz aus Allusionen und semantischen Parallelen, die den kontinuierlichen Leseprozess fördern. Die folgenden Themen spielen dabei eine Rolle: Der Untergang jeglichen Hochmuts auf Erden angesichts der Majestät Jhwhs (2,6–22) erfüllt sich im Schicksal der einzelnen Völker (13,11.19; 15,6; 23,9; 26,5–6) und auf exemplarische Weise im Fall des Königs von Babel (14,4–21). Jhwhs heiliger Berg mit dem Wurzelstock Isais als Feldzeichen für die Völker (11,9–10) steht dem kahlen Berg Babel mit dem Feldzeichen seiner Verwüstung gegenüber (13,1–2). Der Berg Zion wird zum Mittelpunkt der ganzen Welt, wenn Jhwh dort seine Herrschaft errichtet (24,23) und das damit zusammenhängende Programm in die Tat umsetzt (25,6–7.10; 27,13). Mit Blick auf den Handlungsverlauf des »Dramas« oder »Plots« weisen die Kap. 13–23 und Kap. 24–27 einen logischen Zusammenhang auf. Während sich das griechische Drama durch die enge Interaktion klar umrissener Figuren innerhalb der Einheit von Ort, Zeit und Handlung auszeichnet, erfüllen Texte altorientalischer Kulturen zwar nicht diese Kriterien im engeren Sinne, stellen aber öfters 14 Delitzsch 1889, S. 285. 15 Berges 1998, S. 154–177.
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einen Aufbau von einander hierarchisch zugeordneten Handlungen dar. Dies gilt auch für das Gefüge von Kap. 13–23 mit Kap. 24–27, zumal in Weiterführung von Kap. 1–12. Zwar lässt sich in Kap. 13–23 nur bedingt ein stringenter Handlungsverlauf verfolgen, weil der große Rahmen von zehn Aussprüchen mit der Prophetenerzählung als Mitte (Kap. 20) diesen Akt strukturell bestimmt. Kap. 24–27 bringen dagegen ein mehr oder weniger durchgehendes Geschehen zur Darstellung. Hier gibt es neben dem Propheten weitere Handlungsträger, die das Geschehen im Jesajabuch insgesamt vorantreiben. Die wichtigsten Kernpunkte dieser Entwicklung sind der Lobgesang auf Jhwh von den Enden der Erde her (24,14– 16a), die Diagnose des Propheten (24,16b–20), sein Danklied für die Errichtung der Königsherrschaft Jhwhs (25,1–5) mitsamt dem erwarteten Lied der Erlösten (25,9–10a), die wechselnden Sprecher im Lied Judas (Kap. 26) und die Einladung, in Jhwhs Lied auf seinen Weinberg einzustimmen (27,2–5). Die Völkersprüche (Kap. 13–23) und die Apokalypse (Kap. 24–27) sind nicht nur aufeinander abgestimmt, sondern basieren auch hinsichtlich des Handlungsablaufes auf dem Schluss des vorangehenden Buchteils: »Macht unter den Völkern seine Taten bekannt! […] Lobsingt Jhwh! […] Bekannt gemacht sei dies auf der ganzen Erde!« (12,4–5). Diese Imperative fassen Kap. 1–12 so zusammen, dass Jhwhs Taten für Israel wie auch für die Erde von Bedeutung sind. Sie vermitteln auch einen Eindruck davon, wie sich die weltweite Anerkennung Jhwhs durchzusetzen beginnt. Die zehn Völkersprüche entwickeln Kap. 12 in zwei direkten Reden weiter, in denen Jhwhs Überlegenheit angekündigt wird: im Spottlied auf den König von Babel (14,5) und in der Meldung des Wächters (21,9). Die sogenannte Apokalypse zieht Kap. 12 weiter aus, indem nach der Verwüstung auf der von ihren Bewohnern geschändeten Erde der weltweite Lobgesang erklingt (24,14–16). Diese Verkündigung wird nach der Inauguration der Königsherrschaft Jhwhs (24,23) im Danklied des Propheten (25,1–5) und im Lied derer fortgeführt, die vertrauensvoll seine Rettung annehmen (25,9–10a; 26,1–6). Auf diese Weise arbeiten die Völkersprüche und die sogenannte Apokalypse an der Botschaft von Kap. 12 weiter, das heißt an der Verfügungsgewalt Jhwhs über die gesamte Erde, der der Aspekt des Strafgerichts untergeordnet ist. Die historische Entwicklung von Kap. 13–23 und Kap. 24–27 ist vermutlich sehr ungleich verlaufen. Über den Ursprung der Völkersprüche ist fast nichts mit Sicherheit zu sagen. Da ihre Intention sowohl im Jesajabuch als auch bei anderen Propheten unterschiedlich ist, kann man sie nicht auf eine literarische Gattung oder eine bestimmte Situation, wie zum Beispiel auf den Kult oder den JhwhKrieg, zurückführen. In Kap. 13–23 werden sie in hohem Maße von der Zielsetzung des übergreifenden Buchteils bestimmt. Die Völker stehen hier mit Israel unter demselben Urteil Jhwhs und partizipieren teilweise am Heil. Im Übrigen ist anzunehmen, dass einige Passagen, in denen der Prophet Jesaja oder sein Gedankengut eine besondere Rolle spielen, im Kern auf seine Zeit zurückgehen: die Prophetie über Assur (14,24–27), die Aussprüche über Philistäa (14,28–32), Damaskus und Efraim (17,1–3) zusammen mit Kusch (Kap. 18, besonders wegen der
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Gesandtschaft), Jerusalem (Kap. 22: beide Erzählungen) und die prophetische Zeichenhandlung (Kap. 20). Sogar die umfangreiche Komposition über Babel und seinen König enthält Material, das auf eine Prophetie über Assur aus der Zeit Jesajas zurückzugehen scheint (13,1–14,23). Das Vorangehende darf aber nicht zu der Annahme verleiten, man könne hier die vermutlich ältesten Überlieferungskerne isolieren. Bei vielen dieser Passagen ist ein Prozess der »Teleskopierung« zu beobachten. Dabei werden Ereignisse in gedanklicher Kontinuität zueinander gesehen, oder besser gesagt: Die spärlichen historischen Informationen können sich auf mehr als ein – zumeist unheilvolles – Ereignis beziehen. So kann der Erzählung über die Belagerung Jerusalems in 22,1–14 sowohl die Expedition Sanheribs im Jahre 701 als auch die Verwüstung unter Nebukadnezzar (586) als Hintergrund gedient haben. Ebenso spielt die Verheißung der Rückkehr ins Land aus 14,1–3 sowohl auf die Deportation Nordisraels nach Assur (722) als auch auf die Exilierung Judas nach Babel (586) an. In Bezug auf die Darstellung der Völker spiegeln sich verschiedene historische Epochen wider, sowohl mit Blick auf die Situation Ägyptens (Kap. 19) als auch in der Darstellung von Tyrus und Sidon (Kap. 23). Das Phänomen der »Teleskopierung« hängt mit der Theologie der JesajaÜberlieferung zusammen, der zufolge Jhwh als Herr der Geschichte erkannt und verkündet wurde. Für die Tradenten ist die Kontinuität das Entscheidende, der Wandel der geschichtlichen Ereignisse ist Gott und seinem Plan untergeordnet. Ob Jhwh gegen Assur oder gegen Babel hilft, ist nur in der geschichtlichen Perspektive betroffener Menschen von Bedeutung, er selbst bleibt sich unwandelbar treu: »Ich, Jhwh, bin der Erste, und mit den Letzten bin ich es [noch]!« (41,4). Wo selbst eine behutsam durchgeführte Datierung der einzelnen Texteinheiten in Jes 13–27 zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führt, hilft eine Inventarisierung des historischen Bewusstseins, in dem die zwei Akte redigiert und zusammengestellt wurden. Dabei dominiert Babel als eine Art feindlicher Ikone auch dort die Darstellung, wo ihr Name gar nicht vorkommt, nämlich in den Kap. 24–27. Gleichwohl erweist es sich als schwierig zu bestimmen, ob die tyrannische Metropole zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Buchteils bereits gefallen war oder ob ihr Fall noch bevorstand und erhofft wurde. Wie auch immer man sich entscheidet, man muss von einer Zeit ausgehen, als Babel noch den Hass der Völker erregen konnte, sei es aktuell oder in bloßer Erinnerung. Insgesamt wird man an das 6. bzw. 5. Jh. denken müssen, als sich das persische Reich als die neue, weltpolitische Realität präsentierte, in der sich das Gottesvolk, sei es in Juda oder in der Diaspora, zurechtfinden musste. I. Akt Jesaja 13–23 Zehn Völkersprüche: das Gericht über irdische Mächte Dieses Kompositum enthält zehn Orakel über Völker in zwei Fünferreihen (Kap. 13–19; 21–23) und eine prophetische Zeichenhandlung im Zentrum (Kap. 20). Die Reihen unterscheiden sich nach ihrem Aufbau, ihrer Länge und nach der Funktion des Terminus »Ausspruch« über den einzelnen Prophezeiungen.
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I. Szene Jesaja 13–19 Erste Reihe Völkersprüche Auf synchroner Ebene enthält diese Fünferreihe selbstständige Kompositionen unterschiedlichen prophetischen Materials, jede das Ergebnis einer langen Entstehungsgeschichte. Sie beziehen sich auf folgende Völker: 1. Babel mit Assur (13,1–14,27), 2. Philistäa (14,28–32), 3. Moab (Kap. 15–16), 4. Damaskus mit Efraim und Kusch (Kap. 17–18), 5. Ägypten (Kap. 19). Die kurzen Prophetien legen die Vermutung nahe, die längeren Aussprüche gingen ursprünglich ebenfalls auf kurze Orakel über ein bestimmtes Volk zurück, die im Laufe der bewegten Geschichte des Vorderen Orients sukzessive ausgebaut wurden. Die Reihenfolge der Völker ist teils gedanklich, teils geographisch motiviert. Die rahmenden Kompositionen über Babel einschließlich Assur (13,1–14,27) und Ägypten (Kap. 19) beziehen sich auf die Großmächte, mit denen Israel in seiner Geschichte konfrontiert war. Philistäa (14,28–32) und Moab (Kap. 15–16) sind westlich und östlich von Israel beheimatet, Damaskus/Aram liegt nördlich von Juda (Kap. 17). Der Weheruf über Kusch (Kap. 18: Nubien) lenkt den Blick auf den tiefen Süden und bereitet den Ausspruch über Ägypten vor. Beide leiten zur Zeichenhandlung des Propheten über (20,3–4: »die Gefangenen Ägyptens und die Weggeführten von Kusch«). Die Redaktion hat auf diese Weise einen theologischen Rahmen geschaffen: Die Reihe beginnt mit »Jhwhs Zorn, um die ganze Erde zugrunde zu richten« (13,5), und schließt mit der Verheißung »Gesegnet sei Ägypten, mein Volk, und Assur, meiner Hände Werk, und Israel, mein Erbteil« (19,25). Der erste Völkerspruch (13,1–14,27) enthält eine Prophetie über Babel, die Stadt und ihren König. In diachroner Hinsicht stammen diese Kapitel in ihrer vorliegenden Form nicht aus der Feder Jesajas, denn von Babel als Unterdrücker Judas hatte er noch keine historische Kenntnis. Doch falls die symbolische Bedeutung Assurs als gottfeindliche Macht auf Babel übertragen worden ist, könnten von Jesaja stammende Orakel wie die Ankündigung vom Eingreifen Jhwhs gegen Assur in 14,24–27 (anlässlich eines Feldzuges gegen Philistäa im Jahre 720) oder der kurze Spottspruch auf dessen König in 14,4–8.18–21 (vielleicht auf Sargon II. im Jahre 705) der Komposition über Babel als Grundlage gedient haben. Begriffe und Themen, die auch in Kap. 1–12 sowie in Kap. 28–33 begegnen und die man für charakteristisch jesajanisch hält, unterstützen diese These. So könnte die Redaktion dieser ursprünglich jesajanischen Texte aus der persischen Zeit stammen und in Zusammenhang mit der Eroberung Babels stehen (539). In Bezug auf das Schicksal Babels ist es schwierig, die Informationen aus Jes 13–14 mit der uns bekannten Geschichte des Großreiches völlig in Einklang zu
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II. Auslegung von Jesaja
bringen. Zwar ist aus biblischer Sicht die Einnahme Babels durch den persischen König Kyrus im Jahre 539 die wichtigste Eroberung, doch wurde die Stadt von ihm keineswegs verwüstet. Vielmehr bejubelte man den fremden Machthaber als Befreier. Erst später widersetzte sich Babel einige Male der persischen Oberhoheit, was ihr immer teuer zu stehen kam. Für das Spottlied auf den König von Babel in Kap. 14 fallen die historischen Anknüpfungspunkte noch schwächer aus. Die alles beherrschende literarische Gattung der Totenklage und des Abstiegs in die Unterwelt lassen keinen Rückschluss auf die geschichtliche Person des anvisierten Unterdrückers zu. Von der Forschung werden nicht nur babylonische Könige, sondern auch assyrische Machthaber (besonders der ehrlos gefallene Sargon II. [722–705]) als Kandidaten in Anschlag gebracht. Doch weist die Einleitung in 14,3–4 auf den König hin, der Israel ins Exil führte, also auf Nebukadnezzar. So bleibt auf die Frage nach der geschichtlichen Situation dieser Kapitel nur die Antwort, dass sie auf einer Art Übergeschichtlichkeit Babels beruht. Babel fungiert als literarisches und theologisches Bild im Weltuntergang. Die Frage nach der absoluten Datierung der Komposition Jes 13–14 muss der Frage nach der relativen Chronologie weichen, d.h. nach ihrem Verhältnis zu anderen Babylon-Texten (21,1–10; 48; Jer 50–51). Der zweite Völkerspruch über Philistäa (14,28–32) Nach den Sprüchen über Babel und Assur (13,1–14,27) steht dieses Orakel über Israels Nachbarland Philistäa wegen seiner Pointe zugunsten Zions unter synchronen Gesichtspunkten doch am richtigen Platz (14,29–31). Das in erster Linie für »ganz Philistäa« bestimmte Unheilsorakel wird den Gesandten dieser Nation als eine Ermutigung für die Bevölkerung Zions – zumal für die Hilfsbedürftigen dort – übermittelt: Jhwh hat Zion gegründet und wird diese Stadt beschützen (V. 32). Der doppelte Fokus stimmt mit Jesajas Plädoyer für eine Politik ohne Bündnisse mit ausländischen Mächten überein (Jes 7; 8,1–10; 10,20–23; 20). Gleichzeitig werden die Armen in Philistäa unter Gottes Schutz gestellt (V. 30a). Damit kommt der Gegensatz zwischen Unterdrückten und Herrschenden, der so typisch für Jes 13–23 ist, auch hier zum Vorschein. Die Überschrift »im Todesjahr des Königs Ahas« (V. 28) verweist diachron nicht auf den Sitz im Leben des Orakels, sondern situiert es nur nach dem syrisch-efraimitischen Krieg (728). Die kurze historische Angabe aktualisiert den Spruch für die jüdische Gemeinde inmitten anderer ethnischer Bevölkerungsgruppen im nachexilischen Israel. Angesichts aller politischen Weltmächte ist Jerusalem, die Gründung Jhwhs, der einzige sichere Zufluchtsort für »die Elenden seines Volkes« (V. 32). Der dritte Völkerspruch über Moab (Kap. 15–16) Die Stellung von Moab stimmt synchron mit der Reihenfolge jener Nationen überein, die nach 11,14 der Unterwerfung entgegengehen. Mit dem Gericht über dieses Land und der Heilsvermittlung durch Zion (16,1–7) wird die Verheißung
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einer Wiederherstellung Judas durch das »Reis aus Isais Stumpf« eingelöst (vgl. 11,1 und 16,5). Der Spruch besteht aus einer Komposition von drei Abschnitten: Zwei Klagen über Moab, die großenteils im Klagemetrum Qinah abgefasst sind (15,1b–9 und 16,6–12), umklammern eine Ermutigung für Moab, bei Juda Hilfe zu suchen (16,1–5). Eine zusammenfassende Abschlussformel sagt eine rasche Erfüllung zu (16,13–14). Anknüpfungspunkte für eine literarhistorische Differenzierung fehlen. Die plötzlichen Stimmungsumschwünge von Klage und Mitleid zu Anschuldigung und Bestrafung lassen einen zeitlich gestreckten Entstehungsprozess vermuten. Der Komposition muss ein historisches Faktum, ein Überfall aus dem Norden, zugrunde liegen, doch fehlen weitere Anhaltspunkte für eine solche Invasion zur Zeit des historischen Propheten. Die »Zionisierung« und »Davidisierung« des Orakels weisen darauf hin, dass die vorliegende Gestalt der Komposition nicht vom Propheten stammt, sondern von der Redaktion in Jerusalem. Der vierte Völkerspruch über Damaskus mit Efraim und Kusch (Kap. 17–18) Die synchrone Position dieses Völkerspruchs passt in die bisherige geographische Reihenfolge: Nach Philistäa im Westen und Moab im Osten folgt nun das nördlich gelegene Aram mit seiner Hauptstadt Damaskus, und zwar in militärischer Verbundenheit mit Efraim (Kap. 17). Die Hinzufügung eines Wehe-Orakels über Kusch, d.h. Nubien (Kap. 18), ist vom historischen und politischen Hintergrund her zu erklären, aber auch redaktionell durch den Bezug zu 11,11. Das Orakel bereitet die Leserschaft zugleich auf den Ausspruch über Ägypten im Süden vor (Kap. 19). Das Motiv der Verbundenheit von Aram und Efraim hat eine Vorgeschichte in Kap. 1–12, besonders im Bericht über den syrisch-efraimitischen Krieg (7,1–9; 9,11; 10,9). Der ganze Komplex spielt im thematischen Fortgang des Jesajabuches eine Rolle. Das Strafgericht über die Völker bedeutet nicht ihr Ende, denn auch aus ihnen werden einige zur Erkenntnis des Gottes Israels gelangen (17,7). Dann sollen sie hinaufziehen zum Berg Zion, um Jhwh an seinem Wohnsitz zu verehren (18,7; vgl. 2,2–5; 12,4–5). Dieser Völkerspruch stellt diachron betrachtet eine redaktionelle Komposition sehr unterschiedlicher Stücke dar, wobei das Orakel über Damaskus zusammen mit Judas Brudervolk Efraim (Kap. 17) und der Weheruf über Kusch (Kap. 18) eine große Eigenständigkeit und eigene Zielsetzung aufweisen. Die gesamte Anlage ist zu einer theologischen Komposition über die Zukunft der Völker im Horizont der Gegenwart und des Eingreifens Jhwhs ausgebaut. Der Weheruf schafft insofern etwas Neues, als er Gottes scheinbare Abwesenheit auf der Weltbühne als ein Warten auf die Zeit der Ernte erklärt. Der fünfte Völkerspruch über Ägypten (Kap. 19) Dieses Orakel enthält eine Prophetie über Ägypten. Im ersten Teil (V. 1–15) fehlen Anhaltspunkte zu einer genauen Datierung. Der Zustand allgemeiner Zerrüttung
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bis hin zur Fremdherrschaft ist in V. 1–4 zu unspezifisch formuliert, um ihn mit einer bestimmten ägyptischen Epoche in Verbindung zu bringen. Der Zusammenhang von internen Kriegen und einem ausländischen Herrscher kann die Unterwerfung durch das nubische Fürstenhaus (8. Jh.) oder einige Expeditionen Assurs (7. Jh.) und Persiens (6. Jh.) als Hintergrund haben. Auch die Klage über das Dahinsiechen des Nils und den Untergang des wirtschaftlichen Lebens in V. 5–10 bietet keinen eindeutigen historischen Anhaltspunkt. Erst die Scheltrede in V. 11–15 gegen die Fürsten von Zoan und Nof, lokale Führer und Kriegsherren, zeigt das geschichtliche Kolorit einer schwachen Zentralverwaltung (vielleicht 8. Jh.). Im zweiten Teil, der aus einer Reihe von fünf Orakeln mit der Überschrift »an jenem Tag« besteht (V. 16–25), spiegeln sich unterschiedliche historische Perioden wider: von der Zeit, als Ägypten und Juda regelmäßig Konflikte miteinander austrugen (erstes Orakel, V. 16–17) bis zur Zeit der jüdischen Diaspora in Ägypten unter persischer (vielleicht auch ptolemäischer) Herrschaft (zweites bis fünftes Orakel, V. 18.19–22.23.24–25). Die geschichtliche Realität und die prophetische Perspektive lassen sich bei keinem der Orakel in Einklang bringen. Es handelt sich um Wunschträume teilweise eingebürgerter jüdischer Immigranten in der Diaspora. Im dritten Orakel (V. 19–22) stellt die Verheißung eines kultischen Zentrums für die Verehrung Jhwhs in Ägypten ein besonderes Problem dar. Sie passt zu einem Bericht von Flavius Josephus, wonach der nach Ägypten geflohene Hohepriestersohn Onias IV. unter Bezugnahme auf Jes 19,19 vom Pharao um das Jahr 160 die Erlaubnis zum Bau eines jüdischen Tempels in Leontopolis bekommen habe (vgl. ant. iud. XIII, 3.1). Handelt es sich bei Jes 19,19 also um ein vaticinium ex eventu, das erst nachträglich ins Jesajabuch eingeschrieben wurde, oder ist der Vers ein Beispiel für den aus früherer, persischer Zeit stammenden Heilsuniversalismus der Jesajatradition? Die erste Alternative scheint zu spät angesetzt zu sein, denn der Vers ist fest in den ältesten Textzeugen (LXX und 1QJesa) verankert und verweist auch gar nicht spezifisch auf einen präzise lokalisierten Tempel in Ägypten. Er hat weniger mit einer bestimmten zeitgeschichtlichen Situation zu tun als vielmehr mit einer innerbiblischen Auffassung über Jhwhs weltweite Hoheit und Anerkennung. Überblickt man Kap. 19 insgesamt, so können V. 1–15 die Situation Ägyptens in der Zeit Jesajas widerspiegeln, aber auch aus einer späteren Zeit stammen. Dagegen geben V. 16–25 die Situation der Diaspora wieder, wobei jedoch nicht so sehr an die ptolemäische, sondern eher an die persische Zeit zu denken ist. II. Szene Jesaja 20 Prophetische Zeichenhandlung Dieser Szene kommt im Übergang von Kap. 13–19 zu Kap. 21–23, die die Vernichtung der hochmütigen Weltmächte ankündigen, eine besondere Funktion zu. Sie erinnert daran, dass diese Orakel der Autorität Jesajas, des »Knechts Jhwhs« (V. 3) unterstellt sind (vgl. 13,1). Mittels einer Zeichenhandlung warnt der Prophet
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seine Zeitgenossen davor, sich durch Bündnisse mit fremden Mächten in falscher Sicherheit zu wiegen. Zugleich fasst die Erzählung zusammen, wie man die Völkerorakel aufnehmen soll: »Siehe, so ist es mit unserer Hoffnung, zu der wir um Hilfe geflohen sind, um vor dem König von Assur gerettet zu werden! Wie sollen wir da entrinnen?« (20,6; vgl. 37,20). Dabei handelt es sich vordergründig um eine rhetorische Frage, die keinen Raum für Hoffnung lässt. Hintergründig bereitet sie auf ein Überleben vor, das in der Ankündigung von Jhwhs Herrschaft beschlossen liegt (Kap. 24–27). In diachroner Hinsicht stammt der Er-Bericht vermutlich aus der Zeit des Propheten, ist aber wohl nicht von ihm selbst, sondern von seiner Umgebung verfasst worden. Die Redaktion hat ihn mit Veränderungen in ihr Gesamtkonzept aufgenommen. Die deutende Schlussfolgerung ist typisch jesajanisch: Nicht der Untergang Ägyptens und Kuschs ist die Pointe, sondern die Warnung, dass man betrogen wird bzw. sich selbst betrügt, wenn man seine Hoffnung auf ausländische Mächte setzt (vgl. 7,9; 8,12–13; 10,12.16–17.24–27). Die Eroberung Aschdods fällt in die Zeit Jesajas (711). Sie ist in den Annalen von König Sargon II. (722–705) beschrieben. Dessen Regierung war durch mehrere Versuche bestimmt, die assyrische Herrschaft im Westen zu festigen und in Richtung Ägypten weiter auszubauen. Daher wurde das Land am Nil zum Bündnispartner der Städte am Mittelmeer. Nach einem Aufstand des Usurpators Jamani von Aschdod räumte Assur zwischen 715 und 711 definitiv mit der politischen Selbstständigkeit des Küstengebietes auf. Die Städte wurden verwüstet, Aschdod wurde niedergemetzelt, der Küstenstreifen in eine assyrische Provinz umgewandelt und mit Deportierten aus anderen Teilen des Imperiums besiedelt. V. 1 verweist auf diese Ereignisse. Im Rahmen dieses Feldzuges ist das assyrische Heer wohl bis an die Grenzen Ägyptens vorgestoßen, jedoch nicht darin eingedrungen. Die Ankündigung einer Deportation von Ägyptern und Kuschiten bezieht sich auf eine spätere Zeit unter den Nachfolgern von Sargon II. im 7. Jh. (V. 4). Die Erzählung fügt somit zwei Perioden der assyrischen Expansion in Richtung Ägypten zusammen. So entsteht ein historisch verzerrtes Bild, denn Philistäa war bereits erobert und assimiliert, als die assyrischen Feldzüge gegen Ägypten begannen. III. Szene Jesaja 21–23 Zweite Reihe Völkersprüche Die zweite Fünferreihe ist kürzer und aus disparaterem Material zusammengestellt als der erste Teil der Völkerspruchsammlung. Sie setzt auch eigene Akzente und bezieht sich auf folgende Länder: 1. »die Wüste des Meeres«, d.h. das Land Babylonien (21,1–10), 2. Duma (21,11–12), 3. Arabien (21,13–17), 4. »das Tal der Vision« (Kap. 22 enthält zwei Erzählungen über Jerusalem), 5. Tyrus, d.h. die phönizische Küstengegend (Kap. 23).
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Für die ersten drei Aussprüche dient das Motiv des Ausschauhaltens nach dem Untergang Babels und seiner Götter als gemeinsamer Bezugsrahmen (V. 9–10.12.16). Die Orakel stellen eine Theologie der Heilserwartung mithilfe einer abschließenden, autorisierenden Zitationsformel dar (V. 17: »Wahrlich, Jhwh, der Gott Israels, hat geredet«). Damit verschiebt sich das Paradigma »Babel versus Israel« zu einem universaleren Kontrast zwischen Herrscher und unterdrücktem Volk. In geographischer Hinsicht kennt diese Reihe drei Pole: Babel und andere im Osten gelegene Länder (Kap. 21), Jerusalem (Kap. 22) und Tyrus, d.h. die Seemetropole im Nordwesten (Kap. 23). Diese Anordnung kommt in den Überschriften zum Ausdruck: »die Wüste des Meeres« (21,1), »das Tal der Vision« (22,1) und »Tyrus – Jammert, ihr Tarschisch-Schiffe!« (23,1). Mithilfe dieser geographischen Differenzierung kehrt die Fünferreihe das Verhältnis zwischen Israel (Jerusalem) und den Völkern unter theologischen Gesichtspunkten um. Der erste Pol kündigt das Ende eines kriegerischen Volkes an (21,17), der dritte die Ergebenheit einer nur nach Gewinn strebenden Stadt Jhwh gegenüber (23,18). Der Mittelteil hebt hervor, dass auch die Bewohner Jerusalems und ihre Machthaber aufgrund von nicht gesühnter Schuld umkommen werden (22,14.25). Damit verdeutlicht die Komposition die prinzipielle Gleichheit von Israel und den Völkern gegenüber Jhwhs Herrschaft. Der erste Völkerspruch über »die Wüste des Meeres« (21,1–10) Eine neuerliche Prophetie über Babel (nach Kap. 13–14) verwundert nicht, denn durch die Verwüstung Jerusalems ist jene Metropole zur »widergöttlichen Macht schlechthin« geworden. Jedes Orakel über den Untergang Babels stellt »eine Manifestation des Überlebenswillens Israels« dar.16 In Form einer Vision bestätigt Jes 21 die Verheißung von Kap. 13–14, die mit der Ankündigung der Verwüstung von Babel endete (14,22–23). Denn der vorliegende Spruch schließt mit der Konstatierung ihres tatsächlichen Untergangs: »Gefallen, gefallen ist Babel, und alle Bilder seiner Götter hat man zu Boden geschmettert« (21,9). Somit steht dieser Völkerspruch im dramatischen Verlauf der Ereignisse dem Anbrechen der göttlichen Herrschaft in Kap. 24–27 näher als das erste Babelorakel. Der Aufbau der Passage gestaltet sich folgendermaßen: V. 1–2 beschreiben »das harte Gesicht« des Sehers, V. 3–4 berichten über den Schrecken des Propheten als Reaktion auf das Geschaute, während V. 5 auf spottende Weise Babels Oberste zur Mobilmachung des Heeres aufruft. V. 6–7 geben den Inhalt eines zuvor ergangenen Gottesspruches wieder: Jhwh hatte dem Propheten befohlen, einen Wächter anzustellen. Dieser habe seinen Auftrag erfüllt und kündigt nun aufgrund der Beobachtung einer herannahenden Reiterschar den Fall von Babel an (V. 8–9). In V. 10 gibt der Seher seinem Volk die Zusicherung, dass er das Gesagte von Jhwh vernommen habe. Die Vision ist Wort geworden. 16 Wildberger 1972, S. 772.
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Das historische Interesse betrifft nicht die Frage, ob diese Vision vom Propheten Jesaja selbst stammt. Denn weder ist der Wortschatz charakteristisch jesajanisch, noch stellte Babel – im Gegensatz zu Assur – zu Jesajas Zeiten eine unmittelbare Bedrohung oder gar Hilfe für Juda dar. So bleibt nur die Frage, ob dieses Orakel vor- oder nachexilisch anzusetzen ist. Die gängige Erklärung sieht hier eine Verbindung zur Einnahme Babels durch den persischen König Kyrus II. (559– 530), da sich dieser analog zum Aufruf im Orakel (V. 2) bei der Eroberung auf Elam und Medien stützte. Der zweite Völkerspruch über Duma (21,11–12) Die Aufnahme dieses kürzesten Orakels in die Reihe der Völkersprüche liegt vermutlich darin begründet, dass das Motiv »Wächter in der Nacht« (21,11) als Ergänzung zum vorherigen Völkerspruch angesehen wurde, obschon dort mit dem »Späher« (21,6) ein anderer hebräischer Begriff Verwendung findet. In der metaphorischen Auslegung steht die Nacht für die Periode der babylonischen Unterdrückung, so dass der »Wächter« und der »Späher« das alter ego des Propheten bilden. Neu ist die Tatsache, dass der Prophet nun die Sehnsucht eines fremden Volkes (Duma/Seïr) nach Ende der Not ernst nimmt. Somit stößt man auch in diesem Spruch auf die für die Kap. 13–27 charakteristische Tendenz der Universalisierung: Der Gegensatz zwischen Israel und den Völkern macht Platz für die Opposition zwischen Unterdrückten und Unterdrückern. Auf der Ebene des Großjesajabuches liest sich das Wächterlied als eine Empfehlung, den Propheten auch weiterhin danach zu befragen, wie lange das Heil noch ausbleibe (vgl. 8,17–18; 62,6–7). Da weitere Informationen fehlen, muss man bei der diachronen Rückfrage wohl davon ausgehen, dass die Redaktion von Kap. 1–39 ein metaphorisches Verständnis angestrebt hat. Der dritte Völkerspruch über Arabien (21,13–17) Innerhalb der Reihe passt dieser Spruch über Arabien zum vorangehenden über Duma, einem Ort in der arabischen Wüste (V. 11–12). Diese Prophetie setzt jedoch einen neuen Akzent: Auch über Gewalttätigkeiten zwischen fremden Völkern fällt der »Gott Israels« das Urteil (V. 17). Das Orakel zeigt denselben Aufbau von Vision und Audition wie 21,1–10. Auf die Beschreibung eines Zusammentreffens mit den Feinden, dem der Prophet virtuell beiwohnt (V. 13–15), folgt ein Gottesspruch (V. 16–17). Die Szene skizziert die Not der Dedaniter (V. 13) und ruft die Temaiter auf, jenem Volk zu Hilfe zu kommen (V. 14). Der Appell ist durch die Schwere des Krieges begründet (V. 15). Aus der Geschichte des antiken Vorderen Orients ist bekannt, dass der Handelsweg zwischen dem Roten Meer und Mesopotamien von nordarabischen Nomadenstämmen beherrscht wurde. Sie haben immer wieder ihre Unabhängigkeit und Interessen gegenüber den Weltmächten Assur, Babel, Persien und späteren Reichen verteidigt.
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Vermutlich gab es auch in Juda zur Zeit Jesajas Kenntnis von Feindseligkeiten zwischen Stämmen in der Wüste, aber der historische Kontext dieses Orakels ist unter diachroner Perspektive nicht mehr zu rekonstruieren. Eine ideologische Bedeutung hat sich über den historischen Bericht gelegt. Ihre Absicht liegt in Gottes Abscheu vor Gewalt und Ruhmessucht (V. 16–17). Auf diese Weise dient der Spruch dem wichtigen Thema des Untergangs aller weltlichen Mächte, bevor Jhwhs Herrschaft anbricht (Jes 13–27). Der vierte Völkerspruch über das »Tal der Vision« (22,1–14) Dieses Orakel über das »Tal der Vision« (Jerusalem) schildert eine unklare Situation. Anspielungen auf die Belagerung Jerusalems werden in Zusammenhang entweder mit dem misslungenen assyrischen Feldzug zur Zeit des Königs Hiskija (701) oder mit deren mehrfacher Eroberung durch die Babylonier zur Zeit der Könige Jojachim und Jojachin (zwischen 609 und 597) gesehen. Der assyrische Feldzug könnte den Hintergrund für V. 7–11 bilden (vgl. 2 Chr 32,2–5.30), eine babylonische Eroberung für V. 2b–3 in Betracht kommen (vgl. 2 Kön 24,1–17), während V. 5–7 auf verschiedene Ereignisse bezogen sein können. Weiterhin werden häufig die Festlichkeiten auf den Dächern (V. 1–2) und das Festessen, das an die Stelle der Trauer tritt (V. 12–13), als Argument für die erste Alternative herangezogen, doch wird solch eine wie auch immer geartete Festlichkeit in keiner der drei Versionen dieser Erzählung erwähnt (37,36–37; par. 2 Kön 19,35–36; 2 Chr 32,22–23). Hinsichtlich der Interpretationen auf Notlagen, die Assur oder Babel zu verantworten hätten, bleibt das Problem, dass keine der beiden Großmächte in diesem Kapitel explizit genannt werden. Darum werden sie in jüngster Zeit nicht mehr alternativ bewertet. Die hier dargestellte Situation kann sich auf die verschiedenen Feldzüge beider Weltmächte gegen Jerusalem beziehen, wobei die Bevölkerung der Stadt nach Ansicht des Propheten auf typische Weise »den Blick auf den, der sie gemacht hat« (22,11), unterließ. Die diachrone Diskussion über Kap. 22 konzentriert sich folglich auf die Entstehung der Kap. 13–23 als eine Einheit, worin der Untergang des ungläubigen Jerusalems parallel mit dem der Jhwh feindlichen Völker dargestellt wird.17 Der fünfte Völkerspruch über Tyrus und Phönizien (Kap. 23) Bei diesem letzten Völkerorakel spielt die enorme Bedeutung des Stadtstaates eine größere Rolle als der Fortgang des Jesajabuches, denn die Namen Tyrus und Sidon kommen ausschließlich in diesem Kapitel vor. Wie alle in Kap. 13–23 erwähnten Nationen hatte jedoch auch Phönizien regelmäßig unter der Expansion zunächst von Assur und dann von Babel zu leiden (vgl. V. 13). Die Redaktion hat sich jedenfalls für folgendes Schema der zweiten Reihe von Völkersprüchen entschieden: 17 Das Orakel über Schebna und Eljakim in 22,15–25 wird nicht separat erklärt.
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Großmächte im Osten (Babel mit Edom und Arabien) in Kap. 21 und Westen (Tyrus und Sidon) in Kap. 23 flankieren Jerusalem in Kap. 22. Dass alle Weltreiche auf eine Linie gestellt werden, passt zur Theologie von Kap. 13–27 (vgl. 14,24–27). Die Redaktion hat thematische Verbindungen zugunsten der Babylonisierung und Zionisierung der ganzen Reihe hergestellt (vgl. V. 13 mit 13,19; V. 18 mit 18,7). Ebenso wird im Zuge einer Gegenüberstellung von Tyrus’ Reichtum und der Nahrung sowie Kleidung der späteren Tempelgemeinde erneut das Thema der Armen angesprochen (vgl. V. 18 mit 14,30–32). Schließlich kommt bereits in V. 17 (»alle Königreiche der Erde«) die weltweite Perspektive von Kap. 24–27 zur Sprache (vgl. 24,21). Die Versuche, das Orakel historisch zu situieren, setzen bei der Geschichte dieser Metropole an. Den Ruhm einer maritimen und ökonomischen Großmacht verdankte sie ihrer Lage. Eine kleine, felsige, 1.000 Meter vor der Küste gelegene Insel machte »die Festung am Meer« zu einer uneinnehmbaren Zitadelle (vgl. V. 4). Aufgrund dieser geographischen Lage war die Stadt dazu bestimmt, die Hegemonie über Phönizien zu erlangen und zur mächtigsten Handelsnation im östlichen Mittelmeerraum heranzuwachsen. Vielfach wird eine Verbindung zwischen Jes 23 und allerhand historischen Feldzügen gegen Tyrus, zumal der Eroberung durch Alexander den Großen (332), angenommen. Votiert man für diesen Zusammenhang, kommt nur eine nachexilische Entstehung in Frage. Jedenfalls ist die Verfasserschaft des historischen Propheten schwerlich zu beweisen, denn dieser hat über fremde Völker nur mit Bezug auf Juda und die Bündnispolitik Jerusalems gesprochen. Dagegen verweist der Prophet im Buch mittels V. 9 (»Um den Hochmut aller Zierde zu entweihen«) auf Kap. 2, wo er ankündigte, jedwede Form der Selbstüberschätzung auf Kosten Gottes werde – wo auch immer sie auf Erden auftritt – am Tag Jhwhs die Erfahrung machen müssen: »Jhwh allein ist erhaben« (2,11.17). Theologischer Ertrag zum I. Akt (Jes 13–23) Trotz des Waffengeklirrs und der Verwüstung von Ländern und Nationen ist das eigentliche Thema dieser Komposition, dass das Strafgericht Jhwhs aller Bosheit auf Erden ein Ende macht. Deshalb entfallen hier auch Ermahnungen und der Ruf zur Umkehr. Die Anklage richtet sich gegen die Arroganz der Völker und ihrer Herrscher (Babel in Kap. 13–14 und Kap. 21; Ägypten in Kap. 19; Tyrus und Sidon in Kap. 23). Israel wird ob des Fremdgötterkults angeklagt (17,7–11), Zion wird ihr mangelndes Vertrauen auf Jhwh zum Vorwurf gemacht (22,11–14). Während das weltweite Unrecht die göttliche Züchtigung als unabwendbar rechtfertigt, weisen einige Bemerkungen darauf hin, dass Gott die zerstörte Ordnung wiederherstellen will (14,3–6.25). Er hält an Zion als Zufluchtsort für die Notleidenden fest (14,32). Den Propheten beschäftigt die Frage: »Wie sollen wir entrinnen?« (20,6). Er gibt seine Empathie mit dem harten Schicksal der betroffenen Völker zu erkennen (15,5–8; 16,2–9; vgl. 21,1–4; 22,2–4). Das ethische
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Programm des Hauses David »Recht und Gerechtigkeit« steht als Garantie für eine neue Zukunft (16,5; vgl. 9,6). II. Akt Jesaja 24–27 Jhwhs Gerechtigkeit schafft Ordnung im Chaos der Völker Diese Kapitel bilden eine selbstständige literarische Komposition mit einem eigenen theologischen Profil. Hinsichtlich der syntaktischen Struktur werden sie durch 24,1 und 27,13 deutlich begrenzt. Ihr Aufbau wird durch ein Zusammenspiel von Rahmenformeln, Sprechrichtung, literarischer Gattung und Thematik bestimmt. Dies grenzt Kap. 24–25 zunächst als einen kohärenten Komplex ab. Zugleich setzen sich Kap. 24 und Kap. 27 als redaktionelle Einheiten ab, da beide mit der Ankündigung einer grundlegenden Wende im Weltgeschehen enden. So bilden der Antritt der Königsherrschaft Jhwhs (24,23) und die Rückkehr der Exulanten zur Verehrung Jhwhs (27,13), beide auf dem Berg Zion, eine doppelte, miteinander verschränkte Perspektive. Außerdem lässt sich ein thematischer Bruch zwischen Kap. 26 und dem Anfang von Kap. 27 feststellen. Die Bezeichnung als »Jesaja-Apokalypse« resultiert aus der Auffassung, die Kapitel nähmen aufgrund ihres sogenannten eschatologischen oder apokalyptischen Inhaltes einen isolierten Platz innerhalb des Buches Jesaja ein. Dieser Standpunkt wird heute fast nicht mehr vertreten, obschon der Ausdruck »Jesaja-Apokalypse« weiter verwendet wird. Zwar betrifft Jhwhs Handeln hier ebenso die Erde mitsamt ihren Völkern wie auch sein eigenes Volk, doch steht nicht das Ende der Geschichte im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Ordnung des Weltgeschehens. Zudem fehlen viele zentrale Motive aus der Apokalyptik: die Einteilung der Geschichte in Epochen, die Umgestaltung des Kosmos, eine Offenbarung, die der Auslegung bedarf, die Verselbstständigung des Bösen zu einem Prinzip oder zu einer eigenen Macht. Auch ist die Auferstehung der Toten hier noch mit der Wiederherstellung von Jhwhs Volk verbunden (26,19). Es besteht mittlerweile dahingehend Einigkeit, dass die Redaktion von Jes 1–39 den Kapiteln 24–27 eine vorrangige Stellung zugewiesen hat. Im Lichte der Errichtung von Jhwhs Königsherrschaft in diesen Kapiteln muss man die nächsten beiden Teile sehen (Kap. 28–35; 36–39), die wesentlich mit dem Angriff auf die Stadt zu tun haben, die Jhwh gegründet hat. Zudem zeigen Kap. 24–27 starke Verbindungen mit dem Vorangehenden. Während Kap. 13–23 den fremden Völkern das Urteil ankündigen, fassen Kap. 24–27 dies zusammen in einem Strafgericht über die Erde insgesamt und über die mächtige Stadt ohne Namen. Des Weiteren finden auch Kap. 1–12 zunächst in Kap. 13–23 und dann in Kap. 24–27 durch semantische Isotopien ihre Fortsetzung, besonders in Bezug auf das zentrale Thema »Zion«. Diese Programmatik wurde bereits in Kap. 12 angekündigt und wird anschließend nach und nach verwirklicht; angefangen mit der Verwüstung des dem Zion entgegengesetzten Anti-Typos Babel (13,1–14,23; 21,1–10) bis hin zur Ankündigung, Jhwh herrsche als König auf seinem Berg (24,23). Das
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Völkermahl (25,6–12) und die Sammlung der Zerstreuten dort gehen hieraus hervor (27,13). Gerade die Ankündigung der Königsherrschaft Jhwhs (24,23) und seine Anbetung (27,13) verknüpfen die Kap. 24–27 und das übrige Buch Jesaja miteinander. Auch andere Primärmotive entwickeln sich im Verlauf von Jes 1–27: »Jhwhs Ratschluss« (5,19; 8,10; 9,5; 11,2; 14,24–27; 19,11–12.17; 23,8–9; 25,1) und »Jhwhs Weinberg« (5,1–7; 27,2–7). Für die Datierung von Jes 24–27 deutet die vorherrschende universalistische Perspektive auf die persische Zeit hin (zwischen 539 und 331). Mit Blick auf den weiteren Textbestand weist das Phänomen der intratextuellen Verbindungen mit Kap. 13–23 und Kap. 1–12 und dem folgenden Teil (Kap. 28–33) auf eine Bearbeitung im Kontext der Entstehung des ersten, großen Buchteils hin (Jes 1–39). Zwar fehlen thematische Bezüge zu Deuterojesaja nicht, aber man kann diese schwerlich als Antizipationen bezeichnen. So haben sich die grundlegenden Züge der Komposition des Jesajabuches im Rahmen eines mehrschichtigen Prozesses im 5. und 4. Jh. herauskristallisiert. Versuche, die Datierung von Jes 24–27 von der Identifikation der »Ortschaft der Ödnis« (24,10) herzuleiten, sind wenig belastbar, da die für die Verwüstung bestimmte Ortschaft als eine literarische Konstruktion erscheint, der mehrere historische Städte – und nicht nur eine – entsprechen (Ninive, Babel, Moab, Samaria, sogar Jerusalem). Da aber die Erinnerung an Babel schwer ins Gewicht fällt, ist es plausibel, dass das Kompositum von Kap. 24–27 aus einer Epoche stammt, in der sich Babels Untergang (539) zu einem Theologumenon entwickelte. Anders gesagt: als Entstehungszeit kommt eher die frühere als die spätere persische Periode in Frage (5. Jh.), wenig wahrscheinlich jedoch die hellenistische (4. Jh.). I. Szene Jesaja 24–25 Weltgericht und Jhwhs Königsherrschaft auf Zion Diese zwei Kapitel heben sich synchron betrachtet zunächst als kohärente Einheit ab. Kap. 24 bildet die Grundlage des gesamten Kompositums von Kap. 24–27. Das Urteil über die ganze Erde wird als Rede Jhwhs ausgewiesen (V. 1–3) und in einem anonymen Klagegesang als schon in Land (V. 4–6) und Stadt (V. 7–13) eingetroffen dargestellt. Es folgt eine dialogische Szene zwischen Sprechern, die aus verschiedenen Orten der Erde zum Lob Jhwhs aufrufen (V. 14–16a). Anschließend reagiert der Prophet mit einem Weheruf (V. 16a–18b) und führt mittels eines Monologs die Inszenierung des Strafgerichts fort (V. 18b–23). Dabei bilden die letzten Verse den Höhepunkt des Kapitels, denn sie kündigen die Errichtung der Königsherrschaft Jhwhs auf dem Zion mit den Folgen für die Machthaber der Erde und den Kosmos an (V. 21–23). Kap. 25 stellt eine Erweiterung zu Kap. 24 dar. Im Danklied von V. 1–5 reagiert der Prophet (in 1. Person) ohne eine verknüpfende Einleitung oder Rahmenformel auf die Proklamation der Königsherrschaft Jhwhs in 24,21–23, wobei das Motiv der Erde und ihrer Bewohner in das Thema der Stadt der gewalttätigen Nationen übergeht (V. 2–3). Auch die nachfolgende Prophetie eines Völkermahls
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»auf diesem Berg« mit der Vernichtung des Todes in V. 6–8 und das Danklied der Geretteten in V. 9–10a.(12) schließen sich als Auswirkung der göttlichen Herrschaft auf Zion unmittelbar an 24,23 an (vgl. Ex 24,9–11). Der Unterschied zwischen Kap. 24 und Kap. 25 liegt darin, dass ersteres einen eigenen Handlungsverlauf aufweist, während Kap. 25 Elemente aus Kap. 24 ausarbeitet. So baut das Thema der starken Stadt in 25,2–4.12 auf 24,10–11 auf. Über die Entstehungsgeschichte von Jes 24 kann man nur Vermutungen anstellen. Die Urteilsankündigung in V. 1–3 ist zeitlos. In V. 4–12.18b–20.21–23a hebt sich ein wahrscheinlich frühexilisches Klagelied ab, dessen ursprünglicher Gegenstand redaktionell verändert worden sein könnte: Betraf es zuvor Jerusalem und Juda, betrifft es jetzt die Welt. Dafür spricht die Tatsache, dass das Wort ≈ra (16mal) im Kontext von V. 1–20 »das Land« meinen kann, aber im Gesamtzusammenhang des Kapitels »die Erde« bedeuten muss. Der Dialog in V. 14–18a hingegen hat einen anderen Ursprung: Er verdankt sich dem redaktionellen Zusammenhang von Kap. 24 mit Kap. 13–23. Der Schlusssatz, »Wahrlich, Jhwh Zebaot wird als König herrschen auf dem Berg Zion und in Jerusalem« (V. 23b), fasst den eigentlichen Schwerpunkt des Kapitels in Worte, während er auch die theologische Grundlage der Kap. 28–33 enthält. Kurzum: das Kapitel insgesamt ist als eine Komposition aus der Zeit zu bewerten, in der auch Jes 1–39 zustande kam, wobei der Klagegesang ursprünglich das Land Israel betraf und älteren Datums war. Man kann Kap. 25 als literarische Fortsetzung von Kap. 24 nicht früher als letzteres datieren, jedoch sind einzelne seiner Bestandteile möglicherweise älteren Datums. Die Sprache ist mit der Jesajas und jener der Psalmen sehr verwandt, doch bietet dies keinen Anhaltspunkt für eine absolute Datierung. Jedenfalls geht das Kapitel als Kommentar zu Kap. 24 auf ein für die Zeit nach dem Exil äußerst wichtiges Thema ein: das Schicksal der Frommen und der Frevler unter der weltweiten Herrschaft des Gottes Israels. Die zwei Lobgesänge (V. 1–5.9–10a) haben vielleicht neben ihrem kultischen auch einen historischen Hintergrund. Ersterer kann im Zusammenhang mit dem Fall Babels (539), letzterer im Zusammenhang mit der Wiederherstellung Zions als kultisches Zentrum nach dem Exil entstanden sein. Die Ankündigung des Untergangs von Moab könnte mit dessen Eroberung durch die Babylonier im Jahre 582 zusammenhängen (V. 10b–12). Aber der literargeschichtliche Ort dieses Spruches inmitten seiner Parallelen ist schwer zu bestimmen (vgl. Jes 15–16; Jer 48; Ez 25,8–11; Am 2,1–3; Zef 2,8–11). II. Szene Jesaja 26 Das Lied vom Vertrauen der gerechten Nation in Jhwhs Stadt Kap. 26 (eigentlich 26,1–27,1) ist unter synchronen Gesichtspunkten weniger eng mit Kap. 24–25 verbunden: Es schließt mittels der Rahmenformel »an jenem Tag« (V. 1) an. Es führt in Anlehnung an die Bekenner in 25,9 (»Man wird sagen an jenem Tag«) eine neue sprechende Figur ein. Eine Gruppe von Gerechten (»wir«)
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im Land Juda, die in die von Jhwh errichtete Stadt einziehen wollen, singt ein Lied, in dem das Motiv des Vertrauens auf Gott vorherrscht (V. 1–6). Dieses Danklied wird zu einer Lehre über das sich bis in den Tod hinein unterscheidende Schicksal der Gerechten und Sünder entfaltet (V. 7–19). Der Prophet antwortet den Betern dieses Liedes mit der Ankündigung, Jhwhs Urteil über die Ungerechtigkeit der Weltbewohner trete nun in Kraft (V. 20–21). Dieses Prophetenwort wird in 27,1 schöpfungstheologisch interpretiert. Die Frage nach dem literargeschichtlichen Hintergrund von Kap. 26 läuft auf die Frage nach seiner Hinzufügung zu Kap. 24–25 in Zusammenstellung mit Kap. 13–23 hinaus. Der Text enthält keine Angaben für eine bestimmte Epoche, es sei denn, man liest den Gegensatz zwischen der starken Stadt (V. 1) und der emporragenden Ortschaft (V. 5) vor dem Hintergrund des Falls oder der Verwüstung von Babel (unter den persischen Königen Kyrus 539 oder Xerxes 485) und der Wiederherstellung Jerusalems nach dem Exil. Jedoch wird die geographische Identität dieser Städte durch eine metaphorische überlagert: das Zuhause der Gerechten (V. 1) gegenüber der Unterkunft der Gottlosen (V. 5.11). Die freie Anwendung von Themen und Formen deutet auf die Zeit nach dem Exil hin, als diese sich zusehends vermischten. Die umfassende Thematik der vorangehenden Kapitel, das Anbrechen der universalen Herrschaft Jhwhs, wird fortgeführt, jetzt von der Frage her, wie man die Verwirklichung der Prophetie aus Kap. 24–25 konkret erwarten soll. Damit erweist sich die nachexilische Gemeinde in Juda als das Milieu, in dem dieses Kapitel entstanden ist. III. Szene Jesaja 27 Die Sammlung der Vertriebenen zur Anbetung Jhwhs auf dem heiligen Berg Kap. 27 (eigentlich 27,2–13) ist in synchroner Hinsicht zwar in geringerem Ausmaß als Kap. 26 mit Kap. 24–25 verbunden, stellt jedoch eine Ergänzung zu Kap. 26 dar, die von der Frage her motiviert ist, wie sich Israels Verhältnis zu Jhwh vor dem Hintergrund seines über die Erde gehaltenen Strafgerichts gestaltet. So bildet das Ende, die Sammlung der Vertriebenen und ihre Anbetung Jhwhs auf dem heiligen Berg in Jerusalem (V. 12–13), zusammen mit der Gründung von Gottes Herrschaft auf dem Zion (24,23) eine Doppelperspektive. Das Kapitel ist durch die Formel »an jenem Tag« (V. 2.[6].12.13) strukturiert und lässt einen Zusammenhang von verschiedenen Themen erkennen, die in Kap. 24–26 fehlen. Damit entfaltet es eine neue Dynamik: Jhwh selbst stimmt ein Lied über seinen Weinberg Israel an (V. 2–6; vgl. 5,1–7). Das Thema »Jakob/Israel« wird wieder aufgenommen (V. 6; vgl. 14,1), und zwar im Sinne einer Theodizee (V. 7–9). Jhwhs Umgang mit seinem Weinberg Israel (V. 4–6) steht seinem Handeln an der befestigten Stadt gegenüber (V. 10–11; vgl. 25,2; 26,5–6). Dass Jhwhs Eingreifen hier als Reinigung Jakobs von Sünden verteidigt wird, bereitet den Schluss vor: die Sammlung des exilierten Israeliten aus der Diaspora und ihre Rückkehr in das Land, um Jhwh auf seinem Berg zu verehren (V. 12–13).
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II. Auslegung von Jesaja
Historisch gesehen geht das Kapitel aus dem neuen Bemühen hervor, die Stellung Israels bei der weltweiten Gottesherrschaft theologisch zu deuten. Folglich besteht Grund zu der Annahme, das Kapitel sei relativ unabhängig von Kap. 24–26 entstanden. Das stimmt mit der Vermutung überein, dass in der JesajaApokalypse unterschiedliche Überlieferungen verarbeitet worden sind. So hat man in Kap. 27 einen nordisraelitischen, aber nicht notwendigerweise anti-samaritanischen Hintergrund festgestellt. Die Verurteilung von Altären und anderen Kultgegenständen (V. 9) kann sich sowohl auf das vorexilische Heiligtum in Bethel wie auch später auf Samaria beziehen. Weiter war seit dem Untergang des Nordreiches die Rückkehr der Exilierten aus Assur und der Flüchtlinge aus Ägypten lebendiger Bestandteil der Erwartung (V. 12 handelt nicht von Babel). Es ist also möglich, dass die nachexilische Redaktion von Kap. 24–27 eine ältere Prophetie, die Kap. 27 zugrunde lag, in die Komposition von Kap. 24–26 aufgenommen hat. Die These, dass das auf Jes 5 (»Lied vom Weinberg«) und die vorangehenden Kapitel abgestimmte Kap. 27 seine heutige Gestalt ganz im Kontext der nachexilischen Tempelgemeinde angenommen hat, kann gute Gründe für sich reklamieren. Dabei bleibt die genaue religiös-soziologische Charakterisierung dieses Milieus aber äußerst unsicher. Theologischer Ertrag zum II. Akt (Jes 24–27) Dass die sogenannte »Jesaja-Apokalypse« mit den vorausgehenden Völkersprüchen eng verbunden ist, zeigt eine veränderte Ausrichtung im Bereich der Ethik. Das Strafgericht über das Böse wiegt zwar nicht weniger schwer (24,1–20), denn die Unmoral ist ein weltweiter Fluch (V. 5–6), doch was nun die Oberhand gewinnt, ist die Festigung der Königsherrschaft Jhwhs auf seinem Berg in Zion (24,21–23). Dies impliziert das Ende der Unterdrücker und den Fall ihrer Bollwerke. Es bedeutet auch die Etablierung eines Zufluchtsortes für die Wehrlosen, die Zubereitung eines Festmahles für alle Völker auf dem Berg Jhwhs, wo Tränen, Schmach und Tod keinen Platz mehr haben (Kap. 25), und darüber hinaus den Bau einer starken Stadt, von der aus das gerechte Volk der Gerechtigkeit Jhwhs und dem göttlichen Gericht über die Welt in Sicherheit entgegensehen kann (26,1–9). Zwar hatten die Nöte Israels das Vertrauen in Jhwhs Fürsorge und seine Autorität über das Weltgeschehen in Mitleidenschaft gezogen, doch er selbst hat sein Engagement für sein Volk und die kosmische Ordnung erneut unter Beweis gestellt. So nimmt er die Parabel vom Weinberg Israel auf (5,7), den er nur deshalb schlug, damit dieser nun Früchte bringe (27,3–7).
