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German Pages 295 [296] Year 1996
Herlinde Pauer-Studer Das Andere der Gerechtigkeit
Herlinde Pauer-Studer
Das Andere der Gerechtigkeit Moraltheorie im Kontext der Geschlechterdifferenz
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - Cip-Einheitsaufnahme
Pauer-Studer, Herlinde: Das Andere der Gerechtigkeit : Moraltheorie im Kontext der Geschlechterdifferenz / Herlinde Pauer-Studer. - Berlin : Akad. Verl., 1996 Zugl.: Wien, Univ., Habil.-Schr., 1995 ISBN 3-05-003087-9
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: Werksatz Joachim Schmidt, 06773 Gräfenhainichen Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, 99947 Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorbemerkung
9
Einleitung
11
FEMINISTISCHE A N S Ä T Z E IN DER MORALPHILOSOPHIE
15
1
Feministische Ethik - Modell eines Perspektivenwechsels
15
2
Das Entdecken einer „anderen Stimme" (Carol Gilligan)
21
2.1
Die Aporien einer „weiblichen Moral"
28
3
Moral und feminine Werte: Nel Noddings' Ethik des Sorgens
38
3.1
Die Grenzen einer Qzre-Ethik
44
4 4.1
Moralische Erfahrungen und asymmetrische Fürsorglichkeitsbeziehungen: Die feministische Kritik an den Vertragstheorien der Moral
52
Die Grenzen vertraglicher Übereinkunft (Virginia Held)
52
4.2
Das Andere der Gerechtigkeit: Vertrauen und Empathie (Annette C. Baier)
60
4.3
Individualistische und universalistische Vertragstheorien
66
4.4
Paradoxien ökonomischer Rationalität: Das Scheitern des individualistischen Vertragsmodells
5 5.1
74
Bedürfnisinterpretationen und das gute Leben: Seyla Benhabibs feministische Diskursethik
84
Die Nachrangigkeit des Diskursmodells
89
6
Die theoretischen Grundlagen feministischer Ethik
96
6.1
Universalismus, Partikularismus, Unparteilichkeit
97
6.2
Der Stellenwert und die methodologische Verankerung affektiver Werte
104
6
Inhalt
LIBERALISMUS, KOMMUNITARISMUS, FEMINISMUS
111
7
Tugenden und Traditionen: Alasdair Maclntyres Alternative zur Aufklärungsmoral
7.1
Sentimentale Nostalgie versus moralische Kontroverse
. .
117
113
7.2
Regelmoral und Tugendmoral
124
8
Die Grenzen der Gerechtigkeit: Michael Sandels Kritik am Liberalismus
132
8.1
Das bindungslose Selbst und der Vorrang des Rechten vor dem Guten
133
8.2
Differenzprinzip und Solidarität
142
8.3
Eine instrumenteile Theorie des Guten?
147
9
Das Rechte oder das Gute? Feministische Kritik an Liberalismus und Kommunitarismus
IMMANUEL K A N T U N D D A V I D H U M E - MORALTHEORETIKER DER F R A U E N ?
10
158
167
Pflichten, Imperative und die Achtung für das moralische Gesetz: Die Moraltheorie Immanuel Kants
169
10.1
Grundzüge von Kants Ethik
169
10.2
Zwei Lesarten der Kantischen Theorie
172
10.2.1
Formaler Universalismus und abstrakter Rationalismus
172
10.2.2
Maximen, Wohltätigkeit und Sittlichkeit
175
10.3
Handeln aus Pflicht und affektive Haltungen
181
11
Eigeninteresse, soziale Tugenden und moralische Empfindungen: Die Moraltheorie David Humes
190
11.1
Die Situierung der Moral im Gefühl
190
11.2
Das Zusammenspiel von Verstand und Gefühl
192
11.3
Humes Metaethik
195
11.4
Künstliche und natürliche Tugenden
201
11.4.1
Die künstlichen Tugenden
202
11.4.2
Die natürlichen Tugenden
205
11.5
Zwischen Egoismus und Wohlwollen: Der Einfluß von Hobbes, Shaftesbury und Hutcheson
207
11.6
Hume, Repräsentant eines aufgeklärten Egoismus?
211
11.6.1
John L. Mackies Lesart von Hume
211
11.6.2
Hartmut Kliemts evolutionstheoretischer Blick auf moralische Institutionen
216
11.6.3
Hume und das Projekt einer „Minimalmoral" (Norbert Hoerster)
222
11.6.4
Regeln, Rechte und Tugenden: John L. Mackies Ethik
223
11.7
Hume als Tugendethiker
227
Inhalt
1
11.7.1
Die Überbetonung der natürlichen Tugenden (Norman Kemp Smith)
228
11.7.2
"A Progress of Sentiments": Annette C. Baiers Hume-Interpretation
229
11.8
Hume und Kant: Versuch einer Synthese
234
E I N E MODERATE THEORIE DES G U T E N
239
12
Ernst Tugendhats Absage an die „Vernunft-fettgedruckt"
243
12.1
Zwischen absolutem Sollen und Kontraktualismus: Probleme von Tugendhats Position
250
13
Die Moral universeller Achtung als eine Ethik des Guten
257
13.1
Moralische Gründe und Ziele: Der vermeintliche Gegensatz von Vernunft und
13.2
Rationalität
257
Die Rückholung des „guten Lebens"
265
Literaturverzeichnis
273
Personenregister
290
Sachregister
293
Vorbemerkung
Die Philosophie im 20. Jahrhundert ist reich an Auseinandersetzungen über den Begriff der Philosophie selbst, und die Antworten auf die Frage nach der angemessenen Selbstbestimmung und methodischen Ausrichtung fielen recht unterschiedlich aus. Ungeachtet aller Differenzen hat die Philosophie als eine Form der Reflexion auf grundlegende Fragen, die Individuen und Gesellschaften bewegen, nichts an Aktualität eingebüßt. Dies bedeutet, daß die Disziplin, will sie sich nicht in scholastischer Erstarrung mit der Pflege der eigenen Tradition begnügen, für Probleme und Veränderungen, die sich im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen und neuer sozialer Bewegungen einstellen, offen bleiben muß. Eine dieser gegenwärtig bemerkbaren Wandlungen betrifft das Geschlechterverhältnis. In vielfältiger Weise zeigt sich, daß die Stützpfeiler der altbekannten Ordnung der Geschlechter ins Wanken geraten sind und der Geschlechtervertrag einer Neudefinition bedarf. Diese Entwicklungen bedeuten eine Herausforderung für die Philosophie: Sie findet sich nun mit ungewohnten Problemstellungen konfrontiert, nicht zuletzt mit dem Ansinnen, ihre theoretischen Annahmen und Voraussetzungen auf deren geschlechtsspezifische Unverfänglichkeit hin zu durchleuchten. In dieser Arbeit wird untersucht, wie sich die Moralphilosophie unter der Perspektive der Geschlechterdifferenz präsentiert und welche theoretischen Rahmenbedingungen notwendig sind, damit eine ethische Theorie nicht länger an den Einseitigkeiten eines „männlichen Blickwinkels" leidet. Einer Reihe von Personen, die mich großzügig mit ihrer Zeit, mit Ratschlägen und Kritik unterstützten, möchte ich an dieser Stelle danken. Mein besonderer Dank gilt Herta Nagl-Docekal, ohne deren Anregung und Präsenz die vorliegende Arbeit nicht entstanden wäre. Elisabeth Holzleithner hat das Manuskript von seinen frühesten Fassungen an mit zahlreichen Kommentaren und Korrekturvorschlägen begleitet. Gerhard Stremingers beeindruckender Kenntnis der Humeschen Philosophie verdanke ich wertvolle Hinweise für die Überarbeitung des Hume-Kapitels und Philippa Foot ein deutlicheres Verständnis der Tugendethiken. Dieter Birnbachers Anmerkungen zu einem Entwurf des ersten Teils der Arbeit und Diskussionen mit Martin Summer über den Begriff der Rationalität bedeuteten eine wichtige Rückmeldung. Danken möchte ich auch Peter Koller, der in vielen Gesprächen ein bleibendes Interesse an der Moralphilosophie weckte. Die finanzielle Unterstützung durch den Österreichischen Fonds zur wissenschaftlichen Forschung schuf die existentiellen Voraussetzungen für das Verfassen der vorliegenden Arbeit.
Wien, im Juli 1996
Herlinde Pauer-Studer
Einleitung "We are still living in the age of the Kantian man, or Kantian man-god." Iris Murdoch
Die Ethik erlebt seit geraumer Zeit eine ungeahnte und für ein Teilgebiet der Philosophie reichlich überraschende öffentliche Beachtung. Durch den Wegfall traditioneller Legitimationsmuster in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften scheint das Bewußtsein dafür geschärft, daß sich eine Orientierung in Wertfragen nur im Nachdenken über Grundsätze und Prinzipien, die als allgemein einsichtig und gerechtfertigt gelten können, einlösen läßt. Die neuerdings verstärkten Erwartungen an die Moralphilosophie resultieren nicht zuletzt aus der Tatsache, daß sich die modernen Lebenswelten mit einer Reihe von komplexen moralischen Problemstellungen konfrontiert sehen, deren Bewältigung zunehmend das Ausschöpfen professioneller Potentiale verlangt. Die Moraltheoretiker haben diesem Interesse an ihren Meinungen und Standpunkten bereitwillig entsprochen und sich engagiert in die Diskurse über Rechte der zukünftigen Generationen, der gesellschaftlich Benachteiligten, der Tiere und der Natur eingebracht. Gerade für die analytische Philosophie, deren Konzentration auf die Klärung moralischer Grundbegriffe und methodologischer Spezialprobleme doch einen starken Rückzug ins akademische Abseits bedeuteten, eröffnete sich so die Möglichkeit, mit einer präzisen argumentativen Aufarbeitung politisch bedeutsamer Fragen wieder an substantiellen Konturen zu gewinnen und einiges an Relevanzverlusten wettzumachen. Gleichzeitig wurde zunehmend fraglich, ob die modernen Moraltheorien den neuen Themenkomplexen gewachsen sind. So begegnet der Utilitarismus in der Anwendungsdimension der Schwierigkeit, daß die mit einem Kalkül der Gesamtnutzensteigerung verknüpfte Aufrechnung von Glück und Leid mit den Rechten und Ansprüchen von Individuen in Konflikt gerät und zu Konsequenzen führt, die schwerlich als moralisch gerechtfertigt gelten können. Umgekehrt erweist sich an den Problemstellungen angewandter Ethik auch die begrenzte Reichweite formaler Grundsätze. Die Forderung nach einer Erweiterung der klassischen deontologischen Prinzipienethik hat die ethischen Theorieüberlegungen der letzten Jahre entscheidend geprägt, und die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zu diesen Modifikationsversuchen. Das Aufgreifen der kantischen Tradition hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß mir die Probleme der utilitaristischen Position letztlich nicht ausräumbar scheinen. Die Diskussionen über die Revision deontologischer Ansätze knüpfen zu einem wesentlichen Teil an Elizabeth Anscombes bahnbrechender Kritik an der modernen Moralphilosophie an, in der sie auf einige gravierende Schwachstellen der Kantischen Moraltheorie hinweist. 1 1
Anscombe (1974). Eine kurze Bemerkung zur Orthographie: „Kantisch" wird in dieser Arbeit je nach Kontext mit großem oder kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben. Die Großschreibung bezieht sich auf die Theorie Kants im engeren Sinn; die Kleinschreibung wird verwendet, um eine mehr oder weniger an Kants Ansichten anküpfende Argumentation oder Position zu bezeichnen.
12
Einleitung
Nach Anscombe ergeben die für Kants Theorie zentralen Begriffe des moralischen Sollens und der moralischen Verpflichtung nur im Kontext des Glaubens an einen göttlichen Gesetzgeber Sinn; in einem von dieser Voraussetzung abgelösten Moralsystem wirken sie unverständlich. Kants Antwort ist bekannt: Als Protagonist der Aufklärung setzt er auf die Macht der Vernunft. Doch dem an die Stelle der göttlichen Autorität getretenen Vernunftbegriff, der für sich genommen alle Rechtfertigungslasten auffangen soll, fehlt es an Plausibilität, womit das moralische Sollen der Abstützung verlustig geht. 2 Wenn auch Anscombes Absage an den Begriff des moralischen Sollens und entsprechend an moralische Normen oder Regeln überzogen ist, so liegt hier doch offensichtlich ein Problem der grundsatzorientierten Moralkonzeptionen vor: Das moralische Sollen bedarf eines Bezugspunktes, womit der Rahmen eines deontologischen Ansatzes überschritten wird. Die von der Kantischen Ethik inspirierten Ansätze geraten auch insofern unter Druck, als die Anwendung von Grundsätzen auf konkrete Problemstellungen wesentlich von der Wahrnehmung der Umstände abhängt und ein Gutteil der moralischen Arbeit offenbar in der angemessenen Beschreibung von Situationen liegt. Die Kenntnis von Prinzipien deckt nicht schon die Frage ab, unter welche Grundsätze bestimmte Handlungen zu subsumieren sind. Die Antwort darauf erfordert nicht zuletzt eine Sensibilität für die Lage und Lebensumstände anderer Personen, die - so eine der Thesen dieser Arbeit - nicht ohne moralische Empfindungen auskommt. Die Vernachlässigung der Gefühle ist eines der auffallendsten Merkmale der neueren Moralphilosophie. Eine der Ursachen dafür ist in jener prominenten Interpretation von Gefühlen als zutiefst unverläßlichen Begleitern unseres Lebens und Handelns zu suchen, die allerdings die Möglichkeiten der Verbindung von rationaler Bestimmtheit in Grundsätzen und empfindungsmäßiger Ausgewogenheit übersieht. Das Verbannen moralischer Empfindungen provoziert freilich nicht nur eine folgenschwere Leerstelle in der moralischen Wahrnehmungsfähigkeit und Einordnung von Situationen, sondern bedingt auch eine weitere Einseitigkeit bekannter zeitgenössischer Moraltheorien: die mangelnde Beachtung und Berücksichtigung altruistischer Werte. Mit dieser Verengung scheint die Philosophie die unübersehbaren Individualisierungstendenzen in modernen Gesellschaften gleichsam nachzuvollziehen, statt den damit verbundenen und moralisch nicht tolerierbaren Entsolidarisierungseffekten entgegenzuarbeiten. Dieses Defizit bedarf gerade aus der Perspektive der Geschlechterdifferenz der Korrektur, denn das Übergehen altruistischer Werte hängt auch mit einem stillschweigenden Vertrauen in die Wirksamkeit der traditionellen Geschlechterkonstruktionen zusammen. Die Moraltheorie kann sich die Vernachlässigung dieser Dimension offenbar nur deshalb leisten, weil sie die für Gesellschaften insgesamt unverzichtbaren und auf das Wohlergehen anderer gerichteten Fürsorglichkeitsleistungen kurzerhand in den Aufgabenbereich von Frauen abschiebt. In der vorliegenden Untersuchung werden die Grundzüge einer Ethik skizziert, welche den eben angesprochenen Problemen Rechnung trägt. Neben einer Integration der moralischen Empfindungen, die zu den herkömmlichen Geschlechterkonnotationen Distanz hält, wird versucht, den Verpflichtungscharakter des moralischen Sollens zu wahren, ohne einen begründungstheoretisch überfrachteten Begriff der Vernunft vorauszusetzen. 2
Vgl. Wolf (1984) und Tugendhat (1993).
Einleitung
13
Der erste Teil ist einer Darstellung und Analyse der feministischen Ethik-Debatte vorbehalten. Trotz der weitgehenden Bekanntheit von Carol Gilligans Position enthält dieser Abschnitt auch eine eingehende Diskussion ihrer Thesen, da diese nicht nur die Richtung der feministischen Kritik an der Moralphilosophie wesentlich bestimmt haben, sondern im Kontext einer Arbeit, die sich auf den moralischen Stellenwert von Empfindungen und affektivanteilnehmenden Haltungen besinnt, einen nicht zu übergehenden Anknüpfungspunkt darstellen. Einen Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit den Vertragstheorien der Moral und der Diskursethik. Dabei differenziere ich zwischen zwei Formen der Vertragstheorie und argumentiere, daß beide Modelle nicht den Anforderungen einer feministisch akzentuierten Ethik entsprechen. Die von Seyla Benhabib entwickelte Kritik an der kommunikativen Ethik bildet eine bedeutsame Richtschnur einer von feministischen Überlegungen motivierten Ergänzung der Prinzipienmoral; insbesondere Benhabibs Forderung nach einer Einbindung von Fragen des guten Lebens wird in den nachfolgenden Abschnitten weiterverfolgt, wenngleich ich den Ansprüchen der Diskursethik insgesamt reserviert gegenüberstehe. Im zweiten Teil der Arbeit gehe ich auf die Herausforderung der modernen Prinzipienethiken durch den Kommunitarismus näher ein, wobei ich mich auf die Einwände von Alasdair Maclntyre und Michael Sandel konzentriere. Maclntyre vollzieht mit seiner pointierten Absage an das von Aufklärung und Liberalismus geprägte moralische Denken der Gegenwart eine Rückwendung zum Konzept einer Tugendethik. Nun bedeutet die Berücksichtigung des Begriffs der Tugenden eine gerade für die Einbindung wohlwollend-affektiver Haltungen entscheidende Anreicherung moral theoretischer Kategorien. Für eine Verbindung von Tugenden und moralischen Prinzipien, wie sie in dieser Arbeit untemommmen wird, ist also die Abgrenzung von Maclntyres Position wichtig. Michaels Sandels Kritik richtet sich gegen grundlegende philosophische Voraussetzungen von John Rawls' Gerechtigkeitstheorie, nicht zuletzt die von Rawls entwickelte Theorie des Guten. Eine Analyse von Sandels Einwänden vermittelt wichtige Aufschlüsse darüber, in welcher Form sich der Begriff des guten Lebens aktualisieren läßt, ohne sich den bekannten Argumenten gegen eine umfassende Normierung von Lebensformen auszusetzen. Ich versuche zu zeigen, daß Rawls' Theorie des Guten zwar einer Modifikation bedarf, diese aber erheblich von Sandels Überlegungen abweichen muß. Der dritte Abschnitt befaßt sich mit zwei Klassikern der Moralphilosophie - Immanuel Kant und David Hume - , deren Theorien sich zwar maßgeblich unterscheiden, die aber zusammengenommen den Weg zu einer umfassenderen Moraltheorie weisen. Der Kritik an den deontologischen Ansätzen unterliegt ein bestimmtes Bild von Kants Moraltheorie, das sich nach Meinung einiger Philosophinnen und Philosophen bei einer genaueren Betrachtung von Kants Ansichten nicht aufrecht halten läßt. Die Verteidiger Kants weisen etwa den Vorwurf zurück, daß Kants Ethik nicht die altruistischen Werte von Anteilnahme und Zuwendung abdeckt. Im Anschluß an eine Diskussion dieser unterschiedlichen Lesarten vertrete ich die These, daß Kants Theorie dem Stellenwert moralischer Empfindungen letztlich nicht gerecht zu werden vermag und aus einer Beschäftigung mit der Konzeption David Humes wesentliche Einsichten für eine Erweiterung des Kantischen Ansatzes gewonnen werden können. Diesem Vorschlag liegt eine Sicht der Theorie Humes zugrunde, die ich anhand einer eingehenden Darstellung seines Ansatzes und einem Aufzeigen der Schwächen von prominenten Alternativdeutungen zu belegen suche. Am Beginn des letzten Teils der Arbeit steht eine Auseinandersetzung mit Ernst Tugendhats in den Vorlesungen über Ethik entwickelten Moralkonzeption, die eine Version einer
14
Einleitung
Kombination von Regelmoral und auf moralische Empfindungen erweiterter Tugendmoral darstellt. Tugendhat stellt sich aber den Konsequenzen, die sich aus seiner überzeugenden Kritik am Kantischen Vernunftbegriff ergeben, letztlich nur halbherzig. Vor allem vollzieht er nicht den Schritt, der zur Abrundung einer Konzeption notwendig ist, die zum Begriff des absoluten Sollens auf Distanz geht: die Einbeziehung einer Theorie des Guten. Denn diese sichert den Zweckbezug, auf den eine Position, die das Sollen nur noch als relative Größe betrachtet, nicht verzichten kann. Eine ethische Theorie, die eine Minimalkonzeption des Guten in Form von Grundbedingungen eines guten Lebens umfaßt, ist - so meine Argumentation mit einem Rationalitätsbegriff vereinbar, der rationales Handeln als Zweckverfolgung definiert, wodurch sich moralische Verpflichtungen in einem hypothetischen Sinn - als notwendig zur Realisierung bestimmter allgemein einsichtiger Zielsetzungen - begründen lassen. Abschließend skizziere ich die Konturen einer solchen Ethik des Guten, die auch jene Bedingungen erfüllt, die feministische Philosophinnen an eine Moraltheorie herangetragen haben.
FEMINISTISCHE ANSÄTZE IN DER MORALPHILOSOPHIE
1
Feministische Ethik Modell eines Perspektivenwechsels
Inspirationsquelle und Auslöser der Debatte um das Spannungsverhältnis „Frauen und Moraltheorie" war bemerkenswerterweise nicht eine philosophische, sondern eine moralpsychologische Studie - Carol Gilligans inzwischen zum Klassiker avanciertes Buch Die andere Stimme.1 Zwei Gründe scheinen mir vorrangig, warum gerade diese von der Autorin eindeutig als empirische Analyse ausgewiesene Arbeit zu einer anhaltenden und tiefgreifenden feministischen Auseinandersetzung mit den Prämissen und Paradigmen der zeitgenössischen Moralphilosophie führte: Zum einen traf sich vieles von dem, was Gilligan aussprach, mit einem Unbehagen vieler Moraltheoretikerinnen und Moraltheoretiker gegenüber dem für weite Bereiche der modernen Moralphilosophie charakteristischen „formalen Universalismus" 2 und einer gewissen sperrigen Sprödigkeit der Disziplin, die sich infolge einer teils orthodoxen Umsetzung einstmals prominenter Dogmen der analytischen Philosophie auf die Ethik eingestellt hatte.3 Zum zweiten brachte Gilligan erstmals die moralische Urteilsbildung in Verbindung mit der Frage der Geschlechtsidentität, womit sich schlagartig eine völlig neue Blickrichtung auf die Ethik insgesamt eröffnete. Wenn auch die Literatur zur feministischen Ethik ständig wächst 4 , gibt es relativ wenig Versuche einer Definition dessen, was unter „feministischer Ethik" genau zu verstehen ist.5 Eine solche Begriffsbestimmung scheint um so dringlicher, als sich bei näherem Hinsehen ein durchaus heterogenes Bild unterschiedlichster Auffassungen von Thema, Methodik und Ziel des Projekts zeigt. Viele Autorinnen assoziieren mit „feministischer Ethik" die Idee einer spezifisch „femininen Moral", welche die von Zuwendung und Empathie bestimmte 1 Gilligan (1984). 2 Der Begriff bezieht sich auf jene Moralansätze, die über nicht-substantielle Verfahrensregeln allgemeingültige Moralprinzipien zu begründen suchen. 3 Eines dieser Dogmen war die Idee, die Moraltheorie ähnlich einem logischen Kalkül als axiomatisches System zu betrachten; ein anderes die Überzeugung, daß die Formulierung einer mit einem Objektivitätsanspruch verknüpften normativen Ethik „Metaphysik" darstelle - eine Altlast des Logischen Positivismus, der sich ungeachtet seiner hohen Verdienste phasenweise in einem wahren Kreuzzug gegen die Ungeheuer der Metaphysik verhedderte. 4 An Sammelbänden, welche die Debatte dokumentieren, sei u. a. erwähnt: Card (1991); Browning Cole/CoultrapMcQuin (1992); Konnertz (1991); Kulke/Scheich (1992); Nagl-Docekal/Pauer-Studer (1993). 5 Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Alison M. Jaggar, die von Beginn an über eine Skizzierung der unterschiedlichen Diskussionsverläufe und Problemstellungen eine genauere Bestimmung erarbeitete. Siehe Jaggar (1990) und (1993a). Sehr klar zur Aufgabenstellung feministischer Ethik äußert sich auch Krebs (1995).
16 Mutter-Kind-Beziehung als Paradigma von Moralität betrachtet. 6 Andere verstehen unter „feministischer Ethik" die Konzentration auf bestimmte Problemstellungen, bei denen die Interessen von Frauen in besonderem Maße tangiert sind, also etwa Chancengleichheit im privaten und öffentlichen Bereich, sexuelle Belästigung, Pornographie, Vergewaltigung, Altersdiskriminierung, neue Fortpflanzungstechniken. Und einige feministische Philosophinnen begreifen wiederum die moralische Dimension der Interaktionen von Frauen untereinander, die Art ihrer Macht- und Herrschaftsbeziehungen, als vorrangiges Problem einer feministischen Ethik. 7 Welcher Weg scheint angesichts dieser Vielfalt angemessen? Teilen die verschiedenen Auffassungen gewisse Voraussetzungen, aus denen sich in etwa ein gemeinsamer Nenner als Grundlage einer Begriffsbestimmung ableiten läßt? In welchem Verhältnis steht die feministische Ethik zu herkömmlichen ethischen Theorien? Wo grenzt sie sich ab, wo knüpft sie an? Wie weit decken sich die Problemstellungen? Beim Versuch einer vorläufigen Begriffsbestimmung feministischer Ethik scheint es mir sinnvoll, auf jene Begriffsklärung zurückzugreifen, die Herta Nagl-Docekal für die feministische Philosophie insgesamt gegeben hat. Demnach ist die feministische Philosophie keine neue Teildisziplin der Philosophie, „die den bereits vorhandenen bloß angegliedert" werden müßte, sondern eine Analyse philosophischer Problemstellungen mit Bezug auf die Stellung der Frau, also ein „Philosophieren am Leitfaden des Interesses an der Befreiung der Frau". 8 Feministische Philosophie ist den textkritischen Methoden und argumentativen Standards der Philosophie verpflichtet, wenn sie auch insgesamt als Ideologiekritik verstanden werden sollte.9 Geht man von dieser Konzeption aus, so ergibt sich folgende Standortbestimmung: Feministische Ethik ist wohl ein neuer Denkansatz, prima facie aber keine neue ethische Theorie; sie befindet sich weder auf einer Ebene mit den aus der Geschichte der Philosophie bekannten normativ-ethischen Ansätzen noch mit den im Umfeld der angewandten Ethik neu entstandenen Disziplinen wie Bioethik, Umweltethik, Wirtschaftsethik etc. Vielmehr definiert sie einen bestimmten Blickwinkel auf diese Theorien und auf die Moralphilosophie in ihrer ganzen Breite. Anders gesagt: Feministische Ethik bezeichnet den Versuch, moralphilosophische Fragen - theoretische Problemstellungen wie auch die philosophische Analyse konkreter moralischer Konfliktsituationen - unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenz zu betrachten. Man könnte den so skizzierten methodischen Zugang, und vielleicht wäre dies weniger mißverständlich, auch als „feministisch-philosophische Analyse der Ethik" bezeichnen, doch scheint der Ausdruck „feministische Ethik" allein wegen der Kürze vorzuziehen. Es geht also um eine Transformation der gängigen Moralansätze hin zu einer umfassenderen, auch Fraueninteressen und Frauenperspektiven einbeziehenden Theorie; wo genau die Neuschreibung ansetzt, welche Bedingungen der gängigen Theorien übernommen und welche verworfen werden, bedarf der genauen Prüfung und Analyse. 10
6 Paradigmatisch dafür ist Noddings (1984). 7 Dies gilt etwa für Spelman (1991). 8 Nagl-Docekal (1990b), S. 11. 9 Ebda., S. 9f. 10 Das eben skizzierte methodische Verständnis feministischer Ethik gilt für Seyla Benhabibs Transformation der Habermasschen Diskursethik, Annette C. Baiers Reaktivierung der Theorie Humes, Onora O'Neills Kant-Interpretation und Susan Moller Okins Erweiterung der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie; auf all diese Ansätze wird
Feministische
Ethik - Modell
eines
Perspektivenwechsels
17
Bleibt aber, so formuliert, die Blickrichtung nicht relativ vage? Müßte nicht genauer definiert werden, was mit der „Perspektive der Geschlechterdifferenz" gemeint ist? Trifft umgekehrt nicht jeder Versuch einer genaueren inhaltlichen Bestimmung des „feministischen Blickwinkels" auf das Problem, daß in der feministischen Theorie diesbezüglich keine Einhelligkeit herrscht und unterschiedliche Auffassungen von Feminismus wie auch einiges an Kontroversen existieren, welche Positionen letztlich das Prädikat „feministisch" verdienen? 1 1 Nun können meiner Meinung nach Ziel und Aufgabe einer Definition nicht darin bestehen, eine letztlich abgesicherte Begriffsbestimmung zu finden, die jedem möglichen Verständnis gerecht wird. Feministische Theorie teilt das Schicksal aller theoretischen Entwürfe - und sollte es selbstverständlich auch teilen - nämlich immer einen vorläufigen Erkenntnisstand zu reflektieren. Mit anderen Worten: Von allen Präzisierungen in diesem Kontext kann sich bei näherem Hinsehen erweisen, daß sie zu kurz greifen oder durch neue Entwicklungen obsolet werden. Trivialerweise bedeutet jede Skizzierung des „feministischen Standpunkts", Position zu beziehen und hinterfragbar zu bleiben. Gleichwohl ist es, besonders bei einem noch so offenen Terrain wie dem der feministischen Ethik, ratsam, nach möglichst allgemeinen Bedingungen feministischen Selbstverständnisses zu suchen, die nicht zu sehr eine bestimmte Sichtweise favorisieren, sondern nur einen allgemeinen theoretischen Rahmen abstecken. Alison M. Jaggar hat etwa folgende zwei Minimalbedingungen, denen jeder feministische Ethik-Ansatz zu genügen hat, formuliert, auf die sich hier zurückgreifen läßt: (1) Die Diskriminierung der Frau ist moralisch falsch, und (2) eine Moraltheorie hat die moralischen Erfahrungen von Frauen gleichermaßen wie jene von Männern zu berücksichtigen. 12 Ich würde vorschlagen, diese Prämissen durch eine dritte Bedingung zu ergänzen, die da lautet: (3) Die gesellschaftliche Ausgangslage von Frauen und Männern ist, ungeachtet aller formalen Gleichheitsgrundsätze, nicht die gleiche; ein Umstand, der eminente Konsequenzen bezüglich moralischer Problemstellungen und der Formulierung einer Moraltheorie nach sich zieht. Aus dieser ersten Begriffsklärung, so unterbestimmt sie zunächst auch scheinen mag, ergeben sich eine Reihe von Folgerungen - in Hinblick auf die bisherigen Diskussionsverläufe wie auch die zukünftige methodologische Orientierung. Eine Konsequenz ist beispielsweise, daß eine feministische Ethik nicht mit einer „weiblichen Ethik" gleichzusetzen ist. Eine auf den Begriff der Geschlechterdifferenz fokussierte Moralbetrachtung steht gleichsam über der Debatte, die sich im Anschluß an die wenig ergiebige Kontroverse „weibliche Moral versus männliche Moral" im Sinne eines empirisch feststellbaren Unterschieds zwischen dem moralischen Denken von Frauen und Männern entspann. 1 3 Sie beansprucht nicht,
in dieser Arbeit eingegangen. Vgl. die Diskussion von Benhabibs Ansatz in Kap. 5; die Analyse von Baiers Position in Kap. 4.2 und ihre Hume-Interpretation im Rahmen von Kapitel 11; die Erörterung von O'Neill in Kap. 10.2.2 und Okin in Kap. 4.3 und 4.4. 11 Für eine detaillierte Analyse der verschiedenen feministischen Positionen siehe Jaggar (1983). 12 Siehe Jaggar (1990), S. 167. 13 Die Interpretation einer „weiblichen Moral" als einer dem „Wesen" von Frauen angemessenen Ethik findet wegen dem damit verknüpften Essentialismus kaum noch Vertreterinnen.
18
Feministische
Ethik - Modell eines
Perspektivenwechsels
eine Ethik des Moralurteilens von Frauen zu entwickeln, sondern Moralphilosophie auf dem Hintergrund einer gesellschaftlich gegebenen und tief in die jeweiligen Selbstkonzeptualisierungen reichenden Asymmetrie im Status von Frauen und Männern zu untersuchen und kann sich frei von unergiebigen und unhaltbaren Dualismen den entscheidenderen Fragestellungen zuwenden: nämlich jenen nach der Struktur einer von patriarchalen Geschlechterkonfigurationen freien und Frauen als Moralsubjekte explizit berücksichtigenden Ethik. Ich möchte, um diese Begriffsbestimmung abzurunden, noch kurz zwei häufige Einwände gegen das Projekt einer feministischen Ethik erörtern. Das erste Gegenargument basiert auf einem methodologischen Hintergrundverständnis, das für weite Bereiche der analytischen Moralphilosophie typisch ist. Danach wird eine Moraltheorie als ein System von Prinzipien unterschiedlichsten Allgemeinheitsgrads begriffen, die in einem formal-deduktiven Zusammenhang stehen und aus denen sich durch Einbeziehung situativer Bedingungen Handlungsanleitungen für konkrete moralische Problemstellungen ableiten lassen. Um die Begründungslast möglichst gering zu halten, werden meist nur wenige, nicht-substantielle Prinzipien - sehr oft ein Universalisierungsprinzip der einen oder anderen Form - vorausgesetzt. Dieses Verständnis einer Moraltheorie geht offensichtlich zurück auf eine bestimmte Lesart der Kantischen Theorie, wobei zu überlegen ist, wie weit Kants Ansatz hier nicht eine unangemessene Verflachung erlebt. Folgender Einwand an die Adresse feministischer Ethik scheint von einer solchen Konzeption her naheliegend: Wenn es so etwas wie eine feministische Ethik geben soll, dann müßte sie spezifische allgemeinste Moralprinzipien, nämlich „feministische", formulieren. Nicht nur - so das Argument - sei die feministische Diskussion offenbar noch weit von der Formulierung solcher Prinzipien entfernt; es wäre auch schwer vorstellbar, wie so etwas möglich sein soll, da die bestehenden Ethik-Ansätze in all ihren unterschiedlichen Varianten die Möglichkeiten doch weitgehend abdecken. Ich halte die Zweifel, ob solche feministischen Grundprinzipien der Moral - so eine Art feministischer „kategorischer Imperativ" - entwickelt werden können und sollen, durchaus für berechtigt. Nur: Der Einwand insgesamt ist unsinnig (dürfte aber als entscheidender Vorbehalt in nicht wenigen moraltheoretischen Köpfen herumspuken), und unsere obige Begriffsbestimmung läßt ihn ohnehin ins Leere laufen. Er unterstellt als Zielvorstellung feministischer Ethik die Formulierung einer normativ-ethischen Theorie, die sich als Konkurrenzunternehmen zu existierenden Ansätzen in dem Sinn versteht, daß sie keinerlei Grundprinzipien mit diesen teilen dürfte. Diese irrige Interpretation des Projekts haben wir aber schon zurückgewiesen. Entscheidend ist vielmehr die Formulierung einer Moraltheorie, welche die oben angegebenen Definitionskriterien einer feministischen Ethik erfüllt und somit auch einen Beitrag zu dem leistet, was ungeachtet aller akademischen Selbstgenügsamkeiten und Eigendynamiken nach wie vor die wesentliche Zielsetzung der Philosophie bilden sollte: die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das erwähnte Gegenargument beruht auch auf einem methodologischen Selbstverständnis philosophischer Ethik, das in Anbetracht der neueren Diskussionen in der Moralphilosophie, vor allem im Umkreis der methodologischen Probleme der angewandten Ethik, als überholt bezeichnet werden kann. Immer mehr analytische Moraltheoretikerinnen und Moraltheoretiker bezeifeln die Angemessenheit eines moraltheoretischen Deduktivismus sowie die Idee, daß die obersten Moralprinzipien nach einer Art „Algorithmus" die richtigen Handlungsent-
Feministische
Ethik - Modell eines
Perspektivenwechsels
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Scheidungen generieren. 14 Der Stellenwert einer kontextsensiblen Situationsinterpretation, eines seismographischen Vermerkens von Differenzen und Besonderheiten ist bei der Suche nach dem moralisch richtigen Handeln in den letzten Jahren wieder ins moraltheoretische Bewußtsein gerückt, und in dem Zusammenhang läßt sich die Renaissance eines lange Zeit in Vergessenheit geratenen Begriffs beobachten: die mit der Aristotelischen Idee der phrönesis verknüpfte Fähigkeit der Urteilskraft. 15 Hinterfragt wird aber nicht nur die lange Zeit gleichsam orthodoxe Grundannahme, daß eine Moraltheorie ein deduktiv zusammenhängendes Gebilde ist, sondern prinzipiell die Möglichkeit, eine einheitliche Theorie zu formulieren, die alle moralisch relevanten Bereiche über die Formulierung grundlegender Prinzipien abdeckt. Die moralische Landschaft, so das Argument, sei für ein solches Unterfangen zu komplex 16 , und wir müßten bei einem wesentlich genaueren Studium der moralischen Phänomene und der konkreten Dilemmas beginnen und von daher sorgfältig die Zusammenhänge zwischen moralischen Prinzipien, moralischen Rechten und Werten studieren. Wenn, wie Bernard Williams behauptet, Moral etwas ist, das in unseren Gefühlen und Institutionen ruht, so eröffnet sich einiges an vielversprechenden Analysemöglichkeiten für einen feministischen Zugang. Ein zweiter Einwand, den ich diskutieren möchte, berührt das Problem, daß eine feministische Analyse die Geschlechtsneutralität der Moraltheorie aufbricht und damit - so die Kritik - einen nicht haltbaren Perspektivismus einbringe. Die traditionelle philosophische Ethik, wie die Philosophie überhaupt, hat sich einiges auf ihre Geschlechtsneutralität zugute gehalten. Wir kennen den Anspruch und die Botschaft: Die Perspektive ist die „allgemeinmenschliche", der Adressatenkreis sind „alle". Wir wissen auch um die auf den ersten Blick so plausiblen Überlegungen dahinter: Sind nicht die allgemeinsten Bedürfnisse, die eine Moraltheorie zu berücksichtigen hat, sozusagen die Kriterien des Moralischen, bei allen menschlichen Wesen die gleichen - nämlich die Vermeidung von Leid und Schmerz und das Fördern von Wohlergehen oder Glückseligkeit? Transzendieren nicht die grundlegenden moralischen Werte die Geschlechterseparierung? Diese Appelle an das Allgemeinmenschliche in der Moral greifen insofern nicht mehr so recht, da der feministischen Analyse der „Universaljargon" der Philosophie längst verdächtig geworden ist; eine Skepsis, die Seyla Benhabib folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Wenn das, was man bisher als Hauptwerke abendländischer Tradition ansah, fast durchwegs die Produkte einer speziellen Gruppe von Individuen waren, nämlich wohlhabenden, weißen europäischen und nordamerikanischen Männern, wie repräsentativ sind dann ihre Ansprüche, wie umfassend ihre Botschaft und wie unvoreingenommen ihre Sicht?" 17 Feministische Philosophinnen haben gezeigt, daß die Benützung eines geschlechtsneutralen Vokabulars einfach verschleiert, daß sich praktisch ungebrochen der männliche Standpunkt artikuliert und mit „Menschen" meist Männer und nicht Frauen gemeint sind. Als klassisches Beispiel sei nur Aristoteles erwähnt, der eine Ethik und eine Konzeption des guten Lebens entwickelt, die nur für eine bestimmte Gruppe von Männern gilt, was sich nicht zuletzt in seinem Tugendkatalog niederschlägt. Dieses Verdecken einer eindeutig geschlechtsspezifischen Perspektive 14 Vgl. das Vorwort zu Williams (1984a); Foot (1978a) und O'Neill (1989b), S. 29f. 15 Vgl. dazu Günther (1988), S. 216-253; Benhabib (1995d); Larmore (1987), S. 1-21. 16 Vgl. Larmore (1987). 17 Benhabib (1990), S. 19 (Übersetzung von mir leicht verändert).
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Feministische
Ethik - Modell
eines
Perspektivenwechsels
durch eine angeblich geschlechtsneutrale Begrifflichkeit beschränkt sich nicht auf antike Denker wie Aristoteles, die zu entschuldigen „liberal und aufgeklärt denkende" Gegenwartsphilosophen stets mit dem Hinweis auf deren vormodernes gesellschaftliches Umfeld geneigt sind. Auch um moderne Theoretiker steht es nicht besser: Bis auf ganz wenige Ausnahmen haben die zeitgenössischen Moralphilosophen sich nie gefragt, ob die von ihnen entwickelten Grundsätze, Thesen und Modelle Frauen als Moralsubjekte berücksichtigen. Der Vorwurf an die Adresse feministischer Ethik, den objektiven, über dem Faktor Geschlecht stehenden Charakter der Moraltheorie zu unterlaufen, greift also insofern nicht, als diese vorgebliche Geschlechtsneutralität kein Verdienst ist, sondern eine subtile Ausgrenzungstaktik verschleiert. Nimmt man die universalistische Moraltheorie beim Wort, nämlich für alle Menschen zu sprechen, dann muß sie die Lebensbedingungen dieser konkreten Individuen in Betracht ziehen und berücksichtigen, was es heißt, wer in welcher Gesellschaft zu sein; dies bedeutet, auch dem Umstand Rechnung zu tragen, daß mit dem Faktor Geschlecht eine tiefgreifende Ungleichheit in der Stellung der Moralsubjekte verknüpft ist. Damit wird einmal mehr das ideologiekritische Potential einer Analyse moraltheoretischer Positionen aus dem Blickwinkel der Geschlechterordnung deutlich. Um zusammenzufassen: Feministische Ethik ist eine bestimmte, an der Benachteiligung von Frauen und der Asymmetrie in den Lebensmöglichkeiten von Frauen und Männern orientierte Sicht auf die Ethik. Ihr Gegenstandsbereich ist koextensiv mit dem der Moralphilosophie - sie ist nicht auf bestimmte Problemstellungen eingeschränkt. Feministische Ethik steht in einem Diskussionszusammenhang mit den gängigen Moraltheorien, indem sie deren Voraussetzungen, Postulate und Konsequenzen einer sorgfältigen Evaluierung und Prüfung von Seiten der wohlerwogenen moralischen Einzelurteile unterwirft, die Frauen im Lichte ihrer konkreten Erfahrungen und gesellschaftlichen Situierung treffen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist nicht, das weite Feld der feministischen Ethik in seiner Gesamtheit abzudecken. 18 Ich konzentriere mich hier auf die Erarbeitung der theoretischen Konturen einer Moralkonzeption, die den oben erwähnten Definitionsbedingungen feministischer Ethik entspricht und die auch eines der gravierendsten Defizite moderner Moralphilosophie, das Übergehen der moralischen Empfindungen und Gefühle, ausgleichen soll. In den folgenden Kapiteln gebe ich einen Überblick über die prominentesten Ansätze der feministischen Moralkritik. Den Beginn setzt die Beschäftigung mit jener Theoretikerin, die vor mehr als einem Jahrzehnt den Anstoß zur Entdeckung eines philosophischen Neulands gegeben hat. 18 Weitgehend ausgespart bleiben hier Diskussionen der angewandten Ethik aus feministischem Blickwinkel. D i e s e finden mehr Beachtung in Pauer-Studer (1996a). Auch auf die eminent wichtige feministische Analyse des Begriffs der moralischen Rechte kann ich im Rahmen dieser Arbeit nicht eingehen.
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Das Entdecken einer „anderen Stimme" (Carol Gilligan)
Carol Gilligans 1982 erschienenes Buch In a different voice' hat die theoretische Sicht auf das Phänomen der Moral nachhaltig verändert. War bis dahin in der Moralpsychologie und Moralphilosophie eine vorgebliche Geschlechtsneutralität der Standard gewesen, so thematisierte Gilligan erstmals den bislang verborgenen Geschlechtersubtext dieser Disziplinen. Ihre Kritik der kognitivistischen Moralpsychologie Lawrence Kohlbergs hatte provozierenden Gehalt: Die Moraltheorie, die Kohlberg als Gradmesser höchster moralischer Reife gelte, entspreche nicht dem Verständnis von Moral, das den moralischen Urteilen von Frauen zugrundeliege. Die Beobachtung, daß weibliche Versuchspersonen in Kohlbergs Untersuchungen schlechter abschneiden als Männer, war der Auslöser für Gilligans Überlegungen. Gilligan, die Mitarbeiterin Kohlbergs war, erschien die Diskrepanz zwischen der vorliegenden Datenlage und der Theorie an einem gewissen Punkt so gravierend, daß sie sich zu einer Verschiebung der Frageperspektive entschloß. Anstatt länger zu versuchen, die Daten mit der Theorie in Einklang zu bringen oder den gleichsam nahegelegten Rückschluß auf einen geringeren „moralischen Reifegrad" der Frauen hinzunehmen, zog Gilligan die Theorie in Zweifel. Ihrer Ansicht nach deuten die moralischen Urteile von Frauen nicht auf ein geringeres Maß an moralischer Reflektiertheit hin, sondern Kohlberg geht offenbar von Strukturen moralischen Überlegens und Entscheidens aus, die auf die Antworten der weiblichen Befragten schlecht passen. Diese Modifikation wirkt zurück auf die hinter der Moralpsychologie stehende Moraltheorie: Wenn die festgestellte Schieflage der Daten damit zusammenhängt, daß die Moralpsychologie einen ganz bestimmten philosophischen Ethik-Ansatz favorisiert, dann muß über eine etwaige Einseitigkeit dieses Ansatzes nachgedacht werden. Von daher wird verständlich, warum Gilligans Arbeit auf so lebhaftes Interesse bei Moralphilosophinnen und Moralphilosophen stieß. Mit ihrem rückblickend so einfach erscheinenden Schritt eröffnete Gilligan auf moraltheoretischer Ebene eine neue Dimension, denn das bereits schwelende Unbehagen mit einer bestimmten Form moderner Moraltheorie erfuhr nun eine Art Bestätigung, wenn auch aus einer überraschenden Richtung. Kohlbergs Theorie setzt ein Stufenmodell moralischer Entwicklung voraus, das Heranwachsende auf ihrem Weg vom Kleinkind bis zum moralisch bewußt urteilenden Erwachsenen durchlaufen, wobei der höchste Reifegrad mit einem Urteilen gemäß Rechten und Prinzipien assoziiert wird. Kohlberg unterscheidet sechs verschiedene Stufen, die drei Ebenen der präkonventionellen (Stufe 1 und 2), der konventionellen (Stufe 3 und 4) und der postkonventionellen (Stufe 5 und 6) - zugeordnet sind. Stufe 1 ist jene von Gehorsam und Strafe;
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Zitiert nach der deutschen Ausgabe als Gilligan (1984).
22 moralkonformes Verhalten erfolgt lediglich, um Sanktionen zu vermeiden. Stufe 2, jene der egoistisch-instrumentellen Orientierung, beinhaltet ein begrenztes Prinzip der Reziprozität: Richtig ist es, die eigenen Interessen zu verfolgen und anderen das gleiche zuzugestehen. Für Stufe 3 ist eine interpersonale Orientierung maßgeblich: Moralität bedeutet das Beachten anderer, gegenseitige Beziehungen des Vertrauens und der Loyalität eingehen und sich in die Situation anderer hineinversetzen. Die Bereitschaft zur moralischen Regelbefolgung resultiert aus dem Verlangen nach Zustimmung und Anerkennung durch andere. Auf Stufe 4 ergibt sich die moralische Motivation aus der Angst vor Sanktionen seitens der Autoritäten; moralisch sein bedeutet Pflichterfüllung, Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und Anerkennung der existierenden sozialen Regeln. Eine utilitaristische Haltung charakterisiert Stufe 5; die grundlegenden Rechte, Regeln und Werte einer Gesellschaft werden respektiert, sofern sie dem utilitaristischen Nützlichkeitsprinzip des „größten Glücks der größten Zahl" entsprechen. Auf Stufe 6 tritt die Orientierung an universellen ethischen Prinzipien in den Vordergrund. Die höchste Stufe moralischer Reife entspricht einer Kantischen Position - die moralisch reflektierte Person ist in ihrem Handeln weder von Selbstinteresse, noch der unmittelbaren Bedürftigkeit anderer oder von Nützlichkeitserwägungen, sondern von selbstgesetzgebenden universellen Prinzipien wie Gerechtigkeit, Reziprozität und Respekt vor anderen geleitet. 2 Wie Gilligan schreibt, basiert diese Stadientheorie moralischer Entwicklung im wesentlichen auf einer Langzeituntersuchung (über einen Zeitraum von 20 Jahren) von 84 Jungen. Bei Untersuchungen mit weiblichen Versuchspersonen zeigte sich, daß diese häufig eine Stufe niedriger als die männlichen Probanden eingeordnet wurden: In den Urteilen der weiblichen Befragten scheint sich eine Stufe 3-Moralität auszudrücken, eine Moralität des Eingehens auf die anderen, der Sorge um deren Wohlergehen. Die geringe Bewertung, die dieses Moralverständnis in Kohlbergs Theorie erfährt, kommentiert Gilligan als „ein Paradox, denn genau die Züge, die traditionell die ,Güte' der Frauen ausmachten, ihre Fürsorge für andere und ihre Einfühlsamkeit in deren Bedürfnisse, sind dieselben, die sie als defizitär in ihrer moralischen Entwicklung ausweisen". 3 Kohlbergs Untersuchungsmethode besteht bekanntlich darin, die Befragten mit hypothetischen moralischen Dilemmata zu konfrontieren, welche diese dann zu lösen aufgefordert werden. Paradigmatisch ist das berühmte Heinz-Dilemma: Was soll Heinz, dessen Frau ernsthaft erkrankt ist und der nicht genügend Geld hat, um das notwendige Medikament zu kaufen, tun? Soll Heinz die Arznei stehlen? An den unterschiedlichen Antworten zweier elfjähriger Kinder, einem Jungen und einem Mädchen mit gleichem sozio-kulturellen Hintergrund, gleicher Schichtzugehörigkeit und gleicher Intelligenz, zeigt Gilligan, daß die sture Ausrichtung an Kohlbergs moraltheoretischem Entwicklungsschema die angemessene Rekonstruktion und Bewertung der Moralvorstellungen des Mädchens verhindert. Jake begreift das Dilemma als einen Konflikt zwischen Rechten und entwickelt eine auf einer Prioritätenabwägung beruhende Lösung: Heinz sollte das Medikament stehlen, denn ein Menschenleben ist mehr wert als Geld. Jake räumt also dem Lebensrecht Vorrang vor dem Recht auf Besitz und Eigentum ein. Gilligan bemerkt, daß sich Jake genau auf die von Kohlbergs Theorie verlangte Logik einläßt; für ihn ist die moralische Konfliktsituation „eine Art mathemati2
Siehe Kohlberg (1981c).
3
Gilligan (1984), S. 29.
23 sches Problem mit Menschen", „eine Gleichung", die nach rational strengen Kriterien zu lösen ist. 4 Amys Reaktion auf das Dilemma ist eine andere: Sie betrachtet das fiktive Problem „als eine Geschichte von Beziehungen, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt" 5 und versucht, über die kommunikative Interaktion der Beteiligten eine Lösung zu erreichen. Amy glaubt, daß sich der Konflikt erledigt, wenn Heinz dem Apotheker die Dringlichkeit der Situation vor Augen führt; sie plädiert dafür, daß alle Beteiligten die Situation besprechen, und vertraut offenbar dem Potential diskursiver Verständigung: „Wenn er das Medikament stiehlt, könnte er seine Frau retten, aber vielleicht müßte er dann ins Gefängnis, und seine Frau würde dann vielleicht noch kränker werden, und er könnte ihr das Medikament nicht mehr verschaffen, und das wäre nicht gut. Sie sollten deshalb darüber sprechen und eine andere Möglichkeit finden, um das Geld zu beschaffen." 6 Der Interviewer, unzufrieden mit Amys zögerndem Eingehen auf das Dilemma, insistiert auf der Beantwortung der Frage, ob Heinz das Medikament stehlen sollte. Daß Amy nicht mit einer simplen Ja/Nein-Antwort reagiert, interpretiert er dahingehend, daß sie offenbar nicht über die zur Beantwortung maßgeblichen moralischen Kategorien verfügt und die Situation nicht in Begriffen der Rechte zu strukturieren vermag. Amy schneidet damit auf der Kohlbergschen Bewertungsskala eine ganze Stufe schlechter ab als Jake, da sie das Problem nicht über die Gewichtung von Rechten entschlüsselt. 7 Was er übersieht und nicht bedenkt, ist, daß Amy mit dem Dilemma als solchem aus wohlerwogenen Gründen Schwierigkeiten hat. Wie Gilligan betont, ist es die Fixierung des Interviewers auf eine bestimmte Logik moralischen Urteilens, die ihm den Blick für die Differenziertheit von Amys Verständnis von Moral verstellt. Während Jakes Urteile dem Schema einer Ethik der Rechte und Gerechtigkeit entsprechen, reflektieren sich für Gilligan in Amys Antworten die Elemente einer Ethik der Fürsorglichkeit und Anteilnahme (Care). Moralische Konflikte bleiben für Amy eingebettet in einen Kontext von Beziehungen und gegenseitigen Verantwortlichkeiten. Sie baut auf Einsicht, Empathie und die Möglichkeit einer kommunikativ-konsensuellen Bewältigung des Problems. Die Nachfragen des Interviewers bedeuten für sie, daß er ihren Vorschlag nicht verstanden hat, und sie reagiert darauf mit Verunsicherung und Irritation. 8 Neben diesen Interviews aus der Kohlberg-Untersuchung stützt Gilligan ihre These, daß in den Moralurteilen von Frauen Momente wie Fürsorglichkeit und Anteilnahme eine stärkere Rolle spielen, auf eine von ihr durchgeführte Studie mit 29 Frauen im Alter zwischen 15 und 33 Jahren, die konkret mit der Frage eines etwaigen Schwangerschaftsabbruchs konfrontiert waren. In den Antworten der Frauen lassen sich laut Gilligan ebenfalls die Grundzüge einer Care-Ethik erkennen, die sich über drei Ebenen hinweg entwickelt und verfeinert. 9 Auf einer ersten Ebene steht die Sorge um die eigene Person im Vordergrund; auf der zweiten Stufe verlagert sich das Gewicht auf die Sorge um die anderen, speziell die Abhängigen und Schwächeren, und auf der dritten Stufe wird die entstandene Spannung zwischen Eigeninteresse und Verantwortungsgefühl für andere durch „ein neues Verständnis der 4
Ebda., S. 38f.
5
Ebda., S. 41.
6
Ebda., S. 40.
7
Ebda., S. 43.
8
Ebda., S. 41.
9
Ebda., S. 94ff.