III. Die Durchsetzung der Königsherrschaft Jhwhs auf Zion
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III. Teil Jesaja 28–35 Die Durchsetzung der Königsherrschaft Jhwhs auf Zion In der Endgestalt des Jesajabuches stellt dieser Teil eine Verbindung aus zwei ursprünglich selbstständigen Kompositionen dar: eine Sammlung von sechs Wehesprüchen sowohl gegen Jerusalem als auch gegen die Unterdrücker (Kap. 28–33) sowie ein Diptychon von zwei Orakeln über Gericht und Heil, dessen Verbindung über den Kontrast zwischen Edom und der blühenden Wüste hergestellt wird (Kap. 34–35). Die erste Komposition bildet insofern eine Parallele zu Kap. 1–12, als hier wie dort die drohende Invasion Assurs gegen Juda und Jerusalem im Lichte der Souveränität Jhwhs über die Geschichte gedeutet wird. Die zweite Komposition (Jes 34–35) bildet den vorläufigen Schluss der vorangegangenen Teile, denn einerseits beschreibt sie, wie das Gericht über Jhwhs Gegner zuerst gegen Edom losbricht (Kap. 34), andererseits zeigt der Abschnitt, wie für die Heimkehrer zum Zion das Heil schon in der Wüste aufblüht (Kap. 35). Damit stellt Jes 35 einen noch deutlicheren Übergang zu den Kap. 40–66 her als Jes 34. Die Rückführung der Kap. 36–39 auf dieselbe literarische Strategie erweist sich hingegen als schwierig, zumal die Handlungsträger (die Könige von Juda und Assur, der Prophet und Zion) dort eine andere Rolle übernehmen als in Kap. 28–35. Zudem ist vor Jes 36–39 von Hiskija explizit gar keine Rede. In Bezug auf die diachrone Einordnung wird vermutet, dass die fünf Weherufe über das eigene Volk (Kap. 28–31) auf Orakel des historischen Propheten, unmittelbare Überarbeitungen durch Schülerkreise und eine spätere redaktionelle Strukturierung zurückgehen. Dieser »Assur-Zyklus« wird aufgrund zahlreicher Ähnlichkeiten öfters als eine parallele Sammlung von Orakeln neben dem Grundstock von Kap. 1–12 gedeutet. Letzterer hatte die Zeit des syrisch-efraimitischen Krieges (734–732) als Hintergrund, die Orakelsammlung von Jes 28–31 beleuchtet die immer näher kommende Invasion Assurs nach Juda (722–701). Diese Ähnlichkeit darf aber nicht dazu führen, die Verbindungen von Jes 28–31 zu Kap. 13–27, insbesondere zu Kap. 24–27, außer Acht zu lassen. Denn Kap. 28–31 bauen nicht zuletzt auf das vorherrschende Thema von Jes 24–27 auf: die Errichtung der Königsherrschaft Jhwhs auf dem Berg Zion (24,23; 27,13). Im Unterschied zu Kap. 28–31 werden die zwei Anhänge (Kap. 32) und der sechste Weheruf gegen den ausländischen Verwüster (Kap. 33) in Gänze oder zumindest größtenteils verschiedenen Phasen der Redaktion zugeschrieben. Mit guten Gründen lassen sich in Kap. 28–33 vier unterschiedliche Sitze im Leben unterscheiden: 1.) Prophetien von Jesaja selbst oder seinem Schülerkreis (8. Jh.); 2.) die Ordnung und Bearbeitung dieses Materials nach der Rettung Jerusalems (701) und unter dem Eindruck des erhofften bevorstehenden oder tatsächlichen Untergangs Assurs (7. Jh.); 3.) die Neuinterpretation dieses Bestandes nach der Zerstörung Jerusalems (586) und während des Exils (6. Jh.); 4.) die nachexilische Redaktion und Integration dieser gewachsenen Komposition in das endgültige
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II. Auslegung von Jesaja
Jesajabuch, die im Milieu der Jerusalemer Tempelgemeinde geschehen sein dürfte (während der Perserherrschaft im 5–4. Jh.). I. Akt Jesaja 28–33 Sechs Weherufe gegen die Übeltäter in Zion Die literarische Komposition setzt sich aus sechs Weherufen zusammen: Fünf beziehen sich auf das eigene Volk des Propheten: auf Efraim (28,1), auf Ariel, d.h. Zion (29,1), dessen Elite (29,15) sowie die rebellischen Politiker (30,1; 31,1). Ein weiterer Weheruf richtet sich gegen den fremden »Verwüster/Räuber« (33,1). Zwischen dem fünften und dem sechsten Weheruf befinden sich zwei weitere Orakel (32,1–8.9–20) sowie ein Epilog zu den fünf vorangehenden Weherufen. Die Anbindung von Kap. 28–33 an Kap. 24–27 ist für das Verständnis des gesamten Jesajabuches wichtig. Auf der Ebene der prophetischen Vision markiert die Errichtung der Herrschaft Jhwhs auf Zion (24,23) und seine Huldigung durch die dort versammelten Heimkehrer aus der Diaspora einen gewissen Schlusspunkt (27,13). Dennoch verlangt die Vision insofern eine Fortsetzung, als die Reaktion der Adressaten, d.h. der widerspenstigen Einwohner Jerusalems, auf die Botschaft des Propheten noch aussteht. Die Erneuerung dieser Stadt stellt das umfassende Thema der Komposition dar. Der Anschluss an Jes 27 geschieht mithilfe der Kontrastierung zweier Orte: »der heilige Berg in Jerusalem« (27,13) versus »die stolze Krone Efraims […] auf dem Haupt des fetten Tales«. Dabei findet eine Identifikation »Efraims« (28,1–3) mit dem gegen Jhwh rebellierenden »Jerusalem« (28,14) statt. Das Strafgericht wird beide hinwegfegen (28,2.15). Selbst der Bund der Herrscher Jerusalems mit dem Tod (28,14–15) wird die Anbetung Gottes durch die Zerstreuten (27,13) nicht hintertreiben, da Jhwh in Zion einen Grundstein von Recht und Gerechtigkeit gelegt hat (28,16–17). Einige Motive in Kap. 28–33 untermauern dies: Die Entlarvung Ägyptens (30,1–7; 31,1–3) und der Untergang Assurs (30,31–33; 31,8–9) stehen symbolisch für die Unterwerfung der Völker, die in der Jesaja-Apokalypse angekündigt wurde (24,13.17–22). Des Weiteren verbindet der Untergang der Sünder innerhalb und außerhalb Israels die beiden Kompositionen (24,4–12; 25,1–5; 26,5.11.21; 28,17–22; 29,20–24; 30,12–14; 31,2.7–9; 33,14). Am wichtigsten aber ist Jhwhs Einwohnung auf dem Zion (24,23; 25,6–8; 33,21–22). Die Koppelung von Jes 28ff. an Kap. 24–27 zeigt sich auch auf der Ebene des Handlungsverlaufs (»Drama«), zumal das Auftreten Jhwhs als dem wichtigsten Handlungsträger Kontinuität erzeugt. Die Aussagen »Siehe, Jhwh zieht von seiner Stätte aus, um die Schuld der Erdenbewohner an ihnen heimzusuchen« (26,21) und »Siehe, einen Starken und Mächtigen hat der Herr. Wie ein Hagelwetter […] wirft er mit der Hand zu Boden nieder« (28,2) bilden eine Abfolge, die auf die Gegenwart Bezug nimmt. Jhwh setzt sein Vorgehen auch in Kap. 28–33 performativ weiter durch (»Ich«: 28,17; 29,2–3.14; 33,10–13; vgl. 37,35). Der Zusammenhang des ersten Aktes liegt auch dem sechsten Weheruf zugrunde (Kap. 33). Nachdem in Kap. 24–27 Jhwhs Verhältnis zu Israel inmitten der
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Völker geklärt und in Kap. 28–31 sein Verhältnis zum aktuellen Zion als kontrastierendes Problem thematisiert wurde, bestätigt die Prophetie gegen den Verwüster – wegen Gottes Herrschaft auf seinem Berg (vgl. 24,23; 27,13) – die Vision von Zion als sicherer und Jhwh geweihter Stadt, vor der die feindlichen Völker fliehen und in der die Sünder keinen Platz haben sollen. Intratextueller Art ist der Anschluss von Kap. 28–31 an Kap. 1–12, besonders durch die Erzählung von der Sendung Jesajas in Jes 6. Er ist unmittelbar greifbar im Thema »hören, sehen und (nicht) verstehen« (6,9–10; 28,9–12; 29,9–12; 30,8– 11), das außerdem mit dem Thema vom »Ratschluss des Heiligen Israels« zur Anwendung kommt (vgl. 5,19 in Zusammenhang mit 6,3; 8,10; 25,1; 28,29; 29,15; 30,1). Diese beiden Themen geben einen Hinweis auf die Textpragmatik: Die eng mit Zion verbundene Leserschaft des Jesajabuches soll begreifen, dass sich Gottes übermächtige Transzendenz im Schicksal Jerusalems auswirkt. Nicht an ihnen vorbei, sondern gerade in und durch ihre Aufmerksamkeit auf Jhwhs Wort und Botschaft für Israel. I. Szene Jesaja 28 Wehe gegen die Betrunkenen in Efraim und die Herrscher Jerusalems Kap. 28 stellt eine Komposition aus heterogenem Material dar. Von der Endgestalt her ist ihr Aufbau zwar leicht nachzuvollziehen (V. 1–6; V. 7–13; V. 14–22; V. 23–29), doch ist das Verhältnis dieser Passagen zueinander nicht ohne Weiteres klar. Da der letzte Abschnitt als Metatext fungiert, hebt er sich von den drei vorangehenden deutlich ab. Als Ganzes enthält das Kapitel eine Theologie von Unheil und Heil, aber nicht etwa aus systematischer Sicht, sondern wie die prophetische Reflexion im Nachdenken über die Geschichte Israels Gottes Verhältnis zu seinem Volk verstanden hat. Der erste Abschnitt (V. 1–6) schildert den unerwartet schnellen Untergang des Nordreiches (»Efraim«) nach einer Epoche verschwenderischer Blüte. Der Fall ist als ein zukünftiges Ereignis beschrieben (V. 1–4), dem die Ansage von Jhwhs Oberherrschaft über »den Rest seines Volkes« in einer namentlich nicht genannten Stadt kontrastiv an die Seite gestellt ist (V. 5–6). Der zweite Abschnitt (V. 7–13) nützt die vage bleibende Identität von Efraims Verwaltern, um in gesteigertem Maße einer anderen Elite, den Priestern und Propheten der namenlosen Stadt, den Spiegel vorzuhalten. Ihre Perversion und Widerspenstigkeit gegenüber dem vom Propheten verkündigten Wort Gottes werde eine vernichtende Niederlage gegen das »Volk mit unverständlicher Sprache« zur Folge haben. Der Text selbst lässt es dahingestellt, ob man den Abschnitt als Orakel über das Nordreich (in Anschluss an V. 1–4) oder Südreich (vielleicht in Anschluss an V. 5–6) zu verstehen hat, aber langsam kommt jene Stadt in Sicht, in der Jhwhs Wort verkündigt wird. Im dritten Abschnitt (V. 14–22) wendet sich Jhwh ausdrücklich an die Herrscher in Jerusalem. Die Urteilsankündigung gegen sie stützt sich auf Jhwhs Wirkmächtigkeit: »Ich bin es, der in Zion einen Grundstein gelegt hat« (V. 16). Dies
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führt dazu, dass er »Recht/Gerechtigkeit« bewahren wird, so dass ihr »Bund mit dem Tod« zugrunde geht (V. 17–18). Die jesajanische Theologie von Unheil und Heil erreicht hier ihren Höhepunkt. Es ist keine Sache eines Entweder-oder, sondern eines Weges, der durch Unheil zum Heil führt, mit anderen Worten: zur Realisierung des göttlichen Plans. Dieses Ziel mildert das Unheil aber keineswegs ab. Die in Jerusalem vorherrschende sozial-religiöse Ideologie wird als ein Bekenntnis zu Betrug und Tod, implizit als eine Rebellion gegen Jhwh bezeichnet und bestraft (V. 14–15.18). Die Skizze des Strafgerichts spiegelt eine politische Situation wider, die noch trostloser ist als jene in V. 7–13. Ausdrücke wie »ein Bund mit dem Tod« (V. 18), »eine einherflutende Geißel« (V. 19), »Kampf wie am Berg Perazim« (V. 21), »Fesseln« und »festbeschlossene Vertilgung« (V. 22) sind das Resultat einer bitteren Enttäuschung. Hilfe von Seiten fremder Völker bleibt aus, stattdessen flutet eine zerstörerische Invasion heran. Doch es gibt Aussicht auf Heil, die zudem sogar grundsätzlich gilt, aber nur insofern Jhwh die Absicht verfolgt, sein befremdliches Werk zu vollziehen (»sein Werk ist befremdend, seine Arbeit seltsam«: V. 21). Dieser mythisierenden Deutung des göttlichen Handelns folgt eine Erklärung in Gestalt einer Parabel des von Gott belehrten Bauern: »Nicht unaufhörlich drischt der Drescher« (V. 23–29, bes. V. 28). Sie enthält eigentlich nicht mehr als die Versicherung, dass die Geschichte als Gottes weises Tun weitergeht. Die Parabel rahmt zusammen mit der Gründungsurkunde Zions (V. 16) die sinnstiftende Interpretation der aktuellen Not als notwendigen Durchgang zu der von Gott bestimmten Zukunft. Im Gegensatz zu früheren diachronen Versuchen, die unterschiedlichen, teils ursprünglich selbstständigen Passagen dieses Kapitels in eine absolute Chronologie einzuordnen, geht das derzeitige Bestreben der Forschung dahin, diese Texte redaktionsgeschichtlich plausibel zu verorten. Für V. 1–6 bildet wohl der Untergang Efraims den historischen Hintergrund. V. 1 skizziert die Zeit, als das Nordreich noch in Wohlstand verkehrte. Die Beschreibung des Urteils in V. 2–4 kann auf dessen Eroberung (732) zurückgehen, als lediglich der Kernstaat Samaria übrig blieb. Ebenso könnte der Abschnitt jedoch auf dessen Eingliederung als Provinz in das assyrische Reich (722) verweisen. Je nachdem, ob man V. 5–6 als eine Verheißung für das Nord- oder Südreich ansieht, kann diese Prophetie voroder nachexilisch sein. Die Zusammenstellung dieser Passagen hat, wenn nicht die vorexilische Hoffnung auf die Restauration des Nordreiches zum Hintergrund, so doch die Hoffnung aus der Zeit vor oder nach dem Exil zum Gegenstand, dass Jhwh Jerusalem beschützen bzw. wiederherstellen wird. In V. 7–13 bietet die drohende Invasion eines Volkes unverständlicher Sprache einen historischen Anknüpfungspunkt. Unter der Voraussetzung, dass sich diese Prophetie in Weiterführung von V. 1–6 an die Priester und Propheten Efraims wendet, stammt auch sie aus der Zeit, als das Nordreich von Assur unterworfen wurde (732–722). Richtet sie sich an Judas religiöse Oberschicht und hält sie dem
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Südreich den Spiegel des Nordreiches vor, kann sie aus derselben Zeit, jedoch ebenso aus der Zeit zwischen 722 und 701 stammen, als von Assur eine fast tödliche Bedrohung für das Südreich ausging. Denn Jesajas Prophetien behielten im 7. Jh. ihre Aktualität, als die Gefahr nicht mehr von Assur, sondern von Babels zunehmender Macht drohte (ab 612). Im Hintergrund der Endgestalt dieser Orakel leuchtet also der Untergang und das Exil der Bevölkerung von Israel und Juda auf. In V. 14–22 hält Jhwh den Herrschern in Jerusalem die besondere Stellung vor Augen, die er Zion zugedacht hat (V. 14.16). Die politische Situation scheint noch trostloser zu sein als in V. 7–13, ebenso ist die Ablehnung der prophetischen Predigt noch schärfer. Hinter dem Text verbirgt sich die Erfahrung eines erfolglosen Bündnisses mit Ägypten und einer zerstörerischen assyrischen Invasion (möglicherweise unter Sanherib im Jahre 701, aber historische Gewissheit lässt sich hier nicht erzielen). Die Absicht, die Jhwh mit der Gründung Zions verfolgt, stellt jedenfalls die Magna Charta der Stadt als eine vorexilische Tradition dar. Die Parabel von V. 23–29 enthält keine historischen Bezugnahmen, kennt dennoch für Jesaja charakteristische Ausdrücke: »die rechte Ordnung« und »unterweisen« in V. 26, »Jhwh Zebaot«, »wunderbar« und insbesondere »Ratschluss« in V. 29. Das zuletzt genannte Thema scheint vom Propheten selbst zu stammen, aber auch die Redaktion des Buches hat es zu einem fortlaufenden Motiv ausgearbeitet (5,19; 8,10; 9,5; 11,2; 14,24.26–27; 19,3.11–12.17; 23,8–9; 25,1; 29,15; 30,1; 36,5; 40,13–14.26; 41,28; 44,26; 45,21; 46,10–11; 47,13). Die dialogische Situation aus V. 1–22 setzt sich hier nicht mehr fort. Es handelt sich eher um einen resümierenden Abschnitt der Redaktion von Jes 1–39 für die Leserschaft. II. Szene Jesaja 29,1–14 Wehe Ariel, Ortschaft, wo David lagerte Diese mehrschichtige Komposition führt synchron das Hauptthema von Jes 28, Jhwhs wunderbares Handeln für Zion, nicht nur weiter, sondern überbietet es zugleich, bis hin zum Paradoxon: »Vonseiten Jhwhs bricht Heimsuchung ein« (V. 6). Auch die Diskussion mit der Jerusalemer Oberschicht wird fortgesetzt. Waren in Kap. 28 die Priester, Propheten und Herrscher (V. 7.14), so werden hier die Propheten (29,10), das Volk und die Weisen (V. 13–14) genannt. Trotz vieler konzeptioneller Übereinstimmungen mit Kap. 28 besitzt der Weheruf in Kap. 29 einen anderen Ausgangspunkt. In V. 1–8 dient der alte Name für Jerusalem, »Ariel« (»Altarherd«), einer parabelartigen Deutung von Jhwhs widersprüchlichem Verhalten gegenüber der Stadt: Er bewirkt zugleich Gericht (V. 3–4) und Rettung (V. 5–8). Die Metapher »Altarherd« und das beschriebene Geschehen stehen in einem Spannungsverhältnis. In V. 9–12 wird das Unverständnis der Jerusalemer Propheten mittels zweier ineinander übergehender Gleichnisse als unumkehrbar gedeutet: Jhwh selbst hat ihre Augen verhüllt (V. 9–10); die Vision/das Gesicht (twzj) ist ein versiegeltes Buch, egal, ob man lesen kann oder nicht (V. 11–12). Eine Übereinstimmung mit der Verstockung des Volkes in
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Jesajas Tempelvision (Jes 6) legt sich nahe. Doch die Nicht-Erkenntnis hängt jetzt nicht ab vom »nicht hören können, nicht sehen können, nicht zu Einsicht kommen« aufgrund einer Beeinträchtigung der betreffenden Sinnesorgane (6,10), sondern ist das Resultat des »Nicht-lesen-Könnens«, da die Augen bedeckt sind und die Schrift versiegelt wurde (V. 10–12). Das führt zur Schlussfolgerung, dass hier das Unverständnis für das Auftreten des historischen Propheten auf jene Schrift übertragen wird, die seine Prophetien enthält. Somit aktualisieren die Verse den narrativen Kern von Jes 6 und 28 auf die Leserschaft des Jesajabuches. Sie werden vor einer Verehrung Jhwhs allein mit »Lippen/Mund« statt mit dem »Herzen« gewarnt. Die nachfolgende Gottesrede (V. 13–14) ist kompositorisch notwendig, da der vorhergehende Vergleich die Frage offen lässt, wer denn die Schrift entschlüsseln könne. Das Orakel beschreibt die Schuld des Volkes unverblümt und ohne Metaphern (V. 13). Daran schließt sich die Erwartung an, dass Jhwh das Strafgericht vollziehen werde, auch wenn die Aussageabsicht der Komposition insgesamt beibehalten wird: Jhwh werde auch weiterhin »wunderbar und wundersam mit diesem Volk handeln« (V. 14a). Gottes Zuständigkeit lässt sich nicht in der Alternative Heil oder Unheil erfassen. Das, was mit Sicherheit zugrunde geht, ist »die Weisheit seiner Weisen« (V. 14b). Nach einigen Exegeten ist der Weheruf insgesamt nur dem historischen Propheten zuzuschreiben, denn Unheil und Heil seien im Text untrennbar miteinander verbunden. Dieser enge Zusammenhang fuße auf Jhwhs Zusage der Unbesiegbarkeit Zions, was ein altes Motiv des Jerusalemer Kultes darstelle (V. 8). Unter Hinzuziehung weiterer Passagen hält man das Ineinander von Strafgericht und Rettung für charakteristisch für Jesajas eigene Verkündigung und situiert diesen Weheruf in die Zeit einer assyrischen Bedrohung Jerusalems, die aber noch einmal glimpflich ausging (z.B. der Kriegszug gegen Juda 705–701 oder die Eroberung Samarias 724–722). Demgegenüber sehen andere Exegeten in dem Zusammenhang von Unheil und Heil in V. 1–7.(8) den theologischen Ertrag der frühen Jesaja-Überlieferung (der sog. »Assur-Redaktion« aus dem 7. Jh.). Allerdings beziehe sich diese hier auf die spezifische Erfahrung, dass Sanherib im Jahre 701 die Belagerung Jerusalems plötzlich aufheben musste (vgl. Jes 36–37). Die diachrone Diskussion betrifft des Weiteren V. 9–14: Einige Exegeten sind der Meinung, dieser Abschnitt gehöre ursprünglich zum Weheruf und stelle die Antwort des Propheten auf die ungläubige Reaktion seiner Zuhörer im Anschluss an die vorausgegangene Prophetie dar: »das Gesicht von diesem allen« (V. 11) bezöge sich auf V. 1–8 (vgl. V. 7: »Gesicht der Nacht«). Andere wiederum halten den Zusammenhang der beiden Passagen für das Ergebnis einer nachexilischen Fortschreibung. Die Redaktion erwarte für die Prophetie in V. 1–8 eine noch spätere Umsetzung als die Belagerung durch Sanherib im Jahre 701 und den Fall Jerusalems im Jahre 586. Aus diesem Grund habe sie zwei authentische Orakel des Propheten (eine Anklage gegen die Einstellung seiner Zuhörer in V. 9–10 und eine Gottesrede mit Schuldaufweis und Urteilsankündigung in V. 13–14) mit ihren
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eigenen Ausführungen (V. 11–12) zusammengestellt. Insgesamt wäre V. 9–14 somit ein Metatext zu V. 1–8, durch den die Redaktion die Leserschaft des Buches dazu führen will, sich die bleibende Gültigkeit der Arielprophetie zu Herzen zu nehmen. Rückblickend ist festzuhalten, dass dieser Weheruf ein Musterbeispiel für die stark divergierenden Datierungstendenzen in der heutigen Jesajaexegese darstellt. III. Szene Jesaja 29,15–24 Wehe denen, die einen Plan vor Jhwh verbergen Dieser Weheruf schließt sich in synchroner Betrachtungsweise durch Wortverbindungen an den vorhergehenden an: Die Ankündigung »Der Verstand seiner Verständigen wird sich verbergen« (29,14) konkretisiert sich in »denen, die einen Plan vor Jhwh verbergen« (29,15). Die Szene gliedert sich in drei Teile: V. 15–16 enthalten den Weheruf mit einer Anklage, an den sich in V. 17–21 eine Prophetie über die Wende vom Unheil zum Heil und in V. 22–24 eine Gottesrede anschließen. Die Anklage »Oh eure Verkehrung!« dient dem ganzen Weheruf als Motto: Demgegenüber wird Verwandlung aller Art durch Jhwhs Handeln bis zum Ende angekündigt. Die Sprechrichtung ist auf zwei Hörerschaften fokussiert. Die Anklage gegen eine gottfeindliche Hörerschaft ergeht zunächst in 3. Person: »Wehe denen, die vor Jhwh einen Plan verbergen! […] Sagten sie doch […]« (V. 15), darauf in 2. Person: »Oh eure Verkehrung!« (V. 16). Die Prophetie schließt sich in impliziter Anrede an eine andere Hörerschaft an: »Nicht wahr? Nur noch eine kurze Weile […]« (V. 17a). Der Prophet spricht hier ein bevorstehendes Ereignis an, dessen Bekanntheit er bei der Hörerschaft voraussetzt (V. 17b–21), ebenso wie er sich zuvor auf unwiderlegbare Kenntnisse berufen hat (V. 16). Die Prophetie selbst betrifft zwei Gruppen, die Armen (V.18–19: »Taube/Blinde« und »Elende/Ärmste«) sowie die Unterdrücker (V. 20–21: »Gewalttätige/ Übermütige/die auf Unheil lauern«), behandelt diese jedoch nicht in gleicher Weise als Gesprächspartner. Das Interesse konzentriert sich zwar auf die Armen, doch wird den Unterdrückern ihr bevorstehendes Ende verheißen (V. 20). Ihr Untergang tritt aber gegenüber der Regeneration und Freude der ersten Gruppe (V. 18–19) deutlich in den Hintergrund. Die Gottesrede (V. 22–24) wendet sich an das »Haus Jakob« und konkretisiert so die zuvor genannten Armen. Die Tatsache, dass Jhwh Abraham losgekauft hat, gilt als Grund für die Begnadigung des Hauses Jakob (nach der Erwähnung seiner Verstoßung in 8,17; [10,20] und Versöhnung in 27,6–9; vgl. auch »Abraham« in 41,8; 51,2). Dies führt zu einer auffälligen Explizierung von V. 19 (»Die Ärmsten werden jauchzen über den Heiligen Israels«) in V. 23 (»Seine [=Jakobs] Kinder […] werden den Heiligen Jakobs heilig halten«, wobei der Ausdruck »der Heilige Jakobs« im AT singulär ist). Meist schreibt man V. 15–16 dem historischen Propheten zu und verortet die Verse in der Zeit, als Jerusalem Vorbereitungen für einen Aufstand gegen Assur
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traf (705–701; vgl. Jes 30,1–7). Aufgrund des besonderen Interesses an »Israel« und der Wiederherstellung »Jakobs«, aber auch wegen der fehlenden Bezugnahme auf das Thema »Zion« setzen andere Exegeten die Verse hingegen früher an, und zwar in einer Zeit, in der man im Nordreich (734–732) einen neuen Aufstand vorbereitete, der in Juda die Erwartung eines wiederhergestellten Davidreiches nährte (724–722). Andere halten V. 15–16 in Verbindung mit V. 9–10.13–14 für eine späte, redaktionelle Fortschreibung der Arielprophetie in V. 1–8. Schließlich betrachtet man allgemein V. 17–24 als eine noch spätere, »frühapokalyptische« Fortschreibung aus dem 5. Jh. Eine Entscheidung bleibt auch für diese Verse sehr schwierig, wenn sie überhaupt begründet getroffen werden kann. Die Anklagen beziehen sich jedenfalls zum einen auf Leute, die – gemessen an der Bedeutung des Schlüsselbegriffs »Plan» an anderen Stellen (V. 15–16; vgl. 5,19; 8,10; 11,2; 14,26; 16,3; 19,3.11.17; 28,29; 30,1; 36,5) – den politischen Kurs des Landes bestimmen und Bündnisse mit Ägypten schließen (28,14–15; 30,1–7; 31,1–3). Zum anderen scheint die angesprochene Gruppe nach Belieben über das Recht verfügen zu können (V. 20–21; vgl. 28,12; 30,12; 32,6–8; 33,15). In der Anklage von Kap. 28–33 sind beide Themen miteinander verknüpft, was der Situation entspricht, in der Jesaja gewirkt hat. Doch trägt die Passage auch Spuren einer nachexilischen Bearbeitung, als sich der gesellschaftliche Gegensatz zwischen den Frommen und den Frevlern radikal verschärfte (V. 18–22; vgl. Jes 56– 66). Diese Bearbeitung kennt Jesajas Prophetien in schriftlicher Form und schreibt diesen auch noch für spätere Generationen Gültigkeit zu (V. 18). IV. Szene Jesaja 30 Wehe den widerspenstigen Kindern Die Komposition setzt sich aus vier Bestandteilen zusammen, die ihre jeweilige Form und Thematik einer gewissen Selbstständigkeit verdanken: V. 1–7.8–17.18– 26.27–33. Dabei übernimmt V. 18 die Funktion eines Scharnierverses, wie die plötzliche Wende vom Unheil zum Heil zu erkennen gibt. Das gesamte Kapitel ist von der »Weg«-Thematik geprägt: Diese zeigt sich zu Beginn in der zum Scheitern verurteilten Gesandtschaft nach Ägypten (V. 1–7), führt über die Diskussion um den Weg Jhwhs und die Flucht vor den Feinden (V. 8–17) hin zu dem Weg, auf dem der Lehrer das von Gott begnadete Volk in das fruchtbare Land leiten wird (V. 18–26), und schließt mit Jhwhs Kommen zu seinem Berg, um mit seinem Volk den Untergang des assyrischen Königs zu feiern (V. 27–33). Im ersten Abschnitt (V. 1–7) geht die anklagende Anrede in den Bericht einer Gesandtschaft nach Ägypten über. Ihr Ziel ist ein politisches Bündnis, das ohne eine Befragung Jhwhs geschlossen werden soll (V. 1–2) und dessen Ergebnis darum nur Beschämung sein wird (V. 3–5). Die prophetische Rede entwirft hier eine eigenständige Szenerie: den armseligen Zug nach Ägypten als Metapher für die Nutzlosigkeit des Unternehmens, die im Namen des Landes ein treffendes Fazit findet: »Rahab – Untätigkeit« (V. 6–7). Der zweite Abschnitt (V. 8–17) enthält gattungsmäßig einen Auftrag zu einer prophetischen Zeichenhandlung, d.h. zur Verschriftung der Prophetie (V. 8) mit
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Begründung, die zugleich als Anklage fungiert (V. 9–11). Daran schließen sich zwei Gottesreden an (V. 12–14 und V. 15–17), die sich wiederum jeweils aus einer neuen Anschuldigung (V. 12 bzw. V. 15–16) und Strafankündigung (V. 13–14 bzw. V. 17) zusammensetzen. Die Ablehnung des Gotteswortes (erste Gottesrede) tritt im Streitgespräch mit Jhwh (zweite Gottesrede) zu Tage. Dem Inhalt nach zu urteilen, handelt es sich bei der Hörerschaft dieser zwei Abschnitte (V. 1–17) um die gesellschaftliche Führung im vorexilischen Jerusalem mit der ihr untergebenen Bevölkerung. Die Elite hat das Bündnis mit Ägypten geplant (V. 1–7) und versucht, dem Propheten das freie Wort zu nehmen, um die Frage nach dem Verhältnis zu Gott aus dem öffentlichen Diskurs herauszuhalten (V. 9–11). Ihre Innenpolitik stützt sich auf Betrug (V. 12), ihre Außenpolitik auf militärischen Übermut (V. 15–16). Der Untergang wird hier durchgehend metaphorisch skizziert: Der plötzliche Einsturz einer hochaufragenden Mauer (V. 13) hat für die Adressaten in der Festung Jerusalem den Charakter eines desaströsen Zeichens. Die Flucht vor den Feinden auf Pferden (V. 16–17) versinnbildlicht im Kontext des Bündnisses mit Ägypten die Umkehrung der Gründungslegende Israels, des Auszugs aus Ägypten. Der Vergleich mit dem Feldzeichen auf dem Berg ruft Jesajas Vision über Jhwhs Musterung eines Heeres gegen Babel vor Augen (13,2). Im dritten Abschnitt (V. 18–26) wendet sich der Prophet an eine teilweise neue Hörerschaft: Sie hat einerseits das zuvor angekündigte Unheil erfahren und konstituiert andererseits im Vorausgriff das Volk, das Zion erneut bewohnen wird. Dies ergibt sich aus der Kombination von Singular- und Pluralformen in den Anreden (V. 18–22). Die makrosyntaktische Struktur ist durch sechs aufeinander folgende Hauptsätze eindeutig bestimmt. Auf die zweimalige Verwendung von jiqtol in V. 18a.19b folgt fünfmal weqatal (V. 20a.22a.23a.25.26). Der erste Abschnitt charakterisiert das Verhältnis Jhwhs zu seinem Volk als Erbarmung (V. 18–19). Der zweite Abschnitt bezieht sich in Anlehnung an Israels Wanderung durch die Wüste auf die erste Gabe Jhwhs: Brot und Wasser der Bedrängnis sowie einen Lehrer als Begleiter auf dem Weg bei gleichzeitiger Entfernung der Fremdgötterbilder (V. 20–22). Der dritte Abschnitt ergibt sich aus dem Vorangehenden: Der Gehorsam wird einen Aufenthalt im fruchtbaren Land zur Folge haben (V. 23–24), der zu fast paradiesischen Zuständen führt. Der vierte Abschnitt führt diese Skizze zwar in frühapokalyptischen Zügen weiter (V. 25–26), ist aber deshalb kein deplatzierter Zusatz, zumal Jhwhs heilendes Handeln eine Inklusion zu seinem Erbarmen am Beginn des dritten Textabschnittes herstellt (V. 18f.). Zwar kontrastiert V. 25 die Heilsperspektive für »Berge/Hügel« mit »dem großen Morden, wenn Türme fallen«, doch wird dies nicht Jhwh angelastet und ist von der Funktion des Wortpaares »Berg/Hügel« im Jesajabuch her zu verstehen. Diese lokale Bezeichnung symbolisiert zunächst öfters die Sünde des Hochmuts und das Gericht (vgl. bes. 2,10–22; daneben 10,32; 30,17; 41,15; 42,15; 65,7) sowie später das Heil (vgl. 2,2; 31,4; 40,4.12; 54,10; 55,12). In V. 25–26 nimmt die nationale, ethische und religiöse Wiederherstellung Israels
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(V.19–24) kosmische Dimensionen an, denn Berge und Gestirne, Wasser und Licht gehören zu den Parametern des altorientalischen und damit auch des alttestamentlichen Weltbildes. Im vierten Bestandteil (V. 27–33) mündet der zuvor beschriebene Weg in das gesegnete Land in ein verwandtes Paradigma ein: die Epiphanie des »Namens Jhwhs« im Zorn analog zu seiner einstmaligen Erscheinung in Macht auf dem Sinai. Der Ort der Epiphanie ist »der Berg Jhwhs» und zugleich »der Felsen Israels«, wo das Volk die Vernichtung Assurs in einem kultischen Fest feiert. Die auf den ersten Blick ungeordnete Texteinheit weist bei genauerem Hinsehen eine eindeutige Inklusion mit reimenden Elementen auf (V. 27: »der Name Jhwhs«; V. 33: »der Hauch Jhwhs«). Überdies lassen sich drei syntaktische Einheiten erkennen. Die erste Einheit (V. 27–29) kündigt Jhwhs Kommen mit zwei untergeordneten Elementen an: Jhwhs Handeln (V. 27b–28: »seine Lippen«, »seine Zunge«, »sein Atem« sowie den Impetus »um Nationen zu schütteln«) und das Handeln der Hörerschaft (V. 29: »das Lied […] die Freude« und das Ziel »um auf den Berg Jhwhs zu kommen«). Der zweite Abschnitt (V. 30–31) enthält nach dem Hauptsatz mit Jhwh als Subjekt (»Jhwh lässt seine hehre Stimme hören«) zwei Nebensätze über körperliche Eigenschaften Jhwhs (»wie sein Arm niedersinkt«, »mit grimmigem Zorn [Nase]« und »seine Stimme«). Die Struktur des dritten Abschnittes (V. 32–33) ist für den Hauptsatz (V. 32) deutlich, wohingegen V. 33 weniger geordnet erscheint. Es dominiert die anthropomorphe Vorstellung von Jhwh18, doch ist die konventionelle Metaphorik hier absichtsvoll und selektiv eingesetzt. Denn es werden lediglich diejenigen menschlichen Attribute und Erscheinungsformen auf Gott appliziert, die seine Gegenwart und souveräne Macht vor Augen führen. Insgesamt ist der Gott Israels dem König von Assur weit überlegen, was den rücksichtslosen Machthabern der Erde eine Warnung sein sollte. In dieser Komposition unterschiedlichen Materials hallen in diachroner Hinsicht alle Jahrhunderte der literarischen Genese wider, von Jesajas Auftreten und der Überlieferung seiner Worte bis zur Endfassung des jetzt vorliegenden Prophetenbuches. V. 1–17 scheinen auf authentische Aussagen Jesajas ben Amoz zurückzugehen, die in jene Zeit zu datieren sind, als der assyrische König Sanherib Feldzüge gegen die Küstenregion Palästinas unternahm, während Juda in Ägypten Unterstützung suchte (705–701). Vom Sprachgebrauch her fallen hier Worte auf, die für den historischen Propheten charakteristisch sind. V. 18–26 scheinen dagegen eine nachexilische Komposition zu sein, die die Situation in Jerusalem und Juda nach der Einnahme der Stadt durch die Babylonier 586 in den Blick nimmt. Die Einordnungsversuche zu V. 27–33 fallen sehr unterschiedlich aus. Einige Exegeten halten daran fest, dass der Kern dieser Gerichtsankündigung gegen Assur von Jesaja selbst stamme und dieser sich ursprünglich nur auf eine gewalthaltige Theophanie Jhwhs bezogen habe. Infolge der Ergänzungen von V. 29 und 18 A. Wagner 2010.
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32 – möglicherweise aus der Zeit des Königs Joschija von Juda (639–609) – sei das Orakel zu einem Heilswort für Zion ausgearbeitet worden. In Anlehnung daran habe die Vorstellung eines Opferfestes Eingang in die Szene gefunden. Andere Exegeten verzichten darauf, auch nur einen Teil von V. 27–33 dem historischen Propheten zuzuschreiben, sondern vertreten die These, die Passage gehöre insgesamt der sogenannten assyrischen Redaktion zur Zeit von König Joschija an, nicht nur weil sie den bevorstehenden Fall Assurs ankündige, sondern weil hier einige Termini der joschijanischen Kultreform Verwendung gefunden hätten. Darüber hinaus hält sich die Auffassung einer noch späteren Abfassung, wobei dann u.a. die Zeit der nachexilischen Tempelgemeinde in den Blick kommt. V. Szene Jesaja 31 Wehe denen, die Hilfe suchend nach Ägypten ziehen Synchron gliedert sich das Kapitel in drei Abschnitte: einen Weheruf (V. 1–3), eine Gottesrede an den Propheten (V. 4–5) und eine Aufforderung zur Umkehr mit Heilsverheißung (V. 6–9). Der eigentliche Weheruf schildert das falsche Vertrauen der herrschenden Klasse (V. 1), stellt diesem Verhalten das Vorgehen Jhwhs gegenüber (V. 2) und schließt mit einer Gegenüberstellung der beiden Handlungsträger, Jhwh und Ägypten, in Bezug auf ihr Wesen und ihre Wirkmächtigkeit (V. 3). Die Gottesrede (V. 4–5) enthält zwei Vergleiche: Der erste Vergleich mit Löwen ist ausführlicher (V. 4), jener mit Vögeln kürzer gefasst (V. 5). Es ergibt sich ein chiastisches Schema mit V. 4b als Zentrum: »So wird Jhwh herabfahren, um zu kämpfen auf dem Berg Zion und seinem Hügel«. Beide Vergleiche besitzen dieselbe Pointe: Jhwh verteidigt seine Beute, Jerusalem. Die Mehrdeutigkeit der Löwenallegorie ergibt sich vor dem Hintergrund der altorientalischen Tiersymbolik, nach der der Löwe das königliche Symbol von unnahbarer Macht und unbezwingbarer Stärke ist. Er kann jederzeit angreifen, aber auch beschützen. Dies wird in der Vogelallegorie mit Blick auf den Schutzaspekt weiter entfaltet. Jhwh führt den Kampf also nicht gegen den Berg Zion, sondern auf ihm gegen diejenigen, die ihm seine Beute streitig machen wollen. Der Angreifer kann nur das noch nicht erwähnte Assur sein, gegen das Juda sich mit Ägyptens Unterstützung zu verteidigen sucht – statt auf den wahren Löwen und Greifvogel zu vertrauen! Der letzte Abschnitt (V. 6–9) eröffnet mit einem prägnanten Monokolon, das zur radikalen Umkehr auffordert und somit eine Anklage impliziert (V. 6). Die Heilsankündigung macht die Verwerfung der Götterbilder nicht zur Voraussetzung für den Untergang des assyrischen Heeres, vielmehr wird beides gleichermaßen als Gabe Jhwhs dargestellt (V. 7–9a). Die vorletzte Zeile stellt den König von Assur mitsamt seinen Heerführern in ihrer Anmaßung (»Fels«) und in ihrem Untergang (»Grauen«) dar und schafft so in der abschließenden Rahmenformel ein passendes Gegenbild zu Jhwh: »Spruch Jhwhs, der ein Feuer in Zion und einen Ofen in Jerusalem hat « (V. 9b). Der Abschluss gibt zu erkennen, dass der
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gesamte Abschnitt als Gottesrede zu verstehen ist. Diese begründet, warum die assyrische Macht dem Untergang geweiht ist: Jhwh vollstreckt sein Gericht. In den Hauptthemen stimmt dieser Weheruf mit dem vorausgegangenen überein: Es geht um den Schutz bzw. die Wiederherstellung Zions (V. 4–5; vgl. 30,18), eine Gesandtschaft nach Ägypten, die militärische Unterstützung verschaffen soll (V. 1–3; vgl. 30,1–7), ohne Jhwh zu Rate gezogen zu haben (V. 1b; vgl. 30,1–2.11), eine Aufforderung zur Umkehr bzw. ihre Ablehnung (V. 6; vgl. 30,15) und schließlich um den Untergang Assurs (V. 8–9; vgl. 30,31–33). Diesen thematischen Schwerpunkten sind folgende Motive nachgeordnet: Israels Widerspenstigkeit (V. 6; vgl. 30,1.9), der Wunsch nach Pferden und Streitwagen (V. 1.3; vgl. 30,16–17), die Verwerfung der Götterbilder (V. 7; vgl. 30,22) und der Brandherd Jhwhs (V. 9; vgl. 30,33). Jedoch unterscheidet sich die Entfaltung des wichtigsten Motivs in auffälliger Weise. Der Gegensatz zwischen Ägypten und Gott (nicht »Jhwh«!) betrifft hier nicht die Wirkmächtigkeit ihres Handelns (vgl. 30,3–7), sondern liegt in der generellen Unterschiedlichkeit ihrer Wesensart begründet (V. 3a). Im Gesamt der fünf Weherufe hebt Kap. 31 am stärksten hervor, dass Jhwh seinen Anspruch auf Zion trotz der Missachtung von Seiten Dritter nie aufgeben wird. Er ist entschlossen wie ein Raubtier, seine Beute zu verteidigen, und verhält sich so fürsorglich wie ein Vogel, der seine Jungen beschützt (V. 4–5). Die Verbindung beider Metaphern enthält eine zuvor nicht artikulierte Vorstellung vom Gott auf dem Zion, die in enger Beziehung zu Jes 30 steht. Während Jhwh dort als wütender Krieger Assur tötet, weil dieses sich an Zion vergreifen will (30,31–33), bleibt er beim Untergang Assurs in 31,8–9a im Hintergrund. Demgegenüber tritt er bei der Vernichtung »des Hauses der Übeltäter«, die Zion Ägypten überlassen wollen (»nicht Gott/nicht Geist«), sehr aktiv in Erscheinung (V. 2b–3). Diachron betrachtet spielt dieser Weheruf ebenfalls in der Zeit, als die Elite in Jerusalem ein Bündnis mit Ägypten pflegte, um eine Belagerung durch den assyrischen König Sanherib abzuwenden (705–701). Er spiegelt jedoch einen späteren Zeitpunkt als Kap. 30 wider. Der Weheruf rechnet damit oder blickt schon darauf zurück, dass Ägyptens militärische Unterstützung keinen Erfolg hat, denn Juda befindet sich nach wie vor in Bedrängnis und hat weiteres Unheil zu erwarten. Darum lässt sich der Kern dieses Orakel in die Zeit nach der Schlacht bei Elteke datieren, als die assyrische Armee die Truppen von Pharao Tirhaka bezwangen (701). Die literargeschichtliche Analyse fällt zwar sehr unterschiedlich aus, doch wird meistens angenommen, dass dem Kapitel eine Prophetie Jesajas zugrunde liegt. Denn es ist ein Dauerthema des Propheten, dass die judäische Außenpolitik nicht bereit sei, mit der Niederlage Ägyptens und dem Untergang der Elite in Juda zu rechnen (V. 1–3). Dennoch gäbe Jhwh seinen Anspruch auf Jerusalem nicht auf (V. 4–6), so dass Assur den Kürzeren ziehen werde (V. 8–9). Die Bearbeitung des ursprünglichen Orakels wird öfters der nachexilische Redaktion des Jesajabuches zugerechnet. Im Besonderen werden V. 6–7 und V. 8b–9a als spätere Zusätze gewertet. Ein Aufruf zur Umkehr (V. 6) sei für den historischen
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Propheten sonderbar, passe nicht zur Beistandszusage (V. 4b–5) und beinhalte üblicherweise nicht die Entfernung von Götterbildern (V. 7). Nach heutigem Erkenntnisstand folgt das Verhältnis von Strafe, Heil und Umkehr bei den vorexilischen Propheten Israels jedoch einer anderen Logik. Die drei Gattungen schließen einander nicht aus, sondern bedingen sich eher gegenseitig. Es stellt sich also die Frage, ob man diese stark diskursive Einheit auf ihre vermutlichen Einzelteile in der mündlichen Verkündigung zurückführen kann. Obwohl es von vornherein sehr unwahrscheinlich ist, dass dieser Wehruf keine Bearbeitung erfahren haben sollte, macht er durch seine paränetische Intention einen sehr kohärenten Eindruck. Man wird auch bei diesem Weheruf von einer ursprünglichen Prophetie Jesajas an seine Zeitgenossen ausgehen dürfen, die dann für spätere Generationen aktualisiert wurde, ohne dass sich dies im Detail noch nachweisen ließe. VI. Szene Jesaja 32 Zwei Anhänge: Verheißung von gerechten Verwaltern und Aufruf zur Trauer Das Kapitel setzt sich aus zwei eigenständigen Passagen zusammen: zum einen aus einer Heilsankündigung in der Darstellung des gerechten und des törichten Herrschers (V. 1–8), zum anderen aus einer Aufforderung an »sorglose Frauen«, über das Unheil zu trauern (V. 9–14), welche dann jedoch in eine Heilsperspektive mündet (V. 15–20). Die beiden Passagen unterscheiden sich in Bezug auf ihre literarische Gattung und ihre Motivik zwar erheblich, sind jedoch über zahlreiche Stichworte sowohl miteinander als auch mit den vorangehenden Weherufen verbunden. Überdies endet die erste Passage eher unbestimmt (V. 8), während die zweite mit dem Segensspruch zu einem deutlichen Abschluss kommt (V. 20). Ihre redaktionellen Funktionen sind unterschiedlich: Die erste Passage (V. 1–8) steht in enger Verbindung mit der Sammlung von Weherufen, während V. 9–20 auf der Ebene von Kap. 1–33 eine redaktionelle Funktion besitzen. In diachroner Hinsicht ist es ein heikles Unterfangen, die beiden Anhänge vorexilisch oder nachexilisch zu verorten. Sie haben vermutlich eine teils getrennte, teils gemeinsame Entwicklung erlebt (s.u. zu V. 1–8 und V. 9–20). Was die relative Chronologie angeht, so ist anzunehmen, dass diese Anhänge zu einem früheren Zeitpunkt als der sechste Weheruf (Kap. 33) den anderen fünf Weherufen hinzugefügt wurden, da die Redaktion Jes 33 anscheinend nicht unmittelbar nach dem fünften Wehe platzieren konnte. Erster Anhang Jesaja 32,1–8 Verheißung von gerechten Verwaltern Der gerechte König und die gerechten Obersten stellen ein Gegenbild zu den in den fünf Weherufen angeklagten Herrschern Jerusalems dar. Zugleich schafft das Scharnierwort »Oberste« einen Kontrast zu den zuvor genannten assyrischen Machthabern, die Jhwh vertrieben hat (31,9; 32,1). Der anthologische Stil sowie eine Reihe von Motiven und Schlagwörtern fördern den Zusammenhang mit den Weherufen.
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Die Passage besteht aus zwei Abschnitten: zum einen aus der Ankündigung eines Königs und seines gerechten Königtums (V. 1–5), zum anderen aus einer Skizze des Toren und seines üblen Treibens (V. 6–8). Der erste Abschnitt ist prophetisch und kündet zukünftiges Geschehen an, der zweite ist weisheitlich gefärbt, denn er beobachtet menschliches Verhalten (vgl. Ps 73,6–12; Spr 10–16; 31,10–31; Sir 39,1–11). Der erste Abschnitt setzt sich aus vier Einheiten zusammen: An den makrosyntaktischen Eröffnungssatz »Siehe, Gerechtigkeit gemäß wird ein König herrschen« (V. 1) schließen sich einige Sätze mit folgenden Subjekten an: »jeder« (V. 2), »die Augen […] die Ohren […] das Herz […] die Zunge« (V. 3–4) und »der Tor/Schurke« (V. 5). Der zweite Abschnitt erörtert das gegen Gott und Gesellschaft feindliche Handeln des Toren (V. 6) bzw. des Schurken (V. 7) und kontrastiert dies mit dem schon anfänglich umrissenen Verhalten des Edlen (V. 8; vgl. V. 1–5). Die Abschnitte werden literarhistorisch unterschiedlich verortet, doch fehlen für diese Einordnung konkrete Anhaltspunkte, denn die weisheitliche Sprache ist wegen ihrer Überzeitlichkeit nur schwer zu datieren. Wenn auch die Zeitperspektive verschieden ist – zukünftig bzw. immer gültig –, so stimmt die Terminologie beide Abschnitte doch gut aufeinander ab. Der zweite erweist sich insofern als Erweiterung des ersten, als die Termini »der Tor«, »der Edle« und »der Schurke« aus V. 5 in V. 6.8 respektive V. 7 entfaltet werden. Außerdem weisen V. 6–8 (ebenso wie V. 1–5) semantische Übereinstimmungen mit den Anklagen in den vorangehenden Weherufen auf. Folglich gibt es keine eindeutigen Hinweise für die These, dass die beiden Abschnitte einen je unterschiedlichen literarischen Ursprung hätten. Im Ganzen gesehen stellt der Anhang insofern einen aktualisierenden Abschluss der Weherufe dar, als er das Ende der in Kap. 28–31 kritisierten Missstände ankündigt. Er enthält den Entwurf einer Gesellschaft, in der Gerechtigkeit ohne Lügen und Betrug das oberste Herrschaftsprinzip bildet. Dieses Modell ist an soziale und ethische Parameter aus dem altorientalischen Kontext gebunden. Es speist sich aus dem der Kultur eigenen Streben, der »Weisheit«. Jedoch bietet dieser Entwurf mehr als ein zeitloses, ethisches Programm, zumal er der Verheißung untergeordnet ist, dass das in den Anklagen der Weherufe implizierte Gericht nicht das letzte Wort haben werde. Es kommt eine Heilszeit, in der sich Jhwhs Werte durchsetzen werden. Aber der neue Zeitabschnitt bildet nicht das Ende der Geschichte, denn der verheißene König stellt keine metahistorische Persönlichkeit dar. Beide gehören der Wirklichkeit Israels an. Diesem Anhang fehlen klare Indizien für eine bestimmte historische Situation. Er könnte die Wiederherstellung Judas und das Wiederaufleben der Davidtradition unter König Joschija (639–609) widerspiegeln. Der Gegensatz zwischen dem erhofften König mitsamt seinen Obersten und dem König von Assur mit seinen Obersten am Schluss der vorherigen Passage (31,9) ist ein Motiv, das zu einer Redaktion im 7. Jh. passen würde, als Assurs Machtentfaltung nicht länger eine Bedrohung für Israels Existenz und die Durchsetzungskraft Jhwhs war. Jedoch
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wird zuweilen auch die nachexilische Zeit als Horizont in Anschlag gebracht. Demnach reiche das Wort »König« (V. 1) nicht aus, um einen Einfluss der Davidtheologie nachzuweisen. Es handle sich vielmehr um eine späte Rückbesinnung auf die Erwartungen bezüglich des Hauses David, möglicherweise nach dem Scheitern Serubbabels. Zweiter Anhang Jesaja 32,9–20 Aufruf zur Trauer Die Passage setzt sich aus zwei Abschnitten zusammen: Die Aufforderung an »sorglose Frauen«, über das Unheil zu trauern (V. 9–14), ist durch eine einfache Zeitangabe (»bis«) mit einer Skizze des erwarteten Heils verbunden (V. 15–20). Der erste Abschnitt, der Aufruf zum Hören und Klagen mit einer Schilderung der Verwüstung (V. 9–14), eignet sich gut als Epilog zu den vorangegangenen fünf Weherufen. Er bringt zum Ausdruck, dass das dort angekündigte Strafgericht im Begriff ist, Wirklichkeit zu werden (vgl. 23,1–14). Vielleicht handelt es sich bei diesem Abschnitt um das ursprüngliche Ende der Kap. 28–31. Der zweite Abschnitt, die Verheißung »des Geistes aus der Höhe« mit der Skizze des von ihm ausgehenden Heils (V. 15–20), beschließt die Sammlung der fünf Weherufe, und zwar insofern, als er zahlreiche intratextuelle Bezüge zu Kap. 28– 31 enthält (besonders das Wortpaar »Recht/Gerechtigkeit«). Die Sammlung verspricht schon zu Beginn, dass Jhwh selbst »zum Geist des Rechts« (28,6) werden wird. Auch der Terminus »Geist« an sich spielt dort eine Rolle, denn seine Verwendung indiziert den Weg, den Israel aus der Blindheit (29,10.24) heraus und hin zur Aufmerksamkeit für Gottes Geist in den Ereignissen der Welt zu gehen hat (30,1.28). Diese anhand des Stichworts »Geist« implizierte Gegenüberstellung in Kap. 28–31 wird mit 32,15 durch die Verheißung »des Geistes aus der Höhe« überwunden (22,16; 24,4. 18.21; 26,5). Sie ist kein theologischer Kunstgriff, um die Unheilsperspektive umzukehren, vielmehr wird hier ein neuer, bedeutungsvoller Schluss für die Kap. 28–31 geschaffen und überdies ein Bezug zum Beginn des Prophetenbuches (4,5–6) hergestellt. Der Makarismus am Ende des Kapitels (V. 20) eignet sich für die Zusammenstellung der Weherufe und des Klageaufrufs mitsamt der Heilsperspektive. Unter formalen Gesichtspunkten lässt sich dies an dem Gegensatz zwischen dem Begriff »glücklich« und dem fünfmaligen »Wehe« nachvollziehen. Thematisch nimmt die Verheißung von Fruchtbarkeit und Sicherheit die angekündigte Verwüstung der Felder und der Stadt zurück (V. 12–14). Dass sich die Aufforderung zum Hören und zur Trauer ausdrücklich an Frauen richtet (V. 9–12), hat seinen Grund darin, dass Trauerrituale in erster Linie Frauen oblagen (vgl. Jer 6,26; 49,3). Doch diese treten in den Hintergrund, zumal ab V. 13 von »meinem Volk«, also von der gesamten Bevölkerung Judas die Rede ist. Vielleicht werden die Frauen deshalb weder als »Frauen von Jerusalem« noch als professionelle Klagefrauen angesprochen, sondern in negativer Weise als »sorglos/vertrauensselig« charakterisiert (V. 9–11). Diese Ausdrücke vermitteln
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in erster Linie, dass jene Frauen der Warnung vor dem bevorstehenden Unheil keine Aufmerksamkeit geschenkt haben, und stellen somit Elemente der grundlegenden Anklage dar (vgl. ähnliche Vorwürfe an die Adresse der Führungselite in Jerusalem in 28,15; 29,1.15; 30,1–7.12.16; 31,1–3). Der Vorwurf ist mit der Szene zu Anfang des Jesajabuches in Verbindung zu bringen, in der der Prophet die Frauen in Zion an den Pranger stellt (3,16–4,1). Der kontrastive Zusammenhang zwischen beiden Passagen kann kompositorisch kaum bestritten werden (vgl. »sich entblößen«: 3,17; 32,11; »umgürten«: 3,24; 32,11; »Festkleider« und »Lenden«: 3,22; 32,11). Diachron betrachtet scheinen die beiden Abschnitte (V. 9–14 und V. 15–20) in unterschiedlichen Epochen entstanden zu sein. Der erste Abschnitt gilt wegen seiner Verwandtschaft mit 22,12–14 und 3,16–24 als eine Prophetie, die vielleicht auf Jesaja ben Amoz zurückgeht, obgleich er keine Angaben zu bestimmten Ereignissen enthält. V. 10 (»über Jahr und Tag«) lässt nur vermuten, dass seine Erstgestalt in eine Zeit datiert, als die Zerstörung von Stadt und Land als bevorstehend erwartet wurde, diese aber nicht eingetreten war. Dies kann die militärische Offensive von Sanherib (701), aber auch die von Nebukadnezzar (586) betreffen. Aus redaktioneller Perspektive ist festzuhalten, dass der erste Abschnitt seine jetzige Form und Funktion im Kontext der Weherufe aus Kap. 28–31 erhalten hat. Für den zweiten Abschnitt (V. 15–20) ist die Rückführung auf den historischen Propheten ebenfalls zweifelhaft. Die Passage schildert die Umkehr des in V. 9–14 angekündigten Unheils und verwendet dazu Ausdrücke aus V. 1–8, weshalb der Text aus demselben Zeitraum des 7. Jh. entstammen könnte. Anders als zuvor schreibt er das neue Heil aber weder der Herrschaft des erhofften Königs noch dem Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten zu. Zwei Elemente verweisen in besonderer Weise auf eine spätere Entwicklung: die auffällige Funktion »des Geistes aus der Höhe«, der das neue Heil herbeiführt, sowie die Hoffnung auf eine Gesellschaft in »Recht/Gerechtigkeit«, die hier mit dem Frieden für alle Zeiten verbunden ist (V. 16–18). Man erkennt darin nachexilisches Gedankengut. Der Bezug des Makarismus von V. 20 auf 1,3 sowie die thematische Verbindung von V. 9–14 zu 3,16–4,4 deuten auf redaktionelle Prozesse der Gesamtbuchentstehung hin. VII. Szene Jesaja 33 Wehe den Gottlosen / Jhwh schafft Gerechtigkeit in Zion Das Kapitel erfüllt im Lesekontinuum des Buches verschiedene Aufgaben. Zunächst sorgt es für ein Gleichgewicht im Verhältnis von Unheil und Heil: Nach den fünf Weherufen, die dem Gottesvolk einen Verwüster ankündigten (Kap. 28–31), enthält Kap. 33 einen Weheruf gegen den Verwüster aufgrund der Herrschaft Gottes in Zion (vgl. V. 1 mit 21,2; 24,16). Die Darstellung des gesegneten Jerusalem stützt sich auf die Errichtung des Königtums Jhwhs auf seinem Berg (Kap. 24–27, bes. 24,23; 27,13). Im weiteren Umfeld gibt es Beziehungen zu Kap.
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28–31, aber auch zum Anfang von Kap. 1–39 und Kap. 40–66. Der wichtigste Bezug findet sich im letzten Vers: Die Abwesenheit jeglicher Krankheit im Volk weist auf 1,5 zurück, während die Vergebung aller Schuld auf 40,1–2 vorausgreift. Die Komposition besteht aus drei Abschnitten: Einer als Klage gestalteten Prophetenrede (V. 1–9) folgt eine als Theophanie inszenierte Gottesrede (V. 10–13), die in eine paränetische Erweckungspredigt mündet (V. 14–24). Die Prophetenrede enthält einen Weheruf gegen die Feinde (V. 1), eine Bitte an Jhwh um Rettung, die im Namen des Volkes formuliert ist (V. 2–3), ein Drohwort gegen die Völker (V. 4), einen Lobpreis Jhwhs (V. 5–6) und eine Notschilderung über den allgemeinen Verfall des Landes, die Gott zum Einschreiten bewegen soll (V. 7–9). Die Gottesrede (V. 10–13) setzt sogleich mit einem betonten »Jetzt« ein, das Jhwhs unmittelbares Eingreifen ankündigen soll. Damit scheint sie auf die vorangegangene Klage des Propheten über den Zustand des Landes zu reagieren (V. 7–9). Das Handeln Gottes betrifft zwei Gruppen: »ihr« (V. 11) und »die Völker« (V. 12). Analog dazu hat auch der Prophet zu »ihnen« und über »sie« gesprochen: V. 11 entspricht V. 1 (»du«), V. 12 entspricht V. 3 (»Völker«), V.10b entspricht V.3b (»wenn du dich erhöhst«). Die Adressaten der direkten (V. 11) und indirekten Anreden (V. 12) kehren im Höraufruf (V. 13) in umgekehrter Reihenfolge sowie in der direkten Anrede mit geographischer Spezifizierung als »ihr in der Ferne« und »ihr in der Nähe« wieder. Die Stellung dieses Aufrufs am Ende der Gottesrede beeinflusst auch dessen Funktion: Er ordnet das Urteil in die Perspektive ein, Gottes Handeln zu erkennen, und leitet zu der Auslegung des Propheten über (V. 14–24). Denn der Weheruf gegen den ausländischen Feind stellt keine für sich stehende Vergeltung dar, sondern ist Teil des göttlichen Handelns (V. 13: »Macht«), das in Zion »Recht und Gerechtigkeit« schafft (V. 5). In der Erweckung (V. 14–24) führt der Prophet zwei literarische Gattungen zusammen: eine Einlassliturgie (V. 14–16) und einen Zionspsalm (V. 17–24). Der erste Abschnitt ist im Kontext der Wallfahrt zum Tempelberg beheimatet. Ein Ritual aus Fragen (V. 14) und Antworten (V. 15) stellt die angemessene ethische und kultische Verfassung der Besucher sicher und schließt mit der Zusage, dass sie an Gottes Wohnort Heil erlangen werden (vgl. V. 16; Ps 15 und 24). Die Gattung ist in Jes 33 literarisch angepasst worden. Die Fragen werden nicht von den Kultdienern gestellt, sondern den Sündern in den Mund gelegt (V. 14). Sie bringen ihre Furcht zum Ausdruck, dass das Gericht, welches mit Ausdrücken für das Feuer der Opferstelle auf dem Tempelberg beschrieben wird, sie selbst vernichten werde. Es handelt sich um die Aussage derer, die nur zu spät zur Einsicht kommen. Aus diesem Grund bietet die Antwort zugleich eine Richtschnur, wie dem Gericht zu entkommen ist (V. 15). Der Prophet lenkt die Aufmerksamkeit auf die traditionelle, ethische Verkündigung als Weg zum Leben. Das hier aufgezeigte Verhalten ist im Übrigen nicht das des einfachen Mannes, vielmehr handelt es sich um das Fehlverhalten der Machthaber. Auf diese Weise nehmen die Sünder die Gestalt der Führungselite an, gegen die bereits in Kap. 28–32 so oft Anklage erhoben
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II. Auslegung von Jesaja
wurde. Die Heilszusage stimmt zur Gänze mit der Gattung überein und ist als Verheißung formuliert, in Gottes Nähe zu verweilen (V. 16a nimmt V. 5a auf). Der Abschnitt enthält jedoch ebenso Ausdrücke, die das Wohnen im Land in Sicherheit und den Lebensunterhalt betreffen (V. 16b). Der Zionspsalm im zweiten Abschnitt (V. 17–24) thematisiert die positiven Konsequenzen des göttlichen Eingreifens für Zion, wobei er nicht durch eine syntaktische Zäsur vom Vorangehenden abgetrennt wird. Der Übergang ist fließend. Die fünf Verszeilen in V. 16b und V. 17–19 enthalten dieselben untergeordneten Satzarten und beschreiben das Wohnen unter Gottes Obhut als segensreich. Der einzige Unterschied zwischen V. 16 und V. 17–19 besteht im Übergang von der 3. zur 2. Person Singular (V. 16b: »sein Brot/sein Wasser«; V. 17–19: »deine Augen«, »dein Herz«, »du«). Der Imperativ »schaue Zion an« (V. 20) stellt diese Stadt als das dominierende Thema in den Mittelpunkt aller nachfolgenden Verse (V. 20–24). Dieser Teil ist zwar eher lose strukturiert, doch ermöglichen drei deiktische Elemente eine Gliederung: der Imperativ »schaue an« in V. 20, die emphatisch-adversative Ortsangabe »sondern dort« (V. 21) und der ebenso emphatische Einsatz »ja« zum Bekenntnis in V. 22. Die sich daraus ergebenden drei Redeteile schließen mit einer betonten Verneinung: V. 20b und V. 21b negieren das Gegenteil der vorausgehenden Verheißungen, V. 24 verneint das Auftreten unheilvoller Momente wie Krankheit und Schuld. Der letzte Teil (V. 22–24) lässt in den ersten beiden Doppelzeilen (V. 22–23) einen thematischen Zusammenhang erkennen. Das Bekenntnis »er wird uns Heil schaffen« (V. 22) wird anhand der Vorstellung von größtmöglicher Sicherheit illustriert. Auch ohne militärische Mobilisierung gibt es reiche Beute, sogar für die Lahmen, die sonst von der Kriegsführung und von Beutezügen ausgeschlossen sind (V. 23). Der letzte Vers fügt sich durch die betonte Verneinung in die Stilform dieses Teils ein (V. 24), verwendet aber Motive, die aus der übergreifenden Redaktion in Jes 1–39 stammen (»Krankheit«, »Schuld« und »Vergebung«). Das Kapitel zieht aufgrund der zahlreichen expliziten Bezüge zu anderen vorausgehenden oder nachfolgenden Kapiteln eine höhere Aufmerksamkeit im Lesekontinuum auf sich. Dieses Phänomen lässt sich mit der Gattung des »Spiegeltextes« erklären. Dieser Kunstgriff, der sich zu allen Zeiten in der Literatur findet, liefert den Schlüssel zur Interpretation des Kerns einer Erzählung. Demzufolge lädt Jes 33 die Leserschaft dazu ein, auf den in der Prophetenschrift zurückgelegten Weg als narratives Ganzes zu blicken und das Buch als ein Epos über Gottes Verhältnis zu Israel zu begreifen, das von der Strafe zur Erlösung führt. Überdies nimmt die grundlegende Gestalt des Kapitels die Entwicklung vom Gericht zum Heil vorweg, um den Übergang vom ersten zum zweiten Buchteil anzuzeigen. Dazu greift Jes 33 auf eine Vielzahl an Worten und Themen aus Kap. 40–54 zurück (u.a. »Schuld« in 33,24 und 40,2; 43,24; Gottes Königsherrschaft in 33,22 und 41,21; 43,15; 44,6; 52,7; »hoffen auf« im Bereich der Klage in 33,2 und 40,31; 49,23; 51,5; die Zeltmetapher in 33,20 und 54,2–3; der Aufruf zu »erkennen«, was
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Gott bewirkt, in 33,13 und 40,21.28; 41,20.22). Die Liste könnte auf weitere Ausdrücke – auch mit Bezug zu Kap. 55–66 – ausgeweitet werden. In dieser Hinsicht sind die Vielfalt des Materials und die Mischung literarischer Gattungen nicht negativ zu bewerten, sondern der kompositorischen Funktion des Kapitels im Gesamtbuch als einer prophetischen Vision geschuldet. In Jes 33 herrscht die Intention vor, die Sammlung der vorangehenden Weherufe über das eigene Volk in einem Weheruf über den Verwüster und folglich in einer Schilderung des befreiten Jerusalems zum Abschluss zu bringen. Das Kapitel ist das Resultat der Zionstheologie in der Phase der Schlussredaktion, denn es übernimmt im Zuge der Zusammenfügung der Großbuchteile (Kap. 1–39 und Kap. 40–66) eine Brückenfunktion. Das schließt aber nicht aus, dass einige Motive, literarische Formen und Ausdrücke auf den historischen Propheten zurückgehen. Das meiste Textmaterial ist jedoch (nach)exilisch zu datieren, obgleich es keine expliziten historischen Bezüge gibt. Mit Blick allein auf Kap. 33 bestimmen unterschiedliche Faktoren die Bestimmung der Entstehungszeit. Der Abschnitt scheint späteren Datums zu sein als die Kap. 28–32, die möglicherweise einer Redaktion unter König Joschija (639–609) entstammen, als Jesajas Orakel aus der Zeit der Invasion des assyrischen Königs Sanherib (705–701) zu einer Sammlung zusammengefügt wurden. Grundsätzlich ist das Kapitel in der Zeit der Redaktion des Gesamtbuches zu verorten. Auf diese zeitliche Einordnung deuten die thematischen Verbindungen mit Kap. 1 und die bisweilen zitatähnlichen Bezugnahmen auf den ersten, weniger auf den zweiten und dritten Hauptteil des Jesajabuches hin. Die Anonymität des ausländischen Herrschers entspricht dem Phänomen des »blurring of the actants«, wodurch Texte auf unterschiedliche historische Situationen appliziert werden können (vgl. Kap. 28). Aus diesem Grund kann sich der Weheruf (V. 1) auf Assur (mit Blick auf Kap. 28–32; 36–37), auf Babel (mit Blick auf Kap. 39; 40–48) und auf das persische Reich (mit Blick auf V. 18–19) beziehen. Da Assur und Babel im Jesajabuch stark negativ konnotiert sind, Persien aber nicht (vgl. 44,28; 45,119), empfiehlt es sich, die Entstehung und Aufnahme dieses Kapitels in die Nähe der Schlussphase der Buchredaktion während der späteren Perserzeit anzusetzen. Theologischer Ertrag zum I. Akt (Jes 28–33) Diese Komposition fällt ein negatives Urteil über die kultische Situation von Volk und Land und geht dabei von zwei Beurteilungsmaßstäben aus: Zum einen die diplomatischen Initiativen Judas, um die Eroberung durch Assur noch abzuwehren, und zum anderen die fehlende soziale Gerechtigkeit im eigenen Land. Auf das moderne Empfinden mag es befremdlich wirken, dass beide Dimensionen – Außenpolitik und soziale Gerechtigkeit – mit der Hinwendung zu Jhwh, also mit der Loyalität von Israel und Zion zu ihrem Gott, in einen kontrastiven Zusammenhang gebracht werden. Soziologisch gesehen hängt dies aber damit zusam19 Zudem fehlt in Kap. 13–23 ein Orakel gegen das Perserreich!
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II. Auslegung von Jesaja
men, dass die politische Elite Jerusalems sowohl die Außenpolitik gestaltete als auch für die innenpolitischen Missstände verantwortlich war. In redaktioneller Hinsicht passen beide Kategorien auch zum Fortgang des Buches Jesaja, insofern Kap. 13–27 ankündigten, dass Jhwhs Herrschaft in Zion zu einer gerechten Ordnung auf der ganze Erde führen werde. Die sechs Weherufe beruhen auf dem ethischen Grundsatz der Gleichheit: Die fünf Weherufe gegen die sündige Elite in Jerusalem (Jes 28–31) und der Weheruf gegen den ausländischen Gewaltherrscher (Kap. 33) weisen auf eine durch Jhwh garantierte Weltordnung hin, die auf Gerechtigkeit gründet und die ihr Fundament in Zion hat (28,16–17: »Siehe, ich bin es, der in Zion einen Grundstein gelegt hat […] Ich werde das Recht zur Richtschnur machen und die Gerechtigkeit zur Waage«; 33,13: »Hört, ihr in der Ferne, was ich tue, und ihr in der Nähe, erkennt meine Stärke!«). Die Weherufe verstärken diese Pragmatik mit je eigener Akzentsetzung. Dabei inszeniert der sechste Weheruf (Kap. 33) die Erneuerung von »Recht und Gerechtigkeit« in Zion als Grundlage für eine Weltordnung in einem umfassenden Rahmen. Als Reaktion auf die Klage über die sozialen und ökologischen Missstände im Land (V. 7–9) ergreift Jhwh die Initiative: Er wird die Gottlosen vernichten, besonders die in Zion (V. 10–14). Ein ethischer Katalog stellt diejenigen, die das Gericht überleben, den korrupten Tempelbesuchern am Anfang des Buches gegenüber (vgl. V. 15 mit 1,15–17). Das Bild des erneuerten Zion mag stark idealisierte Züge aufweisen, bleibt aber durch das Bekenntnis »Jhwh ist unser König, er wird uns Heil schaffen!« (V. 22) in den Grenzen einer ethischen Reflexion. II. Akt Jesaja 34–35 Diptychon: Gericht über Edom und Heil für die Heimkehrenden Diese Kapitel beziehen sich in synchroner Hinsicht aufeinander, da sie von den literarisch andersartigen Kompositionen Kap. 28–33 (sechs Weherufe) und Kap. 36–39 (Erzählungen in Prosa) geradezu eingeschnürt werden. Sie stellen mit Gericht (Kap. 34) und Heil (Kap. 35) ein scharfes Gegensatzpaar dar, das dennoch einer gemeinsamen Zielsetzung dient. Überdies verfügen sie über einige gemeinsame Motive: »die Rache Gottes« (34,8; 35,4), »die Bäche Edoms/der Steppe« (34,9; 35,6), «niemand/kein Unreiner zieht hindurch« (34,10; 35,8), »die Wohnstätte der Schakale/Gras« (34,13; 35,7) sowie das dreimalige »dort« in 34,14–15 bzw. 35,8–9. Der innere Zusammenhang dieses Doppelbildes, das auch als »kleine Apokalypse« bekannt ist, ist somit unübersehbar. Dennoch verdanken sich diese Kapitel keinem einheitlichen Entwurf, zumal Kap. 35 das Gericht über die Völker und über Edom aus Kap. 34 nicht etwa schadenfreudig als Grundlage für Zions Heil anführt. Auch spielt Kap. 35 mittels signifikanter Wortübereinstimmungen eine wichtige Rolle in der Verbindung von Jes 1–39 mit Jes 40–48, 49–54 und 55–66, während Kap. 34 in dieser Hinsicht weniger auffällt. Dieses Kapitel greift vielmehr auf Jes 13–23 zurück, zumal es in
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semantischer Hinsicht und im Aufbau der Prophetie gegen Babel dem Kap. 13 sehr ähnlich ist. Auffälligerweise fehlte eine explizite Prophetie gegen Edom in den Fremdvölkersprüchen der Kap. 13–23. Dort wurde Edom nur unter dem Namen Duma und Seïr mit einem eigenen, sehr kurzen Ausspruch bedacht, der zudem nicht einmal vom Gericht spricht (21,11–12). Demnach fungiert Kap. 34 als Reprise von Jes 13–23, wobei sich die Identität des Feindes gegen das Gottesvolk typologisch verlagert: von den durch Babel repräsentierten Völkern, deren Führungsmacht in Kap. 13 das Gericht trifft, hin zu den durch Edom repräsentierten Völkern. Die eigentliche Bedeutung dieser Reprise liegt darin, durch den Kontrast zu Kap. 35 die überragende Position Zions zu beleuchten, und zwar zur Vorbereitung auf die Verheißung der Rückkehr aus der Wüste in Kap. 40. Diachron verdankt die Komposition ihre Entstehung dem Prozess, in dem auch der Gesamtentwurf des Jesajabuches zustande kam, und zwar in einer Phase, als der erste und zweite Buchteil miteinander verbunden wurden. Die Tatsache, dass Kap. 34 in diesem Zusammenhang eher zurückblickt und Kap. 35 eher vorausschaut, ist redaktioneller Natur. Die literargeschichtliche Diskussion hat sich allmählich mit der Feststellung beschäftigt, dass Kap. 34 mit 63,1–6 und Kap. 35 mit 40ff. eng verwandt sind. Nach Auffassung einiger Exegeten sei der Autor/Redaktor von Kap. 40–66 ebenso der Verfasser von Kap. 34–35, wobei letztere Kapitel jedoch im Zuge der Einfügung von Kap. 36–39 ihre Funktion als Einleitung zu Kap. 40–66 eingebüßt hätten. Diese These lässt sich schwerlich halten. Die beiden Kapitel weisen in vielerlei Hinsicht sowohl untereinander als auch in Bezug auf den ersten und zweiten Buchteil Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf und verfolgen unterschiedliche Zwecke: Während Kap. 34 die Thematik der Völker als Feinde Zions beschließt, stellt Jes 35 den Zion als das eschatologische Heilsgelände dar und ist damit ein Brückenkopf zu Jes 40ff. I. Szene Jesaja 34 Die Verödung Edoms als Anfang des Gerichts über die Völker Der Tendenz des gesamten Jesajabuches folgend wird der Vollzug des Gerichts an Edom nicht unter dem Gesichtspunkt eines ethnischen Kontrastes wahrgenommen (Israel versus Edom), sondern ist in eine theologische Perspektive hineingestellt. Nicht Israel wird aufgefordert, die Prophetie zu hören, sondern die Völker (34,1), mit denen Jhwh im weiteren Verlauf des Buches in Disput treten wird (41,1). Sie werden nicht als Opfer in den Untergang Edoms mit einbezogen, denn das in Kap. 13–23 angekündigte Völkergericht wird zunächst in exemplarischer Weise nur an Edom vollzogen. Damit werden die Völker Zeugen des Gerichts und erhalten somit die Möglichkeit, zur Erkenntnis Jhwhs zu gelangen (45,22–25). Somit verwandeln sich die Angesprochenen zu einer Chiffre mit singulärer Bedeutung: Sie verkörpern diejenigen, die vom angekündigten und vollzogenen Gericht an Edom immer noch lernen können. Mit dieser Besonderheit unterscheidet sich Kap. 34 von anderen redaktionellen Brückentexten am Übergang vom ersten zum zweiten Buchteil (Kap. 35; 36–39).
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II. Auslegung von Jesaja
Diese Auslegung wird durch die Tatsache gestützt, dass der Gerichtsvollzug an Edom in Kap. 34 auf das Strafgericht über Babel in Kap. 13 zurückgeht. Dazu gehören zahlreiche Stichwortbezüge, die inhaltliche Abfolge der Ereignisse, der Vergleich mit Sodom und Gomorra, die Reihe von Tieren und furchteinflößenden Wesen sowie der Umstand, dass Jhwh das Gericht selbst vollzieht, das Geschehen kosmische Auswirkungen hat und einen Großteil der Menschheit bedroht. Die Wahl Edoms als Pendant zu Babel beruht in ideologischer Hinsicht auf der Tatsache, dass beide die »Standardgröße der jahwe- und israelfeindlichen Mächte«20 bilden. Die Parallelen heben die Pointe hervor, dass das Gericht über Edom zwar nicht schrecklicher als das über Babel ist, aber vordringlicher, denn es fängt jetzt an. Der Gottesspruch von V. 5 (»Trunken wurde im Himmel mein Schwert. Siehe, auf Edom fällt es herab und auf das Volk meines Bannes zum Gericht«) ist ein performativer Bann, der dem Chaos der Völker jetzt ein effektives Ende setzt und die Weltordnung unmittelbar wiederherstellt. Das Ende des Kapitels (V. 16–17) fungiert als Metatext zur vorangehenden Ermahnung an die Völker. Es fordert dazu auf, das Eintreffen dieser Prophetie vor dem Hintergrund »des Buches Jhwhs« zu verstehen. Die Entstehung von Kap. 34 in seiner Gesamtheit (mit Ausnahme von V. 16a: »Forscht nach im Buch Jhwhs und lest!«) ist nicht ohne Weiteres in die frühnachexilische Epoche zu datieren, d.h. in die Zeit nach der Zerstörung Jerusalems, an der Edom möglicherweise beteiligt war (vgl. 2 Kön 24,2; Ps 137,7), oder in die Zeit kurz danach, als das verwüstete Juda ein einfaches Ziel für die Invasion durch Nachbarvölker darstellte. Dazu fehlen genauere historische Informationen. Israels Feindschaft zu Edom kann in der Geschichte des 6. und 5. Jh. begründet liegen, jedoch beruht diese zugleich auf einer jahrhundertealten Rivalität und einem ideologischen Programm (vgl. Gen 36,1ff.: Esau als Stammvater der Edomiter). Das Material von Kap. 34 kann also aus vorexilischer Zeit stammen. Demgegenüber geht Kap. 34 in seiner Endgestalt wahrscheinlich aus einem fortgeschrittenen Redaktionsstadium des Jesajabuches hervor. Der konkrete Verlauf dieses umfassenden Redaktionsprozesses bleibt mit Unsicherheiten behaftet. Vielleicht verdanken sich V. 1–4 und V. 5–8 sowie der Metatext in V. 16–17 unterschiedlichen Zusammenhängen. Einerseits wurde der Untergang Edoms infolge der Invasion der Nabatäer (4. Jh.) als Bestätigung der Prophetie über das verhasste Brudervolk wahrgenommen (V. 16). Andererseits war die Einfügung von Kap. 34 der Intention geschuldet, im Vorfeld der Babel-Kapitel (Jes 40–48) den Feind des Gottesvolkes nicht mehr mit Babel (Kap. 13), sondern mit Edom zu identifizieren. Hierbei deutet sich bereits an, dass in nachexilischer Zeit, die politisch ganz von der pax persica beherrscht wird, der Feind nicht mehr in den Fremdvölkern als solchen gesehen wird, sondern im Angehörigen der eigenen Nation, der sich aber wie Edom verhält (vgl. 63,1–6 im Kontext der Restauration Zions).