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Das Entdecken einer „anderen Stimme" (Carol
Gilligan)
Wechselbeziehungen zwischen dem anderen und dem Selbst" 10 bewältigt. Anteilnahme ist zwar der leitende Gesichtspunkt der Care-Ethik, gleichzeitig wird aber eine Abgrenzung zur Selbstausbeutung gesucht, indem die Sorge für die eigene Person miteinbezogen wird. Charakteristisch für dieses Ethik-Modell ist die Anerkennung von Beziehungen und Verbundenheit sowie eine differenzierte Einstellung zu anderen auf dem Hintergrund einer prinzipiellen Haltung der Empathie: „Die Entwicklung einer Ethik der Anteilnahme ist somit gekennzeichnet durch ein immer tieferes Verständnis der Psychologie menschlicher Beziehungen durch eine zunehmende Differenzierung des Selbst und des anderen und ein wachsendes Verständnis der Dynamik sozialer Interaktion." 11 Ihre These, daß sich aus den moralischen Urteilen von Frauen eine Ethik der Fürsorglichkeit und Anteilnahme herauslesen läßt, setzt Gilligan in Verbindung mit den andersartigen Selbstbildern und Selbstkonzeptualisierungen von Frauen und Männern, wie sie durch eine unterschiedliche Identitätserfahrung in der frühen Kindheit bedingt sind. Sie stützt sich dabei auf einschlägige Arbeiten Nancy Chodorows, welche geschlechtsspezifisch unterschiedliche Entwicklungen des individuellen Selbstverständnisses aus verschiedenartigen Objektbeziehungserfahrungen in der frühen Kindheit ableitet. 12 Die Ausbildung der Geschlechtsidentität verläuft nach Chodorow bei Mädchen und Jungen anders, und sie führt dies auf den Umstand zurück, daß in unserer patriarchal strukturierten Gesellschaft immer noch primär Frauen für die Betreuung kleiner Kinder zuständig sind. Da die Identitätsbildung bei Buben - die Entwicklung des eigenen psycho-sexuellen Bewußtseins - über die scharfe Abgrenzung von der andersgeschlechtlichen Mutter erfolgt, sind Separierung, Trennung und Autonomie unabdingbare Elemente männlicher Ich-Entwicklung. Mädchen hingegen erleben sich in größerer Nähe zur Mutter und tendieren fallweise zu symbiotischer Identifikation; sie erfahren Bindungen auch im späteren Leben nicht als identitätsbedrohend und verfügen über eine stärkere Fähigkeit zu Empathie und dem Erleben und Teilen der Gefühle anderer. 13 Aus dem unterschiedlichen Stellenwert von Abgrenzung und Intimität in der weiblichen und männlichen Identitätsbildung erklären sich für Gilligan auch die Differenzen in der Moralentwicklung: Frauen neigen zu einer im Kontext von Beziehungen angesiedelten Ethik der Anteilnahme und Verantwortung, Männer zu einer aus den konkreten Beziehungen und dem kontextuellen Umfeld herausgelösten abstrakten Ethik der Rechte, Prinzipien und Gerechtigkeit. Gilligans Buch Die andere Stimme charakterisiert eine weitgehend dichotome Gegenüberstellung dieser beiden Ethik-Konzeptionen, wenngleich sie auch an einer Stelle von einem „Dialog zwischen Fairneß und Fürsorge" spricht, der „uns nicht nur zu einem besseren Verständnis der Beziehungen zwischen den Geschlechtern (verhilft), sondern . . . auch eine umfassendere Darstellung der Arbeitswelt und der familiären Beziehungen des Erwachsenen (ermöglicht)". 14 Die Kontrastierung einer „weiblichen" Ethik der Fürsorglichkeit mit einer „männlichen" Ethik der Rechte und Gerechtigkeit hat Gilligan aber in späteren Arbeiten, wohl wegen der massiven Kritik an den essentialistischen Konnotationen, zurückgenommen. Statt dessen vermittelt sie das Bild zweier unterschiedlicher, nicht aufeinander reduzierbarer 10 11 12 13 14
Ebda., S. 95. Ebda. Vgl. Chodorow (1985), S. 214-221. Ebda., S. 217. Gilligan (1984), S. 212.
Das Entdecken einer „ anderen Stimme " (Carol
Gilligan)
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Perspektiven. In dem 1987 erschienenen Artikel Moral Orientation and Moral Development15 weicht die Rede von zwei Moralen dem Begriff zweier moralischer Orientierungen der „Perspektive der Gerechtigkeit" und der „Perspektive der Fürsorglichkeit". Die beiden Orientierungen „negieren" einander nicht, aber sie akzentuieren jeweils verschiedene Problemaspekte. 16 Je nachdem, welchen der beiden Zugänge man wählt, wird eine Situation anders wahrgenommen, wobei sich die unterschiedlichen Sichtweisen im Spektrum der Faktoren „Gleichheit und Bindung" bzw. „Unterdrückung und Verlassenheit" bewegen: „Da jeder Mensch sowohl durch Unterdrückung als auch dadurch, daß er verlassen ist, verletzbar ist, sind es zwei Geschichten über die Moral, die sich in der menschlichen Erfahrung durchhalten." 17 Gilligan vergleicht die zwei möglichen Blickrichtungen auf moralische Probleme mit dem aus der Gestaltpsychologie bekannten Phänomen der Umspringbilder: Ein- und dieselbe Figur läßt sich als eine Vase oder ein Gesicht, eine Ente oder ein Kaninchen wahrnehmen. Diese Analogie verdeutlicht, daß Gilligan letztlich am Dualismus der beiden Modelle festhält. Selbst „wenn man sich beider Perspektiven bewußt" 18 sei, tendiere man, abhängig von anderen Erfahrungen und nicht zuletzt dem Faktor Geschlecht, zu einer Bevorzugung einer der beiden Perspektiven. Würde man versuchen, die Fürsorglichkeitsperspektive der Gerechtigkeitsperspektive zu subsumieren, so ginge das Eigentliche dieser Perspektive verloren. Im Rahmen einer Ethik der Gerechtigkeit werde Fürsorglichkeit „zu einer Gnade, die mildert, was Recht ist" 19 ; entweder werde Care mit frei gewähltem Altruismus gleichgesetzt oder der Begriff beziehe sich auf jenes Verhalten, das im Zusammenhang mit den besonderen Pflichten, die uns aus persönlichen Beziehungen erwachsen, eine Rolle spielt. Gilligan wendet sich gegen das übliche Verständnis von Fürsorglichkeit als eine auf den Nahbereich eingeschränkte Tugend und deren Reduktion auf das gerade von feministischer Seite so stark kritisierte Phänomen der Selbstaufopferung. Während bei der Gerechtigkeitsperspektive die konfligierenden Ansprüche zwischen dem Selbst und den anderen im Vordergrund stehen und das Selbst abgehoben von den sozialen Beziehungen eine Gewichtung dieser Ansprüche nach einem moralischen Prinzip - Gilligan nennt hier den kategorischen Imperativ und die Goldene Regel - versucht, dominiert bei der Fürsorglichkeitsorientierung der Beziehungsaspekt; maßgeblich wird die Art der Beziehungen zu anderen, über die sich das Selbst definiert. Moralisch handeln setzt Einfühlung in die konkrete Andere voraus. Die Beziehungsorientierung bedingt nach Gilligan, daß man die Bedürfnisse anderer wahrnimmt und auf sie einfühlsam reagiert. Das Modell der Konkurrenzierung zwischen dem Selbst und dem Anderen wird in der Fürsorglichkeitsperspektive durch Interdependenz und Hineindenken in die andere Person ersetzt. Damit sieht Gilligan das größte Defizit der Gerechtigkeitsperspektive, jenes „moralischer Blindheit und Gleichgültigkeit" 20 , vermieden. An folgendem Beispiel erläutert Gilligan die Unterschiedlichkeiten der beiden Orien15 Im folgenden nach der deutschsprachigen Übersetzung als Gilligan (1991) zitiert. 16 Siehe Gilligan (1991), S. 88. 17 Gilligan/Wiggins (1993), S. 74. 18 Gilligan (1991), S. 80. 19 Ebda., S. 86. 20 Ebda., S. 87.
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Das Entdecken
einer „anderen
Stimme"
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Gilligan)
tierungen: Zwei Medizinstudenten entscheiden sich dafür, ihren Tutor, der sich nicht an das Alkoholverbot in der Arbeit gehalten hatte, nicht anzuzeigen, liefern aber anderslautende Begründungen. Der eine Student, Vertreter des Gerechtigkeitsdenkens, überlegt, ob die Institution ein Recht hat, das Trinken zu verbieten; er begreift seine Entscheidung als einen „Akt der Gnade" und des Entgegenkommens. Der andere Student - er repräsentiert für Gilligan das Fürsorglichkeitsmodell - rechtfertigt sich mit dem Hinweis darauf, daß eine Anzeige die Beziehung zwischen ihm und dem Tutor zerstören würde und somit auch ein Vertrauensverhältnis in bezug auf das Alkoholproblem verunmöglicht wäre. Auch am Fall des Schwangerschaftsabbruchs verdeutlicht Gilligan die Dimensionen von Gerechtigkeit und Care. In der öffentlichen Diskussion um die Legitimität des Schwangerschaftsabbruchs spielt der Begriff der Rechte eine wesentliche Rolle: Das Problem erscheint als eine Frage der Rechte der Schwangeren gegenüber denen des Fötus. Bei dieser Sicht wird, so Gilligan, „die scholastische oder metaphysische Frage zum Angelpunkt, ob der Fötus ein lebendes Wesen oder ein Mensch ist und ob seine Rechte gegenüber denen der schwangeren Frau Vorrang haben". 21 In der Fürsorglichkeitsperspektive präsentiert sich das Problem laut Gilligan anders. Entscheidend sind die Kriterien der Verbundenheit und Verantwortlichkeit; im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen schwangerer Frau und Fötus, und „zur Hauptfrage wird, ob es verantwortlich oder unverantwortlich, fürsorglich oder leichtsinnig ist, diese Verbindung fortzusetzen oder zu beenden". 22 Mit einem Schwangerschaftsabbruch konfrontierte Frauen bevorzugten, wie Gilligan mit Hinweis auf die im Rahmen ihrer Abtreibungsstudie geführten Interviews bemerkt, die Care-Perspektive. 23 Wenn sich Gilligan in den späteren Arbeiten auch von dem Dualismus einer „weiblichen" versus einer „männlichen Moral" distanziert, hält sie doch an einer Korrelation zwischen Geschlecht und moralischer Orientierung fest. So führt sie eine Untersuchung an, bei der die Antworten der Probandinnen und Probanden dahingehend untersucht wurden, in welchem Ausmaß Gerechtigkeit und Fürsorglichkeit für die Lösung eines moralischen Dilemmas maßgeblich sind, ob es eine Tendenz zur Bevorzugung jeweils einer der Perspektiven gibt und ob sich ein Zusammenhang zwischen gewählter Orientierung und Geschlecht nachweisen läßt. Dabei fanden sich in den Antworten eines Großteils der Befragten sowohl Gerechtigkeits- als auch Fürsorglichkeitsargumente, wobei aber jeweils eine deutliche Bevorzugung einer der 21 Ebda., S. 86. 22 Ebda. 23 Gilligans Textpassage liest sich als eine generelle Kritik eines Rechte-Zugangs zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs, die sich auch bei anderen Care-Theoretikerinnen findet. Vgl. etwa Noddings (1989), S. 143ff. Die allgemeine Zurückweisung der Diskussion des Schwangerschaftsabbruchs im Begriffsrahmen moralischer Rechte ist aber überzogen; für die öffentliche Debatte bleibt die Frage, ob der Gesetzgeber Frauen ein Selbstbestimmungsrecht im Sinne eines moralischen Ermessensraumes zugesteht, wesentlich. Bei der individuellen Entscheidung für oder gegen einen Abbruch, die sich als moralisches Problem unabhängig von der rechtlichen Regelung stellt, werden dann noch andere moralische Kategorien als nur (moralische) Rechte wichtig - nicht zuletzt die von einer Care-Ethik betonten kontextuellen Erwägungen, die auf die spezifische Situation und die besonderen Umstände Rücksicht nehmen. Am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs treten die Grenzen einer Care-Orientierung klar zutage: Weder sollte sie den Anspruch erheben, eine ethische Theorie darzustellen noch bringt die scharfe Polarisierung mit Rechten (oder Gerechtigkeit) mehr als eine Verkürzung komplexer Problemstellungen der angewandten Ethik. Zur Kritik der Care-Perspektive auf die Frage des Schwangerschaftsabbruchs vgl. auch Thomson (1990b), S. 288. Vgl. auch Hursthouse (1991).
Das Entdecken
einer „anderen
Stimme"
(Carol
Gilligan)
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beiden Orientierungen zu beobachten war. Fürsorglichkeit wurde eindeutig von Frauen privilegiert; die Konzentration auf diese Perspektive stellt nach Gilligan „ein nahezu ausschließlich weibliches Phänomen" 24 dar. Nur in den moralischen Urteilen von Frauen würden sich Fürsorglichkeitsüberlegungen so elaboriert finden, daß die Care-Orientierung ein kohärentes Rahmenwerk für moralische Entscheidungen liefere. 25 Die für ein umfassendes Moralverständnis unverzichtbare Fürsorglichkeitsperspektive finde wiederum in den ethischen Überlegungen von Männern kaum Ausdruck. Wie Gilligan betont, vermitteln die Perspektiven von Gerechtigkeit und Care auch eine unterschiedliche Sicht des Zusammenhangs von Moral und Gefühl. 26 Im Rahmen der Gerechtigkeitsperspektive erfahren Empathie, Verbundenheit und direkter Altruismus eine Minderbewertung. In der Fürsorglichkeitsperspektive spielen hingegen jene moralischen Empfindungen eine wesentliche Rolle, die in so hohem Maße unsere soziale Lebensqualität bestimmen und die in einer auf Autonomie, Separierung und Individuierung konzentrierten Kultur zunehmend vernachlässigt werden: „Unsere Konzeption der Fürsorgeorientierung als einer in den emotionalen Bindungen gründenden Orientierung führt uns dahin, Liebe und Leid als moralische Gefühle zu betrachten, genauso wie andere Gefühle, die eng mit emotionaler Bindung und mit den Ängsten der Entfremdung und Isolierung verbunden sind. Moralische Empörung kann nicht nur durch Unterdrückung und Ungerechtigkeit hervorgerufen werden, sondern auch durch Verlassenheit oder den Verlust emotionaler Bindung oder das Nicht-Reagieren anderer." 27 Diese Thesen stellen unbestritten eine Herausforderung für die Moralpsychologie und die Moralphilosophie dar. Wenn in der frühen Kindheit, wie einschlägige Studien belegen, die Fähigkeit zu altruistischem Handeln und zu Empathie gleichmäßig ausgeprägt ist, dann sollten sich die Entwicklungspsychologen, wie Gilligan mit Blick auf Piaget und Kohlberg unterstreicht, fragen, warum diese Dispositionen in der späten Kindheit, in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter praktisch nur noch in den Moralurteilen eines Geschlechts wirklich Gewicht haben. 28 Recht besehen reicht diese Fragestellung über die Entwicklungspsychologie hinaus in das Problem der Verwobenheit grundlegender kultureller Werthaltungen und traditioneller Geschlechterstereotypen; Gilligans moralpsychologische Analysen zeichnen seismographisch einen tieferliegenden Konnotierungs- und Abwertungsmechanismus nach. Warum, so lassen sich Gilligans Thesen weiterdenken, erfahren in unserer Kultur die Werte von Anteilnahme, Bindung und Altruismus eine Marginalisierung, die sich in den einschlägigen wissenschaftlichen Theorien niederschlägt? Aber nicht nur die Entwicklungspsychologie, auch die Moralphilosophie ist zum Aufspüren und zur Korrektur ihrer Einseitigkeiten aufgefordert, denn in der modernen Moralphilosophie finden moralische Gefühle so gut wie keine Beachtung. Gilligans Betonen des Stellenwerts von Anteilnahme, Sensibilität und Einfühlsamkeit bedeutet das Zurückholen einer ethischen Dimension, die zwar noch das moralische Denken der schottischen Aufklärung prägte, die aber seit den Zeiten David Humes und Adam Smiths zunehmend in Ver24 25 26 27 28
Gilligan (1991), S. 89. Siehe Gilligan (1988), S . X I X f . Gilligan/Wiggins (1993), S. 80f. Ebda. Ebda., S. 96ff.
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gessenheit geraten ist. 29 Ihre Arbeit gibt aber auch Anlaß, den Prozeß der Ausgrenzung moralischer Gefühle im Kontext einer klassischen Geschlechtermetaphysik und der korrespondierenden Diskriminierung von Frauen zu analysieren und die Moraltheorie auf die tatsächliche Geschlechtsneutralität ihrer maßgeblichen Kategorien abzutesten.
2.1
Die Aporien einer „weiblichen Moral"
Eine Reihe von Kritikerinnen und Kritikern hat in der anschließenden heftigen Debatte um Gilligans Arbeiten die empirische Stichhaltigkeit von Gilligans These der „zwei Moralen" in Frage gestellt. Die Einwände beziehen sich im wesentlichen auf die Zuverlässigkeit der Interviewtechnik und Gilligans Art der Einordnung und Auslegung der von ihr festgestellten Unterschiedlichkeiten in den moralischen Urteilen weiblicher und männlicher Befragter. So werfen beispielsweise Debra Nails und James Broughton 30 Gilligan eine selektive Auswahl und Interpretation des Datenmaterials vor. Nails kritisiert, daß Gilligan die Interviews aus der Abtreibungsstudie tendenziös gekürzt und wiedergegeben habe. Broughton zitiert Aussagen einer befragten Person, in denen sich explizit eine Ethik der Fürsorglichkeit und Anteilnahme reflektiert, die aber die Antworten einer männlichen Versuchsperson darstellen. 31 Nails' und Broughtons Einwände treffen aber lediglich Gilligans pauschale Gegenüberstellung „zweier Moralen", von der sie sich später gelöst hat. Nur wenn man Gilligan dahingehend interpretiert, daß sie eine universelle Behauptung ausnahmslos mit Bezug auf alle Frauen bzw. Männer trifft, genügt ein Gegenbeispiel zur Widerlegung. Diese simple Falsifikationslogik nach dem Muster „Ein schwarzer Schwan widerlegt die Hypothese der weißen Schwäne" wird aber Gilligans differenzierterer Formulierung ihrer Position in den neueren Arbeiten nicht gerecht. Zum anderen ist die durch die Interviewtechnik gegebene Gefahr eines zu großen subjektiven Interpretationsspielraums kein auf Gilligans Untersuchungen beschränktes Problem, sondern charakteristisch für das ganze Forschungsparadigma Kohlbergs 32 , wobei sich natürlich fragen läßt, welche Alternativen sich überhaupt zur Prüfung des Moralverständnisses von Personen anbieten, als deren moralische Urteile zu untersuchen. Gilligans Arbeiten wurden von Gertrud Nunner-Winkler dahingehend relativiert, daß Unterschiede in der Moralbeurteilung nicht von der Geschlechtszugehörigkeit, sondern vom Faktor „Betroffenheit" wie auch von dominanten Rollendefinitionen und subkulturellen Normierungen abhängen. So verweist Nunner-Winkler auf eine gemeinsame Studie mit Rainer Döbert, in der sie die Antworten von weiblichen und männlichen Jugendlichen zu den Fragen von Schwangerschaftsabbruch und Wehrdienst vergleichen. 33 Mädchen behandeln die Wehr-
29 Eine Ausnahme ist Schopenhauer, für den das Mitleid die Grundlage der Moral bildet. Schopenhauer wird erst jüngst von analytischer Seite rezipiert, wobei vor allem die Arbeiten Ursula Wolfs zu erwähnen sind, insbesondere Wolf (1990). 30 Siehe Nails (1983); Broughton (1983). 31 Siehe Broughton (1983), S. 597-609. 32 Auch in den Kontrolluntersuchungen zu Gilligan, etwa jener von Nunner-Winkler und Döbert, wird eine Interviewtechnik benützt, die prinzipiell der gleichen Schwierigkeit einer gewissen Interpretationsvagheit ausgesetzt ist. Vgl. zu diesem Punkt auch Pieper (1993), S. 164f. 33 Siehe Nunner-Winkler (1991c), S. 149f; vgl. Nunner-Winkler(1994), S. 241f.
Die Aporien einer „weiblichen
Moral"
dienst-Problematik in eher formal-abstrakter Manier, während Jungen bevorzugt unter Berücksichtigung kontextueller Erwägungen antworten. Bei der Abtreibungsfrage verkehren sich die Argumentationsformen: Während die männlichen Befragten abstrakt-prinzipienorientiert räsonieren, plädieren die Interviewpartnerinnen für die Berücksichtigung der konkreten Situation und ihrer Besonderheiten. Gilligans Rückführung der Unterschiedlichkeiten in moralischen Urteilen auf den Faktor „Geschlecht" sei demnach insofern einseitig, als sie über keine Vergleichsdaten aus einer Stichprobe mit männlichen Probanden verfüge. In eine ähnliche Richtung argumentiert Michele Moody-Adams. Die von Gilligan in den Antworten von Frauen festgestellte Bevorzugung einer Care-Perspektive könnte mehr eine Funktion der Probleme sein, über die Gilligan ihre Untersuchungssubjekte befragte, denn eine Reflexion darüber, wie Frauen tatsächlich moralisch überlegen. 34 Der Einwand, daß Gilligan zu beobachtende Unterschiede zu einseitig dem Faktor des Geschlechts zuordnet, ist zweifellos nicht unberechtigt. So wurde immer wieder bemängelt, daß Gilligan ihre Untersuchungen auf eine bestimmte soziale Gruppe beschränke und zu wenig Variablen wie Ethnizität, Schichtzugehörigkeit und Bildungsniveau berücksichtige. 35 Rainer Döbert kritisiert, daß Gilligan Performanz- und Kompetenzebene nicht auseinanderhalte, also die Ebene konkreter moralischer Aussagen mit jener der dahinterstehenden Moralkonzeption vermische. 36 Aus Differenzen auf der Performanzebene könne nicht auf unterschiedliche theoretische Konzeptionen von Moral geschlossen werden. Dieses Argument überzeugt aber nur bedingt. Selbstredend ist aus der Art und Weise, wie Personen faktisch urteilen, nicht einfach ableitbar, wie Moral am besten begrifflich zu fassen ist. Daraus folgt aber noch nicht, daß es keinerlei Rückschlüsse von der Performanz- auf die Kompetenzebene geben darf; bekanntlich war es niemand Geringerer als Kant, der bereits die philosophische Entwicklung einer Moraltheorie als die bestmögliche Rekonstruktion unseres gewöhnlichen Moralbewußtseins begriff. 37 Gerade die von Kohlberg entwickelte Form der Moralpsychologie kennzeichnet die Verbindung der beiden Ebenen. Ohne eine bestimmte Konzeption von Moral ist es nicht möglich zu überprüfen, welche theoretischen Vorstellungen sich in Moralurteilen spiegeln. Zum anderen ist eben die Frage interessant, ob sich nicht in den konkreten Urteilen Elemente finden, die Kohlbergs theoretischer Raster nicht erfaßt. Wenn moralische Urteile weitgehend von einer Theorie abweichen, so stellt sich das Problem, wie weit nicht die vorausgesetzte Moraltheorie einer Modifikation bedarf. Die Relevanz von Gilligans Argumenten wird nur dann verstanden, wenn die Möglichkeit eines Überdenkens der theoretischen Bestimmungen von Moral offen bleibt. Es ist nicht schwierig, Gilligans Ideen jegliche Bedeutsamkeit abzusprechen, wenn eine bestimmte Konzeption von Moral definitorisch gleichsam außer Streit gestellt wird. So legt sich Gertrud Nunner-Winkler auf ein Verständnis von Moral fest, welches nicht eben die Basis für eine unvoreingenommene Einordnung von Gilligans Thesen liefert: „Unter Moral verstehe ich i. f. allgemeine Prinzipien, die in allen Kulturen und zu allen Zeiten gelten: Prinzipien, von denen ich - Kantisch gesprochen - wollen kann, daß sie allgemeines Gesetz wür34 Siehe Moody-Adams (1991), S. 204. 35 Vgl. Nicholson (1983) und Harding (1987). 36 Siehe Döbert (1991), S. 134-143. 37 Vgl. Kant (1785), Erster Abschnitt (Übergang von der Gemeinen Sittlichen Vernunfterkenntnis zur Philosophischen), S. 18-33.
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den." 3 8 Damit betet sie aber nur jene Begriffsbestimmung nach, die sich seit geraumer Zeit gerade auf dem Prüfstand befindet und zunehmend angezweifelt wird. Berücksichtigt man, daß ein Hauptthema der zeitgenössischen Ethik-Debatte die Frage bildet, ob die moderne Moralphilosophie nicht wesentliche Aspekte von Moralität - nämlich Fragen des moralischen Charakters, der moralischen Gefühle und der kontextuellen Besonderheit von Situationen - außer acht läßt und ob für die komplexen Fragen der angewandten Ethik nicht überhaupt ein anderer Ethik-Ansatz als die Standard-Definition des moralischen Standpunkts angemessen ist, erscheinen Gilligans Konklusionen in einem anderen Licht. Nur vor dem Hintergrund der Suche nach alternativen Ethik-Theorien wird überhaupt verständlich, warum Gilligans Arbeit eine so nachhaltige philosophische Rezeption erfuhr. Gertrud Nunner-Winkler marginalisiert auch die Kategorie Geschlecht zu weitgehend. Selbst wenn das Ausgangsproblem von Gilligans Untersuchungen - daß Frauen auf Kohlbergs moralischer Reifeskala schlechter als Männer abschneiden - als nicht klärungsbedürftig, weil gar nicht existent, betrachtet wird 39 , so sollte die Diskussion nicht hinter den intellektuellen Meilenstein zurückfallen, den Gilligans Ideen so eindrucksvoll markieren: daß es nämlich höchst aufschlußreich und wichtig ist, das Phänomen der Moral mit der Geschlechterdifferenz in Verbindung zu bringen. Man muß nicht der Meinung sein, daß Fürsorglichkeit und Gerechtigkeit zwei nicht in eine kohärente Konzeption integrierbare Perspektiven oder Orientierungen darstellen und schon gar nicht muß man an eine „weibliche Moral" glauben, um Gilligans Arbeiten interessant und bedeutsam zu finden. Auf mehreren Linien läßt sich hier weiterdenken. Einmal ist zu überlegen, warum Gilligans Thesen spontan so einleuchtend erscheinen; des weiteren läßt sich fragen, ob nicht eine umfassende Moralkonzeption tatsächlich die von Gilligan akzentuierten Elemente berücksichtigen müßte, und zum dritten kann der von Gilligan initiierte Perspektivenwechsel als Ausgangspunkt einer feministisch-philosophischen Analyse der Moraltheorie verstanden werden. Wie verhält sich die Moraltheorie insgesamt zur nach wie vor alle gesellschaftlichen Sphären durchziehenden Benachteiligung von Frauen? Thematisiert sie das Problem des Sexismus, und taugt ihr theoretisches Instrumentarium überhaupt zur Behandlung der vielschichtigen Facetten dieses Problems? Keine dieser Fragen verfolgt Nunner-Winkler oder deutet sie auch nur als Möglichkeit an. Der empirischen Psychologin Gertrud Nunner-Winkler ist dies nicht unbedingt vorzuwerfen - verständlicherweise gilt ihr primäres Interesse der empirischen Stichhaltigkeit von Gilligans Behauptungen. Aber sie beläßt es nicht bei einer Kritik auf empirischer Ebene, son38 Nunner-Winkler (1991c), S. 147. Ähnliches gilt für Habermas' Replik auf Gilligan, Habermas (1983c), S. 187-195. Vgl. dazu Benhabib (1995f), S. 201 ff. und (1995b), S. 66-71. 39 Nunner-Winkler weist darauf hin, daß Gilligans These einer schlechteren Einstufung von Frauen auf der Kohlbergschen Reifeskala inzwischen durch zahlreiche Untersuchungen „klar widerlegt" sei. In den meisten Untersuchungen wären keinerlei geschlechtsspezifische Unterschiede nachweisbar, und die Fälle, in denen Frauen tatsächlich schlechter abschneiden, bestätigten sich nicht, wenn man die Variablen „Bildungsniveau" und „Berufstätigkeit" berücksichtige. Siehe Nunner-Winkler (1994), S. 241. Döbert kommt hingegen zu einem anderen Ergebnis: Selbst bei Kontrolle aller Störgrößen bleibe es ein vom Faktor „Geschlecht" abhängiges Faktum, daß erwachsene Frauen im Kohlberg-Schema eher auf Stufe 3, Männer auf Stufe 4 argumentierten. Siehe Döbert (1991), S. 141. Döberts Interpretation dieses Umstandes: „Die Frauen scheinen dem Stadium 3 zuzuordnen zu sein, weil sie im Konflikt zwischen konkreten Leiden und gesamtgesellschaftlichen Erwägungen zugunsten der Vermeidung der ersteren votieren, nicht aber, weil ihnen die gesamtgesellschaftlichen Aspekte des Problems gänzlich unzugänglich wären." (Ebda., Kursivsetzung im Original).
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dem nimmt entschieden zu der philosophischen Diskussion Stellung - mit dem recht unverhohlenen Anspruch, daß die Akte „Gilligan" eigentlich zu schließen wäre. 40 Da sie Gilligans Arbeiten nach wie vor nur durch die Brille des Postulats der „zwei Moralen" liest, erkennt sie weder den philosophischen Stellenwert der von Gilligan akzentuierten Aspekte von Moral, noch scheint ihr das Durchleuchten des Geschlechterkontextes der Moraltheorie ein lohnendes Unterfangen. Marilyn Friedman hat eine Erklärung für den prima facie höchst einleuchtenden Gehalt von Gilligans Thesen - auch Gertrud Nunner-Winkler räumt ja deren „hohe alltagsweltliche Plausibilität"41 ein - trotz ihrer möglichen empirischen Unterbestimmtheit geliefert.42 Nach Friedman läßt sich in Gilligans Arbeit eine Hypothese der Geschlechterdifferenz und eine Hypothese der anderen Stimme ausmachen, und sie betrachtet letztere These - daß eine angemessene Moraltheorie mehr Elemente als nur Prinzipien und Rechte umfaßt - als wesentlich. Die gängigen Geschlechterstereotypen reflektieren sich auch in der Moraltheorie: Frauen werden mit Sorge, Sensibilität und Mitgefühl assoziiert; ihnen wird eher Empathie und Zuwendung abverlangt. Demgegenüber bilden Autonomie, Unabhängigkeit, Selbstbehauptung und Dominanz die Elemente des männlichen Stereotyps. Friedman macht diese symbolischen Geschlechterkonstruktionen, die nach wie vor einflußreich sind, verantwortlich dafür, daß Gilligans Rede von der anderen Stimme bzw. den zwei moralischen Orientierungen so unmittelbar Zustimmung findet, obwohl ihre Korrelation mit Geschlechtsunterschieden empirisch nur mangelhaft belegbar ist. Gilligan habe nicht eine tatsächlich gegebene Differenz analysiert, sondern die „symbolische moralische Stimme der Frau wahrgenommen und sie von der symbolischen männlichen losgelöst". 43 Damit zeigt Friedman einen Weg auf, um unhaltbare und vorschnelle empirische Generalisierungen zu vermeiden, ohne damit die Bedeutsamkeit der von Gilligan betonten moralischen Werte zu schmälern. Friedmans These läßt sich auch in umgekehrter Richtung lesen. Dann besagt sie, daß die Marginalisierung und Minderbewertung, welche Phänomene wie Empathie, Sensibilität, Mitgefühl und die moralischen Empfindungen insgesamt in den nachkantischen Moralansätzen erfahren haben, nicht zuletzt mit jenen Geschlechterbildern zusammenhängen, die sich inmitten einer frauenfeindlichen Lebenswelt gleichfalls in den philosophischen Denksystemen nachhaltig festgesetzt haben. 44 Wie sich die traditionelle Geschlechterordnung in der Moralphilosophie niederschlägt, wie und an welchen Punkten sie Philosophen in ihren Theorieentwürfen geleitet und diese geprägt hat, ist eine ideologiekritisch lehrreiche und für eine feministische Philosophie unverzichtbare Aufgabe. Genau vor diesem Forschungsfeld verschließen Nunner-Winkler und auch Döbert offenbar die Augen, was um so mehr überrascht, als gerade Döbert zugesteht, daß die Geschlechterdifferenz in moralischen Urteilen eine Rolle spielt: „Zusammenfassend wird man wohl zu dem Schluß kommen dürfen, daß alle genannten Mentalitätsunterschiede zwischen den Geschlechtern,moralisch relevant' sind. Man kann daher einfach nicht,denkendaß es keinerlei Geschlechtsunterschiede in der Funk40 41 42 43 44
Vgl. dazu etwa die recht deutlichen Schlußbemerkungen in Nunner-Winkler (1994), S. 251f. Nunner-Winkler (1991b), S. 18; vgl. Nunner-Winkler (1994), S. 251. Siehe Friedman (1993a), S. 243ff. Ebda., S. 247. Ein klassisches und gleichzeitig deprimierendes Dokument hierfür sind die von Annegret Stopczyk gesammelten Aussagen berühmter Philosophen über Frauen, in Stopczyk (1980).
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tionsweise des moralischen Bewußtseins von Männern und Frauen gibt - das Beispiel des Machiavellismus ist da doch nur der eindeutigste Fall! "45 Philosophisch werden Gilligans Thesen immer wieder in Verbindung gebracht mit der zu beobachtenden Renaissance aristotelischer Ideen in der Ethik.46 Gemäß einer aristotelischen Ethik-Auffassung ist die Frage „Wie sollen wir unser Leben insgesamt führen?" zentral. Im Zusammenhang mit der Suche nach dem „guten Leben" werden Fragen des moralischen Charakters, der Werte und der Beziehungen, die zu einer solchen Lebensform gehören, relevant. Gilligans Betonung von Care wird so betrachtet den Versuchen einer Erweiterung der modernen, auf formale Verfahrensprinzipien und den Begriff des Rechten verkürzten ethischen Theorien zugeordnet. Aus der Perspektive dieser Interpretation spricht freilich einiges gegen Gilligans scharfe Kontrastierung von Gerechtigkeit und Fürsorglichkeit, da beide zu den unverzichtbaren Elementen eines guten Lebens zählen.47 Von einigen Theoretikern ist bestritten worden, daß Gilligans Ethik der Anteilnahme und Fürsorglichkeit etwas radikal Neues darstellt. So bemerkt George Sher: „Trotz ihrer unstrittigen Bedeutung eröffnen Gilligans Ergebnisse meines Erachtens der Ethik wenig neue Wege. Die moralischen Urteile von Frauen mögen mit einer anderen Stimme zum Ausdruck gebracht werden, aber das Echo dieser Stimme hallt durch wohlbekannte Räume." 48 Gilligan hat nach Shers Meinung den Gegensatz von Abstraktion und Kontext wie jenen zwischen einer prinzipien- und einer situationsorientierten moralischen Haltung bei weitem überzogen. Für jede Umsetzung abstrakter moralischer Prinzipien - so Shers bekannt klingendes Argument - sei eine genaue Prüfung und Berücksichtigung situativer Bedingungen notwendig.49 Die angebliche Prinzipienlosigkeit des moralischen Urteilens von Frauen täusche: Selbst wenn die konkreten Antworten nicht unbedingt auf ein Prinzip Bezug nehmen, bedeute dies nicht, daß Frauen Prinzipien ablehnen. Denkbar sei, daß Gilligans Testpersonen stärker auf die möglichen Ausnahmen von Prinzipien rekurrieren und ihre Grundsätze insofern eine gewisse Komplexität erreichen, die einer einfachen Berufung auf Prinzipien bei der Beantwortung eines moralischen Dilemmas entgegenstehen. Dennoch räumt Sher ein, daß das in der gegenwärtigen Moraltheorie so dominante Modell eines unpersönlichen moralischen Standpunkts neu überdacht werden müsse, um den von Gilligan eingebrachten Aspekten gerecht zu werden.50 Ähnlich wie Sher kritisiert Jürgen Habermas, daß Gilligan das Verhältnis zwischen moralischer Abstraktion und Kontextualität falsch zeichne und Begründungs- und Anwendungsebene moralischer Prinzipien nicht auseinanderhalte. Habermas grenzt Moral auf Fragen des Rechten und der Gerechtigkeit ein. Entsprechend ordnet er die von Gilligan angesprochenen 45 Döbert (1991), S. 141 (Kursivsetzung im Original). An Mentalitätsunterschieden erwähnt er: Aggressivität, nach außen/innen gerichtete Abwehr, Affektabspaltung, Dominanzstreben, Machiavellismus, Konkurrenzstreben, Orientierung an Autoritäten, unterschiedliches Pflegeverhalten, („Muttern", „Fürsorge"), unterschiedliche Einfühlungsgabe. Ebda., S. 140. 46 Vgl. dazu Flanagan/Jackson (1993); Stocker (1987); Exdell (1987). 47 Vgl. Stocker (1987). Stocker weist anhand einer genauen begrifflichen Analyse die enge Beziehung zwischen dem mit einer Ethik der Fürsorglichkeit verknüpften Begriff der Freundschaft und dem mit einer Ethik der Gerechtigkeit verbundenen Konzept der Pflicht nach. 48 Sher (1991), S. 193. 49 Ebda., S. 196. 50 Ebda., S. 203.
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Elemente von Moralität nicht dem Bereich der Moral zu. Sie kommen für Habermas bei der konkreten Umsetzung abstrakter Prinzipien zum Tragen, da sie die motivationale Verlängerung moralischer Prinzipien in Lebenskontexte hinein ermöglichen. 51 Selbst wenn man die Relevanz von Empathie und Sensibilität auf die Anwendungsebene moralischer Prinzipien eingrenzt, ändert dies nichts daran, daß moralische Prinzipien moralische Fähigkeiten voraussetzen, die nicht einfach aus dem Bereich der Moral ausgegrenzt werden können.52 In einer neueren Arbeit, in der er die atomistische Subjektkonzeption der deontologischen Ansätze kritisiert, argumentiert Habermas, daß die Diskursethik mit ihrer Orientierung an der Idee „einer allgemeinen diskursiven Willensbildung" in einer „intersubjektiv geteilten Lebenswelt" 53 bereits den Momenten von Wohlwollen und Fürsorglichkeit gerecht werde, da die Ideen der Gleichheit und Gerechtigkeit nur unter der Perspektive verständigungsorientierten Handelns umzusetzen wären. 54 Doch die allgemeinen Rahmenbedingungen von Habermas' Diskurstheorie schaffen keinen Raum für moralische Gefühle und somit auch nicht für das von Gilligan akzentuierte empathische Eingehen auf die konkrete Andere. 55 In der Frage, wie weit Gilligans Arbeiten eine Herausforderung für die ethische TheorieDiskussion darstellen, wird des öfteren auf den Ansatz William Frankenas verwiesen, der neben einem deontologischen Prinzip der Gerechtigkeit bzw. Gleichheit ein Prinzip des Wohlwollens annimmt.56 Während sich laut Frankena aus ersterem Prinzip die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Gleichheit vor dem Gesetz gewinnen lassen, folgen aus dem Prinzip des Wohlwollens das Nützlichkeitsprinzip, das Schadensprinzip und jenes, die Freiheit der anderen zu respektieren.57 Schon diese näheren Bestimmungen des Prinzips des Wohlwollens verdeutlichen, daß Frankena und Gilligan kaum dasselbe meinen. Frankenas Begriff des Wohlwollens verbleibt auf der Ebene eines übergeordneten Prinzips, während sich Gilligan auf die Konkretisierung wohlwollend-empfindsamer Haltungen in den spezifischen Beziehungen zu anderen Personen konzentriert.58 Die Auffassung, daß Gilligans Arbeit keine besondere Relevanz für die Moralphilosophie besitzt, wird meistens damit untermauert, daß Sympathie, Wohlwollen und Anteilnahme durchaus in den ethischen Standardtheorien Erwähnung finden. 59 Der Hinweis darauf, daß Begriffe wie Wohlwollen und Fürsorglichkeit in einschlägigen Texten vorkommen, genügt jedoch nicht für eine Beurteilung, wie weit die bekannten ethischen Theorien bereits die von Gilligan betonten Elemente von Moralität umfassen. Man muß den theoretischen Gesamtzusammenhang berücksichtigen, in welchen diese Begriffe eingebettet sind. Und an diesem 51 Siehe Habermas (1983c), S. 187-195. 52 Vgl. Blum (1988), S. 484ff. und auch Blum (1994), S. 12-29. 53 Habermas (1991), S. 231 und S. 233. 54 Ebda., S. 233f. 55 Vgl. dazu auch die Diskussion von Benhabibs Ansatz in dieser Arbeit. 56 Frankena (1972), S. 64-71. 57 Über diese Zuteilung mag man im einzelnen diskutieren; etwa den Zusammenhang von Wohlwollen und Nützlichkeit würden viele wohl anders sehen, und Freiheit scheint eher eine Grundforderung der Gerechtigkeit und nicht eine Frage des Wohlwollens. 58 Vgl. dazu auch Tong (1993), S. 91. 59 Dabei wird häufig auf Kants Moralphilosophie verwiesen, die bei näherem Zusehen nicht dem Klischeebild eines formalen Universalismus entspreche. Vgl. dazu Kap. 10.2.2 dieser Arbeit.
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Punkt zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Verständnis von Fürsorglichkeit und Anteilnahme in den deontologischen Moralansätzen und dem, was Gilligan offenbar vor Augen hatte; erstere ordnen Wohlwollen und Anteilnahme, sofern sie diese Elemente überhaupt zur Kenntnis nehmen, meistens dem Bereich ethischer Übererfüllung zu und berücksichtigen so gut wie kaum spezielle Beziehungen zu besonderen Personen, in denen Care relevant wird. 60 Obwohl Gilligans Arbeit bei feministischen Philosophinnen auf großes Interesse stieß, da sie dem auf feministischer Seite vorhandenen Unbehagen mit dem formal-universalistischen Zuschnitt der modernen Moralphilosophie Ausdruck verlieh, begann sich auch hier früh Kritik zu regen. So fand Gilligans Rede von einer „weiblichen Moral" keineswegs ungeteilte Zustimmung, denn einer Reihe feministischer Theoretikerinnen gilt „Weiblichkeit" als ein kompromittierter Begriff, da er in der Geschichte westlichen Denkens immer mit Bezug auf einen männlichen Standard definiert wurde. „Weiblich" ist ein Code-Wort für jene Merkmale, Tugenden und Phänomene, welche die von Philosophen entworfene private Gegenwelt zur öffentlichen Sphäre von Politik, Macht und gesellschaftlichem Ansehen charakterisieren, wobei die entsprechenden Eigenschaften des „Weiblichen" eine Abwertung erfahren. Wenn auch, wie Genevieve Lloyd betont, die Aufwertung dessen, was abgewertet wurde, eine verständliche und naheliegende Reaktion auf jede Form der Diskriminierung darstellt 61 , ist die Idee, daß Frauen ein eigenes moralisches Denken haben, zum Teil Resultat genau jener philosophischen Tradition, die damit hinterfragt werden soll. Und Michele Moody-Adams bemerkt mit Bezug auf die problematische Definitionsgeschichte des Begriffs: "We must ask whether our conception of the 'feminine' remains too entangled in a complex array of insufficiently disinterested assumptions to be a useful category for reflection." 6 2 So verwischen die Begriffe „weibliche"/„männliche Moral" auch die Ebenen von persönlichen Merkmalen und institutionell gebundenen Normen. Ein normatives Hintergrundverständnis unterwirft Individuen im Rahmen gesellschaftlich eingeschliffener sozialer Praktiken oft Standards, die nicht den Normen ihrer persönlichen Moralvorstellungen entsprechen. 63 Gilligan selbst, wenngleich sie sich in den neueren Arbeiten um das Vermeiden essentialismusverdächtiger Termini bemüht, verfängt sich in den von ihr aufgewiesenen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen moralischer Tugenden, da sie nicht genügend zwischen den verschiedenen Bedeutungsebenen des Begriffs „weiblich" differenziert. Der Terminus bezieht sich einerseits auf empirisch konstatierbare Unterschiede, zum anderen auf die gesellschaftlich geltenden geschlechtsspezifischen Normerwartungen und schließlich auf die symbolischen Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit.64 Unsere Gesellschaft hält auf normativ-symbolischer Ebene nach wie vor an einer „moralischen Arbeitsteilung" zwischen den Geschlechtern fest, die Fürsorglichkeit und Anteilnahme mit Frauen sowie Rechte und Gerechtigkeit mit Männern assoziiert. Empirisch gesehen funktioniert diese Zuordnung offenbar nicht reibungslos, und dies ist nicht weiter verwunderlich, da sie auf einem tief in der 60 61 62 63 64
Vgl. dazu Calhoun (1988), S. 460f. Siehe Lloyd (1983), S. 512. Moody-Adams (1991), S. 201. Vgl. Grimshaw (1986), S. 193f. Vgl. Jaggar (1990), S. 156f.
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abendländischen Geschlechtermetaphysik verankerten „kulturellen Mythos" beruht, der zum Standard-Repertoire männlicher Privilegiensicherung zählt.65 Es spricht also einiges dafür, mit dem Begriff einer „weiblichen Moral" im Vokabular feministisch-philosophischer Theoriediskussion höchst vorsichtig umzugehen, wenn nicht gar darauf zu verzichten. Denn „weiblich" findet sich in dem Zusammenhang, selbst wenn man sich von essentialistisch-ontologischen Voraussetzungen abgrenzt, mit jenen traditionellen kulturellen Konnotationen belegt, zu denen ein feministisch-aufklärerischer Diskurs entschieden auf Distanz geht. „Weiblich" und „männlich" sind problematische Begriffe, da sie auf symbolischer Ebene mit den Strukturen geschlechtsspezifischer Unterdrückung verwoben bleiben. Dies bedeutet nicht, daß die Termini „weiblich" und „männlich" überhaupt aus dem Sprachgebrauch zu streichen wären. Aber in philosophischen Kontexten sollte man sich bewußt sein, daß meistens semantische Besetzungen mitschwingen, die auf einen einschlägigen historisch-politischen Machtzusammenhang verweisen. Die Idee einer Moral der Frauen führt nur zu leicht in die Fallgruben einer biologistischen Interpretation von geschlechtsspezifischen Unterschieden. Manche von Gilligans Ausführungen zeigen sehr schön die gefahrliche Logik, die einer empirischen Untermauerung von Geschlechterstereotypen zugrundeliegt: „Und doch haben die Stereotype, die Männer als aggressiv und Frauen als fürsorglich beschreiben, wie verzerrend und beschränkt sie auch sein mögen, eine empirische Grundlage. Die Tatsache, daß Gefängnisinsassen überwiegend männlich sind, und das Ausmaß, in dem Frauen kleine Kinder betreuen, können nicht ohne weiteres als irrelevant für Moraltheorien abgetan werden oder in den theoretischen Darstellungen der moralischen Entwicklung ausgeklammert werden. Wenn es keine Geschlechtsunterschiede im Einfühlungsvermögen oder in der moralischen Urteilsbildung gibt, warum gibt es dann Geschlechtsunterschiede im moralischen oder unmoralischen Verhalten?" 66 Wie Moody-Adams bemerkt, bedient sich Gilligan in dieser Passage jener Argumentationslogik, die historisch dazu diente, Theorien über die biologische Unvermeidlichkeit kriminellen Verhaltens zu rechtfertigen.67 Eine empirische Verallgemeinerung von beobachtbarem Verhalten verkehrt sich in eine Behauptung über moralische Fähigkeiten, wobei die Annahme, daß Leute im Gefängnis über geringere moralische Fähigkeiten verfügen, höchst problematisch ist, da sie unter anderem die relevanten sozialen Erklärungen für deviantes Verhalten übergeht.68 Einige feministische Kritikerinnen bestreiten den Wert einer Care-Perspektive als solcher. Sie bezweifeln nicht, daß Fürsorglichkeit und Anteilnahme einen besonderen Stellenwert für Frauen haben: Frauen sorgen für andere, für ihre Kinder, ihre Männer, für ältere und der Hilfe bedürftige Angehörige. Aber welche moralischen Ideale, so ihr besorgter Einwurf, werden hier vermittelt und hochgehalten? Fürsorglichkeit, Empathie und Anteilnahme sind die Leitlinien einer auf das Wohlergehen anderer gerichteten Lebensorientierung. Genau diese normativen Standards verfestigten die Unterdrückungsmechanismen gegenüber Frauen, in65 Zum historischen Umfeld des Begriffs der „weiblichen Moral" und der gesellschaftlichen Funktion weiblicher Tugendhaftigkeit vgl. die ausgezeichnete Darstellung in Honegger (1991), Kap. 1, bes. S. 35-45. 66 Gilligan/Wiggins (1993), S. 71. 67 Siehe Moody-Adams (1991), S. 198-201. 68 Wie Moody-Adams ausfuhrt, wäre es nach dieser Logik besonders schlimm um die Moral Schwarzer bestellt, da ein Großteil der Gefängnisinsassen ja Schwarze sind. Moody-Adams (1991), S. 199.
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dem sie diese zum Verzicht, zur Selbstbescheidung und Hintanstellung ihrer Bedürfnisse anhalten. Catharine MacKinnons Kritik fällt besonders scharf aus: "For women to arm difference, when difference means dominance, as it does with gender, means to affirm the qualities and characteristics of powerlessness . . . I AM GETTING HARD ON THIS AND AM ABOUT TO GET HARDER ON IT: I do not think that the way women reason morally is morality 'in a different voice'. I think it is morality in a high register, in the feminine voice. Women value care because men have valued us according to the care we give them, and we could probably use some. Women think in relational terms because our existence is defined in relation to men." 6 9 MacKinnons Kritik trifft aber nur, wenn eine Care-Orientierung als eine Ethik der Frauen ausgegeben wird und Frauen in einer selbstgewählten Separierung jene Tugenden kultivieren, die eine patriarchal organisierte Gesellschaft ihnen ohnehin abverlangt. So gesehen wird einmal mehr wichtig, Empathie, Anteilnahme und Fürsorglichkeit für sich, gelöst von der Assoziation mit Frauen, philosophisch zu entwickeln und diese für ein gelingendes Zusammenleben unverzichtbaren Werte in eine für beide Geschlechter gleichermaßen verbindliche Ethik zu integrieren. 70 Ein von der Verbindung mit allen traditionellen Rollenerwartungen und der klassischen Geschlechtermetaphysik befreites Verständnis der affektiven Haltungen von Empathie und Anteilnahme entgeht zumindest theoretisch dem Problem, daß eine Moralkonzeption, welche diese moralischen Elemente betont, Frauen moralisch mehr als Männern abverlangt. Allerdings erfordert dies eine für politische Rahmenbedingungen und partikulare Besonderheiten sensible ethische Theorie. Manche feministische Philosophinnen begegnen einer Care-Ethik auch skeptisch, da sie kein Instrumentarium zur Analyse der Frauen besonders tangierenden moralischen Probleme wie Vergewaltigung, Pornographie, sexuelle Belästigung und Benachteiligung am Arbeitsmarkt liefere. "A conception of the self as defined not through separation from but through interconnection with others is oddly unhelpful in deciding what is morally wrong with rape, abuse, and sexual harassment." 71 Obwohl eine Care-Orientierung selbstredend Gewalt verurteilt, ist ohne Begriffe wie moralische Rechte, Respekt vor Personen und dem Prinzip, andere nicht zu instrumentalisieren, eine detailliertere Benennung des mit sexueller Belästigung und Vergewaltigung verknüpften moralischen Unrechts nicht möglich. Gerade die im Fall von sexuellem Mißbrauch und Vergewaltigung nicht nur auf Seiten des Vergewaltigers, sondern gesellschaftlich gängigen Rationalisierungs- und Rechtfertigungsstrategien - etwa daß die Frau „ja" meinte, wenn sie „nein" sagte - bedeuten eine Verletzung und Nicht-Anerkennung der Eigenständigkeit, Integrität und Separiertheit der Frau als Person. Bezogen auf diese Phänomene können Anteilnahme, Empathie und Einfühlung leicht zur Selbstbezichtigung von Frauen Anlaß geben und den Opfern erschweren, das ihnen angetane Unrecht in seiner ganzen Dimension zu erkennen und zu benennen. Diese Schwierigkeiten ergeben sich aber nur, wenn man versucht, einen Moralansatz ausschließlich auf dem Begriff des Caring aufzubauen, was notwendig zu einer Verkürzung von Moral führen muß. Anteilnahme und Sympathie sind wichtige moralische Kategorien, aber sie sind zweifellos nicht die einzigen. 69 MacKinnon (1987), S. 39 (Großschreibung im Original). 70 Vgl. auch Friedman (1993b), Kap. 6. 71 Moody-Adams (1991), S. 203.
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Anerkennt man die Bedeutsamkeit von Sympathie, Anteilnahme und moralischen Gefühlen, die sich in besonderen Beziehungen auf das direkte Wohl anderer Personen richten, so findet nicht zuletzt die moralische Dimension persönlicher Beziehungen Beachtung. Aus feministischer Perspektive ist eine Aufarbeitung dieser Sphäre wichtig, denn ein nicht unbedeutender Teil der Verletzungen, Diskriminierungen und Abwertungen von Frauen geschehen in jenem Bereich, den die moderne Moralphilosophie im Zuge der Wirksamkeit der Öffentlich-Privat-Trennung so gut wie nicht zum Thema gemacht hat. Die Bedeutung von Gilligans Arbeit liegt nicht in einer „Moral von Frauen", sondern darin, jene Werte ins Blickfeld gerückt zu haben, die schlicht an den Lebenszusammenhang von Frauen delegiert und damit auf theoretischer Reflexionsebene sträflicherweise vernachlässigt wurden.72 Selbst wenn der feministische Standpunkt zu allen Formen von Geschlechterstereotypen auf Distanz geht, so erledigt sich damit noch nicht die Frage des Stellenwerts moralischer Phänomene wie Fürsorglichkeit, Empathie und Kontextsensitivität im Rahmen einer umfassenden Moraltheorie, die sich auch von einer traditionellen Sicht des Geschlechterverhältnisses abgrenzt. Dies beläuft sich auf eine erhebliche Revision der mit dem universellen Vernunftstandpunkt verknüpften deontologischen Standard-Theorien. Was die Umgestaltung der Moralphilosophie betrifft, hat die durch Gilligans Arbeiten ausgelöste Diskussion eigentlich erst begonnen. 72 Vgl. dazu auch Tronto (1993), S. 3f.
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Moral und feminine Werte: Nel Noddings' Ethik des Sorgens
Nel Noddings, die wie Carol Gilligan die moralische Bedeutsamkeit von Fürsorglichkeit und Anteilnahme betont, arbeitet die strukturellen Elemente einer Care-Ethik etwas deutlicher heraus. Moral ist für Noddings nicht eine Sache abstrakten Räsonierens, sondern des Fühlens und Empfindens; nicht begriffliche Analysen moralisch richtigen Verhaltens, sondern die „Sehnsucht nach dem Guten", und die entsprechende innere Einstellung und Haltung erscheinen ihr maßgeblich. In diesem Sinn erklärt sie die Vorstellung „psychischer Verbundenheit" zum „Herzstück" ihres Ansatzes.1 Noddings betrachtet Ethik als „verwurzelt in Rezeptivität, Verbundenheit und Empfänglichkeit" 2 , und sie kontrastiert ihr Ethik-Verständnis mit einem analytischen Zugang zu moralischen Fragen, der auf Prinzipien und deren logische Folgerungen fokussiert. Eine Prinzipienmoral grenze das für Moralität zentrale Phänomen - eine in moralischen Gefühlen verankerte Beziehung direkter Aufmerksamkeitsrichtung auf das konkrete Gegenüber und die besonderen Umstände von Situationen - aus. Einer „männlich" akzentuierten Ethik setzt sie ein „weibliches" Moralverständnis entgegen, das nicht Rechte und Prinzipien, sondern die moralische Hinwendung zum konkreten Anderen und die expressive Dimension propositional nicht erfaßbarer moralischer Gefühle als wesentlich erachtet. „Weiblich" ist diese Ethik-Konzeption insofern, als sie nach Noddings nur im Medium einer „femininen" Sprache und nicht in der auf Rechte und Prinzipien fixierten „Sprache des Vaters" entwickelt werden kann. Dennoch will Noddings ihren Ansatz nicht mit einem geschlechtsspezifischen Dualismus verknüpft wissen, demgemäß diese Ethik auf Frauen zugeschnitten wäre.3 Noddings vertritt einen für Frauen und Männer gleichermaßen geltenden universalistischen Verbindlichkeitsanspruch. Den traditionellen Ethik-Konzeptionen mit ihrem ungebrochenen Vertrauen in die Macht der Vernunft scheine einzig ein kategorialer Rahmen angemessen, der konkrete moralische Urteile über die logische Ableitung aus übergeordneten Grundsätzen rechtfertige. Noddings beurteilt jedoch gerade eine Ethik der Prinzipien als „zweideutig und instabil", denn die Orientierung an Prinzipien beinhalte auch das Zulassen von Ausnahmen 4 ; da aber die Kriterien für die Ausnahmen offen blieben, eröffne sich ein Raum für Manipulationen. Sie spielt hier auf das Faktum an, daß Prinzipien nach kontextueller Auslegung verlangen 1
Siehe Noddings (1993), S. 136. Noddings (1993) umfaßt die in deutschsprachiger Übersetzung erschienene Einleitung und das erste Kapitel von Noddings' Buch "Caring. A Feminine Approach to Ethics and Moral Education" ; im folgenden als Noddings (1984) zitiert. 2 Noddings (1993), S. 136. 3 Ebda. 4 Ebda., S. 140.
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und die Blindheit gegenüber der in manchen Situationen erforderlichen Relativierung von Prinzipien5 auch hohe moralische Kosten verursachen kann. Noddings gibt auch zu bedenken, daß die Berufung auf Prinzipien leicht zu Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit führt und die unmoralischen Aspekte des eigenen Tuns verschleiert; Prinzipien können zu einem Ort des Unrechts werden: „Wenn wir heute mit klarem Blick auf die Welt schauen, sehen wir, wie sie durch Kämpfen, Töten, Vandalismus und psychischen Schmerz aller Art vernichtet wird. Einer der traurigsten Züge dieses Bildes der Gewalt ist die Tatsache, daß all das so oft im Namen von Prinzipien getan wird. Wenn wir ein Prinzip aufstellen, das Töten verbietet, stellen wir auch Prinzipien auf, die Ausnahmen vom ersten Prinzip beschreiben. Unter der Annahme, daß wir moralisch sind (wir lassen uns doch von Prinzipien leiten, oder nicht?), dürfen wir uns für letztlich gerechtfertigt halten, wenn wir über andere, deren Glauben oder Verhalten sich von unserem unterscheidet, herfallen." 6 Noddings begnügt sich allerdings nicht mit der Forderung nach einer ausgewogenen Aufarbeitung der „Anwendungsseite" von Prinzipien und einer Berücksichtigung moralischer Urteilsbildung, die im Zuge der verstärkten philosophischen Hinwendung zu Fragen der angewandten Ethik ohnehin immer mehr Beachtung finden; sie lehnt das Paradigma einer Prinzipienethik rundweg ab. Die intellektualistische Konzentration auf Prinzipien ignoriere den affektiven Kern von Moralität und übersehe in einer Art „romantischem Rationalismus" womit Noddings wohl einem einschlägigen Vorwurf an die Adresse ihrer gefühlsorientierten Ethik vorzugreifen sucht - , daß eine auf reale Lebenssituationen bezogene und an Werten der Menschlichkeit interessierte Ethik nicht auf die affektive Bindungsdimension verzichten könne: Moralität hängt für Noddings damit zusammen, wie und mit welchen Gefühlen wir anderen gegenübertreten, ob wir Interesse an anderen als Personen haben und wie wir dieses Interesse über Gefühle, Nuancen und Situationsfacetten umsetzen. Noddings' Zurückweisung der Prinzipienethik beinhaltet auch die Ablehnung des Verallgemeinerungsgrundsatzes, wobei sie sich explizit auf Hares Fassung des Universalisierungsprinzips7 bezieht. Dem hält Noddings entgegen, daß nicht Urteile und Handlungen, sondern Arten der moralischen Begegnung zentral seien. Aufgrund der Einzigartigkeit menschlicher Begegnungen und der entsprechenden subjektiven Erfahrungen könne nur unter Abstraktion von den moralisch relevanten Aspekten und Qualitäten von Situationen von „ausreichend ähnlichen Bedingungen" die Rede sein.8 Universalisierbarkeit biete demnach keine Anleitung für das konkrete moralische Verhalten. Den Mittelpunkt von Noddings' Ethik bildet die Beziehung des Sorgens; eine Form des wohlwollend umfassenden Eingehens auf den konkreten Anderen. Die Relationsglieder sind der „Sorgende-Teil" und der „Umsorgte-Teil". Der „Sorgende-Teil" richtet sein Handeln auf das Wohlergehen der anderen Person und die Wahrnehmung ihrer Bedürfnissep. Das Besorgtsein um andere, wie Noddings es im Blick hat, ist von üblichen Formen der Reziprozität sozialer Interaktionen zu unterscheiden. Sorgen im echten Sinn bleibt mit dem Versuch ver5 6 7
Als Negativbeispiel wird hier oft auf Kant (1797b) verwiesen. Noddings (1993), S. 136. Vgl. Hare (1981), S. 7ff. Danach ergibt sich aus der Forderung, daß eine Person in einer bestimmten Situation A tun sollte, die Forderung, daß auch jede andere Person, die sich in einer relevant ähnlichen Situation befindet, A tun sollte. 8 Siehe Noddings (1993) S. 141; vgl. Noddings (1984), S. 85.
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knüpft, die Realität des anderen zu erfassen und beinhaltet die „Verlagerung des Interesses von meiner eigenen Realität auf die Realität des anderen".9 Es geht nicht um das abstraktintellektuelle Durchspielen des Standpunkts der anderen Person, sondern um ein tiefes, gefühlsmäßiges Begreifen und Nacherleben ihrer Realität, so daß, wie Noddings dies ausdrückt, „die Realität des anderen eine reale Möglichkeit für mich wird" - ein Teilen der Empfindung, des Schmerzes, der Wahrnehmung.10 Die Sorge-Beziehung charakterisiert ein besonderes Engagement und eine Motivationsverschiebung: Nicht meine Interessen, sondern die Zwecke und Ziele des anderen motivieren mich. Im Interesse der anderen Person zu handeln bedeutet, über eine externe Betrachtung des Standpunkts des konkreten Anderen hinauszugehen und sich auf ein inneres Nacherleben seiner Realität einzulassen: „Die Realität des anderen wahrzunehmen, zu fühlen, was er fühlt, und zwar so ähnlich wie möglich, ist der wesentliche Teil des Sorgens aus dem Blickwinkel des Sorgenden-Teiles."11 Noddings stellt klar, daß diese Form rezeptiver Empathie nicht mit einer Form mystisch-symbiotischer Verschmelzung gleichgesetzt werden darf, sondern einer alltäglichen Beziehungsform entspricht, mit der wir alle vertraut sind.12 Es handle sich um jene grundlegende Erfahrung, die wir im Umgang mit Kleinkindern erleben. Das erste Modell dieser Form des Sorgens liefere uns das „mütterliche" Verhalten in der Beziehung zu Säuglingen und Kleinkindern. Die Interaktion mit Kindern, unsere Versuche, sie zu trösten, ihre Schmerzen zu lindern, ihre Schwierigkeiten nachzuvollziehen, verdeutliche uns, daß es neben dem Modell des Standpunkttauschs noch eine andere Möglichkeit gebe, die Situation des anderen wahrzunehmen: die Gemeinsamkeit von Gefühlen. 13 Dennoch will Noddings die Sorge-Beziehung nicht als ein emotionsgeladenes Aufgehen im konkreten Anderen verstanden wissen. Das Sorgen sei begleitet von kognitiven Momenten; die zweckbezogene rationale Reflexion diene jedoch nicht der subjektiven Interessenmaximierung, sondern werde in den Dienst der anderen gestellt.14 Zwei Probleme spricht Noddings an: Zum einen gibt es verschiedene Formen des Sorgens, und zum anderen vermag Sorgen nicht alle Konflikte zu lösen - das Bestreben, mehrere sorgende Beziehungen zu erhalten, kann ein Aufeinanderprallen von Interessen nicht immer vermeiden. Obwohl wir nach Noddings keinen klaren Kriterienkatalog für ein Entscheidungsverfahren entwickeln können, um „wahre Fälle" des Sorgens von unangemessenen zu unterscheiden, so haben wir doch eine Vorstellung von der gefühlsmäßigen Qualität und der Achtung der Interesses der anderen Person, um zu beurteilen, ob eine Beziehung des Sorgens vorliegt.15 Konflikte sind nicht zu verhindern; wir können nicht mehr tun, als über eine gleichmäßig sorgende Haltung das Spannungspotential von unterschiedlichen Ansprüchen so gut wie möglich zu verringern, aber darüber hinaus sei der Konflikt auszuhalten. Einen Indikator für angemessenes Sorgen sieht Noddings in der Reaktion des Umsorgten9 Noddings (1993), S. 151. 10 Ebda., S. 152. Ähnlich betont Iris M. Young, daß Moralität ein genaues Hinhören, was die andere Person an Bedürfnissen äußert, verlange - eine Haltung, die sie mit dem Begriff „moralischer Bescheidenheit" umschreibt. Siehe Young (1995). 11 Noddings (1993), S. 154. 12 Siehe Noddings (1984), S. 30. 13 Ebda., S. 31. 14 Ebda., S. 40. 15 Ebda., S. 146.
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Teils. Sorgen drückt sich in einer bestimmten Einstellung zum Umsorgten aus und muß auf eine spezifische Responsivität des anderen stoßen: eine Form des Angenommenfühlens und die Gewißheit, im Blickwinkel und Interesse der sorgenden Person zu sein. Sorgen bewege sich in einem Wechsel von Latenz und Aktualität - selbst bei Erschöpfung, Enttäuschung und Überlastung könne die grundsätzliche Haltung gewahrt bleiben. Sorgen sei niemals frei von Gefühlen der Schuld, Ambivalenz und Überforderung. Nur im Fall der Gleichgültigkeit gegenüber der Reaktion des anderen, wenn Kontaktsuche und Auseinandersetzung mit unserem Gegenüber fehlen, aber auch durch Asymmetrie und skrupellose Reaktionen wie Feindseligkeit, werde die Sorge-Beziehung korrumpiert und zerstört. 16 Modell für Noddings' ethische Beziehung des Sorgens ist, wie schon angeführt, die Fürsorglichkeit und Liebe, wie wir sie in der Mutter-Kind-Beziehung erleben. Diese „natürliche" Form des Caring erklärt Noddings zum ethischen Ideal: Fürsorglichkeit, die wir ja prima facie als etwas moralisch Gutes anerkennen, sei eine Tugend, um deren Verwirklichung wir uns bemühen sollten. In der Sorge um den anderen ortet Noddings jenes „universelle Gefühl", in dem Moralität ruht und diese zur „aktiven Tugend" werden läßt. Da MutterKind-Beziehungen und die Pflege des Nachwuchses ein unser soziales Leben bestimmendes Phänomen darstellten, entschieden wir uns für einen lebensweltlichen ethischen Ansatzpunkt, wenn wir „mütterliches" Sorgen zum ethischen Wert und Erfordernis erklärten. Wir alle kennen die Erfahrung des Sorgens, und die Erinnerung an das frühkindliche Erleben des Umsorgt-Werdens vermittle uns ein Bewußtsein davon, daß es andere moralische Ziele gebe als nur das Bestreben, unsere Interessen durchzusetzen. 17 Noddings sieht hier nicht einen Gegensatz von „natürlichem" und ethischem Sorgen, analog jenem eines Handelns aus Neigung versus einem aus Verpflichtung, sondern verfolgt die Weiterentwicklung des faktisch gegebenen Sorgens zu einer grundlegenden moralischen Haltung, die aber an dieses empirische Phänomen rückgebunden bleibt und diesem nicht überlegen ist. Indem sie das Sorgen zum ethischen Ideal erklärt, versucht Noddings dem Problem Rechnung zu tragen, daß nicht immer entsprechende spontane Neigungen unser Handeln bestimmen. Denn die Vorstellung der Person, die wir sein wollen, hat normative Funktion und motiviert uns, wie Noddings meint, zu einer spezifischen Form des Handelns; auch in Fällen, wo uns nicht automatisch die „natürliche" Sorge um den anderen leite, bewege uns doch die Sorge um uns selbst und unsere ethischen Ideale zur sorgenden Haltung: "I feel the moral 'I must' when I recognize that my response will either enhance or diminish my ethical ideal." 18 Noddings entwickelt eine Art phänomenologischer Tugendethik, die auf das Sorgen und die Entwicklung der korrespondierenden Haltungen zentriert ist. An Gründen für die Überlegenheit einer Tugendethik gegenüber einer Prinzipienethik führt Noddings Partikularität und Kontextsensitivität an, wobei sie vor der Gefahr eines Rückzugs aus dem öffentlichen Bereich in die ausschließliche Reflexion des Moralischen im Rahmen von Nahbeziehungen nicht gänzlich die Augen verschließt. Noddings klammert metaethische Überlegungen weitgehend aus. Nicht die Begründung und Rechtfertigung von Handlungen und Handlungsgrundsätzen scheinen ihr maßgeblich, sondern die Erfüllung und Vervollkommnung ethischer Ideale im eigenen Leben und dem Leben anderer, zu denen wir enge Beziehungen 16 Ebda., S. 38f.; vgl. auch S. 48. 17 Ebda., S. 80. 18 Ebda., S. 83.
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unterhalten. Relevant sind das Beibehalten oder das Aufgeben der sorgenden Einstellung und die Phänomene der Verletzung und des Schmerzes.19 Aus diesem Grunde betrachtet sie auch die Beurteilung von Handlungen als „richtig" oder „falsch" als sekundär. Das Ziel von Noddings' Ethik liegt primär im Erweitern moralischer Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit. In ihrem zweiten Buch, Women and Evil, wendet Noddings ihre Ethik auf eine Analyse des Bösen an. Sie vertritt die These, daß Frauen eine größere Distanz zum Bösen haben und weniger anfällig dafür sind. Das Modell mütterlicher Sorge vermittle eine unterschiedliche Konzeption des Übels, eine andere Lokalisation und andere Möglichkeiten der Bekämpfung. Die „männliche" Vorstellung des Bösen sei verbunden mit dem Verstoß gegen die Gesetze Gottes, des Staates, des Vaters, des Oberhaupts. Das über die Begriffe von Sünde, Schuld, Unreinheit und Fehlerhaftigkeit exemplifizierte Böse habe sich zu einer Art „ethischem Terror" verdichtet. Demgegenüber bleibe das am Modell des Sorgens entwickelte „weibliche" Bild des Bösen konkret; es bedeute die Gefahr von Schmerz "that harms and threatens to harm". 20 Aus der Sicht von Frauen entspreche das Schlechte den negativen Erfahrungen von Schmerz, Separierung und Hilflosigkeit. Mit dieser Benennung würden auch andere Gewichtungen verbunden - schlecht ist, was Beziehungen und Kontexte der Fürsorglichkeit zerstört. Diese konkrete Fassung des Übels, die sich von der Dämonisierung in traditionellen Ansätzen unterscheidet, hat für Noddings auch Folgen für unser Handeln: Bewegt sich das Böse auf der Ebene von Schmerz, Isolation und Ohnmacht, so können wir einiges tun, um es zu vermeiden. Jenseits einer sinnlosen Mystifizierung des Bösen sei viel in Richtung einer Verbesserung unserer Lebensverhältnisse gewonnen, wenn das sorgfaltige Nachdenken darüber, wie weit unsere Handlungsziele frei von negativen Bestrebungen dieser Art sind, unsere politischen, sozialen und persönlichen Lebensbereiche bestimmen.21 Noddings' beziehungsorientierter Ethik entspricht eine relationale Ontologie. Alle menschlichen Wesen sind demnach über Beziehungen definiert, die reflektiert, bewertet und in eine für gut gehaltene Richtung verändert werden können. Ethisch wesentlich sind neben den beziehungsdefinierenden Tugenden wie Sorgen und Freundschaft auch beziehungsfördernde Tugenden wie Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Selbstlosigkeit, Höflichkeit. Noddings definiert Tugenden nicht mit Bezug auf Prinzipien, sondern in Relation zu Beziehungen; ein Unterschied, den Rosemarie Tong folgendermaßen charakterisiert: "To be honest simply because 'honesty is the best policy' is one matter, but to be honest because unless I am honest, I can never have a deep friendship is quite another. Lies and secrets distance people one from the other; appearances prevent us from getting to know and love each other for whom we really are." 22 Noddings' relationale Care-Ethik führt auch zu einer veränderten Sicht auf Fragen der angewandten Ethik. So plädiert sie im Fall der Probleme von Sterbehilfe und Schwangerschaftsabbruch für einen beziehungsorientierten Zugang. Entscheidungen im Falle von aktiver, vom Patienten geforderter Sterbehilfe - eine Person hat wiederholt den Wunsch zu sterben geäußert - seien nicht eine einfache Frage des Abwägens von Rechten; alle vom Wunsch 19 Ebda., S. 94f. 20 Noddings (1989), S. 91. 21 Ebda., S. 229f. Auf exemplarische Weise sieht Noddings diese Sicht des Schlechten in Doris Lessings Erzählung "The Diary of a Good Neighbor" entwickelt. 22 Tong (1993), S. 115.
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des Patienten Betroffenen, also Ärzte, Schwestern, Familienangehörige, sollten an einer Entscheidung beteiligt sein. "Decision making that grows out of open and compassionate dialogue" ist nach Noddings eher in der Lage, dem Mißbrauch zu entgehen und eine Entscheidung im Sinne des Patienten zu ermöglichen.23 Diese Form der Lösungsfindung lindere auch das größte Problem für den Patienten - mit seiner Situation und seinem Entschluß allein gelassen zu sein. Im Gespräch mit den anderen könne sich erweisen, ob der Wunsch zu sterben echt und die Entscheidung unwiderruflich seien oder nicht vielmehr nur einer momentanen Ratlosigkeit, tiefen Verzweiflung und dem Gefühl des Alleingelassenseins entspringen. Auch in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs scheint Noddings eine beziehungszentrierte Perspektive angemessen. Sie kritisiert, wie auch Gilligan dies tut, die Sicht des Abtreibungsproblems als eine Abwägungsfrage von Rechten, wobei die Rechte des Fötus jenen der Mutter auf Selbstbestimmung und Integrität entgegengesetzt werden. Häufig wird ja die moralische Zulässigkeit eines frühzeitigen Schwangerschaftsabbruchs mit dem Argument gerechtfertigt, daß ein Embryo nicht die Kriterien für das Zusprechen moralischer Rechte erfülle (etwa ein Lebensinteresse oder Schmerzempfindungen zu haben). Noddings greift die „Sprache der Rechte" vor dem Hintergrund realer Lebenssituationen an; eine mit einer Abbruchsentscheidung konfrontierte Frau werde wenig Hilfestellung daraus beziehen, daß der Fötus keine Interessen oder moralischen Rechte habe.24 Zudem gibt Noddings zu bedenken, daß kein Versuch, den moralischen Status von Wesen über bestimmte Eigenschaften zu bestimmen, frei sei von der subjektiven Einschätzung derjenigen, welche diese Definition festlegen. Das zu berücksichtigen bedeute anzuerkennen, daß der moralische Stellenwert, den wir verschiedenen Wesen einräumen, nicht nur von den Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden, sondern auch von unserer Beziehung zu ihnen abhänge.25 Unter der Perspektive der Beziehungsorientiertheit rücke ein anderer Faktor als der moralische Wert des rational Erwachsenen in den Vordergrund: Als moralische Person zähle, wer Impulse der Fürsorglichkeit auslöst und auf unser Sorgen reagiert. Wir sollten nach Noddings Lebewesen in einer ihren Reaktionen angemessenen Weise behandeln. Wesen, die Schmerz empfinden, darf kein Schmerz zugefügt werden; jene, die auf Zuneigung angewiesen sind, sollten Zuneigung erfahren. Aus diesen Überlegungen läßt sich laut Noddings ein Argument für die Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs in einem frühen Stadium gewinnen: Unsere Beziehung zu einem Embryo unterscheide sich gravierend von jener zu einem Fötus im Spätstadium der Schwangerschaft oder gar einem geborenen Kind. Diese Sicht entspreche, wie Noddings betont, den Erfahrungen und Reaktionen eines Großteils der Betroffenen. So würden die meisten Frauen, die sich ein Kind wünschten, im Falle eines frühen natürlichen Abgehens des Embryo Enttäuschung, aber keinen dem Verlieren eines Kindes vergleichbaren tiefen Schmerz empfinden. Es bedeute den Verlust einer Möglichkeit, aber nicht den Verlust eines Kindes, zu dem wir intensive Bindungen aufgebaut haben.26 2 3 Siehe Noddings (1989), S. 133. 2 4 Ebda., S. 144f. 25 Ebda., S. 149. 2 6 Ebda., S. 153. Für Noddings' Sicht des Schwangerschaftsabbruchs gilt damit das gleiche wie für Gilligans Ablehnung des Rechte-Zugangs. Auch Noddings begreift die Frage nur aus individualethischer Perspektive und übersieht die öffentlich-rechtliche Dimension, die ohne Bezugnahme auf moralische Rechte nicht aufzuarbeiten ist.
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Nel Noddings' Ethik des Sorgens
Noddings wendet ihr relationales Ethik-Modell auch auf Armut und Krieg an. Der Gegensatz von „Arm" und „Reich" finde in einem relationalen Ansatz und einem auf Anteilnahme und Eingehen auf andere basierenden Modell menschlichen Handelns, wo die Details von Situationen Berücksichtigung finden, eher eine Lösung. Desgleichen ermögliche diese Ethik eine klare Haltung zum Problem des Krieges, da sie die Vorstellungen von Überlegenheit und Sieg wie jegliche Heroisierung kriegerischer Tugenden ablehne.
3.1
Die Grenzen einer Care-Ethik
Mit ihren Ausführungen zu einer Ethik des Caring, die über Gilligans erste Hinweise auf diese Form moralischen Überlegens hinausgehen, hat Nel Noddings zweifellos einen wichtigen Beitrag zum Problemkreis „Frauen und Moraltheorie" geliefert und auch die Aufmerksamkeit auf einige in der neueren Moralphilosophie nicht eben prominente, aber bedeutsame Aspekte von Moralität gelenkt. Sie schafft eine Rückbindung der Moral an aktuelle, auch Frauen betreffende Lebenskontexte, und verdeutlicht damit gleichzeitig, daß Moral nicht etwas darstellt, das erst zu entdecken oder zu erfinden wäre, sondern bereits unsere Lebenszusammenhänge bestimmt und tief in unseren Bindungen verankert ist. Eine sorgfältige Reflexion auf unterschiedliche Interaktionsaiten gewährt einigen Aufschluß über moralische Werte und Ideale. Mit ihrer Konzentration auf die fürsorgliche Erwachsenen-Kind-Beziehung betont Noddings den moralischen Gehalt einer Beziehungsform, die in den traditionellen Ethik-Ansätzen kaum Beachtung findet. Noddings zeichnet ein verändertes Bild der moralischen Landschaft, indem sie Moralität in unsere Gefühle und Beziehungen verlegt. Den klassischen prinzipienorientierten Zugang ersetzt sie durch eine Ethik, die von affektiven Werten, Idealen und Tugenden ausgeht und die moralische Dimension persönlicher Beziehungen in den Mittelpunkt rückt. Wie Barbara Houston anerkennend vermerkt, sind Noddings' Einwände gegenüber einer Prinzipienmoral - mangelnde Klarheit über deren Anwendungsbedingungen und Vereinbarkeit mit moralischer Insensibilität - unübergehbar: "She so persuasively demonstrates the flaws in much principled moral thinking that one can never again hear the expression 'It's a matter of principie', without shrinking from the inhumanity of it." 27 Eindringlichst macht Noddings darauf aufmerksam, daß die Moralität unseres Handelns entscheidend davon abhängt, wie wir anderen begegnen und nicht nur davon, worauf wir uns berufen, wenn wir uns in einer bestimmten Weise verhalten. Das Orientieren an Prinzipien ist keine Garantie dafür, daß wir andere nicht moralisch fragwürdig behandeln. Moralische Angemessenheit beinhaltet nach Noddings etwas anderes als zu überlegen, welches Verhalten im langfristigen Eigeninteresse oder im Interesse aller liegt oder den Gesamtnutzen erhöht; es geht auch darum, wie wir andere wahrnehmen und welche Gefühle unseren Umgang mit anderen bestimmen. Prima facie findet die These, daß die Sorge für andere etwas Positives ist, unsere spontane Zustimmung; eine Haltung des Caring ist, um Susan Sherwins Worte zu zitieren, "often a morally admirable way of relating to others". 28 Dennoch wirft Noddings' Ethik-Konzeption
27 Houston (1990), S. 115. 28 Sherwin (1992), S. 51.
Die Grenzen einer
Care-Ethik
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eine Reihe von Fragen auf, welche die Grenzen ihres Modells aufzeigen. Die kritischen Bedenken und Einwände lassen sich in folgende Punkte zusammenfassen: (1) Noddings' Kontrastierung von Care und Gerechtigkeit, die Gilligans Polarisierung einer Ethik der Fürsorglichkeit und Anteilnahme mit einer Ethik der Prinzipien und Gerechtigkeit fortsetzt, ist höchst fragwürdig und nicht durchzuhalten. (2) Noddings' Ethik-Ansatz bietet keine adäquaten moralischen Richtlinien für unsere Beziehungen zu Fremden und (3) erweist sich auf dem Hintergrund konventioneller geschlechtsspezifischer Rollenerwartungen und Stereotype als problematisch. (4) Noddings' Moralverständnis setzt Bedingungen der Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen so gut wie nichts entgegen. (5) Fraglich ist auch, wie weit die Orientierung an ungleichen Verhältnissen wie der Erwachsenen-Kind-Beziehung ein geeignetes Modell darstellt, um notwendige und hinreichende Bedingungen für moralisch akzeptable Beziehungsformen zwischen gleichgestellten Personen zu entwickeln. (6) Noddings reduziert die Komplexität des Moralischen, indem sie einen moralischen Wert - die Sorge um die andere Person - unverhältnismäßig betont. Zum ersten Punkt, der falschen Entgegensetzung von Fürsorglichkeit und Gerechtigkeit: Im Mittelpunkt von Noddings' Ethik steht die Sorge-Beziehung, die „ein Heraustreten aus unserem eigenen persönlichen Bezugsrahmen und ein Sich-Hineinbegeben in den Bezugsrahmen des anderen" 29 und die Beachtung und Wahrung der Interessen und des Wohlergehens des anderen umfaßt. Bestimmend wird eine Motivationsverschiebung, die bedeutet, "(that) my motive energy flows toward the other and perhaps, although not necessarily, toward his ends". 3 0 Instrumentelle Überlegungen werden durch ein rezeptives Eingehen auf die andere Person ersetzt. Noddings' Ethik stellt damit nicht nur hohe Ansprüche an den „Sorgenden-Teil", sie vernachlässigt geradezu dessen Interessen und Bedürfnisse, da die Care-Beziehung dem Sorgenden alle moralischen Pflichten und Bürden auflastet. 31 Dies verletzt aber eine grundlegende Bedingung von Moralität, daß nämlich die Bedürfnisse aller Moralsubjekte gleichermaßen Berücksichtigung finden sollten. Caring, wie es uns etwa in der Zuwendung zu Kindern und kranken, alten und hilflosen Menschen begegnet, ist zweifellos eine Haltung, die moralische Anerkennung und Achtung verdient. Nun gilt die moralische Angemessenheit von Fürsorglichkeit nicht für alle Kontexte schlechthin, sondern nur für den Bereich jener sozialen Institutionen, deren Strukturen nicht in eklatanter Weise Standards der Gerechtigkeit verletzen. Ohne begleitende Gerechtigkeitsüberlegungen degeneriert Fürsorglichkeit zu Selbstaufopferung und Selbstausbeutung. Unter Bedingungen von Dominanz und Unterdrückung kann sich Care moralisch disqualifizieren. Die ungebrochene Fürsorglichkeit einer unfreien und unterdrückten Person gegenüber jenen, die sie beherrschen, und die Konzentration auf deren Wohlergehen trotz Nichtbeachtung der Rechte auf Freiheit und Gleichbehandlung der sorgenden Person, beläuft sich als Unterminierung persönlicher Integrität auf einen moralischen Verlust. Dies bedeutet, daß eine Care-Ethik nicht gegen eine Ethik der Prinzipien und Gerechtigkeit ausgespielt werden kann, da die Angemessenheit von Fürsorglichkeit auf Kriterien der Gerechtigkeit verweist und der Wert von Anteilnahme, Zuwendung und Sympathie nicht gänzlich kontextfrei bestimmbar ist. Der Zusammenhang von Care und Gerechtigkeit wird nach Claudia Card auch deutlich, insofern in von „Rassismus, 29 Noddings (1993), S. 164. 30 Noddings (1984), S. 33. 31 Vgl. Houston (1990), S. 116.
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Ethnozentrismus und Xenophobie" geprägten Gesellschaften wie den unseren genügend Barrieren existierten, um die Reichweite von Sorge-Beziehungen zu limitieren.32 Nur über Gerechtigkeitserwägungen seien diese Begrenzungen aufzubrechen und könne die Gebotenheit von Anteilnahme über den unmittelbaren Nahbereich hinaus einsichtig werden. In einer Antwort auf ihre Kritikerinnen nimmt Noddings ihre scharfe Gegenüberstellung von Care und Gerechtigkeit zurück und räumt ein, "(that care) has an ambiguous ring and a deeply flawed history".33 Die genaue Verbindung von Fürsorglichkeit und Gerechtigkeit läßt sie aber offen. Gleichzeitig betont sie, daß die erwähnten Einwände eine Ethik der Fürsorglichkeit nicht insgesamt als inadäquat erwiesen. Dies ist ein wichtiger Punkt. Eine ethische Theorie läßt sich nicht allein deshalb zurückweisen, weil ihre zentralen Kategorien eine mißbräuchliche Verwendung erfahren haben und weil die realen Verhältnisse von dem Bild sozialen Zusammenlebens abweichen, das die Theorie als Idealzustand entwirft. Man muß die normative Botschaft einer Moralkonzeption gelten lassen, und Noddings' Ethik trägt zweifellos das Potential zu einer Verbesserung der Qualität unseres sozialen Zusammenlebens in sich, sofern die mit der Sorge-Beziehung verknüpften Momente von Fürsorglichkeit, Anteilnahme und Empathie aus ihren traditionellen Zuordnungen gelöst und für alle sorgefähigen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft gleichermaßen verbindlich werden. Unter der Annahme, daß unterschiedliche moralische Kategorien verschiedenen Bereichen menschlicher Aktivität angemessen sind, könnte man versucht sein, einen Bereich, in dem Care maßgeblich ist, von einer Sphäre zu unterscheiden, in der Gerechtigkeit die wesentliche Rolle spielt. Obwohl die Vorstellung einer Trennung verschiedener Bereiche der Moral einiges für sich hat, denke ich nicht, daß Standards wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Reziprozität, Sympathie und Anteilnahme auf diese Weise separiert werden können und sollten. Die Abspaltung von Fürsorglichkeit und Gerechtigkeit hätte die unliebsame Konsequenz, daß der sich für einen Care-Zügmg prima facie anbietende Bereich der Nahbeziehungen von Gerechtigkeitskriterien ausgenommen wäre. Es gibt bestimmte unverzichtbare moralische Werte, und dazu zählen Care wie auch Gerechtigkeit. Gehen wir zum zweiten Punkt der Gegenargumente. Die für Noddings' relationale Ethik charakteristische Offenheit für die Präsenz des anderen setzt die direkte Begegnung mit der anderen Person voraus und läuft auf eine Begrenzung dieser Ethik auf Nahbeziehungen hinaus; ein Punkt, den Noddings selbst betont: „Während ich in unserem gesamten gemeinsamen Leben für meine Kinder sorge, sorge ich wahrscheinlich nur vorübergehend für einen bedürftigen Fremden. Die Intensität variiert ebenfalls. Ich sorge zutiefst für diejenigen in meinem inneren Kreis und weniger tief für jene, die von meinem persönlichen Leben weiter entfernt sind." 34 Claudia Card, eine entschiedene Kritikerin dieser Konsequenzen von Noddings' Position, wirft der Care-Ethik vor, unsere Beziehungen zu einem Großteil von Menschen für moralisch irrelevant zu erklären, da wir diese nicht persönlich kennen und nie persönlich kennenlernen werden. Eine Moralkonzeption sollte über die auf den Nahbereich eingeschränkten Folgen unseres Handelns hinausblicken, denn: "We can affect drastically, even fatally, people we will never know as individuals."35 32 33 34 35
Siehe Card (1990), S. 105 Noddings (1990), S. 125. Noddings (1993), S. 154. Card (1990), S. 103.
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Die Vorstellung eines „universellen Sorgens" weist Noddings selbst als nicht realisierbar zurück; eine solche Verpflichtung entspräche einer moralischen Überforderung, die zwangsläufig echtes Sorgen durch moralische Rhetorik ersetze.36 Diese wohl allgemein einleuchtende Einschränkung läßt jedoch die Frage offen, mit welchem ethischen Instrumentarium wir dann unsere Beziehungen zu jenen fremden Menschen erfassen sollen, die von unserem Verhalten und den strukturellen Mechanismen unserer gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lebenssysteme tangiert sind. Der Begriff der „Verkettung", mit dem Noddings die Einengung einer Care-Ethik auf Personen, die wir lieben, zu durchbrechen versucht, bietet keine Lösung. Noddings unterscheidet verschiedene Wirkungsbereiche des Sorgens ("circles of care"). Primär sei der innere Bereich, wo wir sorgen, weil wir lieben; Fürsorglichkeit lasse sich über diesen Bereich hinaus auf Personen ausdehnen, zu denen wir distanziertere Beziehungen unterhalten. Aber auch Menschen, die wir zunächst nicht persönlich kennen, vermögen Objekt unseres Sorgens zu werden, indem sie jemandem persönlich verbunden sind, der wiederum eine persönliche Bindung an uns hat. Bei dieser Form der Erweiterung bleibt aber die persönliche Rückbindung entscheidend. Nun gibt es eine Unzahl von Personen, zu denen es nie ein über andere Personen vermitteltes persönliches Bindeglied geben wird, deren Bedürfnisse aber gleichwohl moralisch berücksichtigenswert sind. Noddings' Ausführungen zum Fall der fremden Person, "who comes to me without the bonds established in my chains of caring" 37 unterstreichen, daß die Kategorie des Caring hier als moralische Richtschnur fehl am Platz ist. Eine Fürsorglichkeitsmoral kann im Fall der Begegnung mit einer fremden Person nur für volle Zuwendung plädieren, was jedoch eine moralische Überforderung und Unangemessenheit darstellt. Einer solchen Ethik fehlt das Konzept negativer Pflichten38; sie bietet keinen Rahmen für jenen Grundsatz, der prima facie unseren moralischen Umgang mit Personen, zu denen wir nicht in einer Relation spezieller Verpflichtung stehen, bestimmen sollte: das Prinzip der Nicht-Einmischung, das ein Respektieren der Freiheit, Autonomie und Integrität des anderen verlangt. Noddings kennt nur positive Pflichten - und dies zieht absurde Folgen nach sich. Auf dem Hintergrund einer Care-Ethik läßt sich den Ansprüchen anderer, die enorm sein können, moralisch nicht entgehen, und Noddings räumt ein, daß eine am Ideal des Sorgens orientierte Person die Begegnung mit Fremden fürchtet. 39 Hilflosigkeit und Abwehr ist die logische Konsequenz einer Ethik, die ihren Begriffsrahmen auf positive Pflichten einengt und die Moralität ausschließlich am Modell der positivsten Aspekte persönlicher Nahbeziehungen ausrichtet. Zum dritten Punkt, der Geschlechterstereotypie einer Care-Ethik: Feministische Theoretikerinnen haben immer wieder betont, daß eine ethische Theorie normative Standards nicht abgelöst vom Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen vorgeben sollte. Aus feministischer Perspektive muß eine Ethik der Fürsorglichkeit und Anteilnahme die tief in die jeweiligen Selbstkonzeptualisierungen reichenden Gender-Normierungen und die damit ver36 Siehe Noddings (1993), S. 156. 37 Noddings (1984), S. 47. 38 „Negative Pflichten" sind Verpflichtungen zur Unterlassung gewisser Handlungen (die Pflichten, anderen nicht zu schaden); unter „positiven Pflichten" versteht man hingegen die Pflichten, etwas für andere zu tun, z. B. ihnen zu helfen. 39 Noddings (1984), S. 47.
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Nel Noddings' Ethik des Sorgens
knüpften geschlechtsspezifischen Erwartungshaltungen berücksichtigen. Aufgrund der patriarchalen Muster unserer Gesellschaft existiert eine moralische Dichotomie entlang der Geschlechterlinie, dergemäß fürsorgliches Verhalten nicht nur mit Frauen und „Weiblichkeit" assoziiert, sondern auch von Frauen stärker gefordert wird. Eine Care-Ethik für sich genommen hat so den Effekt, die traditionellen moralischen Erwartungen an Frauen zu verfestigen. 40 Freilich könnte Noddings dieser Kritik entgegenhalten, daß sich der Verbindlichkeitsanspruch ihrer Ethik der Fürsorglichkeit ja auch auf Männer erstreckt. Aber gerade in diesem Punkt sind die Ambivalenzen nicht zu übersehen, denn Noddings' Bemerkungen, daß auch Männer prinzipiell zu Care-Haltungen in der Lage seien, wirken im Vergleich zu ihrer Betonung von Aitti/er-Kind-Beziehungen und den „femininen" Zügen ihres Ansatzes reichlich marginal und beiläufig. Noddings müßte den Universalitätsanspruch ihrer Ethik verdeutlichen, indem sie diese aus dem Dunstkreis „mütterlichen Denkens" löst und von den Assoziationen mit dem „Weiblichen" und den traditionellen moralischen Dualismen befreit. Die Betonung der moralischen Qualität mütterlichen Sorgens reicht nicht aus, um den allgemeinen ethischen Stellenwert von Anteilnahme und Empathie einzufordern, wie ein Blick auf unsere gesellschaftliche Realität lehrt. Wie Sarah Lucia Hoagland kritisch bemerkt, neigen gerade Männer, die von ihren Müttern besonders umsorgt waren, dazu, als ichbezogenene Nutznießer mit einem soliden Hang zum Narzißmus die fürsorgliche Zuwendung der Frauen ihrer Umgebung als Selbstverständlichkeit zu betrachten: „Ich bin nicht davon überzeugt, daß ein Kind, im besonderen ein Knabe, der von seiner Mutter umsorgt wird, jemals lernen wird, selbst Sorgeleistungen zu erbringen. Meine Erfahrungen lehren mich eher, daß Knaben von allen Frauen Sorge ohne Gegenleistung erwarten; und das ist es eigentlich auch, was Männer in ihren Ehefrauen suchen. Nichts deutet darauf hin, daß diese Art von Sorge dazu in der Lage ist, das zu unterminieren, was Marilyn Frye das .arrogante Auge männlicher Wahrnehmung' nennt." 41 Zum vierten Punkt, der mangelnden Abgrenzung von Formen der Unterdrückung: Noddings' Ethik kennzeichnet die Orientierung an einem ethischen Ideal, dem Caring. Die moralische Identität des „Sorgenden-Teils" bestimmt infolge des Bemühens um die Erfüllung dieses moralischen Ideals eine Art erhöhtes Selbstwertgefühl. Durch die einseitige Fixierung auf einen einzigen moralischen Wert schließt Noddings gewissermaßen die Möglichkeit aus, daß man in bestimmten Situationen Haltungen der Fürsorglichkeit aus Gründen der Moral aufgibt. Wenn eine Person eine Care-Relation abbricht, so macht sie für Noddings Abstriche von ihrem ethischen Ideal und nimmt eine Verringerung der ethischen Qualität ihres Handelns in Kauf. Feministische Kritikerinnen wie Hoagland, Card und Houston betonen demgegenüber, daß es oftmals eine moralische Pflicht sein kann, Sorge-Beziehungen abzubre-
40 Ethische Theorien setzen bei der Formulierung ethischer Grundsätze meist voraus, daß die Menschen unter idealen Bedingungen handeln und leben. Aber unter den realen Bedingungen von Ungleichheit, Macht und nicht zuletzt Geschlechterasymmetrien verändert sich das Gewicht idealtypischer moralischer Postulate. Ein ähnliches Problem stellt sich, wie feministische Theoretikerinnen aufgezeigt haben, in bezug auf einen formalen Gleichheitsgrundsatz: Die auf den ersten Blick durchaus plausible Forderung, alle Personen gleich zu behandeln, führt unter den Bedingungen einer Frauen diskriminierenden Gesellschaft mit ihrer tiefgehenden Ungleichheit im Status von Frauen und Männern zu einer Verfestigung der Benachteiligungen von Frauen. 41 Hoagland (1993), S. 182f.
Die Grenzen
einer
Care-Ethik
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chen. Eine Mutter, die zu einem Mann, der ihre Tochter mißbraucht, noch länger in der Haltung des Caritig verbleibe, handle moralisch unangemessen und anstößig.42 Wie Barbara Houston einwendet, scheint gerade eine Care-Ethik Frauen nicht genügend moralische Motivation zum Widerstand gegen instrumentalisierende soziale Bedingungen zu bieten: "If this ethic could be taken as an accurate description of women's moral thinking, it might explain what reduces the ability of women to resist physical and sexual abuse." 43 Noddings' Idealisierung von Fürsorglichkeit, die unter dem Motto „Liebe als Allheilmittel" teils in eine gefährliche Nähe zu missionarischem Eiferertum gerät, wirkt in Anbetracht der Dichte an alltäglicher Gewalt in Familienbeziehungen wie im Fernbereich naiv und befremdlich. Zu Punkt fünf der Einwände: Kritik provozierte auch, daß Noddings eine asymmetrische Beziehung für moralisch paradigmatisch erklärt.44 Das Erwachsenen-Kind-Modell beinhaltet eine Ungleichheit im Status der Personen wie in den Beziehungsleistungen. Dies hat Konsequenzen für Noddings' Charakterisierung der Sorge-Beziehung. Während Noddings' Ethik dem „Umsorgten-Teil" wenig abverlangt, sind die Forderungen an den „Sorgenden-Teil" ungleich größer: Der Sorgende gibt, der Umsorgte empfängt. Noddings' Ansatz, so die Einwände, klammere wesentliche Elemente aus, welche auch die ethische Qualität einer Beziehung bestimmten - nämlich Reziprozität und Gleichheit. Das Problem liege nicht darin, daß Noddings die Mutter-Kind-Beziehung ins Zentrum ethischer Betrachtung rücke, sondern daß sie die asymmetrischen Transfer-Leistungen in diesem Verhältnis schlechthin zum ethischen Ideal erkläre und nicht jene kooperativen Leistungen und Interaktionen berücksichtige, die einen Großteil unserer Beziehungen erst moralisch wertvoll machen. Nimmt eine ethische Theorie ungleiche Beziehungsformen zum Modell, so verfestigt sie, wie Hoagland argumentiert, eher Machtverhältnisse, als daß sie diese transzendiert, denn „wenn es darum geht, Entscheidungen ,zum Wohle anderer' zu treffen, zeigt sich Unterdrückung in vielgestaltiger Form". 45 Auch sei das in Noddings' Schema vorausgesetzte blinde Vertrauen des „Umsorgten-Teils" nicht angemessen in einer konkurrenzorientierten, hierarchischen Gesellschaft, in der die meisten Menschen in Beziehungen nach Kontrolle und Überlegenheit streben. Von feministischer Seite wurde aber auch umgekehrt argumentiert und der Moraltheorie vorgeworfen, sich zu ausschließlich an der Beziehung zwischen Gleichen zu orientieren und dadurch Elemente wie das affektive Eingehen auf den konkreten Anderen und die Berücksichtigung situativer Besonderheiten zu übersehen. Eben weil die Beziehung zwischen Gleichen in den mainstream-Theorien das Paradigma moralischer Interaktion bilde, würden diese an den moralischen Erfahrungen eines Großteils von Frauen vorbeigehen. Eine feministische Ethik müsse berücksichtigen, daß die das menschliche Leben konstituierenden Beziehungen nicht solche zwischen freien, gleichen und rationalen Individuen, sondern zwischen ungleichen und abhängigen Personen seien. Eine Moraltheorie, die von der Gleichheit der Subjekte und symmetrischen Verhältnissen ausgehe, riskiere, die moralischen Probleme, die sich auf der Ebene realer Ungleichverhältnisse und asymmetrischer Beziehungen stellten, nicht in den Griff zu bekommen. 46 42 Ebda., S. 185. 43 Houston (1990), S. 116. 44 Siehe Hoagland (1993), S. 182ff.; Tong (1993), S. 123-125, S. 127f. 45 Hoagland (1993), S. 179. 46 Vgl. Held (1993), Kap. 10 und Held (1987b), S. 125f.
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Nel Noddings'
Ethik des
Sorgens
Hoaglands Kritik ist aber als Warnung vor einer Einseitigkeit der feministischen EthikPerspektive berechtigt: Zur Moral gehört beides, die Idee symmetrischer Gleichheit wie auch die Berücksichtigung asymmetrischer Beziehungen.47 Die Idee der Symmetrie als Grundbedingung der Moral will die Gleichheit aller Moralsubjekte im Sinne gleicher Beachtung sicherstellen - Moral kann und darf selbstredend nicht das Spiegelbild realer Machtungleichheiten sein. Die Symmetrieklausel ernst zu nehmen bedeutet gerade, auch von anderen abhängige und auf deren Fürsorge und Zuwendung angewiesene Personen und Wesen einzubeziehen. Dieser Punkt wurde in vielen zeitgenössischen Moralansätzen nicht genügend oder gar nicht gesehen, und in der Ausleuchtung dieses Defizits liegt nicht zuletzt eine der wichtigen Leistungen der feministischen Kritik der Moraltheorie. Zum letzten Punkt, der Verkürzung des Phänomens der Moral: Aus philosophisch-systematischer Perspektive wirkt die Rede von einer Care-Ethik überzogen, denn eine umfassende ethische Theorie läßt sich nicht einzig auf der Haltung des Caring aufbauen. Insbesondere Gerechtigkeit und Gleichheit sind maßgebliche Standards der moralischen Bewertung unserer Beziehungen und als Elemente einer Moraltheorie unverzichtbar; diese Kriterien können aber evidenterweise nicht aus den Begriffen von Anteilnahme und Empathie gewonnen werden. Normativ-ethisch betrachtet entspricht Noddings' Ansatz einer Tugendethik. Auch von daher irritiert ihre rigorose Ablehnung moralischer Prinzipien, da eine Tugendmoral eher eine Ergänzung denn eine Alternative zu einer Prinzipien- oder Regelmoral darstellt.48 Argumentativ stützt Noddings ihre Absage an eine Prinzipienethik im wesentlichen auf eine Kritik des Universalisierungsprinzips, die aber viel zu undifferenziert ausfällt und insofern nicht überzeugt. Noddings wendet gegen das Universalisierungsprinzip ein, daß Situationen nicht als relevant ähnlich eingeschätzt werden können, ohne von den moralisch bedeutsamen Aspekten der konkreten Situation zu abstrahieren. Dieser in den kritischen Diskussionen der Verallgemeinerungsbedingung wiederholt durchgespielte Einwand bezieht sich aber nur auf eine bestimmte Fassung des Universalisierungsprinzips, dergemäß das Prinzip die Konsistenz moralischer Beurteilungen verlange: Wird eine bestimmte Handlung als gesollt (oder gut) bezeichnet, dann verlangt die Logik der „Sprache der Moral", alle relevant ähnlichen Handlungen gleich zu beurteilen.49 Davon sind zwei andere, mit der Theorie des Standpunkttauschs verknüpfte Fassungen des Universalisierungsprinzips zu unterscheiden. Die von der ersten Stufe, der Konsistenzbedingung, zu trennende zweite Stufe der Universalisierung verlangt, daß man sich an die Stelle der anderen Person versetzt und von daher überlegt, ob man einem bestimmten Grundsatz zustimmen kann. Die dritte Stufe der Universalisierung radikalisiert die Idee des Standpunktwechsels und legt fest, daß man sich an die Stelle der anderen Person mit deren Interessen und Präferenzen denkt.50 Nun ist unschwer zu sehen, daß in gewisser Weise Noddings' Forderung der Motivationsverschiebung - die Interessen der konkreten Anderen sind ausschlaggebend dieser dritten Stufe der Universalisierung entspricht. Ihre Ethik ist also nicht nur mit einer Form des Universalisierungsprinzips verträglich, sondern setzt dieses explizit voraus. Noch dazu überzeugt Noddings' Einwand gegen das Universalisierungsprinzip als Konsistenzfor47 Vgl. Krebs (1995). 48 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 7.2 dieser Arbeit. 49 Siehe Hare (1981), S. 7-10. 50 Vgl. Mackie (1981), S. 104-130.
Die Grenzen einer Care-Ethik
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derung nicht. Obwohl wir in der moralischen Beurteilung von Situationen immer von gewissen Aspekten absehen müssen, ist doch möglich festzustellen, ob sich Situationen in moralisch relevanter Hinsicht ähneln. Wir haben hinreichend Kriterien an der Hand, um Situationen zu identifizieren und zu klassifizieren: etwa als Fälle von Versprechen, Verträgen oder Formen der Instrumentalisierung anderer Personen. Wäre dies nicht möglich, so gäbe es auch das Phänomen der Moral nicht. Freilich können wir uns in der Beschreibung von Situationen irren, aber die diffizilen Probleme moralischen Urteilens machen die Forderung nach einer einheitlichen Anwendung unserer Kriterien des Moralischen nicht überflüssig. Der Verzicht auf die konsistente Beurteilung ähnlicher Fälle würde zu einer radikalen Subjektivierung moralischer Erfahrung und einer nicht mehr auffangbaren Beliebigkeit des Urteilens führen; denn wie Virginia Held richtig bemerkt: " T o argue that no two cases are ever alike is to invite moral chaos." 5 1 Noddings übersieht, daß zwischen Partikularität und subjektiver Vereinzelung ein Unterschied besteht. Die Details einer Situation berücksichtigen heißt noch nicht, Situationen für unvergleichbar zu halten. Noddings' Zurückweisung einer Prinzipienethik scheint auch insofern nicht gerechtfertigt, als Sorge-Relationen von Prinzipien bestimmt sein sollten, die Verpflichtungen und Rechte definieren. Begleitende moralische Grundsätze sind notwendig, damit eine sorgende Person den „Umsorgten-Teil" nicht kontrolliert, unterdrückt und dominiert und umgekehrt nicht ausgebeutet wird. Noddings' Verdienst besteht darin, daß sie den moralischen Gehalt von Sorge-Beziehungen überzeugend nachgewiesen hat. Dabei vernachlässigt sie aber andere moralische Werte, wie auch die rigorose Abgrenzung ihres Ansatzes von einer Prinzipienmoral insgesamt überzogen wirkt. Care braucht eine entsprechende Einbettung in eine Theorie der Moral - und diese fehlt bei Noddings. 51 Held (1987a), S. 119.
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Moralische Erfahrungen und asymmetrische Fürsorglichkeitsbeziehungen: Die feministische Kritik an den Vertragstheorien der Moral
Ausgehend von den Arbeiten Virginia Heids und Annette C. Baiers beschäftigt sich das folgende Kapitel mit dem Kontraktualismus. Heids und Baiers Ansätze überschneiden sich teils mit Noddings' Überlegungen zu einer Care-Ethik und provozieren ähnliche Bedenken, wie sie gegen Noddings vorgebracht wurden. Ich klammere aber in der Kritik diese Aspekte weitgehend aus und konzentriere mich auf Heids und Baiers Argumente gegen die Vertragstheorien.
4.1
Die Grenzen vertraglicher Übereinkunft (Virginia Held)
Mit der bereits in ihrem 1984 erschienenen Buch Rights and Goods1 entwickelten Idee, daß sich eine ethische Theorie an unseren moralischen Erfahrungen bewähren sollte, hat Virginia Held die Grundlagen für eine feministische Perspektive auf das Phänomen der Moral geschaffen, die sie in späteren Arbeiten sukzessive entwickelt.2 So betrachtet sie es als eine Grundbedingung einer feministisch transformierten Moraltheorie, daß die moralischen Erfahrungen von Frauen Berücksichtigung finden, womit sie eine der eingangs von uns formulierten Definitionsbedingungen feministischer Ethik aufgreift. Dies bedeutet, auch jene Bereiche zum Gegenstand ethischer Analyse zu zählen, in denen sich das „moralische Leben" von Frauen traditionell bewegt hat (etwa die Sphäre asymmetrischer Fürsorglichkeitsbeziehungen). Eine zweite Prämisse des in Rights and Goods dargelegten allgemeinen Zugangs wird gleichfalls für das Projekt einer feministischen Umformung der Moralphilosophie relevant. Held geht davon aus, daß eine auf einem einzigen grundlegenden Prinzip aufbauende monolithische Moraltheorie für eine angemessene Erfassung und Aufarbeitung der gesamten Bandbreite moralischer Fragen nicht ausreicht.3 Eine Differenzierung verschiedener Bereiche der sozialen Realität scheint ihr moraltheoretisch unumgänglich, denn die verschiedenen Segmente gesellschaftlichen Zusammenlebens werfen jeweils andere moralische Fragen auf, für deren Lösung unterschiedliche moralische Grundsätze und Kategorien erforderlich sind. Dieser Gedanke einer multiplen moralischen Theorie, die auf verschiedene Sphären zugeschnittene Prinzipien und Grundsätze vereinigt, bietet in der Tat eine Reihe von Anknüpfungsmöglichkeiten für einen feministischen Ethik-Ansatz. Eine so verstandene ethische Analyse kann sich theoretisch unvoreingenommener jenen Phänomenen zuwenden, die für Frauen von besonderer Bedeutung sind; da sie methodologisch nicht an eine spezifische Theorie gebunden ist, welche bereits eine bestimmte Situationswahrnehmung favorisiert, läßt 1 Held (1984). 2 Held (1987a), (1987b), (1990), (1993). 3 Held (1984), S. 2-6 und S. 21-38.