20 Zapff 1995, S. 254.
III. Die Durchsetzung der Königsherrschaft Jhwhs auf Zion
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II. Szene Jesaja 35 Die blühende Wüste und der Weg zurück zum Zion Die Verwandtschaft in Thematik und Wortgebrauch von Jes (34–)35 mit Kap. 40–66 bringt synchron betrachtet die Rolle von Kap. 35 als »Brücke« zwischen den beiden Hauptteilen des Jesajabuches ans Licht. Es ist auch durch Motive und Termini mit Kap. 34 verbunden. Ein Scharnier zwischen den Kapiteln ist der Ausdruck «die Vergeltung [µqn] Gottes«. In Anlehnung an Jes 34,8 (»Ja, einen Tag der Vergeltung hat Jhwh«) wird Jhwhs Ankunft in 35,4 dahingehend zugespitzt, dass seine »Vergeltung« nur den Auftakt zu einem anderen Geschehen darstellt, das im Buch Jesaja erwartet wird: »Er wird euch Heil schaffen« (vgl. 12,2–3; 25,9; 26,1; 33 passim). Der Wechsel zwischen den beiden Kapiteln markiert den scharfen Kontrast zwischen Unheil und Gericht. Kap. 35 enthält eine Prophetie zukünftigen Wohlergehens, dessen Kern aus Elementen des (priesterlichen) Heilsorakels besteht (V. 4–6a). Das Heilserleben wird durch Ermunterungen verstärkt (V. 3–4) und kommt besonders im Motiv der »Freude« (hjmc) zum Ausdruck. Der Terminus »frohlocken« (cwc÷˜wcc) rahmt sogar das Kapitel (V. 1 und V. 10b). Zwar wird auf Not und Elend in vielerlei Weise Bezug genommen (V. 3–4.5–6a.8–10), doch beziehen sich diese Anspielungen nicht auf den Fluch über das Land Edom (Kap. 34), sondern auf das Strafgericht des Exils, das das eigene Volk getroffen hat. Dieser letztgenannte Hintergrund dominiert Kap. 35 und antizipiert den zweiten Buchteil. Ein prominentes Motiv stellt in diesem Zusammenhang die »Wüste/Steppe« (rbdm) dar, in die sich Edom verwandelt (34,9–10), während für die Adressaten von Kap. 35 ihre Wüste zu einer blühenden Landschaft wird, in die Jhwh »ankommt« (awb) (V. 4; vgl. 40,9–10) und durch die die Exilierten nach Zion »zurückkehren« (bwv) werden (V. 9). Somit dient 35,8–10 einem Paradigma, das sich über das ganze Prophetenbuch erstreckt (vgl. 11,11–16; 27,12–13; Kap. 49–52). Dennoch bleibt es 40,3–5 vorbehalten, Jhwhs Ankunft in Fülle mitsamt der Offenbarung seiner Herrlichkeit an »alles Fleisch« (rcb lk) zu proklamieren. Diachron betrachtet spielte die Rückkehr zum Zion, das Hauptthema von Jes 35, in der Verkündigung des historischen Propheten keine Rolle. In der Aktualisierung seines Vermächtnisses für die Exilierten bekam es aber eine wichtige Funktion. Als Sprachbild, das diese neue Zukunft in Worte fasst, dient die wundersame Verwandlung der Wüste in einen Garten. Diese theologisch stark gereifte und reflektierte Vorstellung wird in die späte Exilszeit bzw. in die frühe nachexilische Phase datiert. Überdies zeigen die Bezüge zu Kap. 34 und Kap. 40ff., dass Kap. 35 einem fortgeschrittenen Stadium der Buchgenese entstammt. Es bildet eines der vier Verbindungsstücke zwischen dem ersten und zweiten Großteil des Jesajabuches (zusammen mit Kap. 33, Kap. 34 und Kap. 36–39). Jedoch bleibt es schwierig, diese »Brücken« in ihrem Verhältnis zueinander zu datieren, zumal jede in einem früheren oder späteren Stadium vermutlich noch weiter bearbeitet wurde. Es bleibt daher umstritten, ob Kap. 35 in redaktionsgeschichtlicher Hinsicht älter oder jünger ist als Kap. 34. Bildet es ein Bindeglied zwischen Kap. 34 und
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II. Auslegung von Jesaja
40,1–11, indem es die Wende vom unabwendbaren Gericht zum verbürgten Heil vorbereitet? Oder aber deutet die Verwandtschaft von 34 mit jüngeren Schichten des Buchschlusses (u.a. 63,1–6) darauf hin, dass Kap. 34 später als Kap. 35 hinzugefügt wurde, um das Thema »der Vergeltung Gottes« in den letzten Kapiteln des Jesajabuches vorzubereiten? Der Werdegang des Buches ist zwar schwierig nachzuzeichnen, fand aber vermutlich gegen Ende des 4. Jh. seinen Abschluss. Das Kapitel bleibt auch literarkritisch umstritten. Für manche stellt V. 3–6b einen Zusatz dar, denn die Ankündigung der Theophanie erkläre zwar die Umwandlung der Wüste zugunsten der Exilierten, unterbreche aber den Zusammenhang zwischen V. 1–2a und V. 6b–10. Dennoch ist schwerlich nachzuvollziehen, dass das Motiv der Naturumwandlung jemals unabhängig von einer Theophanie bestanden haben könnte. Theologischer Ertrag zum II. Akt (Jes 34–35) Das Gericht über die Völker (Kap. 34), so brutal es auch ausfällt, gewinnt seine Tragweite besonders unter buchübergreifender Perspektive, denn es beinhaltet nichts anderes als: »Einen Tag der Rache hat Jhwh, ein Jahr der Vergeltung für den Rechtsstreit Zions« (V. 8). Das Blühen der Wüste für die Heimkehrer zum Zion (Kap. 35) hat das gleiche Ziel: »Siehe, euer Gott! Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes! […] Er wird euch Heil schaffen« (V. 4). Beide Male stehen die Ausdrücke »Rache/Vergeltung« vor der Wiederherstellung der kosmischen Ordnung, die Recht und Gerechtigkeit mit einschließt. Die Heilsankündigung nimmt Elemente des vorausgegangenen ethischen Diskurses auf: die Sorge für die Schwachen (35,3–6), das Ende von Unreinheit und Torheit (V. 8), der Übergang von »Kummer/Seufzen« zu »Frohsinn/Freude« (V. 10). IV. Teil Jesaja 36–39 Drei Erzählungen von der Errettung der Gottesstadt und des Davidssohnes Dieses Textensemble will zeigen, dass der Lauf der Geschichte die Wahrhaftigkeit der Prophetien Jesajas in Kap. 1–35 bestätigt. Das Ziel liegt im Nachweis, dass Jhwh die Macht besitzt, Zion vor fremden Herrschern zu beschützen, wenn der judäische König dieser Stadt in Übereinstimmung mit der Verkündigung des Propheten sein Vertrauen auf Gott setzt. Als Hiskijas Königtum und sein Leben durch die assyrische Eroberungspolitik und eine lebensgefährliche Erkrankung in Gefahr geraten, stellt Jhwh unter Beweis, dass er der Stadt und dem König die Treue hält, und zwar nach eigener Aussage um »David, meines Knechts/deines Vaters« willen (37,35; 38,5). Damit eröffnet Gott seine einst durch den Propheten Natan übermittelte Verheißung an David (2 Sam 7) als Handlungsperspektive für das gesamte Kompositum der Kap. 36–39. Hiskija hat sich in seinem Vertrauen auf Jhwh als wahrer Nachkomme seines Urvorfahren David und zugleich als
IV. Drei Erzählungen von der Errettung der Gottesstadt und des Davidssohnes
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Gegenbild zu seinem Vater, König Ahas, erwiesen (Kap. 36–37; vgl. 7,10–17). Auch repräsentiert er das Paradigma für die Haltung, zu der 35,3f. aufrief (»Stärkt die schlaffen Hände […] Seid stark«), denn seinem Namen »Hiskija« (whyqzj) entsprechend vertraut er seinem Gott, der stark ist und »stark macht« (qzj). Hiskijas Werdegang, besonders seine Genesung von der tödlichen Erkrankung hin zum Lobpreis Gottes im Tempel, präfiguriert Israels Gang durch die Geschichte nach Jhwhs Plan (Kap. 38). Zwar scheint die Exilierung der Nachkommen Hiskijas die bleibende Gültigkeit der von Jhwh gegebenen Verheißung aufzuheben, aber da der König »Frieden und Treue« als Gottes Verfügung über sein Leben annimmt, wird er zu einem Beispiel, wie auch Israel die Zukunft mit allen Unwägbarkeiten allein Jhwh anvertrauen soll (Kap. 39). Dieses Kapitel bereitet durch die Präsenz von Babel und seines Königs die zweite Hälfte des Jesajabuches vor, aber schließt dabei die erste Buchhälfte in gewissem Sinne gar nicht ab. Denn Hiskijas Danklied nach seiner Genesung und sein Wunsch, zum Hause Gottes hinaufzugehen (38,9–22), haben eine Dynamik erzeugt, welche die Episode der babylonischen Gesandtschaft überstrahlt und eine Antwort auf die dort gestellte Frage um Israels Zukunft erhoffen lässt.21 Dieses Gefüge von drei Erzählungen (Kap. 36–37; 38; 39) bildet keinen erratischen Block innerhalb des Jesajabuches.22 Im Gegenteil, es ist in dieses zur Gänze integriert, da es wichtige Übereinstimmungen mit Kap. 1–35 aufweist und mithilfe zitatähnlicher Formulierungen die zweite Buchhälfte vorbereitet. Diachron betrachtet könnten die Erzählungen im Kern auf Er-Berichte aus der Zeit des historischen Propheten zurückgehen. Der klassischen Theorie zufolge wurden diese als eine Komposition aus drei zugrundeliegenden Quellen en bloc aus 2 Kön 18,13–20,19 als Abschluss für Jes 1–35 übernommen.23 Dagegen wurde immer eingewandt, dass die Kompositionen in 2 Kön und Jes in sehr wichtigen Punkten nicht übereinstimmen: 1.) Die Chronik aus 2 Kön 18,14–16 fehlt in Jes 36–37; 2.) Das Gebet Hiskijas aus 38,9–20 fehlt in 2 Kön 20,1–11; 3.) Die Episode über die Sonnenuhr besitzt in Jes 38,7–8 eine andere Form als in 2 Kön 20,1–11 und hat in den jeweiligen Kontexten eine andere Stellung. Überdies eignet sich das literarkritische Quellenmodell eher für 2 Kön 18–20 als für Jes 36–37. Die Auffassung, dass die Version der Hiskija-Sanherib-Erzählungen des Jesajabuches auf die auf drei Quellen gründende Komposition im Buch Könige zurückgeht, wird der synchronen Analyse nicht gerecht.24 Eher haben sich die drei Erzählteile in den zwei Versionen (2 Kön 18–20; Jes 36–39) gegenseitig beeinflusst.25 Wahrscheinlich haben die drei Erzählungen jeweils für sich, aber auch zusammen einen komplizierten Überlieferungsprozess durchlaufen, bevor sie gemeinsam im Kompositum – aber auf unterschiedlichen Ebenen – als zweite Brücke 21 Dazu van Wieringen 2015. 22 Gegen Gesenius 1821. 23 Stade 1886, S. 172–189. 24 Anderson 2013. 25 Young 2012.
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(neben Kap. 34–35) zwischen Kap. 1–35 und Kap. 40–54 eingesetzt wurden.26 Die Zionstheologie von Jes 36–37 stellt eine adäquate narrative Synthese der in Kap. 28–35 verstreuten Aussagen über die Gottesstadt dar. Während dieses Prozesses sind Jes 38 und 39 jeweils als ursprünglich selbstständige Anhänge zu Kap. 36–37 hinzugefügt worden. Sie sind in unterschiedlichem Maße auf Kap. 36–37 bezogen, jedoch durch das Motiv der Genesung Hiskijas aufeinander verwiesen. Die vorbildliche Rolle König Hiskijas in Kap. 36–38 hat in Jes 1–35 zwar kein Pendant, doch fungiert er sicherlich als positives Gegenbeispiel zu seinem Vater Ahas in Kap. 7. Die Funktion, die größeren Buchteile zu verbinden, kommt besonders Kap. 36–37 zu, und zwar aufgrund des Motivs, dass das Vertrauen auf Jhwh Zion und ihrem König Rettung bringt. Kap. 38 teilt diese Funktion durch die Deutung von Hiskijas Genesung aus tödlicher Krankheit, die in ein Loblied im Hause Gottes mündet. Sie fungiert als Metapher für die Auferstehung Israels aus der tödlichen Not des Exils. Hier wird der Horizont einer Restauration Zions in Kap. 55–66 sichtbar.27 Kap. 39 besitzt hingegen eine andere Brückenfunktion, indem es in Vorbereitung auf Jes 40–48 Babel zur Sprache bringt und die wichtige Frage stellt, wie es denn zukünftig überhaupt mit »Frieden und Treue« stehe (V. 8). I. Szene Jesaja 36–37 Wem gebührt die Herrschaft über Zion? Auf den ersten Blick besteht diese literarische Einheit aus einer Reihe von Reden mit zahlreichen Wiederholungen in einem lockeren narrativen Rahmen. Dennoch ist der Verlauf spannend, der durch vier Handlungsträger bestimmt wird (in der Reihenfolge ihres Auftretens): 1.) Assur, das durch seinen König Sanherib, den Rabschake (»Mundschenk«) und das Heer repräsentiert wird; 2.) König Hiskija von Juda und seine Höflinge; 3.) Jhwh und sein Bote; 4.) Zion. Die Handlung vollzieht sich auf zwei Ebenen: der Erzählung und der direkten Rede. Ihre Abfolge zeigt, dass der Assyrer und Hiskija getrennte Wege gehen. Sowohl auf der Erzählals auch auf der Diskursebene besteht zwischen beiden kein direkter Kontakt. Sanherib kommt nach Juda, erobert die Städte, und sendet seinen Rabschake zu Hiskija. Dessen Höflinge, und nicht der König persönlich, gehen dem Rabschake entgegen (36,1–3) und treffen ihn an der Stadtmauer (V. 12). Der Rabschake und Hiskijas Diener verkörpern die Distanz zwischen beiden Königen, die dadurch zusätzlich betont wird, dass die Diener nicht als formelle Gesandte ihres Königs, sondern eher als Beobachter auftreten (V. 3.21). So entwirft der Assyrer zweimal ein Hiskijabild (V. 4–10.14–20), das der Erzähler im Anschluss korrigiert, indem er berichtet, was Hiskija wirklich tut und sagt (37,1–4.14–20). Der Kontakt zwischen Hiskija, Jesaja und Gott ist dagegen erfolgreich (37,2.5–6.14.21). Bei näherer Betrachtung entwickelt das Kapitel eine hohe narrative Spannung. Die Ereigniskette führt von der Ankunft des assyrischen Heeres bis zu dessen Untergang. Die Reden stimulieren diese Entwicklung durch die jeweiligen Unter26 Th. Wagner 2015. 27 Th. Wagner 2015.
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schiede in Inhalt und Sprechrichtung. Das reine Ergebnis, die Befreiung Jerusalems, kommt nicht überraschend, wohl aber die Art und Weise, wie sich die Errettung ereignet. Kein Geringerer als »ein Bote Jhwhs« sät Tod und Verderben im assyrischen Heerlager (37,36). Im Rückgriff auf bekannte literarische Gattungen kann die Erzählung folgendermaßen strukturiert werden. Die Eröffnungsszene (36,1–3) stellt die Handlungsträger vor und führt die militärische Bedrohung vor Augen: im Hintergrund der König von Assur und der König von Jerusalem; im Vordergrund der assyrische Feldherr, der Rabschake, und drei Hofbeamte aus Jerusalem. Jhwh wird hier noch nicht erwähnt, was ebenfalls zur Spannung beiträgt. In der ersten Gesprächsszene (36,4–10) wendet sich der Rabschake an Hiskijas Höflinge. Er fordert sie auf, ihre militärischen Erfolgschancen realistisch einzuschätzen. Auf Ägypten könne sich der König nicht verlassen (V. 4–6), ebenso wenig auf Jhwh, denn Hiskija habe ja dessen Kult eingeschränkt (V. 7). Zudem gäbe es keine Reiter, die er in dem Fall einsetzen könnte, dass ihm der assyrische König die Pferde bereitstellen würde. Letzteres ist eine bizarre Annahme, doch macht sie deutlich, wie unrealistisch es für die judäische Seite ist, auf eine ägyptische Reiterei als militärisches Hilfskontingent zu hoffen (V. 8–9). Schließlich ergäbe es sich ja aus dem Verlauf des bisherigen Feldzuges, dass es Jhwh selbst sei, der den assyrischen König zur Zerstörung Judas ermächtigt habe (V. 10). Die zweite Gesprächsszene (36,11–21) besteht aus zwei Abschnitten. Der erste enthält eine Diskussion zwischen Hiskijas Höflingen und dem Rabschake über die Frage, ob ihre diplomatischen Gespräche geheim bleiben müssen (V. 11–12). Der Feldherr setzt ihre publikumswirksame Öffentlichkeit durch. Auf diese Weise wird die Frage, wem zu vertrauen sei, zu einer Angelegenheit, die alle existentiell betrifft. Hier zeigt sich erneut der Sarkasmus des Erzählers: Er lässt den Feind als denjenigen auftreten, der die Verantwortung des gesamten Volkes betont. Im zweiten Abschnitt wendet sich der Feldherr im Namen seines Fürsten dann auch direkt an Hiskijas Untertanen (V. 13–20). »Der große König« sucht einen Keil zwischen Hiskija und Jhwh auf der einen und dem Volk auf der anderen Seite zu treiben (V. 15–18). Indem Sanherib sich als Wohlstandsgeber (V. 16–17) und Jhwh als nicht weniger machtlos als die Götter der Völker präsentiert (V. 18–20), reklamiert er für sich göttliche Eigenschaften. Ja, durch die Aufforderung »kommt zu mir heraus« im Zusammenhang mit der Zusage eines segensreichen Daseins im eigenen Land und anschließend einer Reise in sein ebenso fruchtbares Land, also nach Assur (V. 16–17), erhebt Sanherib den Anspruch, mit Jhwh, der sein Volk in das Land der Verheißung geführt hat, auf gleicher Stufe zu stehen. Gemäß der sarkastischen Intention des Erzählers verrät er sich jedoch durch seine Torheit. An dieser Stelle gibt sich abermals die ideologische Tendenz der ganzen Geschichte zu erkennen. Die dritte Gesprächsszene (36,22–37,7) erhöht die Spannung, da nun sowohl König Hiskija selbst aktiv wird, als auch der Prophet Jesaja das Wort ergreift. Nachdem Hiskija die assyrische Botschaft vernommen hat (V. 22), trauert er –
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wahrscheinlich wegen der Gotteslästerung durch Sanherib (V. 18–20) – gemeinsam mit seinen Höflingen, geht zum Tempel (37,1–2) und tritt mit Jesaja in Verbindung (V. 2–4). Hiskija erweist sich dabei als vorbildlicher König, denn er bittet um die Fürsprache des Propheten bei Jhwh. Jesaja tritt ausschließlich als Botschafter Gottes in Erscheinung: Er überbringt allein Jhwhs Antwort, die den Untergang des assyrischen Königs verheißt (V. 6–7). Hinter den beiden Gesprächspartnern hält so »der lebendige Gott« (V. 4) Einzug in den narrativen Verlauf. Die vierte Gesprächsszene (37,8–13) erzeugt eine neue Spannung, denn jetzt meldet sich der König von Assur selbst zu Wort, wenn auch aus dem Munde von Botschaftern, die aber im Gegensatz zum Rabschake nicht in eigenem Namen sprechen. Der Rabschake tritt im Übrigen nicht mehr als Handlungsträger in Erscheinung. Auf geschickte Weise wird die Veränderung in der strategischen Lage als Hintergrund für die Darstellung der Hybris Sanheribs genutzt (V. 8–9). Während seine Herrschaft auf militärischem Gebiet durch den König von Kusch herausgefordert wird, besitzt der assyrische König dennoch den Übermut, Hiskijas Gott in noch stärkerem Maße zu beschimpfen, als er es bereits den Rabschake zu tun veranlasst hatte. Dieser hatte vor Hiskijas trügerischem Vertrauen in Jhwh gewarnt (36,14.20), Sanherib warnt nun vor Betrug durch Jhwh selbst (37,10– 13). Dass er die Macht seines politischen Gegners, des Königs von Kusch, verkennt, ist symptomatisch dafür, dass er Jhwh unter- und sich selbst überschätzt. Die Tatsache, dass Hiskija ihm nicht antwortet, steht in Einklang mit seinem Auftreten vor dem Rabschake (36,21) und illustriert zugleich die in Hochmut selbstgewählte Einsamkeit Sanheribs. Die fünfte Gesprächsszene (37,14–35) bringt analog zur dritten Hiskija und Jhwh zueinander, wobei hier jedoch der König persönlich zu Gott betet (V. 15– 20). Jhwhs Antwort, die erneut der Prophet übermittelt (V. 21), besteht aus einem Spottlied auf Sanherib mitsamt seiner Verurteilung (V. 22–29), welches durch Jesajas Zusage eines »Zeichens» an Hiskija fortgesetzt wird (V. 30–35). Das Spottlied stammt von Jhwh und wird dem König von Juda als Ermutigung zugesprochen (V. 21–22a), obgleich es die Tochter Zion ist, die es in Gegenwart des Königs von Assur singt (V. 22b–25). Erst in V. 26–29 wendet sich auch Jhwh direkt an Sanherib. Diese literarische Konstruktion hat eine eigenartige Wirkung. Nicht Hiskija, sondern die Tochter Zion widersetzt sich öffentlich dem König von Assur und bringt ihn zum Schweigen. Er erhält keine Chance zur Entgegnung, denn Jhwh ergreift das Wort. Auf diese Weise werden die Entmachtung und das Abtreten Sanheribs antizipiert, wodurch sich erneut zeigt, dass Jhwh Zion und Hiskija unterstützt. Die Schlussszene (37,36–38) schildert den Untergang des assyrischen Heeres und die Errettung Jerusalems. Auffälligerweise fehlt in diesem Abschnitt eine direkte Rede. Die Tatsachen sprechen für sich: »Ein Bote Jhwhs« dominiert das Schlachtfeld, der König von Assur zieht ab. Nach aller anmaßenden Prahlerei herrscht nun Totenstille. Der sonderbar unbestimmte Satz »Als man früh am
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Morgen aufstand, siehe da, sie waren alle tot« (V. 36) wie auch die Aussage »der König von Assur brach auf« (V. 37) suggerieren, dass es Überlebende gab, die den Rückzug antraten, nachdem sie das Blutbad und die große Zahl an Toten entdeckt hatten. Sanherib hat kein Heer mehr, er bleibt nun in Ninive, seiner Stadt (V. 37). Jedoch ist er dort vor seiner eigenen Familie sowie des Schutzes durch seine eigene Gottheit nicht sicher. Ihn trifft das gleiche Todesschicksal wie sein Heer (V. 36.38), jedoch nicht durch die Hand »eines Boten Jhwhs«, sondern jene seiner eigenen Söhne. Bis zum bitteren Ende hält der Gott Israels den König von Assur keiner direkten Begegnung würdig. Diachron betrachtet erhielten Kap. 36–37 ihre Endgestalt vermutlich in einem Zeitraum, der sich von der assyrischen und babylonischen, somit (vor)exilischen Epoche bis in die (nach)exilische, persische Zeit erstreckte. Darum ist es von Bedeutung, sowohl die politischen Ereignisse, von denen diese Kapitel handeln, als auch ihre redaktionelle Geschichte zu beleuchten. Über die hier geschilderten Ereignisse informieren auch die Annalen der assyrischen Könige. Der von Assur ausgeübte Druck erreichte unter Sanherib (705– 681) einen Höhepunkt. Dieser ging im Jahre 701 gegen die kleinen westlichen Völker vor, die sich mit Unterstützung Ägyptens vom assyrischen Joch befreien wollten. Er nahm zunächst die Küstenregion von Sidon im Norden bis nach Aschkelon im Süden ein, wobei er eine zu Hilfe eilende ägyptische Armee bei Elteke besiegte. Vor Beginn des schwierigeren Feldzuges gegen das gebirgige Juda brachte er Lachisch in der Schefela, die wichtigste Stadt neben Jerusalem, in seine Gewalt. Während er noch mit der Eroberung von Lachisch beschäftigt war, schickte er eine Heereseinheit voraus, um Jerusalem einzuschließen. An diesem Punkt setzen Kap. 36–37 ein. Was den Schluss des Feldzuges betrifft (37,36–38), divergieren die biblische Erzählung und die assyrischen Annalen. Laut der Erzählung erlebte das feindliche Heer ein Fiasko, wohingegen Hiskijas Vertrauen in den von Jhwh gewährten Schutz belohnt wurde. Nach Darstellung der Annalen unterwarf sich Hiskija als tributpflichtiger Vasall Sanherib vollständig. Dieser Bericht hat in 2 Kön 18,13–16 eine sachgemäße Parallele, fehlt aber in der Version des Jesajabuches. Historisch und archäologisch steht fest, dass Hiskija einen großen Teil seines Königreiches Juda abtreten musste und nicht viel mehr als Jerusalem und das umliegende, stark in Mitleidenschaft gezogene Gebiet behielt. Der Widerspruch zwischen Kap. 36–37 und den historischen Quellen lässt sich dadurch erklären, dass Judas Katastrophe eine ideologische Erklärung erfahren hat. Die Unterwerfung unter die assyrische Vorherrschaft hätte den Besitz des verheißenen Landes desavouiert. Sie wird daher in eine Niederlage Assurs umgedeutet, als historischer Beweis für die Verbundenheit Jhwhs mit Jerusalem und seinem König. Somit fungierte diese Erzählung im 7. Jh. – dem letzten vor dem Untergang – als Warnung. Nach dem Untergang Jerusalems im Jahre 586 verstand man den Text als eine Art Ermutigung. Dass die Historiographie der Theologie untergeordnet ist, geht auch aus der Tatsache hervor, dass Sanheribs Ermordung, die sich historisch im Jahre 681 ereignete, als unmittelbare Folge seiner Nieder-
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lage von 701 präsentiert wird. Ebenso bilden das Auftreten des Pharao Tirhaka und die auf ihn applizierte Königstitulatur (37,9) einen Anachronismus für das Jahr 701, da die Herrschaft dieses Fürsten erst 691 begann. Die literar- und redaktionsgeschichtliche Forschung rechnet für Jes 36–37 in Parallelität zu 2 Kön 18–20 mit zwei Quellen: Jes 36,2–37,9a.37–38 und 37,9b–36. Die Unterscheidung beruht auf Wiederholungen, Widersprüchen und vor allem auf der Differenz zwischen Jesajas Ankündigung über die Rettung Jerusalems (37,7) und ihrem wundersamen Eintreffen (37,36). Allmählich setzt sich die Einsicht durch, dass es sich hier – sollte das Quellenmodell für die Version des Jesajabuches überhaupt zutreffen – nicht um zwei selbstständige Quellen handelt, sondern dass beide in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen.28 Über deren prius et posterius ist man sich aber nicht einig. Eine ganz andere Erklärung bietet sich an, wenn man von einer ursprünglich selbstständigen Urform von Kap. 36–37 ausgeht, die mit der Jesajatradition aus dem 7. Jh. von Anfang an in Verbindung gestanden hätte. Dann könnte die Geschichte durchaus aus oppositionellen Kreisen gegen König Manasse (697–642) stammen, der in jeglicher Hinsicht das Gegenteil seines Vaters Hiskija (728–700) war und dessen politisches Verhältnis zu Assur der biblischen Geschichtsschreibung nach ein böses Ende nahm (2 Kön 21; 2 Chr 33). Historisch gesehen kann die Amtszeit Manasses aber nicht so schlecht gewesen sein, da er sonst kaum so lange regiert hätte! Vielleicht steht aber auch die Regierungszeit Joschijas (639– 609), eines Enkels von Manasse, im Hintergrund, als eine reformorientierte Bewegung die Königsherrschaft Hiskijas als beispielhaft präsentierte. Offensichtlich haben die Kap. 36–37 mit Kap. 38 eine weitere Hiskija-Erzählung aus der Jesajatradition an sich gezogen, denn darin wird der König weiter idealisiert (s.u.). Diesem Kompositum ist nach Ansicht vieler Exegeten Kap. 39 als Korrektiv hinzugefügt worden, da nun die freundschaftliche Politik Hiskijas gegenüber Babel heftig kritisiert werde. Diese Zielsetzung bleibt aber umstritten, denn es liegt gar nicht so klar auf der Hand, dass Kap. 39 das vorherige Hiskijabild eintrüben will. Mit der angekündigten Deportation der Königsfamilie nach Babel liegt auf jeden Fall ein deutlicher Verweis auf Kap. 40ff vor. Doch was für Jes 36–37 galt, trifft auch auf Kap. 39 zu: Die Brückenfunktion zwischen den beiden Hauptteilen des Jesajabuches gehört nicht zur ursprünglichen Intention der Verfasser. Vielmehr sind diese Texte später zu diesem Zweck bearbeitet worden. II. Szene Jesaja 38 Hiskijas Krankheit und Genesung Diesem Kapitel liegt eine Prophetenlegende zugrunde, eine Gattung, die graduell von einem prophetischen Er-Bericht aus der unmittelbaren Umgebung des Propheten zu unterscheiden ist. Innerbiblisch gibt es mehrere Erzählungen über tödliche Krankheiten, aus denen ein Prophet Errettung bewirkt (1 Kön 17,17–24; 2 Kön 4,31–37; 5,1–14) oder für die er fatale Diagnosen stellt (1 Kön 14,1–18; 2 28 Young 2012.
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Kön 1,1–18; 8,7–15). Doch von diesen unterscheidet sich die vorliegende Erzählung dahingehend, dass sich die Genesung hier eher den frommen Gebeten des todkranken Königs (V. 3.9–20) als dem Eingreifen des Propheten verdankt. Obwohl der Prophet zwei Gottesreden übermittelt (V. 2.5–8) und abschließend ein Heilungsverfahren vollzieht (V. 21), wohnt seinem Auftreten nur in geringem Maße der Charakter eines Wunders inne. Die Erzählung wird so sehr von Hiskijas Bezeugung seines Jhwh-Vertrauens dominiert, dass die Therapie erst abschließend und ohne Angabe des Heilungserfolges erwähnt wird. Das vorbildliche Verhalten Hiskijas gewährleistet den angemessenen Anschluss dieser Erzählung an die vorangehende. Die Verheißung von weiteren fünfzehn Lebensjahren wird mit der Rettung von König und Stadt verbunden (V. 5–6). Diese Gleichsetzung ist in buchredaktioneller Sicht wichtig: »Der kranke König ist der Repräsentant seines Volkes geworden, dessen Schicksal an den Glauben des Königs gebunden und in seinem Schicksal dargestellt ist«29. Hiskijas Genesung und Dankgebet erhalten somit einen metaphorischen Mehrwert: Sie sind ein Bild für die Wiederherstellung der Tempelgemeinde, die nach der tödlichen Zeit des Exils Jhwh erneut loben kann. Dies wird in der Restauration Israels und der neuerlichen Besiedlung Jerusalems in Kap. 40–66 auf programmatische Weise ausgeführt. So könnte die sonderbare Feigen-Therapie ein Bild für den Prozess der Läuterung und Heilung darstellen, den das Exil mit sich brachte (V. 21–22). Die Einbettung von Kap. 38 in das Jesajabuch schmälert nicht seine ausgeprägte eigene narrative und poetische Gestalt.30 Die erste Hälfte enthält einen klaren Plot: die Krankheit und Ankündigung des Todes (V.1), das Bittgebet und die Erhörung (V. 2–5), die Verheißung eines Zeichens und ihre Erfüllung (V. 7–8). Es wäre unsachgemäß, das sich anschließende Dankgebet Hiskijas (V. 9–20) als störenden Zusatz zu betrachten, der den Erzählfluss vom Zeichen (V. 7–8) hin zur Genesung (V. 21–22) unterbrechen würde. Als Dankpsalm, der sowohl auf die zugesagte Genesung vorausgreift als auch auf die lebensbedrohliche Krankheit zurückblickt, verkörpert das Dankgebet die gläubige, auf das Zeichen antwortende Reaktion des Königs. Als »Aufzeichnung« (V. 9) gibt es überdies einen Einblick in die Praxis altorientalischer Könige, sich durch öffentliche Gebete als treue Diener ihres Gottes bzw. ihrer Götter zu inszenieren. Der Gebetsbrief betont die persönliche und öffentliche Frömmigkeit des Königs. Hierin unterscheidet sich Hiskija von seinem Vater Ahas (Kap. 7). Für die Darstellung der Frömmigkeit verwendet das Gebet einige semantische und thematische Bezüge zur umgebenden Erzählung (»Tod« und »Leben«, »Tage« und »Jahre«, »Treue« und »hinabstiegen«), doch weist das Gebet auch andere Elemente auf, die die Erzählung notwendigerweise nicht entfaltet, wie die Erfahrung von Leiden, Sterblichkeit, Sünde und Vergebung, sowie Gottes rettendes Einschreiten. 29 Kustár 2002, S. 141. 30 van Wieringen 2015.
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Durch das quantitative Übergewicht des Gebetes gegenüber der eigentlichen Heilungsszene (V. 21–22) verliert die Krankheit zugunsten der hoffnungsvollen Erwartung auf Genesung an Gewicht. So wird die Funktion der Krankheit als Metapher für das Exil, ein Hauptthema des Jesajabuches, verstärkt. Hiskijas abschließende Frage (V. 22) verweist nicht auf das Sonnenzeichen zurück (V. 7), sondern bezieht sich auf die Therapie, die Jesaja angeordnet hat (V. 21). Die Frage »Was ist das Zeichen, dass ich in das Haus Jhwhs hinaufgehen werde?« bedeutet: Welche Symptome an dem mit Feigen behandelten Geschwür lassen auf einen guten Ausgang hoffen? Die Genesung wird nicht mit Blick auf ihren physischen Wert, sondern in Bezug auf ihre religiöse Bedeutung formuliert: Sie soll die Möglichkeit zum Jhwh-Lob im Tempel eröffnen, wie es sich für einen vorbildlichen König aus dem Hause David gehört (V. 5.20).31 Auf diese Weise spielt die Erzählung eine Rolle für den Aufbau des gesamten Jesajabuches, in dem die Sünde des Volkes immer wieder als Krankheit dargestellt ist, die Jhwh heilen wird (1,5–6; 6,10; 30,26; 33,24; 53,3). Da die Frage nach dem Zeichen unbeantwortet bleibt, verfügt die Erzählung über ein offenes Ende und unterstreicht damit die Perspektive auf das Exil, der zufolge Rückkehr und Restauration von Stadt und Tempel immer im Modus der Hoffnung verharren (vgl. 2,2–5; 37,30–32). Die Datierung konzentriert sich zunächst auf die Erkrankung Hiskijas. Falls es sich um Pest handelte (V. 21) und dieselbe Krankheit das massive Sterben in Sanheribs Heereslager verursachte (37,36–37), kann der Kern von Kap. 38 auf die Zeit des assyrischen Feldzuges gegen Juda im Jahre 701 zurückgehen. Massengräber bei Lachisch deuten jedenfalls auf eine Pestepidemie in dieser Zeit hin. Das Sonnenzeichen spielt in der Datierung ebenfalls eine Rolle (V. 7–8). Da man dieses Phänomen häufig als im Widerspruch zu den Naturgesetzen stehend gesehen und darum als legendenhaft betrachtet hat, wird die Erzählung meist in die Zeit nach Hiskija datiert (728–700). Jedoch stellt der Rückgang des Schattens (nicht der Sonne!) ein natürliches Phänomen dar und es ist nicht auszuschließen, dass es zur damaligen Zeit in Israel bekannt war. Überdies erlebte Jerusalem im Jahre 700 eine Sonnenfinsternis. Außerbiblische Information tragen aber nur wenig zur absoluten Datierung der Erzählung bei. Die literargeschichtliche Datierung von Jes 38 steht in der Forschung mit der Datierung des Komplexes Jes 36–39 in Anbetracht der Parallelversion von 2 Kön 18–20 in Verbindung. Dabei sind die Unterschiede zwischen der Erzählung über Hiskijas Genesung in Kap. 38 und ihrem Pendant in 2 Kön 20,1–11 größer als die Unterschiede zwischen den beiden Versionen des assyrischen Feldzuges (Jes 36– 37; par. 2 Kön 18–19). So fehlt in 2 Kön 20 Hiskijas Gebet (Jes 38,9–20). In Jes 38 erfolgt die Therapie im Anschluss an das Zeichen (V. 21–22 nach V. 7–8; vgl. 2 Kön 20,7.8–11). Hier fehlen überdies der Hinweis auf Hiskijas tatsächliche Genesung (2 Kön 20,7) sowie seine Bitte um ein aussagekräftiges Zeichen (2 Kön 31 Goswell 2014.
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20,10–11). Dies alles spricht eher dagegen, Jes 38 von seinem Pendant in 2 Kön her zu datieren. Die entgegengesetzte Auffassung, dass die Version in Jes 38 älter sei als jene in 2 Kön 20, beruht vor allem auf der Beobachtung, dass Kap. 38 in seiner Endgestalt (mit Kap. 39, mit dem es unter chronologischem Gesichtspunkt verbunden ist) dem Zusammenhang des Jesajabuches dient. Beide Erzählungen fallen in die Zeit vor der Befreiung Jerusalems in Kap. 36–37 (vgl. 38,6). Obgleich die Kapitel im Leseverlauf des Buches mit der vorangehenden Erzählung nur lose verbunden sind (38,1; 39,1), gehören beide an diesen Ort, da sie den Anschluss zu Kap. 40 ermöglichen. Kap. 38 antizipiert mit Hiskijas Genesung die Tröstung Israels, während Kap. 39 das babylonische Exil ankündet. Diese Abfolge habe im Aufbau von 2 Kön 20 hingegen keinerlei Funktion und könne somit nur als Entlehnung aus dem Jesajabuch verstanden werden. Eine dritte Position geht davon aus, dass die Erzählung über Hiskijas Genesung zunächst eigenständig war und auf je unterschiedlichen Wegen in einem komplizierten Prozess theologischer Angleichungen in die Königsbücher und das Jesajabuch Eingang fand, wobei in der Jesajabuch-Fassung noch das Gebet Hiskijas hinzugefügt wurde. Im Zuge dieser Entwicklungen hätten sich beide Versionen gegenseitig beeinflusst. An ihrer jeweiligen Endgestalt lassen sich die unterschiedlichen Schwerpunkte beider biblischen Bücher erkennen. In Jes 38 tritt Jesaja – wie überall in diesem Prophetenbuch – als Überbringer des Jhwh-Wortes auf. Die Aufmerksamkeit gilt an der vorliegenden Stelle jedoch nicht ihm, sondern König Hiskija: Als Gegenbild zu König Ahas (Kap. 7) ist er der bessere Nachkomme Davids (38,5; vgl. 9,1–6). Im Gebet wird er zum Vorbild für sein Volk (38,3.10–20), in seiner Genesung zeigt er auf, dass Jhwh nichts anderes im Sinn hat als die Rettung Jerusalems. Die Untersuchung der vormassoretischen Textgestalten von 2 Kön 18–20; par. Jes 36–39 hat zu der These geführt, dass sich die älteste Gestalt des gesamten Komplexes nicht in JesMT, sondern in 2 KönLXX findet. Die griechische Texttradition stimmt häufig mit 2 KönMT überein und läuft dabei Varianten von JesMT zuwider. Jedoch habe der Autor von 2 KönMT den Hiskijakomplex nicht selbst entworfen, sondern als selbstständige Komposition vorgefunden und dann mit Anpassungen in sein Werk inkorporiert. Trotz ihrer Komplexität haben diese Untersuchungen den Weg dazu geebnet, die jeweiligen hebräischen und griechischen Versionen der Hiskija-Jesaja-Erzählungen für sich zu betrachten und mögliche Abhängigkeiten nicht zum Generalschlüssel der Auslegungen zu machen. III. Szene Jesaja 39 Hiskijas Vertrauen erprobt Indem in diesem Kapitel nicht Assur als die große Bedrohung gilt (vgl. Kap. 36–37; 38), sondern Babel (V. 1.3.6–7), wird die zweite Buchhälfte vorbereitet (43,14; 47,1; 48,14.20). Die Jhwh feindliche Metropole ist in der prophetischen Sicht dem Untergang geweiht (13,1.19; 14,4.22; 21,9; 23,13).
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Obschon Jes 39 mit Kap. 38 durch das Thema »Hiskijas Krankheit und Genesung« verbunden ist (V. 1), zeigt es den König in einem anderen Licht. Der vertraute Umgang des Königs mit der Gesandtschaft aus Babel findet nicht die Zustimmung des Propheten (V. 2–7). Die Art und Weise, wie der Prophet den König befragt, lässt den Gegensatz erahnen, den beide in politischer Hinsicht voneinander trennt. Dabei bleibt Jesaja seiner ablehnenden Haltung gegenüber jedwedem politischen Bündnis treu (vgl. 22,1–14; 30,1–7.15–17; 31,1–3). Das Kapitel gliedert sich in zwei Abschnitte: den Besuch der Gesandtschaft aus Babel (V.1–2) und die Diskussion zwischen Jesaja und Hiskija (V. 3–8). Der erste Teil präsentiert die Initiative des Königs von Babel mittels zweier Verbformen: »er sandte« und »er hatte gehört« (V. 1). Hiskijas Reaktion wird ebenso mit zwei Verben beschrieben: »er freute sich über sie« und »er zeigte ihnen« (V. 2). Das letztgenannte Element wird in einer ausführlichen Auflistung positiv (»alles, was sich vorfand«) und negativ (»es gab nichts«) entfaltet. Im zweiten Abschnitt tritt der Prophet als Wortführer auf. Zwei Mal befragt er den König (V. 3–4) und übermittelt anschließend das Jhwh-Wort (V. 5–7), auf das der König in zweifacher Weise reagiert (V. 8). Jesajas erste Frage ist zweigeteilt: »Was haben diese Männer gesagt?« und »Woher sind sie zu dir gekommen?«. Der König beantwortet jedoch lediglich die zweite Frage mit »aus Babel« (V. 3). Der Prophet nimmt die erste Frage nicht wieder auf, sondern stellt eine weitere, die sein eigentliches Anliegen verrät: »Was haben sie in deinem Haus gesehen?«. Auf diese Frage hin erhält er mehr Informationen, als er überhaupt erbeten hat: Die Boten hätten alles in Hiskijas Haus und Schatzkammer gesehen, wobei sie der König sogar höchstpersönlich herumgeführt habe (V. 4). Diese rhetorische Taktik des Verschweigens und einer kleinen Frage mit gewichtiger Antwort verleiht der Erzählung einen überraschenden Verlauf. Das Urteil Jhwhs bezieht sich auf zweierlei: »Alles, was in deinem Haus ist« werde als Beute (V. 6) und »einige von deinen Söhnen« würden als Diener nach Babel gebracht werden (V. 7). Man kann V. 7 als eine Ergänzung betrachten, denn der Vers wird im Gegensatz zu V. 6 in der vorangehenden Erzählung nicht vorbereitet (vgl. die Rahmenformel am Schluss von V. 6). Der Vers verwandelt einen Er-Bericht über die Art und Weise, wie Jesaja Hiskijas Außenpolitik kritisiert, in eine Prophetie über das Ende der Dynastie. Dennoch passen V. 6 und V. 7 gut zueinander, denn die Worte »Haus« und »Sohn« sind semantisch aufeinander bezogen (vgl. die Natansverheißung in 2 Sam 7,1–17). Das Ende der Dynastie kommt in den Blick: Hiskijas Söhne werden eine Funktion einnehmen, in der keinerlei Ansprüche auf den Thron bestehen und die den Fortbestand der davidischen Dynastie sogar physisch ausschließt (V. 7: »Hofbeamte« bzw. »Eunuchen«; vgl. 56,3f.). Die Antwort des Königs auf das Gericht ist zweigeteilt (V. 8). Hiskija nimmt das Urteil Jhwhs an, das ihm Jesaja übermittelt. Die Eigenschaft, sich dem Propheten zu fügen, ist Teil des von diesem König in Kap. 36–38 entworfenen Bildes (vgl. Jer 26,18–19). Dort erkannte er den Propheten Jesaja als Gesandten Gottes
IV. Drei Erzählungen von der Errettung der Gottesstadt und des Davidssohnes
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an (37,2.21; 38,1.4) und hielt an seinem Vertrauen auf Jhwh und an seiner Hoffnung auf Jerusalems Befreiung fest (37,4.10.15.18.20). Ebenso nimmt er hier das Wort Jhwhs als etwas »Gutes» (bwf) an. Diese Charakterisierung kann sich nur auf die Redlichkeit des göttlichen Handelns beziehen. Der Schluss von V. 8 ist für die Stellung von Kap. 39 im Jesajabuch entscheidend. In Hiskijas Reaktion auf das angekündigte Urteil (V. 8) lässt sich sein frommes Verhalten aus Kap. 36–38 erkennen. Denn seine letzte Botschaft »Es wird Frieden und Treue in meinen Tagen geben« bildet ein Pendant zum Schluss des Dankliedes anlässlich seiner Genesung im vorangehenden Kapitel: »Dann werden wir Saitenspiel erklingen lassen alle Tage unseres Lebens« (38,20). Beide Aussagen lassen die jeweiligen Erzählungen unabgeschlossen und verleihen damit Kap. 1–39 ein geradezu offenes Ende. So geht im literarischen Drama des Jesajabuches die Zeit der menschlichen Könige in Juda zu Ende (vgl. 1,1), denn in 40ff. ist Jhwh allein der »König« in und über sein Volk! Diachron betrachtet scheint die Erzählung einige Bearbeitungsphasen durchlaufen zu haben. Schon unter narrativem Gesichtspunkt gibt es Details, die zu Rückfragen führen. Dass der Reichtum des Königs weggetragen wird, ist die logische Konsequenz aus dem Fehltritt Hiskijas (V. 6). Dass diese Beute aber nicht nach Assur, sondern nach Babel gebracht werden soll, kann nur ein vaticinium ex eventu sein, denn der Prophet warnt durchgängig davor, dass fremde Reiche, die mit Juda im Bündnis gegen Assur stehen, keine Macht werden entfalten können (7,4–7; 14,28–32; 20; 30,3–5; 31,3). Die Tatsache, dass Hiskijas Söhne zum Dienst am Hof deportiert werden sollen, während der König selbst verschont bleibt, ist ein sonderbarer Zug der Erzählung, der nur als rückwirkende Erklärung zu deuten ist, dass bereits Jesaja ben Amoz die Exilierung der davidischen Prinzen nach Babel vorhergesagt habe.32 Aus diesem Grund erscheinen auch Deportation und Indienstnahme der Söhne Hiskijas als vaticinia ex eventu (vgl. Dan 1,3–5; Neh 2,1). So wird V. 7 von einem großen Teil der diachronen Forschung als spätere Ergänzung angesehen. Möglicherweise thematisierte die Erzählung ursprünglich einen Konflikt zwischen dem König und dem Propheten, da Jesajas Groll sich an Hiskijas wohlwollender Aufnahme der babylonischen Gesandten entzündete, die wohl über ein Bündnis verhandeln wollten. Der hier genannte König Merodach-Baladan (721– 710 und 704–703 Herrscher über Babel) hat sich fortwährend der assyrischen Oberhoheit widersetzt. Vermutlich hat Jesaja davor gewarnt, dass ein Bündnis mit Babel gegen Assur keinerlei Nutzen bringe. Im Gegenteil, es würde radikale assyrische Strafmaßnahmen nach sich ziehen (vgl. 2 Kön 18,14–16). Als Aktualisierung scheint in einer nächsten Phase die assyrische Aggression durch die Ankündigung einer bevorstehenden Plünderung Jerusalems durch Babel ersetzt worden zu sein, wobei man sicherlich an Nebukadnezzar dachte. In diesem Zusammen32 Demgegenüber kündigt Kap. 7 König Ahas die persönliche Bestrafung an, wohingegen seinem Nachfolger Heil in Aussicht gestellt wird.
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II. Auslegung von Jesaja
hang wurde die Erzählung um die Ankündigung ergänzt, Hiskijas Nachkommen würden nach Babel deportiert werden. Dieses vaticinium ex eventu hat wahrscheinlich die erste Plünderung des Jahres 597 im Blick, als König Jojachin nach Babel geführt wurde (2 Kön 24,13–17), und nicht die zweite des Jahres 586, als die Söhne des Königs Zidkija ermordet sowie Stadt und Tempel zerstört wurden (2 Kön 25,7–17). Die Zerstörung von 586 ist eine historische Gegebenheit von grundlegender Bedeutung, doch spielt diese Prophetie darauf noch nicht an. Schließlich hat die Redaktion des Jesajabuches die Genesung Hiskijas zum Anlass für einen Besuch einer Gesandtschaft aus Babel gemacht (V.1). Somit konnte die Erzählung im Rahmen der Kap. 36–39 einen Bezug zu Kap. 40ff. herstellen. Damit wird bereits vor Beginn des zweiten Buchteils, der das babylonische Exil als historisches Faktum voraussetzt, das Exil angekündigt. Wer anders als Jesaja hätte das schon zu Hiskijas Zeiten ankündigen können! War seine Gerichtsbotschaft eingetreten, so wird sich auch seine Heilsverkündigung in nachexilischer Zeit erfüllen. Außerdem wird eine Erklärung dafür geboten, warum Jhwh die Nachkommen Hiskijas, der in Kap. 36–38 als idealer Herrscher dargestellt wird, dennoch nicht auf dem Thron in Jerusalem gehalten hat. Hiskija war zwar ein viel besserer König als sein Vater Ahas – von Manasse danach ganz zu schweigen –, aber selbst die besten Davididen haben das Exil nicht abwenden können. Im Gegenteil, auch diese haben letztlich ihren Teil zum Desaster beigetragen. Im Jesajabuch gibt es deshalb nach 40ff. keine davidische Restaurationshoffnung, denn Jhwh allein ist der König (41,21; 43,15; 44,6; 52,7). Die Zukunftstexte in Jes 7; 9 und 11 stehen allesamt im ersten Teil des Buches und können nach dem Fehltritt von 39 auch nicht in Hiskija ihre Erfüllung gefunden haben. Theologischer Ertrag zum IV. Teil (Jes 36–39) Das übergreifende Paradigma dieser Komposition lautet: Das Vertrauen auf Jhwh wird nie enttäuscht. König Hiskija ist dafür ein Vorbild (Kap. 37–39), wie auch »die Jungfrau, die Tochter Zion« (37,22–25), die ihm darin vorausgeht. Diese theologische Zielsetzung bestimmt die Inszenierung und das Verhalten der Aktanten in den drei Erzählungen. Einerseits ist der Bericht über die misslungene Belagerung Jerusalems gespickt mit Aussagen des Hochmuts von Seiten des assyrischen Herrschers. Andererseits dient das Einverständnis zwischen Hiskija und Jesaja als Vorbild für den richtigen Umgang von Königen und Propheten in Israel (Kap. 36–37). Die Art und Weise, wie Hiskija mit seinem drohenden Lebensende umgeht, macht ihn zu einem exemplarischen Beter in der Not, der seine Genesung zum Anlass für ein lebenslanges Lob auf Jhwhs Treue nimmt (Kap. 38). Im Licht des Gotteswortes akzeptiert er sogar den Untergang seines Geschlechts (Kap. 39). Diese Kapitel beschließen die Orakel und Erzählungen, die teilweise auf den historischen Propheten Jesaja zurückgehen (Kap. 1–39). Die Überlieferung hat diesem Grundstock einen bleibenden Wert für alle nachkommenden Generatio-
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nen zuerkannt. Diese Texte sind in den religiösen und sozialen Rahmen Israels eingebettet, wie er sich aus der Zeit vor dem Exil bis in die Zeit danach entwickelte. Die Buchredaktion hat diesen Prozess nicht analytisch beschrieben. Ihre Erzählungen zeigen aber die Grundlinien auf, an denen sich die Geschichte des Gottesvolkes orientiert bzw. zu orientieren hat. Menschlicher Hochmut ist – wie auch die Verletzlichkeit von Notleidenden – eine überzeitliche Konstante. Sie bilden den übergeschichtlichen Rahmen, in dem Jhwh seine Treue unter Beweis stellt und sich sein Volk aufs Neue konstituiert. So gesehen bereiten Kap. 36–39 die zweite Hälfte des Buches Jesaja vor. V. Teil Jesaja 40–48 Aus Babel zurück in die Heimat I. Akt Jesaja 40 Zion-Jakob-Ouvertüre I. Szene Jesaja 40,1–11 Zion/Jerusalem-Ouvertüre II. Szene Jesaja 40,12–31 Jakob/Israel-Ouvertüre Wie mit einem Paukenschlag setzt der zweite Großteil des Jesajabuches ein, in dem nun nicht mehr der Prophet Jesaja in persona auftritt – das war letztmalig in Jes 39 der Fall –, sondern das prophetische Wort die Hauptrolle übernimmt. Da sich durch die Exilsereignisse die Gerichtsankündigung Jesajas ben Amoz erfüllt hatte, konnte man darauf vertrauen, dass nach der Katastrophe auch seine Heilsworte Wirklichkeit werden würden. Dass sich im Jesajabuch anders als im Buch Jeremia (vgl. Jer 52) kein Bericht über die Zerstörung Jerusalems und die Deportation der Bevölkerung findet, hängt mit der starken Zentrierung auf Zion als den Ort der göttlichen Gegenwart zusammen. Die Vorstellung von Zion als Schutzort für alle Frommen, die auf Jhwh vertrauen (vgl. 28,16), verhinderte, die Zerstörung Jerusalems eigens zu thematisieren. Nicht die Niederlage durch Nebukadnezzar, sondern der Sieg über Sanherib steht im geschichtstheologischen Mittelpunkt. Anders als das Jeremiabuch, in dem der babylonische Herrscher Nebukadnezzar als Knecht Jhwhs das Gerichtswerkzeug gegen Juda ist (Jer 25,9), stellt das Jesajabuch den Perser Kyrus als Hirten (44,28) und Gesalbten Gottes vor (45,1). Die geschichtstheologische Konzeption ist dabei aber die gleiche, denn der Gott Israels kann die Fremdmächte – seien sie auch noch so stark – für seine Plänen einsetzen, sei es zur Zerstörung oder aber zur Restauration. In der Dramatik des Jesajabuches finden so die Fremdvölkersprüche von Kap. 13–23 und die Königsinszenierung Jhwhs auf seinem heiligen Berg in Kap. 24–27 ihre eigentliche Stellung und Funktion. Das Gerichtshandeln Jhwhs an seinem Volk und das Heilshandeln für sein Volk sind durch die Weltmächte vermittelt, die – ob sie es wissen oder nicht – dem Plan des einzigen und wahren Gottes dienen. Widersetzen sie sich diesem Plan oder wähnen sie sich gottgleich, ist ihr Ende unweigerlich besiegelt.
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II. Auslegung von Jesaja
Mit dem Trostaufruf in 40,1 werden die Jahrzehnte des babylonischen Exils als vergangen betrachtet. Durch die Anbindung des im babylonischen Exil grundgelegten Oratoriums der Hoffnung an die alte Jerusalemer Jesaja-Tradition erhalten die Kap. 40–66 eine überaus starke prophetische Legitimation. Zugleich wird die bereits mehrfach erweiterte jesajanische Überlieferung bis weit in die nachexilische Zeit ausgezogen. Am Ende dieses Prozesses ist das Buch Jesaja zur Vision des Gotteshandelns an Israel und den Völkern geworden. Dabei wurde Jesaja ben Amoz, der Prophet im Buch (Jes 1–39), je länger desto stärker zum Prophet des Buches (Jes 40–66), dessen Stimme Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchhallt. Kap. 40 ist deutlich zweigeteilt, da es sich zuerst an Zion/Jerusalem (40,1–11), dann an den Knecht Jakob/Israel richtet (40,12–31; vgl. bes. 40,27). Die Zweiteilung der weiteren Kapitel in einen »Jakob-Israel«- (Jes 41–48) und einen »ZionJerusalem«-Teil (Jes 49–54) ist auf synchroner Ebene mit der doppelten Ouvertüre in 40 schon vorbereitet. Der programmatische Aufruf in 40,1 »Tröstet, tröstet mein Volk!« richtet sich, anders als vielfach angenommen, nicht an himmlische Wesen und stellt auch keine Berufung eines exilischen Propheten (»Deutero-Jesaja«) dar. Ein solcher tritt in 40ff. überhaupt nicht auf und auch die Gottesknechtslieder können nicht als biographische Mosaiksteine für das Bild eines vermeintlichen Exilspropheten dienen, denn sie bestehen aus geprägten Redeweisen über das Schicksal verfolgter Gottesmänner (vgl. die Konfessionen Jeremias). Kein Engel oder anonymer Prophet erhebt in Jes 40 seine Stimme, sondern Jesaja als Prophet des Buches, der sich an die Verfasser und Erstleser wendet, d.h. an die schriftprophetischen Kreise in exilisch-nachexilischer Zeit. Sie sollten Zion/Jerusalem das Ende ihrer Schuldableistung und die nahende Ankunft Jhwhs ankündigen. Die sich abwechselnden Stimmen (V. 3.6) geben ein lebhaftes Gespräch innerhalb der Angesprochenen wieder. Sie diskutieren darüber, ob es sich überhaupt lohne, dem durch die Deportationen und die harte Nachkriegszeit gebeutelten Volk eine solche Trostbotschaft zu verkünden! Gegen diese Skepsis wird das Vertrauen auf das Wort »unseres Gottes« in Stellung gebracht, das auf ewig besteht (V. 8). Nur wenn die Tröster zur Verkündigung der Hoffnung bereit sind und zum »Herzen Jerusalems« sprechen (V. 2), kann die Stadt selbst zur »Freudenbotin« (trcbm) für die weiteren Städte Judas werden (V. 9), um ihnen die siegreiche Heimkehr Jhwhs als sorgsamer Hirt anzusagen (V. 10–11). Damit ist zugleich eine Brücke zu 52,7–10 geschlagen, zu den Füßen derer, die Zion die Freudenbotschaft von der Königsherrschaft Jhwhs verkünden. Auf diachroner Ebene ist diese literarische Verklammerung von Bedeutung, denn die Inszenierung Jhwhs als der königliche Hirt, der die Seinen siegreich nach Jerusalem/Zion zurückführt, entwickelt seine eigentliche poetische Kraft erst vor dem Hintergrund der ersten größeren Heimkehrbewegungen, die um das Jahr 520 anzusetzen sind – nach der Niederschlagung der Gaumata-Aufstände durch Darius I. Wenn man mit der weithin akzeptierten Forschungsmeinung
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davon ausgehen darf, dass die ältesten Texte in Jes 40ff. vom überraschenden Sieg des Kyrus gegen Krösus im Jahre 546 bis zur Einnahme Babels im Jahre 539 geprägt sind, kommen 40,1–11 für diese erste Entstehungsphase nicht in Frage. Von Jakob/Israel ist überhaupt keine Rede, auch nicht von den sich abzeichnenden Umwälzungen durch den Siegeszug des Kyrus (anders als in 41,1ff.). Im zweiten Teil (40,12–31) sind nicht wie zuvor Imperative, sondern rhetorische Fragen leitend (V. 12.13.14.18.21.25), die in die wirkliche Frage münden, warum Jakob/Israel denn sage, sein Recht gehe an Jhwh vorbei (V. 27). Setzten sich V. 1–11 mit der Frage auseinander, ob sich eine Trostverkündigung überhaupt lohne, fragen V. 12ff. nach dem Wesen dessen, der die Quelle dieses Trostes ist. Wer ist dieser Gott, der ankündigt, gegen die Übermacht Babels und ihrer Götter eine neue Zukunft für sein Volk in Gang zu setzen? Jhwhs Unvergleichlichkeit, auf die diese Überzeugungsarbeit am Gottesvolk abzielt (V. 12–14), wird angesichts der Völker (V. 15–17), der Kultbilder (V. 18–20), der weltlichen Machthaber (V. 21–24) und der Gestirnskulte (V. 25–26) in dichter Abfolge proklamiert. Dass die Anrede vom »Ihr« (V. 18.21.25) zum »Du« (V. 27) übergeht, zeigt an, dass das nachexilische Gottesvolk aus denen besteht, die sich ansprechen und überzeugen lassen. Ähnlich wie die etwa zeitgleiche Priesterschrift leiten auch diese schriftprophetischen Verfasser die Geschichtsmächtigkeit Jhwhs aus seiner einzigartigen Schöpfungsautorität ab. Weil allein Jhwh die Schöpfung ermessen kann, weil nur er sie erschaffen hat (arb: V. 26.28; vgl. Gen 1,1), hält auch nur er die Geschichte in seinen Händen: »Ein Gott der Ewigkeit ist Jhwh, Schöpfer der Enden der Erde« (V. 28). Ebenso wie niemand Jhwhs schöpferisches Tun ermessen kann, so bleibt auch sein Geschichtshandeln für Israel und die Völker unergründlich (V. 14). Diese Aussage gewinnt vor dem Hintergrund der Marduk-Verehrung weiter an Kontur, denn anders als der Hauptgott Babels, den Kyrus im Gegensatz zu Nabonid und dessen Befürwortung des Mondgottes Sin aus Haran ab dem Jahr 539 wieder ins kultische Zentrum Babyloniens stellte, hat sich Jhwh mit niemandem aus der Götterwelt beraten. Schöpfung und Geschichte sind gleichermaßen Domänen des Gottes Israels – vor ihm sind alle anderen Mächte und Gewalten Nichts und Nichtigkeit (V. 17.23). Diese Unvergleichlichkeit ist ein zentrales Element seiner Heiligkeit und so wird im gesamten Jesajabuch nur in 40,25 Jhwh als »der Heilige« (vdq) im absoluten Sinne proklamiert. Wegen der unvergleichlichen Größe Jhwhs, die sich in Schöpfung und Geschichte niederschlägt, ist auch die Klage Jakobs/Israels entkräftet, sein Recht gehe an Gott vorüber. Im Gegenteil, es ist Jhwh als der nicht ermüdende Gott, der den Kraftlosen neue Stärke verleiht, wenn und insofern sie auf ihn hoffen (V. 29–31). In diachroner Hinsicht ist auch für 40,12–31 nicht anzunehmen, dass sie zur ersten Sammlung der Kap. 40–52 gehörten. Zwar werden in diesen Versen wichtige Themen der nachfolgenden Kapitel angeschnitten – so Jhwhs Unvergleichlichkeit (vgl. 44,7f.; 46,5), seine Schöpfungs- und Geschichtsmächtigkeit (42,5f.; 45,12f.), die Überlegenheit über andere Götter (41,21–24; 43,10–13) und die Ermutigung des enttäuschten Volkes (41,8–16; 43,1–7; 44,1–5) –, aber die Nicht-
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II. Auslegung von Jesaja
Erwähnung von Jakob/Israel als Knecht (41,8ff.) und das Fehlen des Wahrsagebeweises (41,22f.26f.) lassen doch Zweifel aufkommen, ob hier wirklich der älteste Kern der exilisch-nachexilischen Überlieferung vorliegt. Eine Beauftragung des Knechts für die Völkerwelt kommt ebenso wenig in den Blick, da die Völker und ihre Führer als Nichts und Nichtiges vor Jhwh gelten (40,15–17.22–24). Es geht hier nicht um das Festhalten an einem Sendungsauftrag, sondern um die Ermutigung, im Harren auf Jhwh neue Kräfte zu finden (40,29–31). Die pessimistische Stimmung passt gut in die Zeit nach 539, als sich die hochfliegenden Erwartungen, die Kyrus bei den Exilierten ausgelöst hatte, zusehends nicht erfüllten. Der neue persische Weltherrscher setzte sich keineswegs für Jhwh ein, sondern favorisierte die Restauration des Marduk-Kultes, zur großen Freude der Priesterschaft in Babel. Das Neujahrsfest zu Ehren Marduks, das unter Nabonid lange Jahre nicht gefeiert werden konnte, wurde jetzt wieder feierlich begangen. Vom Sturz der babylonischen Götter (vgl. Jes 46–47) konnte keine Rede sein. Im Gegenteil, die babylonischen Götter schienen durch Kyrus mehr denn je gefördert zu werden! War das die große Wende zugunsten des exilierten Volkes? Mit der Einnahme Babels durch Kyrus, bei der kein einziger Bogenschuss gefallen war, hatte sich weltpolitisch zwar eine riesige Umwälzung ergeben, für das Gottesvolk hatte sich aber kaum etwas geändert. Kam Jakob/Israel im Weltplan Jhwhs überhaupt noch vor? Liegt der Terminus a quo für 40,12–31 somit wohl nach 539, so hängt der Terminus ad quem davon ab, ob für diese Verse schon eine Rückkehrhoffnung oder gar eine Heimkehrsicherheit zu veranschlagen ist. Das ist nicht der Fall, so dass 40,12–31 nach 539, aber vor dem Amtsantritt von Darius I. im Jahre 522 anzusetzen sind. Da die Sehnsucht nach der Heimkehr im Zuge der Niederschlagung der babylonischen Aufstände durch den neuen persischen Herrscher immer stärker geworden sein dürfte, ist es verständlich, dass V. 1–11 vor V. 12–31 gesetzt worden sind und beide Teile in der Endgestalt die gemeinsame Ouvertüre zu den nachfolgenden Kapiteln bilden. Kurzum: synchron stehen 40,1–11 vor V. 12–31, diachron sind sie ihnen nachzuordnen! Theologischer Ertrag zum I. Akt (Jes 40) Wie schon zu Beginn des Jesajabuches insgesamt liegt auch mit Jes 40 ein zweigliedriges Proömium vor. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die Hauptaktanten für die Kap. 40–54 eingeführt werden: Zion/Jerusalem und Jakob/Israel. Spiegelbildlich werden diese beiden die nächsten Teile bestimmen. Zuerst die Exilsgemeinde unter dem Namen des Vaters des Zwölfstämme-Volkes (Kap. 41–48) und danach Zion/Jerusalem als das Ziel der erwarteten und danach tatsächlich vollzogenen Heimkehr. Ohne »Tröster« (40,1), die den göttlichen Trost an Volk und Stadt weitergeben (vgl. 49,13; 51,3.12.18; 52,9; 54,11; 61,2; 66,13), kann keine Restauration gelingen. Es wird sich im weiteren Verlauf zeigen, dass die persische Weltmacht mit ihrer Galionsfigur »Kyrus« zwar die politische Basis für die Zukunft nach der Katastrophe legen, nicht aber die versöhnende Kraft des Trostes
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vermitteln kann. Wer im exilierten Gottesvolk vor dieser Aufgabe resigniert, kann nicht zum Knecht Gottes gehören, der sich in den nächsten Kapiteln als literarische Gestalt aus den Angesprochenen entwickelt. Die Kraft für diese Mission kommt nicht aus der Geschichtsbetrachtung, die ja für das exilierte Gottesvolk alles andere als günstig ausfiel, sondern aus dem Wissen um die unbegrenzte Schöpferkraft Jhwhs. II. Akt Jesaja 41,1–42,12 Ohnmacht der Götter und Jhwhs Zusage für Jakob/ Israel I. Szene Jesaja 41,1–20 Rechtsstreit um die Geschichtsmächtigkeit II. Szene Jesaja 41,21–42,12 Gerichtsrede und Präsentation des Knechts Der zweite Akt dieses fünften Teils umfasst 41,1–42,12 und gliedert sich erneut in zwei Szenen mit jeweils eigener Pragmatik. Auf der einen Seite wird die Ohnmacht der Völker und ihrer Götter in Form eines Rechtsstreits herausgearbeitet (41,1–20), auf der anderen die Heilszusage für Jakob/Israel bekräftigt (41,21– 42,12). Anders als im zweiten Teil der Ouvertüre (40,12–31) sind die Fremdgötter jetzt nicht von vornherein für nichtig erklärt, sondern werden zum Rechtsstreit aufgefordert. Die Auseinandersetzung um die Einzigkeit Gottes wird nicht etwa mit Gewalt, sondern mit Worten, d.h. in einem theologischen Diskurs geführt. In einem fiktiven Rechtsstreit, dessen Verhandlungsgegenstand das wahre Gottsein ist, fordert Jhwh die Völkerwelt auf, ihre Götter auftreten zu lassen, damit diese ihre Geschichtsmächtigkeit bewiesen. Der wahre Gott kann nur derjenige sein, der den Lauf der Geschichte kennt und ihn bestimmt! Am Aufkommen des Kyrus, den nicht Marduk, sondern Jhwh gerufen habe, lasse sich zweifelsfrei erkennen, dass er allein der wahre Gott sei (V. 1–4). Der sogenannte Ankündigungsbeweis durchzieht die weiteren Kapitel wie ein roter Faden (vgl. 41,22.27; 42,8–9; 43,18– 19; 48,3.6), findet sich aber nicht in Kap. 40. Während die Völker als Zeugen für ihre Götter auftreten sollen, ist der Knecht Israel, der Erwählte Jakob aufgerufen, für Jhwh Zeugnis abzulegen (41,8.9). Die beiden Gerichtsreden in 41,1–4.5–7 und 41,21–24.25–28 enden mit dem Verstummen der gegnerischen Partei. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Götter der Völker sind nichts als »Wind und Leere« (41,29). Wer nichts bewirkt, kann nicht Gott sein. Der reflektierte Monotheismus, den diese Zeilen bezeugen, hat weniger mit der Frage nach dem Einen oder den Vielen zu tun, als vielmehr mit der nach der Wirksamkeit. Effizienz bedeutet Existenz, Wirkungslosigkeit dagegen lässt auf Nicht-Existenz schließen. Da Jhwh seinen Knecht, der den Völkern das Recht (fpvm) herausbringen soll, im direkten Anschluss an den Rechtsstreit präsentiert (42,1ff.), hat diese Beauftragung wesentlich mit der vorangegangenen Gerichtsszene zu tun. Die Erkenntnis des einzig wahren Gottes gehört mit zu dem Recht, das der Knecht den Völkern herausbringen soll. Diesen Zusammenhang kann man aber nur dann erkennen, wenn man sich von der Duhmschen Trennung der Gottesknechtslieder von ihrer
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II. Auslegung von Jesaja
literarischen Umgebung verabschiedet. Die Isolierung der Gottesknechtslieder als versprengte Texte, die überhaupt keine Verbindung mit dem Kontext aufwiesen, muss im Rückblick als ein Irrweg der Forschung bezeichnet werden. Es kann ja kein Zufall sein, dass der Knecht innerhalb und außerhalb der Gottesknechtslieder so viele Gemeinsamkeit aufweist: Beide werden als »Knecht« angesprochen (41,8f. u.ö./42,1 u.ö.), beide sind von Jhwh »erwählt« (41,8f. u.ö./42,1 u.ö.), »berufen« (41,9; 48,12/49,1), »gebildet von Mutterleib an« (44,2.24/49,5), »geistbegabt« (42,1/44,3), von Gott »gehalten« (41,10/42,1), bei ihm »geehrt« (43,4/49,5), »verherrlicht« (44,23/49,3), beide stehen im Dienst des »Rechts« (40,27/42,4; 49,4).33 Für die Kontexteinbindung des ersten Gottesknechtsliedes (GKL) gilt: Das »Recht«, welches der Knecht zu den Völkern herausbringen soll, ist aufs Engste mit dem Rechtsentscheid zugunsten Jhwhs als dem einzigen, wahren, rettenden Gott verknüpft. Die Nichtigkeitserklärung gegenüber den Göttern der Völker und die Einsetzung des Knechts sind zwei Seiten ein und derselben Medaille! Die gegenüber den Gottesknechtsliedern in Jes 49; 50 und 53 vorgezogene Position des ersten Liedes in 42 ergibt sich aus der Notwendigkeit, die Figur des Knechts schon frühzeitig in die Textwelt einzuführen, damit sie anschließend durch Zuspruch (Heilsorakel/Heilsankündigung) und Kritik (Gerichts- und Disputationsworte) im Laufe der Kapitel Gestalt gewinnt. Dieser namenlose Knecht ist eine literarische Figur, eine theologische Gestalt, die sich geschichtlich in denjenigen konkretisiert, die sich innerhalb des blinden und tauben »Knechts Jakob/ Israel« für Jhwh allein entscheiden, auf ihn harren und zu seinen Zeugen für Gesamtisrael und die Völker werden. Textweltlich werden aus dem Knecht ab 54,17 die »Knechte«, denen die Davidsverheißung gilt (55,3). Sie setzen sich für die Öffnung der Jhwh-Religion für Menschen aus den Völkern ein (56,1ff.), stellen das ethische Handeln über die ethnische Abstammung und werden je länger desto stärker aus der Jerusalemer Tempelgemeinde gedrängt (65f.). Dieser Knecht vergegenwärtigt das durch Gott veränderte Israel und ist zugleich der Prototyp derer, die ab 54,17 »Knechte« Jhwhs genannt werden. All dies ergibt nur Sinn, wenn Jhwh seine Geschichtsmächtigkeit vor den Augen Israels und der Völker beweist. Den schlagenden Beweis liefert in Jes 41 die Tatsache, dass Jhwh Kyrus, den siegreichen Helden aus dem Osten, rief (V. 2.25). Dies war kein isoliertes Ereignis, sondern lag auf der Linie des Gotteshandelns vom Beginn der Volkswerdung Israels an. Wie den Perser aus dem Osten, so hatte Jhwh schon lange zuvor Abraham vom Aufgang der Sonne gerufen (vgl. Ur in Chaldäa: Gen 11,31; 15,7). Wie jener Könige siegreich verfolgte (Gen 14,15), so tut dies jetzt auch der Perser (Jes 41,2–3). Mit der Erweckung des Persers und der Ablösung Babels vollziehen sich nicht etwa die »neuen Dinge«, sondern kommen die »früheren Dinge« zum vorläufigen Abschluss. In diesen politischen Entwicklungen bleibt sich Jhwh als »Go’el« treu, als Löser und Erlöser seines Knechts Jakob/Israel, des Nachkommens seines Freundes Abraham (41,8). Die Nennung Abrahams 33 Werlitz 1999, S. 31, Anm. 81.