Die Grenzen vertraglicher Übereinkunft (Virginia Held)
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sie mehr Raum für die Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte und Dimensionen eines Problems und nicht zuletzt die Sicht der betroffenen Subjekte. Der Begriff der moralischen Erfahrung gewinnt erst vor dem Hintergrund eines Bildes der Moraltheorie Bedeutung, demgemäß die Grundsätze einer ethischen Theorie und die moralischen Einzelurteile in einem engen Zusammenhang wechselseitiger Bestätigung stehen: "Moral experience is the experience of consciously choosing to act, or to refrain from acting, on grounds by which we are trying conscientiously to be guided. Moral experience is the experience of accepting or rejecting moral positions for what we take to be good moral reasons or well-founded moral intuitions or on the basis of what we take to be justifiable moral feelings. Moral experience is the experience of approving or disapproving of actions or states of affairs of which we are aware and of evaluating the feelings and the relationships we are in." 4 Eine Moraltheorie und die von ihr abgedeckten ethischen Positionen haben sich nach Held an jenen Urteilen zu bewähren, die Personen in bestimmten Situationen auf der Basis ihrer um Unvoreingenommenheit bemühten moralischen Reflexionen treffen. Philosophisch werden moralische Einzelurteile meist als das Ergebnis einer direkten Anwendung einer bestimmten Theorie auf konkrete Einzelfalle gesehen. Aber unsere moralischen Wertungen sind, wie Held betont, nicht völlig „theoriebestimmt". Moralische Überlegung motiviere uns in gewissen Situationen sehr wohl zu einer Veränderung der theoretischen Standpunkte. So würden etwa viele Menschen in dem Glauben aufwachsen, daß es moralisch vertretbar und für ihre Gesundheit notwendig sei, Fleisch zu essen. Dennoch können sie - etwa nach genaueren Informationen über das Halten und Töten von Tieren in Industriegesellschaften - zu der Auffassung gelangen, daß das Essen von Fleisch unmoralisch ist.5 Held gesteht also moralischen Erfahrungen in gewissen Fällen Priorität vor akzeptierten Grundsätzen zu. Moral ist für sie ein Prozeß ständiger Korrektur der Theorie im Lichte moralischer Erfahrung wie umgekehrt der Revision unserer Einzelurteile anhand der Theorie. Eine solche Auffassung von Moral unterscheidet sich von einem konstruktivistischen Ansatz, der moralische Prinzipien durch erfahrungsunabhängige Standards als „korrekt" ausweisen will. Doch ohne Rückbindung an die Erfahrungsebene läuft eine Moraltheorie Gefahr, die eigene Position zu verabsolutieren. Wenn wir davon ausgehen, daß moralische Grundsätze nicht ein für allemal als „wahr" gelten, können wir auf deren Überprüfung anhand ihrer konkreten Konsequenzen in der Tat nicht verzichten. Wir verfügen über keine andere Testbasis für moralische Theorien als unsere wohldurchdachten moralischen Einzelfallüberzeugungen. Moralische Konstruktivisten stehen nicht direkt aus der Theorie abgeleiteten moralischen Urteilen skeptisch gegenüber. Sie sehen in ihnen nicht mehr als jene durch Erziehung, Sozialisation, aber auch Vorurteile geprägten konventionellen moralischen Überzeugungen, die wir zufällig erworben haben.6 Held teilt diese Meinung nicht, und ich meine mit gutem Grund: Es gibt durchaus Kriterien, die uns ermöglichen, gut bestätigte und begründete moralische Einzelurteile von weniger abgesicherten zu unterscheiden.7 Paradigmatisch für diese Sicht des Zusammenhangs von Theorie und Urteil ist offensicht4 5 6 7
Held (1993), S. 24. Ebda., S. 25f. Paradigmatisch dafür sind die Positionen von Utilitaristen wie Peter Singer und James Rachels. Vgl. etwa Rachels (1986), S. 129-134 und S. 145-150. Siehe Held (1984), S. 42ff.
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Feministische
Kritik an Vertragstheorien
der Moral
lieh Rawls' Konzeption des „Überlegungsgleichgewichts" - moralische Prinzipien und Grundsätze gelten nur dann als begründet, wenn die sich daraus ergebenden Konsequenzen mit unseren wohlerwogenen moralischen Einzelurteilen übereinstimmen.8 Held definiert den Bereich der wohlerwogenen moralischen Einzelurteile aber weiter als Rawls. Während Rawls etwa nur von allen Emotionen freie Urteile als Testbasis zuläßt, betont Held explizit die moralische Relevanz von Urteilen, die auf Gefühlen basieren. Denn eine Reihe moralischer Gefühle - sie erwähnt Empathie, Mitgefühl, Sorge für andere und Abscheu vor Gewalt - spielten eine unverzichtbare Rolle bei der Entwicklung angemessener moralischer Positionen. Zweifellos disqualifizierten sich eine Reihe von Gefühlen vom moralischen Standpunkt aus; aber dies rechtfertigt für Held nicht den Ausschluß aller Empfindungen aus dem Bereich der Moral: "An adequate moral theory should be built on appropriate feelings as well as on appropriate reasoning."9 Held unterstreicht, daß nicht hypothetische, sondern konkrete moralische Erfahrungen die Basis für die Überprüfung von Theorien bilden sollten. Die meisten moralischen Theorien würden auf hypothetische Erfahrungen Bezug nehmen, da sie diesen größere Unvoreingenommenheit zugestehen. So lautet eine bekannte Forderung, die Akzeptabilität moralischer Grundsätze daran zu prüfen, ob wir deren Konsequenzen auch zustimmen könnten, wenn wir uns fiktiv an die Stelle einer anderen Person versetzten. 10 Eine wirklich unparteiliche Beurteilung moralischer Prinzipien verlange das hypothetische Durchspielen der Perspektiven aller Betroffenen. Held findet es hingegen wenig überzeugend, hypothetischen moralischen Überlegungen grundsätzlich epistemische Priorität vor den faktischen moralischen Erfahrungen einzuräumen. Sie führt folgendes Beispiel an, wo gerade die konkrete Erfahrung den fiktiv entwickelten Standpunkt widerlege: Aphra und Benno sind unterschiedlicher Meinung darüber, ob Steuererhöhungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gerechtfertigt sind oder nicht. Aphra, die arbeitslos ist, hält dies für legitim, während der berufstätige Benno es ablehnt. Beide sind willens, ihre Urteile zu universalisieren, d. h. beide würden diese akzeptieren, falls sie sich in der Situation der jeweils anderen Person befänden. Angenommen, die Lebensumstände der beiden verändern sich nach einiger Zeit. Aphra findet Arbeit, Benno verliert seinen Job. Da Aphra die Erfahrung der Arbeitslosigkeit kennt, hält sie an ihrem ursprünglichen moralischen Urteil fest, während Benno seine Meinung revidiert. Heids kritische Frage: "Should we really suppose that the judgments these persons have arrived at on the basis of their actual situations are more suspect than the allegedly impartial judgments they thought they would arrive at on the basis of what they imagined they would hold if they were in the other person's Situation?"11 Mit ihrer Kohärenzkonzeption von Moral, die Theorie und konkrete moralische Erfahrung zueinander in Beziehung setzt, formuliert Held die Rahmenbedingungen für eine feministi8 Vgl. Rawls (1975), S. 37-39 und S. 68-71. Für wohldurchdachte moralische Urteile gelten folgende Kriterien: Der Beurteilerin selbst dürfen aus den Urteilen, die sie fallt, keine Vor- und Nachteile erwachsen; die Urteile sollen tatsächliche Interessenkonflikte und nicht irgendwelche hypothetischen Situationen betreffen; der Beurteilung muß eine genaue Klärung der Fakten vorangehen, in der alle Parteien Gelegenheit erhalten, ihre Sicht der Dinge darzulegen, und die Urteile sollten mit innerer Gewißheit gefällt werden. Siehe Rawls (1976), S. 125-127 und S. 130f. 9 Held (1993), S. 30. 10 Vgl. Hare(1981), S. 108ff. 11 Held (1984), S. 46.
Die Grenzen vertraglicher Übereinkunft (Virginia Held)
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sehe Sicht auf die Moraltheorie, mit welcher sie der versteckten Privilegierung des „männlichen" Standpunkts ein Ende zu setzen versucht. Ungeachtet aller formalen Gleichheitsbekenntnisse bleibt es auch in modernen Industriegesellschaften ein auffälliges Faktum, daß die Arbeit innerhalb der Familie, also die Betreuung und Erziehung von Kindern und die Bereitstellung einer alltagsweltlichen Infrastruktur, nach wie vor überwiegend Aufgabe von Frauen ist. Aufgrund dieser historisch eingebürgerten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung konzentrierten sich im Laufe eines gesellschaftlich kontinuierlich vermittelten Sozialisationsprozesses die moralischen Erfahrungen von Frauen und Männern auf getrennte Bereiche: Frauen wurden von den Problemen des öffentlichen Bereichs - Regierung, Gesetzgebung und Machtausübung - ferngehalten, und umgekehrt zählte die moralische Dimension von Familienbeziehungen, vor allem die Sorgeleistungen für Kinder und ältere Familienangehörige, nicht zum zentralen Erfahrungsbestand von Männern. Diesen Umstand, der auf theoretischer und praktischer Ebene bis heute nachwirkt, habe die Moraltheorie, wie Held meint, zu berücksichtigen. Sie könne nicht länger ungebrochen am Postulat der „Geschlechtsneutralität" festhalten, denn die Geschlechterdifferenz bedinge eine Unterschiedlichkeit der Sichtweisen: "Although vast amounts of moral experience are open to all human beings who make the effort to become conscientious moral inquirers, the contexts in which experience is obtained may make a difference. It is essential that we avoid taking a given moral theory, such as a Kantian one, and deciding that those who fail to develop toward it are deficient, for this procedure imposes a theory on experience, rather than letting experience determine the fate of theories, moral and otherwise."12 Die angemessene Analyse moralischer Fragestellungen setze eine genaue Einschätzung dessen voraus, ob bei der Bewertung theoretischer Lösungen den Erfahrungen von Frauen tatsächlich das gleiche Gewicht zukomme wie den Erfahrungen von Männern. Durch die für die Moderne charakteristische Vorrangstellung des öffentlichen Bereichs erlangte die Vertragsidee in der politischen Philosophie wie der Moraltheorie einen zentralen Stellenwert. Darauf führt Held einen Gutteil der Einseitigkeit moderner Moralphilosophie zurück, denn das Vertragsmodell reflektiere nur die für die öffentliche Sphäre typischen Beziehungen zwischen gleichgestellten souveränen Individuen, die freiwillig Übereinkommen zur wechselseitigen Interessenabsicherung treffen. Am Beispiel Rousseaus demonstriert sie die enge Verbindung von Vertragsmodell und Öffentlichkeit. 13 Rousseau gestehe einerseits allen Vertragssubjekten gleichen Status zu, andererseits verfestige er die Ungleichstellung der Frau dadurch, daß er für das Verhalten von Frauen und Männern unterschiedliche Normen für verbindlich erklärt. Dies zwingt ihn nach Held zu einer Ausgrenzung von Frauen aus der Menge vertragsfähiger Individuen und einer Zuordnung der Geschlechter zu verschiede-
12 Held (1987a), S. 113. 13 Siehe Held (1987b), S. 117. Während Rousseau im Gesellschaftsvertrag die Idee der Gleichheit aller voraussetzt, stellt das berühmt-berüchtigte 5. Buch des Emile unmißverständlich klar, daß mit den freien und gleichen Bürgern des Sozialvertrags nur Männer gemeint sind. Wenngleich Rousseau eingangs zugesteht, daß abstrahiert vom Geschlecht Frauen dieselben Bedürfnisse und Fähigkeiten wie Männer haben („die Maschine ist auf gleiche Weise konstruiert, die Einzelteile sind die gleichen, die Funktionen sind die gleichen", S. 719), so erklärt er den Faktor des Geschlechts zu dem Moment, welches die Ungleichheit der Frau im Sinne der Unterlegenheit gegenüber dem Mann begründe - „die Frau (ist) dazu geschaffen, zu gefallen und sich zu unterwerfen". Rousseau (1762b), S. 721. Zum Frauenbild bei Rousseau vgl. auch Steinbrügge (1987), Kap. 5; Nagl-Docekal (1994a).
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Feministische Kritik an Vertragstheorien der Moral
nen Bereichen, nämlich der privaten Sphäre einerseits und der öffentlichen andererseits. Jede Ausdehnung des Vertragsgedankens auf den familiären Bereich hätte eine radikale Veränderung der Familienstruktur bedeutet, nämlich die kooperative Aushandelung der Aufteilung häuslicher Lasten und Pflichten - ein für Rousseau wie alle anderen prominenten Vertragstheoretiker der Neuzeit völlig abwegiger Gedanke. Heids Kritik richtet sich auch gegen jene zeitgenössischen Vertragsdenker, die Moral als eine Kooperationsangelegenheit zwischen aufgeklärten rationalen Egoisten begreifen. In diesem Modell werde der moralische Stellenwert und Gehalt von nicht in dieses Schema preßbaren Verhaltensformen schlicht übergangen und ignoriert. Eine wesentliche Rolle in dem Angleichungsprozeß der Moral an ein bargaining-game spielt die Entlehnung des Rationalitätsmodells aus der Ökonomie, welches rationales Handeln mit der Maximierung subjektiver Präferenzerfüllung und der Optimierung des persönlichen Nutzens gleichsetzt. Ein im Sinne des homo oeconomicus „rationales" Individuum befolgt die Regeln der Moral, weil es sich davon langfristig gesehen den größtmöglichen Vorteil verspricht. Held argumentiert, daß dieses Verständnis moralischen Handelns gerade jenen Beziehungsformen nicht gerecht wird, die im Grunde die Basis unseres sozialen Lebens bilden. Die Übertragung des Vertragsgedankens auf alle Bereiche menschlicher Aktivität bedeute, Bindungen mit verhandelbaren Objekten gleichzusetzen und eine Reihe von Interaktionsformen auszugrenzen: Beziehungen der Anteilnahme, der Einfühlung, der Sorge wie auch Freundschaft und Liebe blieben mit der Vertragsidee unvereinbar. Vom Standpunkt von Frauen aus präsentierten sich die Grundstrukturen unseres Zusammenlebens in neuem Licht; nicht Vertragsbeziehungen, die nur einen kleinen Teil des sozialen Spektrums charakterisierten, sondern der MutterKind-Beziehung komme eine gesellschaftlich tragende Rolle zu: "When we bring women's experience fully into the domain of moral consciousness, we can see how questionable it is to imagine contractual relationships as central or fundamental to society and morality. They seem, instead, the relationships of only very particular regions of human activity. The most central and fundamental social relationship seems to be that between mother or mothering person and child. It is this relationship that creates and recreates society. It is the activity of mothering which transforms biological entities into human social beings. Mothers and mothering persons produce children and empower them with language and symbolic representations. Mothers and mothering persons thus produce and create human culture." 14 Moralphilosophen haben der Mutter-Kind-Beziehung die moralische Bedeutsamkeit meist aufgrund der stillschweigend unterstellten Annahme abgesprochen, daß sie als eine auf Instinktverhalten basierende „natürliche" Form der Beziehung dem Bereich der Natur und nicht jenem der Moral zuzuordnen ist.15 Da die Geburt, sofern sie überhaupt zum Gegenstand 14 Held (1987a), S. 114; vgl. auch Held (1987b), S. 113 und zur Bedeutsamkeit von Betreuungsbeziehungen auch Flanagan/Jackson (1993), S. 81 f. 15 Dies gilt etwa auch, wie Elisabeth Conradi unterstreicht, für Hans Jonas, einen der wenigen Denker, welcher der Eltern-Kind-Beziehung als dem „zeitlosen Urbild aller Verantwortung" (Jonas 1984, S. 234) einen moraltheoretischen Stellenwert einräumt und insofern asymmetrische und nicht-reziproke Verhältnisse als moralisch paradigmatisch betrachtet. Elisabeth Conradi arbeitet sehr schön die Unterschiede zwischen der feministischen Interpretation „mütterlichen Denkens" und der Position von Jonas heraus. Da Jonas die Eltern-Kind-Beziehung nur im Kontext des traditionellen Geschlechterverhältnisses sieht, schreibt er unter der Hand der Frau eine „naturgegebene" Verantwortlichkeit für das Kind und dessen Betreuung zu. Siehe Conradi (1994), S. 70-73.
Die Grenzen vertraglicher
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theoretischer Reflexion wurde, im westlichen Denken immer als etwas „Natürliches" galt, wurde durch die automatische Unterstellung einer Kontinuität von Geburt und nachfolgender Betreuung auch das Aufziehen von Kindern stärker biologistisch als sozial konnotiert. Held zufolge ist aber die Geburt um nichts weniger eine soziale Aktivität und kulturelle Praxis wie das Erziehen von Kindern.16 Nicht zuletzt an diesem Punkt wird deutlich, wie tief die Prämissen der traditionellen Geschlechtermetaphysik abendländischen Denkens in die Moralphilosophie hineinreichen, denn die Zuordnung des „Weiblichen" zur Natur stellt eine Spielart jener klassischen und miteinander verschränkten Dualismen von „Gefühl/Vernunft", „Natur/Kultur" und „Privatheit/Öffentlichkeit" dar, mit denen die Begriffe „weiblich" und „männlich" jeweils in einen symbolträchtigen und die Minderbewertung von Frauen konnotierenden wie gleichzeitig philosophisch absichernden Zusammenhang gesetzt wurden. Sechs Unterschiedlichkeiten sind es, die Held zwischen der Eltern-Kind-Beziehung und einem Vertragsverhältnis herausarbeitet.17 Eine erste Differenz liege darin, daß die MutterKind-Relation im Gegensatz zu einer vertraglichen Vereinbarung nicht freiwillig sei. Das Kind könne sich nicht für die Beziehung entscheiden, sie könne nur im Laufe seines Erwachsenwerdens graduell zu einer freiwilligen werden. Auch für die Mutter beschränke sich die Freiwilligkeit auf die grundsätzliche Entscheidung für das Kind. Entschließe sich eine Frau zum Austragen einer Schwangerschaft, so resultierten daraus spezielle Pflichten und Verantwortlichkeiten. Wie Held betont, sind die Verpflichtungen im Rahmen von Eltern-Kind-Beziehungen - daß Eltern für die Kinder sorgen und sich später die Kinder um die betagten Eltern kümmern - nicht politischen und ökonomischen bargaining-Situationen vergleichbar. Denn Eltern, wie Held mit Bezug auf einschlägige empirische Untersuchungen anfügt, sorgen nicht deswegen für ihre Kinder, um im Sinne strategischer Überlegung reziproke Gegenleistungen erwarten und fordern zu können.18 Ein zweiter Unterschied betreffe die Qualitäten der Permanenz, der Dauerhaftigkeit und Nicht-Ersetzbarkeit. Im Vertragsmodell könne über alle Güter analog Marktartikeln eine 16 Siehe Held (1990), S. 90ff. Wie allgemein bekannt, sind die Begriffe „Natur" und „Natürlichkeit" im Entwicklungsgang der abendländischen Ideengeschichte immer wieder verwendet worden, um die Diskriminierung von Frauen zu untermauern; eine unrühmliche Tradition der Frauenverachtung, die in der modernen Soziobiologie eine weitgehende Fortsetzung erfährt. Da die Interpretation biologischer Fakten eng verwoben bleibt mit einer dem Bereich der Sozialtheorie entlehnten Begrifflichkeit, scheint bezogen auf den humanen Bereich eine klare Identifikation des „Natürlichen" ohnehin nicht möglich; der Begriff der „Natur" ist und bleibt eine soziale Konstruktion. Die in der modernen Soziobiologie nach wie vor übliche Auszeichnung gewisser sozialer Praktiken als „evolutionär" gebildet und somit „natürlich" beruht letztlich auf nichts als einer je nach ideologischen Zwecken einsetzbaren petitio principii: Mithilfe von Interpretationen des „Natürlichen", die auf nichts als bestimmten sozialphilosophischen Vorstellungen beruhen, werden dann jene Theorien des Sozialen „biologistisch" gerechtfertigt, die zuvor in die Natur projiziert wurden. Zur Kritik der Soziobiologie vgl. List (1993c) und (1993d). Vgl. auch Jaggar (1984). 17 Siehe Held (1987b), S. 126ff. Wenn im folgenden von der „Mutter-Kind-Beziehung" die Rede ist, sollte mitbedacht werden, daß Held in dem Zusammenhang gleichfalls den Begriff „mothering person" verwendet, also die Relation zwischen Kind und den primären Bezugs- und Betreuungspersonen (dies können auch Männer sein!) im Blick hat. Vgl. Held (1993), S. 198. 18 Ebda., S. 127.
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Feministische Kritik an Vertragstheorien der Moral
Übereinkunft getroffen werden, und die Güter seien austauschbar und gegeneinander aufrechenbar. Genau dies gilt nach Held nicht für Familienrelationen. Weder entsprechen die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ersetzbaren Tauschobjekten, noch ist ihnen die für Marktartikel typische instrumentelle Betrachtungsweise angemessen. Es könnte, so Held, für unsere Gesellschaft insgesamt bedeutsam sein, stärker auf nicht ersetzbare Güter zu reflektieren.19 Für die Mutter-Kind-Beziehung - ein dritter Unterschied - ist nach Held der in Vertragstheorien übliche Begriff von Gleichheit unangemessen. In der Relation zu Kindern werde Gleichheit im Sinne der gleichen Berücksichtigung von Personen, aber nicht in der Bedeutung gleicher Rechte und Ansprüche relevant. Wesentliche Qualitäten von Familienbeziehungen wie Vertrauen und gegenseitige Zuneigung geraten laut Held aus dem Blickfeld, wenn man nur auf die Gewinne und Verluste von Individuen achtet; die ausschließliche Konzentration auf gleiche Rechte verschleiere diese wichtigen beziehungsorientierten Werte von Gesellschaften. Eine vierte Differenz berührt den Punkt, daß ein Vertragsansatz Respekt und Achtung für andere mit Nicht-Einmischung gleichsetze, was nicht für den Umgang mit Kindern gelte: Ein sich selbst überlassener Säugling würde verhungern und ein Kleinkind sich sofort verletzen.20 Das „Robinson-Crusoe"-Image rational handelnder Personen, das Vertragstheoretiker als paradigmatisch erachten, entspreche insgesamt einer verzerrten Wahrnehmung sozialer Beziehungen, gerade aber jener zu Kindern. Nach Held hätte es bedeutsame politische Konsequenzen, wenn wir das, was Kinder benötigen, als ein allgemeines Indiz für unsere Schuldigkeiten anderen gegenüber betrachteten: "We ought to acknowledge that our fellow Citizens, and fellow inhabitants of the globe, have moral rights to what they need to live - to the food, shelter, and medical care that are the necessary conditions of living and growing - and that when the resources exist for honoring such rights there are few excuses for not doing so." 21 Vertragstheorie und Eltern-Kind-Beziehung - eine fünfte Abweichung - differierten auch in ihrer Sicht von Privatheit. Relationen zu Kindern sind dichte Beziehungsgefüge, die wenig Raum für Privatheit lassen. Auf diesem Hintergrund formiert sich für Held ein anderes Selbstbild als jenes des atomistisch vereinzelten Subjekts, das den Spielraum für wohlüberlegte Übereinkünfte mit anderen in mißtrauischer Sorgfalt austestet. Ein sechster Unterschied betrifft das Verständnis von Macht. „Macht" wird für gewöhnlich als eine Form der Dominanz einer Person über eine andere interpretiert - Macht ist ein Mittel, mit dem eine Person einer anderen ihren Willen aufzwingt. Im Rahmen der MutterKind-Beziehung wird, wie Held herausarbeitet, eine andere Sicht von Macht relevant, die nicht auf einer Ebene mit Beherrschung und Unterdrückung liege; die Betreuungsperson setze ihre Überlegenheit vielmehr zur Unterstützung und Förderung der Entwicklung des Kindes ein, so daß dieses seine Fähigkeiten und Stärken ausbilde und mehr Kontrolle über
19 Hier ergibt sich eine Verbindung zur ökologischen Ethik. Zu den feministischen Zugängen zur Naturethik vgl. Plumwood (1991), Curtin (1991) und kritisch King (1991). Eine elaborierte Kritik an der „Konsumentenperspektive" auf gesellschaftliche Güter und Werte findet sich in Anderson (1993). 20 Siehe Held (1987b), S. 129. 21 Ebda.
Die Grenzen vertraglicher Übereinkunft (Virginia Held)
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sein Leben erlange. Die für die Erziehung von Kindern eingesetzte Macht ist, so Held, von anderer Qualität als der „Wille zur Macht".22 Heids Versuch, die in die Moraltheorie hineinreichenden Abgrenzungen von öffentlicher und privater Sphäre aufzubrechen und den gesellschaftlichen wie auch den moralischen Stellenwert einer klassischerweise als „privat" kodierten Beziehung ins Blickfeld zu rücken, hat erhebliche Implikationen. Normative Handlungsvorgaben stehen in einem komplexen Zusammenhang wechselseitiger Verstärkung von gesellschaftlichem Verhalten und theoretischen Konstruktionen. Zum einen werden die theoretischen Handlungsmodelle nicht völlig unabhängig von existierenden sozialen Strukturen und möglichen Verhaltensweisen entwickelt, zum anderen wirken sie zurück auf die empirischen Gegebenheiten und prägen und verfestigen ein entsprechendes Selbstverständnis der Individuen. Es macht einen erheblichen Unterschied und hat spezifische Konsequenzen für die Verfassung einer Gesellschaft, ob sich ihre Mitglieder vorrangig am Modell von egoistischen Nutzenmaximierern orientieren, die nur die langfristige Verfolgung ihres Eigeninteresses zur Kooperation mit anderen zwingt, oder ob sie von einem Beziehungsverständnis ausgehen, nach welchem kooperative Interaktionen auch auf einem Interesse am Wohlergehen anderer beruhen. Auch Alison M. Jaggar betont das mit der Verlagerung der Aufmerksamkeitsrichtung auf den Reproduktionskontext und die dort maßgeblichen Beziehungsformen verknüpfte Schwinden der Bedeutsamkeit des Kontraktualismus. Die Sozialvertragstheorien beziehen, wie sie bemerkt, einen Gutteil ihrer Überzeugungskraft aus der Plausibilität der Fragen, als deren Antwort sie sich verstehen. Aber genau diese stellten sich überhaupt erst unter der Prämisse des „politischen Solipsismus", dergemäß Individuen auf sich selbst zurückgeworfenen und miteinander in Konflikt und Konkurrenz befindlichen atomistischen Subjekten gleichen. Verschieben sich die Akzentuierungen auf ein Anerkennen der im Aufziehen von Kindern notwendigen Momente wie Fürsorglichkeit, Nähe und Bindung als zentralen Bestandteilen sozialen Lebens, so ändere sich auch das theoretische Bild: Nicht Gemeinschaftlichkeit und Kooperation würden zum puren Ausnahmefall, sondern die Existenz von Egoismus, Konkurrenz und Konflikt gelten als problematisch und erklärungsbedürftig.23 Die herkömmlichen Moralansätze konfrontieren uns nach Held mit einer nicht akzeptablen Alternative: entweder durch die Konzentration auf abstrakt-universelle Prinzipien die besonderen Anderen aus dem Blick zu verlieren oder die realen Individuen nur als egoistische Interessenverfolger wahrzunehmen. Ein Anliegen von Moral sieht sie nicht zuletzt darin, uns für die Präsenz konkreter Anderer, deren Verletzbarkeiten, Abhängigkeiten und Bedürfnisse zu sensibilisieren; Dimensionen, die weder in einer Kantischen Theorie noch im Kontraktualismus berücksichtigt würden. Betrachte man die mit der Mutter-Kind-Beziehung verknüpfte sorgend-anteilnehmende Haltung als moralisch wertvoll und als paradigmatisch für moralische Verantwortung, so verändere sich das Verständnis von Ethik. Maßgeblich werde eine Moral, in der die Konzentration auf besondere Andere und deren Wohlergehen im Feinspektrum moralischer Bindungen Platz finde, und dafür biete ein kontraktualistisches Moralverständnis keine Anknüpfungsebene.24 22 Ebda., S. 131. Eltern-Kind-Beziehungen, in denen sich Macht in Form von Unterdrückung findet, betrachtet Held als degenerierte Formen dieses Verhältnisses. 23 Siehe Jaggar (1983), S. 41. 24 Siehe Held (1987b), S. 134.
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4.2
Feministische Kritik an Vertragstheorien der Moral
Das Andere der Gerechtigkeit: Vertrauen und Empathie (Annette C. Baier)
"Ethics is a polyphonic art form, in which the echoes of the old voices contribute to the sound of all the new voices." 25 Mit diesem Bild von Ethik als einem Zusammenspielen von altbekannten und neuen Perspektiven endet Annette C. Baiers Essaysammlung Moral Prejudices26, die ihre wichtigsten Arbeiten zur Moralphilosophie versammelt. Obwohl sich die Argumentationen der einzelnen Essays nicht zu einem in sich geschlossenen System fügen Baier geht es nicht um die Entwicklung einer umfassenden Theorie der Moral - , sind sie alle durch den roten Faden einer thematischen Schwerpunktsetzung verbunden, die sich als eine Auseinandersetzung mit Verletzbarkeit, Vertrauen und Mißtrauen, mit Beziehungen der Gleichheit und Ungleichheit, mit Kooperation und Isolation charakterisieren läßt.27 Wie Held moniert Baier, daß die traditionellen Ansätze die moralischen Erfahrungen von Frauen ignorieren. Eine angemessene ethische Theorie müsse berücksichtigen, daß zum Bereich der moralischen Subjekte Frauen und Männer, aber auch auf die Unterstützung anderer angewiesene und besonders leicht verletzbare Personen wie Kinder, alte, hilflose und behinderte Menschen zählen. Auf zwei Ebenen wird laut Baier die bislang vernachlässigte Beziehung von Frauen und Moraltheorie deutlich: jener der konkreten moralischen Urteile von Frauen und der theoretischen Beiträge von Philosophinnen zur Ethik. Die moralphilosophischen Untersuchungen von Frauen28 unterscheiden sich ihrer Meinung nach in Ton, Stil und inhaltlicher Akzentsetzung tendenziell von den Entwürfen männlicher Kollegen - nicht zuletzt darin, daß mit dem traditionellen Begriff der Tugenden assoziierte moralische Phänomene wie Mitgefühl, Integrität und Aufrichtigkeit Beachtung erfahren und in ihrer Bedeutung für menschliches Zusammenleben analysiert werden. Sie bemerkt eine verstärkte Hinwendung zu moralischen Problemen, die gezielt die Frage ansprechen, wie wir leben und unsere Beziehungen zu anderen gestalten sollen. Moralphilosophinnen setzen offenbar etwas andere Gewichtungen und gehen von einem rekonstruktiven Ethik-Verständnis aus, das Baier folgendermaßen umreißt: "In its widest sense a moral theory is simply an internally consistent fairly comprehensive account of what morality is and why it merits our acceptance and support." 29 Theoretisch steht David Hume ihr deutlich näher als Immanuel Kant, was sich in ihrer kategorialen Prioritätenskala niederschlägt. Empathie, Zuwendung, Vertrauen und Liebe betrachtet Baier als maßgeblicher denn Regeln und Prinzipien. Durch Gilligans Kritik an Kohlberg sieht sie sich in ihrer kritischen Haltung gegenüber Kant bestätigt. Bei einer Anwendung des Kohlbergschen Stufenschemas auf Humes Moralkonzeption würde Humes Position auf gleicher 25 Baier (1994d),S. 312. 26 Baier (1994a). Die Darstellung von Baiers Ansatz basiert auf diesem Buch, da es die relevanten älteren wie auch aktuellen Arbeiten enthält. 27 Baier im Vorwort zu ebda., S. XIII. 28 Sie erwähnt die Arbeiten von Philippa Foot, Elizabeth Anscombe, Iris Murdoch, Susan Wolf, Claudia Card, Gabriele Taylor, Alison M. Jaggar und Virginia Held. 29 Baier (1985b), S. 3. So stellt Baier fest, daß Moralphilosophinnen sich etwa der Anwendung der Spiel- und Entscheidungstheorie gegenüber reserviert zeigen, was sich nicht mit einem Mangel an entsprechenden Fähigkeiten erklären lasse, sondern nur einer Skepsis, die aus einem anderen Verständnis von Moral resultiere.
Vertrauen und Empathie (Annette C. Baier)
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Stufe wie die moralischen Urteile von Frauen rangieren, was nahelege, daß Humes Theorie den moralischen Erfahrungen und Einsichten von Frauen weit näher komme als jene Kants.30 Einen Hauptangriffspunkt von Baier bilden die Vertragstheorien der Moral, wobei sich ihre Kritik in Übereinstimmung mit jener Virginia Heids sowohl gegen die an Kant anknüpfende Rawlssche Variante einer „liberalen Moralkonzeption" wie auch gegen den auf dem rationalen Selbstinteresse basierenden und das methodische Instrumentarium der Spiel- und Entscheidungstheorie nützenden individualistischen Kontraktualismus richtet. Ihr Urteil über den rational-individualistischen Ansatz fällt deutlich genug aus, wenn sie mit Berufung auf Ian Hacking bemerkt, die Beschäftigung mit Gefangenendilemmata sei "a big boys' game, and a pretty silly one too".31 Baier ist sich wohl der Ironie bewußt, daß eine Gruppe, die dem Liberalismus so viel verdankt wie die Frauen, gleichzeitig ein so ambivalentes Verhältnis zur moralphilosophischen wie auch politischen Dimension dieser Theorie hat.32 Sie führt diese Zwiespältigkeit darauf zurück, daß liberale Ansätze sich im wesentlichen auf Gleichheit und Gerechtigkeit konzentrieren, aber die gerade aus der Sicht von Frauen wichtigen und moralisch relevanten Aspekte sozialer Beziehungen übergehen. Eine auf den Begriff der Gerechtigkeit zugeschnittene und primär am Grundsatz gleicher Rechte orientierte liberale Moraltheorie, die nur „Verkehrsrichtlinien" eines einigermaßen funktionierenden gesellschaftlichen Zusammenlebens kreiere, decke keineswegs die Bandbreite von Moralität ab und ignoriere vor allem die moralische Perspektive von Frauen.: "Such a conception presupposes both an equality of power and a natural separateness from others, which are alien to women's experience of life and morality." 33 Neben Gerechtigkeit und Nicht-Einmischung seien auch affektive Haltungen und Interesse am Wohl der anderen wesentlich - also jene Werte, die durch Gilligans Arbeiten wieder ins moraltheoretische Bewußtsein gerufen wurden. Das mit einer liberalen Moral verknüpfte Prinzip der Gleichbehandlung definiere nur einen formalen Rahmen für das Verhältnis zu Mitmenschen; was die über formale Kriterien hinausreichende angemessene Behandlung anderer Personen und unsere moralischen Schuldigkeiten ihnen gegenüber betrifft, erfahren wir so gut wie nichts. Eine solche Theorie hat nach Baiers Ansicht bestimmten Formen des Leids nur wenig entgegenzusetzen: Menschen „können ebensogut einsam und selbstmordgefährdet sein, ihre Arbeit apathisch verrichten, dem politischen Prozeß gleichgültig gegenüberstehen, ihr Leben sinnlos finden und nicht den geringsten Wunsch haben, in diese sinnlose Welt Kinder zu setzen. Ihre Rechte und die Achtung vor diesen Rechten vertragen sich ziemlich gut mit sehr großem Elend, mit Elend, das seine Ursachen nicht nur in persönlichem Pech und psychischen Krankheiten hat, sondern in sozialer und moralischer Verarmung." 34 Der Begriff der Gerechtigkeit, „die vorsichtige, argwöhnische Tugend der Gerechtigkeit"35, müsse in gemeinschaftsorientierten Haltungen und sozialen Idealen eine
30 Siehe Baier (1993), S. 106ff. Da im dritten Teil dieser Arbeit Baiers Hume-Interpretation ausführlich zur Sprache kommt, wird hier auf eine eingehendere Darstellung verzichtet. 31 Baier (1985b), S. 2. Vgl. zur Erörterung des Gefangenendilemmas Kap. 4.4. 32 Vgl. Baier (1994e),S. 223. 33 Baier (1986), S. 116; vgl. auch (1994e), S. 231. 34 Baier (1994e), S. 229. 35 Ebda., S. 226. Baier greift hier bewußt auf Humes Charakterisierung ("the cold jealous virtue of justice" im englischen Original) zurück. Vgl. Hume (1751), S. 101.
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Feministische Kritik an Vertragstheorien der Moral
Ergänzung finden. Baiers Kritik liegt hier auf einer Linie mit den Einwänden kommunitaristischer Philosophen gegen den Liberalismus. Denn im wesentlichen reduzieren sich die kommunitaristischen Überlegungen auf den Punkt, daß Gemeinschaftswerte notwendig sind, um eine nur nach den Gesichtspunkten von Gerechtigkeit und liberalen Rechten organisierte Gesellschaft lebenswert zu machen. Freundschaftliche Bindungen, altruistische Gefühle der Anteilnahme und Empathie, wie die von Gemeinschaften geteilten positiven Werte bilden einen wesentlichen Parameter menschlichen Wohlergehens.36 Baier sieht die Differenzen zwischen ihrem Ethikverständnis und jenem einer liberalen Moral in folgenden Punkten, die teils stark an Heids Vergleich von Eltern-Kind-Beziehungen und Vertragsrelationen erinnern: 1. Da die liberale Position jedem Individuum die Freiheit einräume, seine Vorstellung des Guten und seinen Lebensplan zu verwirklichen, sofern dies nicht Minimalbedingungen der Gleichheit und Freiheit verletzt, stehe das Prinzip der Nicht-Einmischung - Individuen sollten vor den Ansprüchen und Zugriffen anderer geschützt werden - im Mittelpunkt dieser Sicht von Moral. In asymmetrischen, durch ein klares Machtgefälle der Beziehungspartner charakterisierten Verhältnissen relativiere sich aber der liberale Blickwinkel. In der Beziehung zu Abhängigen und Hilfsbedürftigen bedeute Nicht-Einmischung schlicht Vernachlässigung. Doch auch im Fall der Relationen zwischen gleichgestellten Personen könne die individualistische soziale Wahrnehmung des Liberalismus auf Isolation und Entfremdung hinauslaufen. 2. Ähnlich wie Held erinnert Baier daran, daß wir alle unser Leben als hilflose Wesen beginnen und unser gesamtes Leben immer wieder durch Situationen der Ungleichheit und Abhängigkeit bestimmt ist. Eine für diesen Umstand sensible Moraltheorie entwickle eine andere Perspektive auf die Struktur unserer gesellschaftlichen Institutionen als die auf die Gleichheit der Subjekte fixierten Standardtheorien: Maßgeblich werde die Überlegung, wie wir uns jenen gegenüber moralisch angemessen verhalten, die uns an Macht unterlegen sind.37 3. Ein nächster Unterschied zwischen einer liberalen Theorie und Baiers - von Gilligan inspirierter - Ethik betrifft den Freiheitsspielraum in der Wahl von Beziehungen. Die liberale Sicht betont sehr stark die aus freien Stücken eingegangenen Bindungen. Freie und gleiche Individuen entscheiden sich für oder gegen Beziehungen und bestimmen somit, in welchem Ausmaß ihnen moralische Verpflichtungen gegenüber anderen erwachsen. Wie Baier kritisch bemerkt, ist ein Großteil sozialer Beziehungen nicht frei gewählt. Jene Personen, die für andere sorgen, befinden sich oft in einem Netz von Verantwortlichkeiten, für die sie sich in der Form nicht entschieden haben, und zukünftige Generationen suchen nicht freiwillig die Abhängigkeit von früheren Generationen: „Wenn wir der elterlichen Verantwortung mehr Beachtung schenken, wird der Vertrag schon bald nicht mehr als die Hauptquelle moralischer Verpflichtung erscheinen. Und Gerechtigkeit als Tugend sozialer Institutionen wird bestenfalls gleichberechtigt mit der Tugend - wie auch immer sie heißen mag - sein, die sicherstellt, daß jede neue Generation wirklich willkommen ist und auf ihr erwachsenes Leben vorbereitet wird." 38 36 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. 8.3 dieser Arbeit. 37 Siehe Baier (1994e),S. 233. 38 Ebda., S. 234.
Vertrauen und Empathie (Annette C. Baier)
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4. Baier moniert auch die Dominanz von Intellekt und Vernunft gegenüber dem Gefühl in liberalen Vertragsansätzen. Gefühle gelten ihr als vom Bereich der Moral nicht ablösbar, weil sie für die Entwicklung unseres Moralbewußtseins wie die Bildung unserer moralischen Wahrnehmung notwendig sind. Moralische Erziehung und die Entwicklung von Urteilskraft und angemessenen moralischen Reaktionen erfolgen - hier spricht die Hume verpflichtete Philosophin - über die Schulung und Verfeinerung unserer Empfindungen. 5. An diesen Punkt anknüpfend, ortet Baier ein wesentliches Defizit der liberalen Theorie in der Vernachlässigung moralischer Sozialisation. Wie sie zu bedenken gibt, muß sich Rawls zur Stützung seiner Theorie auf eine „natürliche" Verpflichtung der Eltern, für ihren Nachwuchs zu sorgen, berufen, und er muß die elterliche Liebe zu einem moralischen Ideal erklären, "if the just society is to last beyond the first generation".39 Baiers Vorwurf geht dahin, daß Rawls Gebrauch von moralischen Phänomenen mache, die in seinem auf die Kategorien von Gerechtigkeit, Freiheit und gleichen Rechten und Chancen abgestimmten theoretischen Rahmen gar keinen Platz finden. Eine kohärente Moraltheorie könne aber nicht auf Voraussetzungen basieren, denen sie keine theoretische Beachtung schenkt. Rawls reflektiere nicht, was notwendig sei, damit die Mitglieder der Moralgemeinschaft überhaupt erst als moralisch kompetente Personen gelten können. Liberale Theorien mit ihrer Blindheit gegenüber den Bedingungen moralischer Sozialisation würden schlicht den kulturell konstruierten mütterlichen Instinkt und die kulturell geforderte Sanftmut und Duldsamkeit von Frauen ausbeuten.40 Auf theoretischer Ebene tendiert Annette C. Baier zur Synthese einer die Erfahrungen von Frauen reflektierenden Ethik der Fürsorglichkeit, Anteilnahme und des Wohlwollens mit einer Moral der Gerechtigkeit und Verpflichtung. Das theoretische Verbindungsglied stellt für sie der Begriff des angemessenen Vertrauens dar, ein, wie sie bemerkt, in der ethischen Theorie auf unverständliche Weise vernachlässigtes Konzept. Eine Moraltheorie, welche die Frage „Wer kann wem womit und warum vertrauen?" zum Ausgangspunkt der moralischen Überprüfung von Beziehungen mache, vermöge den moralischen Intuitionen und Einsichten von Frauen wie Männern eher gerecht zu werden. Der Begriff des Vertrauens scheint Baier auch deshalb eine moraltheoretisch interessante Kategorie, da sie als von kognitiven wie emotiven Faktoren bestimmte Einstellung den Dualismus von Verstand und Gefühl unterläuft.41 Über eine Analyse verschiedener Formen von Vertrauen zeigt Baier, wie umfassend dieses unsere Sozialbeziehungen durchdringt und prägt - ohne ein Mindestmaß an Vertrauen funktioniert unser Alltag nicht. Häufig wird uns die volle Dimension eines Vertrauensverhältnisses erst bewußt, wenn dieses zerstört worden ist, wenn unsere Verletzbarkeit offenliegt 42 Einen wichtigen Schritt, um zu einer näheren Bestimmung von angemessenem Ver-
39 Baier (1985b), S. 6. 40 Ebda., S. 7. Baier berührt hier in der Tat einen wunden Punkt der Rawlsschen Theorie. So nimmt Rawls an, daß erwachsene Mitglieder der Gesellschaft über intuitive Vorstellungen von Moral und einen Sinn für Gerechtigkeit verfügen, spart aber eine genauere Analyse moralischer Empfindungen aus und reflektiert nicht, welche Anleihen seine Gerechtigkeitskonzeption bei anderen moraltheoretischen Begriffen macht. Vgl. Rawls (1975), S. 504-508 zum Erwerb eines Gerechtigkeitssinns. Kritisch dazu auch Okin (1993), S. 312-316. 41 Baier (1985b), S. 10. 42 Siehe Baier (1986), S. 100.
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Feministische Kritik an Vertragstheorien der Moral
trauen zu gelangen, sieht sie in der Grenzziehung zwischen Jemandem vertrauen" und „sich auf eine Person verlassen". Vertrauen gehe über Verläßlichkeit hinaus, insofern man den guten Willen der Person, der man vertraut, unterstellt; man nimmt an, daß sie einem wohlgesonnen ist. Eben diese Voraussetzung beinhaltet das von Vertrauensverhältnissen nicht zu trennende hohe Risiko möglicher Verletzungen. Ausgehend davon definiert Baier in einer ersten Annäherung „Vertrauen" als "accepted vulnerability to another's possible but not expected ill will (or lack of goodwill) toward one". 43 Vertrauensbeziehungen drücken eine dreistellige Relation aus: A vertraut B in bezug auf C, wobei C für A einen Wert darstellt; und eben dieser Bezug auf ein geschätztes Gut bedingt, daß wir der anderen Person ein großes Maß an Spielraum und Macht übertragen: Sie kann uns enttäuschen, indem sie das, was uns wertvoll ist, nicht zur Kenntnis nimmt oder unterminiert.44 Prima facie scheint allgemeine Vertrauenswürdigkeit nicht moralisch besser als allgemeines Mißtrauen; es gilt zu klären, unter welchen Bedingungen Vertrauen am Platz ist und wann wir es jemandem entziehen sollten. Vertrauen allein ist, wie Baier zugesteht, kein Kriterium für Moralität; auch moralisch verurteilenswerte Phänomene wie Ausbeutung und Verschwörung gedeihen besser in einer Atmosphäre des Vertrauens.45 Manche Vertrauensbeziehungen disqualifizieren sich in moralischer Hinsicht, und ein Vertrauensbruch mag unter Umständen sogar moralisch gerechtfertigt sein. Nur angemessenes Vertrauen läßt sich nach Baier zu den moralischen Tugenden rechnen, wobei gerade Frauen wie andere unterdrückte Gruppen über reiche Erfahrung damit verfügen, daß Vertrauen moralisch fehl am Platz sein kann. 46 Zur Präzisierung des Begriffs des angemessenen Vertrauens schlägt Baier einen Test vor, welcher die moralische Qualität von Vertrauensverhältnissen zu prüfen erlaube. Dabei wird sie von der Prämisse geleitet, daß eine Beziehung des Vertrauens moralisch korrupt ist, wenn die vertrauende Person nur aufgrund eines Stärke- und Machtvorteils der anderen Person an der Beziehung festhält oder die Person, der vertraut wird, auf das Verheimlichen von Tatsachen angewiesen ist. Das fragliche Kriterium lautet also: Vertrauen ist gerechtfertigt, wenn die Aufrechterhaltung der Beziehung weder von erfolgreichen Drohungen gegenüber 43 Ebda., S. 99. 44 Ebda., S. 101. Baier räumt ein, daß diese Analyse von Vertrauen - Vertrauen bedeutet einer anderen Person die Sorge für etwas zu übertragen, das einem wertvoll ist - nicht alle möglichen Fälle von Vertrauensverhältnissen abdeckt. Gut passe sie in bezug auf die Erziehung von Kindern. Wenn wir unsere Kinder anderen Menschen und Institutionen anvertrauen - Babysittern, geschiedenen Elternteilen, Lehrern, Kindergärten und Schulen - , würden wir daraufbauen, daß sie das Wohl des Kindes im Auge haben. Aber nicht immer beinhalte die Vertrauensbeziehung eine Aufforderung zur aktiven Fürsorglichkeit; das zu schützende Gut könne auch Nicht-Einmischung verlangen. Wenn wir Fremden vertrauen, daß sie unsere körperliche Integrität achten, so erwarten wir, von ihnen in Ruhe gelassen zu werden. (Siehe ebda., S. 103.) Vertrauensverhältnisse entwickeln sich, wie Baier betont, allmählich und sind von einem willentlichen Appell an den guten Willen der anderen Person zu unterscheiden. Aus diesem Grund hat sie auch Vorbehalte, Versprechen und Verträge, wie dies gewöhnlich geschieht, als paradigmatische Formen von Vertrauensbeziehungen zu begreifen. Für Versprechen und Verträge können wir uns explizit entscheiden, nicht aber für Vertrauen, und nicht zuletzt deshalb vermögen Vertragstheorien dem Begriff nicht gerecht zu werden. Ebda., S. 114-120. 45 Ebda., S. 95, vgl. auch S. 120. 46 Siehe Baier (1985b), S. 16.
Vertrauen und Empathie (Annette C. Baier)
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der vertrauenden Person noch von erfolgreichen Vertuschungen von Vertrauensbrüchen abhängt. Wie Baier ausführt, kann dieses Prüfverfahren zu einem „Expressivitätstest" erweitert werden, denn das Wissen der einen Partei um die Motive der anderen würde in Fällen von Verheimlichung, Bedrohung und dem Ausnützen von Machtvorteilen die Beziehung für sich genommen destabilisieren.47 Mit anderen Worten: Vertrauensbeziehungen verdienen moralische Billigung, wenn sie nicht zerstört werden, falls die beteiligten Personen Kenntnis davon erlangen, wovon sie jeweils die Vertrauenswürdigkeit der anderen Person abhängig machen. Man muß anderen das Wissen anvertrauen können, was einen zum Vertrauen in sie befähigt; man muß auch den Gründen, die jede der Parteien zum Vertrauen in die andere hat, vertrauen können: "To the extent that mutual reliance can be accompanied by mutual knowledge of the conditions for that reliance, trust is above suspicion, and trustworthiness a nonsuspect virtue." 48 Baiers Arbeiten, die auf den formal-rationalistischen Zuschnitt der modernen Moralphilosophie mit einer Rückbesinnung auf die Humesche Moraltheorie wie auch einer Reflexion auf die im moralischen Erfahrungsbereich von Frauen so maßgeblichen Phänomene wie Anteilnahme, Wohlwollen und Vertrauen antworten, bringen nicht nur eine entschiedene Kritik der Vertragstheorien der Moral zum Ausdruck, sondern liefern auch wichtige Impulse für die feministische Korrektur deontologischer Standardtheorien. Einer nur auf Gleichheit, Rechte und Prinzipien der Gerechtigkeit konzentrierten Moraltheorie eröffnet sich kein Zugang zur moralischen Binnenperspektive von Beziehungen, in der die Feinakzentuierungen im Umgang mit anderen zum Tragen kommen. Das formale Zugeständnis gleicher Rechte läßt breiten Raum für die moralische Mißachtung anderer. Die Aufarbeitung dieser gleichsam zwischen Rechten und Prinzipien der Gerechtigkeit liegenden moralischen Dimension ist gerade aus feministischer Perspektive relevant. Denn Frauen als gesellschaftliche Gruppe haben weitreichende Kenntnis davon, daß formale Gleichheit noch lange nicht vor abwertendem, diskriminierendem und zutiefst verletzendem Verhalten schützt. Der Begriff des Vertrauens bietet eine Möglichkeit der Annäherung an jene komplexe Verflechtung von Ausgrenzung und Enttäuschung, die immer wieder zum Erfahrungsbestand von Frauen in einer sexistischen Gesellschaft gehört. Die Frage, wem und welchen gesellschaftlichen Institutionen Frauen überhaupt vertrauen können, ist ein Weg, Diskriminierungen gegenüber Frauen explizit zu machen. Zweifellos gibt die Gesellschaft in ihrer jetzigen Form Frauen wenig Anlaß, Vertrauen in von Männern dominierte gesellschaftliche Institutionen zu haben; die Erwartung von Frauen, als vollwertig und gleichgestellt akzeptiert zu werden, erweist sich nur allzuoft als naiv.49 Anderen Personen vertrauen setzt den Glauben voraus, daß sie uns nicht schaden, daß sie Stärke- und Machtvorteile nicht gegen uns ausnützen und daß sie an uns und unserem Wohlergehen interessiert sind. Vertrauenswürdigkeit scheint somit ein Gradmesser moralisch intakter Beziehungen. Nun räumt Baier selbst ein, daß zwischen moralischen und unmoralischen Vertrauensbeziehungen differenziert werden muß - auch eine Reihe von Untugenden gedeihen in einem Klima des Vertrauens: "But what is a trust-tied Community without justice but a group of 47 Siehe Baier (1986), S. 123. 48 Ebda., S. 128. 49 Wegen der atmosphärischen Dimension von Vertrauensenttäuschung scheitert nach Baier jeder Versuch, Vertrauen über Regeln zu präzisieren. Vgl. Baier (1994b), S. 143-146.
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Feministische
Kritik an Vertragstheorien
der Moral
mutual blackmailers and exploiters?" 50 Wenn aber Vertrauensbeziehungen nur im Gesamtrahmen moralisch korrekter Handlungen Wert zukommt, dann bedeutet dies, daß die Moraltheorie nicht allein mit den Kategorien von Empathie und Vertrauen auskommt, sondern auch bei jenen Begriffen Anleihen machen muß, denen Baier so skeptisch gegenübersteht: nämlich Grundsätzen des Rechten und der Gerechtigkeit. Baiers Kritik an Kant und Rawls wirkt phasenweise überzogen, denn im Grunde läuft ihre Position nicht auf eine Zurückweisung, sondern eine Modifikation der liberalen Moral hinaus. Wie weit dieses Programm wirklich eine Absage an die Vertragstheorien impliziert, kommt im folgenden zur Sprache.
4.3
Individualistische und universalistische Vertragstheorien
Prinzipiell lassen sich zwei Formen der feministischen Kritik am Kontraktualismus unterscheiden. Die eine Richtung moniert, daß das Vertragsmodell immer auf die öffentliche Sphäre beschränkt blieb und nie auf die Familie und die Beziehungen des Nahbereichs angewandt wurde; exemplarisch dafür sind die Arbeiten Susan Moller Okins und Jean Hamptons.51 Zum anderen kann man das Vertragsmodell gerade aus dem Blickwinkel der sogenannten Privatsphäre hinterfragen; diesen Weg gehen Annette C. Baier und insbesondere Virginia Held: "Instead of importing into the household principles derived from the marketplace, perhaps we should export to the wider society the relations suitable for mothering and children." 52 Held greift mit diesem experimentellen Perspektivenwechsel eine wohlbekannte Argumentationslinie auf. Die Vertragstheorien favorisierten, wie Kritikerinnen immer wieder betonten, das von anderen unabhängige männliche Subjekt des öffentlichen Raums - ein bindungsloses Wesen, das in selbstherrlicher Souveränität agiert und die Kooperation mit anderen als unvermeidbares Zugeständnis auf dem Weg zur optimalen Verwirklichung seiner Pläne versteht. 53 Doch einigen Philosophinnen gelten diese Defizite lediglich als Variante eines Oberflächenandrozentrismus, der den meisten sozial- und moralphilosophischen Theorieentwürfen der abendländischen Philosophiegeschichte in der einen oder anderen Form anhaftet. In der methodologischen Tiefenstruktur lasse sich, so der Tenor dieser Interpretinnen, aus den Vertragstheorien ein gerade aus der Sicht des Feminismus wertvoller moraltheoretischer Ansatz herausschälen. Da die Vertragstheorien in der politischen Philosophie und auch der Moralphilosophie eine nicht zuletzt durch John Rawls initiierte nachhaltige Renaissance erleben, will ich im folgenden etwas genauer diskutieren, wie weit die von feministischen Überlegungen motivierte Ablehnung des Kontraktualismus berechtigt ist. Eine Schwachstelle von Heids und auch Baiers Kritik liegt zweifellos darin, daß beide Autorinnen nicht genügend zwischen den verschiedenen Varianten der Vertragstheorien differenzieren. Denn die pauschale Verurteilung der Vertragsansätze nimmt eine erhebliche Unscharfe in Kauf. Eine Differenzierung scheint auch insofern geboten, als Heids und Baiers Einwände genau genommen nur eine bestimmte Form des Kontraktualismus treffen. 50 51 52 53
Baier (1986), S. 120. Siehe Okin (1989); Hampton (1991) und (1993). Held (1987b), S. 122; vgl. auch Held (1993), S. 192ff. Vgl. Benhabib (1989a), S. 460-467 und (1995e), S. 168-175.
Individualistische und universalistische Vertragstheorien
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Zunächst ist wichtig, zwischen der politischen oder staatstheoretischen und der moraltheoretischen Verwendungsweise des Vertragsgedankens zu unterscheiden. 54 Innerhalb dieser beiden Varianten ist wiederum die Differenzierung in eine individualistische und eine universalistische Umsetzung der Vertragsidee zu beachten. Insgesamt sind also vier mögliche Versionen auseinanderzuhalten: eine individualistische und eine universalistische politische Vertragstheorie (vertreten durch Thomas Hobbes einerseits und Jean-Jacques Rousseau bzw. Immanuel Kant andererseits), und auf der moraltheoretischen Ebene gleichfalls ein individualistischer (beispielsweise David Gauthier) und ein universalistischer Ansatz (etwa John Rawls). In der politischen Dimension symbolisieren die Vertragstheorien die mit der Neuzeit einsetzenden Versuche einer letztlich säkularen Rechtfertigung staatlicher Macht. Auf der Suche nach der Lösung des Grundproblems der politischen Philosophie - nach welchem Muster soziale Institutionen wie der strukturelle Aufbau einer Gesellschaft insgesamt zu organisieren sind, um den Prinzipien einer gerechten und für alle Mitglieder akzeptablen Gesellschaftsform zu entsprechen - wurde mit Unterbrechungen immer wieder die Idee des Sozialvertrags bemüht.55 Alle Vertragstheoretiker gehen davon aus, daß die Menschen in einem von institutionellen Regelungen freien Ausgangszustand die Grundstruktur der Gesellschaft über eine spezifische vertragliche Vereinbarung bestimmen. Der leitende Gedanke ist dabei folgender: Wenn Personen eine freiwillige Übereinkunft über die Modalitäten des Gesellschaftsgefüges treffen, in dem zu leben sie sich nach reiflicher Überlegung guten Gewissens entscheiden können, so bedeutet dies eine Legitimierung der so beschlossenen Ordnung. Anders gesagt: Wer ohne Zwang und wohlüberlegt seine Zustimmung zu einem Vertrag gibt, findet auch die damit verknüpfte Zuordnung von Rechten, Pflichten und Gütern begründet. Ein naheliegender, erstmals von David Hume formulierter Einwand gegen diese Konstruktion geht dahin, daß die Idee des Zustandekommens von Gesellschaften durch einen Vertragsabschluß der einzelnen Gesellschaftsmitglieder illusorisch ist und allen bekannten historischen Erfahrungen zuwiderläuft.56 Interessanterweise übernimmt Held diese Kritik, wenn sie den Vertragstheorien vorwirft, in gewisser Weise die Realität zu verzerren: Gesellschaften seien das Ergebnis von Kriegen, Ausbeutung, Rassismus, patriarchaler Ideologie und nicht das Resultat von Verträgen oder rationalen Übereinkünften.57 Vertragstheoretiker haben auf diese Argumentation stets mit dem Hinweis auf den fiktiven Charakter der Vereinbarung repliziert; der Sozialvertrag sei nichts anderes als eine regulative Idee und stelle ein wichtiges Instrumentarium der normativen Konstruktion und Beurteilung von Gesellschaftsformen dar. Diese Erklärung hat einiges Gewicht, bedenkt man, daß ein wesentliches Element eines philosophischen Zugangs zu politischen Fragen die Evaluierung faktischer gesellschaftlicher Institutionen am Standard moralisch begründeter idealtypischer Strukturen darstellt. Held bringt also die grundsätzliche Intention der politischen Vertragstheorien gar nicht zur Sprache. Die bekanntesten historischen Vertreter - Hobbes, Locke, Rousseau und Kant - haben das Sozialvertragsmodell philosophisch auf recht unterschiedliche Weise entwickelt. Die Art der 54 55 56 57
Vgl. dazu Hampton (1991), S. 32. Für eine umfassende Darstellung der Sozialvertragstheorien vgl. Koller (1987). Vgl. Hume (1748). Siehe Held (1987b), S. 113.
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Feministische Kritik an Vertragstheorien der Moral
vertraglichen Übereinkunft hängt maßgeblich von den jeweiligen Voraussetzungen über den „Naturzustand" ab, der wie erwähnt nicht als faktischer historischer Zustand, sondern als Metapher für eine theoretisch bestimmte Ausgangsposition gelesen werden muß. Und in dem Punkt zeigen sich erhebliche Divergenzen zwischen den einzelnen Vertragstheoretikern. Locke nimmt beispielsweise an, daß die Individuen im Naturzustand bereits über „natürliche Rechte" - auf Leben, auf körperliche Integrität wie auf Freiheit und Eigentum - verfügen. Zum Schutz der natürlichen Rechte des Urzustandes entschließen sich die Individuen laut Locke zur Einführung und Anerkennung staatlicher Autorität und Gewalt, wodurch sich eine spezifische Einengung staatlicher Aufgaben ergibt: Die Funktion des Staates beschränkt sich auf die Sicherstellung und die Wahrung dieser Rechte.58 Besonders auffällig sind die Unterschiede zwischen der individualistischen (Hobbes) und der universalistischen (Rousseau und Kant) Variante des Vertragsmodells. Hobbes geht davon aus, daß die Menschen egoistisch sind und das alles beherrschende Motiv ihrer Handlungen ihre Furcht vor dem Tod darstellt.59 Nur dieses Moment vermöge die Menschen davon abzuhalten, sich all das anzueignen, was Objekt ihrer Wünsche und Begierden ist. Da alle Individuen zu einer uneingeschränkten Verfolgung ihrer Interessen tendieren und Hobbes auch eine natürliche Gleichheit der Menschen in dem Sinn voraussetzt, daß sie über gleiche Stärken und Fähigkeiten verfügen, resultiere aufgrund der Knappheit der Güter ein Kampf aller gegen alle mit dem Ziel, den anderen zu unterwerfen und gegebenenfalls zu vernichten.60 Die einzige Möglichkeit, diesem Zustand permanenter Auseinandersetzung und Gefahrdung zu entkommen, sieht Hobbes in gegenseitigen Übereinkünften und Vereinbarungen über gewisse Regeln sozialen Zusammenlebens, die den Übergang vom anarchischen und bedrohlichen Naturzustand zur zivilen Gesellschaft und zum Staat markieren. Ein Gesellschaftsvertrag, in dem die Rechte der Individuen und die gesellschaftlichen Institutionen geregelt und über die Instanz eines von allen eingesetzten Souveräns gesichert sind, liegt folgerichtig im langfristigen und wohlerwogenen Eigeninteresse aller Betroffenen. Hobbes' Individuen sind strategische Rationalisten: Sie entschließen sich zur Unterwerfung unter staatliche Macht, weil ihnen Sicherheit und Schutz als vorrangige Ziele gelten und diese im Falle der uneingeschränkten Verfolgung ihrer Interessen nicht garantiert wären. Ähnlich wie Hobbes nimmt Rousseau an, daß die Schwierigkeiten der Selbsterhaltung im Naturzustand und der Wunsch nach Schutz ihres Lebens und ihrer Güter die Menschen zum Zusammenschluß in staatlichen Gemeinschaften zwingen. Im Unterschied zu Hobbes reduziert er aber die Gründe der Individuen für Kooperation nicht auf zweckrational-egoistische Erwägungen mit dem Ziel individueller Sicherheit. Der Übergang vom Naturzustand zur Gesellschaft gehe einher mit einer Ausbildung von Vernunft und Moral, einer Transformation der instinktgeleiteten animalischen Natur des Menschen zu einem moralfähigen Wesen, das seine Neigungen und unmittelbaren Wünsche im Lichte der Vernunft prüft. Rousseau schafft damit eine Verbindung von politischer und moraltheoretischer Ebene; die politischen Strukturen sollten so auf die Realisierung des allgemeinen Guten abgestimmt sein, daß sie dem Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Entsprechend legt Rousseau auch 58 Siehe Locke (1689/90), Abhandlung II (Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung), Kap. 2, 5, S. 9-11. 59 Siehe Hobbes (1651), S. 94-98. 60 Ebda.
Individualistische
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Vertragstheorien
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fest, daß die Übereinkunft im Sozialvertrag „die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes" 61 verlangt. Indem die Menschen sich beim Eintritt in den Vertrag aller ihrer Ansprüche auf die im Naturzustand erworbenen Besitztümer entledigen, schaffen sie eine Ausgangsposition, in der alle gleich sind und niemand bevorzugt oder benachteiligt wird. Ein von dieser Basis getragener gemeinschaftlicher Zusammenschluß geht als „sittliche Gesamtkörperschaft" 62 klar über einen Kompromiß zwischen Partikularinteressen hinaus. Rousseaus mit dem Sozialvertrag verknüpftes Transzendieren des individuellen Interessenstandpunkts wird nicht zuletzt an seiner Unterscheidung von Gesamtwillen (volonté de tous) und Gemeinwillen (volonté générale) deutlich.63 Der Gesamtwille ist nichts als die Summe von Einzelwillen, die Summe der Standpunkte interessengebundener Individuen, die nur ihren Wünschen, Neigungen und Begehren folgen. Aufgrund der mit dem Sozialvertrag verbundenen Höherentwicklung des Menschen64 wird aber die Abstraktion vom rein subjektiven Gesichtspunkt und die Wahrnehmung des gemeinschaftlichen Guten möglich. Durch das Aufgeben aller Anspruchsrechte und Privilegien ist für Rousseau sichergestellt, daß die Vertragsparteien eine Einigung erreichen, die ein allgemeines Interesse und mehr als die zufällige Übereinstimmung aller Einzelwillen zum Ausdruck bringt. Bekanntlich liegen den Vertragstheorien von Hobbes und Rousseau sehr unterschiedliche anthropologische Annahmen zugrunde. Hobbes' geringes Vertrauen in die Gutwilligkeit der menschlichen Natur ist sprichwörtlich: „homo homini lupus" - „(d)er Mensch ist ein Wolf für den Menschen ".65 Als selbstinteressierte Wesen müssen Menschen ständig gewahr sein, daß andere nach ihrem Besitz und Leben trachten, und entsprechende Vorkehrungen treffen. Rousseau ging von einem optimistischeren Menschenbild aus: Den Menschen im Naturzustand schildert er als einen frei wandernden Wilden, der friedlich seiner Wege geht und dessen Bedürfnisse sich auf Nahrung, Schlaf und die gelegentliche Kopulation mit einem weiblichen Wesen beschränken.66 Dieses idyllische, von männlichen Phantasien gezeichnete Bild hängt mit Rousseaus Voraussetzung zusammen, daß die Menschen über eine natürliche Tugend verfügen, nämlich die des Mitleids. Dieser Unwille der Menschen, einen Mitmenschen leiden zu sehen, beschränkt, wie Rousseau explizit gegen Hobbes anführt, den Willen zur Verfolgung ihres Eigennutzens und verhindert einen Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden. 67 Die bei Rousseau vorhandene Ausgrenzung partikularer Interessen und die Anerkennung einer allgemeinen Gleichheitsbedingung findet sich auch im Kantischen Vertragsmodell. Kant betont die Freiheit und Gleichheit der Vertragssubjekte als Grundbedingungen des Gesellschaftsvertrags. Er stellt unmißverständlich den regulativen Charakter der Übereinkunft 61 62 63 64 65 66 67
Rousseau (1762a), S. 17. Ebda., S. 18. Ebda., S. 31ff. Ebda., S. 22. Hobbes (1642), S. 59 (Kursivsetzung im Original). Siehe Rousseau (1755), S. 107. Ebda., S. 137ff. Ein weiterer Grund, warum Rousseau ein anderes Bild des Urzustands als Hobbes zeichnet, liegt darin, daß Rousseau keine Knappheit der Güter voraussetzt. Auch bei Rousseau taucht der um Selbsterhaltung kämpfende Mensch auf, sobald die Begrenztheit der Ressourcen eine Rolle spielt. Doch ein Krieg eines jeden gegen jeden resultiert daraus dennoch nicht.
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klar; ihre Funktion liegt in einer normativen Überprüfung der Fairneß und Gerechtigkeit von öffentlichen Regelungen und gesetzlichen Normen: „Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt), als Koalition jedes besondern und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen (zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung), ist keinesweges als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich); gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müßte, daß ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrichtet, und eine sichere Nachricht oder ein Instrument davon uns, mündlich oder schriftlich, hinterlassen haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes." 68 Bis auf Locke setzen alle Vertragsansätze voraus, daß Gleichheit der Vertragspartner gegeben sein muß, damit der Vertragsgedanke überhaupt eine Chance hat. Eine asymmetrische Ausgangssituation könne nur asymmetrische Verhältnisse schaffen, die nicht die Zustimmung aller Betroffenen finden können. So unterstellt Hobbes, daß die Natur „die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen" 69 hat, daß niemand gegenüber einem anderen im Vorteil ist. Während Hobbes, wie schon angesprochen, eine empirische Gleichheit im Sinne eines Kräftegleichgewichts der Menschen voraussetzt, was einiges darüber verrät, wen er als Vertragspartner im Blick hat, interpretieren Rousseau und Kant die Gleichheit der Vertragssubjekte als notwendige normative Bedingung. Im Gegensatz zu Hobbes' individualistischer Konzeption identifizieren Rousseau und Kant das Vertragsmodell mit der universellen Berücksichtigung der Perspektive und der Interessen aller. Die Idee einer vertraglichen Vereinbarung spielt nicht nur in der politischen Philosophie, sondern auch in der Moralphilosophie eine Rolle, wobei die politischen Varianten des universalistischen und des individualistischen Vertragsmodells gewissermaßen die Grundlage für den jeweiligen moraltheoretischen Rückgriff auf den Kontraktualismus bilden. So läßt sich beispielsweise Rawls' Theorie der Gerechtigkeit in der Art lesen, daß Rawls eine universalistische Vertragskonzeption zur Herleitung und Rechtfertigung moralischer Grundsätze einsetzt.70 Rawls greift bekanntlich die Vertragsidee in der von Rousseau und Kant entwickelten Form auf und veranschaulicht den dafür zentralen Gesichtspunkt der allgemeinen
68 Kant (1793), S. 153. 69 Hobbes (1651), S. 94. 70 Rawls hat sich in den seit Mitte der achtziger Jahre erschienenen Aufsätzen von den „metaphysischen" Elementen in seiner Theorie distanziert und betrachtet die Idee eines hypothetischen Vertrags nicht länger als notwendig zur Rechtfertigung seiner Konzeption der Gerechtigkeit, die er in den neueren Arbeiten als explizit politische Konzeption begreift. (Siehe Rawls 1992d und 1992f.) Aber Rawls relativiert - ein, wie viele meinen, unnötiges Zugeständnis an seine kommunitaristischen Kritiker - in den jüngeren Arbeiten den Begründungsanspruch seiner Theorie viel zu stark auf den Kontext einer liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts und gibt zu viel von der philosophischen Substanz seines großen Werkes preis. Vgl. dazu auch Baynes (1992).
Individualistische
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Vertragstheorien
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Zustimmungsfähigkeit unter Absehung rein partikularer Interessen in der Metapher des „Schleiers der Unwissenheit": Jene Grundsätze gelten als begründet, die unter Ausschluß aller Parteilichkeiten von allen gleichermaßen akzeptiert werden können. Desgleichen findet der individualistische Ansatz eine moraltheoretische Entsprechung. Unter der Hobbesschen Voraussetzung, daß uns strategisches Eigeninteresse zu Übereinkünften mit anderen zwingt, wird Moral als Regelspiel begriffen, auf das einzulassen wir alle guten Grund haben; es liegt in unserem langfristigen Selbstinteresse, uns den Bedingungen der Moral zu unterwerfen, sofern auch die anderen dazu bereit sind.71 Aus diesen Differenzierungen, die einen genaueren Blick auf die Vertragstheorien ermöglichen, erklärt sich auch, warum die feministische Einschätzung der unterschiedlichen Varianten des Kontraktualismus nicht einhellig ausfallt. Jean Hampton, eine rigorose Kritikerin des individualistischen Vertragsdenkens, betrachtet beispielsweise das von Kant und Rawls vertretene Vertragsmodell als den Schlüssel zu einer vom feministischen Standpunkt angemessenen Moraltheorie.72 Ein universalistischer Vertragsansatz eröffne nicht nur einen Zugang zum Problem der Gerechtigkeit, sondern bei entsprechender Modifikation auch die Möglichkeit einer Evaluierung jener persönlichen Beziehungen, auf die sich ein Gutteil des feministischen Interesses richtet und die von den klassischen Moralansätzen ausgegrenzt wurden. Bezogen auf die gängige feministische Kritik der Vertragstheorien bemerkt sie nicht ohne ironischen Unterton: "It is a testament to the powerfül control that the public-private distinction has over even its most ardent feminist critics that they resist the appropriateness of what they take to be a 'public' metaphor to evaluate the morality of a 'private' relationship." 73 Gerade die Vertragsidee liefere das Instrumentarium zur normativen Analyse aller sozialen Beziehungen - jener des öffentlichen Raums wie der innerhalb der Familie. Eine nicht-individualistische Vertragstheorie umfaßt die für Hampton zentralen normativen Begriffe des „intrinsischen Werts von Personen" und der „legitimen Interessen". Die Vorstellung des personalen Werts, diese von Kant in das „Zweck-an-sich"-Postulat gefaßte Grundbedingung von Moral, gebe uns Aufschluß darüber, welche Formen der Behandlung von Individuen angebracht, gefordert oder schlicht verboten sind. Wenn man auf der Linie einer Kantischen Vertragskonzeption festlege, daß soziale Interaktionsformen nur dann akzeptabel sind, wenn alle Betroffenen zustimmen können, achte man die Perspektive aller und damit den Wert dieser Personen als solchen. Hampton präzisiert diese Idee dann in folgendem Prüftest: Beziehungen seien nur dann moralisch gutzuheißen, wenn wir die damit verbundene Kosten- und Nutzenverteilung in einer freiwilligen und vollinformierten Vereinbarung vom Standpunkt unserer Eigeninteressen her akzeptieren können.74 Mit Hilfe dieses Verfahrens ließen sich Beziehungen daraufhin be-
71 Vgl. Gauthier (1986). 72 Siehe Hampton (1991) und (1993). Jean Hampton betont explizit, daß sie an die von Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit entwickelte Position anknüpft. Siehe Hampton (1991), S. 32, FN 5. 73 Hampton (1993), S. 239. 74 Ebda., S. 240. Hampton führt hier bewußt den Begriff des Selbstinteresses ein, um den Fall auszuschließen, daß der Einfluß von Zuneigung und Pflichten blind für die tatsächlichen Verluste eines Beziehungspartners in Relation zu den Gewinnen des anderen macht. Aus gleichen Gründen legt sie fest, daß Kosten und Nutzen nicht die Nebeneffekte einer affektiven oder pflichtmäßigen Bindung zwischen den Beziehungspartnern sein dürfen.
Feministische Kritik an Vertragstheorien der Moral
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fragen, ob sie gerecht sind oder auf Ausbeutung beruhen, ob sie den Beteiligten gleichen Status einräumen oder sie diskriminieren und unterdrücken. Gerade im Bereich der Familie werde häufig von Frauen ein Verhalten der Selbstaufopferung ohne entsprechende Reziprozitätsleistungen erwartet. Bei fehlender Reziprozität - einer Reziprozität, die prinzipiell möglich wäre - werde aber Mitmenschen nicht jene Achtung entgegengebracht, die ihnen qua Personsein zusteht. Hampton sieht die feministische Relevanz ihrer Position damit gegeben, daß gerade für die feministische Kritik und Transformation der Gesellschaft die für die kontraktualistische Perspektive auf soziale Verhältnisse zentralen Begriffe wie „Anerkennung", „personaler Status" und „intrinsischer Wert" wichtig sind. Diese Konzepte bieten ein analytisches Instrumentarium, um die Diskriminierung, Benachteiligung und vorurteilsgebundene Abwertung von Frauen wie auch das Maß an Verletzung, Schmerz und Frustration zu verdeutlichen, das Frauen nach wie vor in einer Gesellschaftsform durchleben, deren institutionelle Strukturen einer ihrem Wert als Person unangemessenen Behandlungsweise Vorschub leisten. 75 Auch Susan Moller Okin behauptet die Verträglichkeit von Vertragstheorie und feministischen Anliegen. Sie verwendet eine modifizierte Fassung von Rawls' Ausgangsposition, um dem von Rawls in keiner Weise thematisierten Problem der für unsere Gesellschaften typischen ungerechten Verteilung häuslicher Lasten und Pflichten zu begegnen. Trotz zunehmender Erwerbstätigkeit sind primär Frauen für die Betreuung von Kindern und älteren wie generell hilfsbedürftigen Familienangehörigen zuständig. Wenn die Individuen im Urzustand, wo sie die Grundstruktur ihrer Gesellschaft beschließen, ihr Geschlecht nicht kennen, werden sie für Regeln votieren, die für eine gerechte Situation innerhalb der Familie sorgen. 76 Okin entwickelt auch eine Lesart des Rawlsschen Denkmodells des Urzustands, auf deren Basis sie die Dichotomie zwischen einer Moral der Fürsorglichkeit und Anteilnahme und einer Moral der Gerechtigkeit, der Rechte und Regeln zurückweist. 77 Rawls' Herleitung seiner Gerechtigkeitsgrundsätze sollte, so ihr Argument, nicht als Teil der Entscheidungstheorie (rational choice-Theorie) verstanden werden, wonach sich die Urzustandssubjekte als rationale Egoisten für diese Prinzipien entscheiden. Rawls selbst dispensiere letztlich die Anwendbarkeit der Entscheidungstheorie, indem er festlege, daß den Urzustandssubjekten jedes Wissen um Wahrscheinlichkeiten fehle und sie auch nichts über ihre etwaige Risikobereitschaft wissen. 78 Wenn man genauer hinsehe, so überlegen die Subjekte im Urzustand mit dessen komplexen Bedingungen vielmehr so, als ob sie sich in der Position einer jeden anderen Person befinden. Die Begründung der Grundsätze verlange also von den einzelnen eine weitgehende Einfühlung, was die konkreten Anderen, deren individuelle Geschichte und deren mögliche soziale Position und Lage betrifft. Hinhören, Mitempfinden und Wohlwollen sind gemäß Okins Interpretation die Überlegungselemente des Urzustands, da die Funktion des Schleiers der Unwissenheit j a gerade darin bestehe, daß wir nicht wissen, wer wir im wirklichen Leben sein könnten. Mit anderen Worten: Da wir gemäß dem Gedankenexperiment des Urzustands als irgendeine Person in irgendeiner Position der Gesellschaft enden könnten, müssen wir, wie Okin meint, sehr genau das Spektrum der unterschiedlichen Lebens75 76 77 78
Siehe ebda., S.245ff. Siehe Okin (1989), S. 101-109. Siehe Okin (1993), S. 326ff. Ebda., S. 321f.
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möglichkeiten und die Lebensgeschichten konkreter Anderer reflektieren, um uns für Gerechtigkeitsprinzipien zu entscheiden, die uns selbst im Fall, daß wir das am wenigsten begünstigte Gesellschaftsmitglied sind, ein besseres Leben als jede alternative Gesellschaftskonzeption ermöglichen. Die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit sind für Okin auf Anteilnahme, Sensibilität, Mitgefühl für andere und Verständnis für Anderssein und Differenz begründet. Insofern scheint ihr auch die feministische Kritik unangemessen, die Rawls vorwirft, eine rational-abstrakte, von den konkreten Individuen und ihrer besonderen Situierung gelöste Theorie zu vertreten, die in der Fixierung auf das Ideal der Unparteilichkeit und den Standpunkt des „verallgemeinerten Anderen" Differenzen übergehe und zu einer Ausgrenzung weiblicher Erfahrung führe. 79 Nach der Reformulierung des Urzustands und den damit verknüpften Verschiebungen in der „rationalistischen" Akzentsetzung präsentiere sich Rawls' Theorie, wie Okin betont, als eine Gerechtigkeitsvorstellung, die „auf dem Konzept gleicher Sorge für alle beruht", womit sie den in den Arbeiten Gilligans und Noddings wie deren Nachfolgemodellen konstruierten Gegensatz von Gerechtigkeit und Fürsorge klar unterlaufe.80 Unabhängig davon, ob man ihren Thesen im Detail zustimmt, zeigen die Arbeiten von Hampton und Okin, daß Heids Pauschalkritik - dies gilt in etwas abgeschwächter Form auch für Baier - den vertragstheoretischen Ansätzen nicht gerecht wird. Man kann nicht, wie Held es tut, Hobbes, Locke, Rousseau und Gauthier in einem Atemzug nennen. Die einzelnen Modelle bedürfen einer genaueren und subtileren Analyse, als Held diese leistet, um die Frage ihrer Angemessenheit oder Unangemessenheit aus feministischem Blickwinkel beantworten zu können. Heids und Baiers Argumente richten sich im Grunde primär gegen das auf Hobbesschen Prämissen basierende individualistische Vertragsmodell und dessen Anwendung auf die Moral. Dieses begreift, wie bereits angesprochen, Moral als eine Summe von Regeln, auf deren Einhaltung man sich mit anderen aus Gründen des eigenen Vorteils einigt. Da der rational-individualistische Moralansatz im Zuge der in den letzten Jahren zunehmenden Rezeption entscheidungs- und spieltheoretischer Methoden einen Aufschwung erlebt, will ich an dieser Stelle etwas genauer darauf eingehen.81 Ich werde zeigen, daß Held mit ihrer Analyse der wesentlichen Erfordernisse einer moralisch intakten Beziehung zu Kindern tatsächlich einen wunden Punkt der individualistischen Vertragstheorie anspricht und daß ihre Skepsis gegenüber diesem Moralverständnis nur zu berechtigt ist. Anschließend werde ich auf die Frage zurückkommen, ob und wie weit eine universalistische Vertragstheorie den angemessenen Rahmen für eine feministische Ethik bilden kann. 79 Paradigmatisch für diese Form der Kritik sind die Arbeiten von Iris M. Young und Seyla Benhabib; vgl. Young (1990b) und (1993); Benhabib (1989a) und (1995e). 80 Okin (1993), S. 326. 81 Der rational-individualistische Moralansatz kommt auch bei der Diskussion von Humes Moraltheorie und im Schlußteil dieser Arbeit zur Sprache. Die folgende Diskussion ist im Zusammenhang mit den späteren Erörterungen zu verstehen. Vgl. Kap. 11.6 und 13.1 dieser Arbeit.
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Feministische Kritik an Vertragstheorien der Moral
4.4
Paradoxien ökonomischer Rationalität: Das Scheitern des individualistischen Vertragsmodells
Der individualistische Kontraktualismus geht wie erwähnt von einem Rationalitätsbegriff aus, der rationales Verhalten als die Verfolgung des langfristigen Eigeninteresses bzw. als die Optimierung des individuellen Vorteils definiert. Nun ist durch das Beispiel des Gefangenendilemmas 82 wohlbekannt, daß die direkte und uneingeschränkte Verfolgung des Eigennutzens oftmals Resultate zeitigt, bei denen alle Betroffenen schlechter wegkommen, als wenn sie kooperiert hätten. Vertreter einer auf dem rationalen Selbstinteresse basierenden Moralkonzeption betrachten das Gefangenendilemma keineswegs als ruinös für ihren Zugang, sondern nur als Anlaß dafür, die Verfolgung des Eigeninteresses gewissen Beschränkungen zu unterwerfen. Ein rationaler egoistischer Akteur nimmt Abstriche in Kauf, wenn dies zu einem optimaleren Ergebnis führt, bleibt sich aber ansonsten treu: Er kooperiert mit anderen Personen rein aus dem Kalkül, daß diese Verhaltensstrategie seinen Nutzen erhöht; Motive wie Solidaritätsgefühle oder Respekt und Achtung vor der anderen Person spielen für sich genommen keine Rolle. In diesen intellektuellen Raster von Egoismus und Vorteilsmaximierung wird nun das Phänomen der Moral gespannt: Die Anhänger eines individualistischen Ansatzes interpretie-
82 Eine Gefangenendilemma-Situation ist durch folgende Struktur definiert: Es gibt zwei Spieler, denen jeweils zwei Handlungsstrategien offenstehen - die selbstinteressierte und die nicht-selbstinteressierte (kooperative). Jede Spielerin erreicht für sich persönlich durch die Wahl der selbstinteressierten Strategie das maximale Ergebnis, unabhängig davon, was die andere tut. Aber beide Spieler zusammen erreichen das optimale Ergebnis, wenn sie sich kooperativ verhalten. Folgende Geschichte veranschaulicht die für ein Gefangenendilemma charakteristische Entscheidungssituation: Zwei Gefangene sind eines schweren Verbrechens (z.B. Bankraub) verdächtig. Außer einem leichteren Vergehen (z. B. unerlaubter Waffenbesitz) kann ihnen aber nichts bewiesen werden. Bei einem getrennten Verhör (eine Absprache zwischen den Gefangenen ist ausgeschlossen) werden sie mit folgenden Optionen konfrontiert: Gesteht nur einer von ihnen und der andere schweigt, so wird der Geständige zum Kronzeugen und geht frei, während der andere für 10 Jahre ins Gefängnis wandert. Gestehen beide, so wird die Geständnisbereitschaft strafmildernd berücksichtigt, und jeder kommt auf sechs Jahre ins Gefängnis. Schweigen sie beide, so können sie nur wegen des leichteren Vergehens angeklagt werden, was für beide eine zweijährige Gefängnisstrafe nach sich zieht. Die optimale Lösung vom Standpunkt individueller Nutzenmaximierung ist natürlich die Kronzeugen-Variante: Man selbst geht frei. Als rationale Egoisten werden beide Gefangenen diese Alternative wählen und gestehen, was bedeutet, daß sie zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt werden. Hätten sie sich aufeinander verlassen können und beide geschwiegen, wären sie mit je zwei Jahren Gefängnis davongekommen. Die Situation läßt sich durch folgende Matrix veranschaulichen: A Schweigen
Gestehen
Schweigen
2/2
0/10
Gestehen
10/0
6/6
B
Eine andere bekannte Illustration des Gefangenendilemmas findet sich bei Mackie. Vgl. Kap. 11.6.1 dieser Arbeit.
Paradoxien ökonomischer Rationalität
75
ren Moral als eine Möglichkeit, zu optimalen Ergebnissen zu gelangen und die negativen Folgen uneingeschränkt egoistischen Handelns zu vermeiden. So charakterisiert David Gauthier, der einen der prononciertesten Entwürfe einer rational-individualistischen Moralkonzeption vorgelegt hat, Moral als ein "system of rationally required constraints", wobei die rational notwendigen Beschränkungen auf der Einsicht beruhen, "that they make possible the more effective realization of one's interests, the greater fulfillment of one's preferences, whatever one's interests or preferences may be". 83 Die Moral garantiere die Kooperation in Situationen, in denen ein nicht-kooperatives Verhalten nachteiligere Konsequenzen als die kooperative Interaktion hätte. Der Versuch, genau zu präzisieren, unter welchen Bedingungen es für Personen rational ist, eine Vereinbarung über gegenseitiges kooperatives Verhalten zu treffen wie auch einzuhalten und auf welchem Prinzip diese Übereinkunft basiert, bildet den zentralen Teil von Gauthiers Theorie. Das Verhandlungsverfahren ist dabei durch folgende Prämissen näher bestimmt: Die Ausgangsposition ist fair, die zulässigen Ergebnisse stellen niemanden im Vergleich zur Ausgangsposition schlechter, und die Einigung kommt nicht durch Täuschung, Betrug oder Gewalt zustande. Gauthier begreift den Verhandlungsprozeß als ein Zwei-Stufen-Verfahren. Zunächst erheben die Beteiligten einen Anspruch auf maximalen Nutzenzuwachs. Da diese Ansprüche im allgemeinen nicht miteinander verträglich sein werden, machen die Parteien in einem zweiten Schritt Konzessionen, indem sie Abstriche von ihren ursprünglichen Forderungen in Kauf nehmen. Gauthier formuliert ein Prinzip, das Minimax-Prinzip der relativen Konzession, um genau das Maß der für eine Einigung notwendigen Zugeständnisse zu bestimmen. Das Prinzip besagt, daß aus einer Menge möglicher Ergebnisse, die alle von den Betroffenen ein gewisses Maß an Konzessionen fordern, nur dann ein Ergebnis zu wählen ist, wenn die größte oder maximale relative Konzession, die es verlangt, so minimal wie möglich ausfallt, und das heißt, nicht größer ist als die maximale relative Konzession, die jedes andere Ergebnis mit sich brächte.84 Rational Handelnde entscheiden sich also für jene Option, die ihnen am wenigsten an Konzessionen abverlangt. Gauthiers Programm, auf das ich hier nicht weiter eingehe, zielt darauf, das Minimax-Prinzip als Grundlage eines Verhandlungsverfahrens zu betrachten, welches zu gerechten Ergebnissen und auch einer gerechten Güterverteilung führt. Moral ist nach dieser Auffassung ein kooperatives Unternehmen zum gegenseitigen Vorteil; eine gerechte Gesellschaft ist für Gauthier eine Gesellschaft, die jeder Person das Erreichen des für sie optimalen Guten ermöglicht, sofern die Spielregeln für alle akzeptabel sind.85 Was spricht für eine solche Konzeption von Moral? Ihre Proponenten machen geltend, daß sie von einer realistischen Anthropologie ausgehen, indem sie den Menschen so sehen, wie er sich faktisch darstelle: ein ichbezogenes Wesen, das ein besonderes Interesse an sei83 Gauthier (1986), S. 102f. 84 Ebda., S. 133-137. Die „relative Konzession" ist dabei definiert als das Verhältnis zweier NützlichkeitsDifferenzen oder Intervalle ("a proportion of two utility-differences or intervals"), was einen Vergleich der jeweiligen Konzessionen der verschiedenen Personen in einer bargaining-Situation erlaubt, ohne einen interpersonellen Nutzenvergleich anstellen zu müssen. Gauthier verdeutlicht diese Idee an folgendem Beispiel: Wenn man drei verschiedene Temperaturen einmal auf der Celsius- und einmal auf der Fahrenheitskala mißt, so ergeben sich in Graden gemessen unterschiedliche Differenzen oder Intervalle zwischen diesen Temperaturen. Aber das Verhältnis zwischen den Intervallen ist unabhängig von der jeweiligen Skala das gleiche. (Ebda., S. 136.) 85 Ebda., S. 341.
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Feministische
Kritik an Vertragstheorien
der Moral
nem Wohlergehen und der ihm unmittelbar Nahestehenden hat, dem aber seine Mitmenschen im allgemeinen relativ gleichgültig sind. Zudem setze ihre Moraltheorie bei empirischen Gegebenheiten an, den tatsächlichen Interessen und Präferenzen der Individuen, wodurch sie zu keinerlei „metaphysikverdächtigen" Annahmen, ähnlich Kants Begriff eines von den empirischen Neigungen getrennten transzendentalen Subjekts, gezwungen sei. Desgleichen gelinge dieser Theorie eine allgemein einsichtige und nachvollziehbare empirische Begründung moralischer Grundsätze, insofern diese das Ergebnis einer auf rationalen Erwägungen beruhenden Verhandlung darstellen. Ein solches Verständnis von Moral, um seine grundlegende Schwäche anzusprechen, hat einer instrumenteilen Sicht auf Mitmenschen so gut wie nichts entgegenzusetzen und vernachlässigt den Stellenwert moralischer Gefühle. Eine individualistische Moralkonzeption ist eine „Moral des Intellekts", für die sich intellektuelle Fähigkeiten auf selbstbezogene Interessenerwägungen reduzieren und die jenes für das Phänomen der Moral konstitutive komplizierte Zusammenspiel von Verstand und affektiven Empfindungen ignoriert, auf das uns David Hume so eindringlich hinweist. 86 Vor allem zieht dieser Ansatz, um auf jenen Punkt zu kommen, den auch Virginia Held und Annette C. Baier zum Ausgangspunkt ihrer Kritik machen, asymmetrische Beziehungen und Verhältnisse nicht in Betracht. Die Kooperationsmaschinerie unter rein egoistisch denkenden Individuen kommt überhaupt nur aufgrund einer Symmetriebedingung in Gang - weil bei ausgeglichenen Kräfteverhältnissen jeder dem anderen gefährlich werden kann, entschließen sie sich zu vertraglichen Übereinkünften. Das klassische Beispiel ist wie erwähnt die Hobbessche Theorie, die eine faktische Gleichheit der Menschen in bezug auf Stärke und Macht unterstellt. Doch eben dies trifft in der sozialen Wirklichkeit nicht zu. Die Menschen sind einander keineswegs gleich an Kräften und Möglichkeiten; eine Reihe von Personen - Kleinkinder, alte, kranke und behinderte Menschen - sind anderen nicht nur an Kräften weit unterlegen, sondern schlicht von anderen abhängig und auf deren Hilfeleistungen angewiesen. Genau wegen des fehlenden empirischen Machtgleichgewichts zwischen Personen driften egoistisches Räsonieren und Moral auseinander. Ein rationaler Egoist, der sich in der Rolle eines Herrschers mit unumschränkten Machtbefugnissen befindet, wird nur aus der eigeninteressierten Überlegung, daß eine gewisse historische Evidenz für den machtstabilisierenden Effekt dieser Maßnahmen spricht, seinen Untertanen Zugeständnisse machen; und angenommen, er wüßte seine Position durch ein ausgeklügeltes Re86 Gauthiers Aussagen zu moralischen Gefühlen sind einigermaßen widersprüchlich. Einerseits benützt er das Argument Kants - Moral dürfe nicht auf einer idiosynkratischen Basis wie kontingenten Gefühlen beruhen - , um Humes These, daß Moral etwas mit sympathetischer Anteilnahme zu tun hat und Mitgefühl ein Motiv für moralisches Handeln sein kann, zurückzuweisen, wobei er übersieht, daß Kants Vorbehalt an Hume vorbeigeht. (Siehe Gauthier 1986, S. 103.) Auf der anderen Seite charakterisiert er affektive Fähigkeiten und eine affektive Bindung an die Moral auf Seiten der Gesellschaftsmitglieder als notwendige Voraussetzung, um gesellschaftliche Destabilisierungseffekte zu vermeiden. (Ebda., Kap. 11, bes. S. 348ff.) In der Tat wäre ein Ansatz, der die Forderungen der Moral auf kontingenten Gefühlen basiert, höchst fragwürdig. Aber eine Moraltheorie kann moralischen Empfindungen den ihnen gebührenden Stellenwert einräumen, ohne diese zur Grundlage der Moral erklären zu müssen - und Humes Theorie ist dafür das beste Beispiel. Gerade Kants Argumentation sollte man nur eingeschränkt verwenden, da sie sich nur gegen den Versuch richtet, Moral auf Gefühlen zu begründen, und allzuleicht zu einer pauschalen Ausgrenzung von moralischen Empfindungen und damit zu einer unhaltbaren Verkürzung der Moraltheorie führt.
Paradoxien
ökonomischer
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pressions- und Kontrollsystem perfekt abgesichert, so wäre er nicht einmal dazu gezwungen. Vom Standpunkt der Moral disqualifizieren sich seine Praktiken aber eindeutig, und mit der Idee einer gerechten Gesellschaftsordnung hat ein solches System nichts zu tun. Es lassen sich unzählige Beispiele finden, wo Menschen aus egoistischen Interessenerwägungen mit anderen kooperieren, dies aber von einer respektvollen Behandlung anderer als Personen weit entfernt ist. Der rationale Individualismus verfügt über keinerlei Barriere dagegen, daß der von der Maxime egoistischer Nutzenverfolgung bestimmte Umgang mit anderen Menschen nicht in deren Instrumentalisierung kippt. Das gewichtigste Defizit der individualistischen Theorie der Moral ist, daß sie nur dann eine Übereinstimmung der Ergebnisse ökonomischer Rationalität87 mit den Forderungen der Moral erreicht, wenn sie eine symmetrische Verteilung gesellschaftlicher Machtpositionen unterstellt. So weist Peter Koller an einer spezifischen Variante eines Zwei Personen-Gefangenendilemmas nach, daß bei Fehlen einer Symmetriebedingung Entscheidungsrationalität und moralische Erwägungen auseinanderklaffen.88 Koller fügt in seinem Beispiel - einem Ehepaar in einer Krise, für das sich aufgrund schwieriger finanzieller Verhältnisse eine Scheidung verbietet - den zwei Handlungsalternativen, wie sie für die GefangenendilemmaSituation typisch sind, eine dritte Handlungsalternative hinzu. Dadurch eröffnet sich eine neue Kooperationsmöglichkeit, die aber ein Machtungleichgewicht zwischen den beiden Personen zum Ausdruck bringt - entsprechend dem klassisch-patriarchalen Design des Beispiels befindet sich die Frau in der schwächeren Position. Koller zeigt nun, daß sich im Fall dieses asymmetrischen Verhältnisses, wenn beide Personen als eigeninteressierte Akteure jene Strategie verfolgen, die ihnen den größten Nutzen bringt, eine Form der Kooperation ergibt, die vom Standpunkt der Moral nicht akzeptabel ist, da sie auf eine Benachteiligung einer der beiden Personen, in dem Fall der Frau, hinausläuft. Möglicherweise könnte ein Vertreter einer individualistischen Konzeption dagegen einwenden, daß dieses Ergebnis nicht weiter erstaunlich ist, da Koller die Situation schon in Form eines Ungleichgewichts charakterisiert hat. Aber diese Kritik ist nicht zielführend, da die in dem Beispiel angenommene Situation ungleicher Möglichkeiten ja durchaus den realen Verhältnissen entspricht. Und der rationalistische Ansatz kann nicht beides haben: Er kann nicht auf der einen Seite beanspruchen, eine Moralkonzeption zu vertreten, die bei nichts als den empirischen Interessen und Präferenzen der Individuen ansetzt und gleichzeitig so starke normative Voraussetzungen wie die Gleichheit und Statussymmetrie der Individuen treffen. Infolge ihrer impliziten Gleichheitsvoraussetzung untergräbt die rational87 Ich verwende im folgenden die Termini „ökonomische Rationalität" oder „egoistische Rationalität" für das an die Verfolgung des Eigeninteresses geknüpfte Verständnis rationalen Handelns und nicht, wie es oft geschieht, den Begriff „instrumenteile Rationalität". Dies deshalb, da mir eine instrumentelle Rationalitätskonzeption im Sinne eines zweckgerichtet rationalen Verhaltens und Handelns die einzig plausible Explikation von „Vernunft" scheint und ich zwischen der instrumenteilen und der ökonomischen Rationalität differenzieren möchte - die ökonomische Rationalität bildet nur eine Unterart der instrumenteilen Rationalität. Die besonders in nachkantischen Ethik-Ansätzen der instrumenteilen Rationalität häufig gegenübergestellte „universelle Vernunftkonzeption" beläuft sich auf nichts anderes als eine Reformulierung der mit dem moralischen Standpunkt verknüpften Bedingungen und macht als Erklärung rationalen oder vernünftigen Handelns für sich genommen keinen Sinn. Vgl. dazu das Kapitel 13.1 dieser Arbeit. 88 Siehe Koller (1994a), S. 299-304.
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Kritik an Vertragstheorien
der Moral
individualistische Moralkonzeption ihren eigenen Anspruch, mit rein empirischen Annahmen auszukommen, denn Gleichheit ist nichts anderes als ein moralisches Ideal. Auch Gauthier nimmt ja eine faire Ausgangsposition an, was ihm konsequenterweise auch von einer Kritikerin den Vorwurf einträgt, entgegen seinem ehrgeizigen Projekt, die Moral auf Rationalität zu begründen, nichts anderes zu tun, als die „Moral aus der Moral" herzuleiten. 89 An diesem Punkt stellt sich die grundsätzlichere Frage, wie weit ein auf der Entscheidungstheorie aufbauender Ethik-Ansatz nicht prinzipiell verfehlt ist. Relevant für die Ethik kann die Entscheidungstheorie nur sein, wenn sie präskriptiv interpretiert wird: Sie sagt uns, wie wir uns als rational Handelnde verhalten sollen. Aber zunehmend wird bezweifelt, ob die Theorie dies leisten kann. So argumentiert Robert Sugden, daß einige Implikationen der Theorie egoistischer Rationalität - rationale Akteure handeln immer gemäß der Maximierung des persönlichen Vorteils - das Unternehmen der Entscheidungstheorie insgesamt fraglich machen. 90 Zur Untermauerung seiner Skepsis bezieht sich Sugden auf ein Gedankenexperiment von Gregory S. Kavka, welches demonstriert, daß eine solche Rationalitätskonzeption nicht immer zur Maximierung des Eigennutzens, sondern gerade zum gegenteiligen Effekt führt. 91 Das fiktive Beispiel: Ein exzentrischer Millionär macht Person A an einem Montag folgendes Angebot. Am Dienstag nachmittag werde A offeriert, ein Gift zu trinken, das für 24 Stunden extreme Übelkeit nach sich ziehe, aber sonst keine anhaltenden Konsequenzen habe. A erhalte eine Million Dollar genau dann, wenn Montag um Mitternacht eine mit einem perfekten „Gehirn-Scanner" arbeitende Kommission von Psychologen zu der Auffassung gelangt, daß A tatsächlich die Absicht hat, Dienstag nachmittag das Gift zu trinken. (Vorausgesetzt wird, daß die Kommission in jedem Fall zu einem absolut verläßlichen Ergebnis kommt, so daß A mit Sicherheit davon ausgehen kann, die Million Dollar nur zu bekommen, wenn sie wirklich beabsichtigt, das Gift zu trinken.) Die Entscheidung der Kommission werde unmittelbar nach der Befragung bekanntgegeben und A erhalte sofort das Geld, sollte das Gremium zu dem Urteil gelangen, daß A wirklich die fragliche Absicht hegt. Die Million gehöre A, selbst wenn A nach Erhalt des Geldes das Gift nicht trinke. Entscheidend sei, ob A Montag um Mitternacht die Absicht hat, Dienstag nachmittag das Gift zu schlucken. Das Problem stellt in dem Fall nicht die Glaubwürdigkeit dar; sofern A das Gifttrinken intendiert, wird die Kommission ihr glauben. Die entscheidende Frage, die Kavka mit diesem Beispiel aufwirft, ist, ob es A überhaupt möglich ist, die fragliche Absicht zu entwickeln. Und Kavka verneint dies: Wenn Person A rational (im Sinne der Maximierung des Eigennutzens) ist, bleibt für sie die Million Dollar unerreichbar. Denn Dienstag nachmittag wird - unabhängig davon, ob sie die Million Dollar bekommen hat oder nicht - A keinerlei Grund haben, das Gift zu trinken. Da sich A per definitionem rational verhält, wird sie Dienstag nachmittag das Gift nicht trinken. Aber all das weiß A bereits am Montag, was bedeutet, daß sie am Montag schlichtweg nicht die ehrliche Absicht entwickeln kann, am Dienstag das Gift zu trinken. 92 89 Vgl. Smith (1991), S. 249-253, bes. S. 253. 90 Siehe Sugden (1991). 91 Kavkas Beispiel findet sich in Kavka (1983); siehe auch Sugden (1991), S. 778-782. Ich halte mich im folgenden an Sugdens Darstellung, die nur in unwesentlichen situativen Details von Kavkas ursprünglicher Fassung abweicht. 92 Siehe Kavka (1983), S. 34f.; vgl. Sugden (1991), S. 779.
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Sugden denkt die Geschichte nun weiter: Angenommen, der Millionär macht das Angebot zwei Personen, der „rationalen" Rachael und der „irrationalen" Irene. Rachael, rational, beabsichtigt nicht, das Gift zu trinken. Sie versucht zwar, die Intention vorzutäuschen, hat aber wie zu erwarten keinen Erfolg damit. Irene, irrational, nimmt an, daß eine von ihr formierte Absicht, etwas zu tun, einen hinreichenden Grund dafür darstellt, entsprechend zu handeln.93 Insofern kann sie der Kommission glaubwürdig versichern, daß sie das Gift trinken will und sie überzeugt. Absicht und verbale Willenskundgebung decken sich, denn zum einen geht Irene davon aus, daß ihre am Montag entwickelte Absicht ihr am Dienstag einen Grund liefert, das Gift zu trinken, und die Aussicht auf eine Million Dollar ist Grund genug, diese Absicht überhaupt zu haben. Am nächsten Tag, als Irene sich anschickt, das Gift zu trinken, weist Rachael sie auf die Irrationalität ihres Tuns hin; nicht ohne Grund, denn wozu sollte sich Irene nun, da sie bereits Millionärin ist, 24 Stunden Übelkeit antun? Während sie das Gift trinkt, kontert Irene ihrem rationalen Gegenüber: "If you're so smart, why ain't you rieh?"94 Irenes Erwiderung ist, wie Sugden betont, ernst zu nehmen. Denn ein aus der Sicht ökonomischer Rationalität irrationales Verhalten bringt Irene einen erheblichen Nutzengewinn; und dies gilt für zahlreiche, weit weniger bizarre Situationen als das geschilderte Beispiel. Wenn, wie Sugden annimmt, Absichten nicht gänzlich undurchschaubar sind, weil die Semantik menschlichen Verhaltens eine Reihe von Hinweisen auf dahinterstehende Intentionen liefert, dann ist Irene in ihrem „Kantischen Verhalten" 95 - einmal geformte Intentionen realisiert sie, weil diese hinreichende Handlungsgründe darstellen - einer simpel nutzenorientierten Handlungsstrategie wie jener Rachaels in vielen Fällen überlegen. Selbst Modifikationen des Standardkonzepts ökonomischer Rationalität helfen nach Sugdens Meinung hier nicht weiter. Sugden erwähnt beispielsweise McClennens Versuch, die Standardkonzeption durch ein pragmatisches Rationalitätskriterium zu ergänzen. Diesem pragmatischen Kriterium gemäß wäre ein Entscheidungsverfahren dann rational, wenn wirklich die Ziele einer Person verfolgt und ein bestimmter Plan durchgezogen wird.96 Aber Sugden zufolge würde auch diese modifizierte Auffassung von Rationalität - als rational gilt ein „entschlossenes Entscheidungsverhalten" - Rachael im Fall des Gift-Millionen-Deals wenig nützen. Als Rationalistin entscheidet sich Rachael aus Gründen der Vorteilsmaximierung sie will das bestmögliche Ergebnis - für das Durchziehen ihres Plans, und genau dieser egoistische Zugang vereitelt aufs neue, daß sie die Million Dollar bekommt. Da sie sich aus rein vorteilsorientierten Erwägungen zu einem resoluten Entscheidungsverhalten entschließt, findet sie sich Dienstag, selbst wenn sie den Kommissionstest erfolgreich absolviert, wiederum 93 Irene ist freilich nur „irrational" in dem Sinn, daß sie sich nicht an der Idee der persönlichen Nutzenmaximierung orientiert. Gemäß einem weiteren Begriff von Rationalität, der auch durchaus unserem Alltagsverständnis entspricht, wonach „rational handeln" einfach bedeutet, die geeigneten Mittel zu wählen, wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will, handelt Irene nicht irrational. Dies zeigt auch, welche Verengung des Begriffs des „rationalen Handelns" ein auf die subjektive Vorteilsmaximierung reduziertes „egoistisches" Rationalitätsverständnis mit sich bringt. 94 Sugden (1991), S. 780. 95 Nach Sugden kann man Irenes Agieren als „Handeln nach einem selbstgegebenen Gesetz" begreifen. Allerdings wäre es meiner Meinung nach verfehlt (Sugden kokettiert ein wenig in die Richtung einer Kantischen Theorie), das an diesem Beispiel demonstrierte Scheitern einer „ökonomisch-egoistischen" Rationalitätskonzeption schon als Bestätigung für ein Kantisches Vernunftkonzept aufzufassen. 96 Vgl. McClennen (1990), S. 229ff.
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in der Situation, daß sie aus den gleichen Überlegungen ihren ursprünglichen Entschluß brechen muß: Rachael hat am Dienstag nach wie vor keinen Grund, das Gift zu trinken. Da sie dies aber schon klar am Montag vorhersehen kann, bietet eine pragmatische Rationalitätskonzeption in Form eines entschlossenen Wahlverhaltens gleichfalls keine Lösung.97 Sugden sieht die Schwierigkeit darin, daß Rachael aus rein „instrumenteilen Gründen" ("purely instrumental reasons") handle. Diese Diagnose ist insofern problematisch, als sie nahelegt, daß es so etwas wie „nicht-instrumentelle" Gründe gibt. Aber alle Gründe sind „instrumenten" in dem Sinn, daß sie mit einem Ziel zusammenhängen; Person A hat eben nur dann einen Grund, y zu tun, wenn y das Mittel darstellt, z zu erreichen, und A genau z will. Sugden benennt mit der Charakterisierung „instrumentell" recht besehen auch nur eine bestimmte Art von Gründen: nämlich jene, die mit dem spezifischen Handlungsziel des optimalen egoistischen Nutzengewinns zusammenhängen. Es gibt aber eine Vielzahl von Handlungszielen, und in manchen Fällen kann es wichtig sein, nicht nur den subjektiven Nutzen im Blick zu haben. Irene ist Rachael genau deswegen überlegen, da sie mehr an Handlungsgründen zuläßt und ihr auch andere Dinge als nur die egoistische Vorteilsverfolgung wichtig sind - was auch Sugden im Grunde meint: "Irene's advantage is that she does not act on a forward-looking conception of rationality. We might explain Irene's perspective in Kantian terms by saying that when she chooses to carry out her previous intentions rather than to pursue her current interests, she is acting on a self-imposed law. Or, if we think in Humean terms, we may say that she has a primitive desire to act on her past intentions, and that this desire provides her with a reason for acting on them. Whichever of these accounts we give, Irene is not being resolute because, from a forward-looking point of view, it pays to be resolute (even though it does so pay). She just is resolute." 98 Das Problem ist also nicht eine an Zweck-Mittel-Relationen ausgerichtete Rationalitätskonzeption, was durch Sugdens Kritik an Rachaels „instrumenteilen Gründen" in gewisser Weise suggeriert wird, sondern die Verknüpfung von Rationalität und individueller Vorteilsmaximierung. Aber nichts weist letzteres als zwingend notwendig aus. Denn „Rationalität" im Sinne „rationalen Verhaltens" bedeutet nur, sein Handeln an Gründen auszurichten, die aus bestimmten Zielsetzungen resultieren, und die fraglichen Ziele müssen nicht auf das ausschließliche Erreichen des subjektiven Nutzenoptimums zusammenschrumpfen. Nach Sugdens Meinung verdeutlicht das Beispiel von Irene und Rachael eine Grundlagenkrise der rational choice-Theorie. Diese Folgerung scheint jedoch überzogen. Das Beispiel unterstreicht nur die Schwierigkeiten einer ökonomischen Rationalitätskonzeption; die Entscheidungstheorie für sich genommen verlangt nicht, daß „Rationalität" nur im Sinne individuell-optimierender Rationalität ausgelegt werden darf.99 Der im Toxin-Puzzle vorausgesetzte ökonomische Rationalitätsbegriff produziert „selbst-zerstörerische" Effekte; wer diesem Rationalitätsverständnis entsprechend handelt, realisiert seine Präferenzen weit weniger gut, als wenn er gemäß einer „irrationalen" Handlungsmaxime vorgegangen wäre.100 97 Siehe Sugden (1991), S. 781. 98 Ebda. (Kursivsetzung im Original). 99 Vgl. Kap. 13.1, F N 9. 100 Julian Nida-Rümelin wendet gegen die individuell-optimierende Rationalitätskonzeption ein, daß sie normativ interpretiert - zur „kollektiven Selbstaufhebung des Konsequentialismus" (sein Begriff für
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Aus welchen Gründen sollte ein ökonomisches Rationalitätsmodell den Standard für das vernünftige Handeln von Menschen schlechthin bilden und auf soziale Interaktionen insgesamt übertragen werden? Sind die relevanten normativen Kriterien, die menschliche Beziehungen erfüllen müssen, damit sie moralische Billigung verdienen, wirklich keine anderen als jene Konzessionen und Abstriche von ihren Maximalansprüchen, zu denen Menschen um eines langfristig größeren Vorteils bereit sind? Vertreter eines individualistischen Ansatzes berufen sich gerne darauf, daß auch unter rationalen Egoisten Kooperation und Solidarität möglich sind. 101 Es gilt als relativ gesichertes Ergebnis der Spieltheorie, daß ein rationaler Egoist im Fall fortdauernder Beziehungen und wiederholter Interaktion mit anderen sehr gut mit der Alltagsregel „Wie du mir, so ich dir" (tit for tat) fahrt: Man beginnt der anderen Person gegenüber kooperativ, und wenn die andere Person auch kooperiert, wählt man im nächstfolgenden Interaktionsschritt wieder die Kooperationsoption. Nur wenn die andere Person defektiert, entscheidet man sich im nächsten Schritt für Nicht-Kooperation. Die Proponenten ökonomischer Rationalität übersehen dabei aber, daß diese Form rein strategischen Verhaltens nicht dem üblichen Verständnis von Solidarität gerecht wird, das immer auch die Idee der Loyalität gegenüber einer anderen Person um dieser Person willen beinhaltet. Ein nicht-egoistisches Rationalitätsverständnis eröffnet dagegen einen grundlegend anderen Blick auf menschliches Verhalten und auf Moral; es läßt Raum für Empfindungen, Bindungen, Zugehörigkeiten und Gemeinsamkeiten - all jene in moralischer Hinsicht maßgeblichen Phänomene, die so tief unser persönliches und gesellschaftliches Leben durchdringen und gestalten. Die Rahmenbedingungen sozialer Interaktionen verändern sich unter dieser Perspektive so nachhaltig, daß sich die für einen rational-egoistischen Zugang typischen Probleme nicht mehr ergeben. So stellt sich für Personen, für die Loyalität und Solidarität Werte darstellen und die sich einander dadurch verbunden wissen, das Gefangenendilemma nicht in der Form wie für rationale Egoisten. 102 Nur wenn rationales Verhalten mit der Verfolgung des Eigeninteresses gleichgesetzt wird, erlangt der Punkt, daß in bestimmten Situationen ein kooperatives und gemeinsinnorientiertes Handeln optimalere Ergebnisse zeitigt, überhaupt Bedeutung. Das Dilemma ergibt sich gar nicht, wenn den Beteiligten Solidarität, Freundschaft und Gemeinsamkeit vertraut sind. Von einem Standpunkt, der soziale Bindungen zuläßt, erledigt sich das ganze Problem des Gefangenendilemmas, und der Aufwand, mit einen „rational-individualistischen Ansatz") führt. Von einer vernünftigen Entscheidung (erst recht, wenn sie beansprucht, moralisch legitim zu sein) erwarten wir, daß sie gegenüber jeder Person gerechtfertigt werden kann. Nun läßt sich, so sein Argument, die durch die individuell-optimierende Rationalitätskonzeption vorgegebene Handlungsregel im Fall des Gefangenendilemmas gerade nicht kollektiv rechtfertigen. Beide Gefangenen würden nämlich ein günstigeres Ergebnis erzielen, wenn sie sich nicht daran halten. Wie Nida-Rümelin betont, wird dies noch deutlicher bei Auftreten einer dritten Person. Als Rationalistin im Sinne des Konsequentialismus könnte diese dritte Person nur beiden Gefangenen empfehlen zu gestehen, was eben zu dem nicht-optimalen Ergebnis führt. Seine Schlußfolgerung: „Die kollektive Selbstaufliebung des rationalen Konsequentialismus nimmt bei einer normativen Interpretation des rationalen Konsequentialismus den Charakter immanenter Widersprüchlichkeit an." Nida-Rümelin (1993), S. 164 (Kursivsetzung im Original). 101 Vgl. Schüßler (1990). 102 Vgl. dazu auch Baier (1986), S. 118f., die der auf Gefangenendilemma-Situationen konzentrierten Spielart zeitgenössischer Moralphilosophie eine zwanghafte Fixierung auf Beziehungen zwischen minimal vertrauenswürdigen und einander mißtrauenden Erwachsenen vorwirft.