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ist außergewöhnlich, denn er kommt in der Prophetie nur selten vor (51,2; 63,16; Jer 33,26; Ez 33,24; Mi 7,20). An Abraham und Kyrus lässt sich ablesen, dass Jhwh alle Zeiten gleichermaßen in den Händen hält. So kann nur er von sich behaupten: »Ich, Jhwh, bin der Erste, und bei den Letzten bin ich es!«. Die Selbstvorstellung »ich bin es« (awhAyna) durchzieht diese Kapitel (Jes 41,4; 43,10.13; 46,4; 48,12; 52,6; sonst nur noch in Dtn 32,39!). Sie ruft die Vorstellung Gottes an Mose wach, dass er der sei, der er sein werde (Ex 3,14), an die sich in der neutestamentlichen Rezeption das jesuanische ἐγώ εἰμι anschließt (u.a. Mk 14,62; Lk 24,39; Joh 4,26; 6,20). Das »Ich« Jhwhs findet sein Gegenüber im »Du« des Knechts Israel/Jakob (41,8). Der Ehrentitel »Knecht« (db[) kommt u.a. Abraham, Isaak, Jakob, Mose, David, Jesaja, den Propheten nach dem Vorbild des Mose, aber auch Serubbabel, ja selbst Nebukadnezzar (Jer 25,9; 27,6; 43,10) zu und bezeichnet die Dienstbarkeit dem göttlichen Herrn gegenüber. Interessanterweise wird der Ehrentitel »Knecht« nie priesterlichen Amtsträgern zugesprochen. Sowohl strukturell als auch inhaltlich fällt V. 27 besonders auf, denn von »Zion/ Jerusalem« ist ansonsten bis Jes 49 keine Rede mehr. Durch ihn wird die Identität des nachfolgenden Knechts vereindeutigt: Er ist der Freudenbote (rcbm) für Zion/ Jerusalem! Der von Gott präsentierte Knecht ist die Gruppe von Tröstern, die als Vorhut der Rückwanderer Jerusalem/Zion die Frohbotschaft der siegreichen Ankunft Jhwhs verkündigt (vgl. 52,7; siehe auch den Vorverweis von 48,16b auf das zweite GKL in 49,1ff.). Beide, sowohl Kyrus als auch der Knecht sind von Jhwh bestellt und verfolgen komplementäre Aufgaben: Der Perser sorgt für den Fall Babels und die Möglichkeit für die Befreiung des Gottesvolkes, der Knecht sorgt mit seiner Verkündigung für die richtige Deutung dieser Entwicklung. Kyrus agiert, ohne Jhwh zu kennen, der Knecht aber ist von Gott mit seinem Geist begabt, um das Recht, d.h. seine Geschichtsmächtigkeit vor Israel und der Welt zu bezeugen. Dafür steht der Knecht, die heimkehrwillige und heimkehrende Gemeinde ein, aber nicht mit vielen Worten, sondern mit dem eigenen Schicksal. An der Errettung Jakobs/Israels können die Völker ablesen, dass der Geschichtsplan Jhwhs nicht auf Herrschaft, sondern auf Befreiung angelegt ist. Während die Inseln und Enden der Erde vor den Persern erzittern (41,5), brauchen sie sich vor dem königlichen Knecht Jhwhs nicht zu fürchten, denn weder zerbricht dieser das geknickte Rohr, noch löscht er den glühenden Docht aus (42,3). Das Bekenntnis zum einzig wahren Gott geht nicht mit Gewalt, sondern mit Gewaltlosigkeit einher. Diese Botschaft wird nicht gefürchtet, sondern von den Inseln vielmehr erwartet (42,4). So wird dieser namenlose Knecht, der sich aus dem Knecht Jakob/Israel konstituiert und im Laufe des literarischen Dramas weiter Gestalt annimmt, zum »Mose der Völker«. In ihm unterstreicht Jhwh seine unwiderrufliche Bundeszusage und macht diesen Knecht so zum »Bund mit dem Volk« und zum »Licht der Nationen« (42,6). Mussten die Inseln zu Beginn dieses Aktes verstummen (41,1), sind sie am Ende zum Singen des neuen Liedes aufgefordert (42,10–12; vgl. Ps 33,3; 40,4; 96,1; 98,1;
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144,9; 149,1). Wer Jhwh als rettenden Gott erfährt, stimmt in dessen Lobpreis ein. Wo die Befreiung grenzenlos ist, kennt auch das Gotteslob keine Grenzen. Zur diachronen Einordnung von 41,1–42,10 ist eine Erkenntnis prägend, die sich in der Forschung langsam durchzusetzen beginnt: Bereits der älteste Grundbestand von Jes 40ff., der in die Zeit der siegreichen Erhebung des Kyrus (ab ca. 546) und seiner Einnahme Babels im Jahre 539 anzusetzen ist, war ein mixtum compositum, in dem verschiedene Redeformen zu einer gemeinsamen Komposition verbunden wurden. Dass die Themen »Weissagungsbeweis«, »Fremdgötter/ Kultbilder«, »Kyrus« und »Babel« nur in Kap. 40–48 vorkommen und danach überhaupt nicht mehr erwähnt werden, spricht dafür, dass diese Texte zur ältesten Phase der Textentstehung gehören. Hat man sich einmal von der Vorstellung eines anonymen Verfasserpropheten »Deuterojesaja« gelöst, wird der Blick frei für eine integrale Betrachtungsweise: »Nimmt man aber die These, nach der es sich bei Jes 40–55 um ein ›mixtum compositum‹ handelt, ernst und hinzu, daß ein einzelner Verfasser des Grundbestandes nicht sicher auszumachen ist, zudem die Anonymität der Überlieferung auch nicht für die Individualität des Verfassers spricht, dann ist auch eine andere Deutung des Befundes möglich, nämlich die, daß Jes 40–55 nicht ein Prophetenbuch im eigentlichen Sinne mit einem aufweisbaren Grundbestand eines Propheten ist, sondern eine Anthologie von Texten verschiedener Verfasser darstellt«.34 Weder die Gottesknechtslieder, noch die Götzenpolemiken in Jes 40–55 sind demnach als Meteoriten anzusehen, die wie literarische Fremdkörper in den ursprünglichen Kernbestand eingedrungen sind. Doch ist damit keineswegs behauptet, diese unterschiedlichen Texte seien eigens für ihre jetzige Stellung in den Kapiteln 40ff. verfasst worden! Für einen kompositorischen Willen, der nicht erst nachträglich dem Textbestand auferlegt wurde, sprechen die hymnischen Passagen in 42,10–12; 44,23; 49,13 und 52,9. Diese besitzen eine strukturierende Funktion und weisen durch ihre Nähe zu den Hymnen im Psalter (vgl. bes. Ps 96; 98) auf schriftgelehrte Kreise hin, die nicht allzu weit von levitischen Tempelsängern entfernt gewesen sein dürften. Die Adressaten des im Grundbestand exilischen Oratoriums der Hoffnung werden mit diesen hymnischen Passagen aufgefordert, durch die ihnen aus der kultischen Tradition bekannten Loblieder die Größe und Souveränität Jhwhs aufs Neue zu preisen. Wie schon in synchroner (erst- und einmalige Nennung von »Zion/Jerusalem« in Kap. 40–48), so ist 41,27 auch in diachroner Hinsicht eigens hervorzuheben. Die Ankunftsperspektive kommt zu früh, denn Kyrus muss ja erst noch als »Hirt« und »Gesalbter« Jhwhs (44,28; 45,1) proklamiert und anerkannt werden. Auch ist vom Untergang Babels (Kap. 46–47) und dem Auszug aus Chaldäa (48,20f.) noch keine Rede. So ist 41,27 wohl als Weiterentwicklung des bereits Wirklichkeit gewordenen Kyrus-Ereignisses zu verstehen, die auf eine Vorhut der zukünftigen Rückwanderer abzielt (vgl. 49,14ff.; 52,7ff.). Der Knecht aus 42,1ff. bringt nicht nur den Völkern das »Gottesrecht« hinaus, sondern macht sich auch selbst auf den 34 Werlitz 1999, S. 232f.
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Weg in die Heimat! Da eine nennenswerte Rückwanderung erst unter Darius I. (ab 522/521) eingesetzt haben dürfte, geht 41,27 mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Konto einer späteren Hand, die die früheren Kyrus-Worte aktualisieren wollte (vgl. 44,28b; 45,13; 46,13): »Die Tatsache, dass JHWH seiner Stadt als erster einen Freudenboten (rçbm) geschenkt, bzw. die Prophetengruppe so schnell nach Jerusalem in Bewegung gesetzt hatte, um hier die brandaktuelle Heilsbotschaft auszurichten […] war ein weiterer Beweis für seine alleinige Geschichtsmächtigkeit.«35 Theologischer Ertrag zum II. Akt (Jes 41,1–42,12) Der Erweis der Nichtigkeit der Fremdgötter und die Berufung des Knechts sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Gerade in der Situation der babylonischen Gefangenschaft mit ihren überbordenden Kultbildprozessionen musste zuerst an dieser theologischen Front gekämpft werden, bevor man der Exilsgemeinde Jhwh wieder näherbringen konnte. Das wiederholte »Fürchte dich nicht!« an die Adresse Jakobs/Israels zeigt zum einen die königliche Würde, zum anderen die Trostbereitschaft Gottes. Nur wer so getröstet worden ist, kann diesen Trost auch weitertragen (vgl. 2 Kor 1,3ff.). Eines steht fest: Jhwh ist unter keinen Umständen bereit, seine Ehre mit den Fremdgöttern zu teilen (Jes 42,8). Der Wahrsagungsbeweis richtet sich aber nicht nur gegen die Fremdgötter und deren Anhänger, sondern auch an Jakob/Israel selbst. Ist das Frühere eingetroffen, so dürfen die Adressaten getrost hoffen, dass Jhwh auch das Neue Wirklichkeit werden lässt, das er ankündigt. Wer nichts mehr von Gott erwartet, wer ungetröstet lebt, kann auch das Neue nicht erkennen, das »jetzt« sprießt (42,9). Wer es aber erkennt, dem fließt der Mund lobend über und stimmt in das »neue Lied« ein (42,10). Das »Neue« ist nicht der Auszug aus Babel, denn eine solche Befreiung hat es auch schon aus Ägypten gegeben. Das »Neue« ist ein Gottesvolk, das sich ganz von Jhwh getröstet, bei ihm geborgen weiß und dies weltweit singend verkündet. Dieses »neue Lied« erfasst die Grenzen der bewohnten Welt. Das »Neue« Jhwhs als des einzig wahren Gottes besteht nicht etwa in seiner Macht zur Knechtung und Versklavung, sondern zur Rettung und Befreiung (42,10–12). III. Akt Jesaja 42,13–44,23 Jhwh und sein blinder und tauber Knecht I. Szene Jesaja 42,13–43,13 Jhwhs Überzeugungsarbeit am Knecht II. Szene Jesaja 43,14–44,8 Tilgung von Schuld und Verheißung von Segen III. Szene Jesaja 44,9–20 Kultbildpolemik + Hymnus (V. 23) Der dritte Akt des fünften Teils (Kap. 40–48) lässt sich in drei Szenen einteilen, wobei die ersten beiden parallel zueinander aufgebaut sind (42,13–43,13//43,14– 44,8). Daran schließt sich eine sehr ausführliche Kultbildpolemik an (44,9–20). 35 Albertz 2001, S. 229f.
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Den Schluss bildet erneut ein Aufruf zum allumfassenden Gotteslob (44,23). Stand im zweiten Akt der Rechtsstreit mit den Göttern der Völker sowie die Bestellung des Knechts als verkündigendes Werkzeug im Plan Jhwhs im Vordergrund, so hier dessen Auseinandersetzung mit dem blinden und tauben Knecht Jakob/Israel. An dieser Stelle wird das dramatische Geschehen augenscheinlich: Gelingt es Jhwh, die tiefsitzende Skepsis seines Knechts, des exilierten Jakob/Israel, zu durchbrechen, so dass dieser sich zum Zeugen der Geschichtsmächtigkeit seines Gottes in Dienst nehmen lässt? Gelänge es ihm nicht, stünde Jhwh im Rechtsstreit mit den Fremdgöttern ohne Zeugen dar! Jhwh macht somit den Erfolg seines Geschichtsplans von der Bezeugung durch seinen Knecht abhängig! Gegen die Niedergeschlagenheit seines Volkes bedarf es zunächst eines Heilswortes, das Vertrauen in die neuerliche Geschichtsinitiative Gottes wecken will. Hatte Jhwh lange geschwiegen, so nimmt er jetzt das Heft der Geschichte wieder in die Hand. Diejenigen aber, die auf ihre selbstgemachten Götter vertrauen, werden beschämt (42,13–17). Doch gibt es keinen Zuspruch ohne Anspruch – und so folgt auf das Heilswort eine Disputation mit dem Ziel, die Angeredeten dazu zu bewegen, ihre Blindheit und Taubheit abzulegen. Nur wenn sie dazu bereit sind, können sie die erfahrene Not und das erlittene Elend als gerechte Strafe Gottes anerkennen (42,18–25). Nur wer sich zur Schuldgeschichte des eigenen Volkes bekennt, kann Vergebung erfahren und darf sich zu »Meschullam« zählen, zu demjenigen, »dem vergolten worden ist« (42,19). Das anschließende Heilsorakel (43,1–7) baut darauf auf: Jakob/Israel braucht sich nicht mehr zu fürchten (43,1.5). Die Ermutigungsformel »Fürchte dich nicht!«, die im altorientalischen Kontext besonders Königen gilt, wird hier auf das ganze Volk übertragen. Jhwh wird die Geschichte zum Guten wenden und die Sammlung aus der Zerstreuung einleiten, und zwar nicht aus politischem Kalkül, sondern weil Jakob/Israel ihm unendlich kostbar ist und er ihn liebt (43,4). In der nachfolgenden Gerichtsszene (43,8–13) wird das Gottesvolk aufgefordert, für Jhwh und seine alleinige Geschichtsmächtigkeit einzutreten: Es ist blind, hat aber Augen, es ist taub, hat aber Ohren (43,8). So soll es Augen und Ohren für die neue Heilssetzung öffnen und das Amt des Zeugen übernehmen: »Ihr seid meine Zeugen […] und mein Knecht, den ich erwählt habe« (43,10; vgl. 43,12). Mit »mein Knecht« ist hier kein zweites Subjekt neben »meine Zeugen« eingeführt, sondern eine weitere Funktionsbezeichnung, was folgende Aussage ergibt: »Ihr seid meine Zeugen und [zugleich] mein Knecht!« Der Wechsel vom Plural zum Singular ist mit dem massoretischen Text beizubehalten, findet sich dieser doch häufiger in diesen Kapiteln (vgl. 44,8.26; 48,6). Während »Zeugen« und »Boten« pluralisch gebraucht sind, bleibt es bei der Bezeichnung »Knecht« in Kap. 40–53 konsequent beim Singular (41,8.9; 42,1.19; 44,1.2.21.26; 45,4; 48,20; 49,3.6.7; 50,10; 52,13; 53,11; danach »Knechte«: 54,17; 56,6; 63,17; 65,8.9.13.14.15; 66,14). Nur wer aus Jakob/Israel seine Blindheit und Taubheit ablegt und sich zur Rückkehr nach Zion/Jerusalem entschließt, kann »Knecht« Gottes sein und wird darin den Erzvätern gleichen (Ex 32,13; Dtn 9,27; bes. Abraham: Jes 41,8; Ps 105,6.42).
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Die zweite Szene dieses Aktes (43,14–44,8) ist der ersten strukturell und inhaltlich gleich gestaltet. Wiederum eröffnet sie ein Heilswort, wobei nun die Befreiungen aus Babel und aus Ägypten parallel gesehen werden. Wie die Chaldäer in ihren herrlich geschmückten Booten untergehen – eine Anspielung auf die Festboote beim Neujahrsfest zur Ehren Marduks in Babel –, so hatte Jhwh lange zuvor die Streitwagen, Pferde und Kämpfer (Ägyptens) niedergeworfen. Doch die Adressaten sollen bei diesem Geschichtsvergleich nicht stehen bleiben, denn das würde sie zu sehr an die Vergangenheit binden. So kommt es zu einem im AT völlig singulären Erinnerungsverbot: »Nicht gedenkt der früheren Dinge, die vergangenen bedenkt sie nicht!« (43,18). Nur so kann das Neue erkannt werden, das Jhwh zu schaffen beginnt: »Siehe, ich mache Neues, jetzt sprießt es. Erkennt ihr es nicht?« (43,19). Das Neue ist nicht die Befreiung durch Kyrus, denn Rettungen hat Jhwh im Laufe der Geschichte immer wieder bewirkt. Das Neue besteht in dem Volk, das Gott inmitten der sich wandelnden Wüste lobt. Der Aufstieg des Kyrus und der Untergang Babels bereiten diesem Neuen die Bahn, sind aber nicht selbst das Neue. Nicht von ungefähr war in 42,9 von den »neuen Dingen« die Rede, die Jhwh ankündigt, bevor sie sprießen, wobei im Anschluss daran das neue Lied erklingt (42,10–12). Die den ausgetrockneten Boden des Exils durchstoßenden Sprösslinge sind diejenigen aus Jakob/Israel, die ihre Blindheit und Taubheit ablegen und so zum Zeugen für Jhwhs Geschichtsmächtigkeit werden (43,10.12; 44,8). Auf sie gießt er seinen Geist und Segen, »auf dass sie sprießen zwischen Gras wie Pappeln an Wasserläufen« (44,4). Sie bekennen sich zu Jakob/Israel und zu Jhwh (44,5) – und zwar inmitten eines Volkes, dessen Treue so hinfällig ist wie Gras, das heute grünt und morgen verdorrt (40,6f.). Dieses in der Not des Exils erwählte Volk hat sich Jhwh dazu gebildet, sein Gotteslob zu verkünden (43,21). Anders als im Lobgelübde als Teil des Dankliedes (vgl. Ps 9,15; 78,4; 79,13; 102,22) handelt es sich hier nicht um das Versprechen eines zukünftigen Lobes, sondern um dessen aktuellen Vollzug. Nicht erst nach der Wüste, sondern bereits im sich wandelnden Trockenland lässt der bezeugende Knecht Jakob/Israel das Gotteslob erklingen. Zuvor muss er aber anerkennen, dass er sich zu Recht in der Wüste des Exils befindet, da er seinem Gott nicht mit Sündopfern, sondern mit Sünden diente (43,24f.). Dieser Verfehlungen will Jhwh nicht mehr gedenken, sondern sie wegwischen, auf dass sie nicht mehr zwischen ihm und seinem Volk stehen. Nicht Gottes Vergebung steht in Frage (vgl. Jer 31,34), sondern die Bereitschaft der Exilierten, diese zu akzeptieren (vgl. Jes 40,2). Die Schuldverstrickung begleitet das Gottesvolk von Anfang an, denn bereits »dein erster Vater hatte gesündigt« (43,27a). Die Aussage bezieht sich ohne Zweifel auf die Tradition Jakobs als »Betrüger« von Jugend an. Dieser Vorwurf wird in 48,8 wiederholt (vgl. Gen 25,24ff.; 27,18ff.36; Hos 12,4; Jer 9,3; Mal 3,6f.). Mit »erster« ist nicht nur ein zeitliches Voraus gemeint, sondern auch ein inneres Prinzip: Wie der Erzvater Jakob, so zeichnen sich alle, die zu ihm gehören und seinen Namen tragen, durch die Spannung von Sünde und Erwählung aus (vgl. Jes 41,8f.; 43,10; 44,1f.; 48,10; 49,7). Von daher
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ist es konsequent, dass im direkten Anschluss an das Thema der Schuld (43,22–28) die Erwählung zweifach betont wird (44,1f.). Der Anklage über Jakob als den sündigen Vater von Anbeginn (43,27) entspricht das Heilswort vom Knecht-Sein von Mutterschoß an (44,2; vgl. 44,24; 46,3; 49,5). Dabei ruft »Mutterschoß« in diesem Zusammenhang die Geburt Jakobs in Erinnerung (Gen 25,23f.; Hos 12,4). Ganz außergewöhnlich ist die Nennung von Jakob/Israel als Knecht Gottes zusammen mit »Jeschurun« (44,2), den Jhwh erwählt hat. Dieser Name findet sich nur noch im Lied und im Segen des Mose (Dtn 32,15; 33,5.26), wobei die Wurzel rvy »gerade/redlich« in Kontrast steht zu Jakob dem »Betrüger« (bq[). Vor dem Abschluss dieses Aktes mit Heilswort (44,21), Mahnwort (V. 22) und Hymnus (V. 23) ist eine lange Kultbildpolemik (44,9–20) eingeschaltet. Sie macht die Alternative, vor die Jakob/Israel gestellt ist, unmissverständlich deutlich: Entweder er versteht sich als von Jhwh »geformt« (rxy) (43,1.7.21; 44,2.21.24) oder er »formt« sich selbst Götter(-bilder) (44,9.10.12). Dabei soll er doch Zeugnis dafür ablegen, dass vor Jhwh kein Gott »gebildet« wurde und nach ihm keiner sein wird (43,10). Nicht diejenigen, die Bäume fällen und sich daraus Götterstatuen machen, kommen zur Erkenntnis des einzig wahren Gottes, sondern nur die Gebeugten und Armen, für die Jhwh Bäume in der Wüste pflanzt (41,20). Er sorgt für Bäume, Schutz und Leben im Trockenland, im Gegensatz zu den Kultbildherstellern, die Bäume fällen und deren Holz zur Asche wird (44,20). Während sich jene eine Götterstatue machen, die sie für sich in Dienst nehmen, hat sich Jhwh ein Volk gebildet, das ihm zur weltweiten Proklamation seiner Göttlichkeit zur Seite steht. Der Knecht Jakob/Israel soll das nicht vergessen (»Knecht«: 44,21; 44,1.2) und an der Sündenvergebung nicht zweifeln (44,22; vgl. 43,22–28). Jakob/ Israel soll sich zu Jhwh, dem Go’el, seinem Löser bekehren (bwv) (vgl. 55,7), was die Abkehr von jeglicher Kultbildverehrung voraussetzt. Erst wenn diese Hinwendung zu Jhwh vollzogen ist, kann das weltweite Lob erklingen. Erneut steht ein hymnisches Responsorium am Ende eines Aktes (vgl. zuvor 42,10–12). Es ist sehr gut möglich, dass diese hymnischen Einsätze dazu dienten, die Verlesung der anwachsenden Schrift singend zu begleiten, wobei die Tempelsänger auf die Tradition der Psalmen zurückgriffen. Vom Jubel der Berge und Bäume ist außerhalb der Responsorien von Jes 44,23; 49,13; 55,12 nur noch in Ps 98,8 (Berge) bzw. Ps 96,12; par. 1 Chr 16,33 (Bäume) die Rede. Dass beide Elemente in den hymnischen Einsätzen von Jes 40ff. zusammen genannt sind, während sie in Ps 96 und 98 getrennt stehen, deutet auf eine gezielte, schriftgelehrte Aufnahme hin. Die Verbindung von »Wald« und »Baum« findet sich auch in Jes 44,14, beim Fällen der Bäume des Waldes zur Herstellung hölzerner Kultbilder. Der Kontrast ist deutlich: Für das weltweite Gotteslob werden die Bäume nicht mehr gefällt und zu stummen Götterstatuen verarbeitet, sondern sind zum Jubel mit aufgerufen. Dass die »Bäume des Waldes« sich auch metaphorisch auf die Völker beziehen können, beweist 14,7f., wo die Bäume in Jubel ausbrechen, da sie sich nicht mehr fürchten müssen, vom Tyrannen gefällt zu werden, da dieser bereits selbst am
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Boden liegt. In 55,12f. klatschen die Bäume in die Hände, was ein Bild für diejenigen ist, die sich als Entronnene aus den Völkern von den Holzklötzen ihrer Götterstatuen (45,20) losgesagt haben. Weder der Fremde, noch der Verschnittene soll sagen, er sei ein dürrer Baum und werde vom Gottesvolk abgetrennt. Ihnen ist vielmehr die Teilhabe an seinem Bund zugesagt (56,3ff.). Wenn sich die jubelnden Bäume auch auf Menschen aus den Völkern beziehen, dann nur unter der Voraussetzung, dass sie sich von der Fremdgötterverehrung lossagen. Dass der überwiegende Teil der in zwei Szenen aufgeteilten Kompositionseinheit von 42,13–44,8 auf den exilischen Kernbestand zurückgeht, wird in der Forschung kaum bestritten. Die Überzeugungsarbeit am Knecht Jakob/Israel passt historisch bestens zum Aufkommen des Persers und der damit verbundenen Chance eines von Jhwh eröffneten Neuanfangs für das Gottesvolk. Als fraglich gilt vielen Auslegern36 43,28a, da der Ausdruck »Fürsten des Heiligtums« (yrc vdq) nur noch in 1 Chr 24,5 begegnet. Zwar meint das Lexem vdq in Jes 40ff. meist »Heiligkeit« bzw. »heilig« (u.a. 48,2; 52,1.10; 56,7; 57,13), es steht aber auch mit »Heiligtum« in Verbindung (62,9; 63,18; 64,10). Vielleicht ist der Ausdruck in 43,28a auch deshalb gewählt worden, weil es die »Fürsten des Heiligtums« waren, die sich der in V. 22–24 geäußerten Ansicht am stärksten widersetzten, der von ihren priesterlichen Familien vollzogene Opferkult in vorexilischer Zeit sei nicht gottgefällig gewesen! In diachroner Hinsicht viel problematischer aber ist die ausgedehnte Kultbildpolemik von 44,9–20. Dass sie nicht aus einem Guss entstanden ist, wird vielfach angenommen.37 Für ihre entstehungsgeschichtliche Uneinheitlichkeit sprechen zum einen die Übergänge von den pluralischen Aussagen in V. 9–11.18 zu den singularischen in V. 12–17.19–20. Dazu ist nur in V. 12–13 mit dem »Handwerker« (vrj) ein explizites Subjekt genannt. Gebotene Zweifel an der ursprünglichen Zugehörigkeit dieser Passage zum jetzigen Kontext weckt besonders ihre Ausführlichkeit, die qua Umfang die anderen Kultbildpolemiken weit übertrifft (vgl. 40,18–20; 41,5–7; 46,5f.). Die beißende Ironie, die Handwerker würden ein und dasselbe Holz sowohl zum Kochen als auch zur Götterbildherstellung verwenden, hat keine Parallele in den anderen kultpolemischen Versen dieser Kapitel. Die Kenntnisse der Kultbildherstellung und das Lokalkolorit lassen es aber durchaus möglich erscheinen, dass auch diese Passage schon im babylonischen Exil entstanden ist und durch den Bindevers 44,9 in seinen jetzigen Kontext eingefügt wurde (siehe »Zeugen« in V. 8 und 9). Theologischer Ertrag zum III. Akt (Jes 42,13–44,23) In diesem Akt vollzieht sich die Wandlung des blinden und tauben Knechts Jakob/ Israel in den die Geschichtsmächtigkeit Jhwhs bezeugenden Gottesdiener. Diese Umwandlung hat nichts Magisches an sich, sondern beruht darauf, dass sich die 36 So u.a. Elliger 1978, S. 386f.; Beuken 1986, S. 193f. 37 Siehe Werlitz 1999, S. 229f.
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Adressaten ihrer exilischen Taubheit und Blindheit entledigen. Nur wer den Dienst des Zeugnisses für Jhwh als den einzig wahren Gott zu übernehmen bereit ist, gehört zum Knecht, den Gott sich erwählt hat (43,10). Im babylonischen Exil wird somit nicht nur der exklusive Monotheismus geboren, sondern auch die Sendung Israels/Jakobs als Zeuge für die Einzigkeit Jhwhs – und zwar vor den Augen aller Welt! Sollte sich jedoch niemand aus dem Gottesvolk dazu bereit finden, würde Jhwhs Geschichtsmächtigkeit ohne Bezeugung bleiben. Den Gott Israels kann man nicht im Kultbild darstellen, sondern ihn nur mit Wort und Tat bezeugen. Damit steht die ausführliche Polemik gegen die Kultbildherstellung an genau der richtigen Stelle. Nicht Jakob/Israel erschafft sich seinen Gott, sondern dieser formt sich seinen Knecht. Wenn dieser Knecht zu dem umkehrt, der ihn erlöst hat (44,22), brechen Himmel und Erde in Jubel aus, denn nur so kommt das weltweite Zeugnis für Jhwh an sein Ziel (44,23). IV. Akt Jesaja 44,24–48,22 Jhwhs Sieg durch Kyrus und der Fall Babels und der Götter Nach der Zion-Jakob-Ouvertüre (40,1–31), dem Rechtsentscheid über die Ohnmacht der Fremdgötter (41,1–42,12) und der Überzeugungsarbeit am blinden und tauben Knecht (42,13–44,23) folgt nun im vierten und letzten Akt des fünften Buchteils der Sieg Jhwhs mit dem Fall Babels und ihrer Götter durch Kyrus (44,24–48,22). Dieser Akt spielt in der Textwelt des Buches letztmalig auf babylonischem Boden und gliedert sich in vier Szenen, die von der Bestellung des Persers (44,24–45,25) über die Niederlage der babylonischen Götter (Kap. 46), dem Ende der imperialen Stadt und ihrer Beschwörungskünste (Kap. 47) bis hin zum Rückblick auf das Exil und zur eindringlichen Aufforderung reichen, aus Babel auszuziehen (Kap. 48). I. Szene Jesaja 44,24–45,25 Jhwh, Kyrus und die Perser In der ersten Szene dieses Aktes wird Kyrus und sein Siegeszug als Beweis der göttlichen Geschichtslenkung expressis verbis vorgestellt. Die Abgrenzung der Szene nach vorn ist durch den hymnischen Vers 44,23, nach hinten durch 45,25 gegeben. Letzterer Vers ist zwar kein imperativischer Aufruf zum Gotteslob, stellt dieses aber in Aussicht. Die Zukünftigkeit des Gotteslobes (vgl. 42,8; 43,21; 48,9) ergibt an dieser Stelle insofern einen guten Sinn, als es erst dann erklingen kann, wenn die Entronnenen der Völker (45,20), alle Enden der Erde (45,22) und jedes Knie bzw. jede Zunge (45,23) darin einstimmen. Kompositorisch bildet 44,24–28 den Auftakt zum Kyrus-Orakel in 45,1–7, das durch 45,8 erweitert wurde. Daran schließt sich mit 45,9–13 ein Weheruf an, der verdeutlicht, dass der Glaube an Jhwhs Geschichtslenkung durch den Perser im Gottesvolk der spätexilisch-frühnachexilischen Zeit keineswegs unwidersprochen geblieben war. Gegen diese Skepsis ist hier häufig die Botenspruchformel »so
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spricht Jhwh« in Stellung gebracht worden, (44,24; 45,1.11.14.18), womit die prophetischen Verfasser wieder und wieder unterstreichen, dass Jhwh hinter der neuen persischen Weltmacht steht. Nirgends sonst ist die Botenspruchformel so stark hymnisch erweitert wie in 44,24, so dass die mitgemeinten Prädikationen die kompletten Verse 24–28 durchziehen (»So spricht Jhwh, dein Erlöser, dein Bildner, der alles macht, der ausspannt, der ausbreitet, der zerbricht, der zum Gespött macht, der zurückdrängt, der aufrichtet, der ausführt, der sagt […]«). Was Jhwh konkret mitzuteilen hat, folgt erst nach einer weiteren Botenspruchformel in 45,1. Dieser Auftakt zum Kyrus-Orakel ist deshalb so stark hymnisch erweitert, weil das Gotteswort selbst so unglaublich ist: Der Perser ist Jhwhs Gesalbter! Dass der Adressat dieses Orakels nicht Kyrus, sondern das Gottesvolk ist, beweist der anschließende Weheruf (V. 9–13). Er geht mit denen hart ins Gericht, die Jhwh das Recht absprechen wollen, die Geschicke des Volkes auch und gerade mit einem Fremdherrscher zu leiten. Wer mit Gott darüber streitet, gleicht einer tönernen Scherbe, die seinen Töpfer darüber belehren will, wie und was er töpfern solle! Jhwh ist in seiner Geschichtslenkung völlig frei. Wie er Nebukadnezzar als seinen Knecht zur Bestrafung Israels in Dienst nehmen konnte (Jer 25,9; vgl. Jes 10,5ff.), so kann er auch Kyrus als seinen Gesalbten zur Befreiung von eben diesem babylonischen Joch anstellen. So sieht göttliche Souveränität aus und es ist kein Zufall, dass das Kyrus-Orakel durch die Aussage gerahmt ist, Jhwh sei derjenige, der »alles macht« (lk hc[: 44,24; 45,7). Der Überbringer dieses Gotteswortes ist »sein Knecht«, dessen Wort Jhwh aufrichtet (44,26). Dass im Parallelkolon von »seinen Boten« (Plural) die Rede ist, spricht erneut für die kollektive Identität des Gottesknechts (vgl. 43,10; 44,8; 48,6). Wer sich aus Jakob/ Israel zu Jhwh und seiner neuen Geschichtslenkung durch die Perser bekennt, konstituiert den bezeugenden Knecht mit seiner prophetischen Aufgabe (vgl. 42,19). Mit dem »Plan« (hx[) der Boten ist auf die Ankündigung des Wiederaufbaus Jerusalems und Judas angespielt. Dass Jhwh das Wort des Knechts, seiner Boten »aufrichtet« (µwq hif.), schlägt nicht nur eine Brücke zur Worttheologie von 40,8; 55,10f., sondern entspricht auch der Legitimierung wahrer Prophetie (vgl. 1 Sam 3,12; 1 Kön 2,4; 8,20; 12,15; Jer 28,6; 29,10). Erst nach dem Knecht wird Kyrus namentlich genannt (Jes 44,28). Die neue Weltmacht gestaltet die Geschichte nicht selbst, sondern ist von Jhwh beauftragt und von ihm abhängig. Anders als nach moderner Weltsicht sind Geschichte und Mythos keine getrennten Bereiche, sondern durchdringen sich gegenseitig. So meint die Trockenlegung der Tiefe (44,27) nichts anderes als die Wiederherstellung der ins Chaos gestürzten Ordnung (vgl. 50,2; 51,9). Ebenso hatte Jhwh vorzeiten die Wasser des Schilfmeeres trockengelegt, damit seine Erlösten in die Freiheit zögen (Ex 14,16.22.29; 15,19; Jos 4,22; Ps 77,16ff.; 106,9). War zuvor Mose der Hirt seines Volkes (vgl. Jes 63,11; Ps 77,21), so geht diese Ehrenbezeichnung nun auf Kyrus über. Auch die davidische Prärogative, königlicher Hirt zu sein (vgl. Ps 78,70–72; Jer 23,1–6; Ez 37,24; Sach 11,15–17), gilt jetzt dem Perser. Er ist Jhwhs Hirte, nicht etwa der Marduks, wie dies fast alle babylonischen Herrscher
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für sich in Anspruch nahmen. Bei den Achämeniden dagegen war die königliche Titulatur als »Hirt« unbekannt. Indem parallel zu »mein Hirt« der Titel »mein Gesalbter« folgt (45,1), wird die Übertragung der davidischen Königswürde auf den Perser noch deutlicher zum Ausdruck gebracht, zumal sonst David und seine Nachkommen so bezeichnet werden (u.a. 1 Sam 2,10; 16,6; Ps 2,2; 18,51; 20,7; 28,8; 84,10; 89,39.52; 132,10.17). Das Personalsuffix »mein« unterstreicht, dass der Perser ganz der Hoheit und Souveränität Jhwhs unterstellt ist. Als sein weltpolitischer Platzhalter vollzieht er den Willen Gottes (44,28), wird dabei aber nicht zum »Knecht«! Die Formel »so spricht Jhwh« ist in 45,1 keine eigene Redeeinleitung, sondern bleibt von 44,24 mit der ausgedehnten hymnischen Erweiterung abhängig. Nicht dem Perser gelten diese Worte, sondern dem Knecht Jakob, dem Erwählten Israel, der diese neue Geschichtslenkung lobend anerkennen soll. Die Überblendung der Kommunikationsebenen ist daran abzulesen, dass zuerst das Verhältnis von Jhwh zu Kyrus beschrieben wird (»Ich–Er« V. 1), bevor die direkte Rede einsetzt (»Ich– Du« V. 2–5). Jetzt gilt die Erweiterung der Botenspruchformel nicht mehr der Verherrlichung Jhwhs als dem Herrn von Schöpfung und Geschichte (u.a. 42,5; 43,1.14.16; 44,24; 45,18), sondern der Verhältnisbestimmung zum Perserkönig. Daran lässt sich erkennen, wie schwer es dem Gottesvolk gefallen sein muss, den Perser nicht nur als den neuen Weltherrscher, sondern auch als den auf Gottes Geheiß hin Handelnden zu akzeptieren. Die Provokation dieser Geschichtslenkung war enorm, kannte der von Jhwh bestellte Gesalbte diesen doch gar nicht (45,5)! Die rabbinische Auslegung in bMegilla 12a entschärft diesen Umstand, indem sich Jhwh dort nicht direkt an den Perser wendet, sondern zu seinem Gesalbten über Kyrus spricht! Das Motiv der Handergreifung in 45,1 nimmt ein Element des altorientalischen Königsorakels auf und findet sich ähnlich im Kyrus-Zylinder, wo es heißt, Marduk habe einen gerechten Herrscher nach seinem Herzen gesucht und ihn bei der Hand gefasst. Zugleich ergibt sich eine Parallele zum Heilsorakel in 41,13, wo es Jhwh ist, der Jakob an der Rechten fasst. Das Rufen beim Namen trifft ebenfalls sowohl für den Knecht Jakob/Israel (41,9; 43,1; 49,1) als auch für den Perser zu (45,3f.; 46,11; 48,15), was ihr Zusammenspiel im göttlichen Plan unterstreicht. Doch während Kyrus und die Perser das weltpolitische Werkzeug Jhwhs darstellen, liegt die Aufgabe des Knechts im Zeugnis für dessen Einzigkeit! Die militärische Komponente tritt in 45,1–3 stark in den Vordergrund, wobei das Aufgürten der Hüften von Königen deren Entwaffnung bedeutet (1 Kön 20,11), da Waffen am Gürtel getragen wurden (vgl. 2 Sam 20,8; Neh 4,12). Zwischen dem Nicht-verschlossen-Bleiben der Tore Babels in V. 1 und dem Zerbrechen der Riegel in V. 2 besteht zwar kein absoluter Widerspruch, doch hat es den Anschein, als wolle man der friedlichen Einnahme Babels im Oktober 539 nachträglich Rechnung tragen. Die Betonung der Übergabe reicher Schätze an Kyrus bezieht sich nicht allein auf die Einnahme Babels, sondern auch auf seinen Sieg über den sagenhaft reichen lydischen König Krösus, den er bereits 547 errungen
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hatte. Damit hatte er die reichen Handelsstädte an der Westküste Kleinasiens in seine Gewalt gebracht und so die kriegsökonomische Vorbedingung für den Angriff auf das babylonische Kernland geschaffen. Doch nicht um Reichtum soll es gehen, sondern um die Erkenntnis Jhwhs als des einzig wahren Gottes (V. 3b). Das Verb »erkennen« ([dy) mit der Präposition »damit« (˜[ml) findet sich auch bei der Erwählung des Knechts, d.h. der Zeugen, »damit ihr erkennt […], dass ich es bin« (43,10). Sowohl der Knecht als auch das persische Königshaus sind zur Erkenntnis des einzig wahren Gottes gerufen. Doch haben die Verfasser tatsächlich gehofft, Kyrus und die Achämeniden würden sich zu Jhwh bekennen? Das wird kaum der Fall gewesen sein! Hier gibt die Sprechrichtung der Verse einen wichtigen Hinweis darauf, dass der Abschnitt letztlich ein Heilswort für das Gottesvolk darstellt (45,1). Im Zentrum steht nicht die Hoffnung, die Achämeniden würden Jhwh-Anhänger werden, sondern die Forderung, das Gottesvolk solle die Perser als wohlgefällige Werkzeuge im Heilsplan Jhwhs anerkennen. Was für ein gewaltiger Gedanke liegt hier vor: die neue Supermacht sei von Jhwh zu nichts anderem berufen als zum Dienst am Knecht Jakob (V. 4). Aber sind damit die Nöte und das Exil einfach aufgewogen? Das ist keineswegs der Fall, aber in Jhwh, dem Gott aller Wirklichkeiten, sind auch die Finsternisse aufgehoben! Er ist es, der von und über sich sagt: »Bildner des Lichts und Erschaffer der Finsternis, der Frieden macht und Unheil schafft. Ich bin Jhwh, der all dies macht« (45,7; vgl. 54,16). Anders als im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gen 1), wo Gott das präexistente Chaos in die Schöpfung überführt, ist er im vorliegenden Abschnitt derjenige, der Finsternis und Unheil schafft. Als Herr über die Finsternis tritt Jhwh auch bei der Befreiung aus Ägypten auf (Ex 10,21f.; 14,20; Am 8,9; Ps 105,28). Bei der Theophanie am Gottesberg gehört die Finsternis zu den ihn umgebenden Elementen (Dtn 4,11; 5,23; vgl. 2 Sam 22,12). Licht und Finsternis, Krieg und Frieden, Unheil und Heil sind von Jhwh als dem Schaffer aller Wirklichkeit abhängig. Mit Jes 45,9–13 liegt die hintere Rahmung des Kyrus-Orakels vor (vgl. 44,24– 28). Was vor dem Kyrus-Orakel gepriesen wurde – Jhwhs Handeln als Befreier und Bildner seines Volkes – wird danach problematisiert. Hat Jhwh das Recht, so unerwartet anders durch Kyrus und die Achämeniden zu handeln? Jhwh scheint in der Geschichte so ungeschickt zu agieren wie ein Töpfer, dem sein Werk zuruft, er habe gar keine Hände (V. 9). Im zweiten Teil dieser Szene (45,14–25) liegt der Fokus nicht mehr so sehr auf der Skepsis gegenüber der göttlichen Geschichtslenkung durch Kyrus und die Perser, sondern auf den Implikationen, die sich daraus für die Völkerwelt ergeben. Das Zuführen der besiegten Völker dient entgegen der altorientalischen Praxis nicht der Verherrlichung der siegreichen Gottheit, sondern dem Bekenntnis des rettenden Gottes, der nicht im Kultbild darstellbar ist: »Gewiss, du bist ein verborgener Gott, Israels Gott, Retter!« (V. 15). Diese Verborgenheit bezieht sich nicht etwa auf die mangelnde Erkennbarkeit seines Handelns (V. 19: »nicht im Verborgenen habe ich gesprochen«), sondern auf seine Nicht-Darstellbarkeit.
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Dem verborgenen, aber rettenden Gott Israels werden die sichtbaren, jedoch nicht zur Rettung fähigen Götter der von den Persern besiegten Völker gegenübergestellt. Den Kultbildverehrern bleibt nur Schande und Beschämung wie auch denen, die Jhwhs Einzigkeit nicht anerkennen wollen. Der Gott Israels wird nicht im Kultbild, sondern in der politischen Geschichte ansichtig, die in Übereinstimmung von Ansage und Vollzug verläuft (V. 19.21). Der letzte Beweggrund dafür ist das Wort, das nicht in Gottes Mund zurückkehrt, als habe er es nie gesprochen (V. 23; vgl. 40,8; 55,10f.). Es gibt in der Forschung kaum Zweifel daran, dass 44,24–45,25 zum allergrößten Teil dem exilischen Kernbestand dieser Kapitel zugehören und in die Zeit vom Aufkommen des Kyrus bis zur Einnahme Babels anzusetzen sind. Als späterer Zusatz gilt mehrheitlich 44,26d (»und über die Städte Judas: Sie seien aufgebaut«).38 Eine solch positive Zusammenstellung von Jerusalem und den Städten Judas findet sich nur noch in 40,9 und Ps 69,36. In Psalm 69 gehört dieser Vers zu einer zionstheologischen Fortschreibung.39 Wie bereits Jes 40,9 so gehört auch 44,26d zu einer Erweiterung der Heilsperspektive von Jerusalem auf die Städte der gesamten Provinz. Diese Thematik wird den letzten Großteil des Jesajabuches beschäftigen (vgl. 58,12; 60,10; 61,4; 62,5; 65,21f.; 66,1) und gehört bereits in die nachexilische Zeit. Ein weiteres in diachroner Hinsicht umstrittenes Bikolon findet sich in 44,28b (»und sagend über Jerusalem: Sie sei aufgebaut und der Tempel sei gegründet«), das häufig als Ergänzung angesehen wird.40 Die Gründe dafür sind der Anschluss mit »und sagend« (rmalw), der gegenüber dem dreifachen »der sagt« (rmah) in V. 26.27.28 deutlich abfällt, und das Thema des »Tempels« (lkyh), das in diesen Kapiteln sonst keine Rolle spielt. Diese Notiz von der Neugründung des Tempels liegt auf der Linie von Esra 6,3–5, »denn einzig und allein hier ist vom Wiederaufbau des Tempels von Jerusalem als Auftrag des Kyros die Rede«41. Bei der aramäischen Fassung des Kyrus-Edikts (vgl. die hebräische Fassung in Esra 1,1–4) handelt es sich wohl kaum »um ein öffentliches Edikt, sondern um eine interne Aktennotiz der persischen Verwaltung«42. Dass die Kosten aus dem königlichen Schatzhaus bezahlt werden sollen, setzt bereits eine organisierte Steuerverwaltung im persischen Reich voraus, die erst auf Darius zurückgeht. Nach Albertz handelt es sich bei 44,28b demnach um eine Re-Applikation des Kyrus-Edikts auf Darius, der die Politik des achämenidischen Reichsgründers fortsetzte.43 Doch stellt sich die Frage, ob diese Tempelbaunotiz wirklich bereits den Verfassern der ersten Sammlung um das Jahr 520 zuzuschreiben ist. Träfe dies zu, so hätte sich das Thema der Neugründung des Jerusalemer Heiligtums wohl stärker in den Vor38 39 40 41 42 43
Kratz 1991, S. 72–76; van Oorschot 1993, S. 74–77; Albertz 2001, S. 297. Hossfeld / Zenger 2000, S. 268f. So u.a. Elliger 1978, S. 478; van Oorschot 1993, S. 76. Werlitz 1999, S. 184. Albertz 2001, S. 104. Albertz 2001, S. 308; 2003, S. 378ff.
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dergrund geschoben, wie dies am Verfassungsentwurf in Ez 40–48 sowie in den Büchern Haggai, Sacharja und Maleachi abzulesen ist (vgl. Sach 3,1–7; 4,1–13; 6,9–15; Mal 1,6–2,9). Außerdem verträgt sich diese Tempelbaunotiz, die den Tempelkult ohne Abstriche restauriert sehen will, nur schwerlich mit der zur ersten Sammlung gehörenden Kritik am vorexilischen Opferkult (Jes 43,22–28). Die kritische, aber keinesfalls völlig ablehnende Haltung dem Tempelkult gegenüber (vgl. 1,10–17) bleibt auch für die weitere Entwicklung des Jesajabuches prägend (vgl. 66,1–4). So spricht einiges dafür, dass 44,28b erst von späterer Hand nachgetragen wurde, die den Namen des Kyrus – der biblischen Tradition entsprechend (2 Chr 36,22; Esra 1,1–3; 6,3–5) – auch mit der Neugründung des Jerusalemer Tempels in Verbindung bringen wollte: »Man wird also mit einer Glosse aus dem Umfeld der chronistischen Legendenbildung rechnen müssen.«44 Zu weiteren diachronen Überlegungen geben auch die beiden letzten Kola von 45,13 Anlass: »nicht um Kaufpreis und nicht um Geschenk, spricht Jhwh Zebaot«. Die Schlussformel »spricht Jhwh [Zebaot]« steht in 40ff. sonst nie nach der Botenspruchformel, wie hier nach 45,11. So stellt sich die Frage, »ob mit dem Problem des Kyrus-Lohns nicht auch eine schriftgelehrte Sorge zur Sprache kommt«45. Das scheint tatsächlich der Fall zu sein, denn »nicht um Kaufpreis und nicht um Geschenk« liest sich wie die schriftgelehrte Antwort auf die Kritik, Jhwh habe Ägypten, Kusch und Seba gar nicht aus Liebe zu Israel dahingegeben (43,3), sondern um Geld und Geschenke. Es ist gut möglich, dass der nachfolgende Vers (45,14) diese Einschreibung angeregt hat, denn nur dort und in 43,3 kommen jene drei Völker zusammen im AT vor! Der Zusatz am Ende von 45,13 will also klarstellen, dass die israelfreundliche Politik der Perser nicht durch Geschenke von Seiten Jhwhs angeregt worden ist.46 II. Szene Jesaja 46 Niederlage der Götter Babels Nach der Präsentation des Kyrus und der Folgen dieser Geschichtslenkung für Israel und die Völker (44,24–45,25) geht es in den nachfolgenden drei Szenen um die Niederlage der Götter Babels (Kap. 46), das Ende der babylonischen Weltmacht (Kap. 47) und die Läuterung Jakobs durch die Nöte des Exils (Kap. 48). Insgesamt ergibt sich folgendes Aussagegefälle: Wenn Bel und Nebo gefallen sind (46,1), dann muss auch Babel, die Tochter der Chaldäer, vom Thron in den Staub hinabsteigen (47,1.5). Der Befehl, aus Babel und von den Chaldäern zu fliehen (48,20), bezieht sich nicht nur auf das gefallene weltpolitische Zentrum, sondern auch auf den Ort der Fremdgötterverehrung. Unter kompositorischen Gesichtspunkten ist wichtig, dass das Spottlied auf Babel (Kap. 47) von anklagenden Worten an Jakob/Israel umgeben ist (46,3.12; 48,1,4). Babels Fall soll für das Gottesvolk eine klare Mahnung sein, sich von der Fremdgötterverehrung fernzu44 Achenbach 2005, S. 163. 45 Hermisson 2003, S. 15. 46 Albertz 2003a, S. 377; Hermisson 2003, S. 26.
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halten. Wer sich nicht nur mit frommen Worten, sondern in Wahrheit und Gerechtigkeit zu Jhwh bekennt, kann nicht in Babel bleiben, sondern muss aus Chaldäa fliehen und sich auf den Weg in die heilige Stadt machen (48,1f.20). Jes 46 besteht aus fünf Strophen: Die ersten beiden (V. 1–2; V. 3–4) verbindet das Thema »Last tragen«, die letzten beiden (V. 8–11; V. 12–13) das Motiv »Abtrünnige/Starkherzige«. Damit liegt der Akzent auf der zentralen dritten Strophe (V. 5–7) mit ihrer Fremdgötterpolemik. Dass die babylonischen Hauptgötter Bel (=Marduk) und Nebo gefallen wären, ist durch die Religionspolitik des Kyrus nicht gedeckt. Im Gegenteil, nach der Bevorzugung des Mondgottes Sin von Haran durch Nabonid, den letzten König von Babylon, setzte der Perser zur Freude der Priesterschaft den Marduk-Kult in Babel wieder in seine angestammte Position ein. Historisch gesehen waren die Götter Babels mit Kyrus also alles andere als gefallen! Doch theologisch ist der Perser als Hirte und Gesalbter Jhwhs derjenige, der den Göttern Babels und der Stadt des Fremdgötterdienstes das Ende bereitete. All dies geschieht zur Warnung des Gottesvolkes, und so fungiert die erste Strophe (V. 1–2) als Grundlage für die nachfolgenden Aufforderungen an Jakob/ Israel (V. 3.5.8.9.12). Angesichts der in Babel am Neujahrsfest stattfindenden Kultbildprozessionen und der aus diesem Anlass durchgeführten Besuchsfahrten von Götterstatuen in die Hauptstadt, sowie vor dem Hintergrund des Abtransportes von Götterstatuen durch die Sieger stellen die Verfasser die Beziehung Jhwhs zu seinem Volk ganz anders dar. Im Unterschied zu den Babyloniern, die ihre Götterstatuen herumschleppen, trägt Jakob/Israel seinen Gott nicht umher. Vielmehr hat Jhwh sein Volk von Mutterschoß an getragen! Jene brechen unter ihren Götterbildern zusammen, die nicht einmal sich selbst retten können. Jhwh aber trägt, schleppt und rettet (V. 3). Krümmen sich Marduk-Bel und Nebo, der Gott der Weisheit, der Schreibkunst und der Schicksalsbestimmung, die besonders am Neujahrsfest stattfand, so sind sie als falsche Retter entlarvt. Das Partizip srq »qores« »er/es krümmt sich« (V. 1; vgl. V. 2 in finiter Form) scheint lautmalerisch auf vrwk »koreš« »Kyrus« zu verweisen, möglicherweise als versteckte Kritik an der Wiedereinführung des Neujahrfestes durch den Perser. Die Stoßrichtung ist klar: Die Gola soll sich durch das Wiederaufleben des Marduk-Kultes in Babel nicht irre machen lassen, denn Marduk und sein Gefolge können nicht retten! Mit V. 5 wird eine Brücke zur Kultbildpolemik in V. 6–7 geschlagen, wobei das Verb hmd »vergleichen« das entsprechende Stichwort liefert (vgl. 40,18.25). Darauf folgt die Demontage der Götterbilder, die entgegen der etablierten Ansicht ihrer Theologen nicht etwa die Ursprungsrelation von himmlischem Bild und irdischem Abbild widerspiegeln, sondern einzig und allein menschlicher Handwerkskunst geschuldet sind. Der Grund des Gottesbildes liegt also nicht in himmlischen Sphären, sondern ganz profan darin, dass ein reicher Spender Gold und Silber abwiegt und sich einen geeigneten Künstler aussucht. Sobald dieser das Bild unter Aufbietung aller Fähigkeiten sicher an seinen Platz stellt, ist das Werk vollendet. Nicht nur vor und bei der Herstellung ist das Götterbild ein gewöhnliches Objekt, sondern auch nach seiner rituellen Indienstnahme, denn schreit man zu ihm,
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antwortet es nicht, in der Not rettet es nicht (V. 7) – anders als Jhwh, der schleppt und rettet (V. 4). Während das Kultbild nicht »rettet« ([vy) (vgl. 47,13.15), ist Jhwh der Retter all derer, die sich ihm anvertrauen (43,3.11.12; 45,8.15.17.20–22). Auf den ersten Blick scheint die Aufforderung in V. 9, der früheren Dinge zu »gedenken« (dkz), dem außergewöhnlichen Erinnerungsverbot in 43,18 zu widersprechen. Doch während das Erinnerungsverbot die Diskontinuität unterstreicht und so Platz für das Neue schaffen will, bezieht sich das Erinnerungsgebot auf die Kontinuität der göttlichen Geschichtslenkung. Wie weit das Gottesvolk in seine Geschichte mit Jhwh auch zurückgeht, es wird auf niemand anderen stoßen als auf den, der von sich sagt: »Ich bin Gott und keiner sonst, Gottheit und nichts [ist] mir gleich« (V. 9). Dieses Selbstbekenntnis fasst die bisherigen Einzigkeitsund Unvergleichlichkeitsaussagen zusammen (vgl. 43,12; 45,5.6.14.18.21.22), obgleich das Erweiswort »ich bin Jhwh« nicht nur hier, sondern in Jes 46f. insgesamt fehlt (vgl. dagegen 41,4.13.17; 42,6.8; 43,3.11.15; 44,24). Vielleicht soll so eine noch deutlichere Trennung zwischen Jhwh und den babylonischen Göttern markiert werden. Das Kapitel endet mit einer pluralischen Aufforderung zum Hören, die sich nicht mehr wie in V. 3 an das Haus Jakob richtet, sondern an die »Starkherzigen« (bl yryba), die von der Gerechtigkeit fern sind. Durch das Parallelkolon ist klar, dass diese singuläre Bezeichnung negativ gemeint ist (vgl. Ez 2,4: »Hartherzige«), und zwar kontrastiv zum Epitheton Jhwhs als »Starker Jakobs« (vgl. Gen 49,24; Jes 1,24 [Starker Israels]; 49,26; 60,16; Ps 132,2.5). Möglicherweise sind mit den »Starkherzigen« jene angesprochen, die angesichts der Lage im Exil – auch und gerade nach den Ereignissen von 539 – dem Starken Jakobs die eigentliche Wende nicht zutrauen, sondern sich an das halten, was sie mit eigenen Augen sehen: die Wiedereinsetzung des Marduk-Kultes durch Kyrus, den Befreier Babels! Auf diese Skepsis reagiert der letzte Vers (V. 13), indem Jhwh betont, er habe seine Gerechtigkeit nahe herangebracht, sie sei nicht fern und auch seine Rettung säume nicht. Damit ist die Lage der Exilierten bestens umschrieben: Mit Kyrus hatte sich zwar auf der Bühne der Weltgeschichte Entscheidendes ereignet, doch stand für das Gottesvolk die Beantwortung der wichtigsten Frage noch aus: Wie geht es mit Zion und Israel weiter? Mit der futurischen Zusage, »Ich werde in Zion Rettung schaffen, für Israel meine Pracht« (V. 13), begegnet Jhwh auch dieser Skepsis. Was sich mit Kyrus und dem Antritt der Perser als neuer Weltmacht auf Gottes Geheiß bereits getan hat, das soll nun sehr schnell positive Heilsfolgen für Zion und Israel zeitigen. Da der Fall der babylonischen Götter sicherlich nicht unter Kyrus stattgefunden hat, kann Jes 46 kaum in die Zeit des persischen Dynastiegründers fallen, es sei denn, man würde eine völlig kontrafaktische Abfassung annehmen wollen. Demgegenüber ist das gewaltsame Vorgehen von Darius I. (522–486) gegen das aufständische Babel gesichert. Auslöser waren Thronstreitigkeiten nach dem Tod von Kambyses (530–522), die das persische Reich in eine schwere Krise stürzten. Dabei hatte sich ein gewisser Gaumata, Angehöriger der medischen Kaste der magi,
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also ritueller und mantischer Spezialisten, im Sommer des Jahres 522 des persischen Throns bemächtigt. Kambyses war zu der Zeit in Ägypten gewesen, wo er sich als Pharao der 27. Dynastie hatte ausrufen lassen. Durch die Nachrichten aus der Heimat alarmiert, machte er sich auf den Rückweg, auf dem er jedoch plötzlich verstarb. Im Herbst des Jahres 522 wurde der Magier Gaumata von einer Gruppe persischer Adliger, unter denen sich auch Darius befand, aus dem Weg geräumt. Darius, der aus einer achämenidischen Nebenlinie entstammte, gelang es, den Thron zu besteigen und nacheinander den Flächenbrand in den persischen Provinzen zu löschen. Zu diesen Unruheherden gehörte auch Babel, wo sich nach der Ermordung Gaumatas ein gewisser Nidintu-Bel, wohl ein Sohn des letzten babylonischen Königs Nabonid, zum König über Babylon hatte ausrufen lassen. Erst nach Monaten gelang es Darius, auch diesen Aufstand niederzuschlagen und die Provinz wieder unter persische Kontrolle zu bringen. Kurz danach kam es im Sommer 521 erneut zu einer Rebellion, dieses Mal unter Führung eines Armeniers mit Namen Aracha, der sich als Nebukadnezzar IV. zum König über Babylon inthronisieren ließ. Es dauerte erneut Monate, bis persische Elitetruppen die Aufständischen niederringen konnten.47 Zwar gibt es keine Nachrichten darüber, dass Darius im Zuge der Niederwerfung dieser Aufstände die Götterstatuen Marduks in Babel und die Nebos im südlich davon gelegenen Borsippa zerstört oder verschleppt hätte, aber es ist gut möglich, dass die Eingangsverse von Jes 46 die offenkundig gewordene Machtlosigkeit der babylonischen Götter – repräsentiert durch Marduk und Nebo – plastisch vor Augen führen sollen. Dies gilt umso mehr, als vor dem Hintergrund der unter Darius I. erfolgten ersten größeren Rückkehrbewegung des Jahres 520 der Kontrast zu Jhwh, der sein Volk trägt und rettet (46,3–4), noch größer erscheint. Zudem passen einige Details von Kap. 46–48 gut in die Zeit des Darius, so etwa die Aufnahme der Rede vom göttlichen »Plan« (46,10; 48,14f.), den der »Mann seines Plans« (46,11) ausführt, eine klare Reminiszenz an die Beauftragung des Kyrus in 44,28. Die von Kyrus unterlassene Bestrafung Babels und ihres Fremdgötterkultes vollzieht sich nun unter Darius plötzlich (48,3), vor den Augen der babylonischen Gola.48 Konnte man nach der Wiedereinsetzung des Marduk-Kultes durch Kyrus noch der Meinung sein, die babylonischen Götter seien (weiterhin) geschichtsmächtig, so war dies nach der Niederschlagung mehrerer Aufstände in Babel durch Darius nicht mehr möglich. III. Szene Jesaja 47 Das Ende Babels und ihrer Beschwörungen Die Verbindungen zur vorhergehenden Szene (Jes 46) sind derart stark, dass man hier von einem Diptychon, einem literarischen Doppelbild, auszugehen hat.49 Nach den babylonischen Göttern fällt nun die Stadt selbst, ganz im Gegensatz zur 47 Albertz 2001, S. 100f. 48 Albertz 2001, S. 309f.; 2003, S. 380ff. 49 Beuken 1986, S. 267.