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dem Vertreter des individualistischen Paradigmas demonstrieren, daß auch unter rationalen Egoisten Kooperationsverhalten möglich ist, wirkt schlicht müßig. Der Rationalitätsbegriff ist, so meine ich, in einem weiteren Sinn zu fassen - nichts schreibt zwingend vor, ihn von vornherein im Sinne der ökonomischen Rationalität zu interpretieren. Nach dem Common sense- Verständnis bedeutet „Rationalität" die für das Erreichen eines Zieles geeigneten Mittel zu wählen. Über die Art der Ziele ist damit aber nichts gesagt. Sie werden in bestimmten Kontexten jeweils andere sein, also im Kontext persönlicher Beziehungen andere als etwa in ökonomischen Handlungsbereichen. Entscheidend ist: Akzeptiert man die Prämisse, daß moralische Erwägungen allen anderen praktischen Erwägungen übergeordnet sein sollten, so folgt, daß die Moral als die übergeordnete normative Instanz unseres Tuns aus dem Bereich der möglichen Handlungsziele die zulässigen herausfiltert. Anders gesagt: Der Rationalitätsbegriff definiert eine bestimmte allgemeine Struktur des Zusammenhangs von Handlungsgründen, Handlungszielen und entsprechenden Handlungsschritten. In diese allgemeine Struktur passen nun - abhängig von den in unterschiedlichen Kontexten als angemessen zu betrachtenden Zielen - verschiedene spezifischere Rationalitätsausdeutungen. Das ökonomische Rationalitätsverständnis ist demnach als eine Variante oder als ein Teil eines breiteren Rationalitätsbegriffs zu betrachten; ein Teil, der nur für einen partiellen Sektor unserer Handlungsmöglichkeiten Gültigkeit beanspruchen darf.103 So gesehen läßt sich nun klarer benennen und erkennen, warum die ökonomische Rationalitätsauffassung nicht auf das Phänomen des moralischen Handelns angewandt werden kann. Für den Kontext der moralisch relevanten Situationen ist charakteristisch, daß nur bestimmte Handlungsziele als legitim zugelassen sind, nämlich jene, die der unparteilichen Perspektive des moralischen Standpunkts als der Berücksichtigung aller Betroffenen gerecht werden. Und dieses Kriterium erfüllt das mit dem ökonomischen Rationalitätsbegriff verknüpfte Handlungsziel der egoistischen Nutzenmaximierung - die individuelle Parteilichkeit par excellence gerade nicht. Fassen wir zusammen: Virginia Held hat mit ihrer feministischen Akzentverschiebung in der Wahrnehmung von sozial maßgeblichen Interaktionsformen und der Forderung, daß unsere theoretischen Konzeptionen von Moral auch der für den moralischen Erfahrungsbereich von Frauen so bedeutsamen Beziehung zu Kindern gerecht werden müssen, zweifellos auf entscheidende Schwachstellen des individualistischen Vertragsansatzes hingewiesen. Die Analyse einer gelungenen Beziehung zu Kindern vermittelt uns einiges an Aufschlüssen über moralische Werte und Ideale, die über einen moraltheoretischen Egoismus weit hinausreichen. Das für die angemessene Betreuung von Kindern so wesentliche und aus moralischer Perspektive bedeutsame Phänomen des Caring, das umfassend wohlwollende Eingehen auf eine andere Person und ihre Bedürfnisse, kann in einen individualistischen Ansatz nicht integriert werden. Die Eltern-Kind-Beziehung steht in einem diametralen Gegensatz zu der Art und Weise, wie ein rationaler Egoist seine Beziehungen zu anderen definiert. Doch die Kritik läßt sich verallgemeinern: Die grundlegenden Prämissen des individualistischen Moralansatzes sind nicht nur mit der Beziehung zu Kindern, sondern auch anderen für das Leben der meisten Menschen wertvollen und bedeutsamen Bindungsformen schwer in Einklang zu bringen. Gerade aus dem Blickwinkel einer feministischen Ethik sind zwei Punkte maßgeb103 Amartya K. Sen bezweifelt sogar die Angemessenheit des ökonomischen Rationalitätsverständnisses für den Bereich der Ökonomie. Siehe Sen (1977).
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lieh: die Rücksichtnahme auf abhängige, schwächere Personen und das Achten anderer als Personen mit dem korrespondierenden Verbot ihrer Instrumentalisierung. Aus diesen Gründen disqualifiziert sich der individualistische Vertragsansatz. Wie steht es nun mit der universalistischen Variante der Vertragstheorie? Bietet diese den geeigneten theoretischen Rahmen für eine feministische Ethik? Wesentlich für die universalistische Vertragskonzeption ist wie erwähnt die Überlegung, daß jene Grundsätze, Regelungen und Bestimmungen als gerechtfertigt gelten, auf die sich Individuen von einem Standpunkt der Freiheit und Gleichheit in einem fairen Verfahren geeinigt hätten. Aber wenn man die moraltheoretische Dimension dieser Idee auslotet, so wird deutlich, daß sie nichts anderes darstellt als die mit der Verallgemeinerungsformel des kategorischen Imperativs verknüpfte Idee der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit. Im Kontext der politischen Philosophie ist die fiktive Vorstellung eines ursprünglichen Vertrags aller Bürgerinnen und Bürger eine hilfreiche und maßgebliche normative Konstruktion, um den gerechten Zuschnitt gesellschaftlicher Institutionen zu prüfen - und die Anwendung dieses Modells auf die Familie und die organisatorischen Strukturen der sogenannten „privaten Sphäre" ist aus feministischer Perspektive eminent wichtig. Aber bezogen auf die Moral bringt eine universalistische Vertragstheorie nicht mehr an Elementen ins Spiel als jene, die sich ohnehin schon in einer universalistischen Moraltheorie kantischen Zuschnitts finden. Und genau jene Phänomene, die in der an Carol Gilligan anschließenden feministischen Ethik-Debatte so wichtig wurden, nämlich Anteilnahme, Fürsorglichkeit und moralische Gefühle, erfahren in einer universalistischen Vertragstheorie um kein Quentchen mehr an Beachtung als in den deontologischen Standardversionen eines universalistischen Moralansatzes.104 Susan Moller Okin versucht, wie wir gesehen haben, über eine andere Lesart der Rawlsschen Ausgangsposition die Zugänglichkeit von Rawls' Theorie für Empathie, Anteilnahme und die Sorge für konkrete Andere zu zeigen. Es scheint mir allerdings höchst fraglich, ob Okin mit ihrer Reformulierung des Urzustands dieses Ziel erreicht. Wir können uns sehr wohl eine Vorstellung von den möglichen Positionen in unserer Gesellschaft machen, ohne daß wir Empathie und Mitgefühl für die realen Personen empfinden, die sich in einer ungünstigen Lage befinden. Zu überlegen, welchen Gerechtigkeitsprinzipien jemand zustimmen würde, wäre er - ein Beispiel Seyla Benhabibs - die von Wohlfahrtshilfe lebende schwarze Mutter dreier unehelicher Kinder in einer rapide verfallenden städtischen Umgebung oder der schwer behinderte Mann, der keinen Arbeitsplatz findet, involviert noch nicht Anteilnahme am Schicksal dieser Personen - nicht in der fiktiven Situation des Urzustands und schon gar nicht, wenn der Schleier der Unwissenheit gelüftet und man eine andere Person ist. Genau in diese Richtung zielt ein Gutteil der Einwände von Annette C. Baier und Virginia Held, aber auch Seyla Benhabib und Iris M. Young: das Fehlen von Faktoren wie Anteilnahme und Empathie für die jeweiligen besonderen Personen in den liberalen Vertragstheorien. Rawls' Theorie, und hier liegt auch das Körnchen Wahrheit in der kommunitaristischen Kritik, benötigt, wie ich im zweiten Teil dieser Arbeit noch zeigen werde, eine weitergehende Modifikation, als sie Okin unternimmt, um die feministische Skepsis gegenüber seiner Theorie ausräumen zu können. 104 Bezeichnend in dem Zusammenhang ist, daß Jean Hampton den Bereich der Moral so definiert, daß sie altruistische Werte wie Anteilnahme und Fürsorglichkeit als "beyond morality" klassifiziert. Siehe Hampton (1993), S. 250f.
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Bedürfnisinterpretationen und das gute Leben: Seyla Benhabibs feministische Diskursethik
Seyla Benhabibs Modell einer feministisch transformierten kommunikativen Ethik stellt einen der bemerkenswertesten und pointiertesten Versuche dar, die Einsichten Carol Gilligans auf moraltheoretischer Ebene umzusetzen. In mehreren Arbeiten1 hat Benhabib die Defizite der Diskursethik aus dem Blickwinkel der Geschlechterdifferenz aufgedeckt: Trotz einer vordergründig fortschrittlichen Akzentuierung reflektiere sich in den methodologischen Rahmenbedingungen der Diskursethik ein androzentrischer Blickwinkel. Die Struktur praktischer Diskurse mit dem Ziel einer als Begründung ausweisbaren vernünftigen Einigung auf bestimmte Handlungsnormen favorisiere als Teilnehmer eindeutig das männliche Subjekt. Ihren Alternativentwurf einer kommunikativen Ethik, in dem auch Frauen mit ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und Belangen zu Wort kommen, untermauert Benhabib mit grundsätzlichen philosophischen Überlegungen zu Aufbau und Reichweite einer Diskursethik. Ich werde zunächst anhand einiger kurzer Erläuterungen zum Programm einer kommunikativen Ethik Benhabibs allgemein-theoretische Argumente darlegen und anschließend erläutern, wo die spezifisch feministische Umformulierung ansetzt. In ihrer umfassenden Studie über die normativen Voraussetzungen der Kritischen Theorie 2 spannt Benhabib einen Bogen von Hegels Kritik an der Kantischen Moralphilosophie zu einer Bewertung von Habermas' Ethik-Ansatz, wobei sie von der These ausgeht, daß eine im zeitgenössischen Diskussionskontext erfolgende Reformulierung der Hegeischen Einwände die Schwachstellen in Habermas' Programm einer kommunikativen Ethik bloßlege. Die Hegeischen Bedenken richten sich gemäß Benhabibs Rekonstruktion gegen a) Kants Verallgemeinerungsverfahren, b) die institutionellen Defizite der Kantischen Theorie, die insbesondere in einer Beschränkung auf „quasi-rechtsförmige" Beziehungen manifest werden, c) die Moralpsychologie Kants, deren klassischer Dualismus von Rationalität und Emotionalität sich in der umstrittenen Pflicht-Neigung-Kontrastierung fortsetzt, und d) die Handlungstheorie Kants. 3 Obwohl die kommunikative Ethik nicht direkt ein Kants Pflichtidee korrespondierendes Element enthalte, so durchziehe sie doch, wie Benhabib bemerkt, 1
Siehe Benhabib (1989a), (1995b), (1995e) und (1995f). Nur am Rande sei angemerkt, daß es verblüffend ist, wie wenig eigentlich Seyla Benhabibs Thesen innerhalb der Diskursethik bislang rezipiert worden sind. So geht Habermas in den Erläuterungen zur Diskursethik, die eine Replik auf Kritiker darstellen, mit keinem Wort auf Benhabibs Einwände ein. Vgl. Habermas (1992a). (Benhabibs Buch über die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie erschien bereits 1986 in englischer Ausgabe, und der Aufsatz „Der verallgemeinerte und der konkrete Andere" wurde in einer ersten Fassung 1989 in einer deutschsprachigen Übersetzung publiziert.)
2 3
Benhabib (1992a). Ebda., S. 41-54. Ein dem vierten Hegeischen Einwand entsprechender Punkt entfällt bei Benhabibs Kritik der Diskursethik, da Habermas' Begriff des kommunikativen Handelns, wie sie betont, eine Revision von Hegels für sich genommen unzureichender Handlungskonzeption darstelle. Ebda., S. 186.
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Diskursethik
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ein vergleichbarer rationalistischer Zuschnitt, dem die vielfältigen Facetten moralischer Erfahrung zum Opfer fallen. Im wesentlichen lassen sich die Differenzen zwischen Benhabibs und Habermas' Ansatz auf drei Aspekte eingrenzen: a) eine im Gegensatz zu Habermas abgeschwächte Variante universalpragmatischer Begründung, b) eine Neufassung der Argumentationsregeln und c) eine Erweiterung der im Diskurs zu verhandelnden moralischen Fragestellungen. Zum ersten Punkt: Habermas' Begründungsprojekt beruht bekanntlich auf der Annahme, daß sich über die Rekonstruktion universaler Sprechaktvoraussetzungen die Basisbedingungen praktischer Diskurse und somit die Grundelemente einer Verfahrensethik gewinnen lassen. Im Gegensatz zu Apel, der über eine die Idee des pragmatischen Selbstwiderspruchs aktivierende Reflexion auf unhintergehbare Kommunikationsbedingungen eine transzendentale Letztbegründung versucht, begnügt sich Habermas mit dem schwächeren Anspruch einer auf universalpragmatischer Ebene möglichen Aufweisbarkeit der von kommunikativen Auseinandersetzungen über Normkonflikte immer schon vorausgesetzten Regeln.4 Nun führt Habermas neben den Bedingungen der idealen Sprechsituation - Symmetrie- und Reziprozitätsbedingungen in bezug auf Diskussionseröffnung, Diskussionsverlauf und Einbringen von Geltungsansprüchen, Rechtfertigungen und Begründungen - das Universalisierungsprinzip als Argumentationsregel praktischer Diskurse ein, wobei er diesen Grundsatz in zwei Fassungen ins Spiel bringt. Zum einen findet die Verallgemeinerungsidee in einem Prinzip allgemeiner Zustimmungsfähigkeit (D) Ausdruck, wonach „nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)".5 Zum anderen rekurriert er auf die Universalisierung in Form eines Folgenprinzips (U): „Die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, (können) von allen zwanglos akzeptiert werden." 6 Wie weit, und ob überhaupt, sich die offensichtliche Lücke zwischen den Voraussetzungen vernünftiger Rede und den Grundpostulaten von Habermas' prozeduraler Sprachethik schließen läßt, hat die Kritik nachhaltig beschäftigt. Benhabib gehört zu jenen zahlreichen Skeptikerinnen, welche die Herleitbarkeit von U aus den universalpragmatischen Konstanten argumentativer Rede bezweifeln. Sie sieht Habermas in diesem Punkt mit folgendem Dilemma konfrontiert: Stellt U nur eine Explikation der Argumentationsbedingungen praktischer Diskurse dar, erübrigt sich die gesonderte Einführung des Prinzips. Um seinen diskursiven Begründungsanspruch aufrecht erhalten zu können, darf Habermas für U streng genommen nur die rekonstruktive Interpretation wählen, was aber bedeutet, daß U redundant wird. Räumt Habermas hingegen ein, daß seine konsequentialistische Fassung des Universalisierungsprinzips auf eine Erweiterung der Bedingungen argumentativer Rede hinausläuft, so wird sein kommunikationstheoretischer Fundierungsversuch durchbrochen. Ohne substantielle Zusatzannahmen, so das Fazit von Benhabibs Argumentation, läßt sich U nicht gewinnen.7 Sie kritisiert Habermas' Bedingung U als „im besten Fall tautologisch und im schlimmsten inkonsistent".8 4
Vgl. Apel (1976b) und Habermas (1976).
5 6 7 8
Habermas (1983b), S. 103. Ebda. Siehe Benhabib (1992a), S. 191 f. Ebda., S. 191. Vgl. auch Benhabib (1995b), S. 37ff.
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Seyla Benhabibs feministische
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In einer späteren Arbeit wendet sie gegen U auch ein, wegen seines starken Konsequentialismus die bekannten Einwände gegen utilitaristische Theorien zu provozieren.9 Entsprechend verzichtet sie auf ein folgenorientiertes Universalisierungsprinzip und entscheidet sich für ein „schwaches" Begründungsprogramm der Ethik. Dieses Resultat leitet über zur zweiten Abweichung von Habermas: Benhabib gibt das Folgenprinzip U auf, hält aber am Grundsatz D - dem Prinzip allgemeiner Zustimmungsfahigkeit - fest. Dieses Prinzip läßt sich ihrer Meinung nach unter Bezugnahme auf universalpragmatische Rede- und Argumentationskonstanten rechtfertigen, wenn man sich klar mache, was es bedeutet, normative Geltungsansprüche als „diskursiv einlösbare" Behauptungen aufzufassen. Allerdings erfährt D in Benhabibs kommunikativer Ethik eine so weitgehende Marginalisierung - es mutiert zu einer Art Leitidee praktischer Diskurse - , daß es recht besehen nicht mehr die Funktion einer Argumentationsregel hat. Denn im Gegensatz zu Habermas verlagert Benhabib das Gewicht von der Erzielung eines Konsenses auf den Diskussionsprozeß an sich und die moralische Urteilsbildung durch faire und vernünftige Argumentationsverfahren und moniert: „In gewisser Weise ist es tatsächlich widersprüchlich, daß die fallibilistische Idee einer Universalpragmatik mit der nur schwer zu definierenden Idee des Konsensus verknüpft sein sollte."10 Wesentlich für Benhabibs ethische Theorie eines „sich seiner Geschichtlichkeit bewußten Universalismus"11 sind die Grundsätze der universellen Achtung (das Kernprinzip einer kommunikativen Ethik) und der Reziprozität. Erhalten bleibt die Idee, ein moralisches Problem bzw. einen normativen Konflikt vom Standpunkt aller Beteiligten aus zu analysieren und die Perspektive aller Betroffenen zu berücksichtigen. Über folgende Schritte definiert Benhabib ihr diskursethisches Programm: 1. Eine Moraltheorie sollte aufzeigen, worin die Begründung moralischer Urteile bzw. normativer Äußerungen besteht. 2. Das Begründen von moralischen Urteilen bzw. moralischen Normen bedeute zu zeigen, daß ein rationales Einverständnis prinzipiell möglich ist. 3. Das „rationale Einverständnis" muß Bedingungen genügen, die unseren Vorstellungen von einer fairen Auseinandersetzung entsprechen. 4. Die Regeln fairer Auseinandersetzung können als universalpragmatische Voraussetzungen argumentativer Rede rekonstruiert und als prozedurale Regeln reformuliert werden. 5. Diese Regeln reflektieren das moralische Ideal gegenseitiger Anerkennung (das Prinzip universeller Achtung) als Wesen, deren Standpunkte gleichermaßen der Berücksichtigung wert sind und die 6. einander als konkrete menschliche Wesen wahrnehmen sollen, deren Fähigkeit zum Beziehen dieses Standpunkts durch die Herausbildung sozialer Praktiken zu unterstützen ist, welche dieses diskursive Ideal (das Prinzip der egalitären Reziprozität) verkörpern.12 9 Es scheint mir zweifelhaft, daß eine deontologisch so stark abgesicherte Theorie wie Habermas' Diskursethik von diesen Einwänden berührt ist. Der Umstand, daß eine Moraltheorie die Konsequenzen von Handlungen oder Normen für berücksichtigenswert erklärt, setzt sie noch nicht den Argumenten gegen eine utilitaristische Theorie aus. Diese werden erst aktuell, wenn die Folgenerwägungen mit einem Nutzenmaximierungsprinzip verknüpft werden. 10 Benhabib (1992a), S. 209. Wie sie vermerkt, hat Habermas U wohl auch deshalb eingeführt, weil er glaubte, damit einen haltbaren Konsens und die moralisch gültige Auszeichnung bestimmter Normen zu erreichen. 11 Benhabib (1995b), S. 42. 12 Siehe Benhabib (1992a), S. 208; dies. (1995b), S. 42f.
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Den in Schritt 5 und 6 enthaltenen Grundsätzen universeller Achtung und wechselseitiger Anerkennung und Solidarität gesteht Benhabib explizit den Status substantieller moralischer Normen zu, wodurch sich die Frage nach deren möglicher nicht-zirkulärer Rechtfertigung stellt. Zur Begründung der materialen Prinzipien ihres Diskursmodells greift Benhabib auf eine Familie von Argumenten zurück, die keine universalpragmatische Rechtfertigung im engeren Sinn liefern, in denen aber kommunikative Aspekte eine gewichtige Rolle spielen. Ihr erstes Argument liegt noch auf universalpragmatischer Ebene: Die Idee fairer Argumentation setze die Anerkennung des anderen voraus. Da dies noch nicht die Herleitung der materialen Normen universeller Achtung und wechselseitiger Reziprozität absichert, verweist sie zur weiteren Untermauerung ihrer Grundsätze auf die unserem sozialen Verhalten impliziten Standards: Reziprozität, wechselseitige Anerkennung und Achtung seien Teil der Strukturen kommunikativen Handelns, welches für gewöhnlich den Hintergrundrahmen unserer Interaktionen bilde. Unter gewissen Bedingungen - Benhabib nennt extreme Gleichgültigkeit oder Feindseligkeiten - könne eine Kultur des Moments der Achtung verlustig gehen, aber normalerweise würden sich Achtung und Reziprozität in unsere Beziehungsformen integriert finden. 13 Als letztes Argument führt sie die Verschränkung von Vernunft und Freiheit an. Erscheine einem ein bestimmtes Moralprinzip als „vernünftig", so glaube man, andere davon überzeugen und sie zur „freien Zustimmung" bewegen zu können, was wiederum das Element der Achtung der anderen Person gegenüber voraussetze. 14 Ob und wie weit Benhabib mit diesen Argumenten der Balanceakt zwischen relativ schwachen kommunikativen Präsuppositionen und einer genügend gehaltvollen Ethik gelingt, kommt noch zur Sprache. Die dritte Modifikation von Habermas' Ansatz betrifft die Ausweitung der im Diskurs zu verhandelnden Fragestellungen. Habermas schränkt den Gegenstandsbereich von Moral auf Probleme der Gerechtigkeit ein. In praktische Diskurse einzutreten ist immer dann erforderlich, wenn ein normativer Hintergrundkonsens fraglich geworden oder zerbrochen ist, Uneinigkeit entsteht und ein normatives Einverständnis erst wieder gefunden werden muß. Habermas hat hier aber ausschließlich Interessenkonflikte im Blick, die über die unparteiliche Gewichtung der Interessen aller Betroffenen unter Berücksichtigung der Konsequenzen von Normregelungen eine Lösung finden sollen. Benhabib kritisiert zu Recht diese Reduktion des Bereichs der Moral auf Interessengegensätze. Ihrer Meinung nach sind auch Fragen des guten Lebens und der dafür konstitutiven Werte und Beziehungen, aber auch Probleme der Situationswahrnehmung Gegenstand praktischer Diskurse. Denn ein nicht unerheblicher Teil moralischer Kontroverse bewege sich um die unterschiedliche Interpretation dessen, was überhaupt einen moralischen Konflikt darstellt: „Wenn wir in moralischen Fragen anderer Meinung sind, betrifft das nicht nur die Prinzipien, die dabei eine Rolle spielen; oft können wir uns nicht einigen, weil ich zum Beispiel einen Mangel an Großzügigkeit sehe, während du davon überzeugt bist, daß es dein legitimes Recht ist, etwas nicht zu tun; oder weil du Eifersucht nennst, was für mich nur mein Wunsch nach mehr Zuwendung von dir ist." 15 Die hier von Benhabib angeführten Konfliktmöglichkeiten mögen einer auf die „großen" Themen ökonomisch-rechtlicher Belange zugeschnittenen Moraltheorie wohl nicht mehr als auf einer Trivialebene angesiedelte Fälle kleinlicher Beziehungsauseinandersetzungen gel13 Siehe Benhabib (1992a), S. 211. 14 Ebda. 15 Benhabib (1995e),S. 181.
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ten; in Wirklichkeit konstituieren diese Fragen inhaltlich einen Gutteil dessen, was die Lebensqualität von Individuen ausmacht, und moraltheoretisch betrachtet berühren sie so zentrale Problemstellungen wie jene des moralischen Charakters und der Tugenden. Habermas verkennt mit seiner ausschließlichen Orientierung am Streitmodell von nicht vereinbaren Rechtsansprüchen und den dadurch aufgeworfenen Gerechtigkeitsfragen diese Dimension von Moralität und deren Verwobenheit mit Gefühlen, Kontextsensibilitäten und persönlichen Beziehungen. Aus Benhabibs Sicht verfällt Habermas mit der Einengung der Moral auf Fragen der Gerechtigkeit und der Ausrichtung des praktischen Diskurses am legalistischen Modell „quasi-rechtsförmiger" Beziehungen um nichts weniger als Kant dem „rationalistischen Fehlschluß" einer kognitivistischen Verkürzung der Moraltheorie.16 Habermas zeichne nicht nur ein einseitiges Bild moralischer Kontroversen, er erkenne auch nicht, daß Fragen des guten Lebens, der Bedingungen der Möglichkeit persönlichen Glücks und die Art unserer Bedürfnisse sowie deren kulturelle Prägungen und Überlagerungen Themen der Moralphilosophie bilden. Während Habermas diese Problemstellungen entweder dem Anwendungsbereich moralischer Prinzipien zuordnet oder sie in den ästhetisch-expressiven Diskurs abschiebt, werden sie von Benhabib als Elemente praktischer Diskurse reklamiert. An einer Art Metapher des moralischen Subjekts verdeutlicht Benhabib den reduktionistischen Charakter der Habermasschen Theorie. Abstrakt-universalistische Theorien, zu denen sie Habermas' Variante einer kommunikativen Ethik zählt, rücken Personen nur unter der Perspektive des verallgemeinerten Anderen ins Blickfeld. Losgelöst von ihren besonderen Bindungen, Situiertheiten und Identitäten würden Personen als bloße Vernunftwesen mit gleichen Rechten wie Pflichten und die Beziehungen zwischen ihnen als ausschließlich vom Gesichtspunkt formaler Reziprozität bestimmte strikt egalitäre Austauschbeziehungen wahrgenommen. Rechte, Ansprüche und Verpflichtungen bilden den kategorialen Rahmen dieser Interaktionsformen. Moralische Subjekte konstituieren sich lediglich als Rechtssubjekte, Personsein verkürzt sich auf die Mitgliedschaft in einer Rechts- und Anspruchsgemeinschaft. Dem hält Benhabib eine moraltheoretisch andere Sicht auf Personen entgegen: nämlich auf Individuen als konkrete Andere. Moralische Subjekte sind, wie sie unterstreicht, Wesen mit einer individuellen Geschichte, einer partikularen Identität und „affektiv-emotionalen Verfassung". Diese Bedingungen spielen in die Gestaltung unserer rechtsförmigen moralischen Interaktionen hinein: Im Lichte unserer Situiertheit und der Besonderheiten unserer Lebenskontexte würden die strikt über das Modell der Unparteilichkeit definierten Beziehungsverhältnisse eine Modifikation erfahren und andere Relationen danebentreten - jene der Solidarität, der Liebe, Freundschaft und Fürsorglichkeit.17 Entsprechend veränderten sich auch die korrespondierende ethische Begrifflichkeit und das dahinterstehende Gesellschaftsmodell: Verantwortlichkeit, Anteilnahme und Bindung kennzeichnen die moralische Dimension zwischenmenschlicher Begegnungen in einer Solidargemeinschaft. Benhabib vermerkt ein Schlingern der Diskursethik zwischen einem „legalistisch-juridischen" und einem „partizipatorisch motivierten" Öffentlichkeitsbegriff, wobei Habermas die Spannung löse, indem er insgesamt das modernistisch-aufklärerische Modell favorisiere und die Idee der Solidargemeinschaft vernachlässige.18 Auf moraltheoretischer Ebene bringe ihn 16 Siehe Benhabib (1992a), S. 199 und (1995b), S. 66-71. 17 Siehe Benhabib (1992a), S. 232; dies. (1989a), S. 468f. und (1995e), S. 175-182. 18 Siehe Benhabib (1992a), S. 220-222; vgl. auch S. 231ff.
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dies dazu, die einem solidarischen Gemeinschaftsbegriff korrespondierenden Beziehungsformen von der moralisch-politischen Sphäre zu isolieren und dem ästhetisch-expressiven Diskurs zuzuordnen; eine für Benhabib schlicht unangemessene Strategie, „denn Freundschafts-, Solidaritäts- und Liebesbeziehungen sind nicht ästhetisch, sondern durchaus moralisch".19 Mit der hier skizzierten Kritik hat Benhabib bereits die Grundlagen für eine feministische Neuschreibung der Diskursethik geschaffen. Aus dem Blickwinkel des „Geschlechterkontexts" erlangen die aufgezeigten Verkürzungen von Habermas' Ethik eine spezifische Akzentuierung, in dem sie sich offensichtlich in das traditionalistische Muster einer „Ausgrenzung und Privatisierung weiblicher Erfahrung" fügen. 20 Auf dem Hintergrund der klassischen Separierung der Sphären des Öffentlichen und des Privaten, der eine so tragende Rolle bei der Marginalisierung und Diskriminierung der Frau zukommt, wirkt Habermas' strikte Trennung von Fragen der Gerechtigkeit und Fragen des guten Lebens in der Tat symptomatisch. Richtet ein Ethik-Ansatz sein Interesse nur auf die Normen des „öffentlichen Raums", so übergeht er das weite Feld jener moralischen Probleme und Konflikte, die das Leben von Frauen nachhaltig bestimmen. Da die Ausgrenzung eine theoretische und thematische Dimension umfaßt, setzt Benhabib neben einer Veränderung der Diskursregeln bei einer inhaltlichen Erweiterung an: In der ursprünglichen Fassung von Der verallgemeinerte und der konkrete Andere plädiert sie folgerichtig für eine „kommunikative Ethik der Bedürfnisinterpretation".21 Diskurse über Bedürfnisinterpretationen sind notwendig, damit Frauen ihre Wünsche, Begehren und ihre Sicht der Dinge überhaupt artikulieren können. Benhabib integriert mit ihrer Betonung der Faktoren von Fürsorglichkeit, Anteilnahme und Bindung als unverzichtbaren moralischen Richtlinien des Zusammenlebens in einer Solidargemeinschaft und der Aktivierung von Fragen des guten Lebens die Botschaft von Carol Gilligans anderer Stimme. Ihre anti-essentialistische Lesart von Gilligans Thesen ähnelt jener von Marilyn Friedman22, die in Anbetracht der empirischen Unterbestimmtheit die einzig haltbare scheint: Die Gegenüberstellung „Rechte versus Fürsorglichkeit" reflektiert eine moralische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die weder empirisch nachweisbar noch über den problematischen Begriff einer „weiblichen Moral" erfaßbar ist, sondern die symbolische Konstruktion der Geschlechtercharaktere auf dem Hintergrund einer klassischen Trennlinie berührt, dergemäß Männer der öffentlichen und Frauen der häuslich-intimen Sphäre zugeordnet werden. Welch normativer Stellenwert diesem Bild des Geschlechterverhältnisses auch in der zeitgenössischen Moralphilosophie noch zukommt, hat Benhabib mit ihrer Analyse von Habermas' Theorie nachhaltig aufgezeigt.
5.1
Die Nachrangigkeit des Diskursmodells
Die Diskursethik kann inzwischen auf eine fast dreißigjährige Geschichte und eine umfangreiche Debatte um ihre Haltbarkeit und Überzeugungskraft zurückblicken. In diesem Zeitraum wurden auch gewisse Modifikationen des ursprünglichen Modells vorgenommen, wie 19 Ebda., S. 233. 20 Vgl. Benhabib (1989a), S. 475ff. 21 Ebda. 22 Siehe Kap. 2.1 dieser Arbeit.
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etwa der Übergang vom Diskurs als einer an die Idee des kontrafaktischen Konsenses geknüpften idealen Sprechsituation in Habermas' frühen Arbeiten zur realitätsbezogeneren Lesart praktischer Diskurse als faktisch institutionalisierter Formen argumentativer Konfliktaustragung und moralischer Entscheidungsfindung zwischen Betroffenen in einer späteren Phase.23 Die Kritik, daß die klassische Variante der Diskursethik nur eine deontologische Regelmoral reproduziere und andere Dimensionen von Moralität vernachlässige, versucht Habermas neuerdings mit der Unterscheidung pragmatischer, ethisch-existentieller und moralischer Diskurse zu entkräften. 24 Benhabib will mit ihrer feministisch umgedeuteten kommunikativen Ethik den erwähnten Defiziten von Habermas' Ansatz begegnen, da sie die gewichtigsten Gegenargumente - die drohende Zirkularität angesichts des starken Universalisierungsprinzips und das schwer umsetzbare Element eines kontrafaktischen Konsenses25 - als berechtigt anerkennt. Sie sieht und benennt klar die begründungstheoretischen Schwierigkeiten. Den Weg einer transzendental- oder universalpragmatischen Ethik-Rechtfertigung, die auf einer normativen Überfrachtung der Strukturen argumentativer Rede beruht, hält sie für nicht gangbar. Um erst gar nicht in den Dunstkreis eines begründungstechnischen Zaubertricks zu geraten, betont Benhabib dezidiert, daß es sich bei den maßgeblichen Grundsätzen ihrer kommunikativen Ethik um substantielle moralische Prinzipien handelt. Damit ist sie aber mit folgendem Dilemma konfrontiert: Einerseits hegt sie Vorbehalte gegenüber einer Pauschalfundierung moralischer Prinzipien in Sprachregeln. Auf der anderen Seite ist sie praktisch gezwungen, eine spezifisch „diskursive Rechtfertigung" anzubieten, will sie noch länger einen Ansatz vertreten, der das Prädikat einer „kommunikativen Ethik" verdient. Wie oben dargelegt, offeriert sie eine „Familie von Argumenten", die darauf hinauslaufen, daß die Prinzipien der Achtung und Reziprozität doch implizite Voraussetzungen argumentativer Rede und kommunikativen Handelns darstellen. Diesen Anspruch kann sie freilich in Anbetracht ihres eigenen klaren Verdikts - eine Fundierung materialer moralischer Prinzipien in Argumentationsstrukturen sei zum Scheitern verurteilt - streng genommen nicht aufrecht erhalten. Ihre durchaus überzeugende Kritik an Habermas' Herleitung des Universalisierungsprinzips verunmöglicht auch ihren Versuch einer Rettung der kommunikativen Ethik auf metaethischer Ebene. Mit dem Verzicht auf U ist noch nicht das Problem der mangelnden Kongruenz von Argumentationsregeln und materialen Moralprinzipien gelöst. Diese nicht unbeträchtlichen Schwierigkeiten hängen mit einer grundsätzlichen Unbestimmtheit der kommunikativen Ethik zusammen: einer nicht immer ganz klaren Differenzierung zwischen metaethischer und normativ-ethischer Ebene. Apels Version der Diskursethik ist primär ein metaethischer Ansatz, während Habermas darüber hinaus auch eine normativ-ethische Konzeption in Form einer Verfahrensethik vorlegen möchte. 26 Benhabib prä23 Vgl. etwa Habermas (1972) und (1973) mit Habermas (1983b) und (1983c). 24 Siehe Habermas (1992c). 25 Da ein Konsens aller Beteiligten für die Richtigkeit von Normen nicht hinreichend ist, da bloße Übereinstimmung noch genügend Raum für Irrtum und Täuschungen läßt, legt Habermas fest, daß nur ein begründeter, d. h. unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation erzielter Konsens das Kriterium der Gültigkeit sein kann. Abgesehen von dem Einwand, daß Habermas damit Übereinkommen und Gültigkeit durcheinanderbringe, haben auch die Vagheit und Unbestimmtheit dieses Verfahrens immer wieder Kritik ausgelöst. 26 Daß die Diskursethik insgesamt auch die Aufgaben und Funktionen einer normativen Theorie wahrnehmen will, zeigen insbesondere die Beiträge in Apel/Kettner (1992).
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sentiert zwar ihren Ansatz unter dem Begriff eines „schwachen Begründungsprogramms", doch reichen ihre Ansprüche trotz dieser metaethischen Einordnung eindeutig darüber hinaus. Der Verzicht auf U betrifft klar die normativ-ethische Ebene. Dies bedeutet, daß Benhabib streng genommen ein metaethisches Problem der Diskursethik durch eine Revision auf normativ-ethischer Stufe lösen will. Nur ist dies eine wenig zielführende Strategie, denn das Problem kam nicht wegen der spezifischen Fassung von Habermas' Verallgemeinerungsprinzip zustande, sondern wegen einer mangelnden Übereinstimmung von Argumentationsregeln und moralischen Prinzipien - und diese Schwierigkeit löst auch Benhabibs Variante einer Diskursethik nicht. Gegen diese Kritik ließe sich einwenden, daß Benhabib doch recht besehen eine von Habermas abweichende Form der Moralbegründung wählt: im Prinzip jenen Zugang, den Michael Walzer als den Weg der Interpretation bezeichnet und der in einem Hin- und Hergehen zwischen einem intuitiven Moralverständnis und einer theoretisch-reflexiven Ebene besteht.27 Die Richtlinien der Moral sind nach dieser Konzeption nicht einfach über eine theoretische Konstruktion zu gewinnen, sondern schon in unseren Lebensstrukturen angelegt. Wir müssen uns die grundlegenden Bedingungen der Moral durch einen reflexiven Prozeß bewußt machen und im Lichte allgemein einleuchtender Bedingungen prüfen - ein Gedanke, der auf eine für Revisionen offene Kohärenztheorie der Rechtfertigung hinausläuft, wie sie etwa auch in Rawls' Überlegungsgleichgewicht zum Ausdruck kommt. Benhabib vertritt eine kommunikationstheoretische Variante dieser Idee. Eine Einbettung der Moral in unsere Lebensformen finde auch in unseren Kommunikationsstrukturen ihren Niederschlag, womit deren „kommunikative" Aufweisbarkeit und diskursive Bewußtmachung entlang der oben skizzierten Linie möglich werde. Allerdings verschiebt sich bei dieser Interpretation der Akzent so stark auf eine hermeneutische Rekonstruktion, daß von einer spezifisch diskursethischen Rechtfertigung und einer „Diskursethik" eigentlich nicht mehr gesprochen werden kann. Fairerweise muß man klarstellen, daß sich mit diesem Einwand, der ja nur die metaethische Seite berührt, noch nicht das Projekt einer kommunikativen Ethik insgesamt erledigt hat. Denn ein Gutteil der Diskursethik bewegt sich mit dem Anspruch, praktische Diskurse stellten ein Mittel der moralischen Orientierung dar, auf normativ-ethischer Ebene. Man mag bezweifeln, ob diese normativ-ethische Deutung Benhabibs Ansatz angemessen ist, wenn 27 Siehe Walzer (1990b). Walzer unterscheidet drei Wege der Moralphilosophie, nämlich Entdeckung, Erfindung und Interpretation, wobei er nur den letzten Weg - eine Analyse moralischer Überzeugungen und Prinzipien von einem internen, nicht von einem externen Standpunkt aus - für gangbar hält, da die Vorstellung einer Entdeckung moralischer Wahrheiten dem Selbstverständnis einer modernistisch-säkularen Gesellschaft widerspreche und dem moraltheoretischen Erfindungspfad die Verbindung zur Lebenswelt abhanden komme. Vertreter dieses Wegs wären Kant und ihm folgende Moralphilosophen sowie die Utilitaristen. De facto gehen die Konstruktivisten, wie Walzer bemerkt, den Weg der Erfindung ohnehin nur so weit, als dieser Ergebnisse bringt, die nicht zu stark mit dem Grundstock vorgefundener Moralüberzeugungen konfligieren. Weichen die Konsequenzen zu eklatant von den vorgefundenen Moralüberzeugungen ab, werden die theoretischen Voraussetzungen modifiziert, wobei die Utilitaristen nach Walzer den Paradefall für diesen Prozeß darstellen, da sie „so lange an ihrem .Glückskalkül' herum(feilen), bis es zu Ergebnissen führt, die unseren allgemein geteilten Auffassungen näherkommen". Ebda., S. 16. Damit hat Walzer zweifellos recht, bedenkt man, was passiert, wenn Utilitaristen nicht so viel Rücksicht auf die allgemeinen Überzeugungen nehmen - exemplarisch dafür die hitzigen Debatten um Peter Singers Position in der Euthanasiefrage.
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man sich ihre einschlägigen Erläuterungen ins Gedächtnis ruft, wie etwa ihre Differenzierung zwischen generativen Moraltheorien, die „richtige" Handlungsnormen vorschlagen oder entwickeln und begründungsorientierten Moraltheorien - letzteren ordnet sie die Diskursethik zu die darauf abzielen, sehr allgemeine Richtlinien zur Prüfung bereits gegebener moralischer, politischer und sozialer Normen zu rechtfertigen.28 Auf den ersten Blick legt dies nahe, daß sie die Diskursethik auf die Metaethikstufe zurücknimmt. Abgesehen davon, daß sich die Kritik dann mit der Berufung auf die metaethischen Schwierigkeiten des Diskursansatzes begnügen könnte, läßt Benhabibs Bestimmung begriindungsorientierter Moraltheorien - sie liefern Testkriterien für die Evaluierung von Normen - sehr wohl eine normativ-ethische Deutung zu, denn die Generierung moralischer Grundsätze stellt keine notwendige Bedingung für die Klassifizierung eines Ansatzes als „normativ-ethisch" dar. So würde die Theorie Kants nach einer bekannten Lesart29, die den kategorischen Imperativ nicht als normerzeugendes Moralprinzip, sondern als Testkriterium unserer Handlungsgrundsätze auffaßt, nicht zu den generativen Moraltheorien zählen. Um den Anspruch einer „kommunikativen Ethik" aufrecht erhalten zu können, müßte Benhabib zeigen, daß die von ihrem Modell vorgeschlagene Prüfung moralischer, politischer und sozialer Normen durch die Prinzipien der Achtung und Reziprozität einer spezifisch diskursiven Form bedarf und ausschließlich über praktische Diskurse ablaufen kann. Diskursethiker kritisieren gerne das „monologische Modell" moralischen Räsonierens, aber die Gründe dafür entspringen wohl eher einer durchaus nachvollziehbaren und achtbaren Wertschätzung der für liberale Kulturen selbstverständlichen Idee demokratischer Gesprächskultur denn einer philosophisch zwingenden Begründung. Ob die erwähnte Moralprüfung in einem individuellen Überlegungsprozeß oder in einem nach den Regeln der Fairneß gestalteten Gespräch stattfindet, hängt, so denke ich, zum Teil von den Themen, Problemstellungen und Konflikten ab, ist aber kein für die Struktur einer angemessenen Moralkonzeption entscheidender Faktor, denn in beiden Fällen setzt die Lösungsfindung eine ethische Theorie voraus. In gewissem Sinn können wir gar nicht auf ein „monologisches Modell" moralischen Überlegens verzichten, ohne jene Verarmung der Moraltheorie in Kauf zu nehmen, die gerade Benhabib zum Angelpunkt ihrer Kritik macht. Wenn wir den kantischen Weg gehen und wissen wollen, ob unsere „subjektiven Grundsätze des Handelns" einer moralischen Prüfung standhalten, so verweist dies auf eine an das Moment der individuellen Einsicht gebundene Reflexion über unser Tun und Lassen.30 Die Idee eines praktischen Diskurses, in den alle Betroffenen einbezogen werden, illustriert in gewisser Weise die mit dem Begriff der Moral verknüpfte Bedingung, daß Handlungen, um als moralisch gelten zu können, gegenüber allen begründbar und zu rechtfertigen sein sollen. Aber das verdeutlicht nur den Umstand, daß Moral nicht parteilich sein darf; das die Moralität bestimmende Element ist nicht die Zustimmung per se, sondern die Zustimmung stellt sich ein, weil die Standards der Moral erfüllt werden.31 28 Siehe Benhabib (198%), S. 378f. (FN 3). 29 Vgl. Kap. 10.2.2 dieser Arbeit. 30 Angelika Krebs macht - unter Berufung auf neuere Arbeiten Friedrich Kambartels - gegen die Diskursethik geltend, „Einsicht" und „Einigung" zu verwechseln; es sei ein Irrtum, Diskursen eine für Moral „konstitutive Rolle" einzuräumen. Siehe Krebs (1995); vgl. Kambartel (1993a) und (1993b). 31 Vgl. dazu Tugendhat (1993), S. 173-176.
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Gerade Benhabib hat die diskursethische Reduktion der Moral auf den öffentlichen Raum entschieden kritisiert. Aber jene Aspekte, die sie für eine angemessene Konzeption von Moralität einfordert - Anteilnahme, Fürsorglichkeit, Solidarität, moralische Sensibilität und Fragen des guten Lebens - , weisen über den Rahmen einer kommunikativen Ethik hinaus. Wenn ich mich frage, ob ich mit meiner Haltung eine andere Person verletze oder bemerke, daß ich die moralische Dimension einer Situation verkannt oder mich stur auf meine Rechte berufen habe, wo Einfühlung und Verständnis geboten gewesen wären - was sind dies anderes als innere moralische Reflexionen, diskursiv bestenfalls in jenem trivialen Sinn, daß Sprache das Medium gedanklicher Artikulation und Netzwerk unserer Lebensformen darstellt? Es hängt von den in unserer moralischen Sozialisation erworbenen Sensibilitäten ab, ob wir moralisch angemessen reagieren und auch zu erkennen vermögen, wann wir unseren Idealen einiges schuldig geblieben sind. Natürlich läßt sich sagen, daß ein Teil dieser Überlegungen in Diskursen abläuft, in (fiktiven) Gesprächen mit anderen, in denen mir meine Unterlassungen, Irrtümer und moralischen Fahrlässigkeiten bewußt werden. Aber diese Kommunikationen bleiben auf eine zugrundeliegende Moralkonzeption angewiesen. Diese Nachrangigkeit des Diskurses gegenüber einer Theorie der Ethik beschränkt sich nicht auf Fragen der persönlichen Moral, sondern trifft gleichermaßen den Bereich einer „öffentlichen Moral" der Interessenkonflikte. Das Problem, an dem die Diskursethik generell leidet, ist eines der Vermischung der Ebenen von Kommunikation und Ethik, einer falschen Identifikation, welche Otfried Höffe mit Bezug auf Apels Ansatz so umschreibt: "The problem of transition emphasized here is a problem of identification: something is identified as something eise, the ideal communication Community as the (outstanding) case of ethics. In order to justify this identification one needs a conception - or at least a presupposition - of ethics. But Apel does not develop this. Apel's transcendental pragmatics already presupposes genuine ethical or metaethical reflection, although it itself Claims the status of an ultímate justification." 32 Obwohl Benhabib vom Anspruch einer Letztbegründung weit entfernt ist, verfängt sich auch ihr Ansatz in dem Problem des Auseinanderdriftens von Kommunikationsstrukturen und Ethik und einer falschen Einschätzung des Verhältnisses von Diskurs und ethischer Theorie. Wegen ihrer im Gegensatz zu Apel und Habermas umfassenderen EthikKonzeption fällt diese Schwierigkeit sogar stärker ins Gewicht. Denn Elemente wie moralischer Charakter, moralische Sensibilitäten und Gefühle, die Benhabib für eine Moraltheorie einfordert, welche nicht länger an den „blinden Hecken" eines reduktionistischen Kognitivismus krankt, sind praktischen Diskursen klar vorgelagert. Ich will hier nicht bestreiten, daß Diskurse wichtige Formen der Umsetzung von Moral darstellen. Doch dies rechtfertigt noch nicht die Gleichsetzung von Diskurs und Ethik; eine sogenannte „kommunikative Ethik" stellt noch keine spezifische Theorie der Moral dar. Die theoretische Gestaltung der Diskurse, die Frage, welche Argumentationsregeln und Prüfkriterien sie leiten, hängt wesentlich von einer vorausgesetzten Konzeption von Ethik ab, welche schlicht nicht ohne einen zirkulären Prozeß der normativen Rückprojektion aus transzendentalen oder universalpragmatischen Kommunikationsvoraussetzungen oder Formen kommunikativen Handelns zu gewinnen ist. Benhabibs Revision der kommunikativen Ethik zielt im wesentlichen auf eine Themenerweiterung im Diskurs ab - auch Fragen des guten 32 Höffe (1990), S. 203. Ähnlich kritisiert Ernst Tugendhat, daß Habermas „zwei Sphären ineinanderschiebt, die unterschieden gehören: die moralische und die politische". Tugendhat (1993), S. 170.
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Lebens, der Bedürfnisinterpretationen und des moralischen Charakters sind in praktische Diskurse einzubeziehen. Versucht man aber, diese Elemente noch länger unter dem Begriff einer „kommunikativen Ethik" unterzubringen, so macht man sich wohl des Fehlers einer Vermischung von moralischer Problemebene und kategorialem Rahmen schuldig, denn einer Theorie des Guten korrespondierende Werte und Tugenden bilden das begriffliche Inventar einer Moraltheorie, die von praktischen Diskursen über moralische Fragen zu unterscheiden ist. Ein Punkt verdient noch der Klärung. Ich habe moniert, daß nicht zuletzt die „aristotelischen" Komponenten von Benhabibs Theorie schwer in die Diskursethik zu integrieren sind. Benhabib vertritt eine dazu konträre Auffassung: Gerade eine Ethik-Konzeption, die so stark Faktoren wie die diskursive Urteilsbildung und permanente argumentative Hinterfragung akzentuiert, scheine „heute der einzige Weg, auf dem eine philosophische Theorie ohne Rückfall in den Dogmatismus den Zugang zu jenen Inhalten wiedergewinnen könnte, die das gute Leben ausmachen".33 Benhabib spielt hier auf das Problem an, daß jede Formulierung einer Theorie des Guten prima facie die Assoziation eines Rückschritts auf vormodernes Denken weckt. Die Vernachlässigung des Guten und die Konzentration auf Fragen des Rechten in der neueren Moralphilosophie haben auch mit dem Umstand zu tun, daß moderne Gemeinschaften durch einen Wertepluralismus und eine Vielzahl unterschiedlichster Lebensformen gekennzeichnet sind und für eine liberale demokratische Gesellschaft die Neutralität gegenüber variierenden individuellen Vorstellungen des guten Lebens unabdingbar scheint. In der Tat ist die Sorge, daß Konzeptionen des Guten einen zu starken Zugriff auf den individuellen Lebensbereich darstellen, nicht unberechtigt. Allerdings bieten sich neben der offenen Erörterung in einem praktischen Diskurs noch andere Möglichkeiten an, den hier drohenden Freiheitsverlusten vorzubeugen. Notwendig ist die Unterscheidung zwischen einem Kern- und einem Randbereich des Guten, oder - in Rawlsschen Begriffen - zwischen einer schwachen und starken Theorie des Guten. Theorien des Guten haben nicht nur mit persönlichen Werten und Idealen zu tun, die Menschen in ihrem Leben verwirklichen wollen, sondern auch mit den notwendigen Bedingungen dafür, daß Menschen überhaupt die Verfolgung eines mit einer Konzeption des guten Lebens zusammenhängenden Lebensplanes offensteht. Mit anderen Worten: In moralischer Hinsicht kommt den mit der Idee des Guten verknüpften Elementen unterschiedliches Gewicht zu. Manche sind als Kernelemente einer sinnvollen Konzeption des guten Lebens unverzichtbar; aber für eine ganze Reihe dieser Wertsetzungen gilt ein Toleranzpostulat. Eine pluralistische Gesellschaftsordnung überläßt es den Individuen, ob sie Musik lieben, sich für Alte Geschichte interessieren oder ihr Glück in irgendwelchen esoterischen oder öffentlichen Aktivitäten suchen, obwohl diese Orientierungen im Leben der einzelnen hohe Ideale darstellen können. Wie die Trennlinien hier zu ziehen sind, berührt die bekannt schwierige Frage der Grenzen des Liberalismus, auf die ich hier nicht eingehen kann, aber die Abgrenzung von Kernbereich und Peripherie von Werten wird in etwa bei einem Mindeststandard der Lebensqualität und Bedürfniserfüllung verlaufen, der die Minimalbedingungen für ein gutes Leben formuliert.34 33 Benhabib (1992a), S. 226. 34 Vgl. dazu auch Kap. 13.2 dieser Arbeit.