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anbrechenden neuen Zukunft für Zion/Jerusalem. Gegenüber dem Wort Jhwhs haben sich Sterndeutung und Zukunftsschau als machtlos erwiesen (V. 8–11.12– 15). Die Imperative, die sich an das weibliche »Du« Babels richten, teilen das Spottlied (vgl. Jer 50–51) in vier Strophen ein (V. 1.5.8.12). Die hochmütige Weltstadt muss in den Staub hinabsteigen und sitzt am Ende vor ihren in Flammen aufgegangenen Plänen. Die erste Strophe (46,1–4) beginnt mit einer Reihe von neun Imperativen an die als Herrscherin personifizierte Stadt Babel. Am Ende des Abschnittes steht ihre aufgedeckte Scham (V. 3a). Eine Wir-Gruppe zollt Gott Beifall und bekennt: »Unser Erlöser, Jhwh Zebaot ist sein Name, der Heilige Israels« (V. 4). Der Abstieg der Königin in den Staub zur Arbeit an der Handmühle mit hochgeschürztem Gewand ist unumkehrbar. An den Handmühlen arbeiteten Sklavinnen (vgl. Ex 11,5), für Männer galt diese Tätigkeit als unehrenhaft (vgl. Ri 16,21; Klgl 5,13). Das Verb »mahlen« (˜jf) kann sexuell konnotiert sein (vgl. Ijob 31,10; Klgl 5,13), was auch an dieser Stelle wegen der zunehmenden Entblößung nicht ausgeschlossen ist (vgl. Klgl 1,8f.; Jer 13,22; Ez 16,37.57; Hos 2,12; Nah 3,5). Mit der Anrede »Jungfrau, Tochter Babel« (vgl. für Zion in 2 Kön 19,21; par. Jes 37,22; Klgl 2,13) wird die Schönheit, Attraktivität und Kraft der imperialen Großstadt betont. Von »Tochter Babel« ist mehrfach im Zusammenhang ihres Untergangs die Rede (Jer 50,42; 51,33; Sach 2,11; Ps 137,8). Sind Marduk-Bel und Nebo gefallen (46,1f.), muss auch Babel ihren Thron verlassen. Für Zion gilt als Braut Jhwhs das genaue Gegenteil: Sie kann ihre Prunkgewänder wieder anziehen (52,1), wenn Jhwh als siegreicher König zu ihr zurückkehrt (52,7). Der Grund für den Untergang liegt in der »Vergeltung« (µqn), die Jhwh nun vollzieht (V. 3b). Der Begriff meint kein blindwütiges Verhalten, sondern zielt auf die Wiederherstellung einer zerstörten Rechtsordnung ab. Nur wenn Jhwh vergeltend auftritt, kann die geschundene Frau und Stadt Jerusalem aus dem Staub erstehen und die nachexilische Restauration gelingen (vgl. Jes 34,8; 35,4; 59,17; 61,2; 63,4). Der Umstand, dass Gott bei dieser Vergeltung nicht (mehr) auf Menschen trifft, unterstreicht, dass sein Tun keinen ungestraft lässt (vgl. Jer 50,3: »vom Menschen bis zum Vieh«). Das Vernichtungsszenario an Babel von Jer 50–51 hat hierfür Pate gestanden. Heißt es dort »Ihr Erlöser ist stark, Jhwh Zebaot ist sein Name« (Jer 50,34), so hier: »Unser Erlöser, Jhwh Zebaot ist sein Name« (Jes 47,4). Hinter der Wir-Gruppe stehen die Verfasser selbst, welche die lang erwartete Bestrafung Babels kommentieren und sich zum Exodus aus der Stadt des Fremdgötterkultes rüsten (48,20; vgl. die Mahnungen zum Verlassen Babels in Jer 50,8; 51,6.45). Die zweite Strophe (Jes 47,5–7) verweist auf den Verlust an politischer Bedeutung, denn nie mehr wird sich Babel »Herrin von Königreichen« nennen. Zwar war Jhwh über sein eigenes Volk erzürnt gewesen und hatte Babel als Strafwerkzeug in Dienst genommen (vgl. 10,5ff.; Sach 1,15), doch hatte sie alle Grenzen überschritten und dem Gottesvolk kein Erbarmen gezeigt (vgl. Am 1,11). Nach Jer 6,23 haben die Babylonier kein Erbarmen mit Zion, weil Jhwh seinem Volk,
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das unter seinem Zorn steht, dieses Erbarmen nicht zugesteht (vgl. Jer 21,7). Später erfährt Babel auf Gottes Geheiß kein Erbarmen von Seiten der Meder (Jer 50,42). Jhwh ist der eigentliche Souverän der Weltgeschichte, der Erbarmen verlangt bzw. verbietet! Jede Selbstüberschätzung, wie sie Babel an den Tag legte, als sie meinte, auf immer Herrin bleiben zu können, wird mit dem sicheren Untergang bestraft. Das »ich werde sein« (hyha) aus dem Munde Babels (V. 7) klingt wie ein Echo auf die Selbstvorstellung Jhwhs in Ex 3,14, doch kommt es nur Jhwh zu, »ewig« zu sein (Jes 40,8.28; 42,14; 44,7; 46,9 u.ö.). Der emphatische Höraufruf, mit dem die dritte Strophe beginnt (47,8), richtet sich nicht an die schon vom Thron gestürzte Herrin Babel, sondern an die immer noch in Sicherheit und Luxus Wohnende, die glaubt, ihrem Abstieg entgehen zu können. Gibt es eine größere Hybris als die Ansicht, nie unterzugehen? So kommt über Babel genau das, was sie zu vermeiden glaubte: Witwenschaft und Kinderlosigkeit. Unheil und Verderben werden Babel ganz plötzlich heimsuchen. Dies unterstreicht Jhwhs Geschichtsmächtigkeit und führt zugleich alle magischen Abwehrpraktiken ad absurdum (vgl. V. 12–15). Keiner der Zukunftsdeuter kann Babel retten (V. 15), denn nur Jhwh ist der Retter (vgl. 43,3.11; 45,15.21; 49,26). Auch in diachroner Hinsicht schließt sich dieses Kapitel an Jes 46 an und wird in die Zeit nach den Maßnahmen von Darius I. gegen die Aufstände in Babel (521/520) zu datieren sein. Das babylonische Couleur ist noch deutlich zu spüren, aber die judäische Heimat und damit die Rückkehrperspektive schiebt sich immer stärker in den Vordergrund. Dieses Aussagegefälle nimmt mit Jes 48 noch zu, denn dort wird explizit zum Auszug aus Babel aufgerufen! IV. Szene Jesaja 48 Rückblick auf das Exil und Aufruf zum Auszug Mit Kap. 48 kommt der vierte Akt (44,24–48,22) des fünften Teils des Jesajabuches (Kap. 40–48) an sein Ende. Diese Szene ist besonders wichtig, denn in ihr werden die bisherigen Themen – »Jakobs Erwählung«, »Jhwhs Geschichtslenkung«, »das Aufkommen der Perser«, »der Untergang Babels und ihres Fremdgötterdienstes« – noch einmal gebündelt. Anders als vielleicht zu erwarten gewesen wäre, durchzieht das Kapitel keine Jubelstimmung, sondern ein kritischer Ton gegenüber Jakob/Israel (vgl. 42,18–25; 43,22–28). Dass das Kapitel von zahlreichen intertextuellen Bezügen geprägt ist, unterstreicht seinen Reflexionscharakter (vgl. »Entweihung des Namens«: Ez 20,9.14.22; »Läuterung Jakobs«: Jer 6,27–30; »Halsstarrigkeit«: Dtn 9,6.13; 31,27; »verpasste Chance auf eine strahlende Zukunft«: Ps 81,13–16; 95,7–11). Das Kapitel ist in zwei Hälften einzuteilen, die jeweils mit einem Höraufruf beginnen (V. 1.12; vgl. 46,3.12). Das Leitwort »hören« ([mv) durchzieht das Kapitel (V. 1.3.5.6.7.8.12.14.16.20). Adressaten sind diejenigen aus dem Haus Jakob, die sich zwar zum Gottesvolk und zu Jhwh bekennen, aber nicht in Wahrheit und Gerechtigkeit (V. 1; vgl. 46,12). Sie werden im Läuterungsprozess des Kapitels ausgeschieden (vgl. V. 10), auf dass ein gereinigter Rest übrig bleibt, der die Rückkehr in die Heimat antreten soll, im Gegensatz zu denen, die es beim
V. Teil Jesaja 40–48 Aus Babel zurück in die Heimat
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Lippenbekenntnis zu Gott und seiner heiligen Stadt bewenden lassen. Der Weissagungsbeweis, den Jhwh in V. 3–5 führt, richtet sich nach der Niederlage der Götter Babels nicht mehr an diese, sondern an das halsstarrige Gottesvolk. Der Wechsel vom Singular »du hast gehört« zum Plural »und ihr, wollt ihr nicht kundtun?« (V. 6) zeigt erneut, dass es um die je individuelle Entscheidung derer geht, die zum Volk Jakob/Israel gehören (vgl. 43,10). Aus dem Eintreffen der bisherigen Ankündigungen sollen die Angesprochenen die Sicherheit gewinnen, dass sich auch die neuen Dinge vollziehen werden, die von jetzt an geschaffen werden (vgl. 42,9; 43,8–13; 44,6–8). Sie beziehen sich nicht auf das Aufkommen der Perser und den Fall Babels, denn beides liegt ja bereits als Geschehenes vor (vgl. Kap. 45–47), sondern auf Jakob/Israel, der als Jhwhs Zeuge vor aller Welt auftreten soll. Nur wer dazu bereit ist, kann auch das neue Lied singen, denn er gehört zum Neuen (42,9–10). Dieses analogielose Neue wird durch das Verb arb »schaffen« angezeigt (vgl. Ex 34,10; Ps 102,19). Jhwh hat nicht schon früher davon gesprochen, damit Jakob, der Abtrünnige von Mutterschoß, nicht behaupten könne, er habe das alles schon längst gewusst (V. 8). Die Jakob-Typologie ist gerade für dieses Kapitel von entscheidender Bedeutung (vgl. 43,22–28; 46,8). Das Gottesvolk hat von diesem Erzvater nicht nur den Namen »Israel« (»Gottesstreiter«), sondern auch dessen streitbares Wesen geerbt. Durch das Exil, die Schmelze im Ofen des Elends (vgl. Dtn 4,20), hat sich Jhwh ein Volk erwählt, vor dem er seinen Zorn zur völligen Vernichtung zurückhielt (Jes 48,9–10; vgl. Ex 32,7–14; Num 14,10–19; Ez 20,6–9). Nach dem harschen Wort vom »Abtrünnigen vom Mutterschoß« (V. 8) bemüht sich Jhwh um Jakob/Israel als seinen Berufenen (vgl. 41,9; 42,6; 43,1). Als Erster und Letzter steht Gott zu seinem Volk und wirbt um Zustimmung (48,12–13) für sein Handeln durch den Perser (»Jhwh-liebt-ihn«: V. 14), der seinen Willen vollstreckt. Das Bild von der Metallschmelze macht deutlich, dass nicht ganz Jakob – ja nicht einmal der größere Teil Israels – dem Werben Jhwhs folgte. Hätte das Volk insgesamt auf Gott gehört, wären Frieden, Gerechtigkeit und Nachkommenschaft viel größer ausgefallen (48,18f.). Die Reduzierung der Heilsfülle liegt also nicht an Jhwh, sondern an Jakob/Israel. Die Hörenden sind zum Auszug aus Babel aufgerufen, womit der fünfte Teil des Jesajabuches schließt (Jes 40–48). Das Ziel besteht aber nicht einfach in der faktischen Rückkehr, sondern darüber hinaus in der weltweiten Proklamation, dass Gott seinen Knecht erlöst hat (V. 20). Das können nur diejenigen mit ihrem konkreten Leben verkünden, die tatsächlich aus Babel ausziehen. Sie und nur sie sind der »Freudenbote«, der in 52,7 Zion die siegreiche Heimkehr Jhwhs ankündigt. Anders als der Exodus aus Ägypten hat der Auszug aus Babel weltweite Konsequenzen. Wer sich von Babel auf den Rückweg zum Zion macht, dem begegnet der Exodusgott, der für Wasser aus dem Felsen sorgt (Ex 17; Num 20; Ps 105). Von einem Murren ist bei diesem Auszug keine Rede mehr! In diachroner Hinsicht ordnet sich auch dieses Kapitel in die Zeit Darius’ I. ein. Der Aufruf zur Rückkehr in die Heimat ergibt als Echo auf die ersten Heimkehrbewegungen um 520 einen sehr guten Sinn. Erst jetzt stehen die Familien der
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II. Auslegung von Jesaja
Exilsgemeinde vor der Entscheidung, in Babel zu bleiben oder den Rückweg nach Zion/Jerusalem anzutreten. Dass dort kaum jemand auf sie warten, sondern sie im Gegenteil eher argwöhnisch begrüßen würde, war ihnen sehr klar (s. die Auslegung zu Jes 53). Dass V. 22 (»Kein Friede, sagt Jhwh, für die Frevler«) einen späteren Zusatz darstellt, ist seit Bernhard Duhm die überwiegende Ansicht der Forschung.50 Die Auseinandersetzung »Fromme gegen Frevler«, die besonders die letzten Kapitel des Jesajabuches kennzeichnet (vgl. 57,21; 66,24), wird bereits hier eingespielt. Die nicht vor- oder nachgestellte, sondern in den Satz eingebettete Zitationsformel »sagt Jhwh« scheint von 49,5 beeinflusst worden zu sein. Die Ethisierung der Jhwh-Nachfolge, die mit der Öffnung zu den Menschen aus den Völkern, ja zur Völkerwelt insgesamt einhergeht (vgl. 56,1–8; 66,18–23), wurde mit großer Sicherheit von 57,21 her in 48,22 eingetragen. Der Verkündigungsauftrag, der nach 48,20 bis an die Enden der Erde reichen soll, passt zu diesem Szenario, denn der eingefügte V. 22 stellt sicher, dass die ethische Forderung gleichermaßen für Jhwh-Anhänger aus Israel und den Völkern gilt. Theologischer Ertrag zum IV. Akt (Jes 44,24–48,22) Der lange vierte Akt dieses fünften Teils ist der politischste all dieser Kapitel. Das macht nicht nur die namentliche Nennung von Kyrus deutlich (44,28; 45,1), sondern auch die Inszenierung des Falles von Babel und ihrer imperialen Götter. Die Geschichtsmächtigkeit Jhwhs wird in recht grellen Tönen gezeichnet, die aber auch den Exilierten und ihren Nachgeborenen zu denken geben sollte. Zum einen lassen die Ehrentitel »mein Hirt« und »mein Gesalbter« für den Perser Kyrus keinen Zweifel daran, dass mit einer davidischen Restauration nicht mehr zu rechnen ist. Wer sich im Gottesvolk an dieser propersischen Geschichtslenkung Jhwhs stört, der verhält sich wie ein Tongefäß, das dem Töpfer vorwirft, er habe keine geschickten Hände! Zum anderen kann es nach dem Fall Babels, der Heimat der Fremdgötterkulte, keinen Zweifel mehr geben, dass sich Jakob/Israel auf den Weg in die Heimat machen muss. Die dringliche Mahnung richtet sich an all diejenigen im Gottesvolk, die sich in Babel gut eingerichtet hatten und für die ein Leben der Jhwh-Religion auf fremder Scholle die naheliegendste Alternative war. Ein Lippenbekenntnis zur »Heiligen Stadt« und zum »Gott Israels« (48,2) war keineswegs ausreichend. Die Exilszeit war der »Schmelzofen des Elends« (48,10), auf dass deutlich würde, wer sich tatsächlich dem Anruf und der Sendung Jhwhs stellen würde. Wer es vorzieht in Babel zu bleiben, kann nicht jubelnd verkünden, dass Gott seinen Knecht Jakob erlöst habe (48,20). Sendung und Weg gehören untrennbar zusammen. Wer sich jedoch auf die Verkündigung dieses befreienden Gottes einlässt, wird sein je eigenes Exodus-Wunder erleben: Wasser aus dem Felsen gegen den Durst in der Wüste (48,21)!
50 Duhm 1922, S. 367: »48,22 ist ein Satz von der Hand des Herausgebers«.
VI. Teil Jesaja 49–54 Der Knecht und Mutter Zion
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VI. Teil Jesaja 49–54 Der Knecht und Mutter Zion Stand in Kap. 40–48 die Frage im Mittelpunkt, wie sich im babylonischen Exil aus dem blinden und tauben Jakob/Israel der sehende, hörende und Jhwhs Einzigkeit bezeugende Knecht entwickelt, so geht es in Kap. 49–54 darum, wie er seiner prophetischen Sendung gerecht wird, Bund für das (Gottes-)Volk und Licht für die Völker zu sein (42,6). Wird es ihm gelingen, die Bundeszusage, die dem ganzen Gottesvolk gilt, so zu verkörpern, dass dieses Geschehen zum Licht für die Nationen wird? Jakobs Befreiung aus Babel ist zwar schon geschehen (lag perf.: 48,20), aber noch steht die Verherrlichung an Israel aus (dap imperf.: 49,3; vgl. 44,23; perf. in 55,5). Dazu bedarf es des Knechts, der sich seiner Aufgabe, ein scharfes Schwert und ein spitzer Pfeil im Köcher Jhwhs zu sein, nicht entzieht, sondern trotz aller Widerstände an seiner Mission festhält. Dass der treue Knecht, der sich im Exil aus dem Knecht Jakob/Israel herausbildete, eine Aufgabe am Gottesvolk und an den Völkern hat, ist Folge seines Zeugenamtes. Je stärker der Widerstand gegen diese Mission ausfällt, desto deutlicher tritt das Motiv der prophetischen Zurückweisung in den Vordergrund (vgl. 50,4ff.; 52,13ff.). I. Akt Jesaja 49,1–26 Selbstvorstellung des Knechts und Zions Zweifel Der erste Akt dieses sechsten Teils lässt sich in zwei Szenen gliedern. Auf die Präsentation des Knechts in V. 1–13 (V. 1–6: Gottesknechtslied; V. 7–12: Ergänzungen; V. 13: hymnisches Responsorium) folgt mit V. 14–26 die Argumentation gegen Zions Zweifel an der Botschaft neuerlichen Heils. Den Abschluss bildet die Verheißung der Gotteserkenntnis für alles Fleisch, dass Jhwh der Retter und Löser Zions sei (V. 26). In der Dramaturgie dieser Kapitel präsentiert sich also der aus Babel ausgezogene Knecht Jakob seiner Mutter Zion mit seiner Sendung zum Gottesvolk und den Völkern. In gewisser Weise verschmelzen Knecht und Zion miteinander: Er repräsentiert die Heimkehr-, sie die Ankunftsperspektive! Wenn sie seine Frohbotschaft annimmt, wird sie selbst zur Freudenbotin für die Städte Judas und zum Licht derVölker.DasVerb rma »sagen« (V.3.4.5.6.7.8.9.14.20.21.22.25) unterstreicht den Stil der intensiven Rede und Gegenrede. Jhwh lässt sich auch durch Zions Skepsis nicht von seinem Plan abbringen, durch die Rückkehr des Knechts ein weltweites Zeichen für sein alleiniges Gottsein zu setzen. Dabei ist zu beachten, dass nach dem Auszugsbefehl von 48,20f. »Babel« im Buch Jesaja nicht mehr vorkommt, ebenso wenig wie »Kyrus« oder die »Fremdgötter«. Die Textwelt hat sich von Babel nach Zion/Jerusalem verschoben, dem Ziel der Heimkehr des prophetischen Knechts. War zuvor von der Stadtfrau nur an drei Stellen die Rede gewesen (40,9; 41,27; 44,28), wird sie nun neben dem Knecht zur tragenden Gestalt im literarischen Drama (»Zion«: 49,14; 51,3.11.16; 52,1.2.7.8; »Jerusalem«: 51,17; 52,1.2.9). Nicht zufällig, sondern kompositorisch geplant wechseln sich der männliche »Knecht« und die Stadtfrau »Zion/Jerusalem« in Jes 49–54 stetig ab.
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II. Auslegung von Jesaja
Dies ist mit Jes 55 nicht mehr der Fall, was bei der Bestimmung der nächsten und letzten Hauptzäsur (Kap. 55–66) zu beachten ist. I. Szene Jesaja 49,1–13 Präsentation des Knechts Hatte Jhwh seinen Knecht im ersten Gottesknechtslied mit dem doppelten Auftrag präsentiert, Bund des Volkes und Licht der Völker zu sein (42,1–9), so bezieht sich im zweiten der Ebed selbst auf diese Sendung, und zwar coram mundo (V. 1). Das Ziel, den Bund Jhwhs mit seinem Volk zu vergegenwärtigen und Licht für die Völker zu sein, geht weit über eine individuelle Bestellung hinaus. Wie anders könnte der Knecht für die Völkerwelt eine Funktion auf Jhwh hin wahrnehmen, wenn nicht über Zion/Jerusalem? Doch dazu muss die Stadtfrau erst die Botschaft des Knechts über die erneute Heilsmächtigkeit Jhwhs annehmen und ihre abgrundtiefe Skepsis ablegen. So kann es sich beim Ebed im literarischen Kontext dieser Kapitel nur um die zum Exodus aus Babel und dem Reich der Fremdgötter bereite Gruppe handeln, die sich unmittelbar nach dem Auszugsbefehl von 48,20f. als von Mutterschoß berufener Knecht vorstellt. Der Aufbau des zweiten Gottesknechtsliedes mit seinen Erweiterungen lässt sich folgendermaßen skizzieren: In V. 1–4 blickt der Knecht auf seine Berufung (vgl. 42,1ff.) und die damit verbundenen Mühen zurück. Aus diesen negativen Erfahrungen folgt aber nicht etwa die Einstellung seiner Beauftragung, sondern im Gegenteil die erneuerte Sendung als Licht für die Völker (V. 5–6; vgl. 42,6). Mit V. 7 wird das Paradox von Erniedrigung und Erhöhung, das in Jes 53 ein Hauptthema ist, bereits angekündigt. Die erneute Sendung als Bund für das Volk (vgl. 42,6) steht im Mittelpunkt von V. 8–12. Der hymnische Vers 13 beschließt mit dem Lobaufruf an Himmel und Erde diese Szene. Der Höraufruf an Inseln und Völker (V. 1; vgl. 41,1) steht wie eine Überschrift nicht nur über diesen Versen, sondern über dem gesamten sechsten Teil des Jesajabuches (Jes 49–54). Was sich hier zwischen dem Knecht und Zion/Jerusalem ereignet, hat nicht nur Auswirkungen auf das Gottesvolk, sondern auch auf die Völkerwelt. Aus Jhwh, der nationalen und Stadtgottheit Judas und Jerusalems, ist – nicht zuletzt durch das Gerichtsverfahren gegen die Götter Babels – ein internationaler, ja der Weltengott schlechthin geworden. Ab jetzt kann die Völkerwelt nicht mehr außen vor bleiben, wenn Israel über sich und seinen Gott nachdenkt. Entgegen der Ansicht einiger Ausleger sprengt die Rede vom »Mutterschoß« und vom »Leib meiner Mutter« nicht den Rahmen der kollektiven Deutung des Knechts51, denn die Rede von Israel als göttlicher Schöpfung von Mutterschoß an ist mehrfach belegt (44,2.24; 46,3; 48,8). Die prophetische Funktion des Knechts und damit des Gottesvolkes für die Völker ist keine revolutionäre Neuheit, sondern war bereits in seinem Werden und Wachsen angelegt. Wie alle wahren Propheten, so ist auch dieser Knecht mit dem Wort Gottes als seiner einzigen Waffe ausgerüstet. Das Wort »Israel« in V. 3b hat viel exegetischen 51 Vgl. u.a. Delitzsch 1889, S. 501.
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Streit hervorgerufen. Denn wie kann der Knecht »Israel/Jakob« sein und zugleich eine Aufgabe an »Israel« wahrnehmen? Syntaktisch gesehen kann »Israel« an dieser Stelle wegen der nachfolgenden Relativpartikel kein Vokativ sein, sondern muss neben »mein Knecht« als zweites Prädikat gelten: »mein Knecht bist du, Israel, an dir will ich mich verherrlichen«. Möglicherweise ist »Israel« in einem sehr frühen Stadium der Textwerdung hier eingefügt worden, um die gewöhnlich vorliegende Doppelung von »Jakob« (48,20) und »Israel« (49,3) zu gewährleisten. Wie dem auch sei, der Beleg von »Israel« in 49,3b spricht keineswegs gegen eine kollektive Deutung des Knechts. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang der Gedanke von Rainer Kessler, der in Bezug auf die Spannung zwischen Identität und Nicht-Identität von einer »perspektivische[n] Identifizierung« spricht und dazu ausführt: »Das, was der eved tut, ist zugleich das, was Israel tun soll. Israel, das schon als eved bezeichnet wird, soll werden wie der eved. Dazu gehört insbesondere auch der Auftrag gegenüber den Völkern. Dies ist kein Auftrag, den der eved neben seinem Auftrag an Israel durchführt. Vielmehr kann er den Auftrag an den Völkern nur dadurch erfüllen, dass Israel selbst zum loyalen eved wird«52. Wenn der Knecht bekennt, er habe sich bei der Ausführung seiner Aufgabe schon völlig verausgabt (V. 4; vgl. 40,27–31), so spricht daraus die bittere Erfahrung, nur einen kleinen Teil der Exilierten zur Heimkehr bewegt zu haben. Daran wird er aber nicht irre, sondern weiß, dass Jhwh seine Ehre und Kraft ist. Die Erfahrung des Scheiterns gehört zur prophetischen Sendung in der Nachfolge des Mose (vgl. Num 11,14f.; Elija: 1 Kön 19,4ff.; Jesaja: Jes 8,16–18; Jeremia: Jer 15,10ff.; 20,7ff.). Der Lohn des Knechts besteht nicht etwa in der Erleichterung des Auftrags, sondern in dessen Erweiterung. Als Licht der Völker soll er das Heil bis an die Enden der Erde sichtbar machen (49,6). Das ist nach dem Auftrag von 42,6 auch folgerichtig, denn wenn Jhwh in diesem Knecht seinen Bund aufrechterhält, dann hat das weltweite Bedeutung. Für die Völker heißt das: Wollen sie sehen, wie Jhwh zu seinem Volk steht und wie er an diesem handelt, dann dürfen sie nicht auf die Zerstreuten in Babel und der Diaspora blicken, sondern müssen auf den heimkehrbereiten bzw. heimgekehrten Knecht schauen. In ihm – und nur in ihm – sehen sie Jhwh, der sich an seinem Werk verherrlicht. Im heimkehrenden Knecht werden die Völker der Rettung Jhwhs ansichtig. So wird der Ebed zum »Licht der Nationen«. Auf synchroner Ebene schließt V. 7 unmittelbar an V. 6 an und will die Aussage vom »Licht der Nationen« erläutern. Wie kann Israel zu einem solchen Licht werden, wo es doch von den Völkern missachtet und gedemütigt wird? Der internationale Kontext, in den V. 7 Israels Verabscheuung stellt, wird durch das Wort ywg »Nation« unterstrichen. Das Paradox könnte größer nicht sein: Israel, zum Gottesknecht der Nationen bestellt, wird von den »Herrschenden«, d.h. den Führern der Völker, als »Dienstknecht« missbraucht. Das nachfolgende Bikolon kündigt jedoch eine unerwartete Entwicklung an: »Könige werden [es] sehen und sich erheben, 52 Kessler 2009, S. 153.
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II. Auslegung von Jesaja
Fürsten – sie werfen sich nieder« (vgl. 60,14). Die weltweite Verachtung von Knecht und Zion wird sich in Demutsgesten wandeln, die Könige vor beiden vollziehen. Doch letztlich gilt diese Reverenz nicht ihnen, sondern Jhwh, »der treu ist« (˜ma). Der nachfolgende Abschnitt (V. 8–12) beschäftigt sich nicht mehr mit dem Verhältnis des Knechts zu den Völkern, sondern mit der Beziehung Jhwhs zu ihm als Instrument einer gelingenden Restauration im Land und einer intensivierten Rückkehrbewegung aus der Diaspora. Dass Kyrus mit dem »Du« in V. 8f. angesprochen wäre53, ist weder durch den Gesamtduktus noch durch Einzelformulierungen gedeckt. Zum einen ist der babylonische Kontext nach dem Auszugsbefehl in 48,20f. gänzlich verlassen – Kyrus, Babel, Fremdgötter spielen keine Rolle mehr –, zum anderen ist ein Orakel Jhwhs an den Perser, der ihn gar nicht kannte (vgl. 45,1ff.), wenig sinnvoll. Darin, dass Jhwh den Knecht »behütete« (V. 8), ist dieser ein Heilszeichen für die »Behüteten Israels« (V. 6) (jeweils rxn), d.h. für die aus der Exilskatastrophe Übriggebliebenen! Als ein solches Heilszeichen vergegenwärtigt der Knecht sehr zu Recht den »Bund mit dem Volk«. Wie bereits in 42,6, so bezieht sich »Bund« (tyrb) auch hier auf Jhwhs Selbstverpflichtung zugunsten Israels, so dass mit »Volk« (µ[) nur das Gottesvolk und nicht etwa die gesamte »Menschheit« gemeint sein kann. Gerade nach der Klage über die Erfolglosigkeit (49,4) ist die neuerliche Beistandszusage an den Knecht sehr verständlich. Dass der Knecht dazu bestimmt ist, »das Land aufzurichten« und »verödete Erblandteile in Erbbesitz zu geben« (V. 8b), spiegelt die Hoffnung auf eine gelingende Restauration in der Heimat wider. Der weitere Verlauf des Jesajabuches wird diesbezüglich jedoch in einer großen Enttäuschung enden: Die soziale Zerklüftung wird immer mehr zunehmen, die Gerechtigkeit bleibt weiterhin außen vor (vgl. 56,9–59,20). Spielen beim literarischen Rückgriff auf den Zug durch die Wüste in V. 9–10 mosaische Motive eine Rolle (vgl. 48,21; Ex 17,1ff.), so rückt der Knecht beim Thema der Landverteilung in die Nähe Josuas (vgl. Jos 13). Wie der Auszug aus Babel als ein Weg aus Kerkerhaft, als ein Heraus aus der Dunkelheit ins Licht dargestellt ist (vgl. 42,7.22), so geht auch die Diaspora, insofern sie sich von der Gefangenschaft (51,14) unter den Völkern zum Zion aufmacht, dem Licht entgegen (49,9; 50,10). Wie der auszugsbereiten babylonischen Gola die Hilfe des Exodusgottes angekündigt war (48,20f.), so auch der übrigen Diaspora (vgl. 51,11; 52,11f.). Dass in 49,12 Heimkehrende aus Norden, Westen und Süden genannt sind, der Osten aber fehlt, liegt darin begründet, dass im dramatischen Verlauf dieser Kapitel der Knecht, der hörende und bezeugende Teil der babylonischen Gola, den Rückweg bereits angetreten hat! Wie schon in 42,10–12 und 44,23, so findet sich auch in 49,13 (vgl. 52,9) ein hymnisches Responsorium. Der Bezug zu 44,23 ist durch die wörtliche Aufnahme von »jubelt Himmel« und »brecht, Berge, in Jubel aus« besonders eng. Während 42,10–12 noch keinen Grund für den Jubel nannte, liefern die drei übrigen Texte 53 Siehe u.a. Hermisson 2003, S. 373–380.
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das Lob begründende yk »denn«. Jakobs »Erlösung« (lag) und Israels »Verherrlichung« (rap) in 44,23 korrespondieren nun mit der »Tröstung« (µjn) seines Volkes und dem »Erbarmen« (µjr) über seine Armen (49,13). Die Lobbegründung, dass Jhwh sein Volk »getröstet hat«, nimmt das »tröstet, tröstet mein Volk« von 40,1 auf. Ab jetzt wird »trösten« zu einem Leitwort des göttlichen Handelns, und zwar durchgehend im engen Bezug zu Zion/Jerusalem (51,3.12.19; 52,9; 54,11; 61,2; 66,13). Gleiches gilt für µjr »sich erbarmen«, das auf die Restauration der Stadt und Mutter abzielt (49,10.13.15; 54,8.10; 60,10). Gemeinsam kommen beide Verben nur in 49,13 vor! Die diachrone Beurteilung von 49,1–13 hat mit dem vorausgegangenen Auszugsbefehl von 48,20f. einzusetzen. Wenn dieser – wie oben vorgeschlagen – in die Anfangsjahre von König Darius I. zu datieren ist, dann liegt es nahe, die Reflexion des Knechts über seine bisherige Sendung nicht allzu fern davon einzuordnen. Der Knecht, der Teil des Gottesvolkes, der aus Babel auszieht, trifft bei der Heimkehr auf die Skepsis Zions, auf die Niedergeschlagenheit der Mehrheit, die nicht exiliert worden war.54 Der Rückbezug auf die Zeit in Babel wird dadurch gestützt, dass sich das zweite Gottesknechtslied durch die Übernahme der Aussage vom »Licht der Nationen« in 49,6 explizit auf 42,6 bezieht. Der von dort zunächst nicht übernommene Parallelbegriff »Bund mit dem Volk« wurde in 49,8 von späterer Hand nachgetragen, und zwar sozial-ethisch gefüllt als gerechte Neuverteilung des Erblandes. Insgesamt zeichnen sich die V. 8–12 durch einen Musivstil aus, d.h. sie rekurrieren ständig auf Verse aus dem ersten Gottesknechtslied und anderen Texten.55 V. 7 sticht redaktionskritisch nochmals eigens hervor. Karl Elliger schlug ihn größtenteils Tritojesaja zu.56 Jüngere Studien weisen verstärkt auf die Nähe zum vierten Gottesknechtslied und vertreten die Ansicht, V. 7 sei von dort vor die Erweiterung des zweiten Liedes in V. 8–12 gestellt worden.57 II. Szene Jesaja 49,14–26 Argumentation gegen Zions Zweifel Stand in der vorhergehenden Szene (49,1–13) die Reaktion Jhwhs auf die Enttäuschung des Knechts im Mittelpunkt, so geht es nun um seine Argumentation gegenüber der zweifelnden Stadtfrau Zion (49,14–26). Dieser zweite Teil lässt sich wie der erste in fünf Strophen einteilen (V. 14–15; V. 16–18; V. 19–21; V. 22–23; V. 24–26).58 In allen finden sich direkte Reden (V. 14.18.20.21.22.25), was die Intensität von Rede und Gegenrede unterstreicht. Die Abgrenzung zum Nachfolgenden ist durch die geänderte Anrede in 50,1 gesichert (2. Person maskulin Plural), zumal es dort inhaltlich nicht mehr um das Verlassen der Kinder, sondern um das vermeintliche Verstoßen der Mutter geht. 54 Vgl. Mettinger 1997, S. 153: »the Ebed denotes the exiled élite of the people that may well have a mission to the majority«. 55 Vgl. Kiesow 1979, S. 182f. (»Erweiterungsschicht«). 56 Siehe Elliger 1933, S. 43ff. 57 Vgl. van Oorschot 1993, S. 237; Blum 2009, S. 152. 58 Korpel / de Moor 1998, S. 442–444.
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II. Auslegung von Jesaja
Nach der Kritik Zions in V. 14, Jhwh habe sie verlassen und vergessen, gelangt sie Schritt für Schritt zu ihrer verwunderten Frage, woher denn all die Kinder kämen, die sie weder geboren, noch großgezogen habe (V. 21). Darauf antwortet Jhwh unverzüglich in zwei Orakeln (V. 22–23; V. 24–26). Auf seinen Wink hin werden die Völker und deren Könige Zions Kinder heimbringen, so dass »du erkennen wirst, dass ich Jhwh bin« (V. 23). Das »Feldzeichen« (sn), das Jhwh einst für die assyrischen Truppen zum Kampf gegen Jerusalem aufrichtete (5,26), ist zum Banner für die Völkerwelt geworden, um Zions Kinder aus der Fremde heimzubringen (vgl. 11,10.12). Sollten sich die Völker aber dieser Aufforderung widersetzen, wird Jhwh auch dem Stärksten unter ihnen die Kinder Zions entreißen und die Zwingherren so bestrafen, dass »alles Fleisch erkennt, dass ich Jhwh bin« (V. 26). Erneut zeigt sich, dass Jhwhs Handeln am Knecht und an Zion letztlich auf die weltweite Gotteserkenntnis hin angelegt ist. Das Lexem »sich erbarmen« (µjr) ist eines der Leitworte dieser Kapitel (49,10.13.15; 51,3; 52,9; 54,8.10; 55,7; 60,10). Jhwh tritt Israel und Zion nicht nur als väterliche, sondern auch als mütterliche Gottheit gegenüber: Er ist wie eine Gebärende (42,13–14), trägt seine Kinder von Geburt an (46,3–4) und vergisst den Säugling nicht (49,14– 15). Der verheißene Kindersegen steht im Gegensatz zur Kinderlosigkeit, die Babel getroffen hat (47,8f.). Demgegenüber werden Zion und das Umland die zahlreichen Nachkommen kaum beherbergen können (49,17–20). An der Rückkehr der Kinder Zions aus der Diaspora hängt nicht nur das politische Schicksal Israels, sondern auch die Reputation seines Gottes. Denn sollte Jhwh ihren Auszug aus den Völkern, die sie dominieren, nicht durchsetzen können, würde er an seinem eigenen Anspruch, der einzig rettende Gott zu sein, trotz des Untergangs von Babel doch noch scheitern. Da nichts Geringeres als das »Ich bin Jhwh« auf dem Spiel steht, präsentiert er sich im Schlussvers (V. 26) als mächtiger Held, der dem altorientalischen Kontext entsprechend auch zu großer Grausamkeit fähig ist. Dass solche Sprachbilder heutigen Gottesvorstellungen nicht entsprechen, ist mit Nachdruck zu unterstreichen. Gerade deshalb dürfen sie nicht übergangen oder verharmlost werden.59 In diachroner Hinsicht ist wohl 49,14–21 zum ältesten Teil der aus Heilsorakel und Disputation bestehenden Argumentationskette zu zählen, wo Zion sowohl als »Gelände« als auch als »Mutter« dargestellt ist.60 Die erstaunte Frage, woher denn die neue Kinderschar komme, verweist aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Zeit der zweiten oder dritten Exilsgeneration.61 Der nachfolgende Spruch (V. 22–23) beantwortet diese Frage. Dabei sind Anleihen aus 60,4.14.16; 62,10; 66,12 festzustellen, so dass hier ein späterer Einschub vermutet wird.62 Wohl noch späterer Provenienz sind die V. 24–26, die sich der Frage zuwenden, was denn geschieht, wenn die Völker die Kinder Zions nicht ziehen lassen sollten. Diese 59 Vgl. Obermayer 2014. 60 Werlitz 1999, S. 302. 61 Steck 1990, S. 45f. 62 Werlitz 1999, S. 309.
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Verse stellen klar, dass Jhwh sich seine Beute, d.h. die Heimkehrer, von niemandem – und sei es auch ein noch so mächtiger Gegner – streitig machen lässt. Die Drastik des Vernichtungsgedankens von V. 26 hat in den bisherigen Texten von Jes 40ff. kein Pendant. Das Epitheton Jhwhs als »Starker Jakobs« (bq[y ryba) findet sich nur noch in Gen 49,24; Jes 60,16 (vgl. 1,24); Ps 132,2.5. So »scheint es sich bei diesem Text um einen späten redaktionellen Text zu handeln, der, obschon er Stil und Sprache seiner Vorgaben imitiert, sich vor allem durch seinen Inhalt als solcher ausweist«.63 Theologischer Ertrag zum I. Akt (Jes 49,1–26) Die Kapitel 49–54 zeichnen sich durch den stetigen Wechsel der Aktanten »Knecht« und »Zion« aus, was nicht nur für ihre literarische Gestaltung, sondern auch für ihre theologische Zielsetzung von größter Wichtigkeit ist. Die seit Bernhard Duhm praktizierte isolierte Betrachtung der Gottesknechtstexte zerstört dieses Bedeutungspendant. Der Knecht, an dem Jhwh seine Herrlichkeit nach der Intervention des Kyrus vor aller Welt zeigen will, ist die Gemeinde der Heimkehrer. In ihrem freudigen Rückweg zum Zion, nach Jerusalem wird sie zum Licht der Völker, zum Heilszeichen für alle Nationen, dass Jhwh Rettung und Befreiung durchsetzen kann und will (49,6). Zugleich ist dieser Knecht die Verleiblichung der weiterhin gültigen, durch die Exilskatastrophe nicht aufgehobenen Bundeszusage Jhwhs für sein Volk (49,8). Der Heimkehrperspektive in der Gestalt des Knechts entspricht die Ankunftsperspektive in der Gestalt der Stadtfrau Zion/ Jerusalem. Wie kann die nachexilische Restauration gelingen, wenn das weiterhin zerstörte Gemeinwesen nicht an die erneute Heilsinitiative Jhwhs glauben will, sondern sich in der Enttäuschung einmauert, Gott habe es verlassen und vergessen (49,14)? Wer den Tröstern nicht vertraut, bleibt ungetröstet und in tiefer Skepsis letztlich unerreichbar. Die Heilsworte an Zion/Jerusalem wollen diese Negativität aufbrechen, so dass sich die Erkenntnis wieder Bahn brechen kann, dass niemand beschämt werde, der auf Jhwh hofft (49,23). II. Akt Jesaja 50,1–51,8 Überzeugungsarbeit an Zions Kindern I. Szene Jesaja 50,1–11 Der Knecht und die Jhwh Fürchtenden Diese Kompositionseinheit ist erneut in zwei Szenen einzuteilen. In der ersten geht es um den Knecht, die Jhwh Fürchtenden und ihre Gegner (50,1–11), in der zweiten um den Aufruf an die Jhwh Suchenden (51,1–8). Anders als zuvor ist in diesem Akt nicht mehr Zion angeredet, sondern das Kollektiv ihrer Kinder (vgl. »eure Mutter« in 50,1). Die Adressaten tauchen in der Erweiterung (50,10–11) des dritten Gottesknechtsliedes (50,4–9) erneut auf, dann aber nicht mehr als homogene Einheit, sondern getrennt in diejenigen Kinder Zions, die Jhwh fürch63 Werlitz 1999, S. 313.
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II. Auslegung von Jesaja
ten und auf die Stimme des Knechts hören (50,10), und den Gegnern, die Brandpfeile anzünden, aber denen durch Gottes Eingreifen das Ende bevorsteht (50,11). Die zweite Szene (51,1–8) setzt mit einem Höraufruf an die »Ihr«-Gruppe ein, doch spricht jetzt nicht mehr Jhwh (wie in 50,1–3), sondern der Knecht (51,1–3), der sich an die Gott Suchenden wendet (51,1a). Auch diese Szene endet wie die vorherige mit der Spaltung in diejenigen, die Gottes Gerechtigkeit kennen und die Tora im Herzen tragen, und denen, die schmähen und beschimpfen (51,7). Doch anders als zuvor werden die Gegner nun keiner direkten Anrede mehr gewürdigt. Allein ihr Untergang wird in der 3. Person Plural beschrieben, und zwar mit dem gleichen Bild des von Motten zerfressenen Kleides, mit dem zuvor auch der Knecht das Ende seiner Feinde ankündigte. Seine Bedrängnis und Errettung sind das Vorbild für die Jhwh und seine Gerechtigkeit Suchenden, welche die Tora in ihrem Herzen tragen. Wie der Knecht dürfen auch sie sich des göttlichen Beistands angesichts ihrer Gegner gewiss sein. Stand in 49,14–16 Zions Enttäuschung im Mittelpunkt, dass sie von Jhwh, ihrem Ehemann, verlassen worden sei, so geht es nun um die Zweifel ihrer Kinder. Der Adressatenwechsel reicht bis zum Beginn des sogenannten Imperativgedichts in 51,9ff. Anders als zuvor steht nun aber nicht das »Sprechen« (rma), sondern das »Hören« ([mv) im Zentrum (50,4.10; 51,1.7). Jhwh verwahrt sich gegen den Vorwurf der Kinder Zions, er habe durch die Exilsereignisse bewiesen, sich von ihrer Mutter getrennt zu haben. Diese Kritik sei gegenstandslos, kontert Jhwh, denn es gäbe keinen Scheidebrief, den er ausgestellt hätte. Dass er seine Frau Zion »fortgeschickt« (jlv) hat, gilt als unbestritten (vgl. 54,6–8), nicht aber, dass er sie »entlassen« hätte, denn ein solcher Beziehungsabbruch wäre rechtlich nicht mehr zu heilen gewesen. Die Argumentation orientiert sich an der mosaischen Tora. Danach darf ein Mann seine entlassene Frau nicht mehr zurücknehmen, nachdem sie eines anderen Frau geworden ist (Dtn 24,1–4; vgl. Jer 3,1). Das trifft aber auf Jhwh und Zion nicht zu, denn es gibt keinen Scheidebrief. Und dass Zions Kinder in der Fremde zerstreut sind, liegt nicht an ihrer Mutter, sondern an ihnen selbst. Wegen ihrer Vergehen und bösen Taten seien sie in der Diaspora gelandet (50,1). Auch die Klage, Jhwh erweise sich als zu schwach, um die Zerstreuung zu beenden, sei ungültig, denn gerufen habe er schon, aber niemand habe geantwortet (50,2)! Der Vorwurf, seine Hand sei zu kurz zum Retten (50,2; 59,1; vgl. Num 11,23), sei geradezu absurd, da er das Rettungsgeschehen am Schilfmeer immer wieder aufs Neue aktivieren könne. Die vier Verben in der 1. Person unterstreichen dies: »Ich lege trocken […] ich mache […] ich kleide […] ich mache« (V. 2bα–3). Demgegenüber unterbricht das Bildwort von den stinkenden Fischen in V. 2bβ die Rede Gottes in der 1. Person Singular. In diachroner Hinsicht ist diese Doppelzeile wohl das Ergebnis späterer Schriftgelehrsamkeit, die hier das Motiv der »sterbenden Fische« und des »stinkenden« Nils aus der ersten Plage Ägyptens (Ex 7,18) eingearbeitet hat. Das wird noch wahrscheinlicher, wenn man annimmt, die Trauerkleidung des Himmels in V. 3 nehme auf die neunte Plage Bezug (Ex 10,21– 23).
VI. Teil Jesaja 49–54 Der Knecht und Mutter Zion
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Noch stärker als die anderen Gottesknechtslieder ist das dritte Lied (50,4–9) mit seinem literarischen Kontext verwoben. Dafür sorgt besonders die Erweiterung V. 10–11, welche die in der »Ich«-Form sprechende Gestalt von V. 4–9 ausdrücklich als »Knecht« Gottes identifiziert. Die Stellung hinter der Disputation von V. 1–3 ist für die Auslegung des dritten Gottesknechtsliedes von entscheidender Bedeutung, denn falls Jhwh Mutter Zion tatsächlich verstoßen hätte, würde zugleich das Ziel des Knechts hinfällig werden, Licht der Völker zu sein. Diese Aufgabe kann der Knecht, d.h. die Knechtsgemeinde nur in engster Verbindung mit der Stadtmutter Zion erfüllen. Wer dem Knecht aber nicht folgt, sondern ihm sogar aggressiv gegenübersteht, lehnt letztlich auch Zions Zielbestimmung als Licht der Völker ab! Formkritisch betrachtet ist das dritte Gottesknechtslied ein Text sui generis, der mit keiner bekannten Redegattung vollkommen übereinstimmt. Zwar sind Elemente der Einzelklage erkennbar wie die Anfeindungen durch die persönlichen Gegner (V. 6) und das Vertrauensbekenntnis (V. 7), doch fehlen die Bitte um das Eingreifen Gottes und der vorausgreifende Dank für dessen Hilfe. Am ehesten gleicht das dritte Gottesknechtslied in seinem Kernbestand, d.h. ohne die Erweiterungen der V. 10–11, einem Vertrauensbekenntnis.64 Wegen der Aufnahme prophetischer Stilisierungen lassen sich diese Verse auch als »Konfession« beschreiben65, durch die der Knecht in eine Reihe mit Mose, Jeremia und Ezechiel gestellt wird. Dass hinter dieser Figur keine Einzelperson, sondern ein Kollektiv steht, findet seine Bestätigung durch den zweifachen Plural µydwml »Schüler« in V. 4 (»eine Zunge von Schülern«; »um zu hören wie Schüler«). Wie Jesaja und seine »Schüler« auf die Offenbarung des strafenden Gottes hofften (8,16–18), damit sich ihre Gerichtsverkündigung als richtig erwiese, so erwartet die Knechtsgemeinde die baldige Durchsetzung des Heils, damit sich ihr prophetisches Wort vom Ende der Not und vom Wiederaufbau gegen alle Zweifler und Gegner bewahrheite. Wegen der von Gott verliehenen »Zunge von Schülern« wird keine gegnerische Zunge den Knecht bzw. die Knechte ins Unrecht setzen können (54,17). Dabei geht es in erster Linie nicht um eine »gebildete Zunge« (vgl. LXX γλῶσσαν παιδείας; Vulgata »linguam eruditam«), sondern um die Argumentationsfähigkeit, die der Knecht von seinem göttlichen Lehrer lernt. Im Hintergrund steht die altorientalische Unterrichtspraxis, bei der die Schüler den Lernstoff dem Lehrer immer wieder nachsprachen und ihn sich so aneigneten. Es ist der Knecht, der täglich in die Schule Gottes geht, und somit die Kinder Zions und die »Schüler Jhwhs« (54,13) repräsentiert. Die kollektive Deutung des Knechts wird an dieser Stelle nahezu unabweisbar: »Als ›Jünger Jahwes‹ repräsentiert daher der Gottesknecht die Erlösten des neuen Jerusalem«.66 64 Vgl. Elliger 1933, S. 34: »prophetischer Vertrauenspsalm«. 65 Weippert 1989, S. 104ff. 66 Haag 1990, S. 21.
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II. Auslegung von Jesaja
Anders als Jeremia, der nicht immer ein Gotteswort zu Hand hatte, sondern mitunter darauf warten musste (vgl. Jer 28,10f.; 42,7), und im Gegensatz zu Ezechiel, der lange Jahre in seinem Prophetenamt verstummte, bis ihm Jhwh nach dem Fall Jerusalems den Mund wieder öffnete (Ez 3,26; 24,27; 33,22), steht der Knecht in kontinuierlicher Hör- und Empfangsbereitschaft. Übertroffen ist dieses innige Verhältnis nur durch Mose, den Vater aller Propheten, mit dem Jhwh von Angesicht zu Angesicht redete (Ex 33,11), von Mund zu Mund sprach (Num 12,8) und den er von Angesicht zu Angesicht kannte (Dtn 34,10). Doch steht der Knecht auch mit Mose in Verbindung, denn nach Dtn 18,18 wird Jhwh für jede Zeit aufs Neue einen Propheten wie jenen erstehen lassen, dem er seine Worte in den Mund legt.67 Die Körperteile »Zunge« und »Ohr« bei der prophetischen Zurüstung aus V. 4 werden in V. 6 durch »Rücken«, »Wange« und »Gesicht« ergänzt, die der Knecht seinen Gegnern darbietet. Jene werden als »Schlagende« (hkn hif. Part.) bezeichnet. Das Partizip Hofal wird in 53,4 den von Gott geschlagenen Knecht bezeichnen! In der Prophetie erinnert dies an die Schläge, die Jeremia erdulden musste (Jer 20,2; 37,15; vgl. dazu 2 Chr 25,16). Indem parallel zum Rücken die »Wange« genannt wird, ist die gesamte Person – von hinten und von vorn – den Schmähungen ausgesetzt. Hätten die Schläge auf den Rücken noch als begrenzte Züchtigungsmaßnahme verstanden werden können (vgl. Dtn 25,2–3), so ist das »Raufen« der Wange – gemeint ist wohl das Ausraufen des Bartes – nur als öffentliche Demütigung zu verstehen.68 Die Singularität des Vorgangs besteht gar nicht in der Demütigung an sich, sondern darin, dass sich der Knecht ihr freiwillig aussetzt. So verbirgt er sein Gesicht nicht vor Beschimpfung und Speichel. Dies wird im vierten Gottesknechtslied variiert, wo der Ebed als jemand bezeichnet wird, »vor dem man das Gesicht verbirgt« (53,3). Der Kontrast zu Jeremias heftigem Protest ist augenscheinlich: »Hier ist wirklich die Klage des Mittlers, die bei Jeremia so leidenschaftlich, so wild erhoben wird, gestillt. Hier ist etwas Grundlegendes gewandelt, etwas Neues ist in die Geschichte Gottes mit seinem Volk eingetreten: aus der Klage des Mittlers, der wegen seines Auftrages angegriffen und gelästert wird, erwächst zum ersten Mal das bejahende Annehmen dieses Leides«69. Aus der ewigen »Schande«, die Jeremia seinen Feinden wünschte (Jer 20,11), ist die freiwillig angenommene geworden.70 Der Knecht weiß sich in aller Anfeindung bei Gott geborgen. Die Aussage Jhwhs, er habe ihn »in Gerechtigkeit« gerufen, ihn bei der Hand ergriffen und behütet (42,6), findet ihre Bestätigung darin, dass sich der Knecht ganz dem anvertraut, der ihm »Recht verschafft« (50,8). Wenn Gott aber auf seiner Seite ist, kann es niemanden geben, der ihn für schuldig erklärt (V. 9a). Denn wer wollte es mit Jhwh aufnehmen? In V. 9b werden die Gegner gar nicht konkret benannt, 67 Vgl. Baltzer 1999, S. 428ff. 68 So rauft Nehemia in Neh 13,25 den Schuldigen das Haar, während sich Esra selbst Kopf und Bart rauft (Esra 9,3). 69 Westermann 1981, S. 186. 70 Vgl. Sommer 1998, S. 64f.
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sondern heißen nur noch pejorativ »sie alle«. Sie alle zerfallen wie ein Kleid, das die Motten zerfressen (vgl. 51,8). Mit V. 10–11 folgt eine zweigliedrige Kommentierung des dritten Gottesknechtsliedes, in der nicht mehr der Knecht redet, sondern über ihn gesprochen wird (V. 10a: »Stimme seines Knechts«). Als Sprecher ist vom impliziten Autor auszugehen, der die Adressaten vor die Entscheidung stellt, dem Knecht zu folgen oder sich ihm und seinem Auftrag zu verweigern. Somit »handelt es sich bei Jes 50,10–11 um ein Mahn- und ein Gerichtswort, die beide jeweils einen unterschiedlichen Adressaten haben: Das Mahnwort richtet sich an Gottesfürchtige, Hörer auf die Stimme des Knechts, die im Dunkel leben, das Gerichtswort an Menschen, die Brandpfeile entzünden«.71 Die Furcht Jhwhs entscheidet sich im Hören auf die Stimme seines Knechts. Seine Gegner aber werden mit ihren Brandpfeilen vom eigenen Feuer vertilgt (V. 11). Was die diachrone Beurteilung betrifft, so ist sich die Forschung in diesem Fall durchweg einig, dass die Szene (V. 1–11) keiner einheitlichen Hand zuzuweisen ist. Sie ist nicht das Werk eines einzigen Autors, sondern das Ergebnis mehrerer Hände, die sowohl Tradiertes als auch Eigenes zu einer Kompositionseinheit zusammenfügten. Die frühere Aufspaltung in kleine und kleinste Sprucheinheiten vernachlässigte die gemeinsame Aussageabsicht. Zwischen Diskussionswort (V. 1–3), Vertrauenspsalm (V. 4–9) und Kommentierungen (V. 10–11) muss weiterhin unterschieden werden, aber nicht so, dass die gemeinsame Pragmatik gar nicht in den Blick kommen kann. Die literarische Klammer durch das »Ihr/Euch« (V. 1.10) fügt das dritte Gottesknechtslied in den jetzigen Kontext ein. V. 11 ist wohl noch später, aufgrund des Motivs vom vernichtenden Feuer möglicherweise erst in einer sehr späten Zeit der Buchentwicklung hinzugekommen (vgl. 66,24). Nun wird um das Ja zum Knecht gar nicht mehr geworben, vielmehr werden die Gegner der radikalen Vernichtung anheim gegeben. II. Szene Jesaja 51,1–8 Aufruf an die Jhwh Suchenden Kaum eine andere Passage ist so gleichmäßig strukturiert und derart aufeinander abgestimmt wie diese acht Verse, die im engen Verbund mit 50,1–11 auszulegen sind. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sondern von Karl Budde schon vor über hundert Jahren eingebracht worden. Seine ablehnende Haltung gegenüber der Deuterojesaja-These von Bernhard Duhm hat ihm für lange Zeit wenig Sympathie eingebracht. Zur vorliegenden Perikope meint Budde: »Es bleibt dabei, dass alles, was in 50,4–9 von dem Knechte ausgesagt wird, in c. 51,1–8 von dem Volke zu lesen steht.«72 Prägend sind in dieser Szene die Imperative (V. 1[2x].2.4[2x].6[2x].7), die von zwei Prohibitiven (V. 7b) gefolgt werden. Alle diese Aufforderungen richten sich an ein und dieselbe »Ihr«-Gruppe, die gleich zu Beginn als »Nachjagende 71 Werlitz 1999, S. 330. 72 Budde 1900, S. 18.
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II. Auslegung von Jesaja
der Gerechtigkeit« und »Jhwh Suchende« bezeichnet wird (V. 1a). Die Anrede »Kenner der Gerechtigkeit« am Schluss (V. 7a) bildet dazu eine bewusst gesetzte Klammer. Vom Leseverlauf her können damit nur jene gemeint sein, die sich zum Knecht bekennen und sich als Jhwh Fürchtende in die Schule Gottes begeben. Mit der Anrede an ein weibliches »Du« in 51,9 setzt danach ein neuer Akt im literarischen Drama ein. Nicht nur formal, sondern auch semantisch sind die vier Strophen (V. 1–3; V. 4–5; V. 6; V. 7–8) eng aufeinander abgestimmt. Alle durchzieht das Leitwort qdx÷hqdx »Gerechtigkeit« (V. 1.5.6.7.8), gefolgt von den theologisch ebenfalls zentralen Begriffen hrwt »Tora« (V. 4.7), fpvm »Recht« (V. 4; »richten« in V. 5) und h[wvy »Rettung« (V. 6.8). All das zeigt: Dies ist eine wichtige Lehrstunde, zu der Jhwh die ihn Suchenden einlädt! Erneut fügen sich gattungsmäßig unterschiedliche Elemente (V. 1–3: Disputationswort; V. 4–5: Heilsankündigung; V. 6: imperativisch eingeleitete Heilsankündigung; V. 7–8: Heilsorakel) zu einer Gesamtaussage, was auf einen kompositorischen Gestaltungswillen schließen lässt. Die Parallele zum vorangehenden Gottesknechtslied liegt auf der Hand: Wie der Knecht sich nicht vor denen fürchten soll, die gegen ihn angehen, so sollen sich die Angesprochenen nicht vor den Schmähungen feindlicher Menschen ängstigen. Ihre Gegner vergehen wie ein Kleid, das von Motten zerfressen wird (51,8), was wörtlich aus 50,9 übernommen wurde. Die Metaphorik von »Fels« und »Brunnenschacht«, aus denen die Adressaten herausgemeißelt seien (V. 1), bezieht sich nicht auf »Abraham« und »Sara«, wie dies V. 2 nahelegen könnte, sondern auf Jhwh und Zion. Denn »Fels« (rwx) wird im AT nie für einen Menschen gebraucht, wohl aber für Gott selbst bzw. für den Schutz, den er gewährt (1 Sam 2,2; 2 Sam 22,2.47; Ps 18,3.32.47; 19,15; 28,1; 31,3; 62,3.7.8; 71,3; 73,26; 78,35; 89,27; 92,16; 94,22; 95,1; 144,1; Jes 17,10; 26,4; 30,29; 44,8; Hab 1,12). Erneut treffen sich die Sprache des Jesajabuches und des Psalters, wobei zusätzlich die vielen Belege für Jhwh als »Fels« im Lied des Mose hervorstechen (Dtn 32,4.15.18.30.31.37). Die Rede von Gott als »Fels« stammt aus der Poesie und zielt auf seine Unvergleichbarkeit ab (Dtn 32,31; 1 Sam 2,2; 2 Sam 22,32; par. Ps 18,32; Jes 44,8). Prägend ist nicht etwa der mythische Hintergrund der Gottheit als Erzeuger, sondern die Vorstellung von Jhwh als fester Burg und verlässlicher Hilfe. Durch die Exilierung der Kinder Zions, das gewaltsame Wegbrechen, war ihr Grundvertrauen zutiefst gestört. Dies soll sich nun mit Blick auf »Fels« und »Brunnenschacht« ändern. Letzterer steht als Realsymbol für die Wasser- und Lebensquelle, die Zion in der Mitte von Welt und Schöpfung darstellt (Ps 46,5; 65,10; 87,7; Jes 33,21; Ez 47,1–12; Joel 4,18; vgl. Gen 2,10–14). Blickt 51,1 auf den Ort, aus dem die Exilierten herausgehauen wurden, so geht es in V. 2 um die Erzeltern, die aller Krisen zum Trotz in ihrem Vertrauen auf Segen und Mehrung zum bleibenden Fundament für das Gottesvolk geworden sind. Die Verfasser rekurrieren hier auf eine Abrahamsüberlieferung, die erzählerisch noch stark im Fluss war, bevor sie sich in den Überlieferungen der Genesis endgültig literarisch niederschlug. Dabei gehört gerade die Verbindung von Segen
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und Mehrung nicht zu den ältesten Überlieferungsstoffen, sondern zu späteren Schichten, wie dies an der priesterschriftlichen in Gen 28,3 abzulesen ist: »El Schaddai segne dich und mache dich fruchtbar und vermehre dich, dass du zu einer Schar von Völkern werdest«. Dass in exilisch-nachexilischer Zeit – und erst ab dieser Epoche – von Abraham nicht nur erzählt, sondern sehr kontrovers mit ihm argumentiert wurde, zeigt Ez 33, wo der Prophet eine seiner Ansicht nach irrige Auffassung über Abraham zitiert. Sie stammt von denjenigen, die den Anspruch der Exilierten ablehnen, nach der Rückkehr ein Anrecht auf den heimatlichen Boden zu haben: »Menschensohn, die Bewohner jener Trümmerstätten im Land sagen: Abraham war ein Einzelner, und er nahm das Land in Besitz; wir aber sind viele, uns ist das Land zum Besitz gegeben!« (Ez 33,24). Für die einen war Abraham, der als Einzelner aus Ur in Chaldäa den Weg ins verheißene Land angetreten und es in Besitz genommen hatte, das schlagende Argument, um ebenfalls aus Chaldäa aufzubrechen und in der Heimat die eigenen Besitzansprüche geltend zu machen. Für die Nicht-Deportierten lieferte der Patriarch hingegen das Argument a minore ad maius, dass ihnen, »den Vielen«, das Land gehöre, und nicht den wenigen Rückkehrern in Nachfolge eines »Einzelnen«, wie Abraham einer gewesen war. Am Ende dieser Szene sind aus den »Nachjagenden der Gerechtigkeit« (51,1) die »Kenner der Gerechtigkeit« (V. 7) geworden, das Volk, das Jhwhs Tora im Herzen trägt. Welch ein Kontrast zur Skepsis der Kinder Zions am Beginn dieses Aktes in 50,1, die meinten, Jhwh habe Zion aus der Ehe entlassen und sie selbst in Schuldknechtschaft verkauft! Bei aller Parallelität von 50,1–11 und 51,1–8 darf aber ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Szenen nicht übersehen werden: Während die erste Szene im Bereich des Gottesvolkes bleibt, weitet sich die Perspektive in der zweiten auf die Völker aus. Jhwhs Volk soll aufmerken, wie von Jhwh Tora und Recht zum Licht der Völker ausgehen (51,4). Damit wird die Vermittlerrolle des Knechts aus den ersten beiden Gottesknechtsliedern (42,1ff.; 49,1ff.) nicht hinfällig, aber sie wird neu justiert und an Zion und ihre Kinder gebunden. Woran sollte die Völkerwelt das »Recht« (fpvm), die heilvolle Weltordnung erkennen, wenn nicht an dem Volk, das Jhwhs Tora im Herzen trägt? Für die diachrone Einordnung von 51,1–8 ist die Beobachtung wichtig, dass diese Verse semantisch und thematisch die Szene 50,1–11 voraussetzen. Dabei wird nicht nur auf das dritte Lied zurückgegriffen (vgl. 51,8 mit 50,9), sondern auch auf die ersten beiden Gottesknechtslieder (vgl. »Licht der Völker« in 51,4 aus 42,6; 49,6).73 Ohne die Aufforderung zur Entscheidung für oder gegen den Knecht in der Erweiterung von 50,10–11 wäre die Anrede an die »Ihr« in 51,1–8 gar nicht zu verstehen. Ebenso nimmt die Diskussion um die Berufung Abrahams und Saras in 51,1–3 den Disput um den Scheidebrief »eurer Mutter« auf. Im Hintergrund beider Diskussionsworte steht die Frage, ob eine nachexilische Restauration überhaupt zustanden kommen könne, wo doch die Fundamente des 73 van Oorschot 1993, S. 202: »Blütenlese aus den EJL«.
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II. Auslegung von Jesaja
Gottesvolkes zutiefst erschüttert seien. Da Jhwh aber aus Abraham und Sara ein großes Volk entstehen ließ, darf auch das Faktum der geringen Bevölkerung in nachexilischer Zeit kein Argument für die Skepsis am Heilswillen und der Heilsmächtigkeit Jhwhs sein. Wie Jhwh dem unfruchtbaren Schoß Saras Nachkommen erstehen lassen konnte, so wird er Zions Wüste zum Garten Eden machen, wo Jubel, Freude, Danklied und Musik herrschen! Erneut ergibt sich so ein Argument für die Hypothese von Tempelsängern als Verfasser dieser Kapitel. Denn wer sonst hätte das für die Gattung der Loblieder konstitutive Element der perfektischen Lobbegründung in die Disputation gegen den nachexilischen Zweifel einbringen sollen? Ein weiterer Vers, der unter diachronen Gesichtspunkten besonders zu bedenken ist, liegt mit V. 6 vor. Er setzt zwar auch mit einem pluralischen Imperativ ein, doch fehlt ihm das anschließende yla »auf mich« (vgl. V. 1.4.7). Außerdem ist er auch wegen seiner Länge auffällig (Bikolon/Trikolon/Bikolon). Inhaltlich ist nicht mehr nur die Vernichtung der Gegner in Szene gesetzt (wie 51,8; vgl. 50,8), vielmehr werden Gottes Rettung und Gerechtigkeit im Kontrast zur Vergänglichkeit von Himmel, Erde und ihren Bewohnern hervorgehoben. Von einem Eingreifen, das bwrq »nahe« wäre (vgl. V. 5), ist hier keine Rede mehr. Wegen dieses Stichwortes wird 51,1–8 im Kernbestand von manchen Auslegern der sogenannten »Naherwartungsschicht« zugewiesen.74 Die Gemeinde habe sich zusehends bedrängt gefühlt, da die Erfüllung der prophetischen Verheißungen immer länger auf sich warten ließ. Ob es sich hierbei tatsächlich um eine durchgehende redaktionelle Schicht handelt, bleibt diskutabel. Auf jeden Fall hat die Erwartung der Durchsetzung von Recht und Rettung keine politischen Großereignisse mehr im Blick, sondern die Gerechtmachung des Knechts vor den Gegnern im Inneren sowie Zions vor den Völkern nach außen. Woran sich die Gerechtmachung Zions entscheidet, ist ihre Restauration und die Mehrung ihrer Bevölkerung in nachexilischer Zeit. Insgesamt gesehen legt sich das Fazit nahe, »daß V. 3 und V. 6 mit hoher Wahrscheinlichkeit 51,1–8 nicht ursprünglich zugehört haben«75. Theologischer Ertrag zum II. Akt (Jes 50,1–51,8) Die beiden Szenen dieses literarischen Aktes sind erneut zusammen wahrzunehmen. Der Knecht, der heimgekehrte Teil der Gola, gerät je länger desto stärker unter Druck, denn er hat sich mit der weiterhin grassierenden Skepsis auseinanderzusetzen, Jhwh habe sich von Zion/Jerusalem getrennt wie ein Mann, der seine Frau aus der Ehe entlässt. Wer auf diese Weise die nachexilische Restaurationsbemühungen torpediert, missachtet zum einen die Verlässlichkeit, zum anderen die Stärke Gottes, der durch sein Drohen das Meer trockenlegen und Flüsse zur Wüste machen kann (50,1–3). Der Knecht, der sich bei aller Anfeindung in 74 U.a. Hermisson 2003, S. 144.164f.191ff.; van Oorschot 1993, S. 201ff. 75 Werlitz 1999, S. 158.