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Mit Bezug auf Benhabibs Ansatz bedeutet dies: Diskurse über Fragen des Guten und eine entsprechende Offenheit und Transparenz, was moralische Werte und persönliche Ideale betrifft, bilden zweifellos ein unverzichtbares Element einer demokratischen Kultur. Gleichfalls ist richtig, daß wir im Horizont einer sich rapide wandelnden Lebenswelt gezwungen sind, diese Werte stets aufs neue zu überdenken. Wir wissen längst, daß der Gegenstandsbereich von Moral nicht fest abgrenzbar ist und moralische Veränderungen der Art stattfinden, daß ein bislang anders oder kaum wahrgenommenes soziales Phänomen plötzlich als ein moralisches Problem begriffen wird, was eine entsprechende Erweiterung des moralischen Vokabulars notwendig macht.35 Die Trennung zwischen rein persönlichen und allgemeinen Werten wie die Grenzen von Moral insgesamt sind in gewisser Weise fließend. All dies aber beeinträchtigt nicht den wesentlichen Punkt der hier formulierten Kritik: daß nämlich Diskurse über ethische Fragen eine Theorie der Moral voraussetzen und, wollen sie einigermaßen zielführend sein, gerade auf die möglichst klare Formulierung ihrer Kriterien und Argumentationsbedingungen durch eine ethische Theorie angewiesen sind. Seyla Benhabib hat die von einem feministischen Standpunkt her maßgeblichen Defizite von Habermas' kommunikativer Ethik aufgezeigt und einen wichtigen Korrekturversuch gemacht.36 Obwohl ich mit Benhabib in bezug auf die in Habermas' Theorie fehlenden Elemente weitgehend übereinstimme, bin ich aus den oben angeführten Gründen gegenüber dem Projekt einer „kommunikativen Ethik" skeptisch. Insofern setzt die in dieser Arbeit versuchte feministische Akzentuierung der Moraltheorie bei anderen theoretischen Rahmenbedingungen als den von der Diskursethik vorgegebenen an. 35 Ein Beispiel dafür ist etwa das durch die feministische Bewegung allmählich als Problem der Moral ins gesellschaftliche Bewußtsein dringende Phänomen des Sexismus; ein anderes die Thematisierung von Problemen der ökologischen Ethik. 36 Nach Ansicht einiger Philosophinnen unterläuft Benhabib mit ihrer Auffassung von universaler Achtung als einer Form egalitärer Reziprozität und eines reversiblen Standpunkttauschs ihr Programm einer feministischen Umformung der kommunikativen Ethik. Sie vernachlässige damit die aus feministischer Sicht so relevanten Probleme der Integration asymmetrischer Fürsorglichkeitsbeziehungen und des Anerkennens der individuell-besonderen Situierung der anderen Person. Vgl. Young (1995), die offenbar Anstoß an Passagen wie diesen nimmt: ,Jedes kommunikative Handeln setzt Symmetrie und Reziprozität normativer Erwartungen unter Gruppenmitgliedern voraus. Wir werden dadurch zu Mitgliedern einer Gruppe von Menschen, daß man uns im Sinne dieser Wechselseitigkeit behandelt. .Respekt' oder .Achtung' sind Haltungen und moralische Gefühle, die erst aus solchen Vorgängen der kommunikativen Sozialisierung erwachsen." Benhabib (1995b), S. 44. Doch darf nicht übersehen werden, daß Benhabib mit dem Einbringen des konkreten Anderen versucht, auf individuelle Besonderheiten Rücksicht zu nehmen und ihre Version eines „interaktiven Universalismus" durchaus dem Moment des Verstehens der Bedürfnisse, Beweggründe und der spezifischen und unverwechselbaren Identität und Situiertheit anderer gerecht werden will. Angelika Krebs wirft der kommunikativen Ethik unter anderem vor, nur einen mit gegenseitigen Erwartungen verknüpften Begriff der personalen Integrität zu kennen, aber die mit leiblichen Bedürfnissen zusammenhängende leibliche Integrität und somit bestimmte Formen der Verletzung von menschlichen Wesen zu übergehen. Siehe Krebs (1995). Bei einer entsprechenden Modifikation der Perspektive des „konkreten Anderen" könnte Benhabib dieser Kritik begegnen, nicht aber den erwähnten grundsätzlicheren Bedenken gegen die Diskursethik.
6
Die theoretischen Grundlagen feministischer Ethik
Die Rede von „feministischer Ethik" ist, wie eingangs erläutert, als Kurzform für eine „philosophisch-feministische Analyse" gängiger Moraltheorien zu verstehen. Als solche definiert sie einen bestimmten Blickwinkel auf das Phänomen der Moral - geleitet von der Überlegung, was es heißt, Frauen zu berücksichtigen und deren Ausgrenzung und Diskriminierung nicht einfach auf moraltheoretischer Ebene fortzuschreiben. Bei der Thematisierung der Moral im Geschlechterkontext spielt, wie die Ansätze von Gilligan, Noddings, Held, Baier und Benhabib hinlänglich verdeutlichen, der Begriff der moralischen Erfahrung eine bedeutsame Rolle. Maßgeblich wird die kritische Reflexion darauf, wie sich die von den unterschiedlichen Moraltheorien vorgegebenen Standards, Richtlinien und die solcherart vermittelte Bestimmung von Moralität und richtigem Handeln im Lichte der moralischen Überzeugungen und des Lebenskontexts von Frauen präsentieren. Dies setzt eine bestimmte Auffassung moralischer Theoriebildung voraus. Eine Moralkonzeption läßt sich gemäß dieser Sicht nicht ohne Rückbindung an unser Vorverständnis von Moral abstrakt entwerfen; sie kann nicht gänzlich an den konkreten Überzeugungen und Erfahrungen von Personen vorbeigehen.1 Gleichzeitig ist evident, daß sich ein moralischer Ansatz nicht nur mit dem Aufzeigen und Sichten faktischer moralischer Vorstellungen begnügen darf. Denn als bloßer Spiegel der Menge möglicher moralischer Einstellungen und Standpunkte, die in sensiblen Fragen bekanntlich weit divergieren, würde eine Moraltheorie ihr wesentliches Ziel verfehlen: nämlich eine Qualifizierung der verschiedenen Standpunkte vorzunehmen und eine Entscheidung zwischen ihnen zu ermöglichen. Eine akzeptable Moraltheorie muß also eine Verbindung zwischen einem übergeordneten, allgemein einsichtigen moralischen Standpunkt und der Rekonstruktion faktischer Vorstellungen suchen, um dann in einem beidseitigen, für Revisionen und Korrekturen offenen Reflexionsprozeß die grundsätzliche Position mit den konkreten moralischen Erfahrungen in Einklang zu bringen. Mit diesem strukturellen Zuschnitt ist auch methodisch ein Weg zu der von feministischen Philosophinnen geforderten Anerkennung von Frauen als Moralsubjekten eröffnet: Wenn deren moralische Überzeugungen und Vorstellungen bei der Bewertung theoretischer Vorgaben gleichermaßen zählen, erweitert sich der moralphilosophische Horizont auf die Wahrnehmung von Frauen und die Art ihrer gesellschaftlichen Situierung. In den vorherigenden Abschnitten habe ich die prominentesten feministischen Einwände, Bedenken und Modifikationsvorschläge gängiger Moralansätze vorgestellt und diskutiert. Ausgangspunkt war dabei Carol Gilligan, die mit ihrer Kritik an Kohlberg die Blickrichtung auf die in den nachkantischen Moraltheorien vernachlässigten moralischen Werte lenkte. 1
Vgl. Wolf (1990), S. 12ff., die am Beispiel der Tierethik den notwendigen Rückgriff auf unsere moralischen Vorstellungen aufzeigt.
Universalismus, Partikularismus,
Unparteilichkeit
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Allerdings bleibt die philosophische Aufarbeitung ihrer Einsichten weitgehend offen, und die Grenzen einer sogenannten Care-Ethik haben sich an den Schwierigkeiten von Noddings' Ansatz deutlich genug gezeigt. Auch die Vertragstheorien der Moral überzeugen nicht. Der individualistische Kontraktualismus ist, abgesehen von seinen grundlegenden Defiziten, wohl jene Theorie, die am auffälligsten mit den moralischen Erfahrungen von Frauen konfligiert. Eine universalistische Vertragstheorie wiederum unterscheidet sich streng genommen nicht von den deontologischen Standardmodellen und verabsäumt gleichermaßen die mir so wesentlich scheinende Integration affektiver Haltungen und moralischer Empfindungen. Benhabib skizziert sehr klar den Weg, auf dem die von Gilligan akzentuierten Elemente eine Einbindung erfahren können, doch ein Weiterdenken ihrer Überlegungen muß über die Diskursethik hinausführen. Die Frage ist also offen, wie ein Moralansatz aussieht, der den Einsichten und Argumenten feministischer Philosophinnen gerecht wird und damit das Prädikat einer „feministischen Ethik" verdient. Im folgenden möchte ich auf einige grundsätzliche Bedingungen von Moral eingehen, welche das theoretische Terrain einer angemessenen Moraltheorie markieren helfen. Trotz der gerade im Umfeld der feministischen Theorie so berechtigten Betonung von Partikularität und Differenz werde ich argumentieren, daß ein moralischer Ansatz im Geltungsanspruch universalistisch sein muß und die Moraltheorie auch nicht auf die Bedingung der Unparteilichkeit verzichten darf. Anschließend werde ich die feministische Ambivalenz gegenüber einem Rückgriff auf Fürsorglichkeit, Anteilnahme und Zuwendung ansprechen und zeigen, warum die theoretische Einordnung dieser Werte von seiten der Care-Theoretikerinnen zu kurz greift.
6.1
Universalismus, Partikularismus, Unparteilichkeit
In Teilen der feministischen Theorie ist im Zuge der zweifellos berechtigten Hinterfragung des Universalitätsanspruchs der traditionellen Philosophie ein pauschaler Anti-Universalismus en vogue. Auch eine feministische Philosophie mit Universalitätsintentionen, so der Tenor dieser Argumentation, verfalle den Irrtümern des Aufklärungsdenkens und übersehe, daß hinter der Rede von der „Frau" und deren „Bedürfnissen und Interessen" nicht eine homogene Gruppe mit identen Erfahrungen stehe, sondern sich eine Pluralität von Erfahrungen, Positionen und Sichtweisen verberge, die sich entlang der Linie der Geschlechterdifferenz, aber auch jener von Ethnizität, Klasse und Kultur auffächern. Jeder Versuch, gemeinsame Elemente bzw. allgemeingültige Konstanten der Erfahrung oder einen archimedischen Punkt zu identifizieren, lege über die Diversität der Lebensverhältnisse eine abstrakte Ebene der Erklärungsmuster und der Situationsbetrachtung, die Ausschluß und Unterdrückung, nicht aber Aufarbeitung von Dissonanzen bedeute.2 Dieser radikale Partikularismus reflektiert sich auch in der Kritik feministischer Philosophinnen an der universalistischen Moralphilosophie und ihrer Kernidee einer von allen Partikularismen und Kontingenzen freien Sicht auf moralische Phänomene und Konfliktsituationen. So kritisiert zum Beispiel Iris M. Young das Ideal normativer Vernunft in Form eines alle Perspektiven transzendierenden Standpunkts als zugleich illusionär und repressiv.3 2
Für eine solche Position vgl. etwa Flax (1990).
3
Siehe Young (1990b), S. 95.
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Grundlagen feministischer
Ethik
Der moralische Standpunkt ist in der nachkantischen Moralphilosophie definiert als ein allgemeiner, überparteilicher und die kontingente Ebene von subjektiven Interessenansprüchen überschreitender Gesichtspunkt. Dieses Grundmuster findet sich in den prominentesten zeitgenössischen Moralansätzen, akzeptiert von ansonsten so divergenten Denkern wie Jürgen Habermas, John Rawls, Thomas Nagel und Richard Hare. Ungeachtet aller Unterschiedlichkeiten ist ihren Theorien gemeinsam, daß moralisches Handeln das Beziehen eines überpersönlichen Standpunkts erfordert, von dem her die Interessen aller gleichermaßen Berücksichtigung und gleiche Gewichtung finden. Die Überlegung dahinter ist, daß Moral Kriterien zur Regelung von Interessenkonflikten liefern sollte und dies trivialerweise nur kann, wenn sie die Stufe subjektiven Wollens transzendiert. Habermas formuliert dies folgendermaßen: „Unparteilich ist allein der Standpunkt, von dem aus genau diejenigen Normen verallgemeinerungsfahig sind, die, weil sie erkennbar ein allen Betroffenen gemeinsames Interesse verkörpern, auf allgemeine Zustimmung rechnen dürfen - und insofern intersubjektive Anerkennung verdienen." 4 Dieses Moralverständnis legt folgenden möglichen Vorbehalt gegen das Projekt einer feministischen Ethik nahe: Die Perspektive der Geschlechterdifferenz einbringen, belaufe sich auf einen parteilichen Partikularismus, der das Projekt „Moraltheorie" ad absurdum führe. Eine Position, die wie die feministische Ethik die Interessen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zum Standard der Akzeptabilität normativer Regelungen mache, gerate mit einer Grundbedingung von Moralität in Konflikt: daß nämlich über die Gültigkeit moralischer Prinzipien weder aus der Perspektive eines einzelnen Individuums noch aus jener spezifischer Sozietäten entschieden werden sollte. Der auf Unparteilichkeit verzichtende feministische Zugang, so läßt sich diese Kritik weiterdenken, führe zu einer Relativierung moralischer Standards und deren Auslieferung an den Meinungsmarkt. Anstelle praktischer Regeln mit allgemeingültiger Normierungsfunktion hätten wir es nun mit Gruppenkodes zu tun, also zufällig und partiell geteilten Überzeugungen, die aber im Spiel der Meinungsvielfalt moderner Lebenswelten jederzeit zerbrechen können. Fazit: Will eine feministische Ethik mehr als nur eine Facette im pluralistischen Wertespektrum oder eine Form kontextgebundener Sozialkritik darstellen, so kann sie nicht auf die Normbefragung von einem unparteilich-überpersönlichen Standpunkt her verzichten. Ich denke, die feministische Philosophie hat den Kern dieses Einwands ernst zu nehmen. Denn wie die Debatten im Umkreis der Postmoderne nachhaltig gezeigt haben, ist die bloße Betonung der Differenz und die programmatische Dispensierung aller Begründungsdiskurse kein haltbares epistemologisches Programm und - so würde ich hinzufügen - auch kein moraltheoretisches. Allerdings, so meine ich, scheitert das Projekt einer feministischen Ethik keinesfalls an diesem hier etwas überzogen formulierten Gegenargument; vielmehr treten in der Auseinandersetzung mit ihm die Schwachstellen der universalistischen Moraltheorien klarer hervor, und es wird deutlich, wogegen genau sich die feministische Ethik-Kritik richtet. In der Universalismus-Kontroverse sind mehrere Ebenen angesprochen, die auseinanderzuhalten sinnvoll scheint. Zunächst einmal ist der Punkt, daß die Aufklärungsmoral und ihre Nachfolgeansätze eine „falsche" Universalität propagieren, weil eben nicht „alle" berücksichtigt und einbezogen sind, von der Frage zu trennen, ob die Idee der Universalität per se 4
Habermas (1983b), S. 75.
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diskreditiert ist. Während gute Gründe für die erste These sprechen, sehe ich für eine feministische Philosophie und Ethik keine Veranlassung, auf einen Universalitätsanspruch generell zu verzichten. Denn dies hätte in der Tat unliebsame Konsequenzen. Hinter dem Universalitätsdenken der Aufklärungsphilosophie steht eine wichtige politische Idee, die letztlich auch eine zentrale Prämisse feministischen Denkens bildet: die Konzeption einer Gesellschaft, die Machtprivilegien sozialer, ethnischer und geschlechtsspezifischer Art nicht kennt. Wenn moralische Verbindlichkeiten nicht mehr einer Befragung von einer übergeordneten Ebene her unterworfen sind, dann wäre Moral in relativistischer Beliebigkeit tatsächlich auf die faktischen Überzeugungen partikulärer gesellschaftlicher Gruppen reduziert. Dies kann aber nicht Anliegen der feministischen Theorie sein.5 Was könnte eine Ethik, die nicht länger allgemeine Bedingungen von Gleichheit und Gleichwürdigkeit voraussetzt, die allen Moralsubjekten einen ebenbürtigen Status unabhängig von Faktoren wie Ethnizität, Klasse und Geschlecht einräumen, Phänomenen wie Rassismus und Sexismus - sozusagen Normvorstellungen bestimmter Gruppen - entgegensetzen? Verzichtet ein feministischer Zugang auf den Anspruch auf allgemeine Akzeptabilität, so würde sich als gleichsam ironische Konsequenz ergeben - ein Punkt, den auch Alison M. Jaggar unterstreicht 6 daß der Geltungsbereich einer feministisch transformierten Ethik auf die ohnehin feministisch Denkenden eingeschränkt wäre. Das bedeutet nun nicht, einfach alles beim Alten zu lassen und eine abstrakt-universalistische Prinzipienethik zu vertreten. Zwei Dinge sollten hier auseinandergehalten werden: der Universalitätsanspruch einer Ethik und deren Struktur. Ich denke, daß es bei der Auseinandersetzung der feministischen Theorie mit den klassischen Moralmodellen vorrangig nicht um die Frage des Universalismus im Sinne eines Anspruchs auf allgemeine Verbindlichkeit, sondern um den strukturellen Aufbau eines ethischen Ansatzes geht. Der zentrale Punkt bei der Debatte um Universalismus/Partikularismus ist das weitgehende Stillschweigen der modernen Moraltheorie über Phänomene wie persönliche Bindungen, moralische Gefühle und Situativität. Werte wie Altruismus, Zuwendung und Empathie haben in den nachkantischen Moralansätzen wenig Beachtung gefunden. In diesen Theorien ist die Idee der Allgemeinheit gleichsam in die Struktur der Theorien eingegangen, indem sich diese häufig auf ein Universalisierungsprinzip dieser oder jener Form beschränkten. Diese Verknüpfung ist aber nicht unumgänglich. Auch eine nicht ausschließlich an einem Verallgemeinerungsverfahren orientierte Moraltheorie - etwa eine auf Tugenden und affektive Empfindungen erweiterte Ethik - kann und sollte auf allgemeine Verbindlichkeit abzielen. Die feministischen Bedenken richten sich so betrachtet gegen die Struktur jener auf das Verallgemeinerungsprinzip zugeschnittenen Moralansätze, welche die neuere moralphilosophische Diskussion weitgehend dominierten. Der kritische Punkt ist selbstredend nicht die Voraussetzung eines Universalisierungsprinzips per se, sondern dessen geringe Aussagekraft und die mit der Konzentration auf die Idee der Universalisierung einhergehende Ausgrenzung anderer wichtiger Aspekte von Moralität. So bietet die Überlegung, ob eine bestimmte Handlungsweise verallgemeinert werden kann, keine hinreichende Beantwortung der Frage, ob sie moralisch legitim ist. Zudem gerät hier ein Teil der Moral völlig aus dem Blickfeld, 5 6
Vgl. Benhabib (1989a), S. 475. Siehe Jaggar (1990), S. 161-164.
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Theoretische Grundlagen feministischer Ethik
nämlich wie wir anderen gegenübertreten: ob mit Anteilnahme und Empathie oder Gleichgültigkeit.7 Der moralische Wert vieler unserer Handlungen hängt davon ab, daß sie eine direkte Reaktion auf andere und ein Besorgtsein um deren Wohlergehen darstellen, nicht aber davon, daß sie universalisierbar sind in dem Sinn, daß alle so handeln könnten. Die feministische Kritik richtet sich auch gegen die Verkürzungen einer Moraltheorie, die universell gültige Grundsätze entwickelt, welche nur sehr allgemeine Situationsmerkmale einbeziehen, ohne daß viel darüber gesagt oder reflektiert wird, wie Situationen überhaupt wahrgenommen werden, so daß diese Prinzipien relevant werden. Anders gesagt: Einer Person zu sagen, daß sie moralisch handelt, wenn ihre Handlung verallgemeinerbar ist, sagt ihr noch nichts darüber, wann dieses Handeln von ihr verlangt ist.8 Einfühlsamkeit und Anteilnahme für besondere Personen sind häufig notwendig, um moralische Prinzipien so anzuwenden, daß Schaden vermieden wird. Das feministische Unbehagen resultiert also aus diesem Zuschnitt der modernen Moralphilosophie, die abgehoben von der Ebene konkreter Interaktionen räsoniert, diese nicht erreicht und thematisiert, sowie der damit zusammenhängenden Minderbewertung und Ausgrenzung der mit dem „weiblichen" Lebenszusammenhang assoziierten Aspekte und Elemente. Im folgenden möchte ich auf die Unparteilichkeitsbedingung eingehen. Die Unparteilichkeit als notwendige Voraussetzung des moralischen Standpunkts wurde in den letzten Jahren von nicht-feministischen wie feministischen Philosophen und Philosophinnen angegriffen. Unter einer Reihe feministischer Theoretikerinnen gilt es inzwischen als nachgerade ausgemacht, daß eine feministische Ethik sich von der Unparteilichkeitsbedingung zu distanzieren hat.9 Die feministische Hinterfragung eines von allen persönlichen Bindungen freien überparteilichen Moralstandpunkts deckt sich auch mit der Position kommunitaristischer Denker. So bezeichnet Alasdair Maclntyre den „Gedanken der Flucht aus der Besonderheit in einen Bereich aus völlig allgemeinen Grundsätzen, die zum Menschen an sich gehören", als „eine Illusion", und Michael Walzer vergleicht das Beziehen eines überparteilichen Standpunkts mit einer Art Weltraumreise, die uns zur Kooperation mit anderen Reisenden aus anderen Kulturen und insofern zur Abstandnahme von unseren gewohnten Praktiken zwingt, was aber nicht unbedingt Verbindlichkeit und Relevanz für unser Verhalten in unserer vertrauten Umgebung nach sich zieht.10 Die Ablehnung der Unparteilichkeitsidee von feministischer Seite basiert wohl auf der Überlegung, daß genau diese Voraussetzung zur Verbannung alles Partikulären und Kontextuellen aus der Moraltheorie führte und sie insoweit mitverantwortlich ist für den hoffnungslos unterbestimmten und gleichsam über den Lebensinteressen von Frauen stehenden und diese negierenden Zustand der modernen Moralphilosophie. Werfen wir einen genaueren Blick auf die einschlägigen Argumentationen, vor allem auf Bernard Williams' ein-
7 Vgl. Oksenberg-Rorty (1988b), S. 282-288. Diese kritisiert den „moraltheoretischen Judikalismus", die Vorstellung, daß eine bestimmte Handlungsweise durch Gründe gerechtfertigt werden kann, die nicht die Praktiken und Lebensformen einschließen, in welche diese Handlungsweise eingebettet ist, als „revisionsbedürftigen Mythos". 8 Vgl. dazu Blum (1980), S. 89ff.; ders. (1988), S. 485f. und (1994), S. 229ff. Zum Problem moralischer Wahrnehmung vgl. auch Singer, M. (1991). 9 Erwähnt sei Friedman (1991). 10 Maclntyre (1987), S. 195. Siehe Walzer (1990b), S. 23ff.
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flußreichen Artikel Personen, Charakter und Moralitätu, auf den sich feministische Theoretikerinnen, welche die Unparteilichkeitsidee kritisieren, gerne berufen. Williams' Kritik an der Unparteilichkeit des moralischen Standpunkts, die sich sowohl gegen kantische wie auch utilitaristische Moralansätze richtet, läßt sich in folgende zwei Argumente zusammenfassen: 1. Die Annahme der Unparteilichkeit basiert auf einer irrigen Vorstellung des menschlichen Charakters. Der Charakter einer Person wird durch deren Wünsche, Ziele und Vorhaben konstituiert. Einige dieser Ziele und Vorhaben - Williams bezeichnet sie als „kategorische Wünsche" - sind so grundlegend, daß sie die Bedingung der Existenz eines Individuums ausmachen; sie liefern nicht nur einen Grund für unser Interesse an unserer Zukunft, sie sind eine konstitutive Bedingung dafür, daß es überhaupt eine solche individuelle Zukunft gibt. Die unparteiliche Moral verlangt so gesehen etwas, das nicht verlangt werden kann, nämlich von der eigenen Identität in dem Sinn zu abstrahieren, daß die für die eigene Existenz konstitutiven Projekte vernachlässigt werden.12 2. Die Forderung, moralisches Handeln dem Diktat der Unparteilichkeit zu unterwerfen, konfligiert mit dem, was wir im wirklichen Leben - auf dem Hintergrund persönlicher Beziehungen - an Rechtfertigungen zulassen und anerkennen. Bindungen zu anderen Menschen haben eine Dimension, die den Anforderungen der unparteilichen Moral nicht nur nicht entsprechen, sondern mit ihr in Konflikt geraten. Williams diskutiert in dem Zusammenhang ein Beispiel von Charles Fried. Ein Mann befindet sich in der Situation, von zwei sich in Gefahr befindenden Personen (wobei es sich bei der einen um seine Frau handelt) nur eine retten zu können. Entscheidet er sich für die Rettung seiner Frau, so stellt laut Williams der Hinweis des Mannes darauf, daß es sich um seine Frau handelt, eine hinreichende und keines weiteren Kommentars bedürftige Rechtfertigung dar. Allerdings wäre dies aus der Sicht des unparteilichen moralischen Standpunkts keine moralische Begründung.13 Ein Verteidiger des moralischen Standpunkts würde hier wahrscheinlich einräumen, daß die Handlung in diesem via Unparteilichkeit zugegebenermaßen nicht aufzulösenden Dilemma zumindest moralisch erlaubt war. Doch Williams hat auch dagegen etwas einzuwenden, daß nämlich der unparteiliche Standpunkt hier schlicht eine Idee zu viel einbringt. Aus der Sicht der Frau und ihrer Beziehung zu dem Mann könne nur jede andere Begründung als die, daß eben sie zu retten war, irritierend wirken. Wie Williams zusammenfassend bemerkt: „Doch der Punkt ist, daß man irgendwo - und wenn nicht in diesem Fall dann wo? - zu der Unumgänglichkeit gelangt, daß Dinge wie tiefgreifende Bindungen an andere Personen sich in der Welt auf Wegen äußern werden, die nicht zugleich die unparteiische Sicht verkörpern, und daß sie auch das Risiko eingehen, dagegegen zu verstoßen."14 Ein genauerer Blick auf Williams' Argumente scheint insofern angebracht, als sich der Grundgedanke seiner Kritik mit feministischen Überlegungen deckt. So bildet die - anknüp11 Williams (1984b). 12 Ebda., S. 20-23. 13 Williams' Argumentation wird von feministischer Seite als Bestätigung der Grenzen der unparteilichen Moral gelesen - wenn auch die Rezeption nicht ohne Ambivalenz erfolgt. Diese Zwiespältigkeit ist besonders auf die patriarchale Symbolik in Williams' Beispielen und die bizarren Ausnahmesituationen, die er zur Untermauerung seiner Thesen heranzieht, zurückzuführen. Kritisch zu Williams Friedman (1991), S. 167. 14 Williams (1984b), S. 27.
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fend an die Arbeiten Gilligans von Autorinnen wie Noddings, Held, Baier und auch Ruddick - entwickelte Idee, daß persönliche positive Bindungen ein allgemeines Modell für die Interaktionen mit anderen Menschen bilden sollten, den Hauptgrund für die feministische Skepsis gegenüber dem Unparteilichkeitsstandpunkt. Paradigmatisch für diese persönlichen Beziehungen ist für viele feministische Philosophinnen, wie dargestellt, die Mutter-KindBeziehung, die eine spezifische Form der Anteilnahme und des Interesses umfaßt. Geht man davon aus, und dies ist zweifellos ein wesentliches Anliegen der feministischen Ethik-Diskussion, daß positive Nahbeziehungen bedeutsame moralische Werte darstellen und eine angemessene Moraltheorie dem Rechnung tragen sollte, so macht dies eine Neubewertung der Bedingungen von Unparteilichkeit und Parteilichkeit erforderlich. Denn besondere Beziehungen zu anderen involvieren Parteilichkeit - in dem Sinn, daß manche Personen einen Stellenwert für uns haben, den wir aus simplen psychologischen und situativen Gründen nicht allen gleichermaßen einräumen können. Ein Aspekt persönlicher Beziehungen, beispielsweise von Freundschaft, ist, daß uns das Wohlergehen der Person, zu der wir in dieser Beziehung stehen, per se ein Anliegen ist, und dies beinhaltet bestimmte Formen der Zuwendung. Wenn ich mir überlege, welche Unterstützung und Anteilnahme eine Freundin braucht, eröffnet das Modell einer unparteilichen Interessengewichtung gar keinen Zugang zu dieser Fragestellung.15 Ob und wie weit aber dadurch die Forderung der Unparteilichkeit in der Ethik bereits aufgehoben ist, bedarf einer gesonderten Betrachtung. Williams' erstes Argument, daß unparteiliches Räsonieren nicht vereinbar ist mit dem, was die Identität von Personen ausmacht, überzeugt nicht. Selbst wenn wir Williams zugestehen, daß manche unserer Wünsche, Begehren und Ziele konstitutiv für unseren Charakter sind, bedeutet dies nicht, daß solche Momente unserer Personalität einer moralischen Bewertung entzogen sind und wir uns nicht davon distanzieren können und unter Umständen sollen. Moralisch gesehen ist es schlicht nicht gleichgültig, welche Projekte und individuelle Begehren wir als für unser Leben grundlegend erklären - hier sind uns Grenzen gesetzt. 16 Das zweite Argument von Williams karikiert in gewisser Weise die Unparteilichkeitsvoraussetzung, verdeutlicht damit aber sehr wohl deren Limitierungen. Trivialerweise ist in der 15 Vgl. zur Frage der Moral persönlicher Beziehungen Blum (1980), S. 67-83. 16 Williams bringt gegen die Sicht von Moral als Einschränkung von Lebensoptionen das Moment des „moralischen Zufalls" ins Spiel. Es könne sich durch die nicht vorhersehbaren Entwicklungen und Verläufe einer Lebensgeschichte infolge der Unwägbarkeiten des Schicksals eine Entscheidung, die prima facie moralisch problematisch scheint, als „richtig" herausstellen. So erwähnt Williams in seinem Essay Moralischer Zufall das Beispiel eines höchst kreativen Künstlers, den er in bewußter Anspielung auf das historische Vorbild Gauguin nennt; ein Mensch, für den seine Kunst so wichtig ist, so sehr Teil seiner Identität, daß er seine Pflichten gegenüber seiner Familie bewußt vernachlässigt - eine Entscheidung, die sich für Williams durch den Wert seiner großartigen Malerei retrospektiv rechtfertigt: „Der moralische Zuschauer muß die Tatsache ins Auge fassen, daß er Grund hat zur Freude darüber, daß Gauguin Erfolg hatte und also darüber, daß er den Versuch wagte." Williams (1984c), S. 46. Williams vermischt hier aber zwei Wertsphären - jene der Moral und der Ästhetik, was damit zusammenhängt, daß Williams' Moralphilosophie durch ihre aristotelischen Züge insgesamt die Grenze zwischen moralischen und nicht-moralischen Werten weitgehend fließend läßt. Vgl. dazu Williams (1985). Selbst wenn wir Gauguins Werke schätzen und ihren Wert anerkennen, können wir der Meinung sein, daß der moralische Preis für ihre Entstehung zu hoch war. Vgl. dazu Herman (1993b), S. 38-42. Ein anderes Beispiel wäre Rousseau: Die Bewunderung für ihn als Philosoph ändert nichts an der Irritation über sein Verhalten gegenüber seinen Kindern.
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geschilderten Situation über die unparteiliche Gewichtung der Interessen der sich in Lebensgefahr befindenden Personen keinerlei Lösung zu erreichen. Aber wer käme schon auf die Idee, einen Retter, der tut, was er kann, moralisch zu kritisieren? Die Unterscheidung verschiedener Ebenen oder Bereiche der Moraltheorie scheint in dem Zusammenhang unumgänglich: Unparteilichkeit des moralischen Standpunkts ist angemessen bei der Frage nach sehr allgemeinen und grundlegenden Moralprinzipien, den übergeordneten Standards. Hier ist von sozialen Zugehörigkeiten, Bindungen und Interessen zu abstrahieren. Auf einer anderen Ebene der Moral aber - jener der konkreten Interaktionen im Nahbereich - ist Unparteilichkeit wenig dienlich. Hier sind Richtlinien moralischen Handelns gefordert, die Parteilichkeit im Sinne der Berücksichtigung persönlicher Bindungen und spezifischer Verantwortlichkeiten einbeziehen.17 Die Erfordernisse der unparteilichen Moral lassen einen Spielraum, in dem Partikularismen - ohne jede Verletzung moralischer Standards - handlungsrelevant werden. Nicht jede Form moralisch untadeligen Verhaltens impliziert das Beziehen eines unpersönlichen Standpunkts und die gleiche Gewichtung der Interessen aller Betroffenen - dies ist die Pointe von Williams' Beispiel! Als Konsequenz ergibt sich, daß das Verhältnis von Unparteilichkeit und Parteilichkeit nicht jenes ist, das uns die gängigen Moraltheorien weismachen. Genauso wie es unbefriedigend bleibt, den moralischen Standpunkt pauschal mit Unparteilichkeit zu identifizieren, kann eine Ethik Parteilichkeit nicht ohne Einschränkungen zulassen. Persönliche Werte müssen sich von einer höheren Ebene überpersönlicher Werte her, die mit allgemeinen Grundgütern des Lebens korrespondiert, befragen lassen, denn, um Thomas Nagel zu zitieren, „nicht jedem beliebigen persönlichen Grund, den ein Individuum dafür haben kann, etwas zu tun, (entspricht) auch ein triftiger neutraler Grund dafür, daß es geschieht".18 Doch mit ihrer unreflektierten Fixierung auf die Unparteilichkeitsidee haben die prominenten zeitgenössischen Moralansätze zweifellos zu einer Verarmung der Ethik beigetragen. Aus feministischer Sicht spricht einiges für eine Synthese von Unparteilichkeit und Parteilichkeit. Die - durch die Konzentration auf persönliche Beziehungen und damit verknüpfte besondere Verpflichtungen bedingten - partikularistisch-parteilichen Tendenzen der feministischen Ethik werden inzwischen recht zwiespältig wahrgenommen. So macht Marilyn Friedman auf die Engstirnigkeit und „Kirchspiel"-Reichweite einer solchen Moraltheorie aufmerksam 19 und erinnert daran, daß ein wesentliches Moment der Frauenbewegung die mit einer Gartenzaunmentalität schlecht verträgliche internationale Solidarität mit Frauen aus allen Kulturen war, und Sarah L. Hoagland spricht einer „Ethik, die verhungernde Menschen in einem entfernten Land nicht in den Bereich moralischer Überlegungen miteinbezieht", schlicht die Angemessenheit ab.20 Das im Umfeld des Verhältnisses von Frauen und Moraltheorie so gängige Betonen des Persönlichen und der damit verbundenen besonderen Verpflichtungen ist neben den erwähnten Defiziten auch insofern problematisch, als es häufig mit konservativen Wertungen und einer unkritischen Haltung gegenüber bestehenden sozia17 Vgl. dazu auch Hill Jr. (1991) und Blum (1980), S. 43-60. Wie Blum bemerkt, setzt moralisches Handeln in institutionell definierten Rollenkontexten, nicht aber die Moral persönlicher Beziehungen, Unparteilichkeit voraus. 18 Nagel (1992), S. 296. Nagel differenziert zwischen persönlichen und neutralen Werten; zu letzteren zählen Freiheit von Leid und Schmerz und grundlegendes Wohlergehen. 19 Siehe Friedman (1991), S. 173ff. 20 Hoagland (1993), S. 189.
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len Arrangements verbunden ist.21 Zudem irritiert viele Philosophinnen der oft mit einer partikularistischen Ethik-Sicht einhergehende sentimentalische Blick auf Nahbeziehungen angesichts des gerade durch die feministische Bewegung nachhaltig bewußt gemachten Gewaltpotentials in denselben. Um eine Ethik auf die für Frauen hochaktuellen Probleme wie Gewalt, Pornographie und den sexuellen Mißbrauch von Kindern anwenden zu können, muß diese neben einem Ideal persönlicher Beziehungen noch andere moraltheoretische Kategorien umfassen. Wird aber die inhaltliche Ausrichtung einer feministisch modifizierten Moraltheorie in diesem Sinn ergänzt, fehlt auch die Basis für eine unhinterfragte Ablehnung der Unparteilichkeitsbedingung. Mit der programmatischen Forderung nach mehr Partikularität ist es nicht getan, denn gerade Frauen können nicht auf die Evaluierung der sozialen Zusammenhänge verzichten, die für ihre je besonderen Lebensgeschichten konstitutiv sind.
6.2
Der Stellenwert und die methodologische Verankerung affektiver Werte
Die Zielrichtung der feministischen Ethik-Kritik liegt in der Formulierung eines Verständnisses von Moral, das sich des Problems der Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen bewußt ist, Frauen als Subjekte des moralischen Bereichs ernst nimmt und dieser Orientierung auch auf methodisch-begrifflicher Ebene Rechnung trägt. So betrachtet wirkt der Rückgriff auf Empathie, Fürsorglichkeit und Einfühlsamkeit nebst dem paradigmatischen Verweis auf die Mutter-Kind-Beziehung höchst zwiespältig, da diese Phänomene mit den klassischen Konnotierungen des „Weiblichen" konform gehen. Die unter dem Begriff „weiblicher Tugenden" firmierenden Zuschreibungen und Verhaltenserwartungen sind auf dem Hintergrund der in der politischen Philosophie der Neuzeit üblichen Ausgrenzung von Frauen aus dem öffentlichen Bereich zu sehen. Diese Symbolkonstruktionen wirken bis heute nach, sedimentiert in den Vorurteilen, Widerständen und Barrieren, auf die Frauen prallen, wenn sie die gesellschaftliche Umsetzung der ihnen formal zugestandenen Rechte in demokratischen Gesellschaften konkret einzufordern beginnen. Es versteht sich von selbst, daß sich eine feministische Ethik scharf von den normativen Hintergrundannahmen abgrenzen muß, die in Form einer moralischen Zweiteilung der Geschlechter Frauen einen Tugendkatalog aufoktroyierten, der historisch betrachtet Ausdruck ihrer Nicht-Anerkennung als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft war. Aus der Sicht der Geschlechterdifferenz verbietet sich eine unkritische Bejahung von Werten wie Empathie, Anteilnahme und Zuwendung durch deren Verquickung mit dem traditionellen Rollenverständnis von Frauen und einer durch den Stützpfeiler der traditionellen Öffentlich-PrivatTrennung abgesicherten gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die auf die Benachteiligung und moralisch-affektive Ausbeutung von Frauen hinausläuft. Aber verlangt dies schlechthin den Verzicht auf diese Werte? Sind diese Haltungen schon deswegen diskreditiert, weil sie von männlichen Theoretikern stillschweigend zum Erhalt der patriarchalen Geschlechterordnung instrumentalisiert wurden, ansonsten aber ein moraltheoretisches Schattendasein führten? Die Situation verkompliziert sich insofern, als der Verdacht berechtigt scheint, daß gerade 21 Ein Beispiel dafür ist Hoff Sommers (1991).
. methodologische Verankerung affektiver Werte
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ein geschlechtsspezifisch gefärbter Wahrnehmungsraster für die moraltheoretische Vernachlässigung dieser Phänomene mitverantwortlich zeichnet.22 Will die Moraltheorie die Sichtweisen von Frauen einbeziehen und deren Erfahrungen ernstnehmen, so kann sie nicht einfach an den Alltagszusammenhängen vorbeigehen, die das Leben vieler Frauen auch heute noch kennzeichnen und bestimmen - so die auch in westlichen Industriegesellschaften nach wie vor primäre Zuständigkeit der Frauen für Kinder, deren Pflege, Versorgung und Erziehung. Dies nicht zu berücksichtigen, beliefe sich neuerlich auf Ignoranz gegenüber Frauen und deren Bedürfnissen. Und im Umgang mit Kindern, der Betreuung und Erziehung von Wesen, die ohne fürsorgliche und affektive Zuwendung nicht lebensfähig wären, bildet sich eben ein bestimmtes Wertespektrum. Das Wissen darum, wie viel Sorge, Liebe und Aufwand notwendig sind, um ein Kind zu erziehen, macht einen, wie Sara Ruddick schreibt, sensibler für den Verlust, den die Zerstörung eines Lebens bedeutet, und motiviert zu einer Haltung gegen Aggression und Gewalt.23 Gleichzeitig gilt es, nicht der Versuchung einer bloßen Aufwertung „femininer Werte" nachzugeben, ohne die strukturellen Voraussetzungen für deren gesamtgesellschaftliche Anerkennung zu benennen. Die feministische Philosophie ist hier zweifach gefordert: Einerseits muß sie das Hineinspielen des traditionellen Geschlechterverständnisses in die Moraltheorie transparent machen, andererseits die Rahmenbedingungen für das Transzendieren der patriarchalen Geschlechterordnung mitbedenken. Der tiefere Grund für das Spannungsfeld, das sich hier in der feministischen Moraldebatte auftut, liegt darin, daß eine Gesellschaft sich die Preisgabe der fraglichen Werte schlicht nicht leisten kann, will sie ein Ort der Humanität sein. Ein nur nach den Gesichtspunkten von Gerechtigkeit und liberalen Rechten funktionierendes Zusammenleben, sofern es überhaupt möglich ist, entspricht in keiner Weise unseren Bedürfnissen nach Bindung, Vertrauen, Verständnis, Zuwendung, Freundschaft und personaler Wertschätzung. Ein Gemeinwesen, in dem Individuen auch mit der Anteilnahme anderer an ihrem Schicksal und deren Bereitschaft zu Unterstützung und Hilfe im Falle von Bedürftigkeit und Not rechnen können, realisiert eher unsere moralischen Vorstellungen vom Gemeinwohl als eine vorrangig über die moralische Gewichtung von Rechtsansprüchen organisierte Sozietät. Eine Gesellschaft, in der Individuen die moralische Verbindlichkeit von Affektivität, Zuwendung, Empathie nebst dem Berücksichtigen kontextueller Besonderheiten ernst nehmen, und in der sich über den unmittelbaren Nahbereich hinausreichende solidarische Netzwerke entwickeln können, verfügt auch über wirksamere Schutzmechanismen gegenüber Ausgrenzung, Benachteiligung und Gewalt. Unabhängig von der traditionellen symbolischen Besetzung affektiver Haltungen und moralischer Empfindungen lassen sich also normative Gründe anführen, warum deren moral22 Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist etwa Patons Kommentar zu dem hohen Stellenwert, den Kant in seiner Moraltheorie der Pflicht einräumt: „Er ist wirklich besorgt, daß wir beim Hinweghuschen über das Pflichtmotiv im Interesse der Liebe zum Guten uns selbst allen möglichen Arten des moralischen Enthusiasmus oder der Schwärmerei hingeben könnten, einer prahlerischen, hochtrabenden, phantastischen Geisteshaltung, die moralische Handlungen als die verdienstlichen Ergüsse eines aufwallenden Herzens ansieht. . . Unsere moralische Erziehung sollte männlich sein und nicht schmachtend, sentimental, schmeichlerisch oder großspurig." Paton (1962), S. 48. Selbst wenn das Übergehen des moralisch Affektiven theoretisch nicht ausschließlich von der Bekräftigung eines bestimmten Geschlechterverständnisses geleitet ist, so erlangt es im Geschlechterkontext doch eine spezifische Bedeutung. 23 Siehe Ruddick (1989), S.222ff.
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Theoretische
Grundlagen feministischer
Ethik
theoretische Einbindung bedeutsam ist und im Interesse von Frauen liegt. Für die Aufarbeitung einer Reihe von Problemen der angewandten Ethik, die gerade das Leben von Frauen stark berühren, ist die Erweiterung des begrifflichen Rahmens auf moralische Affekte und Gefühle unabdingbar. Eine der Voraussetzungen, daß auch Frauen ein menschenwürdiges Leben offensteht, zählt trivialerweise die Abwesenheit von Diskriminierung und Unterdrückung. Die moralische Kritik dieser Phänomene operiert meist über den Begriff moralischer Rechte und der damit verbundenen Mißachtung von Rechtsansprüchen. Aber ich meine, daß genau hier eine Erweiterung des kategorialen Rahmens auf moralische Empfindungen, auf Empathie und Einfühlungsvermögen notwendig ist. Denn die Geringschätzung und Benachteiligung von Frauen hat auch mit mangelnder Anteilnahme und Einfühlung in die Situation der anderen Person zu tun. Die Tiefenstruktur dieser Art von Verletzung ist ohne Berücksichtigung der affektiven Dimension nicht zu erfassen; um zu verstehen, warum die Erfahrung sexistischer Abwertung so sehr einen Angriff auf die personale Integrität von Frauen darstellt, ist die Berücksichtigung der dadurch ausgelösten emotionalen Reaktionen wie Demütigung, Ohnmachtsgefühle, Schmerz und Empörung notwendig. Das Vorenthalten von Rechten bildet nur einen Aspekt des Sexismus, und darin liegt der Grund, warum moralische Prinzipien und Rechte zur Analyse und Verurteilung des Phänomens nicht genügen. Frauen beklagen oft die stillschweigende, sich zwischen dem Zugeständnis von Rechten und Regeln bewegende Diskriminierung und Mißachtung, und diese ist, wie zahlreiche bittere Erfahrungen in Verfahren wegen sexueller Belästigung oder Vergewaltigungsprozessen belegen, durch ein Einklagen von Rechten nicht zu beseitigen, sondern wird im Gegenteil oftmals dadurch verstärkt.24 Kehren wir zurück zu dem Dilemma, das der Rückgriff auf affektive Werte aus feministischer Sicht mit sich bringt: Zum einen wirkt die Forderung einer Berücksichtigung von Werten wie Empathie und Zuwendung im Rahmen der Moralphilosophie und die korrespondierende Kritik an klassischen Ansätzen berechtigt und notwendig. Zum anderen werden der moraltheoretischen Aufwertung dieser Aspekte ohne entsprechende Einschränkungen und Klauseln die Altlasten einer geschlechtsspezifisch einseitigen Kodierung und einer repressiven Geschlechterordnung aufgebürdet. Es gilt also, einen Weg zu finden, der eine Integration der affektiven Werte erlaubt und diese gleichzeitig aus der Einbindung in das traditionelle Geschlechterverständnis befreit. Die hier notwendigen Modifikationen reichen letztlich über die Moraltheorie hinaus in den Bereich der Sozialphilosophie und politischen Philosophie. Doch auch für den Bereich der Moral lassen sich die einschlägigen Auflagen formulieren: Die wesentliche Bedingung, um die im vorhergehenden Abschnitt vertretene These aufzugreifen, lautet, daß eine aus feministischer Perspektive akzeptable Ethik, was den Verbindlichkeitsanspruch moralischer Forderungen betrifft, klar universalistisch sein muß. Daß sich eine an den Erfahrungsbereich von Frauen anknüpfende Moraltheorie mit ihrer Betonung von Fürsorglichkeit und Empathie nicht wieder in klassischen Rollenstereotypen verfängt, gelingt zumindest partiell über das Ansinnen, eine Moral, welche die Werte von Anteilnahme und Empathie berücksichtigt, als für alle moralisch Handelnden gültig zu verstehen. Dies bedeutet, daß die affektiven Haltungen von allen Moralsubjekten gleichermaßen, also auch von Männern, moralisch verlangt
24 Vgl. dazu Fräser (1994a), S. 21-28.
methodologische
Verankerung affektiver
Werte
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werden.25 Damit ist theoretisch nicht nur ein Herauslösen dieser Phänomene aus der problematischen traditionellen Geschlechtersemantik erreicht; die universelle Verbindlichkeitserklärung hat weitreichende Folgen für das Verschieben von Rollenklischees und das Geschlechterverhältnis insgesamt. Gleichzeitig, und das ist eine zweite wesentliche Bedingung, muß diese moraltheoretische Forderung abgestützt sein von begleitenden Transformationen auf der Ebene sozialer und politischer Institutionen. Durch eine Umstrukturierung der Moraltheorie allein ist die geschlechtsspezifische Besetzung der altruistischen Werte nicht zu überwinden. Die Ablösung und Distanzierung vom herkömmlichen Geschlechterverständnis ist letztlich nur möglich durch die explizite Infragestellung dessen struktureller Grundlagen. Dies erfordert eine Reformulierung der Begriffe „öffentlich" und „privat", eine andere Aufgabenverteilung in der Familie, sowie die gesellschaftliche Neuorganisation des Bereichs der Betreuungsarbeit insgesamt.26 Viele Moraltheoretiker würden wohl versuchen, die hier vertretene Einbindung der affektiven Haltungen durch eine Grenzziehung zwischen Moraltheorie und Moralpsychologie zu entkräften. Daß Faktoren wie Vertrauen, Liebe und Fürsorglichkeit beim Erwerb moralischer Vorstellungen maßgeblich sind, bedeute noch nicht, daß diese Kategorien in der Moraltheorie im engeren Sinne, der Bestimmung richtigen Handelns, eine Rolle spielen sollten. Abgesehen davon, daß die Grenzziehung zwischen Moralpsychologie und Moraltheorie nicht immer so glatt verläuft, wie einige Moralphilosophen annehmen, übersieht diese Argumentation, daß es genügend Argumente für die ethische und nicht nur psychologische Relevanz dieser Begriffe gibt, etwa, daß sie die Benennung des trotz gleicher Rechte vorhandenen Leids ermöglichen. Die altruistischen Werte dürfen nicht nur eine Option für jene darstellen, die über einen starken Sinn für moralische Werte verfügen. Genau dies führt zur moralischen Mehrbelastung von Frauen, von denen die Haltungen von Fürsorglichkeit und Verantwortlichkeit ohnehin immer erwartet wurden.27 Wohlwollen und Altruismus werden häufig der Kategorie ethischer Übererfüllung zugeordnet. Dies ist unangemessen, wenn man den Bereich berücksichtigt, in dem sich traditionell ein großer Teil des moralischen Lebens von Frauen abgespielt hat: den Sorgeleistungen für Kinder. Die ganze Absurdität patriarchaler Logik wird offensichtlich, bedenkt man, daß ein Großteil zeitgenössischer ethischer Theorien die in der Erziehung von Kindern unverzichtbaren Haltungen der Fürsorglichkeit und Anteilnahme als moralische Extraleistungen betrachtet. Denn diese Zuordnung entspricht keineswegs der gesellschaftlich geteilten Wahrnehmung davon, was Kindern moralisch zusteht. Es würde einen Sturm der Entrüstung auslösen, wenn Frauen den ihnen in familiären Nahbeziehungen permanent abverlangten direkten Altruismus mit dem Hinweis verweigerten, daß sie zu ethischer Übererfüllung keine Veranlassung sehen und nur noch - in Judith J. Thomsons Sinn „minimal anständige", aber keine „guten Samariterinnen" mehr sein wollen.28 25 Wenn auch traditionell Mütter bzw. Frauen die moralischen Werte der Beziehungsform zu Kindern realisiert haben, so spricht im Sinne einer sozialen Rollenverteilung nicht das geringste dagegen, daß auch Väter diese „Schule der Moral" durchlaufen. Erst so verstanden erlangt die Beziehung zu Kindern umfassende moralische Relevanz. 26 Vgl. dazu Cohen (1993); Fräser (1994b); Pauer-Studer (1996b). 27 Vgl. Baier (1994e), S. 230f. 28 Vgl. dazu Thomson (1990a), S. 124-126.
108
Theoretische
Grundlagen feministischer
Ethik
Die klassische Abwertung moralischer Gefühle und die Zuordnung des ganzen Bereichs der Kindererziehung zum Privatbereich als „natürlicher mütterlicher Aufgabe" stehen wohl hinter dieser Fehleinschätzung. Es hätte radikale und mit den altbekannten männlichen Stereotypen unvereinbare Konsequenzen, die im Umgang mit Kindern angemessenen Haltungen als allgemeingültige moralische Forderungen zu begreifen. An diesem Punkt entpuppt sich die angebliche Geschlechtsneutralität ethischer Theorien als hohle Rhetorik: Moralische Forderungen fallen für Frauen und Männer unterschiedlich aus. Dies bleibt versteckt, wenn man nicht die von den Moralphilosophen unhinterfragt akzeptierte Separierung von „öffentlicher" und „privater" Sphäre und die damit korrespondierende Geschlechtermetaphysik aufspürt. Die moralischen Erfahrungen von Frauen zu berücksichtigen verlangt, Fürsorglichkeit, Zuwendung und Empathie dem Kernbereich der Moral zuzuordnen und für alle Moralsubjekte gleichermaßen verbindlich zu machen. Im folgenden möchte ich noch ein Problem ansprechen, das in den an Carol Gilligan anknüpfenden Ansätzen nicht hinlänglich gelöst worden ist: nämlich die philosophische Verankerung von Zuwendung und Mitgefühl. Ausgehend von den Arbeiten Gilligans und Noddings' hat sich gleichsam die Rede von einer Care-Ethik eingebürgert, die als eine Art trademark für die erwähnten Phänomene altruistisch-empathischer Orientierung gehandelt wird. Aber der Begriff einer Care-Ethik wirkt nicht nur hoffnungslos überzeichnet, sondern verdeckt auch tieferliegende methodische Schwierigkeiten. Denn abgesehen von der damit suggerierten Separierung von einer Moral der Rechte und Prinzipien, die nicht durchzuhalten ist, bleibt so der normative Status von Fürsorglichkeit und Anteilnahme weitgehend unklar. Durch die paradigmatische Anlehnung an die Mutter-Kind-Beziehung wird bei Gilligan, aber insbesondere bei Noddings und Held das Caring als ein „natürliches" Gefühl betrachtet. Nun können, entgegen der Meinung Kants, auch spontane Neigungen moralisch wertvoll sein, aber das in der Tat gegebene Problem der Kontingenz verbietet es, ein solches Phänomen schon mit dem Begriff „Ethik" zu belegen. Wenn Gilligan von einer „Ethik der Fürsorglichkeit und Anteilnahme" spricht, so ist dies doppeldeutig: Zum einen bezieht sie sich damit auf die Moralvorstellungen, die sich in den moralischen Urteilen der von ihr befragten Frauen widerspiegeln; andererseits geht sie gewissermaßen über die psychologische Bestandsaufnahme moralischer Überzeugungen hinaus auf die Ebene der philosophischen Theorien der Moral. Aber auf dieser Stufe genügen „natürliche" Empfindungen nicht, denn solche Gefühle können da sein oder fehlen, spontan auftauchen und schwinden; der Moral geht es aber um Handlungsverbindlichkeiten, um das, was wir aus allgemein einsichtigen Gründen tun sollen. Die Schwierigkeiten, in die sich die Theoretikerinnen bringen, welche das Caring als „natürlich" betrachten, lassen sich exemplarisch an der Kontroverse zwischen Nel Noddings und Sarah Lucia Hoagland verdeutlichen. Das Vorhandensein widersprüchlicher und einander oft diametral entgegenstehender Gefühle ist ein nicht zu leugnendes Faktum menschlicher Existenz, und die Diskussion zwischen Noddings und Hoagland bewegt sich genau um ein wechselweises Ausspielen dieser Unterschiede: Hier Noddings, die in der Mutter-KindBeziehung ein Modell für unsere tiefsten und berührendsten menschlichen Regungen sieht da Hoagland, die auf die Schattenseiten dieser Beziehung hinweist, auf Ärger, Machtmißbrauch von Seiten der Mütter, mangelnde Rücksicht auf das Kind, Ausnützen von dessen Vertrauen und im schlimmsten Fall die Mißhandlung durch Mütter.29 Hoagland warnt auch 29 Siehe Hoagland (1993), S. 181.