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seinem Gott geborgen weiß, ist selbst der Beweis für den Rettungswillen und die Rettungsmacht Jhwhs. Seine Gegner werden mit Sicherheit scheitern, ihre Brandpfeile werden sie selbst versengen (50,11). Es wird immer deutlicher, dass die Adressaten eine Entscheidung für oder gegen den Knecht fällen müssen: tertium non datur! Von jetzt an bestimmt diese Auseinandersetzung das Jesajabuch bis zum Ende. Nur wenn und insofern eine Gemeinde entsteht, welche die Tora im Herzen trägt (51,7), kann diese zum Licht der Völker werden. Ohne gelebte Tora im Gottesvolk kann den Nationen kein Licht leuchten! Dazu ist aber notwendig, dass sich möglichst viele der zerstreuten Kinder aus Babel und der gesamten Diaspora auf den Weg zur Mutterstadt Jerusalem machen. Dies wird das zentrale Thema des folgenden Aktes sein. III. Akt Jesaja 51,9–52,12 Jhwhs Rückkehr zu Zion und die Heimkehr der Zerstreuten Die doppelten Imperative der Wurzel rw[ »aufwachen/erwachen« (51,9.17; 52,1) – immer in der 2. Person feminin Singular – prägen diese Texteinheit und trugen ihr in der Forschung die Bezeichnung »Imperativgedicht« ein. Der Akt wird durch die Imperative jeweils in Anfangsstellung in drei Szenen gegliedert: 51,9–16; 51,17–23; 52,1–12. Die erste Aufforderung »Wach auf, wach auf!« (rw[ qal) richtet sich an den »Arm Jhwhs« (51,9), die letzte zu Beginn der dritten Szene an »Zion« (52,1). Die mittlere Szene setzt mit dem doppelten Imperativ an die Adresse Jerusalems ein: »Erwache, erwache!« (rw[ hitpo.: 51,17). Charakteristisch ist ebenfalls, dass Jhwh auf die Imperative ohne Verzögerung und in direkter Rede reagiert (51,12–16; 51,21–23; 52,3–6). Damit wird die Nähe unterstrichen, die zwischen Jhwh und denen besteht, die ihn suchen und seiner Gerechtigkeit nachjagen (51,1). Am Ende dieses dreigliedrigen Aktes schließt sich mit 52,11 ein weiterer Imperativ mit der doppelten Verwendung von rws »weichen« an, der sich zuerst an alle Adressaten wendet, dann an eine spezielle Gruppe, nämlich an die, welche die Gefäße Jhwhs tragen (52,11b). Eine Spezifizierung des Befehls »Weicht, weicht, zieht aus!« (V. 11a) ist mit »von dort« (µvm) gegeben, was sich aus der Perspektive Zions/Jerusalems nicht nur auf Babel, sondern auf die Orte der Zerstreuung insgesamt bezieht. I. Szene Jesaja 51,9–16 Gebetsruf an Jhwh und seine Antwort Diese Szene setzt mit dem zweifachen und danach wiederholten Imperativ »wach auf« ein. Die Sprecher dieses Gebetsrufes an den »Arm Jhwhs«, d.h. an die kraftvolle Gottheit, können dem Textverlauf entsprechend nur diejenigen sein, die der Gerechtigkeit nachjagen, Jhwh suchen und die Tora im Herzen tragen (51,1.2.4.6.7). Die Sprachlosigkeit zwischen Gott und den Adressaten (vgl. 50,2: »Warum habe ich gerufen und niemand antwortet?«) ist damit aufgehoben. Doch nicht der Gebetsruf selbst nimmt den breitesten Raum ein, sondern die Begrün-
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dung, die in Form rhetorischer Fragen angefügt ist (»Bist du es nicht?«: V. 9b.10a), sowie der abschließende Wunsch, das frühere Eingreifen Jhwhs (»ewige Generationen«: V. 9) möge jetzt dazu führen, dass die Befreiten »in ewiger Freude« (V. 11) zum Zion kämen. Formgeschichtlich sind Weckrufe an Gott in den Klagegebeten des Psalters zu Hause (vgl. Ps 7,7; 35,23; 59,5), besonders in den Volksklagen, in denen die nationalen Katastrophen des Nord- und Südreiches verarbeitet wurden (Ps 44,24: »wach auf«; 74,22: »steh auf«; 80,3: »erwecke deine Macht«). Dabei sind in allen drei Psalmen die Sängergilden der Asafiten bzw. Korachiten als Verfasser und Tradenten dieser Klagegebete genannt. Die liturgisch-kultischen »Weckrufe« sind ihnen berufsmäßig vertraut, so dass sie aus dieser Gebetstradition schöpfen. Jhwhs »Arm« ([wrz) steht für die göttliche Macht, der sich die Beter des Gottesvolkes anvertrauen und auf den auch die Völker hoffen sollen (40,10f.; 48,14; 51,5.9; 52,10; 53,1; 59,16; 62,8; 63,5.12). Demgegenüber ist das Wort in Jes 1–39 nur selten belegt, so etwa in 30,30, wo der göttliche Arm unter Gesang und Musik (!) auf Assur strafend niedergeht, sowie im kollektiven Gebet, er möge ein rettender Arm an jedem Morgen sein (33,2). Neben den Belegen im Jesajabuch findet sich die Rede vom göttlichen »Arm« besonders im Psalter (Ps 44,4; 71,18; 77,16; 79,11; 89,11.14.22; 98,1; vgl. auch Ex 15,16; Jer 21,5; Ez 17,9; Ijob 40,9). Eine große Nähe ergibt sich zu Ps 89,11: »Du hast Rahab zertreten wie einen Erschlagenen. Mit deinem starken Arm hast du deine Feinde zerstreut«. Weder im Psalm noch in Jes 51,9–11 kann zwischen mythologischem Sieg gegen das Urmonster Rahab und geschichtlicher Befreiung strikt unterschieden werden, denn mit jeder Rettung zerschmettert Jhwh aufs Neue die bedrohlichen Chaosmächte (vgl. Ps 89,11; Ijob 9,13; 26,12). Dass am Ende von Jes 51,10 die »Erlösten« durch die trockengelegten Fluten ziehen, ist nicht nur eine Reminiszenz an das Schilfmeerereignis (vgl. 43,16; Ex 6,6; 15,13) und damit an den Auszug aus Ägypten, sondern bezieht sich auch auf die Befreiung aus Babel. Die Angabe des Zieles, d.h. Zion, den die Erlösten jubelnd erreichen (V. 11), stellt den Höhepunkt der Rettung dar. »Jubel/Jubeln« (hnr÷˜nr) ist im Jesajabuch ein Merkmal der Erlösten, die zum Zion ziehen (12,6; 42,11; 43,14; 44,23; 48,20; 49,13; 51,11; 52,8.9; 54,1; 55,12; 65,14). Das Motiv findet sich darüber hinaus nur noch selten in der Prophetie und wenn, dann als Echo auf Jes 40ff. (Jer 31,7.12; 51,48; Zef 3,14.17; Sach 2,14). Anders verhält es sich im Psalter, wo der Jubel erwartungsgemäß beheimatet ist. Er findet sich nicht nur (u.a. Ps 5,12; 20,6; 30,6; 32,11; 33,1; 35,27), aber auch in den Liedern der Sängergilden (Ps 42,5; 47,2; 81,2; 84,3; 89,13) sowie in den Jhwh-König-Psalmen (90,14; 92,5; 95,1; 96,12; 98,4.8). In den Geschichtspsalmen (Ps 105,43; 107,22) und an markanter Stelle im Wallfahrtspsalter, dessen zentrales Gedicht die Wende der Gefangenschaft Zions besingt (Ps 126,2.5), begegnet das Motiv ebenfalls. Auf den Weckruf in Jes 51,9ff. antwortet Jhwh ohne Verzögerung in V. 12 mit einem Heilsorakel. Dem doppelten »wach auf, wach auf« entspricht ein zweifaches »Ich, ich« im Munde Jhwhs. Nur wenn die Betenden sich trösten lassen und die Gottesstadt ihre Furcht vor den doch sterblichen Bedrängern ablegt, kann der
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göttliche Zuspruch sein Ziel erreichen. Nach der Wende des göttlichen Zorns und dem Anbruch seines Trostes gibt es keinen Platz mehr für das Zittern vor der Wut der Feinde. Darunter sind jene zu verstehen, die der Botschaft des nach Zion heimkehrenden Knechts zuerst skeptisch, dann zusehends feindlich gegenüberstehen.76 Gerade in dieser Situation zunehmender Anfeindung hat Jhwh sein Wort in den Mund des Knechts gelegt (51,16). Die Verbindung von Wortamt und Schutz im Schatten der Hand Gottes findet sich nur noch in 49,2. Damit ist deutlich, dass die Angeredeten in die prophetische Nachfolge gerufen sind (siehe die Applikation auf die Nachkommen der Rückkehrer in 59,21). Die Bundeszusage »Ich bin dein Gott« (V. 15a) – »Du bist mein Volk« (V. 16b) gilt dabei nur denen, die zur Schülergemeinde auf dem Zion gehören. II. Szene Jesaja 51,17–23 Die Heilswende bricht an Diese zweite Szene ist zu Beginn (V. 17) und gegen Ende (V. 22) vom Motiv des »Zornesbechers« geprägt. Zur gleichen Bildwelt gehören die Kinder Jerusalems, die ohnmächtig und vom Zorn Gottes erfüllt in den Gassen der Stadt liegen (V. 20). Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Gottesstadt mit dem doppelten Imperativ »erwache, erwache« (rw[ hitp.) so eindringlich zum Aufwachen aufgefordert ist: weil sie den göttlichen Zornesbecher bis zum Ende hatte austrinken müssen! Wenn Jhwh den Zornesbecher zu trinken gibt, betrifft das nie den Einzelnen, sondern immer das Volk, und zwar in exilisch-nachexilischer Zeit (vgl. Jer 25,15–29; Ez 23,28–35; Hab 2,15–17). Wie man einen Volltrunkenen wachrüttelt, so macht sich der in die Heimat zurückgekehrte Knecht daran, die am Boden liegende Stadt Jerusalem wieder aufzurichten.77 Nachdem sie den göttlichen Zornesbecher bis zur bitteren Neige hatte trinken, die Exilsnot in aller Konsequenz hatte auskosten müssen, war die Gottesstadt bewusstlos niedergesunken. In V. 19–20 wird das Bechermotiv konkretisiert: Verwüstung, Zusammenbruch, Hunger und Schwert hatten sie getroffen (vgl. Jer 4,20; 15,2–5). Zur totalen Katastrophe gehört, dass keiner da ist, der ihr Beileid bezeugt und sie tröstet (vgl. Klgl 2,13). Am Ende von V. 20 tritt der monotheistische Gedanke in gleichsam paradoxer Verschärfung auf. Weil Jhwh in seinem Zorn der wahre Grund für die Not der Gottesstadt ist, bleibt er als ihr Gott auch der letzte Grund ihrer Hoffnung. War in den V. 17–18.19–20 von Gott in der 3. Person die Rede, spricht er in V. 21–23 nun selbst in der 1. Person. Das prophetische ˜kl »darum« leitet hier kein Gerichtswort ein, sondern den Höraufruf zum erlösenden Heilswort. Dabei ergibt sich ein Kontrast zum Höraufruf an die Stadtfrau Babel: »Und jetzt höre dies, Liebreizende, die in Sicherheit thront« (47,8; vgl. 48,1.16). Die Herrscherin Babel muss vom Thron in den Staub hinab, Zion/Jerusalem aber soll sich daraus erheben (51,17; 52,1), ihre königlichen Gewänder anlegen und wieder thronen (52,1f.). Babel wird sich nicht mehr Herrin von Königreichen nennen (47,5), Zion/Jerusalem wird den 76 Blenkinsopp 2002, S. 334. 77 Baltzer 1999, S. 463: »so redet man mit einer Betrunkenen«.
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Kelch des Zorns nicht mehr trinken! Mit der gleichen Souveränität, mit der Jhwh Zion/Jerusalem zum Trinken des Zornesbechers gezwungen hatte (V. 17), nimmt er ihr diesen nun aus der Hand: »Der Becher des Zorns Jhwhs steht in 51,17–23 am Anfang und Ende der Gewalt gegen Jerusalem, Jhwh ist damit deren Ursache und der Grund dafür, dass sie für Jerusalem ein Ende nimmt«78. Den Zornesbecher, den Jhwh wieder in der Hand hält, wird er den Peinigern der Gottesstadt reichen. Wie es ihnen dann mit diesem Becher geht, wird nicht weiter ausgeführt. In Jer 25,29 lautet die Begründung für das Weiterreichen des Zornesbechers, dass die Völker nicht ungestraft bleiben könnten, nachdem Jerusalem ihn auch habe trinken müssen. Hier dagegen steht das brutale Verhalten der Feinde im Vordergrund, das mit dem göttlichen Zornesbecher nicht geahndet, sondern vielmehr gestoppt wird. III. Szene Jesaja 52,1–12 Vorbereitungen und Rückkehr Jhwhs Durch den doppelten Imperativ yrw[ yrw[ »wach, wach auf« an die Adresse Zions/ Jerusalems ist zwar ein klarer Neueinsatz gegeben, aber auch die verbindende Klammer zum Beginn des Imperativgedichts in 51,9 hergestellt. Weil sich der angerufene Arm Jhwhs tatsächlich mit Kraft bekleidet hat, kann Zion/Jerusalem jetzt aufgefordert werden, sich ebenfalls mit Kraft zu bekleiden und ihre Festgewänder anzulegen. Sie soll dies tun, um Jhwh, den siegreich heimkehrenden König, als seine festlich geschmückte Braut zu erwarten (V. 7–10). Die neue Beziehung zwischen Gott und seiner Stadt bzw. Braut kann aber nicht ohne die Einbeziehung ihrer Kinder gedacht werden (vgl. 50,1). So folgt in V. 3 die Klarstellung, die Angeredeten seien zuvor umsonst verkauft worden und würden nun auch nicht um Silber(-Geld) ausgelöst. Damit wird eine Frage aufgenommen, die schon in 43,3b– 4 und 45,14–15 gestellt wurde: Hat Jhwh bei der Befreiung seines Volkes aus Babel etwa einen Handel mit den Persern getrieben?79 Die V. 4–6 verneinen diese Ansicht, denn hätte Jhwh mit den Großmächten verhandelt, würden ihre Herrscher bei der Befreiung seines Volkes nicht wehklagen! Nicht als erfolgreicher Freikäufer kommt Jhwh an den Zion zurück, sondern als siegreicher König, wie die Wächter frohlockend ankündigen und alle Völker sehen werden (V. 7–10). Dass der Bote in V. 7 verkündet, »König geworden ist dein Gott«, heißt nicht, dass Jhwh dies vorher nicht gewesen wäre – was u.a. 41,21; 43,15; 44,6 widersprechen würde. Es unterstreicht vielmehr, dass der Gott Israels durch den Sieg über die Chaosmächte sein Königtum heil- und kraftvoll reaktiviert hat. Die göttliche Rückkehr zu seiner Stadt und Braut soll für die noch in Babel und unter den Völkern lebenden Kinder Zions das Zeichen sein, sich nun auch auf den Rückweg zu machen (V. 11–12). Von »dort«, d.h. von überall her, sollen die Befreiten zurückkommen (V. 11–12). Dann werden alle Enden der Erde die »Rettung unseres Gottes« sehen (52,10b). Anders als die einst aus Ägypten Befreiten, die sich mit kostbaren Gerätschaften beluden (Ex 12,35), sollen die Rückkehrer aus den Völkern nichts Unreines anrühren (vgl. Klgl 4,15), denn sie 78 Schmidt 2013, S. 162. 79 Vgl. Albertz 2003a, S. 377.
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ziehen in die heilige Stadt (vgl. 52,1). Sie sollen sich von der Unreinheit der Völker trennen und sich so rein halten, als ob sie die Geräte Jhwhs trügen (vgl. Num 3,8; 2 Kön 23,4). Der einstigen Flucht aus Ägypten (Ex 12,11; Dtn 16,3) wird ein Auszug ohne Hast gegenübergestellt. Ging Jhwh damals nur vor seinem Volke her (Ex 13,21; Num 10,33; Dtn 1,30), so ist er nun Vor- und Nachhut (V. 12). Die diachrone Rückfrage nach den Wachstumsstufen gestaltet sich bei der Szene von 51,9–52,12 besonders schwierig. Ein Konsens besteht zumindest darin, dass die Imperative von rw[ »aufwachen/erwachen« (51,9.17; 52.1) zum Grundbestand gehören. Nach Odil Hannes Steck bilden 51,9–10a.17.19–23; 52,1–2; 54,1 das Grundgerüst des »Imperativgedichts«, wobei »es […] den Anschein [hat], als gingen immer neue Interpretationswellen über diesen Textbereich, ausgelöst von der anhaltenden Erfahrung, daß sich die Heilswende für Zion ständig weiter verzögert«80. Die Heimkehrbewegung scheint angelaufen zu sein, so dass man für den Kernbestand der Szene von einer Zeit nach 521 ausgehen sollte. Nach HansJürgen Hermisson gehörten 51,9–10.17–23; 52,1f.7–10.11f. der ältesten Schicht an, die zuerst um 51,12–15.(16) erweitert worden sei, woran sich 51,11 angeschlossen habe.81 Schlussendlich sei mit 52,3–6 noch ein »schriftgelehrter Kommentar« hinzugekommen. Diese Verse sind nicht zuletzt deshalb auffällig, weil in ihnen die direkte Anrede als eine der Haupteigenschaften des Imperativgedichts fehlt. Die Botenformel von V. 3 findet sich nur um ein »Adonai« ergänzt in V. 4 wieder. Das doppelt gesetzte »Spruch Jhwhs« in V. 5 und die weitere Betonung des göttlichen Sprechens in V. 6 machen einen sehr lehrhaften Eindruck: »Der so penetrant als Gottesspruch stilisierte Passus hat wesentlich disputierend-lehrhaften Charakter« 82. Der Weckruf in 51,9f. mit den mythopoetischen Aufnahmen der ChaoskampfMotivik, der in die Akklamation der erneuten Königsherrschaft Jhwhs mündet (52,7), weist eine große Nähe zu den Psalmen der Korachiten auf: rw[ »erwecken [von Jhwh]«: Ps 44,24; Ps 46,2; z[ »Kraft«: Ps 46,2; 84,6; [wrz »Arm«: Ps 44,4; ymy µdq »Wasser der Vorzeit«: Ps 44,2; bhr »Rahab«: Ps 87,4; µwht »Urflut«: Ps 42,8 (2x); µym »Wasser« (als Chaoselement): Ps 46,4. Daraus zieht Jürgen Werlitz die Schlussfolgerung: »Steht Jes 51,9f aber in einem Bezug zu den Korachiten-Psalmen, so ist es denkbar, daß die Bucheditoren, die selbst – vor allem mit ihren gliedernden Texten – auf hymnische Traditionen zurückzugreifen scheinen und angesichts dessen mit der Tempelsängerschaft in Verbindung zu bringen ist [sic!], bei ihrer Rückkehr nach Jerusalem Anschluß an solche Kreise gefunden hat [sic!]«83. Theologischer Ertrag zum III. Akt (Jes 51,9–52,12) Dieser Akt ist durch das sogenannte »Imperativgedicht« dreiteilig strukturiert, wobei die Klimax im Abschluss von 52,7–12 vorliegt. Auf die drängende Bitte, 80 81 82 83
Steck 1989, S. 82f. Hermisson 2003, S. 217. Hermisson 2003a, S. 34. Werlitz 1999, S. 317f.
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Jhwh solle seine Macht wie in früheren Zeiten zeigen, folgt die direkte Antwort Gottes, er sei es, der »euch tröstet« (51,12). Das Volk auf dem Zion und diejenigen, die sich nach Jerusalem auf den Weg machen, brauchen keine Furcht mehr zu haben, denn Jhwh selbst hat der Gottesstadt den Zornesbecher aus der Hand genommen. Als Königsstadt und Königsbraut kann sie sich wieder ihre Prachtgewänder anlegen und auf die Ankunft des siegreichen Königs Jhwh vorbereiten. Der Knecht als heimgekehrte Gola stellt die Vorhut der erwarteten Rückkehrer dar, der Zion als Freudenboten das Evangelium der Rettung verkündet: »Dein Gott ist König« (52,7). Wenn dieses Heil weltweit bekannt sein wird, sollen sich alle zerstreuten Kinder des Gottesvolkes auf den Heimweg machen. Dabei ist ihnen eine schutzvolle Begleitung wie beim Auszug aus Ägypten – ja noch wundervoller als damals – zugesichert. Nicht mehr in Hast wird man ausziehen, sondern in einer würdevollen Prozession, die Jhwh anführt und beschließt (52,11–12). IV. Akt Jesaja 52,13–54,17 Leiden und Erhöhung von Knecht und Zion Dem Ansatz der »diachron reflektierten Synchronie« folgend ist das vierte Gottesknechtslied (Jes 52,13–53,12; der Einfachheit halber Jes 53) nicht für sich, sondern in seinem unmittelbaren literarischen Kontext auszulegen. Ob dieser Text überhaupt jemals unabhängig von diesem existiert hat, muss reine Spekulation bleiben. Das in der deutschsprachigen Forschung beliebte Erklärungsmodell, wonach sich die Identität des Knechts je nach literarischer Entwicklungsstufe gewandelt habe, so dass er zuerst für einen individuellen Propheten, dann für die Zionsgemeinde, anschließend für die Rückkehrer, danach für die Daheimgebliebenen und schlussendlich für das wahre Israel in seiner Öffnung auf die Völker stehe84, wird dem Primat des vorliegenden »Endtextes« und seines dramatischen Charakters nicht gerecht. In diesem muss es eine dominante Lese- und Verstehensweise geben, welche die Frage nach der Identität des Knechts beantwortet. Der Knecht kann nicht wie ein Chamäleon je nach redaktioneller Schichtenlage einmal so und dann wieder anders in Szene gesetzt werden. Vom Knecht in Babel zum Knecht, der als Vorhut der Rückkehrer Zion mit der Frohbotschaft des siegreichen Jhwh erreicht, muss es einen Weg geben, den der Text in seiner Vielschichtigkeit nachzeichnet. Für das vierte Gottesknechtslied bedeutet dies konkret, dass sein literarischer Kontext nicht etwa ein nachgeordneter Rahmen ist, sondern der einzige historisch nachweisbare Verstehenshorizont. Dieser Kontext ist – wie schon zuvor beim zweiten und dritten Lied – das Schicksal Zions. Wie zwingend dieser Rahmen ist, lässt sich besonders daran ablesen, dass der stetige Wechsel zwischen Knecht und Zion die Kapitel 49–54 kennzeichnet. Mit der erstmaligen Nennung der »Knechte« in 54,17b und der pluralischen Adressierung in Kap. 55 ist diese Strukturierung verlassen. Auch sind die semantischen Verknüpfungen 84 Vgl. die Kritik von Joachimsen 2007.
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zwischen Jes 53 und den umliegenden Zionskapiteln ernst zu nehmen und nicht als Zufälligkeiten abzutun. Die Parallelisierung des Knechts als Mann der Schmerzen und Zion als Schmerzensfrau ist kein Nebenaspekt, sondern gehört zur Kernaussage dieser Kapitel. Die Erniedrigung und Erhöhung beider Gestalten sind untrennbar miteinander verbunden. I. Szene Jesaja 52,13–53,12 Leiden und Erhöhung des Knechts Hatte Jhwh im ersten Gottesknechtslied (42,1ff.) den Knecht vorgestellt und hatte dieser im zweiten (49,1ff.) und dritten (50,4ff.) über seine schwere Aufgabe reflektiert, so macht Gott im vierten Lied deutlich, dass dessen Sendung trotz aller Anfechtungen von überwältigendem Erfolg gekrönt sein werde. Der Aufbau orientiert sich an den wechselnden Stimmen, die das vierte Gottesknechtslied kennzeichnen. Es lassen sich drei Stimmen unterscheiden, die eine Einteilung in Gottesrede, »Wir«-Rede und Verfasserrede ergeben. Die erste Strophe (52,13–15) setzt als Gottesrede ein, in der Jhwh den zukünftigen Erfolg des Ebed ankündigt und zugleich garantiert: »Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben«. Nur in dieser ersten Strophe fehlt das Tetragramm, was aber durch die »Ich«-Rede Gottes wettgemacht ist. In den weiteren vier Strophen findet sich der göttliche Eigenname jeweils ein Mal, entweder am Anfang (V. 1b.10b) oder Ende einer Strophe (V. 6b.10aα). Der Adressat der göttlichen Ankündigung sind in V. 14a die »Vielen« (µybr), d.h. Gesamtisrael, nicht die »vielen Völker« (µybr µywg) (V. 15a). Deren Beteiligung am Geschehen liegt nicht im Hören, sondern im Sehen. Die Notiz zu Beginn von V. 14 »wie sich viele über dich entsetzten« ist so zu verstehen, dass bei allem, was über den Ebed gesagt wird, dieser als anwesend mitzudenken ist. Hier gibt es nichts, was der Knecht nicht mithören würde. Selbst aber sagt er kein Wort (vgl. 53,7). Man könnte die ganze erste Strophe (52,13–15) für eine Gottesrede halten, doch legt sich ein fließender Übergang zur Verfasserrede nahe. Andernfalls wäre Jhwh der Kommentator des vergangenen (»entstellt war sein Aussehen«) und des zukünftigen Geschehens (»er wird besprengen«), eine Aufgabe, die eher der Verfasserstimme zukommt. Das Gotteswort über den Erfolg seines Knechts trifft »die Vielen« (V. 14) und die »vielen Völker« (V. 15) völlig unerwartet. Es geht beim Erfolg des Knechts nicht etwa um dessen himmlischen Aufstieg in die Thronregionen Gottes als »Gegentypus zu den nach astraler oder solarer Unsterblichkeit strebenden Königen«85, sondern um die Erhöhung in jene Führungsposition, die vorexilisch die davidischen Könige innehatten.86 Die zukünftige, erhabene Stellung des Knechts ist mit »hoch und erhaben« angegeben, was auf die Position Jhwhs in 6,1 verweist. Bestand das Ziel der Verstockung darin, dass sich das Volk nicht bekehre und sich Heilung verschaffe (6,10), bekennen nun die »Wir«: »Durch seine Wunden sind 85 Albani 2000, S. 154. 86 Goldingay 2005, S. 489: »He is a contemporary equivalent to David«.
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wir geheilt« (53,5). Wer so redet, dessen Verstockung ist aufgehoben, der gehört zu den Schülern Gottes und zur Nachkommenschaft des Knechts. Mit der zweiten Strophe (53,1–3) beginnt die Rede der »Wir«. Diese Gruppe ist Teil der »Vielen« und bringt ihre einstige Ansicht über den von Gott geschlagenen Knecht zum Ausdruck. Auf die rhetorische Anfangsfrage, »Wer hat geglaubt, was uns kund ward/was uns zu Gehör gebracht wurde?« (V. 1), kann die Antwort nur lauten: »Niemand!«. Wie konnte es sein, dass Jhwh seinen Arm, d.h. seine Macht, über einer solch entstellten Figur offenbarte? Ihre Geringschätzung und Verachtung mündet in die Feststellung ein: »Wir hielten nichts von ihm« (V. 3b). Der späteren semantischen Entwicklung des Lexems bvj entsprechend könnte man auch paraphrasieren: »Wir hatten ihn überhaupt nicht auf der Rechnung«! In der dritten Strophe (V. 4–6) reden die »Wir« weiter, doch ist nun ihre Haltung eine völlig andere. Statt mit Verachtung blicken sie nun mit Hochachtung auf den Knecht. Im Mittelpunkt der Strophe und damit im Zentrum von 53 steht die Erkenntniswende, das radikale Umdenken der »Wir«. Derjenige, der »mit Krankheit bekannt« war, hat nicht seine, sondern »unsere Krankheiten« getragen. Der »Mann der Schmerzen« hat nicht seine, sondern »unsere Schmerzen« geschleppt! So stoßen sie zu einer völligen Neubewertung des Knechts vor: »Jhwh hat ihn treffen lassen die Schuld von uns allen« (V. 6b). Das Novum besteht nicht darin, dass Jhwh gewaltsam agiert, sondern in der Heilsbedeutung dieses Handelns: »Der durch Krankheit Entstellte und von der Last eines qualvollen Leidens Niedergebeugte und Zerschlagene wird gerade hierin zu einem Tragenden und erwirkt so in stellvertretender Sühne für andere Heil.«87 Hier wird keiner einfachen Aufhebung der Schuld das Wort geredet, sondern einer von Jhwh herbeigeführten Umlenkung der »Schuld« und »Schuldfolgen« (beides ˜w[) auf den Knecht. Diese Stellvertretung88, d.h. das Tragen und Ertragen fremder Schuld und fremden Geschicks, ist nicht anders zu denken als in Verbindung »mit seiner repräsentativen Rolle – er vertritt Israel, er ›ist‹ in bestimmter Hinsicht ›Israel‹«89. In der vierten Strophe (V. 7–10aα) kommentiert die Verfasserstimme das Geschehen. Am Ende der Strophe steht erneut das Tetragramm (V. 10aα), und zwar in der Beantwortung der Frage, wie das alles geschehen konnte: »Jhwh aber hatte es gefallen, ihn zu zermalmen, ließ erkranken«. Dass der Knecht »seinen Mund nicht auftut« (V. 7a.b), ist geradezu folgerichtig, denn würde er protestieren (vgl. Jer 20,7ff.), könnte er nicht derjenige sein, der die fremde Schuld stellvertretend trägt. Das Bild vom Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, ist kein zwingendes Indiz für eine individuelle Deutung, denn die größte Nähe besteht ja gerade zur kollektiven Klage in Ps 44,23: »Ja, um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag, wie Schafe zur Schlachtung werden wir angesehen«. Auch dort 87 Fuhs 1997, S. 220. 88 Siehe dazu Janowski 1997. 89 Hermisson 2003, S. 369.
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ist die Aussage nicht kultisch gemeint, sondern bezieht sich auf das Ertragen des harten Schicksals, aus dem es kein Entkommen gibt. Da in V. 7 von der Geduld des Knechts und in V. 9 von seinem Grab und »seinen Toden« die Rede ist, kann die Aussage »er wurde genommen« (jql) kein rettendes Wegnehmen aus der Bedrängnis bedeuten, sondern muss das negative Geschehen fortsetzen. Statt um Vernichtung geht es um Trennung, wie die Parallele in Ez 37,11 zeigt: »Verdorrt sind unsere Gebeine, geschwunden unsere Hoffnung: abgeschnitten sind wir«. Wer gemäß alttestamentlicher Weltsicht nicht bei seinen Vätern begraben wurde, war über den Tod hinaus bestraft (vgl. 1 Kön 13,22), denn ohne die Totenpflege war er für immer von seinem Geschlecht getrennt (vgl. Gen 50,25; Ex 13,19; Jos 24,32; Hebr 11,22). So war auch der Knecht dem Gedenken der im Land Verbliebenen entzogen. Dies gilt umso mehr, als die Generation der Exilierten von 586 ihr Grab bereits in fremder Erde, fern der Heimat, gefunden hatte.90 Der Aufruf, Babel zu verlassen (48,20f.; 52,11f.), konnte für sie gar nicht mehr gelten.91 Das Abgeschnitten-Sein »vom Land der Lebenden« wird so irreversibel »in seinen Toden« (V. 8f.). Wie die erste so ist auch die letzte Strophe (V. 10aβ–12) auf Zukunft hin ausgerichtet. Erneut sind Verfasser- und göttliche Stimme in einer Strophe zu hören. Doch anders als in der ersten Strophe beginnt die letzte mit der Verfasserstimme, die ein »Du« anspricht: »Wenn du sein Leben als Schuldtilgung einsetzt«. Jeder einzelne der Adressaten ist aufgerufen, die Lebenshingabe des Knechts als Schuldtilgung einzusetzen. »Es bedarf also noch eines aktiven Vorgangs der ›wir‹ hinsichtlich der schuldtilgenden Wirkung des Knechtes YHWHs«92. Sollte dies nicht geschehen, würde die Erkenntniswende der »Wir« ohne Folgen für eine gemeinsame Zukunft des Gottesvolkes bleiben. Da das Blut eines Menschen im AT keine reinigende Wirkung haben kann, ist der Begriff der »Schuldtilgung« (ašam/µva) hier nur kultmetaphorisch zu verstehen. Von Kultmetaphorik spricht man, wenn kultische Vorstellungen und Begriffe in nicht-kultischen Zusammenhängen verwendet werden.93 Nur wenn die »Wir« als Teil der Vielen nach ihrem Schuldeingeständnis über die Missachtung des Knechts – hierin lag ihre unwissentliche Verfehlung – auch noch den letzten Schritt tun und sein Leben als »Ascham«, als Ableistung ihrer eigenen Schuldverpflichtung anerkennen, kann es zur Versöhnung des nachexilischen Israel mit Jhwh und untereinander kommen! Nur dann wird der Plan Gottes gelingen, der Knecht seine Tage verlängern und reiche Nachkommenschaft sehen. Rückkehr und Restauration sind also nicht nur Gabe, sondern auch Aufgabe, zuerst die der Versöhnung untereinander. Im weiteren Verlauf des Jesajabuches wird die Zerrissenheit aber nicht abnehmen, sondern sich stetig verschärfen (vgl. Jes 65–66). 90 Vgl. Kaiser 1959, S. 113–116. 91 Vgl. Goldingay / Payne 2006, S. 316. 92 Volgger 1998, S. 490. 93 Janowski 2010, S. 64.
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Wer ist der Knecht in Jes 53? Die Frage des äthiopischen Eunuchen an Philippus, »Ich bitte dich, von wem sagt der Prophet das? Von sich selbst oder von einem anderen?« (Apg 8,32f.), hat nichts von ihrer Bedeutung verloren. Für die Gemeinde des Lukas war das Schaf, das vor seinen Scherern verstummt, niemand anderes als Jesus von Nazareth, der unschuldig das Leiden zur Schuldtilgung der Schuldigen getragen hatte. In der lukanischen Gemeinde bewahrheitet sich die in großer Nähe zu Jes 53 stehende Zusage von 56,1ff., dass auch Fremde und Eunuchen Vollmitglieder der Jhwh-Gemeinde werden würden. Und so wird der äthiopische Eunuch von Philippus auch ohne weitere Diskussion getauft (Apg 8,36–38). Für die alttestamentliche Exegese der Neuzeit konnte diese Deutung auf Jesus Christus nicht mehr genügen, denn der historische Referenzpunkt musste in Reichweite der Verfasser und Erstrezipienten von Jes 53 liegen, und kein halbes Jahrtausend später! Dabei stand die messianische Deutung, wenn sie von christlicher Seite betrieben wurde, allzu oft unter dem Vorzeichen antijüdischer Enteignung durch eine christologische Überbietung. So kann es nicht verwundern, dass Kap. 53 bis heute nicht im Synagogengottesdienst gelesen wird.94 Die von alters her im Judentum dominierende kollektive Deutung, die auch in der christlichen Exegese gewichtige Anhänger fand, lehnte u.a. Bernhard Duhm vehement ab: »Der Knecht Jahwes wird hier noch individueller behandelt als in den übrigen Liedern, und die Deutung seiner Person auf das wirkliche oder das ›wahre‹ Israel ist hier vollends absurd«95. Die von ihm favorisierte Interpretation, Jes 53 ginge auf das Martyrium eines unbekannten Frommen zurück, war bereits von Julius Wellhausen heftig kritisiert worden. Wie sollte ein solches Ereignis ohne jede weitere Spur in der alttestamentlichen Literatur geblieben sein? Die Identifikation des Knechts mit einer historischen Person – meist mit dem anonymen Propheten »Deuterojesaja« – bleibt in der Forschung weiterhin aktuell96, hat aber in den letzten 15 Jahren an Akzeptanz eingebüßt. Dazu hat besonders die Entwicklung beigetragen, zwischen dem Knecht innerhalb und außerhalb der Lieder nicht mehr so radikal zu trennen, wie dies über viele Jahrzehnte gang und gäbe war. Zudem gibt es in der Forschung derzeit einen breiten Konsens, dass die Deutung des Knechts in Kap. 53 auf die anderen drei Gottesknechtslieder anwendbar sein sollte, um plausibel zu sein. Wenn im vorliegenden Lehrbuch die kollektive Deutung favorisiert wird, geschieht dies im Wissen um das Miteinander von individuellen und kollektiven Zügen, von literarischen und historischen, von idealen und realen Aspekten. Um dieser Multiperspektivität gerecht zu werden, muss man – wie es Henk Leene in seiner Amsterdamer Abschiedsvorlesung im Jahre 2002 betonte – den Knecht zuerst von allen biographischen Assoziationen befreien, um ihn dann der Ge94 Landy 1993, S. 62. 95 Duhm 1922, S. 393. 96 Vgl. u.a. Blenkinsopp 2002; Hermisson 2003.
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schichte des exilisch-nachexilischen Israels zurückzugeben. Auf diesem Weg erweise sich die Figur des Knechts als das verbindende Element zwischen dem historischen Israel und den nachexilischen Frommen. Der Knecht stelle das durch Jhwh veränderte Israel dar und sei der Prototyp derer, die ab 54,17b »Knechte« genannt werden.97 Für den 2014 verstorbenen Amsterdamer Alttestamentler ist der Ebed keine fiktive, sondern eine fiktionale Gestalt.98 Nur bei Letzterer könne vom Tragen fremder Schuld und in diesem Sinne von einer Schuldersatzleistung gesprochen werden. Der Knecht als fiktionale literarische Gestalt gehört in das Umfeld der nachexilischen Rollen- und Problemdichtung. Anhand »individueller« Figuren wie u.a. Ijob, Rut, Jona werden »kollektive« Identitätsfragen der nachexilischen Zeit erörtert und zur Lösung gebracht. Dazu gehören nicht zuletzt auch die sogenannten Konfessionen Jeremias. In ihnen verarbeiteten prophetische Kreise ihre Hoffnungen und Nöte: »Damit konnten die Legitimität der eigenen Position gegenüber den Auffassungen offizieller Kultrepräsentanten sichergestellt und Selbstzweifel ausgeräumt werden.«99 Als fiktionale, nicht fiktive Gestalt ist der Knecht die Verdichtung eines Geschehens, in dem Jakob/Israel zu dem wird, was es von Grund auf ist und sein soll: Zeuge und Botschafter Gottes! In diesem Zusammenhang spricht Rainer Kessler von einer »perspektivischen Identifizierung« und führt dazu aus: »Den ganzen Deuterojesajatext hindurch wird der eved Israel nicht mit dem (loyalen) eved übereins kommen. Erst der Tod des eved wird einem anonym bleibenden Wir zeigen, dass der eved ›die Vielen‹ gerecht macht (53,11). Und doch zielt das ganze Wirken des eved darauf, dass Israel so wird wie er. Nur durch sein stellvertretendes Leiden kommt es dazu. Aber es kommt dazu. Man könnte von einer ›perspektivischen Identifizierung‹ von eved und Israel sprechen«100. Die Überlegungen zur Diachronie des vierten Gottesknechtsliedes kreisen besonders um die Frage, ob der Mittelteil (53,1–10aα) und die Rahmung (52,13–15; 53,10aβ–12) gleichzeitig entstanden sind oder verschiedenen Wachstumsphasen angehören. So vertreten u.a. Jacques Vermeylen und Lothar Ruppert die Ansicht, die Rahmenstücke seien dem Mittelteil nachgeordnet.101 Auffällig ist allemal, dass nur zu Beginn und zum Schluss Jhwh selbst spricht, dass nur dort von den Völkern die Rede ist und dass nur dort der Leidende als »Knecht« bezeichnet wird. Zudem stellt die zentrale »Wir«-Rede eine sinnvolle Einheit dar, während der Rahmen für sich genommen unverständlich bleibt. Erst durch das Gotteswort in der Rahmung (»mein Knecht« in 52,13a; 53,10aβ) wird der Leidensmann zum Gottesknecht. Für eine diachrone Nachordnung des Rahmens spricht auch die Tatsache, dass er sich mehrfach auf Elemente des Mittelteils bezieht. So nimmt die Aussage von 52,14, das »Aussehen« des Ebed sei unmenschlich entstellt und seine »Gestalt« fern der 97 Leene 2002, S. 10. 98 Leene 1993, S. 247. 99 Pohlmann 2003, S. 167. 100 Kessler 2009, S. 150. 101 Vermeylen 1994, S. 334ff.; Ruppert 1996, S. 7ff.
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von Menschenkindern, die Beschreibung des Knechts aus 53,2 in verstärkender Weise auf. Eine profilierende Aufnahme liegt auch am Schluss der Rahmung in 53,12 vor, wo das Bekenntnis der »Wir«, der Leidende habe ihre Krankheiten getragen (53,4), zur Aussage wird, er habe die Sünden der Vielen getragen. Gleiches gilt für folgende Beobachtung: Bekannten die »Wir« in 53,6 bezüglich des Leidenden, Jhwh habe ihn ihre Schuld »treffen lassen«, so heißt es in 53,12, er lasse sich selbst für die Abtrünnigen »treffen«, d.h. »trete für sie ein« (jeweils [gp hif.). Aus diesen und weiteren Bezügen zieht Jacques Vermeylen den Schluss, das vierte Lied vom Gottesknecht sei keine homogene Einheit, sondern ein zumindest zweistufig gewachsener Text, bei dem der Rahmen eine Relecture des Mittelteils darstellt.102 Vieles spricht dafür, dass das Mittelstück (53,1–10aα) den Grundstock des vierten Liedes bildet. In ihm werden Elemente der individuellen Klage eines zu Unrecht Ausgegrenzten nicht vom Beter selbst geäußert, sondern denen in den Mund gelegt, die ihre Haltung gegenüber dem zuvor Verachteten von Grund auf revidieren. Der älteste Mittelteil mit der »Wir«-Rede über ihre Erkenntniswende wurde durch ein bestätigendes Gotteswort über »meinen Knecht« (V. 11) zur theologischen Spitzenaussage der stellvertretenden Schuldübernahme und zur Ansage einer Integration in die Gemeinschaft der »Vielen« (V. 12). In einem letzten Schritt wurde das Lied dann durch die vordere Rahmung (52,13–15) in seinen auch die Völker betreffenden Kontext eingebunden, und zwar mit Bezugnahme auf Jhwhs siegreiche Heimkehr vor den Augen der Völker (52,7ff.) und der damit eingeläuteten Schicksalswende für Zion (Kap. 54). Diese Perspektiverweiterung auf die Völkerwelt betrifft nur den vorderen Rahmen, was die Annahme einer gestuften Erweiterung von hinten nach vorne stützt. Anders als die ersten drei Gottesknechtslieder, die jeweils am Schluss erweitert und damit in den Kontext eingefügt wurden (42,5–9; 49,7–12; 50,10–11), ist das vierte Lied durch 52,13–15 nach vorne erweitert und so mit dem Vorangehenden verknüpft worden. Das geschah unter programmatischer Aufnahme von 42,1 (»siehe, mein Knecht«) aus dem Beginn des ersten Gottesknechtsliedes. Auch dort spielt die Völkerthematik eine zentrale Rolle, denn die Sendung des Knechts geht ja weit über die Grenzen des Gottesvolkes hinaus. Das Motiv der Weltvölker, das in 52,15 durch »viele Völker« und »Könige« vertreten ist, nimmt Jhwhs siegreiche Heimkehr vor den Augen aller Völker und ihrer Könige auf (52,7–10). Das »Sehen« aller Enden der Erde (52,10) setzt sich im »Sehen« der vielen Völker und Könige fort (52,15). So orientiert sich die erste Strophe (52,12–15) und damit die vordere Rahmung in hohem Maße am literarischen Kontext. Trifft die diachrone Einordnung zu, dass der Appell zum Auszug aus Babel und der übrigen Diaspora in 52,7–10.11–12 ursprünglich eine erste Jerusalemer Sammlung abgeschlossen hat (40,1–52,12*), und zwar nach erfolgter Heimkehr der ersten Exulanten nach 521/520, wird die Fortsetzung durch das vierte Gottesknechtslied verständlich. Der Widerstand der »Vielen«, d.h. der Mehrheit des Volkes, gegen die Sendung des 102 Vermeylen 1994, S. 345.
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Knechts, der sich zur Restauration Israels und zum Licht der Nationen berufen wusste (49,1ff.), wurde immer heftiger (50,4ff.), so dass seine Mission zu scheitern drohte (Kap. 53). Die Erkenntniswende der »Wir« als Teilmenge des Volkes hält die Zuversicht wach, dass das stellvertretende Leiden des Knechts doch noch breite Akzeptanz finden und dass er seinen Anteil bei den »Vielen« erhalten werde! II. Szene Jesaja 54,1–17 Leiden und Erhöhung Zions Stellte Jes 53 den Höhepunkt in der Inszenierung des Knechts dar, so bildet Kap. 54 die Klimax in der Darstellung Zions als Frau und Stadt.103 Dass mit den Aufforderungen und Personalsuffixen der 2. Person feminin Singular, die bis auf V. 16 in allen Versen des Kapitels vorkommen, Zion/Jerusalem gemeint ist, steht außer Zweifel. Wer sonst könnte als »Unfruchtbare«, »Gebeugte«, »Ungetröstete« angesprochen sein? Umso auffälliger ist die Tatsache, dass der Name »Zion/Jerusalem« nicht begegnet (vgl. dagegen 52,1.7.8.9). Ein Grund könnte sein, dass man die Multiperspektivität von Frau, Mutter, Braut und Stadt durch eine Namensnennung nicht schwächen wollte.104 Damit bliebe der Prozesscharakter Zions gewahrt – analog zur dynamischen Identität des Knechts: »Oder sollte man besser sagen, ihre Identität wird bewußt offengehalten, um alle Aufmerksamkeit auf den Sachbezug zu lenken, auf den es dem Sprecher ankommt und der in seinem Mund und in dieser Gesprächssituation mit diesem Adressaten alles andere als selbstverständlich ist, vielmehr erst mit Nachdruck thematisiert werden muß? Wird ein Verwirrspiel um die Identität der angesprochenen Frau getrieben mit dem Ziel, beim Hörer den Identifikationsprozeß mit eben dieser Frau zu intensivieren?«105 Wie der Knecht, so ist auch Zion nicht einfach eine gegebene Größe, sondern gewinnt in denjenigen Gestalt, die sich zu ihrer Stadt und Mutter bekennen. Die Grenze zwischen ihr und ihren Bewohnern ist fließend: »At this point in the text, anonymity and inclusivity prevail over the clear and exclusive naming of the characters involved«106. Alles, was sich in Kap. 54 ereignet, geschieht allein im Text und verweist nicht etwa auf eine geschichtliche Wirklichkeit. Historisch gesehen war das nachexilische Jerusalem mitnichten eine mit Edelsteinen geschmückte Königsstadt, sondern eine zerstörte Metropole, die um ihr Überleben kämpfte. Begründeten Schätzungen zufolge hatte sich die Einwohnerzahl Judas am Ende der Königszeit von ca. 110.000 Personen auf ungefähr 30.000 in der persischen Periode dezimiert und Jerusalems Einwohnerschaft von ca. 25.000 auf höchstens 3.000 verringert. Auch haben die Rückwanderer keine archäologischen Spuren in Jerusalem hinterlassen, die auf eine grundlegende Wende zum Besseren hindeuten würden.107 103 Vgl. Heffelfinger 2011, S. 253: »The Climax of Comfort«. 104 Vgl. Beuken 1974, S. 59: »the one identity of the woman under several shapes is safeguarded«. 105 Glassner 1991, S. 219f. 106 Abma 1999, S. 107. 107 Lipschits 2003, S. 363–366.
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In literarischer Sicht bildet das Gerichtsorakel vom Untergang Babels in Kap. 47 die Folie für die Heilsansage bezüglich der Wiederbesiedlung und des Wiederaufbaus von Zion: »Witwenschaft« und »Kinderlosigkeit« haben beide Stadtfrauen getroffen (47,8f.; 54,1.4). In beiden Kapiteln findet sich der Ausdruck »Jhwh Zebaot ist sein Name« und ist von Gott als »Löser« die Rede (47,4; 54,5). Doch während Babel nicht mehr Herrin von Königreichen »genannt« wird, wird Jhwh Gott der ganzen Erde »genannt« (47,5; 54,5). War Babel seit ihrer »Jugend« mit Zauberei beschäftigt, ist Zion Jhwhs Frau der »Jugend«, fernab von magischen Praktiken (47,12.15; 54,6). Hatten die Schicksalsschläge von Witwenschaft und Kinderlosigkeit Babel »in einem Augenblick« (47,9) getroffen, so dauerte der Zorn Gottes gegen Zion nur einen »Augenblick« (54,7f.).108 Gattungsmäßig bietet Kap. 54 eine Aufforderung zum Jubel (V. 1–3), ein Heilsorakel (V. 4–6), eine Heilsankündigung (V. 7–10) und eine Segenszusage (V. 14–17). Insgesamt herrscht ein argumentativer Grundton vor, der darauf hindeutet, dass die Verfasser weiterhin mit großer Skepsis zu kämpfen hatten. Das Kapitel orientiert sich an den vorangegangenen Zion-Jerusalem-Texten in 49,14–26; 51,3.17–23; 52,1–2.7–10. Nirgends stärker als in 54 wirbt Jhwh darum, dass sich Zion ihm wieder als Quelle und Garant des Heils zuwenden möge. Dabei greift er analog zum Friedensbund mit Noach sogar zum Gotteseid (V. 9–10): Wie die Wasser Noachs die Erde nie wieder überfluten, wird auch sein Gerichtszorn Zion niemals wieder zerstören. Sein Friedensbund wird nicht mehr von seiner Jugendliebe weichen, selbst dann nicht, wenn Berge und Hügel wanken! Das göttliche Bauorakel (V. 11ff.) dient ebenfalls der Überzeugungsarbeit an Zion. Die herrlichen Steine zielen äußerlich auf den königlichen Glanz der zukünftigen Stadt und stehen intern für Zions Kinder, die allesamt Schüler Jhwhs sind. Nicht mit wirklichen Edelsteinen, sondern mit diesen Nachkommen wird Zion in Gerechtigkeit erbaut. Damit ist von Jhwh der Schlussstrich unter die Exilsvergangenheit gezogen und das Fundament für die Heilszukunft gelegt. Das Kapitel ist deutlich zweigeteilt. So durchziehen unterschiedliche Gottesspruch-Formeln die erste Hälfte (V. 3.6.8.10), während in der zweiten eine solche Formel nur am Ende des letzten Bikolons (V. 17b) vorkommt. Die erste Hälfte (V. 1–10) zielt auf die Bewältigung der Vergangenheit ab, die zweite ist auf die Zukunft hin ausgerichtet. Von Zion als Frau im ersten richtet sich der Blick im zweiten Teil auf Zion als Stadt. Mit Jes 54 endet der stetige Wechsel von Knecht und Zion in den Kap. 49–54. Wie die Erhöhung des Knechts das vierte Gottesknechtslied eröffnete, so steht jetzt die Aufforderung an Zion zum Jubel am Anfang: »Like the story of the suffering servant in the previous chapter, the story of the suffering woman in ch. 54 begins at the end: she will soon be singing again; her shame and loneliness are as good as over«109. Die Parallele von Knecht und Zion ist ein wesentlicher Eckpfei108 Vgl. Steck 1992, S. 95. 109 Sawyer 1989, S. 94.
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ler der kontextgemäßen Auslegung dieses Kapitels, zumal es mit der Stadtfrau einsetzt und mit den Knechten endet. Findet sich das weibliche »Du« in V. 17a zum letzten Mal, so werden die »Knechte« in V. 17b erstmalig genannt. Sie sind die Nachkommen des leidenden und zukünftig erhöhten Knechts sowie der unfruchtbaren und bald von Jhwh mit Kindern gesegneten Frau Zion. Es sind jene, die der Stimme seines Knechts gefolgt sind (50,10) und »Schüler Jhwhs« heißen (54,13). Auf diese Entwicklung im Lesedrama hat Willem Beuken mehrfach hingewiesen: »In Zion wird der Knecht zu einem Volk von Knechten. Auf diese Weise ist der einsame ›Schüler‹ JHWHs (50,4) in den Söhnen/Erbauern von Jerusalem zu ›Schülern JHWHs‹ herangewachsen (54,13). Das Terrain, das diesen Schülern und Knechten von JHWH her vorbehalten bleibt, ist das Jerusalem, wovon Gott in Kap. 54 die Grundordnung festgelegt hat«.110 Die Notiz in V. 17a, dass keine Waffe zukünftig gegen Zion erfolgreich sein und keine Zunge sie ins Unrecht setzen werde, sowie die Ergänzung in V. 17b (»dies ist das Erbe der Knechte Jhwhs und ihre Gerechtigkeit [kommt] von mir«) lässt die interne Auseinandersetzung im nachexilischen Jerusalem unüberhörbar werden: »Mit V.17b umfaßt der Ebed-Jhwh jetzt die innerhalb Israels abgesonderte Gruppe der ›Knechte Jhwhs‹, die in 56,6 sowie im Bereich von Jes 63–66 (vgl. bes. 54,13.17/66,12.14 nach 48,17f.) wieder begegnen und schichtenspezifisch sind« 111. In diesem Sinn ist auch das programmatische »Auf!« (ywh) in 55,1 zu verstehen, das als freundliche Einladung unterbestimmt bliebe. Es steht als dringende Mahnung über dem gesamten siebten Teil des Jesajabuches (Kap. 55–66). Entweder man schließt sich der Gruppe der Knechte auf dem Zion an, die ein ganz eigenes Restaurationsprogramm vertreten, oder man lehnt sie und ihre Öffnung auf die Völkerwelt ab. Letzteres wird der Fall sein (vgl. Kap. 65–66). Da Jes 54 sowohl auf das dritte und vierte Gottesknechtslied als auch auf die Zion/Jerusalem-Texte in Kap. 49–52 rekurriert, ist das Kapitel jenen Texten diachron nachzuordnen. Darüber ist sich die Forschung durchweg einig. An der Frage aber, ob Kap. 54 einen einheitlichen oder einen mehrfach gewachsenen Text darstellt, scheiden sich die Geister. Als Vertreter der Maximalposition ist Odil Hannes Steck zu nennen, der das Kapitel auf gleich vier Wachstumsstufen verteilt.112 Doch drängt sich bei einer derart starken Schichtung die Frage auf, wie es überhaupt zu einem so sinnvollen Gesamttext kommen konnte. Moderater fällt die diachrone Beurteilung bei Hans-Jürgen Hermisson aus, der von einer entstehungsgeschichtlichen Zweiteilung ausgeht: 54,1–10 gehöre zum ältesten Grundbestand, der vor 539 anzusetzen sei. 54,11–17 weist er einer »qarob-Schicht« (=Naherwartungsschicht, U.B.) aus frühnachexilischer Zeit zu, welche die Nähe des kommenden, aber noch nicht eingetroffenen Heils betone. So mahne diese Schicht zur ethischen Umkehr.113 Eine noch schlankere Diachronie vertritt Jürgen 110 Beuken 1983, S. 272 (Übers. U.B.). 111 Kratz 1991, S. 147. 112 Steck 1992a, S. 125. 113 Hermisson 1989, S. 294f.311.
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van Oorschot, der das Kapitel für fast ganz einheitlich hält114 und es seiner »sekundären Zionsschicht« zuweist, die er grosso modo in das 5. Jh. datiert.115 Besondere Zweifel an der Zugehörigkeit zum Kernbestand weckt V. 13, denn das Motiv der Kinder unterbricht die Darstellung der baulichen Erneuerung der Stadt. Auffällig ist zudem der Nominalstil, der sich mit dem Schlussvers (54,17b) deckt. Die Constructus-Verbindungen »Schüler Jhwhs« (V. 14) und »Knechte Jhwhs« (V. 17b) sind aufeinander bezogen. Beide Verse rekurrieren auf das dritte Gottesknechtslied und dessen Erweiterung. Aus diesen beiden späteren Zusätzen ergibt sich aber nicht zwingend, dass Jes 54,11–17 insgesamt »als eine spätere Anfügung zu betrachten [sei], die den Heilszustand Jerusalems bildlich auszumalen sucht«116. Trotz aller Differenzen in den diachronen Bewertungen zeichnet sich ein Grundkonsens ab, das Kapitel in die Zeit nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil, näherhin in die erste Hälfte des 5. Jh., zu datieren. Dafür spricht, dass die Gestalten der Leidensfrau und des Leidensmannes immer stärker aufeinander bezogen wurden. Theologischer Ertrag zum IV. Akt (Jes 52,13–54,17) Die zwei Szenen dieses Aktes, die von der Erhöhung des Knechts und von der Zions/Jerusalems handeln, sind erneut als Doppelbild zu betrachten: Der Mann der Schmerzen und die Schmerzensfrau stehen beide für die nachexilische Restaurationshoffnung der jesajanischen Tradenten. Worüber die Völker staunen werden, ist die unerwartete Zukunft des Gottesvolkes, das sich aus dem Staub der Exilskatastrophe erhebt. Zugleich entfachen die Heimkehrenden aus Babel und der Diaspora eine heftige Diskussion über die Leidensgeschichte, die nur von einem kleinen Teil der Daheimgebliebenen als Schuldersatzleistung für das Versagen des ganzen Volkes anerkannt wurde. Die frühnachexilischen Schriften des Alten Testaments zeigen zuhauf, dass es heftige Spannungen zwischen den Nachkommen der Deportierten und der Nicht-Exilierten gegeben hat. Nur wenn und insofern die nachexilische Gemeinde die Leidensgeschichte der Exilierten als für sich heilswirksam anerkennt, ist Versöhnung möglich. Wer zu dieser Erkenntniswende bereit ist, gehört zu den Nachkommen des Knechts (53,10) und zu den Kindern Zions/Jerusalems, die zugleich »Schüler Jhwhs« sind (54,13). Sie werden in 54,17b erstmalig »Knechte« genannt, die sich des göttlichen Schutzes absolut sicher sein können. Die Auseinandersetzung zwischen den »abadim« und ihren Gegnern wird ab jetzt das Jesajabuch bis zum Ende hin prägen!
114 van Oorschot 1993, S. 256ff. 115 van Oorschot 1993, S. 290. 116 Labahn 1999, S. 171.
VII. Teil Jesaja 55–66 Die Knechte Jhwhs und ihre Gegner auf dem Zion
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VII. Teil Jesaja 55–66 Die Knechte Jhwhs und ihre Gegner auf dem Zion Die hier vorgeschlagene Einteilung, den dritten und letzten Hauptteil des Jesajabuches nicht mit Kap. 56, sondern mit Kap. 55 beginnen zu lassen, mag auf den ersten Blick verwundern. Dass 55,10f. eine worttheologische Klammer zu 40,6–8 herstellt und folglich Kap. 40–55 beschließt und die sogenannten tritojesajanischen Kapitel Jes 56–66 umfassen, gehörte bis vor Kurzem zum Standardrepertoire der alttestamentlichen Bibelkunde.117 Doch wie so oft bringen auch hier hartnäckige Rückfragen vergessene Aspekte ans Licht. So war sich überraschenderweise Bernhard Duhm selbst, der mit seinem Jesaja-Kommentar von 1892 als Erfinder »Tritojesajas« gelten kann, bei der Frage, wo der dritte Hauptteil beginne, gar nicht so sicher. Zu 56,1–8 führt er aus: »Der Abschnitt knüpft oberflächlich an Dtjes.s Schrift an, hat dagegen keinen Anschluss an die Fortsetzung […] Freilich ist 56,1–8 in der Form besonders ungeschickt und sieht eher wie ein Nachtrag oder ein Einsatz von fremder Hand aus«118. Sehr überzeugt klingt das nicht. Sollte der letzte Teil des Buches tatsächlich mit einer so konventionellen Formel wie hwhy rma hk »so spricht Jhwh« begonnen haben?119 Oft bleibt in der Forschung und besonders in Einleitungswerken ungenannt, dass auch andere Anfänge vorgeschlagen wurden. So lässt Christopher Seitz den letzten Hauptteil mit 54,1 beginnen und nennt ihn »Vindication of the Servant by God«. In diesem Schlussteil würden die Verheißungen von Jes 40–53, besonders jene, die den leidenden Knecht betreffen, endlich Wirklichkeit.120 Nach James Watts gehören 54,17c–56,8 zusammen, wobei 54,17c »a kind of title beginning this new section« sei.121 In der detaillierten Analyse von Jacques Vermeylen beginnt Tritojesaja mit 56,9.122 Und Marvin Sweeney zog bereits vor mehr als 25 Jahren aus dem programmatischen »Wehe« (ywh) in 55,1 die Konsequenz, dass hier der wichtigste Einschnitt vorliege, der den letzten Großteil des Buches eröffne. Zudem würden die pluralischen Imperative Maskulinum die Anreden an das weibliche »Du« Zions in Kap. 54 ablösen und sich auch in 56,1–8 fortsetzen.123 Nimmt man noch die Bedeutung der ersten Nennung der »Knechte« in 54,17b hinzu und erkennt, dass die große Jesaja-Rolle von Qumran dieses Bikolon außergewöhnlich klar markiert124, verdichten sich die Indizien für Jes 55 als Beginn des letzten Großteils. Das heißt nicht, dass dieses Kapitel keine Verbindungen zu den vorhergehenden Kapiteln aufwiese (u.a. 55,10f. und 40,6ff.125). Doch die Bezüge zu den nachfolgenden Kapiteln – besonders zu 56,1–8 – müssen stärker als bisher in Betracht gezogen 117 U.a. Zenger 2012, S. 532ff. 118 Duhm 1922, S. 419. 119 Vgl. Wegner 2010, S. 84. 120 Seitz 2001, S. 481. 121 Watts 1987, S. 244. 122 Vermeylen 1978, S. 458. 123 Sweeney 1988, S. 87f. 124 Berges 2014, S. 66ff. 125 Vgl. Paganini 2002, S. 28f.
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werden. So ist die Rede vom »Zeichen« bzw. »Namen«, das bzw. der nicht getilgt wird (55,13; 56,5), eine dieser engen Verbindungen, die nicht zufällig zustande gekommen sind. Die These von Marvin Sweeney hat daher viel für sich, dass Kap. 55 ursprünglich den Schluss von 40ff. gebildet habe, im vorliegenden Endtext aber den letzten Buchteil eröffne: »There are certainly many strong connections between chapters 55 and the preceding material. But while it is likely that chapter 55 was originally composed as the conclusion for chapters 40–55, in its present context it serves as an introduction to chapters 56–66, forming a ›bridge‹ between chapters 40–54 and 56–66. Isa 55–66 would then serve as the conclusion to Isa 40–66.«126 Dies trifft sich mit der Einschätzung von Peter Höffken, der 55,1–5 für einen Scharniertext hält.127 Blickt man auf Jes 55–66 insgesamt, so handeln Anfang und Ende von den Kriterien Jhwhs für die Teilhabe an seinem Bund und seiner Gemeinde. Der Aufforderung, sich den Knechten und damit dem erneuerten David-Bund anzuschließen (55,3f.), steht die radikale Trennung derer gegenüber, die sich dem Willen Gottes für das nachexilische Jerusalem widersetzen: »Chapters 55–66 begin and end with speeches which discuss Yhwh’s criteria for selecting those who fulfill His conditions for participation in the covenant. This is because these chapters are primarily concerned with discussing the nature of the new covenant community, the selection of those who will be a part of it, and the rejection of those who will not.«128� Während der Jakob-Israel-Teil (Kap. 40–48) und der Knecht-Zion-Teil (Kap. 49–54) mit Blick auf ihre Struktur linear aufgebaut sind und ein fortschreitendes Geschehen entwickeln, das von Babel an den Zion führt, besitzt der letzte Teil (Kap. 55–66) eine Mitte, die in der Heilsankündigung für Zion/Jerusalem (Kap. 60–62) besteht. Darin liegt mit Jes 61 nochmals ein Höhepunkt eingebettet. Um dieses Zentrum ist ein Rahmen kollektiver Klagen platziert, der sich mit dem bisherigen Ausbleiben des Heils auseinandersetzt (Jes 59; 63,1–64,11). Man wird nicht behaupten können, beide Texte seien von Anfang an aufeinander abgestimmt gewesen, vielmehr handelt es sich um eine Anordnung der Kompositoren. Gleiches gilt für die Anklagen, die auf eine Trennung zwischen Frevlern und Frommen hinauslaufen (56,9–58,14; 65,1–66,17). Den äußersten Kreis bilden die Aussagen über den Umfang der Gemeinde und die Zulassungsbedingungen, die anfangs nur einzelne Proselyten (56,1–8), zum Schluss die gesamte Völkerwelt (66,18–24) betreffen. Für die Anordnung dieser Texte, die zum Teil eigens verfasst, zum Teil aus der Tradition übernommen wurden, zeichnen wohl die literarisch geschulten Knechte verantwortlich. Durch das Kolophon in 54,17b und die dadurch erfolgte Neuinterpretation von Kap. 55 haben sie den gesamten letzten Teil des Jesajabuches unter ihre Autorität und Zielsetzung gestellt. So münden der Gerechtigkeitsdiskurs eines Jesaja ben Amoz und die Präsentation Jhwhs als des 126 Sweeney 1988, S. 88; vgl. Blenkinsopp 2002, S. 298. 127 Höffken 2006, S. 247. 128 Sweeney 1988, S. 88.
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einzig befreienden Gottes aus der Zeit des babylonischen Exils in einen nachexilischen Restaurationsentwurf, bei dem die Öffnung nach außen auf die Gerechten der Völker und die Begrenzung nach innen auf die Umkehrwilligen des Gottesvolkes Hand in Hand gehen. Die konzentrische Struktur ist sicherlich eine wichtige Verstehenshilfe für diese Kapitel.129 Das darf aber nicht dazu verleiten, jeden einzelnen Vers in diesen Bauplan hineinzwängen zu wollen. Darauf machte Willem Beuken bereits vor Jahren in seinem niederländischen Kommentar aufmerksam. Er unterstrich, dass es bei aller konzentrischen Fokussierung auch eine lineare Perspektive gibt, die sich besonders am Schicksal der Knechte festmacht.130 Versteht man den Knecht in 40ff. als das Kollektiv der ersten Rückwanderer aus Babel, wird diese Linearität noch plausibler: Mit und in den Knechten setzt sich der heimgekehrte Knecht fort! I. Akt Jesaja 55,1–56,8 Umfang der Gemeinde und Zulassung Mit dem programmatischen ywh »Wehe« in 55,1 (hier: »Auf!») und dem Wechsel der Sprechrichtung131 ist ein Neueinsatz gegeben. Das Auszugsmotiv in 55,12f. nimmt die hymnischen Verse in 48,20f. und 52,9f. auf. Zudem schlägt 55,10f. mit der Worttheologie eine Brücke zu 40,6–8. Damit ist auf der einen Seite ein konkludierender Effekt erreicht, auf der anderen folgt das »so spricht Jhwh« in 56,1 so unmittelbar, dass der Eindruck entsteht, der Diskurs von Kap. 55 solle fortgesetzt werden. Die Ankündigung, in Freude auszuziehen und so zu einem ewigen Zeichen zu werden, das nicht getilgt wird (55,12f.), liefert den Anstoß für die Frage, wer zu dieser Gemeinde gehören darf und wer nicht! Im Rückgriff auf das prophetische Ethos einer gerechten Lebensführung, das weltweite Geltung hat, sind alle Menschen aus Israel und den Völkern aufgerufen, sich der von Jhwh gewollten Gemeinde auf dem Zion anzuschließen. Das Bild der sich wunderbar wandelnden Vegetation (55,13), mit dem jene Menschen gemeint sind, die sich zur Lebensgabe in Jerusalem aufmachen (V. 1–3), wird in 56,3 aufgenommen: Kein Fremder und kein Eunuch soll sagen, er sei ein dürrer Baum, denn für das »ewige Zeichen« (µlw[ twa) werde Jhwh sorgen (56,5). Das »ewige Zeichen«, das nicht getilgt wird (55,13), verweist auf den »ewigen Namen« (µlw[ µv) in 56,5, der »nicht getilgt wird« (trky al). Die völkeroffene Perspektive von Jes 55 findet in 56,1–8 mit den Personengruppen der Fremden und Verschnittenen ihre gesellschaftliche Konkretisierung. In beiden Texten spielt das Nahesein (bwrq) Gottes bzw. seines Heiles (55,6; 56,1) eine zentrale Rolle. Der Ort des Wassers und der Lebensfülle für alle Dürstenden (55,1) wird in 56,7 mit dem Tempel Jhwhs identifiziert, der Menschen aus allen Völkern offensteht. Das Leitwort »Bund« (tyrb) 129 U.a. Berges 1998, S. 420. 130 Beuken 1989, S. 14f. 131 Anders als in Jes 54 wird Zion nicht mehr in der 2. Person feminin Singular angesprochen.
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II. Auslegung von Jesaja
verbindet beide Texte (55,3; 56,4.6). Es sind Fremde und Verschnittene, die sich »freuen« (jmc) dürfen, die Gott in seinem Tempel, dem Bethaus für alle Völker, erfreut (55,12; 56,7). I. Szene Jesaja 55,1–13 Weltweite Einladung Nach den Ankündigungen über die Erhöhung von Knecht (Jes 53) und Zion (Jes 54) und der Beistandszusage Jhwhs für deren Nachkommen, die Knechte (54,17b), ergeht mit Kap. 55 der Aufruf an alle Dürstenden, sich kostenlos an Getreide und Wein zu laben. Die Interjektion ywh, die ansonsten »Weherufe« einleitet (u.a. 5,8.11.18.20; 10,1; 13,1; 45,9f.), ist hier im Sinne von »Auf!« gebraucht (vgl. Sach 2,10f.). Damit wird die Dringlichkeit unterstrichen, mit der die Adressaten vor die Entscheidung gestellt werden, sich den Knechten anzuschließen oder sich ihnen und ihrer Zukunftsvision zu verweigern. Hier zeigt sich die weitreichende Folge des Kolophons in Jes 54,17b, denn nun bezieht sich das »Euch«, mit denen Gott einen ewigen Bund nach den unverbrüchlichen Gnadenerweisen an David schließt (55,3), auf die Knechte. Die Aufnahme der Davidstradition (u.a. 2 Sam 7; Ps 89) stellt keineswegs den Versuch einer monarchischen Restauration dar, die unter den Persern von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, sondern die kollektive Anwendung auf die Knechte. Sie sind der neue David, der in Jerusalem und Zion das Sagen haben soll. Wie jener einst Herrscher über Völker war, so weitet sich auch jetzt der Geltungsbereich über die Grenzen des Gottesvolkes aus: »An die Stelle der ins Davidreich eingegliederten nichtisraelitischen Nationen treten alle Völker der Erde«.132 Doch anders als zuvor ist das Ziel nicht mehr die Unterwerfung fremder Völker, sondern die Zeugenschaft ihnen gegenüber. Es geht somit um die »Erweiterung der Bundesverpflichtung«133. Die drei Funktionsbezeichnungen »Zeuge« (d[), »Anführer« (dygn) und »Gebieter« (hwxm) in 55,4 markieren die Identität der Knechtsgemeinde. Die Applikation dieser Titel im Singular auf das Kollektiv der Knechte (vgl. µkl »mit euch« in V. 3) stellt kein Problem dar, denn schon zuvor war der Knecht als kollektiver Zeuge angesprochen worden: »Ihr seid meine Zeugen, Spruch Jhwhs, und mein Knecht, den ich erwählt habe« (43,10; vgl. 43,12; 44,8). Die Knechte als Nachkommen des Knechts bezeugen das wahre Gottsein Jhwhs, der sich im babylonischen Exil als der einzig wahre Retter erwiesen hat. Die Position der Knechte gleicht der Davids als »Anführer« (vgl. 1 Sam 13,14; 25,30; 2 Sam 5,2; 6,21; 7,8). Doch jetzt geht es nicht mehr um Unterwerfung, sondern um Unterweisung. Diesen Aspekt verdeutlicht das dritte Nomen »Gebieter« (hwxm). Die Knechte gebieten nicht mehr wie Mose die Tora nur für Israel, sondern für alle, die sich Jhwh dürstend zuwenden (vgl. V. 5). Jedem aus Israel und den Völkern, der sich Jhwh zuwendet, ist sein »Erbarmen« (µjr) zugesagt, wie es zuvor Zion angekündigt war (54,7.8.10). Der Ausdruck wnyhla »unser Gott« (V. 7) weist erneut auf den Gruppencharakter 132 Lohfink 1994, S. 53. 133 Goldingay / Payne 2006, S. 363: »The Broadening of the Covenant Commitment«.
VII. Teil Jesaja 55–66 Die Knechte Jhwhs und ihre Gegner auf dem Zion
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der Sprechenden hin. Die Sammlung von Israel und von Menschen aus den Völkern hat ihre Entsprechung in der Fruchtbarmachung der Erde. Auch sie wird von oben durch Schnee und Regen befruchtet. Überall dort, wohin das lebensspendende göttliche Wort fällt, bringt es Frucht und kehrt nicht leer zu Gott zurück. Dieses Wort lässt Zypressen statt Dornen, Myrten statt Nesseln wachsen. Die wundersame Verwandlung der Natur wird auf die Wandlung von Fremden zu Freunden hin transparent: Wie Regen und Schnee die ganze Erde zum Lebensraum machen, so erweitert das Wort Gottes die Grenzen Israels zu Menschen aus den Völkern. Wer dieses Wort mit Regen und Schnee vergleicht, der darf sich nicht wundern, wenn diese Saat aufgeht und zum Zion kommt! II. Szene Jesaja 56,1–8 Zulassungsbedingungen Lässt man den dritten Teil des Jesajabuches mit 55,1 beginnen, wird auch der Gedankengang in 56,1–8 plausibler. Die offene Einladung, sich Jhwh und seiner Lebensgabe am Zion zuzuwenden, wird nun ganz konkret durchbuchstabiert. Ist sie so grenzenlos, dass sie auch Fremde, ja selbst Verschnittene, also Eunuchen/ Kastraten, einschließt? Die Radikalität der Forderung von 56,1–8 ist rezeptionsgeschichtlich daran abzulesen, dass die große Jesajarolle von Qumran (1QJesa) den Halbsatz in V. 6 »um Jhwh zu ›dienen‹ (trv) und den Namen Jhwhs zu lieben« auslässt. Dies gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die Auslassung nicht auf einen Abschreibfehler zurückgeht. Dass sich der Ausdruck µda ˜b »Menschenkind« innerhalb einer Diskussion um die Zulassung bzw. den Ausschluss von Unbeschnittenen und ihrem »Dienst« (trv) neben 56,1–8 nur noch in Ez 44,4–31 findet, ist sicherlich kein Zufall, sondern deutet auf den gleichen historischen Kontext hin.134 Wird in Ez 44,7 die Zulassung von Unbeschnittenen als ein »Brechen des Bundes« scharf verurteilt, so in Jes 56,4.6 als ein »Festhalten am Bund« vehement verteidigt. Sollten die Knechte, die für die bleibende Zulassung von Fremden und Verschnittenen zum Kult eintreten, einen levitischen Hintergrund haben, als Nachfahren levitischer Tempelsänger, die nach Babel exiliert worden waren, bekommt die in Ez 44,9–14 sichtbare Polemik gegen die Leviten als in der Wüstenzeit zum Götzendienst abgefallene Kultdiener ihre wahre Bedeutung. Die Verfasser von Ez 44 würden sich damit gegen die Position der Knechte stellen und ihnen vorwerfen, sie würden sich mit der Forderung nach einer Integration von Fremden und Verschnittenen so frevelhaft verhalten wie die unter Mose abgefallenen Leviten. Auf einen levitischen Hintergrund könnten auch die einzigen Belege im Jesajabuch von hwl »sich anschließen« in 56,3.6 hinweisen. Während sich nach Num 18,2.4 die Leviten dem Priester Aaron um niedriger Kultdienste willen anschließen sollen, haben sich nach Jes 56,6 die Fremden Jhwh direkt angeschlossen, um ihm zu dienen und seinen Namen zu lieben. Wie die Zulassung von Kastraten Dtn 134 Sommer 1998, S. 278.
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II. Auslegung von Jesaja
23,2f. widerspricht, so steht die Erlaubnis von Fremden zum kultischen Dienst Num 18,4 entgegen: »Und sie [=die Leviten] sollen sich dir anschließen und den Dienst am Zelt der Begegnung verrichten nach aller Arbeit für das Zelt; aber kein Fremder soll euch nahen«. Jes 56,7 muss vor diesem Hintergrund als bewusste Provokation gelten, denn danach sollen Fremde nicht nur als Zuschauer am Kult teilnehmen können. Jhwh sagt ihnen vielmehr die wohlgefällige Annahme ihrer Brand- und Schlachtopfer zu! Damit ist aber keiner billigen Entgrenzung das Wort geredet, denn die Aufnahme in die Reihe der Jhwh-Verehrer steht unter dem Imperativ einer gerechten Lebensführung. So werden gleich zu Beginn die zentralen Begriffspaare »Recht/Gerechtigkeit« (fpvm÷hqdx) und »Rettung/Gerechtigkeit« (h[wvy÷hqdx) genannt (V. 1). Während das erste Wortpaar in Jes 1–35 häufig belegt ist (u.a. 1,21.27; 5,7.16; 9,6), findet sich das zweite einige Male in Kap. 40–55 (45,8; 46,13; 51,5.6.8). Dass beide Wortpaare nun zusammenstehen, ist ein wichtiges Indiz dafür, dass der letzte Großteil des Jesajabuches auf bereits vorliegenden Texten aufbaut.135 Die argumentative Stoßrichtung tritt deutlich zutage: Kultische Fragen sind in bewährter prophetischer Tradition vom ethischen Verhalten her zu beantworten und nicht davon zu trennen. Wenn Ethik gelebt wird, ist Ethnie kein Integrationshindernis. Der Fremde, der Gerechtigkeit und Recht befolgt und sich dem Volk des Bundes angeschlossen hat, muss nicht befürchten, daraus wieder entfernt zu werden. Der Verschnittene soll nicht sagen, er sei ein »dürrer Baum« (56,3). Beiden gilt die unverbrüchliche Zusage Jhwhs, dass er ihnen in seinem Haus und in seinen Mauern ein »Denkmal und einen Namen« (yad vaschem/µvw dy) geben werde, der besser ist als Söhne und Töchter, einen ewigen Namen, der nicht getilgt wird (56,5). Die Weiterführung des Gedankens von 55,12f. liegt auf der Hand, denn dort waren die jubelnden Bäume und die Umwandlung von dürrem Holz in kostbare Gewächse das ewige Zeichen für Jhwh, das nicht getilgt wird. Ein Blick auf den mosaischen Ausschluss von Männern mit beschädigten Geschlechtsteilen (Dtn 23,2; vgl. Ez 44,9f.; Esra 9,1–4; Neh 9,2) macht deutlich, dass die Knechte nun in der Tat als »Anführer« und »Gebieter« in kultischen Fragen auftreten. Es war die Erfahrung der Fremde, welche die Knechtsgemeinde für die Zulassung von Jhwh-Verehrern aus den Völkern geöffnet hatte.136 Gott selbst führt diese zu seinem heiligen Berg und nimmt ihre Schlacht- und Brandopfer wohlgefällig an, denn sein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker sein (56,7; vgl. 1 Kön 8,41ff.; Sach 14,20f.). Mit der zweiten Redeformel dieser Szene, »Spruch Adonais Jhwh«, schließt sich der Kreis zur Eröffnung »so spricht Jhwh« in V. 1, zumal das Thema des göttlichen »Sammelns« (3x ≈bq in V. 8; vgl. 66,18) eine perfekte Klimax ergibt. Theologisch ist dieser Schlussvers äußerst bedeutsam, denn wer sich gegen die Aufnahme von Fremden und Verschnittenen stellt, der widersetzt sich der göttlichen Sammlungsbewegung! 135 Besonders Rendtorff 1991, S. 172ff. 136 Dazu Haarmann 2008.
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Wenn Jes 55 diachron betrachtet ursprünglich ein exilisch-frühnachexilisches Oratorium der Hoffnung abschloss, dann gehört das Kapitel in eine Zeit, als die ersten Heimkehrer bereits wieder in Jerusalem angekommen waren (nach 520). Noch scheinen hohe Erwartungen an die Heilszukunft geherrscht zu haben. Von einer Trennung zwischen Gerechten und Frevlern oder von Diskussionen um Zulassungsbedingungen ist noch keine Spur zu finden. Doch ließen das Heil und das Aufgehen des göttlichen Lichts über Zion auf sich warten, weil die ethischen und kultischen Voraussetzungen für das Kommen Jhwhs noch nicht gegeben waren. Es wird kein Zufall sein, dass die Bezeichnung »Knechte« in 54,17b; 56,6 fällt, dann aber erst wieder am Schluss in Kap. 65–66 aufgegriffen wird. Durch das Kolophon haben die Knechte sowohl Kap. 55 neu ausgerichtet als auch dieses Kapitel mit 56,1–8 verbunden. Der Streit um die Zulassung von Fremden und Verschnittenen sowie die Ankündigung, dass deren Opfergaben Jhwh wohlgefällig sein würden, gehören in eine Zeit, als der Jerusalemer Tempelkult wieder Fahrt aufgenommen hatte. Zu dieser Redaktion der »Knechte« gehören auch die Schlusskapitel (Jes 65–66). Die »Knechte« werden aber nicht komplett ins Abseits gedrängt worden sein, denn aus einer Position der Schwäche hätten sie kaum die Energie für das Zustandekommen von Jes 40–66 und möglicherweise für das Jesajabuch in toto aufbringen können. Theologischer Ertrag zum I. Akt (Jes 55,1–56,8) Die beiden Szenen vom Aufruf an alle Durstigen, zum Wasser, also nach Zion/ Jerusalem zu kommen (55,1ff.), und der Öffnung der Kultgemeinde auf alle Menschen aus den Völkern (56,1ff.) gehören im vorliegenden Endtext als Doppelbild zusammen. Anders als zu den Zeiten Davids ist das Ziel der göttlichen Bundeszusage nicht die Unterwerfung fremder Völker, sondern ihre Belehrung. Sie werden nicht mehr feindlich heimgesucht, sondern kommen freudig und freiwillig um des »Heiligen Israels willen, der dich herrlich gemacht hat« (55,5). Die hymnischen Verse, welche die erste Szene beschließen, bejubeln eben diese Menschen aus den Völkern, die wie ein Naturwunder alle menschlichen Maßstäbe überschreiten, wenn sie zum Zion kommen (55,12–13). Diese Inklusivität ist zum einen grenzenlos, zum anderen strikt an das Tun der Gerechtigkeit gebunden. Wo Ethik völkerübergreifend gelebt wird, stellt die ethnische Zugehörigkeit kein Integrationsproblem dar. Die Zulassung zum Jhwh-Kult bedeutet keine Aufweichung der Volk-Gottes-Konzeption, denn Fremde und Kastraten werden zwar Teilnehmer des Kultes, nicht aber Mitglieder Israels! II. Akt Jesaja 56,9–57,21 Prophetische Anklagen und Heilsworte Der zweite Akt ist deutlich zweigeteilt. In der ersten Szene finden sich prophetische Anklagen, in der zweiten besonders Heilsworte. Ziel ist es, auf eine Verhaltensänderung der Adressaten hinzuwirken, denn ohne sie ist eine Teilhabe am Heil unmöglich.
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II. Auslegung von Jesaja
I. Szene Jesaja 56,9–57,13 Prophetische Anklage In einer Scheltrede werden zunächst den Anführern (56,9–12), dann dem Volk (57,1–13) soziale und kultische Vergehen vorgeworfen. Die Anklage gegen die Führungsschicht beginnt mit einem Aufruf an alle Tiere des Feldes und Waldes, zum Fressen herbeizukommen (56,9). Der Kontrast zur Einladung in 55,1–3 ist aufgrund zahlreicher Stichwortverbindungen unübersehbar (»kommen«: 56,9; 55,1.3; »essen/fressen«: 56,9; 55,1f.; »nefesch«: 56,11; 55,2; »sich sättigen«: 56,11; 55,2; »Wein«: 56,12; 55,1). Waren zuvor alle Dürstenden zum Trinken und Essen an den Zion eingeladen, so nun alle wilden Tiere zum Fressen. Zwar ist lka »essen/ fressen« im Jesajabuch, wenn es um Tiere geht, immer positiv konnotiert (5,17; 11,7; 30,24; 65,25), doch macht hier der Kontext klar, dass die wilden Tiere für Menschen stehen, zumal die Führer mit stummen Hunden verglichen werden. Daher kann das »Fressen« in 56,9 nur negativ konnotiert sein und kein friedliches »Abweiden« bedeuten. Dass es hier um die Erweiterung des Heils von 55,1–3 auf die Tierwelt geht137, scheint somit wenig wahrscheinlich. Auch im unmittelbaren Kontext ergäbe dies wenig Sinn, denn in 56,7 nimmt Jhwh Brand- und Schlachtopfer wohlgefällig an: Sollen auf Zion die einen Tiere geopfert werden und die anderen genüsslich weiden? Richtig bleibt aber, dass V. 9 sowohl in 1QJesa als auch in 1QJesb zum Vorangehenden gezogen wird, was nach Josef Oesch ebenfalls für eine allegorische Deutung der Tiere spricht.138 Demzufolge stünden die Tiere für die Fremden, die zur Teilnahme am Leben in Jerusalem und auf Zion eingeladen seien (56,1ff.). Literargeschichtlich ist V. 9 als Scharniervers anzusehen, der unter Aufnahme des Vokabulars von 55,1–3 die Scheltrede gegen die blinden Wächter einleitet, die mit stummen Hunden verglichen werden, die zugleich gierig sind (56,10–12). Der Gegensatz zur Einladung von 55,1ff. zum Fest ist unabweisbar, zumal sich die Volksführer in 56,12 mit Alkohol betrinken und jeden Tag ein rauschendes Fest feiern wollen. Bei solchen Führern, die sich nur selbst weiden, fühlen sich die Tiere des Waldes und des Feldes eingeladen (»kommt«: 56,9.12), von deren Pflichtvergessenheit zu profitieren. Dabei liegt eine Anleihe aus dem Weheruf in 5,11 vor, der die Zustände im Weinberg Gottes vor Augen führt139, aber auch aus der prophetischen Anklage in Jer 12,9–11 (vgl. Ez 34). Dass sich jeder seinem eigenen Weg zuwendet (56,11), ist aus 53,6 übernommen. Während fremde Könige zu völlig neuer Einsicht kommen (52,15), begreifen die Führer Israels nichts (56,11), selbst dann nicht, wenn die »Männer der Treue« hinweggerafft werden (57,1). Der Einsicht fremder Könige steht die Uneinsichtigkeit der eigenen Führungsriege gegenüber. Mit dieser prophetischen Anklage, die sich zunehmend der Schriftgelehrsamkeit in Aufnahme und Aktualisierung bereits vorliegender Texte bedient, sprechen die Knechte den Führern des nachexilischen Jerusalem jede Autorität ab und beanspruchen sie im Gegenzug für sich selbst. 137 Paganini 2006, S. 108. 138 Oesch 1979, S. 221f. 139 Vgl. Beuken 1989, S. 52.
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Sie verstehen sich als die Wächter, die Jhwh auf die Mauern Jerusalems gestellt hat (62,6). Solange die blinden Späher und stummen Hunde das Sagen haben, kommt der Gerechte um, ohne dass jene sich um das gewaltsame Ende der »Männer der Treue« kümmern (57,1). Während die faulen und gierigen Führer zu ruhen belieben (56,10), sind es die dahingerafften Frommen, die auf ihren Lagern in wirklichem Frieden ruhen (57,2). Ihre Ruhestätten stehen dem hurerischen Beilager der idolatrischen Bevölkerung Jerusalems gegenüber (57,7f.). Die prophetische Anklage gegen die Götzendiener in 57,3–13 weist eine große Nähe zu den Formulierungen im Gerichtswort gegen die hochmütige Tochter Babel auf (Kap. 47). Wie Babel nicht ihres bitteren Endes gedachte (V. 7), so gedenkt das nachexilische Jerusalem nicht des künftigen Handelns Jhwhs (57,11). Zugleich verweisen die »Kinder der Zauberin« (57,3) auf die »Zauberer« in 2,6 und damit auf die Sozialund Kultkritik am Beginn des Jesajabuches. Dass Fremdkulte auch in nachexilischer Zeit florierten, kann mit großer Sicherheit angenommen werden (vgl. 65,3–7.11; 66,3; Ez 33,24ff.; Sach 10,2; 13,2; Lev 17,7; Ijob 31,26f.; Ps 40,5). Inwieweit der Vorwurf der »Kinderopfer« (vgl. u.a. Lev 18,21; Dtn 12,31; 18,10; 1 Kön 11,7; Jer 7,31; 19,5; Ez 16,20; 20,31; Mi 6,6f.; Ps 106,37f.) historischer Realität entspricht oder überbordender Polemik geschuldet ist, muss dahingestellt bleiben. Auf synchroner Ebene ist der Vorwurf an dieser Stelle so heftig, weil er der göttlichen Zusage an die Eunuchen entgegensteht, dass Jhwh ihnen eine bessere Zukunft geben werde als die leiblicher Nachkommen (56,5). Einen letzten Gegensatz zwischen dem Gerechten und der Masse der Bevölkerung markiert 57,13b, der V. 13a antithetisch weiterführt und zum Heilswort in V. 17ff. überleitet. Dabei spielen die Verfasser mit den unterschiedlichen Bedeutungen der Wurzel ljn, die sowohl »in Besitz nehmen/erben« als auch »Bachtal/Wadi« meinen kann: Liegt der Anteil des treulosen Jerusalem bei den »Glätten des Bachtals« (57,6a), eben dort, wo man den Fremdkulten nachgeht, beerbt derjenige den heiligen Berg, der sich ganz auf Jhwh verlässt (57,13b). Gerade das anschließende Heilswort unterstreicht die Pragmatik der Umkehrpredigt: Noch bleibt Zeit, den Götzendienst aufzugeben und sich dem wahren Jhwh-Kult anzuschließen. Am Ende des Buches besteht diese Möglichkeit nicht mehr (vgl. 66,24)! II. Szene Jesaja 57,14–21 Prophetisches Heilswort und Mahnung Die noch verbleibende Zeit soll zur Änderung der Lage genutzt werden, wobei die Verfasser auf das ihnen bekannte Wort vom Herrichten der Straße und vom Ausräumen aller Hindernisse rekurrieren (vgl. 40,3; 62,10). Dabei geht es nicht um eine Straßenbaumaßnahme vor den Toren Jerusalems, sondern um das Ausräumen aller Hindernisse, d.h. aller sozialen und kultischen Missstände, die der Heilankunft Jhwhs entgegenstehen. Das Wort lvkm »Hindernis« gehört insbesondere zur Sprache Ezechiels (u.a. Ez 3,20; 7,19; 14,3.7; 18,30; 21,20; 44,12) und kommt ansonsten nur noch sehr selten vor (Lev 19,14; 1 Sam 25,31; Ps 119,165;
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II. Auslegung von Jesaja
Jer 6,21). Dies lässt vermuten, dass den Verfassern neben der Jerusalemer JesajaTradition, in der das Wort ebenfalls begegnet (Jes 8,14), auch die Diktion des Ezechielbuches bekannt war. Das Gotteswort, das sie in 57,15 mitteilen, ist außergewöhnlich feierlich eingeleitet. Dabei greifen sie zum einen auf die Tempelvision in Jes 6 zurück (vgl. »hoch und erhaben«: 6,1; »heilig«: 6,3), um die Transzendenz Jhwhs zu unterstreichen, zum anderen aber auch auf das vierte Lied vom Gottesknecht, um die Nähe Gottes zu den »Zerschlagenen« (akd: 53,5.10; 57,15[2x]) zu betonen. Seine unfassbare Größe (2,11.17; 12,4; 33,5; 52,13) macht Jhwh nicht zu einem fernen Gott, sondern zu einem, der wirklich retten kann und retten will (vgl. 66,2). Das Stichwort »heilen« (apr: 57,18.19) stellt eine weitere Verbindung zu 53,5 und 6,10 her. Wirklicher »Friede« (zweifaches µwlv) und Lob auf den Lippen der Trauenden kommen erst dann zustande, wenn die Ungerechtigkeiten beseitigt sind. Gottes Zorn gegen das Unrecht wird nicht zur endgültigen Vernichtung führen, sondern findet seine Grenze an der Geschöpflichkeit des Menschen (V. 17f.). Die starke Betonung der noch bestehenden Möglichkeiten zur Verhaltensänderung deutet unter diachronem Blickwinkel auf eine gemeinsame redaktionelle Herkunft von 56,9–57,21 hin. Gleiches ist auch über den nachfolgenden dritten Akt zu sagen, der mit Kap. 58–59 die Gründe für die Heilsverzögerung offenlegt. Für 56,9–59,21 gilt insgesamt, dass diese »Umkehr-Redaktion«140 die Heilsverheißung von Kap. 60–62 auf die Bußfertigen im Gottesvolk reduziert. Als spätere Ergänzung hat 57,20–21 zu gelten, denn die Redeformel in V. 19b »spricht Jhwh« (hwhy rma) markiert das Ende der Gottesrede, die mit V. 15 einsetzte. Daran schließt sich mit V. 20–21 ein weisheitlicher Zusatz an, der mit dem zentralen Stichwort »Frevler« (µy[vr) beginnt und endet.141 Jetzt geht es nicht mehr um den prophetischen Protest, sondern um ein intellektuelles Nachdenken über das Wesen der Frevler. Für sie kann es keinen Frieden geben (V. 21; vgl. 48,22). Theologischer Ertrag zum II. Akt (Jes 56,9–57,21) Die beiden Szenen dieses Aktes sind durch prophetische Anklagen auf der einen und Heilsworte auf der anderen gekennzeichnet. Beide dienen dem gleichen Ziel, die Voraussetzungen für die Ankunft des göttlichen Lichts über Zion/Jerusalem (Jes 60ff.) zu schaffen. In der Zusammenschau ergibt sich ein beißender Kontrast zum vorhergehenden Akt, in dem alle Dürstenden, auch die Fremden, zum Essen und Trinken ohne Bezahlung eingeladen wurden. Jetzt werden die Wächter als gierige Hunde angeklagt, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Die Gefahr für das nachexilische Gemeinwesen kommt nicht von außen, sondern von innen. Wo die Ethik versagt, machen sich auch die Fremdgötterkulte breit, denen Jhwh als Gott der Gerechtigkeit gegenübersteht. Er ist zur Heilung der Nahen und Fernen bereit, ausgeschlossen sind dagegen die Frevler! 140 Berges 1998, S. 550. 141 Vgl. Pauritsch 1971, S. 70.
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III. Akt Jesaja 58–59 Gründe der Heilsverzögerung Nach Jhwhs Bereitschaft zu Trost und Heilung liegt es nun am Gottesvolk, sich von seinen Sünden abzuwenden. So steht das Stichwort »Jakob« an strategischen Stellen: am Anfang (V. 1) und Ende von Kap. 58 (V. 14) sowie am Schluss von Kap. 59 (V. 20). Die letzten beiden Verse geben das Ziel des gesamten Aktes an: Jhwh kommt zwar als Löser zum Zion, aber nur zu denen, die sich von den Vergehen in Jakob abwenden. In einem Vers stehen »Zion« und »Jakob« im gesamten Jesajabuch nur noch in 2,3 zusammen! Die Aufforderung zur Umkehr geht mit einer großen Verheißung einher: Mit denen, die sich in Jakob von den Vergehen abwenden (Plural), schließt Jhwh in 59,21 seinen Bund und legt seinen Geist auf ihn (Singular). Erneut zeigt sich, dass das Kollektiv »Jakob« aus all denen besteht, die sich dem mahnenden und verheißenden Gotteswort öffnen. Am Bußgebet von 59,9–14 wird deutlich, dass sich zumindest einige der Adressaten zur Umkehr bereit fanden. Damit gehören sie zu den Knechten, die sich mit dem Gottesgeist begabt wissen. I. Szene Jesaja 58 Klärungen in der Sabbat- und Fastenfrage Richteten sich die Anklagen von 56,9–57,13 gegen die Verursacher schwerster sozialer und kultischer Verfehlungen, so beziehen sich die Mahnungen in 58,1–14 auf diejenigen, die der Meinung sind, selbst Gerechtigkeit zu üben und nicht vom Recht abzuweichen (V. 2). Daraus leiten sie den impliziten Vorwurf ab, Jhwh hätte sich bereits heilvoll zeigen müssen. Sie fühlen sich Gott gegenüber im Recht, da er ihr Fasten und ihre Selbstkasteiung offensichtlich nicht beachtet (V. 3a). Die Frage nach dem gottgefälligen Fasten in V. 3–12 passt gut in die nachexilische Zeit, in der Klagefeiern mit den entsprechenden Selbstminderungsriten sowohl zum Gedenken an den Fall Jerusalems als auch zur Aufforderung um ein baldiges Eingreifen Jhwhs abgehalten wurden (Sach 7,1ff.; 8,18f.; Neh 9,1f.; Esra 9,5; vgl. auch Klgl). Nicht das Fasten wird hier in Frage gestellt, sondern die rein äußerliche Selbstkasteiung, die von den sozialen Verpflichtungen gegenüber den Armen völlig absieht. Das Wort µwx »Fasten« findet sich im Jesajabuch nur in Jes 58, hier aber gleich sieben Mal (V. 3[2x].4[2x].5[2x].6). Das Fasten soll den Menschen nicht verschließen, sondern ihn im Gegenteil für die Bedürftigkeit anderer öffnen. Wer so fastet, der findet Heilung, dem geht seine Gerechtigkeit voran und zieht Jhwhs Herrlichkeit als Nachhut hinterher. Nun geht es nicht mehr um den Aufbruch aus den Orten der Zerstreuung, sondern um den Exodus aus den eigenen Egoismen.142 Wer der Unterdrückung der Armen ein Ende macht, sein Brot mit den Hungrigen teilt, dem geht in der Dunkelheit ein Licht auf. Die Verheißung des göttlichen Lichts über Jerusalem (60,1; 62,1), d.h. der Heilsankunft Jhwhs, wird jedem einzelnen zugesprochen, der Gerechtigkeit und Solidarität übt. Wenn jedem, der so handelt, die Finsternis hell wird (58,10), wird über Zion/Jerusalem 142 Lack 1973, S. 134: »l’exode sur place«.
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das Licht aufgehen und zum Licht der Völker werden (vgl. 2,2–5). Damit Zion zum Gottesgarten werden kann (51,3), braucht es konkrete Menschen, die einem bewässerten Garten gleichen, dessen Wasserquellen nicht versiegen (58,11; vgl. Jer 31,12). Sie sind es, die das zerrissene Gemeinwesen wieder aufrichten, die nicht nur die Breschen in den Stadtmauern schließen, sondern auch die gesellschaftlichen Risse heilen (58,12). Die anschließende Betonung der Sabbatheiligung durch die Unterbrechung von Geschäft und Handel (V. 13–14; vgl. Ex 20,8ff.; Dtn 5,12ff.) setzt inhaltlich das Thema der sozialen Verantwortung fort. Wie bei der Fastenfrage geht auch beim Sabbatgebot religiöses und gesellschaftliches Tun Hand in Hand. Wer am Sabbat seine wirtschaftlichen Aktivitäten ruhen lässt, muss nicht befürchten, dadurch ins Hintertreffen zu geraten, denn Jhwh verspricht, er werde ihn auf den Höhen des Landes einherfahren und das Erbe seines Vaters Jakobs genießen lassen (58,14). Nicht das ununterbrochene Geldverdienen, sondern das Einhalten des Ruhetages garantiert die Gaben des Erblandes: »Ja, so hat der Mund Jhwhs gesprochen« (V. 14; vgl. 1,20; 40,5). Da das Sabbatgebot ursprünglich nicht mit der Fastenpraxis gekoppelt war, geht diese Verbindung wohl auf das Konto der Verfasser dieser »Umkehr-Redaktion«. Dass der Einhaltung des Sabbatgebots gerade in nachexilischer Zeit eine soziale Schutzfunktion zukam und von daher eingefordert wurde, zeigen Stellen wie etwa Neh 10,32; 13,15. II. Szene Jesaja 59 Abweisung der Klage, Jhwh könne nicht retten Die Szene ist dreigeteilt: Zunächst bestreiten die Verfasser mit der prophetischen Scheltrede in 59,1–8 den Vorwurf, Jhwh könne bzw. wolle nicht retten (V. 1; vgl. 50,2). Sie tun dies mit dem Hinweis auf die Sünden der Adressaten, die jene von ihrem Gott »trennen« (ldb). Die direkte Anrede (»ihr«) in V. 2–3 geht in die beschreibende Rede »er/man« (V. 4) und »sie« (V. 5–8) über. Als Reaktion darauf folgt das Schuldeingeständnis einer Gruppe (V. 9–15a). Diese »Wir« haben auch gesündigt, aber sie gehören zu den sich Bekehrenden in Jakob (V. 20). Damit ähneln sie den »Wir« im vierten Gottesknechtslied. Mit dem Bekenntnis zur eigenen Schuld ist zwar der Grundstein für eine bessere Zukunft gelegt, doch das erhoffte Heil bleibt weiterhin aus. Dass es in V. 15a fast resignierend heißt, »wer sich vom Bösen abwendet, der wird geplündert«, bringt die Situation der Umkehrwilligen adäquat zum Ausdruck. Die Lage ist auf Dauer unerträglich und so setzen die Verfasser Jhwh als kampfbereiten Streiter für die Gerechtigkeit in Szene (V. 15b–20). Bei den Waffen, mit denen sich Jhwh bekleidet, handelt es sich um Defensivwaffen (»Panzer«, »Helm«). Das könnte darauf hindeuten, dass es primär nicht um die Vernichtung der Gegner, sondern um die Verteidigung der Frommen geht. Wie schon mehrfach beobachtet, kommt es auch hier zu einem Zusammenspiel von konkreter gesellschaftlicher Analyse und schriftgelehrter Bezugnahme auf bereits vorhandene Texte aus dem anwachsenden Jesajabuch. So nimmt die Ab-
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weisung des Vorwurfs, Jhwhs Hand sei zu kurz zum Retten (59,1), die Redeweise von 50,1–2 auf. Dass die Hände der Adressaten mit Blut befleckt seien (59,3), rekurriert dagegen auf das Wort Jesajas in 1,15. Die prophetischen Verfasser sehen und bewerten die Lage des Gottesvolkes im 5. Jh. im Licht der jesajanischen Tradition aus dem 8. Jh. Hatte Jhwh damals strafend eingegriffen, so rüstet er sich nun erneut zum Kampf. Für die Umkehrwilligen legt er die Gerechtigkeit wie einen Panzer an, setzt den Helm der Rettung auf und bekleidet sich mit den Gewändern der Vergeltung und des Eifers (V. 17f.). Bevor er Jerusalem in Gewänder des Heils und in den Mantel der Gerechtigkeit kleiden kann (61,10), muss er sich selbst mit Vergeltung und Eifer bekleiden! Jhwh wird der Abwesenheit von Recht, Gerechtigkeit und Rettung ein Ende machen (V. 9.11.14), wenn er als »Löser« (Go’el) zum Zion kommt, zu denen, die sich von der Sünde in Jakob abwenden (V. 20). Nur ihnen gilt Jhwhs Bund (V. 21), der darin besteht, dass sein Geist auf ihnen und ihren Nachkommen bleibt. Damit beanspruchen die Verfasser für sich und ihre Nachkommen prophetische Legitimation. Dabei nehmen sie 51,16 auf und verstehen sich als Nachfolger des prophetischen Mose (vgl. Dtn 18,18). Mit dem dreifachen [rz »Nachkommen/Saat« geben sie sich als Kinder des Gottesknechts zu erkennen (53,10). Theologischer Ertrag zum III. Akt (Jes 58–59) In diesem Akt stehen Fasten- und Sabbatfrage einerseits (Kap. 58) und das Gebet der Bußfertigen anderseits zusammen (Kap. 59). Nur wer die Fastenpraxis mit einem aufrichtigen sozialen Engagement verbindet und den Sabbat trotz geschäftlicher Einbußen hält, kann darauf hoffen, dass Jhwh als Erlöser zum Zion kommt (59,20). Gegen die Feinde dieser Ordnung geht Jhwh als vergeltender und strafender Gott vor. Die Trennlinie wird immer deutlicher nach ethischen, nicht nach ethnischen Maßstäben gezogen. Dass die Verfasser zu einer solchen Auslegung des Gotteswillens berechtigt sind, untermauern sie mit der Zusage eines Bundes von Seiten Jhwhs, der hier nicht davidisch-königliche (55,3), sondern mosaisch-prophetische Züge trägt (59,21). IV. Akt Jesaja 60–62 Jerusalems und Zions zukünftige Herrlichkeit Die Forschungsmeinung der letzten Jahrzehnte geht dahin, diese drei Kapitel als die ältesten Stücke im Schlussteil des Jesajabuches anzusehen. Sie seien in großer Nähe zu 40ff. entstanden und von »Tritojesaja«, einem Schüler »Deuterojesajas«, verfasst worden. Für eine gemeinsame Betrachtung sprechen in der Tat die engen lexikalischen und thematischen Übereinstimmungen (u.a. »Völker/Könige«: 60,3.5.11.16; 61,6.9.11; 62,2.10; »Fremde«: 60,10; 61,5; 62,8; »verherrlichen«: 60,7.9.13.19.21; 61,3.10; 62,3; »Gerechtigkeit«: 60,17.21; 61,3.10.11; 62,1.2; »sich freuen«: 60,15; 61,3.10; 62,5; »Namensgebung«: 60,14.18; 61,3.6; 62,2.4.12) sowie die Rahmungen, die sich um den Mittelteil legen. Nach Claus Westermann liegen
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diesen Kapiteln die drei Glieder der Klage zu Grunde: »Kap. 60 die Feindklage (ihr entgegen der Zug der Völker zum Zion), Kap. 61 die Wir-Klage (ihr entgegen Aufbau Zions und Wiederherstellung der Ehre) und Kap. 62 die Anklage Gottes«143. Diese Ansicht hat sich nicht durchsetzen können, zumal die Abfolge der Kapitel in eine andere Richtung weist: von der großen Heilsankündigung für Zion (Kap. 60) über die Befreiung von Gefangenen und Mittellosen (Kap. 61) zu Zions neuem Heil (Kap. 62). Demgegenüber hält Karl Pauritsch die Abfolge 61,1–9.11; 62,1–9 und 60,1–22 für ursprünglich144; bereits Bernhard Duhm hatte die Umstellung von Jes 56–60 und Jes 61–66 durch einen Redaktor erwogen.145 Doch gegen alle Umstellungshypothesen steht die einfache Frage, warum man eine ursprüngliche Kapitelfolge, die einen kohärenten Gedankengang ergab, aufgekündigt haben sollte? In der Forschung bleibt es sehr umstritten, welche Passagen in Jes 60–62 von »Tritojesaja« stammen. So hält z.B. Jacques Vermeylen Kap. 60 größtenteils für tritojesajanisch, spricht diesem Autor Kap. 61 komplett ab und belässt ihm in Kap. 62 noch ganze zwei Verse (V. 2–3).146 Dagegen brach Odil Hannes Steck völlig mit der Duhmschen Tritojesaja-Hypothese: Zwar seien Kap. 60–62 immer noch der älteste Abschnitt des letzten Buchteils, doch einen nachexilischen Propheten »Tritojesaja« habe es nie gegeben. Diese drei Kapitel seien nichts anderes als eine »literarische Fortschreibung von Jes *40–55 und im unmittelbaren Anschluß daran zu sehen«147. Diese Ansicht wird im vorliegenden Studienbuch geteilt. Dies ist insofern konsequent, als schon die These eines »Deuterojesaja« abgewiesen wurde. Es wird davon ausgegangen, dass das Oratorium der Hoffnung, das durch exilierte und um 520 nach Jerusalem zurückgekehrte Sängerkreise verfasst worden war, in nachexilischer Zeit mehrfach gestufte Erweiterungen erfuhr, die nicht nur auf Jes 40ff. Bezug nehmen, sondern auch auf die Jerusalemer Jesaja-Tradition sowie auf weitere Überlieferungen aus der Prophetie, den Psalmen und dem Pentateuch. Damit steht man vor dem Phänomen schriftgelehrter Prophetie, für die nur professionell geschulte Literaten in Betracht kommen, die in enger Nachbarschaft zum Jerusalemer Tempel gearbeitet haben müssen. Für eine zeitgeschichtliche Datierung von Jes 60–62 kommen an sich nur zwei Ereignisse in Frage, von denen wir aus der biblischen Literatur Kenntnis besitzen: zum einen die Einweihung des Zweiten Jerusalemer Tempels (520), zum anderen der Wiederaufbau der Stadtmauer unter Nehemia (445). So kann man sich der Datierung von Steck anschließen: »wegen des bereits wieder bestehenden Tempels und der aber erst wieder erhofften Ummauerung Jerusalems in die Zeit zwischen 515 und 445 v. Chr.«148. Dies passt gut zur »Umkehr-Redaktion« von 56,9–59,21, 143 Westermann 1981, S. 297. 144 Pauritsch 1971, S. 106; vgl. de Moor 1997, S. 346. 145 Duhm 1922, S. 15. 146 Vermeylen 1978, S. 503. 147 Steck 1989, S. 376. 148 Steck 1989, S. 374.
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die in die 2. Hälfte des 5. Jh. fällt, und zur Endredaktion der »Knechte«, die am Ende des 5. Jh. bzw. zu Beginn des 4. Jh. zu verorten ist. Auf ihr Konto geht auch die Neuorientierung von Jes 55 durch die Einschreibung von 54,17b, sowie die Frage nach den Zulassungsbedingungen (56,1–8) und die radikale Trennung von Gerechten und Frevlern (Kap. 65). Mit Jes 66 hat sich der Konflikt weiter zugespitzt, zumal der Tempelkult als nicht mehr reformierbar erachtet wird. I. Szene Jesaja 60 Lichtvision über Zion Nach der Adressierung eines männlichen »Du« in 59,21 und der dreifachen prophetischen Spruchformel in 59,20f. ist mit der Anrede Zions in der 2. Person feminin Singular ein klarer Neueinsatz gegeben. Dies gilt umso mehr, als sich in den gesamten drei Kapiteln 60–62 keine einzige Spruchformel findet! Zion sieht sich in Kap. 60 dem »Ich« Gottes unmittelbar gegenüber (vgl. 1. Person Singular in V. 7.9.10.13.15.16.17.21.22), der ihr eine Heilszukunft ankündet (Imperfektund konsekutive Perfektformen).149 Die ersten vier Strophen (V. 1–3; V. 4–5; V. 6–7; V. 8–9) inszenieren Zion als lichterfüllte Gottesstadt, zu der sich sowohl ihre Kinder als auch die Völker mit ihren Gaben auf den Weg machen. Die nächsten drei Strophen (V. 10–11; V. 13–14; V. 15–16) vermitteln den Eindruck, als hätten die zur Gottesstadt Ziehenden ihr Ziel erreicht. Sie nennen sie »Stadt Jhwhs« und »Zion des Heiligen Israels« (V. 14b). Solche Namensgebungen sind ein Markenzeichen dieser Kapitel (60,18; 61,3.6; 62,2.4.12; 65,15; vgl. u.a. Ez 48,35). Der Höhepunkt liegt aber nicht etwa im Reichtum der Völker, sondern in der Gotteserkenntnis Zions, dass Jhwh ihr Retter und Löser ist (V. 16b). Zu diesem positiven Zukunftsbild liefert V. 12 einen Kontrapunkt, denn hier wird betont, dass jedes Volk, das nicht zum Zion kommt und ihr nicht dienen will, vernichtet werde. In den letzten drei Strophen (V. 17–18; V. 19–20; V. 21–22) geht es nicht mehr um die Völker, die ihre Gaben bringen, sondern um Jhwh, der für die richtige gesellschaftliche Ausstattung Zions sorgt. Gegenüber »Frieden« und »Gerechtigkeit«, die er als Aufsicht einsetzen wird, verblassen die Gaben der Völker wie Kupfer und Eisen beim Anblick von Gold und Silber (V. 17). Die Licht- und Heilsvision kommt erst mit der letzten Strophe in V. 20f. an ihr Ende, denn es sind die µyqdx »Gerechten« und nur sie, die das »Volk« (µ[) Zions ausmachen. Ihnen ist der Besitz des Landes und sicheres Wachstum als Pflanzung Gottes zugesagt (60,21f.). Damit ergibt sich eine Brücke zu den »Eichen der Gerechtigkeit« in 61,3, ohne die Zion/Jerusalem nicht zum Licht der Völker werden kann! Als historischer Hintergrund dieser Lichtvision über Zion werden in der Forschung häufig und zu Recht die hohen Erwartungen genannt, die sich an die nachexilische Restaurierung von Stadt und Tempel knüpften. War nach Hag 2,19b mit der Grundsteinlegung des zweiten Tempels die Zeit des Segens angebrochen150, so nach Jes 60 die Zeit des Lichts (sieben Mal rwa »Licht«). Die Rück149 So Spans 2015, S. 63f. 150 Leuenberger 2015, S. 222.
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bezüge auf das anwachsende Jesajabuch sind mannigfaltig. Besonders intensiv wird die Funktion des Ebed als »Licht der Völker« (42,6; 49,6) auf die Gottesstadt hin entfaltet: »Die deuterojesajanische Vorstellung, der Gottesknecht wirke als µywg rwa und leiste die Vermittlung der Weisung und des Rechts Jhwhs in die Völkerwelt hinein (vgl. 49,6; 51,4), wird in Jes 60 auf schriftgelehrte Weise entfaltet: Es ist die Gestalt Zion, die in dieser Lichtfunktion gezeichnet wird.«151 Doch kommt das Licht jetzt nicht mehr zu den Völkern, vielmehr machen sich Völker und Könige auf den Weg zum Licht, das über Zion erstrahlt (60,3). Statt zum Lernen der Tora (vgl. 2,2–4) kommen sie nun, um die unter ihnen verstreuten Kinder Zions zusammen mit kostbaren Geschenken zurückzubringen (60,4–9; vgl. 49,18ff.). Dass V. 1–9 zum Grundbestand von Jes 60 gehören, wird kaum bestritten. Dagegen wird V. 12 mehrheitlich als eine spätere Hinzufügung gedeutet: Der Kontrapunkt, dass bestimmte Völker Zion nicht dienen wollen, ist durch nichts vorbereitet. Auch sticht die Prosaform des Verses ins Auge. Dazu kommt die literarische Aufnahme von Jer 27,8: »Der Glossator von V. 12a überträgt das Schicksal, das den Nebukadnezar widerstrebenden Völkern angedroht wird, auf das Ergehen der Zion widerstrebenden Völker. Wie Jahwe seinerzeit die Machtposition Nebukadnezars garantiert hat, so jetzt die Machtposition Zions.«152 Schwieriger dagegen ist die diachrone Bewertung der V. 10–11, die Odil Hannes Steck der Grundschicht abspricht.153 Wie verhält sich die Verheißung von V. 10, dass Fremdvölker die Mauern der Gottesstadt wieder aufrichten würden, zur Aussage von V. 11, der zufolge die Tore der Stadt Tag und Nacht geöffnet bleiben? Wenn diese Aufforderung gelten soll, warum sollte man überhaupt noch Mauern restaurieren? Diese Frage übersieht jedoch die Inszenierung Zions als Heilsgelände, wonach die Mauern den Innenraum der Stadt begrenzen und deshalb aufgebaut werden müssen. Zugleich stehen die Tore allezeit offen, was die Zugänglichkeit für alle Gaben und Gabenbringer unterstreicht.154 Die Besonderheit der V. 17–22 lässt sich kaum von der Hand weisen. Der Völkerzug zum Zion spielt hier keine Rolle mehr.155 Während V. 17–18.19–20 stärker den Grundtext (V. 1–16 [ohne V. 12]) aufnehmen und verarbeiten156, leisten V. 21–22 den Anschluss an 61,1ff. (u.a. »Pflanzung«/»Gerechte« in 60,21 und »Eichen der Gerechtigkeit« in 61,3). Zweifellos kennen die Verfasser von 60,17–22 auch die Texte der »Umkehr-Redaktion« in 56,9–59,21 (u.a. »Verwüstung und Zusammenbruch« in 60,18; 59,7 sowie 51,19). Hier wie dort spielt das Thema der sozialen Gerechtigkeit eine große Rolle. Die Verfasser sind sich bewusst, dass zum materiellen Reichtum, der von außen kommt, Friede und Gerechtigkeit treten müssen, die von innen entstehen. 151 Spans 2015, S. 68f. 152 Lau 1994, S. 53. 153 Steck 1991a, S. 49ff. 154 Spans 2015, S. 178. 155 U.a. Westermann 1981, S. 288. 156 U.a. weisen die »Mauern« in V. 18 auf V. 10 zurück.
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II. Szene Jesaja 61 Die Geistsalbung der Zionsgemeinde Die Geistsalbung der Gerechten auf dem Zion steht im Zentrum von Jes 61 und damit auch in der Mitte von Jes 60–62. Durch das zweifache »Adonai Jhwh« in V. 1 und V. 11 ist eine Inklusion geschaffen, die das Kapitel klar abgrenzt. Eine Besonderheit gegenüber Kap. 60 und Kap. 62 liegt darin, dass es sich in Kap. 61 nicht um eine Gottesrede handelt, sondern um die »Ich«-Rede einer Gestalt, die in V. 1 von sich sagt, Jhwh habe sie mit seinem »Geist« (jwr) begabt und »gesalbt« (jvm). Damit wird Kap. 61 aber nicht zu einem Sonderfall innerhalb von Jes 60–62, vielmehr expliziert das Kapitel in geradezu notwendiger Weise, dass die Lichtfunktion Zions für die Völkerwelt nur dann zum Tragen kommen kann, wenn in ihr eine von Gott mit seinem Geist gesalbte Gruppe für die Gerechtigkeit eintritt.157 Der Wechsel vom »Ich« in V. 1 zum »Wir« in V. 2b ist für diese kollektive Identität ein wichtiges Indiz. Das geistbegabte »Ich« weiß sich zur Befreiung aus sozialer Knechtschaft gesandt, um einen »Tag der Vergeltung unseres Gottes« auszurufen. Wie der Gottesknecht in Kap. 40–54 das Gottesvolk repräsentierte, das Jhwh sich erwählte, so das »Ich« in Kap. 61 die Gemeinde der Gerechten auf dem Zion, welche die Arbeit des Knechts fortsetzt. Wie der Ebed zur Durchsetzung des göttlichen Willens mit seinem Geist begabt war (42,1; 44,3; 48,16), so auch »Zion«, das Volk der »Gerechten« (60,21), »die Eichen der Gerechtigkeit«, »die Pflanzung Jhwhs zur Verherrlichung« (61,3). Mit und in diesen Eichen, mit solchen Bewohnern, die alle Gerechte sind, verwirklicht sich die Zielbestimmung Jerusalems, die ihr schon in 1,26 von Jesaja in Aussicht gestellt worden war: »Stadt der Gerechtigkeit«! Wie der Gottesknecht nicht von der heimkehrenden und heimgekehrten Gola getrennt werden kann, so auch nicht das »Ich« Zions in Kap. 61 von seinen und ihren Nachkommen, den Gerechten, den Knechten. So trifft folgende Deutung der Zionsgestalt den Kern der Szene: »Als gesalbte Regentin repräsentiert sie die neue, von Frieden und Gerechtigkeit geprägte Herrschaftsform, wie sie Jes 60,17– 18 für die Gottesstadt vorsehen, und legt in dieser Funktion eine sozialethische Agenda […] vor. Jes 61 übernimmt somit jene Binnenperspektive, die bereits in den unmittelbar vorangehenden Versen Jes 60,17–22 dominiert, und entfaltet die Vorstellung einer innenpolitischen Wende in Zion.«158 Die synchrone Betrachtung führt zu einem dreigeteilten Aufbau des Kapitels. In der ersten Strophe (V. 1–3) steht Zions Geistbegabung und Beauftragung im Mittelpunkt. Die Übernahme von Charakterzügen des Knechts liegt auf der Hand, denn auch er war mit dem Gottesgeist begabt, um für die Durchsetzung des Rechts zu sorgen (42,1ff.). Das theologisch brisante Stichwort »salben« (jvm) verweist auf 45,1: Wie der Perser Kyrus von Jhwh zur Befreiung der Exilierten aus Babel berufen und gesalbt war, so nun Zion, d.h. die Gemeinde der Gerechten, zur Befreiung der Notleidenden und Unterdrückten. Hatte der Knecht in 42,6f. und 157 Vgl. Steck 1991b, S. 133–135. 158 Spans 2015, S. 203.278f.
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49,8f. die Exilierten aus Babel und der weiteren Diaspora im Blick, so Zion die Armen und Mittellosen. Dem Exodus aus der Fremde muss eine Befreiung aus wirtschaftlicher Unterdrückung folgen. Demgegenüber sieht Sandra Labouvie hier keine soziale Problematik angesprochen, vielmehr gehe es allein um die Herausführung des Gottesvolkes »aus der Finsternis seiner bisher andauernden Gerichtsverfallenheit in die als Offenheit des göttlichen Lichts empfundene Freiheit«159. Der Begriff »Licht« (rwa) kommt in Kap. 61 – im Gegensatz zu Kap. 60 (siebenfach) – nicht vor. Nach dem intensiven Werben Jhwhs um sein Volk kann von einer »Gerichtsverfallenheit« keine Rede sein. So ist der Begriff rwrd »Freilassung« (61,1) geradezu der Terminus technicus für die »Freilassung d. Sklaven im Sabbatjahr«160 (Lev 25,10; Jer 34,8.15.17; Ez 46,17). Ein Blick auf die Klage der verarmten Bevölkerung in Neh 5 macht schnell deutlich, zu welch extremen Nöten die gesellschaftliche Zerklüftung in der nachexilischen Zeit geführt hatte. Fanden sich in der ersten Strophe nur Perfekte und Infinitive (V. 1–3), dominieren in den beiden nächsten Strophen (V. 4–6; V. 7–9) die konsekutiven Perfekte und Imperfekte. Von der bereits geschehenen Geistsalbung mit der Sendung in den Alltag führen die Strophen II und III in die weitere Zukunft. Im Zentrum der V. 4–9 steht das zukünftige Priestertum der Angesprochenen: »Ihr werdet Priester Jhwhs genannt, Diener unseres Gottes wird von euch gesagt werden« (V. 6). Fremde werden die profane Arbeit der Landwirtschaft verrichten (V. 5), während die angesprochenen Gerechten sich dem priesterlichen Tun widmen können. Mit Blick auf 60,10 liegt es nahe, dass es auch in 61,4 diese Fremden sind, welche die Wiederaufbauarbeit der Trümmerstädte leisten sollen. Wichtiger aber ist der Bezug zu Ex 19,6, der Identitätsbestimmung Israels als »Königreich von Priestern« und als »heiliges Volk« inmitten der Völkerwelt. Über den Spitzensatz von Ex 19,6 hinaus präsentiert Jes 61 die Reaktion der Nationen auf Zions »Welt-Priestertum«. Wenn die Fremden die Gerechten in Zion als »Priester Jhwhs« und »Diener unseres Gottes« bezeichnen, dann geben sie sich als Anhänger des Gottes Israels zu erkennen! Die doppelte Schande, die durch einen doppelten Landanteil vergolten wird (V. 7), spielt auf die doppelte Strafe Jerusalems an, die sie zur Gänze abbüßte (40,2), und möglicherweise auch auf die Nicht-Berücksichtigung des Stammes Levi bei der Erbverteilung des Landes (vgl. Num 18,20ff.). In Zukunft wird diese Zurücksetzung der Leviten durch ihren doppelten Anteil bei der erhofften Neuverteilung des Landes ein Ende haben. Die Nähe zum Kult setzt sich mit V. 8 fort, wo es heißt, Jhwh liebe das Recht und hasse Raub beim Brandopfer. Einen Amtsmissbrauch wie unter den Söhnen Elis, die Priester in Schilo waren, wird es in Zion nicht mehr geben. Die korrupten Söhne Elis hatten sich rechtswidrig die besten Opferstücke durch einen »Dreizack« (glzm) herausgesucht (1 Sam 2,13f.), worauf der singuläre Ausdruck »Raub beim Opfer« (hl[b lzg) in Jes 159 Labouvie 2013, S. 151. 160 HALAT 221.
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61,8 hindeuten könnte. Wie bereits in 59,21 geht auch in 61,9 der Blick über die unmittelbar Angesprochenen auf deren Kinder und Kindeskinder über, was die Verheißungen von Geistbegabung, Bund und prophetisch-priesterlichem Amt verstetigt. Die Nachkommen der Gerechten auf dem Zion, diese Priesterschaft wird unter den Völkern als »gesegneter Same Jhwhs« bekannt sein. Es ist diese Gemeinde auf dem Zion, die in der letzten Strophe (V. 10–11) ein Danklied anstimmt, wobei die »Ich«-Rede eine Inklusion zu V. 1 herstellt.161 Der Introitus »Freuen, ja freuen will ich mich in Jhwh; es juble meine Seele über meinen Gott!« weist eine so große Nähe zu Ps 35,9 auf, dass dies kaum Zufall sein kann. Dieser Psalm ist das Gebet eines verfolgten Gerechten, der weiß, dass Jhwh die Armen den Ausbeutern entreißt (Ps 35,10). Dank und Freude erfasst die große Gemeinde (V. 18.27), denn nach V. 27 hat Jhwh Gefallen am »Schalom seines Knechts« (wdb[ µwlv). Jes 61,10–11 ist mit Bezügen zu Kap. 62 gespickt, was eine bewusst hergestellte Scharnierfunktion des Abschnittes wahrscheinlich macht. So stammt das Begriffspaar »Gerechtigkeit«/»Heil« in V. 10 aus 62,1. Wenn die Gerechten die korrupte Priesterschaft abgelöst haben (»Raub beim Opfer«), wird Gott Zion in die priesterlichen Gewänder des Heils und der Gerechtigkeit hüllen (vgl. die Einkleidung Zions in 52,1). Der Vergleich in 61,10b (»wie ein Bräutigam, der priesterlich den Turban trägt«) ist eine Kombination der priesterlichen Vorstellung von 61,4–9 und des Hochzeitsbildes von 62,4–5. So ist die priesterliche Zukunft Zions inmitten der Völkerwelt mit der Hochzeitsfreude verbunden worden, und zwar mit weltweiten positiven Folgen: »Gerechtigkeit« (hqdx) und »Lob« (hlht) werden vor allen Völkern »aufsprießen« (3x jmx). Damit ist das »Tauet Himmel« aus 45,8 aufgenommen, denn nur an diesen beiden Stellen stehen »aufsprießen« und »Gerechtigkeit« im AT zusammen! Die Meinungen zur diachronen Einordnung von Kap. 61 gehen in der Forschung zwar weit auseinander, doch kann als Grundlage erneut eine der detaillierten Studien von Odil Hannes Steck gelten, der dieses Kapitel – abgesehen von V. 2aβ – für einen »literarisch im wesentlichen einheitliche[n] Text« hält.162 Dass der Begriff »Jahr des Wohlgefallens« (˜wxr tnv) in V. 2aα aus 49,8 stammt, kann mit großer Sicherheit angenommen werden (vgl. 58,5). Demgegenüber bleibt es aber allzu spekulativ, ob aufgrund dieser lexikalischen Übereinstimmung parallel dazu in 61,2 ursprünglich »Tag des Heiles« (h[wvy µwy) gestanden habe, der erst in großjesajanischer Perspektive unter Beeinflussung von 34,8 zum »Tag der Vergeltung unseres Gottes« geworden sei.163 Möglicherweise liegt hier ein Wortspiel mit dem nachfolgenden Wort »trösten« vor: Der göttlichen »Vergeltung« (µqn) an den Unterdrückern entspricht der »Trost« (µjn) für die Unterdrückten.164 161 Steck 1991b, S. 135: »es ist der Jes *60 und (!) 61 resümierende Lobpreis Zions«. 162 Steck 1991c, S. 106f. Dagegen zählt Labouvie 2013, S. 59, nur V. 1.2b.*3.4.11 zum Grundbestand. V. 2a.5–10 seien hingegen sekundäre Ergänzungen. 163 Steck 1991c, S. 118. 164 Vgl. Beuken 1989, S. 202.
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II. Auslegung von Jesaja
Häufig wird die Änderung der Sprechrichtung in V. 5–6 problematisiert, da nun die Adressaten unvermittelt in der 2. Person maskulin Plural angeredet werden. Dies sei ein Indiz für eine spätere Fortschreibung, zumal sich auch inhaltlich Neues ergebe: »War zuvor die Rede von der Geistbegabung des Mittlers und seinem Dienst an dem begnadeten Gottesvolk, nämlich der Verkündigung einer Frohbotschaft, so wird in den nun vorliegenden Versen die Wiederherstellung des Volkes als Umkehrung früherer Verhältnisse betrachtet.«165 Aber gerade in der Schriftprophetie sind wechselnde Sprechrichtungen keine Besonderheit, zumal bereits Kap. 60 die Umkehrung der bestehenden Verhältnisse angekündigt hatte und diese somit einen Teil der Frohbotschaft Zions darstellt. Zudem gehört V. 4 mit dem konsekutiven Perfekt zu V. 5–6 und nicht zu V. 3.166 V. 4 leitet zu V. 5–6 über und legt die Grundlage für diese zentralen Verse des Kapitels, denn nur wenn die zerstörten Städte wieder aufgebaut werden, ergibt die Verheißung eines Priestertums inmitten der Völker überhaupt Sinn. Auf Ruinen lässt es sich schlecht leben und noch weniger freudige Gottesdienste feiern (vgl. 61,10f.). Die verheißene Bautätigkeit weist auf 60,10 zurück. Die dortigen Fremden müssen auch in 61,4 als Subjekte gemeint sein, zumal sie in V. 5 explizit als Hüter des Viehs und als Arbeiter in den Weinbergen genannt sind. Wäre das nicht der Fall, blieben als Erbauer der zerfallenen Mauern und zerstörten Städte nur diejenigen übrig, die in V. 1–3 von ihrer Schuldknechtschaft befreit werden. Dies kann nicht intendiert sein, denn sonst kämen die aus der Schuldknechtschaft befreiten Menschen vom Regen in die Traufe! Die beiden Verse der letzten Strophe (V. 10–11) werden häufig als sekundär eingestuft. Dafür wird erneut das Argument des Sprecherwechsels in Stellung gebracht. So kann nach Sandra Labouvie hinter diesem »Ich« nur die Zionsgemeinde stehen.167 Gibt man aber der Inklusion über das Epitheton »Adonai Jhwh« in V. 11 mit dem Beginn in V. 1 das notwendige Gewicht und nimmt hinzu, dass das dortige »Ich« ebenfalls die Zionsgemeinde der Gerechten meint, wird diese letzte Strophe zum passenden Schlusspunkt des gesamten Kapitels. Die Gestalt Zion kündet in der Nachfolge des Knechts die Heilswende nicht nur an, vielmehr personifizieren die Gerechten auf dem Zion die Ankunft des Heils. Anders gesagt: ohne die konkrete Befreiung aus den wirtschaftlichen Nöten der nachexilischen Zeit wird das Licht nicht über dem Zion aufgehen, wird es kein Priestertum des Gottesvolkes inmitten der Völker geben! Dass diese letzten beiden Verse (V. 10–11) besonders stark kontextuell geprägt sind, d.h. Bezüge zu Kap. 62 herstellen168, deutet erneut auf die redaktionelle Tätigkeit der »Knechte« als die theologisch treibenden Kräfte der hier ins Bild gesetzten Zionsgemeinde hin. Wie sie schon Kap. 60–61 durch 60,17–21 enger aneinander banden, so auch Kap. 61–62 durch 61,10–11. Gerechtigkeit und Heil – zusammen 165 Labouvie 2013, S. 54. 166 So schon Delitzsch 1889, S. 622. 167 Labouvie 2013, S. 56f. 168 Vgl. Koenen 1990, S. 118–122.
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mit der Sorge um einen gottgefälligen Kult – waren die Kernpunkte ihres Restaurationsprogramms. Sie sind die »Wächter«, die Jhwh auf die Mauern der Stadt gestellt hat, sie sind seine »Erinnerer«, die ihm keine Ruhe lassen sollen, bis er Jerusalem wieder aufrichtet und sie zum Lobpreis auf Erden macht (vgl. 62,6f.). III. Szene Jesaja 62 Die Wächter und Erinnerer Jhwhs Dass 62,1–12 eine eigene Szene darstellen, kann als unbestritten gelten. Die Inklusion durch das Epitheton »Adonai Jhwh« im vorangehenden Kapitel (61,1.11) und das Frage-Antwort-Schema im nachfolgenden Abschnitt (63,1–6) weisen in diese Richtung. Auch die Umklammerung »Zion« (62,1) und »Tochter Zion« (62,11) spricht für eine abgeschlossene Einheit.169 Durchgehend wird entweder über »Zion« (3. Person feminin Singular) oder zu »Zion« (2. Person feminin Singular) gesprochen. Eines der umstrittensten Probleme ist die Identität des Sprechers in V. 1: »Um Jerusalems willen will ich nicht schweigen«. Ist es »Jhwh«, der hier das Wort führt (so LXX und Targum), oder der »Freudenbote«170, »Tritojesaja«171, die »eschatologische Gemeinde«172 oder liegt hier etwa eine bewusste Mehrdeutigkeit vor?173 Eine weitere Option hat Diethelm Michel schon vor fünf Jahrzehnten ins Spiel gebracht: Demnach zitiere Tritojesaja in V. 1 ein Gotteswort, das er anschließend in V. 2–5 kommentiere, was analog auch für V. 6a.6b–7 und V. 8.9 gelte.174 Gerade nach dem Abschied von »Tritojesaja« als Einzelautor ist diese Auffassung weiterhin bedenkenswert. Die Knechtsgemeinde, die sich als prophetische Autorität im nachexilischen Jerusalem verstand, besaß Gottesworte (59,21), die sie kommentierend in den Restaurationsdiskurs einspeiste. Auf synchroner Ebene lässt sich Kap. 62 in fünf Strophen einteilen (V. 1–3; V. 4–5; V. 6–7; V. 8–9; V. 10–12), wobei die erste und letzte Strophe die Außenwirkung betonen. Durch Gottes Eingreifen kommt es zu einem »Herausziehen« (axy) der leuchtenden Gerechtigkeit Zions (V. 1). Dem entspricht das »Durchschreiten« (rb[) der Tore nach draußen, um den Weg hindernisfrei zu gestalten und ein Feldzeichen für die Völker aufzurichten (V. 10). In den mittleren drei Strophen steht dagegen die Binnenperspektive im Vordergrund: die neue Beziehung Jhwhs zu Zion im Bild von Braut und Bräutigam (V. 4–5), die Rolle der »Wächter« und »Erinnerer« in der auferbauten Stadt (V. 6–7) sowie die veränderte Beziehung zu den Feinden und Fremden, die keine Bedrohung mehr darstellen (V. 8–9). Ging es in Jes 61 eher um das Zionsvolk, so liegt der Fokus in Kap. 62 auf der Stadt.175 Das ergibt sich schon daraus, dass »Jerusalem« gleich drei Mal genannt ist (V. 1.6.7), während der Name in Kap. 60 und 61 nicht vorkam. 169 Spans 2015, S. 281. 170 Beuken 1989, S. 225f. 171 Duhm 1922, S. 458. 172 Hanson 1975, S. 69. 173 So Sekine 1989, S. 90ff. 174 Michel 1965–1966, S. 216–219. 175 Lau 1994, S. 90f.
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II. Auslegung von Jesaja
Schon die erste Strophe (V. 1–3) lässt mit dem zweiten Wort keinen Zweifel daran, dass es in dieser Szene um nichts anderes als um Zion/Jerusalem geht. Wie bereits die LXX und der Targum verdeutlichen, kann das sprechende bzw. zitierte »Ich« eigentlich nur Jhwh sein. Im Zusammenhang dieser Kapitel passt hvj »Schweigen« besser zu Gott (42,14; 57,11; 64,11; 65,6) als zu einem menschlichen Aktanten, unabhängig von dessen Identität. Bereits im Exil hatte Jhwh sein Gerichtsschweigen beendet (42,14). Aber die Heilsverzögerung provoziert die ängstliche Frage, ob Gott nicht doch schweige und passiv bleibe (64,11). Die Licht- und Völkerthematik der ersten Strophe (62,1–3) weisen durch zahlreiche semantische Verbindungen auf den Anfang und Schluss von Kap. 60 zurück (»Licht«: 60,1; »Völker«: 60,3; »Herrlichkeit«: 60,1f.; »Gerechtigkeit«: 60,10f.; »Rettung«: 60,11; »herausziehen«: 60,11).176 Als Stadt des Lichts und der Gerechtigkeit, die sich aber erst einstellen, wenn das sozial-ethische Programm von Kap. 61 greift, kann Zion/ Jerusalem den Augen der Völker und ihrer Könige nicht verborgen bleiben! Das Motiv des »neuen Namens« (vdj µv) und des »königlichen Diadems« (hkwlm πwnx) zeigt den Statuswandel von der zerstörten zur wiederaufgebauten Königsstadt an. Dass die Insignie der Macht nicht auf ihrem Haupt (vgl. Ez 16,12), sondern in der Hand »deines Gottes« ist, unterstreicht die bleibende Souveränität Jhwhs. Diese Deutung wird umso wahrscheinlicher, als in der altorientalischen Ikonographie durch Mauerkronen gekrönte Städte eine besondere Nähe zu ihren Schutzgottheiten aufweisen. Außerdem ist es Jhwh, der den »neuen Namen« bestimmt (V. 2b), welcher dann das Hauptthema der zweiten Strophe bildet (V. 4–5). Der neue Name, d.h. die neue Identität, besteht darin, dass aus der hbwz[, der »verlassenen« Frau (54,6; 60,15; 62,4) die von Jhwh Begehrte geworden ist, die den Kosenamen hb yxpj »Mein-Gefallen-an-ihr« bekommt (vgl. den Name der Königsmutter Manasses in 2 Kön 21,1). Analog dazu ist aus der hmmv, der »verödeten« Umgebung (49,8.19; 54,1; 61,4; 62,4) die »Verheiratete« (hlw[b) geworden, an der Jhwh Gefallen hat. In aktualisierender Aufnahme von 54,1–6 kommt die Ehemetaphorik sowohl für die neue Beziehung zwischen Zion und Jhwh als auch für das gewandelte Verhältnis zwischen ihr und ihrer Bevölkerung zum Tragen. Anders als in Kap. 60 nimmt Zion/Jerusalem hier keine dominante Stellung bezüglich der Völker ein. Im Mittelpunkt der Szene steht das erneuerte Verhältnis zu Jhwh und ihren Kindern, d.h. zu ihrer Bevölkerung. In der dritten Strophe (V. 6–7) wird eine Gruppe aus Jerusalem besonders hervorgehoben, die »Wächter« (µyrmv) und »Erinnerer« (µyrkzm), die Jhwh selbst auf ihre Mauern gestellt hat, wie er in seiner direkten Rede festhält. Beides verbindet diese zentrale Strophe mit der ersten, genauso wie das Verb »schweigen« (hvj). Hatte Gott in V. 1 betont, er werde um Zions willen nicht schweigen, so sollen nun die »Erinnerer« nicht schweigen, d.h. ihn Tag und Nacht an seine Zusagen ermahnen! Das zugrunde liegende Verb rkz »sich erinnern/gedenken« (Gen 8,1; Jer 15,15; Hab 3,2) bedeutet im Hifil »erwähnen/bekannt machen/be176 Vgl. Spans 2015, S. 287.
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kennen« (Jes 12,4; 26,13; 48,1). Womöglich ist hier aber auch an die vorstaatliche Position des »Mazkir« gedacht, der die Position des höchsten Staatsdieners bzw. des königlichen Sekretärs einnahm (2 Sam 8,16; 20,24; 1 Kön 4,3; 2 Kön 18,18.37; par. Jes 36,3.22). Träfe dies zu, dann könnten sich die Verfasser, die für ein sozialethisches Programm eintreten (Kap. 61), als vom König Jhwh Beauftragte verstanden haben. In jedem Fall rekurriert der Beginn der Volksklage in 63,7 auf dieses Verb: »Die Gnaden Jhwhs will ich preisen/in Erinnerung bringen«. Es sind die »Erinnerer« von 62,6, die nicht »schweigen« sollen, die Jhwh in der Volksklage angehen und am Ende die dringende Frage an ihn richten: »Kannst Du noch schweigen«? (64,11). Ihre Aufgabe ist erst dann beendet, wenn Jhwh Jerusalem zum »Lobpreis auf Erden« gemacht haben wird (V. 7). Mit V. 8a wird der Gottesschwur in V. 8b–9 eingeleitet. Ähnlich wie in 54,9 untermauert der »Schwur« ([bv), den Jhwh hier bei seinem »starken Arm« (vgl. 40,10; 51,9; 52,10; 53,1) leistet, die Verlässlichkeit seiner Zusagen. Gott hält, was er verspricht. Liest man die Kapitel im direkten Zusammenhang, dann haben die »Erinnerer« schon einen Erfolg errungen: Ihr rastloses »Nicht-Schweigen« (V. 6) hat dazu geführt, dass Jhwh sein Versprechen einlöste, nicht zu »schweigen« (V. 1). Der Inhalt des Gottesschwures erscheint im Vergleich zu den hohen Erwartungen in Jes 60 vom Gabenzug der Völker sehr bescheiden: Zions Korn und Most, die Grundnahrungsmittel der Bevölkerung (vgl. Neh 5,11), sollen nicht mehr Feinden und Fremden zugute kommen, sondern denen gehören, die sie produziert haben. Sie werden die Erträge des Landes in den heiligen Vorhöfen des Tempels verzehren und Jhwh dafür loben (V. 8b–9). Von der Vision, dass Fremde die Herden weiden und die Weinberge bearbeiten (61,5), ist keine Rede mehr. Die Zukunft wird weniger außergewöhnlich, aber deshalb nicht weniger hoffnungsvoll in Szene gesetzt. Das Gotteslob, das aus dem erneuerten Jerusalem weltweit erklingen soll, wird nur dann Wirklichkeit, wenn diejenigen wieder über Zions Gaben in Lob ausbrechen können, die dafür hart gearbeitet haben (vgl. 65,21). Die Ausbeutung durch die Feinde des Gemeinwesens und die Steuereintreiber der persischen Weltmacht wird ein Ende haben! Der Verzehr in den Vorhöfen des Heiligtums erinnert an die Festfreuden im Zuge der Wallfahrten nach Jerusalem, wobei das Laubhüttenfest eine wichtige Rolle spielt (Dtn 16,9ff.; Neh 8,16; vgl. Ps 65,5; 84,3; 92,14; 96,8; 100,4; 135,2). Vom Opferkult wird nicht gesprochen, wohl aber vom »Lob/Loben« (llh÷hlht: 60,18; 61,3.11; 62,7.9), das von den Vorhöfen des Tempels ausgeht. Mit der letzten Strophe (V. 10–12) kommt wie schon in der ersten (V. 1–3) die Außenwirkung der von Jhwh durch einen Eid verbürgten Zukunft Zions/Jerusalems in den Blick. Der doppelte Imperativ, die Stadttore von innen nach außen zu durchschreiten, um den Weg von allen Hindernissen frei zu machen und ein Signal für die Nationen aufzustellen, kann sich nur an die »Wächter« und »Erinnerer« richten. Die Strophe besteht aus einer Aufnahme und Verarbeitung zentraler Passagen aus Jes 40ff. (u.a. 40,3.10; 48,20; 49,22), was die Schriftgelehrsamkeit dieser prophetischen Dichter unterstreicht. Sie schreiben in erster Linie
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II. Auslegung von Jesaja
nicht für andere, sondern zur Selbstvergewisserung. Ihre Aufgabe ist es nicht, beim Herannahen von Menschen aus der Ferne, die Tore zu schließen, sondern im Gegenteil nach draußen zu gehen, um den Weg frei von Hindernissen zu machen. Dass sie eine »Signalstange« (sn) über den Völkern aufrichten sollen, liegt darin begründet, dass den Herbeikommenden aus den Nationen – anders als den Volksgenossen aus der Diaspora – der Zielpunkt klar angezeigt werden muss (vgl. 49,22). Zudem handelt es sich bei »Signalstange/Feldzeichen« wohl auch um das Herrschaftssymbol einer königlichen Tempelstadt, ohne dass der Begriff hier noch eine militärische Konnotation hätte (vgl. 5,26; 13,2; 18,3; 30,17). Was Jhwh zuvor bis an die Enden der Erde hören ließ (48,20), sollen die »Wächter« nun der Tochter Zion ansagen: die Ankunft Gottes mit seinem Siegespreis (40,10), d.h. mit allen Verehrern aus Israel und den Völkern. Dieses »Volk« (µ[) aus aller Welt (V. 10a) – nicht aber die Ausbeuter – wird »heiliges Volk« (µ[ vdqh) genannt (V. 12a). Der Ehrentitel aus Ex 19,6 ist somit auf die Zionsgemeinde übergegangen (vgl. 61,6). Dieses heilige Volk besteht aus den hwhy ylwag »Erlösten Jhwhs« (vgl. 35,9; 51,10; 63,4). Zion/Jerusalem erreicht nun ihren Statuswechsel als »Gesuchte«, als »Stadt, die nicht verlassen ist« (V. 12b). In diachroner Hinsicht ist sich die Forschung über den originären Charakter von V. 1–7 überwiegend einig. Die Ansicht von Bernhard Duhm, V. 2cd sei ein späterer Zusatz, der V. 4 korrigieren und mit Blick auf Stellen wie Ez 48,35; Jer 3,17; 33,16 »den Leser vor dem Irrtum bewahren [wolle], daß Jerusalem künftig wirklich und buchstäblich Chefzibah heißen werde«177, ist einer Hyperkritik geschuldet. Die Namensnennungen, die in Jes 60–62 gehäuft vorkommen (60,14.18; 61,3.6; 62,4.12), wollen die Heilswende als identitätsbestimmendes Faktum untermauern. Größere Uneinigkeit besteht bezüglich der Gotteseid-Strophe (V. 8–9), die von den einen als redaktionelle178, von anderen als ursprüngliche Einheit angesehen wird.179 Die Ansicht, in Jes 62 würden Gottesorakel in der 1. Person Singular kommentierend mitgeteilt, ist auch für V. 8–9 zielführend und spricht für eine ursprüngliche Zugehörigkeit. Außerdem fügt sich die Strophe gut in den Gesamtduktus, denn die eingesetzten »Wächter« übernehmen zunächst eine Aufgabe ad intra, indem sie Gott daran erinnern, die Notlage derer zu wenden, die von ihren Ernteerträgen nicht leben können, weil Fremde und Feinde übermächtig sind. Mit diesem Verständnis der »Wächter« erübrigt sich auch eine diachrone Abtrennung der letzten Strophe (V. 10–12), denn in dieser nehmen sie ihre Funktion ad extra wahr, nämlich all jenen einen hindernisfreien Weg zu bereiten, die aus der Diaspora und der Völkerwelt zum Gemeinwesen des Lichts und der Gerechtigkeit auf dem Zion und in Jerusalem kommen wollen. Im Rahmen dieser Deutung gehören V. 8–9.10–12 nicht nur zum ursprünglichen Text, sondern bil177 Duhm 1922, S. 459. 178 U.a. Westermann 1981, S. 297; Steck 1991b, S. 124; Labouvie 2013, S. 75–78. 179 Bes. V. Wagner 2007, S. 28–30.
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den sogar den Zielpunkt von Jes 60–62 insgesamt. Beide Strophen sind wichtige Elemente des »zionstheologischen Diskurses, der in Jes 62 insofern zum Abschluss gebracht wird, als die für das Zionsbild in Jes 60* konstitutive Außenwirkung und die für die Figuration Zions in Jes 61 kennzeichnende Binnenperspektive miteinander verschränkt werden«180. Theologischer Ertrag zum IV. Akt (Jes 60–62) Diese drei Kapitel stehen wie ein Leuchtturm in der Mitte des letzten Großteils des Jesajabuches. Die strahlende Herrlichkeit Gottes geht in der Dunkelheit der Nationen nur dann über Zion/Jerusalem auf, wenn sich in ihr ein Volk konstituiert, dass sich der »Gerechtigkeit« verpflichtet weiß (60,21). Ohne gelebte Ethik kann das Licht über der Gottesstadt nicht aufgehen, kann die Pflanzung Jhwhs nicht erblühen! Es ist dieses Volk der Gerechten, das mit dem Gottesgeist bleibend gesalbt ist und sich so gestärkt für die Befreiung der wirtschaftlich Gefangenen einsetzt. In der Pflanzung Gottes auf dem Zion, in der er sich verherrlicht, stehen diese Aufrichtigen als Eichen der Gerechtigkeit (61,1–3). Als solche sind sie in der Völkerwelt als »Priester Jhwhs« bekannt, als die Nachkommen, die Gott gesegnet hat. Das Ziel der Berufung Abrahams, Segen für die Völker zu sein, wird somit aufgenommen (vgl. Gen 12,3). Noch ist es nicht so weit, aber die »Wächter« und »Erinnerer« lassen nicht nach, Jhwh an die Einlösung seines Heilsversprechens zu erinnern (62,6). Der Advent der Völker steht bevor, die Ankunft eines »heiligen Volkes«, der »Erlösten Jhwhs« in der »begehrten, nicht mehr verlassenen Stadt« (62,12). Das Jesajabuch wie auch der Psalter können sich die nachexilische Identität des Gottesvolkes nicht mehr ohne die Einbeziehung der Völker vorstellen. Dadurch kommt seine uranfängliche Berufung zum Tragen, Segen für die ganze Welt und für alle Schöpfung zu sein. V. Akt Jesaja 63–64 Rückblick auf die Geschichte und Bittgebet In diesem fünften Akt sind zwei unterschiedliche Textgattungen nebeneinandergestellt: eine Wächterbefragung (63,1–6) und ein kollektives Klagelied (63,7– 64,11). Beide Texte stehen mit Kap. 62 insofern in Verbindung, als zum einen die Befragung Wächter bzw. Späher auf den Mauern voraussetzt (vgl. 2 Sam 18,24ff.; 2 Kön 9,17ff.). Diese sehen hier das, was in Zukunft für alle sichtbar sein wird: Jhwhs siegreiche Heimkehr aus dem Streit mit Edom. Zum anderen steht das Volksklagelied mit den zuvor genannten µyrkzm »Erinnerern« (62,6) in Verbindung, denn das Lied setzt mit dem gleichen Verb rkz (ebenfalls im Hifil) ein: »Die Gnaden Jhwhs ›will ich in Erinnerung rufen/verkünden‹ (rykza)« (63,7). Diese Brücke ist umso deutlicher, als am Ende der Klage (64,11) das Stichwort »schweigen« (hvj) aus 62,1.6 aufgenommen ist. 180 Spans 2015, S. 366.
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II. Auslegung von Jesaja
I. Szene Jesaja 63,1–6 Die Wächterbefragung in Bezug auf Jhwhs siegreiche Rückkehr aus Edom Es besteht kein Zweifel, dass die Wächterbefragung bezüglich der siegreichen Heimkehr Jhwhs aus Edom auf dessen Zurüstung zum Kampf gegen die Unbußfertigen in 59,15–20 zurückweist. Die zahlreichen semantischen Übereinstimmungen machen dies deutlich: vya ˜ya »niemand«: 59,16; 63,3; rms »stützen«: 59,16; 63,5; [wrz »Arm«: 59,16; 63,5; µmv hitpo. »staunen/entsetzen«: 59,16; 63,5; µqn »vergelten«: 59,17; 63,4; vbl »bekleiden«: 59,17; 63,1. Hieß es in 59,20, Jhwh werde als Löser Zions nur zu denen »kommen« (awb), die von der Auflehnung in Jakob umkehren, so »kommt« er nun siegreich aus Edom zurück. Historisch steht dessen Untergang gegen Ende des 5. Jh. – wohl durch arabische Stämme – im Hintergrund. Theologisch bedeutsamer ist jedoch die Parallelisierung der Unbußfertigen in Jakob mit Edom, dem verhassten Brudervolk. Diejenigen in Jakob, die sich nicht von der Sünde bekehren (59,20), sind wie Edom und werden in Jhwh nicht ihren Erlöser, sondern ihren »Vergelter« (63,4) finden. Die wirklichen Feinde Zions kommen nicht von außen, sondern von innen, doch wird Jhwh ihnen ein Ende bereiten.181 Die »Ich«-Rede Gottes in 62,1a.6a.8b findet in 63,1b ihre Fortsetzung: »Ich, ich bin es, der redet in Gerechtigkeit, mächtig, um zu retten«. Die beiden zentralen Begriffe »Gerechtigkeit« (hqdx) und »retten« ([vy) weisen auf 62,1 zurück, wo Jhwh betont, er werde um Zion und Jerusalem willen nicht schweigen! Sein siegreiches Kommen aus Edom beweist, dass er tatsächlich nicht schweigt, sondern überaus aktiv geworden ist. Die Wächterbefragung und das Bild des Keltertreters unterstreichen den wachsenden Druck, dem sich die »Wächter« und »Erinnerer« ausgesetzt sehen: Wann wird Jhwh endlich gegen diejenigen im Gottesvolk vorgehen, die durch Ungerechtigkeit und Ausbeutung die Restauration nachhaltig behindern? Wann können die Arbeiter ihren Most endlich voll Freude in den Vorhöfen des Tempels genießen? Erst dann, wenn Jhwh die Kelter gegen Edom, gegen die falschen Brüder getreten hat! So könnte hrxb »Bozra« (63,1) wortspielerisch auf rxb »Weinlese halten« verweisen (vgl. Lev 25,5.11; Dtn 24,21; Ri 9,27), wie auch µwda »Edom« zu µda »rot« passt (vgl. Gen 25,30; Num 19,2; 2 Kön 3,22; Sach 1,8; 6,2). In diachroner Hinsicht ist 63,1–6 als hintere Klammer zu 59,15–20 um die Lichtkapitel gelegt worden. Wenn die Vergeltung an »Edom« und »Bozra« zeitgeschichtlich mit dem Ende des Brudervolkes gegen Ende des 5. Jh. zu tun hat, liegt damit ein weiteres Indiz vor, diese Kapitel in der fortgeschrittenen nachexilischen Zeit zu verorten. Eine schwierige Frage ist die nach dem Abhängigkeitsverhältnis der beiden Edom-Texte von Jes 34 und 63,1–6. Dass sie nicht unabhängig voneinander entstanden sind, zeigt die terminologische Übereinstimmung in 34,8 und 63,4: »Tag der Rache« (µqn µwy) und »Jahr meiner Erlösten« (ylwag tnv) bzw. Jahr der Vergel181 Koenen 1990, S. 86; anders Ruszkowski 2000, S. 48ff., der Edom nur als Sinnbild der feindlichen Völker ansieht.
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tungen« (µymwlv tnv). Wie auch immer man sich in der Frage der Abhängigkeit entscheidet, ist es allgemein anerkannt, dass 61,2 beiden Stellen vorausliegt (tnv hwhyl ˜wxr »Jahr des Wohlgefallens für Jhwh« und nyhlal µqn µwy »Tag der Rache für unseren Gott«). Sollte 63,1–6 später als Kap. 34 verfasst worden sein, wären diese Verse als Schlusspunkt der Edom-Thematik konzipiert: »Jes 63 weissagt also einen Schlussakt vollzogener Erfüllung von Jes 34!«182 Doch ist auffällig, mit welcher Intensität und Pedanterie Kap. 34 das Gericht an Edom in Szene setzt – weit über den Rahmen von 63,1–6 hinaus. Proto-apokalyptische Elemente wie das des Himmels, der sich wie eine Buchrolle zusammenzieht (34,4), finden sich dort nicht. So spricht einiges für die Ansicht, Kap. 34 habe die Edom-Vorlage aus 63,1–6 breit entfaltet: »der eine ist ein Dichter, der andere ein Schüler, der einen Aufsatz über das Gedicht jenes Dichters macht, einen Aufsatz, zu dem er sich das Thema vielleicht aus 66,16 geholt hat«183. Insgesamt gehören die Edom-Texte des Jesajabuches zu einer Art »Edom-Phobie« im AT. Die Nachkommen Esaus, des Zwillingsbruders Jakobs, werden zur Chiffre für alle Feinde des Gottesvolkes. Historisch unzutreffend wird Edom eine Mitschuld am Untergang Jerusalems angehängt (Ez 35; Ps 137; Klgl 4,21f.; Ob 10–16). Zu dieser Strömung gehört auch 63,1–6 im Kontext des Jesajabuches: All diejenigen sind Edom, die dem Wiederaufbau Jerusalems im Wege stehen. Hatte Edom nicht auch schon nach dem Auszug aus Ägypten die Heimkehr behindert (Num 20,14–21)? Eine Zukunft wird es für Edom – anders als für Zion – unter keinen Umständen geben. Diese Ansicht vertritt neben Jes 34 und 63,1–6 auch Mal 1,4: »Wenn Edom sagt: Wir sind zerschlagen worden, aber wir werden die Trümmerstätten wieder aufbauen! So spricht Jhwh Zebaot: Sie mögen aufbauen, ich aber werde niederreißen! Und man wird sie nennen: Gebiet der Bosheit, und: das Volk, über das Jhwh für immer zornig ist«. II. Szene Jesaja 63,7–64,11 Das Bittgebet der »Erinnerer« Die zweite Szene des Aktes besteht aus einer feierlichen Einleitung (63,7), einem Rückblick auf die Geschichte Israels in deuteronomistischem Stil (63,8–14) und der abschließenden Bitte um baldige Rettung (63,15–64,11). Im Einzelnen lässt sich die Szene folgendermaßen einteilen: 63,7 63,8–10 63,11–14 --63,15–19a 63,19b–64,4a 64,4b–8 64,9–11
Einleitung im hymnischen Stil negativer Geschichtsrückblick positiver Geschichtsrückblick Bitte um Jhwhs Aufmerken Bitte um Jhwhs Erscheinen Zorn – Sündenbekenntnis – Zürne nicht ewig! Beschreibung der Not – letzter Appell
182 Steck 1985, S. 51. 183 Elliger 1933, S. 275; vgl. Koenen 1990, S. 82.
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II. Auslegung von Jesaja
Der Wendepunkt der Szene liegt in 63,15, denn nun wenden sich die Beter direkt an Jhwh. Zu solch einer Bitte war es bei der Klage von 59,9–15a noch nicht gekommen, denn die »Erinnerer« waren noch nicht eingesetzt (62,6). Sie sind es nun, die das Wort führen und nach 63,7 »in Erinnerung rufen/bekannt machen« (rkz hif.). Dass ein Kollektiv in der »Ich«-Form spricht, kann nicht verwundern, denn im AT steht das »Ich« meist nicht für biographische Individualität, sondern für die Identifizierung mit einer gesellschaftlichen Rolle. Ein »Ich« kann ohne das »Wir« einer Gruppe und des Volkes gar nicht gedacht werden. Wie durchlässig Singular und Plural sind, zeigt schon der Anfangsvers, der vom »Ich« über das »Wir« (»was Jhwh für uns tat«) zum »Haus Israel« übergeht. Die »Erinnerer« bringen die magnalia Dei, die Gnadenerweise Jhwhs (vgl. 55,3) in Erinnerung, seine Großtaten (vgl. 62,7), die er an »uns« und »Israel« getan hat. Sie erinnern daran, dass Gott sich in der Zeit des Mose schon einmal seiner Rettungsmacht erinnert hat (63,11). Dies soll in der aktuellen Not der nachexilischen Zeit erneut geschehen. Die Betonung der Geistbegabung des Mose (63,11) und des Gottesgeistes (63,14) schließt sich eng an die Geistbegabung der Zionsgemeinde an (59,21; 61,1). Dass das Gotteslob hier nicht wie sonst am Ende, sondern am Anfang des Kollektivgebetes steht, ist bedeutsam: Die Vergegenwärtigung der vergangenen Heilstaten soll Jhwh dazu bewegen, erneut rettend für die Zionsgemeinde einzugreifen. Der Geschichtsrückblick in 63,8–10 wird vom emphatischen »sie« (hmh) umschlossen (V. 8a.10a). Das Gottesvolk, die »Söhne/Kinder« (vgl. 1,2), entpuppten sich trotz aller Rettungstaten Jhwhs als Rebellen, gegen die sich Gott zum Feind wandelte und gegen die er kämpfte (vgl. Klgl 2,5: »es wurde Jhwh wie ein Feind, er verschlang Israel«). V. 11–14 setzen den Geschichtsrückblick fort, nun aber unter dem positiven Vorzeichen, dass Jhwh sich in den früheren Tagen des Mose und seines Volkes erinnert hat (V. 11a).184 Mit den drängenden Fragen, wo denn der sei, der das Volk aus dem Meer führte, der seinen heiligen Geist in die Mitte des Volkes stellte, wollen die Beter Jhwh zum erneuten Eingreifen bewegen. Die Geistmitteilung inmitten des Volkes könnte auf die Geistbegabung der 70 Ältesten rund um Moses in Num 11,16–30 anspielen. Dann hätten sich die »Erinnerer« als die Geistbegabten ihrer Zeit verstanden (59,21; 61,1; vgl. 42,1; 44,3; 48,16). Mit V. 15 geht das Gebet vom Rückblick auf die Vergangenheit zur aktuellen Not über, von der Jhwh Notiz nehmen soll (vgl. 64,8: »Schau doch, wir alle sind dein Volk!«). Ohne ein solches Wahrnehmen der Not kann es keine Wende zum Besseren geben. In V. 16a kommt es zu einer völlig singulären Kontrastierung Jhwhs gegenüber den Erzvätern: »Denn du bist unser Vater, denn Abraham kennt uns nicht und Israel weiß nichts von uns!«. Die Vaterschaft Jhwhs ist im AT mehrfach belegt (Ex 4,22; Dtn 32,6; Jes 1,2; 45,10; Jer 3,19; 31,9; Hos 11,1f.; Mal 2,10), was dem altorientalischen Gebrauch entspricht, manchen Gottheiten den
184 Vgl. Beuken 1989a, S. 14f.
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Vatertitel zuzuerkennen.185 Die Besonderheit des dreifachen Epithetons »Vater« in 63,16a.b; 64,7 liegt in der Gegenüberstellung zu den Erzvätern »Abraham« und »Israel«, von denen gesagt wird, sie würden die Betenden »nicht kennen« ([dy al). Damit wird kaum gemeint sein, die Erzvätern könnten die Betenden gar nicht kennen, weil sie schon verstorben seien, denn dann wären auch die anderen Belege der Erzväter in diesen Kapiteln unerklärlich (u.a. »Abraham«: 41,8 [»mein Freund«]; 51,2 [»euer Vater«]; »Jakob«: 58,14 [»dein Vater«]). Ebenso wenig spricht für einen Vergleich nach dem Motto: Jhwh ist mehr Vater, als es die beiden Patriarchen sein können. Die größte Nähe zu den beiden negierten Verben im Parallelismus »nicht wissen«/»nicht kennen« (rkn÷[dy hif.) liegt im Mosesegen vor, in dem von Levi gesagt wird, er habe weder Vater noch Mutter, weder Brüder noch Kinder gekannt (Dtn 33,8).186 Die rhetorisch zugespitzte Familienlosigkeit lässt Levi – und in seiner Nachfolge die Leviten – in besonderer Weise auf Jhwh allein ausgerichtet sein! Sie bewahrten das Wort Gottes, beachteten den Bund und wurden so zu Auslegern der Tora und zu Kultdienern (Dtn 33,9–10). Im Gegensatz zum priesterlichen Aaron hatten nur sie Jhwh die Treue gehalten, seine Alleinverehrung sogar gegen die eigenen Brüder und Söhne mit Gewalt durchgesetzt, worauf sie hkrb »Segen« erlangten (Ex 32,25–29). In gleicher Weise wie die Söhne Levis das Überleben des Gottesvolkes in größter Gefahr gesichert hatten, hängt die Zukunft auch jetzt an denen, die sich allein auf Jhwh stützen. Das betont auch V. 16b: »Du, Jhwh, bist unser Vater, unser Erlöser seit Ewigkeit ist dein Name«. Wo die Schuldgeschichte eigentlich nur noch zum Ende der Beziehung zwischen Jhwh und seinem Volk führen kann, hängt alles von der unverbrüchlichen Nähe zwischen Schöpfer und Geschöpf ab. Wenn alle Bindungen brüchig geworden sind, wenn es keinen mehr gibt, der Gottes Namen anruft, wenn dieser sein Gesicht verbirgt und die Beter ihren Verfehlungen ausliefert, hilft nur noch der letzte Anker: »Jetzt aber: Jhwh, du bist unser Vater. Wir sind der Ton, du bist unser Töpfer, und das Werk deiner Hände sind wir alle« (64,7). Das Exil hatte das Gottesvolk an den Rand des Untergangs gebracht, aber nicht weil die Feinde so übermächtig gewesen wären, sondern weil Jhwh sein Volk hatte abirren lassen. Damit ist der Urgrund der Not zugleich das Fundament der Hoffnung: »Kehr um wegen deiner Knechte, der Stämme deines Erbbesitzes« (V. 17b). Dass sich der Beter bzw. die Beter als »Knecht« bzw. »Knechte« bezeichnen, also als Menschen, die ganz von Gott als ihrem Herrn abhängig sind, gehört zur allgemeinen Gebetssprache Israels.187 Im Bittgebet der »Erinnerer« passt dies aber umso mehr, als sie sich als »Knechte« Jhwhs verstehen. Das wird in Kap. 65 offensichtlich, denn nur wegen seiner Knechte hat Jhwh sein Volk nicht gänzlich wie Trauben zertreten, denn nur in ihnen war noch »Segen« (hkrb) (V. 8). Der Ausdruck »meine Knech-
185 Vgl. Böckler 2002. 186 Beuken 1989a, S. 24. 187 U.a. im Singular: Ps 19,12.14; 27,9; 31,17; u.a. im Plural: Ps 34,23; 69,37; 72,2.10; 90,16; 135,1.9.14.
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II. Auslegung von Jesaja
te« kommt in Jes 65 siebenfach vor (V. 8.9.13[3x].14.15; vgl. 66,14). So stellt jenes Kapitel den Höhepunkt dieser Thematik im Jesajabuch dar. Der Tiefpunkt der Gottesbeziehung scheint mit 63,19a erreicht zu sein, denn die Situation der Beter ist so erbärmlich, als wäre Jhwhs Name niemals über sie ausgerufen worden. Jetzt begnügen sie sich nicht mehr mit der Bitte um sein Schauen und Aufmerken (V. 15), sondern verleihen mit dem Irrealis der Vergangenheit ihrem Wunsch den entsprechenden Nachdruck: »Ach hättest du doch nur bereits die Himmel zerrissen und wärest herabgestiegen«188. Als Ziel dieses Einschreitens erhoffen sich die Beter, dass der göttliche Name, d.h. seine Wirkmächtigkeit, all seinen Feinden bekannt würde (64,1). Dass dies noch nicht Wirklichkeit geworden ist, können sich die Beter nur mit dem Phänomen des göttlichen Zorns erklären. So ist die Strophe 64,4b–8 vom Stichwort πxq »zürnen« (4b.8a) gerahmt. An der Aufmerksamkeitspartikel »sieh« (˜h) und der emphatischen Wortstellung »Sieh, du, du hast gezürnt« (V. 4b) ist die Verwunderung der Beter darüber abzulesen, dass sie nach dem Ende des Exils anscheinend immer noch unter seinem Zorn stehen. Der hebräischen Syntax entsprechend gibt das nachfolgende wa-jiqtol afjnw nicht den Grund, sondern die Folge des göttlichen Zornes an: »Siehe, du, du hast gezürnt, und [so] wir haben gesündigt«. Sowohl die LXX (ἱδοὺ σὺ ὠργίσθης, καὶ ἡμεῖς ἡμάρτομεν) als auch die Vulgata bestätigen dies (»ecce tu iratus es et peccavimus«). Es ist jüdischer und christlicher Dogmatik geschuldet, dass diese Aussage, die Jhwh eine Mitverantwortung an der in 63,7– 64,11 beschriebenen Lage der Beter gibt, abgeschwächt bzw. in ihr Gegenteil verkehrt wurde.189 Dabei war schon der Anfangsvers des Gebetes mehr als eindeutig: »Warum, Jhwh, lässt du uns abirren von deinen Wegen, verhärtest unser Herz, so dass es dich nicht fürchtet?« (V. 17a). Der weitere Verlauf der »Zornesstrophe« (64,4b–8) bestätigt dies, zumal es in V. 6 heißt, dass keiner Jhwh anrufe und niemand sich aufmache, um an ihm festzuhalten, »denn du hast dein Angesicht vor uns verborgen und uns zergehen lassen in der Macht unserer Schuld«. Die Beter leugnen nicht die eigene Schuld, vielmehr erinnern sie Gott daran, dass er ihr Vater ist und dass sie der Ton in seinen Händen sind (V. 7). Wenn der Zorn Gottes aber weiterhin über ihnen ist, können sie sich nicht mehr aufrecht halten, können sie ihre Hoffnung auf sein Eingreifen nicht mehr vor sich – geschweige denn vor ihren Gegnern – rechtfertigen (vgl. 66,5). So bildet V. 8 den Schluss und die Klimax der »Zornesstrophe«: »Zürne nicht, Jhwh, über die Maßen, und gedenke nicht auf immer der Schuld. Sieh, schau doch, dein Volk sind wir alle«! Die letzte Strophe (V. 9–11) bietet eine Beschreibung der Not. Sie führt von den zur Wüste gewordenen »heiligen Städten« zum verwüsteten »Zion« und zum entstellten »Jerusalem« (V. 9). Danach richtet sich der Blick auf »unser heiliges und prächtiges Haus« mit all »unseren Kostbarkeiten«, in dem »unsere Väter dich lobten«, das aber auch ein Raub der Flammen geworden ist (V. 10). Aus dieser Klage über den 188 Aejmelaeus 1995, S. 43, mit Verweis auf Num 14,2; 20,3; Jos 7,7; Jes 48,18. 189 Vgl. dazu Barthélemy 1986, S. 449; und besonders die Übersicht von Gross 2000.
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Zustand der Städte Judas, von Zion, Jerusalem und dem Tempel sind keine eindeutigen Hinweise auf die Abfassungszeit dieser Verse zu entnehmen. Die Aussage, dass »unsere Väter dich im Tempel lobten«, könnte darauf hindeuten, dass zwischen den Betenden und jenen, die die Zerstörung persönlich miterlebten, zumindest eine Generation liegt. Doch auch Jahrzehnte nach der Wiedereinweihung des Jerusalemer Heiligtums (515) war von der alten Pracht wenig zu sehen, so dass die Formulierungen von 64,9f. auch aus späterer Zeit stammen könnten. Zudem lässt sich die gattungsgebundene Sprache der Klage nicht auf ein einziges Ereignis festlegen. Worum es geht, ist die immer unerträglicher werdende Diskrepanz zwischen erfahrener Wirklichkeit und erhoffter Zukunft. Diese Spannung entlädt sich in der Schlussfrage, die zugleich einen starken Aufforderungscharakter besitzt: »Willst du, Jhwh, bei all dem an dich halten, schweigen und uns demütigen über die Maßen?« (V. 11). Die umgekehrte Stellung der beiden Verben »an sich halten« (qpa) und »schweigen« (hvj) ist ein Hinweis auf einen bewussten Bezug zu 42,14.190 Zuvor hatte Jhwh gesagt, er habe zwar sehr lange geschwiegen und an sich gehalten, nun aber wolle er schnauben und nach Luft schnappen wie eine Gebärende, d.h. seinem Volk neues Leben schenken! Genau dies ist der sehnlichste Wunsch der Beter in 63,7–64,11. Sollte Jhwh aber nicht bald aktiv werden, können sie an ihm und ihrer Hoffnung nicht mehr lange festhalten. In diachroner Hinsicht ist sich die Forschung mehrheitlich einig, dass das Bittgebet in 63,7–64,11 nicht von Anfang an für die jetzige Stellung im Jesajabuch verfasst worden ist. Unterschiedliche Elemente sind von den Verfassern aus der ihnen bekannten Klagetradition (vgl. Klgl) übernommen und redigiert worden, so dass es nun zum Gebet der »Wächter« und »Erinnerer« (62,6) geworden ist, auf das Jhwh in Jes 65–66 mit der klaren Trennung zwischen »Knechten« und »Gegnern« antwortet. Zeitgeschichtliche Hinweise lassen sich aus dem Gebet nicht erheben. Die von Odil Hannes Steck mehrfach vertretene These, der Einzug von Ptolemaios I. im Jahre 302/301 habe so katastrophale Folgen für Jerusalem und den Tempel gehabt, dass dieses Ereignis nur im Licht der Zerstörung Jerusalems von 586 gesehen und verstanden werden konnte191, basiert allein auf einem Bericht des jüdischen Historikers Josephus (ant. iud. XII, 4–5 und c. Ap. I, 205– 211), den dieser wiederum von Agatharchides von Knidos übernommen hat. Im Gebet ist aber von einem Usurpator keine Rede, so dass es bei der Exilskatastrophe von 586 als historischem Bezugspunkt bleiben muss. Doch diese ist wohl nicht mehr aus eigener Erfahrung bekannt, vielmehr schienen den Verfassern literarische Verarbeitungen vorgelegen zu haben, auf die sie für ihre Bittklage angesichts der anhaltenden nachexilischen Not zurückgreifen konnten. Theologischer Ertrag zum V. Akt (Jes 63–64) Die beiden Szenen dieses Aktes sind trotz ihres Ungleichgewichts auf eine gemeinsame Zielsetzung angelegt. Hinter den »Wächtern« und »Erinnerern« ver190 Lau 1994, S. 308. 191 U.a. Steck 1989, S. 399f.
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II. Auslegung von Jesaja
bergen sich die »Knechte«, die Jhwh als siegreichen Helden aus Edom, aus Bozra kommen sehen. Die grausig anmutende Szene will unmissverständlich deutlich machen, dass Jhwh gegen all jene Feinde des Gottesvolkes vorgeht, die eine nachexilische Restauration zu verhindern suchen. Die Verbindung zu 59,16ff. zeigt zudem, dass Edom hier metaphorisch für all diejenigen steht, die sich von der Sünde in »Jakob« nicht abwenden wollen. Das große Bittgebet bestätigt dies, denn dort kämpft Jhwh ja nicht etwa gegen einen äußeren Feind, sondern gegen die, die sich zur Zeit des Mose, also während des Exodus, gegen Gott und seinen heiligen Geist auflehnten (63,10). Anscheinend bot die Geschichte Israels, die sich zur Unheilsgeschichte gewandelt hatte, keinen sicheren Halt mehr für eine tragfähige Zukunftshoffnung. Diesen Anker konnte nur noch das Wissen um Jhwhs Vaterschaft liefern (63,16; 64,7). Auf die bange Schlussfrage, ob Gott weiterhin schweigen wolle, wird dieser im letzten Akt kraftvoll antworten. VI. Akt Jesaja 65–66 Jhwhs Antwort und die Spaltung der Gemeinde Kompositorisch bilden diese beiden Kapitel den gemeinsamen Schluss des Jesajabuches. Die semantisch-inhaltlichen Verbindungen zwischen ihnen lassen daran keinen Zweifel (vgl. »neuer Himmel und neue Erde«: 65,17; 66,22; »Fremdkulte«: 65,3f.; 66,17; »Vergeltung«: 65,6f.; 66,6; »Knechte«: 65,8ff.; 66,14). Zudem schlagen die Missstände in Stadt und Tempel eine Brücke zum Buchanfang (vgl. 1,10ff.). Doch während zu Beginn die Zerstörung des Landes und das Exil drohend vor Augen gestellt wurde, sind beide Szenarien am Ende des Buches keine Option mehr. Nun trifft Jhwhs Vergeltung das Volk nicht mehr in seiner Gesamtheit, sondern führt zur Trennung von Knechten und Gegnern (vgl. 65,8ff.). Sie durchzieht den gesamten letzten Akt und ist ein Indiz dafür, wie konfliktreich sich die nachexilische Restauration gestaltete. Während sich die erste Szene (Kap. 65) auf die Trennung der Gemeinde in Knechte und Gegner konzentriert – nur für erstere wird es eine heilvolle Zukunft geben –, steht in der zweiten (Kap. 66) das Thema des Tempels und des Kultes im Vordergrund. Dabei sind die Bezüge zu Kap. 1 so eindeutig, dass eine bewusste Abschlussfunktion nicht nur für den letzten Teil, sondern für das Gesamtbuch in Betracht gezogen werden muss. I. Szene Jesaja 65 Heil den Knechten und Untergang den Gegnern Die Szene ist deutlich dreigeteilt: Zunächst antwortet Jhwh auf das vorausgegangene Bittgebet und betont, nicht mehr zu schweigen, sondern zu vergelten (V. 1–7). Darauf folgt die Scheidung von Knechten und Gegnern (V. 8–16a), die die Vorbedingung für die anschließende Neu-Schöpfung Jerusalems darstellt (V. 16b–25). Damit ergibt sich folgende Einteilung der Szene:
VII. Teil Jesaja 55–66 Die Knechte Jhwhs und ihre Gegner auf dem Zion
V. 1–7 V. 8–16a V. 16b–25
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Jhwhs Antwort auf das Bittgebet Scheidung von Knechten und Gegnern Das Neue Jerusalem
Dass V. 1–7 eine Antwort auf das Bittgebet darstellen, zeigt das Stichwort hvj»schweigen«. Auf die bange Frage, ob Jhwh noch weiter »schweigen« wolle (64,11), antwortet er, dass dies keineswegs der Fall sei, denn es stehe doch vor ihm geschrieben: »Ich werde nicht schweigen!« (65,6). Dieser Schriftbezug verweist auf 62,1, wo es in einer Gottesrede heißt: »Um Zions willen werde ich nicht schweigen«. Ein besseres Beispiel für das Phänomen schriftgelehrter Prophetie kann es kaum geben: Bereits zur Schrift Gewordenes bietet den Fundus für weitere, aktualisierende Gottesworte. Anders als in 65,8 und 66,1 fehlt in 65,1 die einleitende Redeeröffnung »so spricht Jhwh«, was für einige Ausleger auf ein »nichtöffentliches Selbstgespräch« Gottes hinweist.192 Ein solches wäre aber kaum die passende Antwort auf die Bittklage und so wird das Fehlen der Spruchformel auf den Gestaltungswillen der Verfasser zurückzuführen sein, die Antwort Gottes unmittelbar auf die Schlussbitte in 64,11 folgen zu lassen. Der Beginn dieser Erwiderung ist für das Verständnis von Jes 65–66 von entscheidender Bedeutung. Im Zentrum steht die Bereitschaft Jhwhs, sich suchen und finden zu lassen. Dies verweist zurück auf die Anklage Gottes, dass man ihn zwar Tag für Tag suche, sich dabei aber weder sozial noch religiös korrekt verhalte. Nur wenn sich dies ändert, wird Jhwh sagen: »Hier bin ich« (58,9). Darauf kommt er nun zurück, aber nicht deshalb, weil sich das Volk in toto gebessert hätte – es bleibt ein störrisches und widerspenstiges Volk (65,2ff.) –, sondern um seiner Knechte willen, die gleich dem kostbaren Most verhindern, dass der Keltertreter alles zerstampft (65,8ff.). Zugleich weitet sich der Blick über Israel hinaus, denn vrd »suchen/befragen« und axm »finden« blicken auf 55,6 zurück: »Sucht Jhwh, da er sich finden lässt, ruft ihn an, da er nahe ist!«. Da die Einladung in Kap. 55 allen Menschen aus Israel und den Völkern galt, bezieht sich das »Sich-Suchen-und-Finden-Lassen« von 65,1ff. auf alle, die nicht widerspenstig und störrisch handeln. Aber gegen all diejenigen, die Jhwh mit illegitimen Kultpraktiken beleidigen, wird er hart vorgehen. Die sechs Partizipialformen in V. 3–5a verweisen in hyperbolisch-metaphorischer Weise auf die Missstände, die nach Ansicht der Verfasser in Jerusalem herrschen. Dabei ist besonders an Fruchtbarkeits- und Totenkulte zu denken, während das Opfern in den Gärten wohl mit dem Adonis-Kult in Verbindung steht (vgl. Ez 8,14). Die Passage schließt mit der ironischen Aufforderung eines Kultteilnehmers, man solle ihm ja nicht zu nahe kommen, denn sonst werde er seine Mitmenschen »heiligen« (V. 5; vgl. 66,17). Die Nennung von Schweinefleisch im Zusammenhang paganer Kultfeiern (65,4; 66,3.17) hängt damit zusammen, dass das Schwein
192 Steck 1991d, S. 218.
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II. Auslegung von Jesaja
in der Umwelt Israels besonders für chtonische Riten gebraucht wurde.193 Wer glaubt, Jhwh werde solche Praktiken tolerieren, der irrt gewaltig: »Ich werde nicht schweigen, bevor ich nicht vergolten habe!« (V. 6b). Die zweite Einheit (V. 8–16a) setzt mit der Botenformel »so spricht Jhwh« ein und betont die Trennung zwischen den Knechten und ihren Gegnern. Der Gegensatz spiegelt sich auch in der Redegattung wider, indem Heils- und Unheilsworte einander gegenüberstehen. Das Ende dieser Auslegungseinheit findet sich in V. 16a. Das zweifache [bv »Schwören« bindet die Aussage an das Wort »Schwur« (h[wbv) in V. 15a, zumal mit V. 16b die neue Thematik des »Früher–Später« einsetzt (vgl. »die früheren Dinge« in V. 16b.17b). Das Bild von Jhwh als Keltertreter nimmt die Gerichtsszene in 63,1–6 auf und stellt die Gegner der Knechte in die Nähe Edoms! Demgegenüber sind die Knechte, die in dieser Einheit sieben Mal genannt werden, der Same Jakobs, »der Besitzer meines Berges« (yrh vrwy). Es ist die Gruppe der Knechte, die als Segensfundament das nachexilische Gottesvolk vor der völligen Vernichtung bewahrt, ähnlich wie Noach die Schöpfung vor dem Aus bewahrte (vgl. den Targum, der diese Parallele expliziert). Die Verbindung von hkrb »Segen« und [rz »Samen« weist auf 61,9 zurück (»Diese werden gesegneter Same Jhwhs sein.«), während die Knechte in 65,23 »Same der Gesegneten Jhwhs« genannt werden. Damit kommt das Thema der »Nachkommenschaft« des Knechts (53,10) zu seinem Ende. Wie dieser Leid und Verfolgung erfuhr, so stehen auch den Knechten Repressalien und Diffamierungen ins Haus! Waren die Knechte im Bittgebet von 63,7–64,11 noch mit dem ganzen Volk solidarisch (»wir alle« in 64,5–8), ist diese Einheit nun zerbrochen. Nicht sie spalten sich vom Volk ab, sondern Jhwh ist es, der zwischen seinen Knechten und den Gegnern trennt! Diejenigen, die Jhwh »verlassen« (bz[) haben, sind für das Schwert bestimmt (V. 11f.). Segen bzw. Fluch liegen nicht mehr über Israel als Kollektiv, sondern über jedem, der sich Jhwh zu- bzw. sich von ihm abwendet! Waren Israel Hunger und Durst angedroht, falls es Jhwh nicht »mit Freude« (hjmcb) und »mit Herzenslust« (bbl bwfb) diene (Dtn 28,47f.), so sind seinen Knechten Essen und Trinken, »Freuen« und »Herzensfreude« verheißen (65,13f.). Sie sind es, die sich »im Gott des Amen« (˜ma yhlab) segnen und bei ihm schwören (V. 16a). Mit dieser singulären Bezeichnung erkennen sie Jhwh als den Gott an, der seine Heils- und Unheilsankündigungen mit Sicherheit eintreffen lässt. Er ist eben kein Glücks- oder Schicksalsgott wie »Gad« und »Meni« (V. 11). Auf die von Jhwh durchgesetzte Trennung folgt mit V. 16b–25 die Verheißung einer neuen Schöpfung zugunsten der von ihm Gesegneten (V. 23b; vgl. 44,3; 61,9). Mit Blick auf 65,9 können damit nur die Knechte bzw. ihre Nachkommen gemeint sein. Mit ihnen steht Jhwh in enger Beziehung (V. 24), sie sind die Nutznießer der neuen Friedensordnung auf seinem heiligen Berg (V. 25; vgl. 11,6–9). In diesem letzten Abschnitt sind die früheren Nöte der erhofften Neugestaltung gegenübergestellt. Der Ausdruck »die früheren Nöte« lässt an den Kontrast von »Früher–Spä193 Botterweck 1977, S. 846.
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ter« in Jes 40–48 denken (41,22; 42,9; 43,9.18; 46,9; 48,3), fiel doch auch dort der Begriff des »Neuen« (vdj: 41,15; 42,9; 43,19; 48,6; vgl. 62,2). Gehörte Kyrus noch zu den früheren Dingen, die sich langsam, aber sicher verwirklichten und mit dem Auftreten des Knechts zu Ende gingen, so werden nun die früheren Nöte durch Jhwhs neue Schöpfungstat abgelöst. Nicht etwa der alte Himmel und die alte Erde sollen vergessen sein, sondern die früheren Nöte! Keine kosmischen Umwälzungen werden erwartet, sondern friedliche Zustände auf dem Zion. Analog zu Paradiesvorstellungen aus der Umwelt Israels geht es um die Inszenierung einer heilvollen Ordnung, aus der alles Chaotische und Lebenswidrige gebannt ist. War eine solche Zukunft in 11,6–9 an das Auftreten des Sprosses Davids gebunden, so fehlt hier jede königliche Figur, denn Jhwh ist der alleinige König (vgl. 52,7). Die Umkehrung der Lebensumstände ist nur mit Jhwhs Schöpfertätigkeit zu vergleichen, was durch das dreifache arb »schöpfen« in V. 17–18 unterstrichen wird (vgl. Jhwh als Schöpfer von Himmel und Erde in 40,28; 42,5; 45,18; als Schöpfer Jakobs/Israels in 43,1.15). Die neue Schöpfung ist ganz und gar auf Jerusalem und ihre Bevölkerung konzentriert. »Die neue Schöpfung ist Jerusalem. Man könnte vielleicht sagen: Die neue Schöpfung beginnt in Jerusalem. Jedenfalls ist Jerusalem nicht nur ein Teil, sondern Inbegriff des Neuen«194. Diese Neugestaltung Jerusalems hat nichts Außergewöhnliches an sich, sondern meint einfach das Ende aller Nöte. So soll kein Weinen und Klagegeschrei mehr zu hören sein, weil es kein Kindersterben mehr gibt (vgl. Ex 23,25f.; Lev 26,9f.; Dtn 7,12ff.; Sach 8,4). Von der Hoffnung auf eine endgültige Vernichtung des Todes wie in 25,8 ist aber keine Rede! Im Gegensatz zu den früheren Erwartungen geht es nicht mehr um den Wiederaufbau der Mauern Jerusalems, um die reichen Gaben der Völker, sondern viel bescheidener um das Bauen der eigenen vier Wände und den eigenen Weinberg, dessen Früchte man selbst genießen darf (V. 21f.). Die Knechte werden von Jhwh erneut »meine Erwählten« genannt (V. 22; vgl. V. 9.15). Nicht nur die Gottesbeziehung wird wieder hergestellt sein (V. 24), sondern auch das Zusammenleben in Jerusalem. Dass V. 25 auf 11,6–9 zurückgreift, ist keine Glossierung apokalyptischen Stils, sondern dient als bewusster Abschluss von Jes 65. Die Neugestaltung der Schöpfung zeigt sich daran, dass nichts Böses mehr auf Gottes heiligem Berg geschieht. Die Schlange von 11,8 wird durch den schriftgelehrten Rückgriff auf Gen 3,14 entschärft: Sie wird Staub essen! II. Szene Jesaja 66 Das neue Jerusalem – Zion als Mutter der Knechte Nach dem positiven Ausklang von Kap. 65 überrascht der plötzliche Neueinsatz mit der Botenformel in 66,1 (vgl. 56,1; 65,8). Zudem hat sich die Sprechrichtung geändert: Redete Jhwh zuvor zu den Gegnern über die Knechte, so spricht er jetzt zu den Knechten über die Gegner. Scheinbar steht noch die Klärung einer wichtigen Frage aus, welche die Stellung des Tempels als Ort des Opferkultes betrifft: Wie sind blutige Tieropfer im Haus Gottes mit der Friedensordnung unter allen Lebewesen auf dem Zion zu vereinbaren (vgl. 65,25)? Davon ausgehend wird die 194 Kraus 1990, S. 241.
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II. Auslegung von Jesaja
Stellung Jerusalems als Mutter der Knechte und der Völker, die zu ihr pilgern, abschließend in Szene gesetzt. Die Einteilung kann wie folgt dargestellt werden: V. 1–6 V. 7–14 V. 15–24
Blutiger Opferkult versus »Zittern« vor dem Gotteswort Zion als Mutter und Jhwhs Trost für Jerusalem Das Kommen Jhwhs und seine Verehrung durch alles Fleisch
Die Abgrenzung der ersten Einheit ist nicht unumstritten: Muss der Imperativ in V. 5 nicht als so gewichtig gelten, dass damit eine neue Perikope beginnt?195 Doch sprechen triftige Gründe für die vorgeschlagene Einteilung: Das Stichwort »zittern« (drj) aus V. 2 ist in V. 5 aufgenommen. Die »Feinde« (V. 6) begegnen erneut in V. 14, ebenfalls in Endstellung. V. 1 und V. 6 bilden insofern eine Klammer, als sich die Begriffe »Haus«/»Ort meiner Ruhe« (V. 1) und »Stadt«/»Tempel« (V. 6) entsprechen. Die Verben »erwählen« (rjb) und »Gefallen haben« (≈pj) binden V. 3–4 so eng aneinander, dass sie zur Mitte der Perikope werden. Damit ergibt sich ein überraschend stringenter Aufbau: V. 1 V. 2 V. 3 V. 4 V. 5 V. 6
»Haus/Ort meiner Ruhe« »der zittert vor meinem Wort« »Sie erwählten ihre Wege/sie hatten Gefallen an ihren Götzen« »Ich erwähle« – »Was mir nicht gefällt, erwählten sie« »Hört, die ihr zittert vor seinem Wort!« »Stimme von Tosen aus der Stadt/Stimme aus dem Tempel«
In dieser Szene geht es nicht um eine radikale Ablehnung des Tempels, was für das AT und den altorientalischen Kontext völlig undenkbar wäre. Auch der Wiederaufbau des zerstörten Heiligtums steht nicht zur Diskussion. Vielmehr geht es um die Frage, wer an diesem Unternehmen beteiligt sein darf und wer nicht. Dabei handelt es sich um ein gesellschaftliches Privileg, denn nur freie Bürger, die über eigenen Grund und Boden verfügen, können am Tempelwiederaufbau teilnehmen.196 Anders als in Esra 4,1ff., wo diese Frage auf politischer Ebene zwischen Jerusalem und Samaria verhandelt wird, geht es in Jes 66 um die Teilhabe innerhalb der Tempel-Bürger-Gemeinde. Die Kontrahenten kommen nicht aus dem benachbarten Samaria oder der fernen Diaspora, sondern werden als »eure Brüder, die euch hassen, die euch um meines Namens willen ausstoßen« (V. 5), bezeichnet. Ihnen stehen die vor dem Gotteswort »Zitternden« gegenüber. Es ist kein Zufall, dass der Ausdruck »die Zitternden« – wovon sich übrigens die »Quäker« (»Zitterer«) ableiten – auch in Esra 9,4 und 10,3 begegnet. Dort bezeichnet das Wort diejenigen, die gegen eine Zulassung von Fremden und gegen den Vollzug von Mischehen plädieren, und zwar mit Rekurs auf göttlichen Beschluss, worun195 U.a. Steck 1991e, S. 265. 196 Siehe Blenkinsopp 1991, S. 29.
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ter nur die mosaische Tora verstanden werden kann. In 66,2.6 sind die »Zitternden« solche, die sich ebenfalls an Jhwhs Wort halten, was sich nun aber nicht auf die mosaische, sondern auf die prophetische Tora bezieht. Ihre Offenheit setzt die »Zitternden«, hinter denen sich erneut die »Knechte« verbergen (V. 14), zusehends unter Druck: »Jhwh erweise sich als herrlich, dass wir eure Freude sehen« (V. 5). Damit ist wohl auf die Lichtvision in Jes 60–62 angespielt (vgl. 60,1–2; 62,2), und zwar in polemischer Weise: Sobald Jhwh seine Verheißung des Lichts über Jerusalem wahr macht, wolle man sich den Knechten anschließen. Da dies aber noch nicht der Fall sei, bleibe man besser bei den Bestimmungen der mosaischen Tora! Die Position der Knechte ist eindeutig: Wer immer am Tempelbau mitwirkt, der bleibt dem Schöpfergott untergeordnet. So betonen V. 1–2 mit einem Gotteswort, dass er Himmel und Erde gemacht habe, d.h. die gesamte Wirklichkeit ins Leben gerufen (V. 2a). Der hebräische Text (»meine Hand hat dies alles gemacht, und so ist das alles entstanden«) bietet im Gegensatz zur griechischen Übersetzung (»denn alles dies hat meine Hand geschaffen, und alles dies ist mein«) keine Eigentumsaussage. Im Vordergrund des hebräischen Textes steht die Schöpfermacht Jhwhs, der keine menschliche Tat gleichen kann – auch nicht die der Tempelrestauration. Das macht den Tempelbau nicht hinfällig, sondern setzt die Bauaktivität ins rechte Licht. Der Akzentuierung der LXX folgend wird in der Rede des Stephanus aus Apg 7,48–50 die Aussagerichtung des MT noch weiter verdunkelt, da der Tempelbau dort sogar götzendienerische Züge annimmt (vgl. Apg 17,24). Das spielt im hebräischen Urtext von 66,1ff. überhaupt keine Rolle; dort unterstreichen die »Himmel« als »Thron Gottes« allein den unbegrenzten Machtbereich Jhwhs. Dass die »Erde« und nicht etwa die Lade (Ps 132,7; 1 Chr 28,2) oder das Heiligtum (Ps 99,5; Klgl 2,1) als Gottes Fußschemel bezeichnet wird, ist eine singuläre Aussage im AT. Dabei steht »Schemel« (µdh) für die den Menschen zugewandte Seite Gottes.197 Ist die Erde sein »Schemel«, dann ist Jhwhs Gegenwart nicht nur im Jerusalemer Tempel, sondern überall erfahrbar: »The cosmos knows only one direction for benevolence: from YHWH to men.«198 Da sich Gott der Welt aber insgesamt zugewandt hat, darf es keine Tempelrestauration geben, die an den sozialen Verpflichtungen vorbei sieht. Nach Auffassung der Chronik durfte König David den ersten Tempel nicht selbst bauen, da er als Kriegsherr Blut vergossen hatte (1 Chr 28,3). Wenn also friedvolles Handeln eine Grundvoraussetzung für den Tempelbau ist, disqualifizieren sich diejenigen als Tempelbauer, die Tiere opfern und zugleich Menschen erschlagen. Damit Jerusalem und Zion zu dem werden, was sie sein sollen, müssen diejenigen weichen, welche die kultischen und sozialen Regeln grob missachten. Da sich die Gegner der Knechte (V. 14) das erwählen, was ihnen gefällt (V. 3), stehen sie im Gegensatz zu den Eunuchen, die sich erwählen, was Gott gefällt (56,4). Dass Fremde und 197 Fabry 1977, S. 355. 198 Beuken 1989, S. 57.
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Kastraten, die Jhwhs Willen tun, von seiner Verehrung ausgeschlossen werden, während die Tempelbauer dem kultischen und sozialen Unrecht frönen, ist ein Skandal, den die Knechte anprangern. Die Missstände, die der Neuschöpfung entgegenstehen, wird Gott selbst beseitigen, und zwar von dort aus, wo sie am schlimmsten wüten: von der Stadt Jerusalem und vom Tempel her (V. 6). V. 7–14 Zion als Mutter und Jhwhs Trost für Jerusalem Diese Szene ist zweigeteilt: Jhwhs Vergeltung an den Feinden führt zur Geburt (V. 7–9) und zum Heranwachsen der neuen Zionsbevölkerung (V. 10–14). Zunächst dominiert das Wortfeld der »Geburt« (»kreißen«, »gebären«, »verschließen«), danach das von »Freude« und von »Trost«. Dabei legt sich das Stichwort cyc »sich freuen« (V. 10b.14b) als Klammer um das dreifache µjn »trösten« (V. 11.13). Das Schluss-Bikolon (V. 14b) übernimmt eine Doppelfunktion, indem es zum einen auf V. 6 zurückweist, zum anderen auf V. 15–24 vorausblickt. Aus den Gegnern der Knechte sind nun explizit Feinde Gottes geworden, womit die Fronten endgültig geklärt sind (vgl. V. 6b.14b). Bei der Ausgestaltung des Heilsbildes von Geburt und Wachstum wird in schriftgelehrter Manier auf die Orakel von Zions kinderreicher Zukunft in 49,21–26 und 54,1–3 Bezug genommen. Die Stadtfrau Zion ist nun aber nicht mehr die Mutter der Heimkehrer aus Babel und der Diaspora, sondern die der Knechtsgemeinde (V. 14). Die Verheißung von 54,1, dass die Frau, die nicht in Wehen lag, eine große Zahl an Kindern bekommen werde, wird dahingehend gesteigert, dass es so plötzlich zur Niederkunft kommen werde, dass selbst für Wehen keine Zeit mehr bleibe. Hinter dem männlichen Nachkommen (V. 7) verbirgt sich niemand anderer als die Knechtsgemeinde, wobei Jhwh der Frau Zion als Hebamme zur Seite steht (V. 9). Jeder Geburtsakt barg damals große Gefahren für Mutter und Kind (vgl. 37,3), doch diese Niederkunft wird problemlos, weil blitzschnell verlaufen. Dies ist nur mit der unerwarteten Schicksalswende für den Gottesknecht zu vergleichen (vgl. 52,15; 53,1). Die ihm verheißenen Nachkommen (53,10) sind Zions Kinder (V. 8). Sie werden keine Not mehr leiden, sondern sich an ihrer tröstenden Brust satt trinken (V. 11; vgl. 60,16) und auf Armen getragen werden (V. 12; vgl. 49,22; 60,4). Dass sich die Knechtsgemeinde als männlicher Nachkomme (rkz) die Verheißung vom Spross Isais (11,1ff.) zu eigen macht, zeigt nicht nur das Zitat in 65,25, sondern auch die Kombination von »saugen« (qny) und »sich erfreuen/sich ergötzen« ([[v II), die sich nur in 11,8 und 66,12 findet. Dem imaginierten Lebensweg folgend geht es von der plötzlichen Geburt über das umsorgte Kleinkindalter bis hin zum Erwachsensein: »Wie ein Mann (vya), den seine Mutter tröstet, so tröste ich euch«. Nun agiert Jhwh nicht mehr als Hebamme, sondern als Frau, die ihren erwachsenen Sohn tröstet. Der Aspekt der Mütterlichkeit Jhwhs war bereits durch 42,14 (»wie eine Gebärende«), 46,3–4 (»von Mutterschoß an […] bis ins Greisenalter will ich euch tragen«) und 49,15 (»kann denn eine Frau ihr Kleinkind vergessen?«) vorgezeichnet. Mit der dreifa-
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chen Nennung des Leitwortes »trösten« (µjn) kommt in 66,13 eines der großen Themen des Jesajabuches zum Abschluss (vgl. 12,1; 40,1; 49,13; 51,3.12.19; 52,9; 54,11; 61,2). Der Trost Gottes gilt nicht mehr dem Volk oder Jerusalem insgesamt, sondern nur noch seinen Knechten. Die Verheißung, ihre Gebeine würden wie frisches Gras blühen, nimmt die Vegetationsbilder von 41,18; 51,3 und 58,11 auf und spielt zudem möglicherweise auf die Totenfeldvision in Ez 37 an. Blühendes Leben wird einzig und allein den Knechten zuteil, nicht aber den Gegnern! V. 15–24 Das Kommen Jhwhs und seine Verehrung durch alles Fleisch Den Abschluss des Buches bildet die Vision des endzeitlichen Jerusalems mit dem Kommen der Verehrer aus den Völkern und der Diaspora (V. 18–23). Sie wird durch die harten Worte von der Vernichtung der Apostaten gerahmt (V. 15– 17.24). V. 15–17 V. 18–19 V. 20–21 V. 22 V. 23 V. 24
Gericht und Feuer Völkersammlung Heimkehrer aus der Diaspora Levitische Priester Völkerwallfahrt allen Fleisches Gericht und Feuer
Ging in V. 6 die Vergeltung Jhwhs an den Feinden vom Tempel aus, so erfassen Feuer und Schwert nun alle Apostaten, die hinter einem Mysten her ihr kultisches Unwesen treiben (vgl. 1,29–31; 65,1–7; 66,3f.). Ihre Leichen werden aber erst in V. 24 sichtbar! Die Bezüge zwischen den gottfeindlichen Praktiken in 65,3–5; 66,3–4 und 66,15–17 deuten darauf hin, dass es sich um ein und dieselben Gegner der Knechte handelt. Dass Motive der Gerichtstheophanie an den Völkern in V. 15–17 eingearbeitet sind (u.a. »Kommen Jhwhs«, »Erschlagene Jhwhs«), spricht nicht gegen diese Interpretation. Die innerjüdischen Apostaten werden so in eine Reihe mit den schlimmsten ausländischen Feinden gestellt. Wie die Erschlagenen der Völker nach Jer 25,33 unbestattet als Dung verwesen, werden die Apostaten in 66,24 als Abscheu vor den Toren Jerusalems liegen bleiben (vgl. 37,36). Das Gericht an den Apostaten, von dem bereits am Anfang des Buches die Rede war (vgl. 1,2.28), vollzieht sich nun endgültig. Waren zu Beginn »Himmel und Erde« als Zeugen gegen Israel angerufen worden (1,2), so schließt das Buch mit dem »neuen Himmel und der neuen Erde« (V. 22). Das nicht verlöschende Feuer (1,31) verzehrt die Apostaten in Jerusalem (66,24). Die kultischen Vergehen rahmen das Buch, jedoch mit einer wichtigen Veränderung: Am Ende ist der gottgefällige Kult nicht mehr durch Israel allein darzubringen, sondern durch »alles Fleisch« (rcb lk) (V. 23). Darunter sind alle aus dem Gottesvolk und den Völkern zu verstehen, die sich von den Fremdkulten lossagen und Jhwh allein die Ehre geben. Wer aus den Völkern, wer aus dem Fremdgötterdienst entronnen ist (V.
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19; vgl. 45,20), der übernimmt eine Aufgabe an der Völkerwelt. Die weltweite Funktion des Knechts (42,6; 49,6) setzt sich fort, indem auch Menschen aus den Völkern der Gemeinde der Knechte angehören. Sie werden die Kunde von Jhwh auch denen verkünden, die bisher weder von ihm gehört, noch seine Herrlichkeit gesehen haben (V. 19). Die Zulassung von Fremden zum Zion ist damit nicht nur eine Frage der Gemeindeordnung (vgl. 56,1ff.), sondern auch des göttlichen Willens für die Völkerwelt. Wenn sich diese Völker dann auf den Weg machen, werden sie die noch unter ihnen lebenden Diasporajuden mit nach Jerusalem bringen (vgl. 49,22–23; 60,4). Der Vergleich mit Weihegaben in reinen Gefäßen (vgl. Sach 14,20f.) betont – wohl gegen den Standesdünkel der Jerusalemer Priesterschaft – die Kultfähigkeit ihrer Mitbrüder aus der Diaspora. Auch aus ihr wird sich Jhwh »levitische Priester« erwählen (nicht: »Priester und Leviten«). Die Provokation liegt auf der Hand: Wer aus den Völkern kommt, ist rein, im Unterschied zu denjenigen, die in Jerusalem pagane Kulte praktizieren! Mit Rückgriff auf die neue Schöpfung, die in Jerusalem ihr Zentrum hat (65,17), wird diesen levitischen Priestern aus der Diaspora eine bleibende Zukunft zugesichert (V. 22). Das Ende dieses Verses macht deutlich, dass hier nicht etwa das Priestertum von Fremden oder Proselyten propagiert wird, denn diese können nicht den Fortbestand »eures Samens und eures Namens« garantieren. Die neue Größe aus Israel und den Völkern, die sich in Jerusalem versammelt und den jüdischen Festkalender übernimmt, steht unter dem Oberbegriff »alles Fleisch« (rcb lk). Der Ausdruck verweist auf die ganze Menschheit, und zwar vor der Trennung in Völker und Ethnien (vgl. Gen 6–9). »Alles Fleisch« ist zugleich zum Lob Jhwhs aufgerufen, wie es der Psalter mehrfach betont (Ps 65,3; 136,25; 145,21). Im neuen Jerusalem, in dem sich Israel und die Völker zum Gottesdienst versammeln, gibt es keinen Platz mehr für diejenigen, die sich gegen Jhwh auflehnen (V. 24). In der jüdischen Tradition wird nach dem dunklen V. 24 der helle V. 23 wiederholt, um das Jesajabuch mit der positiven Aussage enden zu lassen! Theologischer Ertrag zum VI. Akt (Jes 65–66) Auch dieser letzte Akt ist zweigeteilt. Auf das Bittgebet der Knechte antwortet Jhwh unmittelbar. Nur für sie ist er erreichbar, nicht aber für die Apostaten. Das Volk als solches überlebt nur wegen der »Knechte«, weil nur in ihnen der Segen Gottes weiterlebt. Die Zeit der Entscheidung für oder gegen Jhwh, d.h. für oder gegen die Knechte neigt sich dem Ende zu. Der neue Himmel und die neue Erde (65,17ff.) weisen nicht etwa auf kosmische Veränderungen hin, sondern zielen auf eine gerechte soziale Ordnung in Jerusalem hin. Wem dies nicht genug an Zukunftshoffnung ist, kennt nicht die Nöte all derer, die von ihrer Hände Arbeit nicht leben können, die nicht essen dürfen, was sie selbst angebaut haben, die unter einer viel zu hohen Kindersterblichkeit leiden (vgl. 65,21–23). Gerade vor diesem Hintergrund entwickelt die Diskussion um den rechten Kult und die
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Teilnahme am Tempelwiederaufbau ihre eigentliche Dramatik. Was nützen Opfertiere, wenn derjenige, der sie Jhwh darbringt, zugleich Menschen erschlägt! Was nützen Weihrauch und andere teure Gaben, wenn man sie Götzen darbringt (66,1ff.)? War Jhwh im Gebet als »Vater« angesprochen worden, so gilt die »Mutterschaft« nun Zion als Gebärerin der neuen Gemeinde. Der Sohn, den sie gebiert und den Jhwh ebenfalls wie eine Mutter tröstet (66,13), ist niemand anderer als die Knechte, an denen sich die Hand Gottes offenbart (66,14). Diese Gemeinde auf dem Zion ist offen für den Empfang von Völkern aller Sprachen und für die levitischen Priester, die noch unter diesen in der Diaspora leben. Der gemeinsame Gottesdienst von Israel und den Völkern ist der neue Himmel und die neue Erde, die Jhwh erschafft: »Und Neumond für Neumond und Sabbat für Sabbat wird alles Fleisch kommen, um sich vor mir niederzuwerfen, spricht Jhwh«.
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Das Buch Jesaja gehört zu den bedeutendsten Schriften des Alten Testaments und ist in einem Zeitraum von ca. vierhundert Jahren entstanden. Den Grundstock für diese große literarische Kathedrale legte der Prophet Jesaja ben Amoz im letzten Drittel des achten vorchristlichen Jahrhunderts. Schüler- und Tradentenkreise sorgten für ein langsames Anwachsen der jesajanischen Überlieferung. Neue und starke Wachstumsimpulse brachte die Verarbeitung der babylonischen Gefangen schaft und die nur schleppende Restauration in persischer Zeit.
Das Buch Jesaja
Theologie | Religionswissenschaft
Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
ISBN 978-3-8252-4647-1
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Berges | Beuken
Ulrich Berges und Willem Beuken stellen nach einer Einleitung in die Forschungsgeschichte des Jesajabuches die gesamte Schrift in ihrer Endgestalt als literarisches Drama vor.
Ulrich Berges | Willem Beuken
Das Buch Jesaja Eine Einführung