. methodologische
Verankerung affektiver
Werte
109
vor einer blauäugigen Übertragung des Fürsorglichkeitsmodells auf Männer, indem sie anmerkt, „daß in einem Drittel jener Haushalte, in denen männliche Erwachsene Zugang zu Mädchen haben, ein männlicher Erwachsener eines oder mehrere Mädchen vergewaltigt".30 Empirisch betrachtet sind beide Perspektiven berechtigt. Der menschlichen Wesensart sind Noddings' positive wie Hoaglands negative Gefühls- und Verhaltensmuster nicht fremd. Neben den positiven Empfindungen des Wohlwollens, der Anteilnahme, der Einfühlung und der Liebe kennen wir gleichermaßen das düstere Spektrum von Gleichgültigkeit, Eifersucht, Aggression und - in Kants Worten - „die abscheuliche Familie des Neides, der Undankbarkeit und der Schadenfreude".31 Moraltheoretisch ist das Verharren auf der Ebene faktischer Phänomene unergiebig. Eine Care-Ethik wäre so gesehen nichts anderes als eine auf den spontanen Regungen eines direkten Altruismus aufbauende bloße Sympathieethik, die für sich genommen an die Grenzen faktischer Disponiertheiten stößt.32 Ohne eine übergeordnete normative Absicherung ist der Schritt von zugegeben wertvollen de facto Empfindungen zu einer Ethik nicht zu schaffen. Noddings selbst sieht das Problem, und entsprechend argumentiert sie für den Übergang von einem „natürlichen" Sorgen zum normativen Ideal des ethischen Sorgens.33 Noddings' Überlegungen beschränken sich allerdings auf eine auf Care eingegrenzte Tugendethik. Doch dies ist zu wenig. Es zählt nachgerade zu einem Gemeinplatz der feministischen Moraldebatte, daß eine Propagierung von Fürsorglichkeit und Anteilnahme ohne begleitende Standards der Gerechtigkeit nur allzu rasch in emotionale Ausbeutung umschlägt. Altruistische Werte können nicht von Gerechtigkeitsprinzipien abgekoppelt werden: Die Frage, wem, in welchem Ausmaß und warum wir Anteilnahme zeigen, verweist auf berechtigte moralische Ansprüche und somit auf übergeordnete Abwägungskriterien. Ohne grundlegende Prinzipien, welche die konkrete Angemessenheit bestimmen, wäre Care „moralisch richtungslos" 34 ; ohne Kontrolle durch Standards vernünftigen Überlegens und einen formalen Rahmen von Regeln und Rechten könnte eine nicht über Gefühle hinausreichende Care-Ethik, wie ein Kritiker warnend meint, "a Pandora's box of horrors" öffnen. 35 Notwendig ist also die Integration der affektiven Werte in eine umfassendere Moralkonzeption. Empathie, Anteilnahme und Sensibilität sind als moralische Haltungen bedeutsam und unabdingbar, wollen wir anderen die ihnen als Person gebührende Achtung erweisen, eine Achtung, die mehr als nur deren Anerkennung als Rechtssubjekt umfaßt. 36 Ihre moraltheoretische Einbindung ermöglicht auch, dem in den prominenten deontologischen Theorien weitgehend übergangenen Problem des Respektierens von Besonderheit, Differenz und 30 31 32 33 34
Ebda., S. 180. Sie bezieht sich hier auf Untersuchungen wie Stanko (1985) und Rüssel (1984). Kant (1797a), S. 596. Kritisch zur Sympathieethik auch Krämer (1992), S. 41f. Siehe Noddings (1984), S. 79ff. Tugendhat (1993), S. 185, der diesen Vorwurf etwa der Mitleidsmoral macht. Wie Ursula Wolf bereits in einer vor Tugendhats Buch erschienenen Arbeit bemerkt, ist dieser primär gegen Schopenhauer gerichtete Einwand unfair und ein Mißverständnis, da Schopenhauer ihrer Lesart nach nicht beansprucht, Moral auf dem faktisch gegebenen Gefühl des Mitleids aufzubauen. Wolf (1990), S. 51f. Abgesehen von dieser Kontroverse ist zu bemerken, daß der Einwand vielleicht nicht Schopenhauer, aber doch manche Vertreterinnen einer Care-Ethik trifft, die den Schritt von der faktischen Ebene zur normativen Verbindlichkeit nicht immer klar setzen. 35 Loewy (1995), S. 59. 36 Vgl. dazu auch Honneth (1992a), S. 148-211.
110
Theoretische Grundlagen feministischer
Ethik
Anderssein wie auch jenem der moralischen Wahrnehmung gerecht zu werden. Sensibilität, Empfindungsfahigkeit und Offensein für die anderen erleichtern das Erkennen, wann eine Situation moralisch relevant ist. Fürsorglichkeit und Anteilnahme dürfen also nicht den Zufälligkeiten subjektiver Geneigtheiten und Dispositionen überlassen bleiben. Als moralisch geforderte Einstellungen bedürfen sie der Einbettung in eine umfassendere Theorie. Dies muß eine Moralkonzeption sein, die von einem übergeordneten Prinzip des moralischen Standpunkts geleitet ist, welches neben Regeln und Rechten auch auf Empfindungen und Gefühle erweiterte moralische Einstellungen umfaßt; also eine Ethik, die nicht nur eine Theorie des Rechten enthält, sondern auch eine über das Rechte hinausreichende Theorie des Guten, die Minimalbedingungen eines guten Lebens formuliert. Gesucht ist eine Moraltheorie, die als Synthese von Prinzipienethik und affektiver Tugendmoral über die Dichotomien von Universalismus versus Partikularismus, Unparteilichkeit versus Parteilichkeit und Rechtem versus Gutem hinausweist. Voll entfaltet wird diese Konzeption erst im letzten Teil der vorliegenden Arbeit. Auf dem Weg zu dieser Ausformulierung werde ich mich zunächst mit jener zeitgenössischen Denkströmung befassen, die eine den feministischen Überlegungen auf den ersten Blick sehr ähnliche Kritik an den repräsentativen Moraltheorien der Gegenwart geäußert hat.
LIBERALISMUS, KOMMUNITARISMUS, FEMINISMUS
In der Forderung nach einer Erweiterung der Moral auf Fragen des Guten und in der normativen Leitvorstellung eines von Solidaritätswerten getragenen Zusammenlebens ergeben sich unübersehbare Parallelen zwischen der feministischen Moralkritik und den kommunitaristischen Einwänden gegen den Liberalismus. Obwohl sich die verzweigte Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus in erster Linie auf Problemstellungen der politischen Philosophie bezieht, so hat sie doch auch eine moraltheoretische Dimension. Zum einen geht es um die Frage, wie weit der Liberalismus eine ausreichende Bestimmung und Charakterisierung der politischen Institutionen und Strukturen einer den Idealen von Gerechtigkeit und Solidarität verpflichteten Gesellschaft ermöglicht, zum anderen darum, ob und wie weit die für ein gelingendes Zusammenleben der Menschen verbindlichen moralischen Standards und Werte über die liberalen Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit hinausreichen müssen. So sind sich die als „Kommunitaristen" bezeichneten Philosophen trotz aller Unterschiedlichkeiten einig darüber, daß die vom Liberalismus geprägte moderne Moralphilosophie einer verkürzten Sicht von Moral aufsitzt und eine umfassendere Reflexion auf Konzeptionen des Guten notwendig ist, da beispielsweise Grundsätze des Rechten und der Gerechtigkeit ohne Voraussetzungen hinsichtlich des Guten gar nicht formuliert werden können. Über eine Beschäftigung mit den wichtigsten Diskussionsverläufen zwischen Liberalismus und Kommunitarismus läßt sich auch Klarheit darüber gewinnen, in welcher Form Konzeptionen des Guten für eine Theorie der Moral, die unverzichtbare liberale Grundstandards nicht verletzt, überhaupt noch maßgeblich werden können. Im folgenden werde ich die moraltheoretisch relevanten Aspekte der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte aufgreifen. Dabei konzentriere ich mich auf die Überlegungen von Alasdair Maclntyre und Michael Sandel, weil sich in ihren Arbeiten jene Argumentationsmuster finden, die auf den ersten Blick die deutlichsten Überschneidungen mit der feministischen Perspektive auf die Ethik erkennen lassen. So wurde Maclntyres Kritik an einem auf den unparteilichen Standpunkt fixierten und von besonderen Umständen abstrahierenden Moralverständnis von einigen feministischen Philosophinnen durchaus positiv rezipiert. Auch seine Erneuerung der Tugendethik stieß auf Interesse, da manche Theoretikerinnen in einer aristotelischen Form der Ethik die naheliegende Alternative zu einem formalen Universalismus erblickten.1 Desgleichen scheinen sich Sandels Einwände gegen den liberalen Subjektbegriff und seine Infragestellung des Vorrangs des Rechten vor dem Guten mit feministischen Überlegungen zu treffen. Sandels Skepsis, was den Primat des Rechten vor dem Guten betrifft, bildet gewissermaßen das Gegenstück zu dem feministischen Unbehagen gegenüber jenen Ansätzen, denen Rechte, Grundsätze der Gerechtigkeit und formale Verfahrensregeln 1
Vgl. dazu Meyers/Kittay (1987).
112
Liberalismus,
Kommunitarismus,
Feminismus
als die maßgeblichen Kategorien von Moralität gelten. Ähnlich wie die Vertreter des Kommunitarismus zeigen sich feministische Philosophinnen irritiert über die abstrakte Subjektkonzeption des Liberalismus. Da letztlich „soziale Selbste" moralische Haltungen entwickeln und moralische Entscheidungen treffen, unterlaufe die Vorstellung eines aus dem sozialen Kontext gelösten und auf Rationalität reduzierten Subjekts ein angemessenes Verständnis einer auf konkrete Zusammenhänge bezogenen Moral.
7
Tugenden und Traditionen: Alasdair Maclntyres Alternative zur Aufklärungsmoral
Eine zentrale These von Alasdair Maclntyres Buch Der Verlust der Tugend1 lautet, daß sich die zeitgenössische Sprache der Moral in einem Zustand „schwerer Unordnung" befinde. Im Fehlen eines einheitlichen und gemeinsam geteilten Vokabulars, das einen Konsens über moralische Standards überhaupt erst ermögliche, offenbare sich die ganze Malaise der modernen Moralphilosophie. Da unsere grundlegenden moralischen Begriffe laut Maclntyre nur noch Versatzstücke aus verschiedenen ethischen Traditionen darstellen, die zum Teil ihre Überzeugungskraft eingebüßt haben, reden wir aneinander vorbei und vermögen in zentralen moralischen Problemstellungen keinerlei Übereinkunft mehr zu erzielen. Unsere grundlegenden moralischen Kategorien gelten ihm als aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöste Bruchstücke, die ohne die Rückbindung an diesen theoretischen Hintergrund ihre Bedeutung verloren haben. Im semantischen Chaos moderner Moralkonzeptionen würden die meisten Meinungsverschiedenheiten in ethischen Fragen in nicht entscheidbaren Positionskämpfen steckenbleiben, da die einzelnen Argumente der Parteien, wenn auch in sich schlüssig, aufgrund der linguistischen Inkommensurabilitäten aneinander vorbeigingen. Das Mißlingen aller Rechtfertigungsversuche moderner Moralphilosophen hängt für Maclntyre auch damit zusammen, „daß die Begriffe, mit denen sie arbeiten, eine Kombination aus fragmentarischen Resten und nicht plausiblen modernen Erfindungen darstellen". 2 Als Beispiele für moralische Kontroversen, die mit der Begrifflichkeit moderner Moralphilosophie nicht mehr definitiv zu entscheiden sind, führt Maclntyre die Frage des Schwangerschaftsabbruchs, das Problem einer gerechten Gesellschaft vor dem Hintergrund der Rivalität von Freiheit und Gleichheit und jenes des gerechten Kriegs an. 3 Kennzeichnend für die moderne moralische Kultur ist nach Maclntyre ein umfassender Emotivismus - die Überzeugung, daß moralische Urteile nur Ausdruck subjektiver Einstellungen sind. Ein Grund für diese Haltung, die einen kontinuierlichen Niedergang der Moral provoziere, liege im Scheitern des Projekts der Aufklärungsmoral. Der unbefriedigende Status der Moral in modernen Gesellschaften werde als Reaktion auf die vergeblichen Versuche der Moderne, Moral überzeugend zu fundieren, verständlich. Die Ambitionen der Aufklärungsmoral konnten sich nach Maclntyre nicht erfüllen, da durch die neuzeitliche, nicht-teleologische Sicht des Menschen jede „objektive" Abstützung moralischer Gebote verunmöglicht werde. Maclntyre verdeutlicht diese Schwierigkeit anhand der allgemeinen Struktur ethischer Systeme aristotelischen Zuschnitts, die von drei Elementen bestimmt wird, die in einem wechselseitigen Zusammenhang der Sinn- und Funktionsverleihung stehen: 1) das menschliche 1
Maclntyre (1987). Im folgenden wird auch manchmal der englische Originaltitel After Virtue verwendet.
2
Ebda., S. 342.
3
Ebda., S. 19-21.
114 Wesen, wie es ist, der „natürliche Zustand" der Menschen; 2) die Gebote der rationalen Ethik und 3) die Vorstellung vom Menschen, wie er sein könnte, würde er sein eigentliches Wesen, sein Telos, erkennen. 4 Die Funktion der ethischen Gebote besteht darin, eine Verbindung zwischen dem Naturzustand und dem Telos zu schaffen: Die durch die Gebote vorgeschriebenen Tugenden leiten uns an, unsere „eigentliche Bestimmung" und die entsprechenden Ziele zu realisieren. Maßgeblich für die moderne Ethik werde im Gegensatz dazu der Verzicht auf die Vorstellung eines „wahren Ziels" menschlicher Natur. Die theologische wie die naturdeterministische Variante des menschlichen Telos lösen sich in einer Pluralität möglicher Lebensentwürfe und Zielvorgaben auf. Dieser Verlust des teleologischen Elements resultiert nach Maclntyre in einer Konzeption von Moral, welcher der innere Zusammenhang und die Einheitlichkeit fehlen, da die verbleibenden Elemente der de facto-Sicht der menschlichen Natur und der moralischen Gebote fortan unverbunden nebeneinander stehen. Die ursprüngliche Aufgabe moralischer Normen, nämlich die „Natur der Menschen" zu verändern, zu korrigieren und zu verbessern, falle aufgrund ihrer nun fehlenden teleologischen Einbettung weg. Moralische Gebote und das menschliche Wesen, wie es sich faktisch präsentiere, würden ohne eine übergreifende Zielvorstellung auseinanderbrechen und aller Verbindung verlustig gehen; ohne funktionale Sinngebung sei die Fundierung moralischer Gebote nicht zu erreichen. 5 Das Aufgeben jeglicher teleologischen Orientierung - von der Moderne als Akt der Befreiung verstanden - bedinge somit den umfassenden Terraingewinn des Emotivismus. Ohne teleologische Absicherung reduziert sich, so Maclntyres Diagnose, die Berufung auf moralische Regeln in der Tat auf individuelle Willenskundgebungen, denn „sobald die Vorstellung wesentlicher menschlicher Ziele und Funktionen aus der Ethik verschwindet, leuchtet es nicht mehr ein, moralische Urteile wie faktische Aussagen zu behandeln". 6 Da sich der moderne moralische Diskurs in einem disparaten und beziehungslosen Begriffsrahmen bewege, gelangten die in diesen Kategorien formulierten rivalisierenden Positionen über den bloßen Ausdruck subjektivistischer Haltungen und Gefühle nicht hinaus. Ein Resultat des Scheiterns der modernen Begründungsambitionen sei auch, daß einige moralische Begriffe in die Kultur Eingang fanden, denen als Restbeständen der Aufklärungsmoral ein Anschein von Bestimmtheit und Rechtfertigung anhafte, der täusche - sie seien nur zweckdienliche Fiktionen. Dazu zählt Maclntyre Begriffe wie „moralische Rechte", „Nützlichkeit" und „Wohlfahrt". Maclntyre läßt keinen Zweifel daran, daß er diese Entwicklung weniger als einen „Übergang zur Autonomie" denn zur Anomie betrachtet. 7 Er konstatiert mit unverhohlenem Mißbehagen den moralischen Zustand moderner Gesellschaften und beklagt vor allem die um sich greifende instrumenteile Zweck-Mittel-Orientierung. Seine Antwort darauf liegt im Rückgriff auf eine aristotelische Tugendlehre. 4
Ebda., S. 77. Die mittelalterlichen Moralsysteme konservieren nach Maclntyre diese Struktur, wenn auch in ihnen die teleologische Ausrichtung eine theologische Überformung erfährt: Die ethischen Gebote sind nun Ausdruck eines von Gott gegebenen Gesetzes; das Telos des Menschen ist nicht mehr säkular definiert und vollständig nur noch in einer jenseitigen Welt realisierbar.
5
Siehe ebda., S. 80.
6
Ebda., S. 86.
7
Ebda., S. 87. Den Utilitarismus als möglichen Retter der teleologischen Idee weist er mit dem Argument zurück, „daß der Gedanke des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl ein Gedanke ohne jeden klaren Inhalt ist". Ebda., S. 92; vgl. auch S. 89-93.
Maclntyres Alternative zur Aufklärungsmoral
115
Nach einem breiten Exkurs über die Geschichte der Tugenden und die Entwicklung unterschiedlicher Tugendvorstellungen formuliert Maclntyre schließlich einen Kembegriff der Tugenden, der auf drei Elementen basiert: dem Begriff sozialer Praxis, dem Begriff der narrativen Struktur und Ordnung eines einzelnen menschlichen Lebens und dem Begriff der moralischen Tradition. 8 Jedes dieser Elemente setzt das vorhergehende voraus, aber nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: Tugenden sind all jene Qualitäten, ohne die Individuen nicht in den Genuß der bestimmten Praktiken immanenten Güter gelangen, die das Telos eines individuellen menschlichen Lebens ausmachen, und ohne die nicht für den Zusammenhalt fortdauernder sozialer Traditionen gesorgt ist. Unter „Praxis" versteht Maclntyre sozial festgelegte komplexe Tätigkeiten, die auf den Gewinn bestimmter Güter abzielen. Die Beherrschung solcher Praktiken kann in äußeren Gütern wie Ehre, Wohlstand und sozialer Stellung resultieren; die den Tätigkeiten inhärenten Güter können nur durch das Einüben in die der Praxis entsprechenden „Standards der Vortrefflichkeit" erreicht werden. Notwendig für Praktiken ist der regelgebundene kooperative Charakter; als Beispiele führt Maclntyre Kunst, Architektur, Wissenschaft, Pflege des Familienlebens und Spiele an. 9 Mit Hilfe seines Praxisbegriffs entwickelt Maclntyre eine erste Charakterisierung von Tugenden: „Eine Tugend ist eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns im allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis inhärent sind, und deren Fehlen wirksam verhindert, solche Güter zu erreichen."10 Da Menschen über ungleiche Fähigkeiten verfügen und sich ihren Talenten entsprechend auch auf verschiedene Praktiken einlassen, ist aus dem Begriff der Praxis noch keine hinreichende inhaltliche Bestimmung der Tugenden zu gewinnen." Gleichwohl unterstellt Maclntyre, daß gewisse Tugenden - er nennt Gerechtigkeit, Tapferkeit und Wahrheitsliebe - notwendige Elemente jeder Praxis darstellen. Mit zwei weiteren Elementen, der narrativen Ordnung menschlichen Lebens und der Tradition, versucht Maclntyre, den durch das Konzept der Praxis nur unzureichend definierten Begriff der Tugend zusätzlich zu präzisieren. Um zu verhindern, daß Dispositionen im Rahmen schlechter Praktiken nach seiner Definition zu Tugenden werden, muß Maclntyre Praktiken in einen umfassenderen moralischen Zusammenhang stellen. Die Konzeption individueller Tugenden bleibe für sich genommen fragmentarisch und moralisch unterbestimmt. Erst der übergeordnete Begriff eines guten Lebens - die „übergreifende Vorstellung vom Telos eines ganzen, als Einheit begriffenen Menschenlebens" 12 - ermögliche eine kohärente und in sich geschlossene Situierung der Tugenden. Tugenden gewinnen nur im Kontext eines Lebens als eines Ganzen an Kontur und Bedeutung. Entsprechend erläutert Maclntyre den Begriff des Selbst über die Vorstellung der narrativen Einheit des Lebens, des Lebens als einer fortlaufenden Erzählung, die von der Geburt bis zum Tod reicht. Und im Rahmen dieser Geschichten, in die unser Leben eingebettet ist und die es darstellt, konstituiere sich der teleologische Charakter unseres Tuns. 8 9 10 11 12
Siehe ebda., S. 250f. Ebda., S. 252. Ebda., S. 255f. (Kursivsetzung im Original). Ebda., S. 269. Ebda., S. 270.
116
Maclntyres
Alternative
zur
Aufklärungsmoral
Die zentrale Frage der Moral - „Was soll ich tun?" - läßt sich für Maclntyre nur auf dem Hintergrund der narrativen Struktur eines Lebens lösen, nämlich als Antwort auf die Frage: „Als Teil welcher Geschichte oder welcher Geschichten sehe ich mich?" 13 Geschichten seien es, die unseren moralischen Begriffen Bedeutung verleihen, und über Geschichten lernten Kinder, welche Rollen Eltern und Kindern zukommen, welche Reaktionen angemessen oder unangemessen sind und welche Handlungen gut oder böse. Gleichzeitig bildet unser Leben selbst eine Geschichte, und die Einheit eines Lebens besteht in der „in einem einzigen Leben verkörperten Erzählung". 14 Die Geschlossenheit des menschlichen Lebens verlange, daß zwischen dem Individuum und seinen verschiedenen Rollen keine Zäsur gemacht werden darf; ansonsten zerfalle das Leben in eine Abfolge nicht zusammenhängender Einzelsituationen. Das Gute für den einzelnen Menschen zu bestimmen bedeute, sich auf dem Hintergrund der Einheitlichkeit eines Lebens auf eine Suche einzulassen, in der den Charakterhaltungen die Aufgabe zukommt, uns Klarheit darüber zu verschaffen, was wir anstreben: „Das gute Leben für den Menschen ist das Leben, das in der Suche nach dem guten Leben für den Menschen verbracht wird, und die für die Suche notwendigen Tugenden sind jene, die uns in die Lage versetzen, zu verstehen, worin darüber hinaus und worin sonst noch das gute Leben für den Menschen besteht." 15 Zur vollständigen Erklärung von Tugenden hält Maclntyre wie erwähnt ein drittes Element für unabdingbar - die Einbettung in eine moralische Tradition. Die Definition des guten bzw. tugendhaften Lebens bleibe rückgebunden an den sozialen Kontext, in dem sich das Individuum findet. Die „kommunitaristischen" Akzentuierungen von Maclntyres Moralkonzeption treten nun deutlich hervor: Das gute Leben für eine Person hängt wesentlich von ihrem Selbstverständnis ab, d. h. von den sozialen Rollen, die ihr zukommen. Die Suche der Individuen nach dem Guten muß bei den Moralvorstellungen jener Gemeinschaften ansetzen, aus denen sie ihre Identität beziehen. 16 Maclntyre wendet sich mit diesen Erläuterungen bewußt gegen zwei Prämissen der modernen Moralphilosophie: die Vorstellung, daß Individuen ihre sozialen Rollen und Bindungen, die ihre spezifische Identität ausmachen, frei wählen, und die Idee, daß wir uns aus einer allgemeinen, unparteilichen Vernunftperspektive für bestimmte Moralgrundsätze entscheiden. Da unsere Identität immer verwoben bleibe mit den besonderen Bindungen, die aus der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften erwachsen, belaufe sich das Bild eines aus seinen partikularen Situierungen gelösten „neutralen" Selbst auf eine „Illusion". 17 Individuen sind für Maclntyre durch ihre Lebensgeschichte mit Traditionen verbunden, die sie nicht einfach abstreifen können. Und auch die Frage des guten Lebens könne nicht abgehoben von dem durch die jeweiligen Traditionen definierten moralischen Kontext gelöst werden, denn „die Geschichte jedes unserer Leben ist im allgemeinen und charakteristischerweise in der umfassenderen und längeren Geschichte einer Reihe von Traditionen eingebettet und wird durch sie verständlich gemacht". 18 Tugenden spielten beim Erhalt und der Schwächung von Tradi13 14 15 16 17 18
Ebda., Ebda. Ebda., Ebda., Ebda. Ebda.,
S. 288. S. 293. S. 295. S. 297.
Sentimentale
Nostalgie
versus moralische
Kontroverse
117
tionen eine wesentliche Rolle, wobei Maclntyre die angemessene Einschätzung von Traditionen selbst als Tugend betrachtet. Die Rückbesinnung auf die Tradition der Tugendlehren und deren Aktivierung im Rahmen lokaler Formen von Gemeinschaftsleben scheint Maclntyre das probate Gegenmittel zu den moralischen Erosionen moderner Gesellschaften und dem „neue(n) finstere(n) Zeitalter", „das bereits über uns gekommen ist". 19 Im Gegensatz zu dem episodischen Bild moralischen Handelns, das eine regelorientierte Moral vermittle, gelinge einer Tugendethik die Verbindung zum Leben als Ganzem und die Einordnung einzelner Handlungen in den Gesamtkontext eines guten Lebens. Während Maclntyre in After Virtue noch weitgehend offen läßt, in welcher Form eine moderne Gesellschaft diesen Rückgriff auf die moralische Tradition der Antike umsetzen kann, läßt er in späteren Arbeiten klar seine Präferenz für eine christlichthomistische Umformung der antiken Tugendlehre erkennen. 2 0 Er differenziert zwischen vier Traditionen, die für die westliche Moralkultur maßgeblich geworden sind: 1) die antike Tugendlehre, 2) das christlich-thomistische Denken, 3) die schottische Aufklärung und 4) die Tradition des modernen Liberalismus. Maclntyre erachtet die thomistische Tradition als die attraktivste und reichhaltigste, wobei er aber die Begründung für die Überlegenheit dieser Sicht von Moral schuldig bleibt. 21 Die im letzten Satz von Der Verlust der Tugend artikulierte Hoffnung auf „einen anderen, zweifelsohne völlig anderen heiligen Benedikt" wird in seinem 1988 erschienenen Buch Whose Justice? Which Rationality? auf eine erstaunliche Art eingelöst: "The 'new St. Benedict' is none other than St. Thomas Aquinas." 2 2
7.1
Sentimentale Nostalgie versus moralische Kontroverse
Manche Bücher entwickeln eine seltsame Faszination. Mit verblüffender Selbstverständlichkeit brechen sie eingeschliffene Denk-Schemata und disziplinare Abgrenzungen auf und bringen eine längst schwelende Unzufriedenheit gleichsam auf den Punkt. Sie eröffnen neue theoretische Perspektiven und Möglichkeiten, die Fortschritt versprechen. Bei intensiverer Lektüre werden aber die Befremdlichkeiten und Brüchigkeiten unübersehbar, und die anfängliche Attraktivität der Thesen verliert sich schlußendlich in der Erkenntnis, auf zunächst verlockenden Wegen in einer intellektuellen Landschaft zu enden, die alles andere als überzeugt. 19 Ebda., S. 350. 20 Siehe Maclntyre (1988) und (1990). In Three Rival Versions of Moral Enquiry unterscheidet Maclntyre zwischen unterschiedlichen moralischen Betrachtungsweisen, die sich jeweils am Begriff der Enzyklopädie, dem der Genealogie und jenem der Tradition orientieren. Die enzyklopädische Sicht der Moral deckt sich in etwa mit der Form der Moralphilosophie, die moralische Grundsätze in einer bestimmten Sicht der Vernunft zu verankern sucht. Die genealogische Betrachtung ist jene Nietzsches, während die auf den Begriff der Tradition konzentrierte Moralbetrachtung laut Maclntyre von Aristoteles über Augustinus bis zu Thomas von Aquin reicht und in letzterem die höchste Vollendung erfährt. Siehe Maclntyre (1990), bes. Kap. II, IV, V, VI und VIII. 21 Wie Martha C. Nussbaum in einer Besprechung von Whose Justice? Which Rationality? kritisch bemerkt, stellt sich Maclntyre die Frage einer Begründung der Vorzugswürdigkeit der thomistischen Tradition gar nicht, er setzt sie schlicht voraus. Siehe Nussbaum (1989), S. 40. 22 So Nussbaums ironische Formulierung in ebda., S. 36.
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Macintyres Alternative zur Aufklärungsmoral
Eine ähnliche Mischung von spontaner Zustimmung und nachfolgender Ablehnung kennzeichnet die Rezeption von After Virtue. In einem durchaus beeindruckenden Spiel des Kreativen mit dem Argumentativen unterzieht Maclntyre die Voraussetzungen und Grundlagen der analytischen Moralphilosophie einer entschiedenen Kritik und verläßt methodisch doch nie den Boden des analytisch geschulten Denkers. Sein Vertiefen in die Geschichte der Moralphilosophie und seine kenntnisreichen Ausführungen zur Entwicklung moralischer Vorstellungen im Kontext allgemeinerer historischer Veränderungen kontrastiert in wohltuendbereichernder Weise mit dem großteils ahistorischen Zuschnitt analytischer Erörterungen. Maclntyres Ausführungen konnten nicht anders als zunächst die Sympathie jener gewinnen, die mit Skepsis die Verarmung und inhaltliche Ausdünnung der modernen Moralphilosophie verfolgten. Die philosophische Ethik schien vielen in dem Dilemma einer nur zu berechtigten metaphysikkritischen Haltung mit der folgerichtigen Beschränkung auf formal-prozedurale Regeln und einer gravierenden Schwäche in der Anwendungsmöglichkeit dieses Instrumentariums auf brisante Konfliktsituationen von gesellschaftlicher Bedeutsamkeit gefangen. In dieser Situation versprach Maclntyres historisierende Aktualisierung der Tugendlehre eine Möglichkeit, die substantielle Kraft und Reichweite der Moraltheorie wiederherzustellen. Der Verlust der Tugend war das Buch jener, die den zunehmend starren und scholastischen Charakter einer sich in metaethischem Detailgeplänkel verlierenden Variante analytischer Ethik beklagten und die sich, ermüdet von ausgetretenen Argumentationsbahnen und längst ausgeschöpft wirkenden Disputen, nach einem Neuansatz normativer Theoriebildung sehnten. Selbst Philosophinnen, die auf der Suche nach einer Moraltheorie waren, in denen die Interessen und Bedürfnisse von Frauen stärkere Berücksichtigung finden, erblickten in Maclntyres Position einen Anknüpfungspunkt. 23 Doch die auf den ersten Blick gegebene Plausibilität hält wie erwähnt einem genaueren Textstudium nicht stand. So irritiert nicht nur Maclntyres Einschätzung der zeitgenössischen moralischen Bewußtseinslage, die ihn als wahre Kassandra der moralischen Apokalypse entlarvt; auch in systematischer Hinsicht erweist sich der Frontalangriff auf die Aufklärungsmoral und ihre Nachfolgemodelle als wenig stichhaltig und hoffnungslos überzeichnet, denn Maclntyres Alternativvorschlag bedarf sehr wohl der Ergänzung durch Elemente einer liberalen Moralkonzeption. Maclntyre entwirft eine dezidiert konservative Tugendethik. Seine Rückbindung eines angemessenen Verständnisses von gutem und verdienstlichem Handeln an Traditionen und konventionelle Rolleninterpretationen provozierte selbst die heftige Kritik von Philosophinnen und Philosophen, die im Prinzip einen aristotelischen gegenüber einem kantischen EthikZugang bevorzugen. Phasenweise reduziert sich Maclntyres Mißbilligung der zeitgenössischen Moralkultur - auf soziologischer wie philosophischer Ebene - auf einen simplen anti-modernistischen Reflex. So erklärt er den untrennbar mit einer demokratisch-liberalen Gesellschaftsform verbundenen Begriff der „Rechte", einschließlich der „Menschenrechte", rundweg zu einer Fiktion, 23 Paradigmatisch dafür ist Annette C. Baier, die Maclntyre in einem ihrer Aufsätze in ihre Liste der „honorary women" aufnimmt (Baier 1985b, S. 2); eine Einschätzung, von der sie sich im Postscript des Wiederabdrucks dieses Aufsatzes in der 1994 erschienenen Essay Sammlung Moral Prejudices
distanziert: "It was Maclntyre's anti-Kan-
tian writings that made me regard him as an ally, and also his nostalgia for a virtues-centered variant of ethics. But I agree with Okin that his increasingly explicit defense of a patriarchal religious tradition does make the honour that I did him look undeserved." Ebda., S. 17.
Sentimentale
Nostalgie
versus moralische
Kontroverse
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bleibt aber eine triftige Begründung für diese Behauptung schuldig. Sein Argument, daß eine Verteidigung von Rechten einer Verteidigung der Existenz von Einhörnern und Hexen ähnelt 24 , kann eigentlich nur dahingehend verstanden werden, daß deren mangelnde ontologische Nachweisbarkeit das entscheidende Defizit von Rechten bildet. Die Kritik, daß „alle Versuche, stichhaltige Gründe für die Überzeugung zu liefern, daß es solche Rechte gibt", gescheitert seien 25 , unterstellt eine Lesart von Rechten als quasi-empirischen Entitäten, womit sich alle Begründungsversuche von Rechten leicht als nicht ausreichend ablehnen lassen. Ernsthaft kann Maclntyre dies kaum meinen, denn eine solche Kritik würde gleichermaßen alle anderen moralischen Begriffe und Kategorien - Werte, Prinzipien und Normen - treffen und der Sprache der Moral einen metaphysischen Realismus unterschieben, der schwerlich seine Anhängerinnen finden wird. Ähnlich scharfsinnig wäre es, Maclntyre vorzuwerfen, von Tugenden zu sprechen, da es solche Entitäten nicht gibt. Maclntyre spitzt die zeitgenössische Moraltheorie auf ein Dilemma zu, das er selbst produziert. Er setzt ein mit einem Klagelied über das für eine liberale Gesellschaft seiner Meinung nach charakteristische relativistische Moralverständnis und attackiert in der Folge das philosophische Pendant dieser Haltung: den Emotivismus, demgemäß sich der semantische Gehalt moralischer Urteile auf Gefühlsäußerungen und Billigungskundgebungen reduziere. Die aristotelische Tugendmoral präsentiert er anschließend als den Ausweg aus den faktischen wie theoretischen moralischen Defiziten der Gegenwart. Aber die Alternative „aristotelische Tugendlehre oder emotivistischer Relativismus" stellt sich in der Form nicht. Der Emotivismus als Spielart einer metaethischen Position ist kennzeichnend für eine bestimmte, inzwischen reichlich überholte Phase analytischer Moralphilosophie, die durch überzogene Anforderungen an das, was sinnvolle Aussagen auszeichnet, den kognitiven Bedeutungsgehalt moralischer Urteile unterspielte. 26 Für die gegenwärtig die philosophische Debatte dominierenden ethischen Theorien, egal ob deontologischen oder konsequentialistischen Zuschnitts, stellt der Emotivismus gerade nicht die metaethische Untermauerung dar. Diese Ansätze gehen davon aus, daß moralische Urteile nicht nur Ausdruck subjektiver Meinungen sind, sondern einen Gültigkeitsanspruch stellen und die moralische Reflexion eben mit der Frage einsetzt, für welche konkreten Urteile dieser Anspruch einlösbar ist. Maclntyre selbst ist es, der den Emotivismus zu der Theorie der Gegenwart aufbaut, indem er einerseits das Ausmaß der faktisch existierenden moralischen Meinungsverschiedenheiten übertreibt und zum anderen, was die systematische Ebene betrifft, mit einer Pauschalkritik der Aufklärungsmoral und ihrer Nachfolgemodelle alle normativ-ethischen Ressourcen einer auf allgemeine Verbindlichkeit abzielenden modernistischen Moralkonzeption kappt. Insofern entbehrt es nicht der Ironie, wenn er dann zum wortreichen Lamento über jenen theoretischen Zustand anhebt, der sich nur als die logische Konsequenz seines Rundumschlags einstellt. Der Argumentationsaufbau von Der Verlust der Tugend stimmt insgesamt schon skep24 Siehe Maclntyre (1987), S. 98f. 25 Ebda., S. 98 (Kursivsetzung im Original). 26 Der Emotivismus, der moralische Urteile auf eine Stufe mit Gefühlsäußerungen und Ausrufen stellt, ist eine Folge des programmatischen Versuchs des Logischen Empirismus, empirisch sinnvolle von metaphysisch sinnlosen Aussagen mit Hilfe eines empiristischen Sinnkriteriums abzugrenzen. Die Nachfolgemodelle halten zwar an einem Unterschied von faktischen Aussagen und moralischen Urteilen fest, aber diese Differenz ändert nichts an der argumentativen Struktur und Begründbarkeit von Moral.
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Maclntyres
Alternative
zur
Aufklärungsmoral
tisch, da ständig die zwei Bereiche von moralsoziologischer Phänomenologie und moraltheoretischer Systematik durcheinander geraten und auf philosophischer Ebene die normativethische und die metaethische Dimension nicht immer strikt auseinander gehalten werden. Maclntyre beginnt auf kultursoziologischer Stufe mit der erwähnten pessimistischen Beurteilung des Moralbewußtseins liberaler Gesellschaften; von da ausgehend konstatiert er das Scheitern der Aufklärungsmoral 27 , um dann von einer Rückblende auf eine angebliche moralische Geschlossenheit antiker Gesellschaften, wobei er streng genommen noch hinter die athenische Gesellschaft zurückgreifen muß, auf die normativ-ethische Überlegenheit der aristotelischen Position zu schließen. Mit seinem immer wieder zu beobachtenden Vermischen von soziologischer und philosophischer Ebene verfällt Maclntyre phasenweise in eine argumentativ unsaubere Gangart, denn die moralische Reflexionsstufe einer Gesellschaft kann, wenn überhaupt, wegen des komplizierten Vermittlungszusammenhangs nur einen äußerst beschränkten Indikator für die Leistungsfähigkeit und Stichhaltigkeit einer philosophischen Theorie abgeben. Unabhängig von dieser grundlegenden Schwierigkeit bricht Maclntyres Argumentationslinie an mehreren Stellen noch aus anderen Gründen zusammen. Sein Hauptargument für die moralische Überlegenheit traditioneller Gesellschaften und ihre Fähigkeit, ethische Problemstellungen einer Lösung zuzuführen, besteht darin, daß diese über eine klar umrissene Konzeption des Guten verfügten. Da Individuen in feste Sozialstrukturen hineingeboren wurden, die ihre sozialen Identitäten fixierten und genau bestimmten, was das für sie Gute und was zu tun richtig ist, habe sich ein höheres Maß an moralischer Einheitlichkeit und weniger Raum für Unsicherheit, Zweifel und Infragestellung ergeben. Nun entspricht diese Vorstellung weder dem tatsächlichen Moralverständnis der antiken Gesellschaften noch der aristotelischen Position 28 , sondern Maclntyres von einem eminent konservativen Denken bestimmten moralischen Wunschvorstellungen. Die Idee, daß Menschen das, was für sie gut und richtig ist, aus ihren sozialen Rollen und ihrem festen Platz in einer „kosmischen Ordnung" ablesen, entstammt dem Ideenreservoir einer traditionalistischen Moralauffassung, die nur so weit reicht, wie Individuen die Wertvorgaben ihrer Gesellschaften unhinterfragt anerkennen. Aber eine philosophische Moraltheorie, welche den Abstand zum Konventionellen nicht einfach einebnen will, kann sich mit einer so simplen Lösung moralischer Grundfragen nicht zufriedengeben. Alle Moraltheorien suchen nach Antworten, wie Wertekonflikten zu begegnen ist - doch müssen die Antworten, will Moral nicht ihrer kritischen Funktion verlustig gehen, wohl subtiler ausfallen. Maclntyre überzeichnet nicht nur das Maß moralischer Meinungsdifferenzen in der Gegenwart, sondern entwirft auch ein verfälschendes Bild moralischer Einhelligkeit in früheren Gesellschaften. Die Gegenüberstellung von einer wertekonformen, von einem geschlossenen Moralverständnis getragenen antiken Gesellschaft mit einer in unausräumbare moralische Kontroversen und divergierende Wertvorstellungen verstrickten modernen Welt liegt schief. Denn die athenische Gesellschaft und die antike Welt insgesamt sind, wie Maclntyre selbst einräumt, keineswegs frei von Kollisionen zwischen unterschiedlichen moralischen Idealen 27 Im wesentlichen stützt er seine These vom Versagen der Aufklärungsmoral mit metaethischen Argumenten: Sämtliche Begründungsversuche krankten an chronischer Erfolglosigkeit. Gleichzeitig spricht er der Aufklärungsmoral auch in normativ-ethischer Hinsicht jeden Gehalt ab. Siehe Maclntyre (1987), Kap. 4. 28 Vgl. Nussbaum (1989), S. 41. Zum Problem moralischer Konflikte in der griechischen Literatur und Philosophie vgl. auch Nussbaum (1986).
Sentimentale Nostalgie versus moralische Kontroverse
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und Konzeptionen des Guten sowie tiefgehenden Konflikten zwischen Tugenden; eine allgemeingültige hierarchische und fest umrissene Ordnung der Tugenden ist nicht erkennbar. 29 Die Kapitel 10, 11 und 13 von After Virtue bieten eine anschauliche und detaillierte Schilderung, welchem Wandel sich die Tugendvorstellungen in den unterschiedlichen Epochen von der homerischen Zeit bis zum Mittelalter ausgesetzt sahen und welch plurales Bild unterschiedlicher Tugendkataloge sich rückblickend ergibt. Dies alles aber hält Maclntyre nicht davon ab, wie Ernst Tugendhat kritisch vermerkt, „die moderne Moral und die traditionelle nach zweierlei M a ß " zu messen. 3 0 Maclntyre zufolge hat gerade Aristoteles seine Ethik und die Doktrin der Einheitlichkeit der Tugenden in bewußter Reaktion auf die Wertekonflikte seiner Gesellschaft und Zeit entworfen, die er als das Resultat einer mangelhaften Umsetzung von Tugenden, von Charakterschwächen und von „unklugen politischen Maßnahmen" begreift. 31 Mit der gleichen Berechtigung lassen sich aber die Kontroversen der Moderne auf eine unbefriedigende Umsetzung von Prinzipien und Regeln und nicht auf eine insgesamt unzulängliche Form moralischer Theoriebildung zurückführen. Auf dieser Ebene ist der Streit zwischen konkurrierenden Ansätzen der Moral nicht zu entscheiden. Bei seiner Konfrontation von antiker Tugendlehre und modernem liberalem Individualismus übersieht Maclntyre auch das Faktum geteilter Überzeugungen in einer liberalen Kultur. Da er die Moderne schlicht mit einer Auflösung von Bindungen und gemeinsamen Werten gleichsetzt, entgeht ihm, daß der Liberalismus selbst eine Tradition mit einem spezifischen Selbstverständnis darstellt und daß Individuen, deren individuelle Lebensgeschichte sich im Rahmen dieser Tradition konkretisiert, bestimmte Wertvorstellungen und moralische Ideale wie auch eine Minimalkonzeption des guten Lebens teilen. Gleichheit und Freiheit der Individuen, das Recht auf Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse sowie prinzipielle Chancengleichheit in der Realisierung und Verfolgung ihrer Lebenspläne sind die wesentlichen Elemente dieser Denkströmung, die, wie ein Kritiker bemerkt, für Maclntyre schlicht ein „geschlossenes Buch" bleibt. 32 Der moderne Liberalismus mit seiner Konzeption von Rechten ist das Ergebnis einer langen Entwicklung. Die Frage, in welcher Form Individuen welche Rechte zukommen sollen, verweist auf ein grundsätzliches kulturelles Einverständnis und stellt auch die Verbindung zum Guten her; man entscheidet sich für die Verteilung von Rechten aus einer Konzeption des Guten heraus. 3 3 Maclntyres Argument, daß die Bestimmung des guten Lebens nicht unabhängig von den durch Traditionen konstituierten Werten erfolgen kann, trifft den Liberalismus nicht, denn diese Bedingung wird sehr wohl von einer liberalen Position erfüllt. Auch der Liberalismus ist eine Tradition, wenn auch eine, in der Individuen ihre sozialen Rollen und ihre Konzeption des guten Lebens aus kritischer Distanz wählen können und nicht einfach auf die Normen ihrer Gesellschaften festgeschrieben sind. In seinem späteren Buch Whose Justice? Which Rationality? läßt Maclntyre die Entscheidung für eine Tradition zu. Er differenziert wie erwähnt zwischen vier Traditionen - antike Tugendlehre, christlich-thomistische Ethik, schottische Aufklärung und zeitgenössischer Libe29 Siehe Maclntyre (1987), S. 190ff. und S. 211. 30 Tugendhat (1993), S. 212. 31 Maclntyre (1987), S. 211; vgl. auch S. 190. 32 Siehe Doppelt (1985), S. 216. 33 Vgl. dazu Flathman (1984), S. 22.
122 ralismus - und macht keinen Hehl aus seiner Präferenz für die thomistische Tradition als Synthese zwischen aristotelischem und augustinisch-christlichem Denken. Endgültig außerhalb aller Traditionen zu gelangen, hält er für unmöglich: "To be outside all traditions is to be a stranger to enquiry; it is to be in a State of intellectual and moral destitution." 34 Aber damit weist er nur einmal mehr auf die letztlich triviale Tatsache hin, daß wir in soziale Kontexte eingebettet sind. Die wesentlich wichtigere und entscheidendere Frage ist, wie Maclntyre die Vorzugswürdigkeit einer bestimmten Tradition begründet und welche Kriterien er anführt, um die Wahl zwischen verschiedenen Traditionen rational zu rechtfertigen. Interessanterweise begnügt er sich in dem Zusammenhang mit der erstaunlich „modernen", gleichsam subjektivistischen Antwort, "that will depend upon who you are and how you understand yourself". 35 Individuen entscheiden sich für jene Traditionen, als Teil deren Debatten und Konflikte sie sich sehen und auf deren Basis ihr Leben und dessen Geschichte verständlich werden. 36 Aber damit ist klar, daß sich von einem modernistischen Bewußtsein geprägte Individuen, insbesondere emanzipierte Frauen, kaum für die von Maclntyre favorisierte Tradition entscheiden werden. 37 Trotz aller Ambivalenzen bietet der liberale Standpunkt für aufgeklärt denkende Frauen den interpretativen Rahmen ihrer Lebensbemühungen und den Hintergrund ihres Selbstverständnisses, da die Ideen von Autonomie und individuellen Rechten, von Chancengleichheit und Gerechtigkeit, von Grundfreiheiten und der freien Wahl von Lebensplänen diese Tradition ausmachen. Nicht zuletzt zeigt sich am Beispiel obiger Argumentation eine Inkonsequenz, die für Maclntyres Ausbuchstabierung seiner moral theoretischen Position insgesamt charakteristisch ist: ein Schwanken zwischen konservativer Sehnsucht und modernistischem Bewußtsein, eine Zwiespältigkeit, die Ernst Tugendhat dahingehend auf den Punkt bringt, „daß Maclntyre in Wirklichkeit von einem spezifisch modernen moralischen Potential Gebrauch macht, das er nachher, im Rückgang auf die aristotelische Tradition, nicht mehr einholen können wird". 38 Maclntyres Kritik der Aufklärungsmoral und ihrer modernen liberalen Varianten ist verknüpft mit seiner Konzeption eines sozialen Selbst und dem Vorwurf, daß diese Ansätze das moralische Subjekt als autonom und bindungslos betrachten. Das aus dem kontextuellen Umfeld gelöste Ich autonomer Entscheidungsfindung beläuft sich nach Maclntyre auf eine Schimäre: Jedes Ich ist ein soziales Selbst und als solches Teil einer Geschichte, und das Problem moralischen Handelns kann sich nur im Zusammenhang identitätsstiftender Zugehörigkeiten stellen und von daher beantwortbar werden. Moralische Entscheidungen und Lösungen ergeben sich so gesehen durch die Geschichten, die ich über mich erzähle und die ich zur Basis meiner eigenen Geschichte mache. 39 Diese Rückholung der Moral von der Ebene abstrakter Vernunftkonstruktion auf jene der sozialen Welt ist eine Gemeinsamkeit „kommunitaristischer" Moralphilosophen. So betont auch Michael Walzer, daß moralische Reflexion nur mit den Grundsätzen beginnen kann, „die dem Bestehenden bereits innewoh34 Maclntyre (1988), S. 367. 35 Ebda., S. 393. 36 Ebda., S. 394. 37 Vgl. dazu auch Okin (1989), S. 43-62. 38 Tugendhat (1993), S. 213. 39 Siehe Maclntyre (1987), S. 288.
123 nen". 40 Abgesehen davon, daß Walzers hermeneutische Moralrekonstruktion im Grundansatz weniger von Kants Vorgehen abweicht, als die scharfe Kritik der Kommunitaristen am Kantischen Konstruktivismus nahelegt, verzichtet Walzers Weg der Interpretation natürlich nicht auf die kritische Durchleuchtung der lebensweltlich vorgebenen Wertestandards. Maclntyres Ansatz läßt aber zu wenig Raum für diese Ebene kritischer Evaluierung. Manche Moralphilosophen scheinen in der Tat auf die Binsenwahrheit zu vergessen, daß Moral nicht einfach etwas ist, das uns durch intellektuelle Reflexion im Erwachsenenalter bewußt wird, sondern daß sich unsere Moralvorstellungen nur über die Sozialisation in Gemeinschaften, primär der Familie, entwickeln. Mit seinem Hinweis auf die identitätskonstitutive Funktion von Geschichten spricht Maclntyre also eine wesentliche Dimension von Moral an, die durch den Raster einer regelfixierten Moralkonzeption fallt: Unser moralisches Urteil und moralisches Empfinden schult sich an den Lebensgeschichten realer und fiktiver Protagonisten; die Erzählungen vom Tun und Lassen anderer, von ihren Tugenden und Schwächen sensibilisieren uns für Fragen des moralischen Charakters und der Integrität von Individuen und führen exemplarisch das weite und vielschichtige Spektrum von „gut" und „schlecht" vor. Geschichten verdeutlichen auch die Feinstruktur von Moralität - die subtilen Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen, welche nach einer für die Besonderheiten von Situationen offenen moralischen Wahrnehmung und detailsensitiven Beurteilung verlangen. 41 Wenn auch Geschichten eine maßgebliche Rolle beim Erwerb moralischer Vorstellungen spielen, so muß doch Raum für die Hinterfragung dieses Vermittlungsmediums bleiben. 42 Maclntyre, und dies gilt auch für die anderen kommunitaristischen Philosophen, hat zweifellos recht damit, daß Moral als kulturelles Phänomen nicht so funktioniert, daß man sich von einem aus allen Lebensbezügen gelösten Standpunkt radikaler Unparteilichkeit für abstrakte Grundsätze entscheidet. Allerdings erledigt sich mit dem Bewußtsein der lebensweltlichen Situierung der Moral keineswegs die Frage, welche Standards von Moral wir für normativ verbindlich erachten sollen. Die Einsicht, daß Bedürfnisse, Interessen, Werte, moralische Rechte und Vorstellungen des Guten immer an einen gemeinschaftlichen Kontext rückgebunden bleiben, beantwortet nicht die Frage, wie weit unsere Moralvorstellungen kommunitaristisch sein sollten in dem Sinn, daß sie sich mit den Wertvorstellungen bestimmter Gemeinschaften decken. Maclntyres konventionelle Lesart einer gemeinschaftsbezogenen Moralkonzeption verschließt die Tore vor dieser Ebene. So gesehen fällt seine Kritik am unparteilichen Standpunkt und am Subjektbegriff liberaler Theorien reichlich unscharf aus, da sie sich auf nicht mehr beruft, als daß Menschen soziale Wesen sind. Daß durch diese Banalität weder die Idee der Unparteilichkeit, verstanden als der Versuch einer möglichst ausgewogenen Beurteilung von Konfliktsituationen, noch die Überzeugung, daß Individuen ohne Identitätsverlust in einer Beziehung kritischer Distanz zu den ihnen gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen stehen können, fraglich werden, scheint evident. 40 Walzer (1990b), S. 31. 41 Vgl. dazu Nussbaum (1990b) und (1990c). 42 Dieser Punkt wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, welche Geschichten Maclntyre als beispielgebende moralische Sozialisationsmodelle anführt - nämlich Geschichten „über schlechte Stiefmütter, verlorengegangene Kinder, gute, aber fehlgeleitete Könige, Wölfe, die Zwillinge säugen . . ." Maclntyre (1987), S. 288f. Kritisch dazu Rössler( 1992a), S. 91, FN 8.
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7.2
Maclntyres Alternative zur Aufklärungsmoral
Regelmoral und Tugendmoral
Mit seinem Rückgriff auf die aristotelische Ethik fügt sich Maclntyre in die seit geraumer Zeit zu beobachtende Renaissance der Tugendmoral. 4 3 Sein Plädoyer für die aristotelische Tugendlehre beruht zu einem wesentlichen Teil auf einem Vergleich der antiken mit der modernen Gesellschaft. Nur die Rückkehr zu aristotelischen Ideen setze der Endlosigkeit modemer Moraldebatten ein Ende. Wenn aber - und Maclntyre bestreitet dies nicht - antike Gesellschaften im Prinzip über keine größere Einheitlichkeit der Wertvorstellungen verfügen und gleichfalls von tiefgreifenden Widersprüchen geprägt sind, so fällt diese auf einem moralischen Kulturvergleich basierende Rechtfertigung zusammen. Maclntyre müßte gesonderte, von der kulturdiagnostischen Ebene gelöste philosophische Argumente vorlegen, warum die aristotelische Moral einer modernen Variante der Aufklärungsmoral vorzuziehen ist. Nun bleibt Maclntyres eigene, an Aristoteles angelehnte Ethik-Konzeption relativ vage. Sein entscheidender Vorwurf gegen die modernen Moraltheorien richtet sich gegen deren vorgebliche Unterbestimmtheit, nämlich nicht verläßlich allgemeine Prinzipien als Kriterien auszuzeichnen, die in strittigen Fällen eine Lösung ermöglichen. Aber die drei Stufen, mittels derer Maclntyre seine Tugendlehre entwickelt - Praxis, narrative Ordnung und Tradition vermitteln um keinen Deut definitivere Antworten als moderne Moraltheorien. Es ist schwer zu sehen, wie sich aus der von Maclntyre entwickelten Konzeption eine Klärung jener Moralprobleme gewinnen läßt, die er zu Beginn von After Virtue als paradigmatisch für den unbefriedigenden geistigen Stand zeitgenössischer Moraldebatten aufgeführt hatte. Die Schwierigkeit von Maclntyres Ansatz besteht grundsätzlich schon darin, daß aus ihm recht besehen keine schlüssige Bestimmung dessen folgt, was eine moralische Tugend ausmacht. In deontologischen Moraltheorien werden Tugenden in Relation zu moralischen Regeln oder moralischen Rechten definiert. Tugenden sind demnach Dispositionen, tiefsitzende Charakterhaltungen, die Personen dazu bringen, moralische Regeln zu befolgen, oder, bezogen auf den Begriff moralischer Rechte: Tugenden bewegen Menschen zu Handlungen, die nicht die grundlegenden Rechte anderer verletzen. Aber wenn Tugenden von moralischen Regeln und Rechten abgelöst werden, wie dies bei Maclntyre geschieht, dann entsteht nach Meinung der Deontologen das Problem, wie die Moralität einer Tugend bestimmt werden soll: "When the criterion for a quality's being a virtue does not include the requirement that the virtue reflect or conform to moral rules, there is no assurance that the alleged virtue will be morally right or valid." 4 4 Wenn auch diese Kritik auf einem reduzierten und letztlich nicht angemessenen Tugendverständnis basiert, so weist sie doch auf eine Schwachstelle von Maclntyres Konzeption hin: Maclntyre bleibt letztlich die Erklärung dessen, was eine Einstellung oder Handlungsdisposition zu einer moralischen Tugend macht, schuldig. Seine dreistufige Definition des Tugendbegriffs bietet keine Lösung, denn keine der drei von ihm angeführten Komponenten Praxis, narrative Ordnung und Tradition - leistet die Grenzziehung zwischen moralischem und unmoralischem Handeln. Der Begriff der Praxis schafft diese Abgrenzung nicht, da Praktiken auch schlecht sein können. 4 5 Das Kriterium der narrativen Ordnung eines Lebens 43 Erwähnt seien nur Foot (1978b); Williams (1984a) und (1985); Slote (1983) und (1992). 44 Gewirth (1984), S. 39. 45 Wie Gewirth bemerkt, würden sich die Aktivitäten einer politischen Gruppierung wie etwa des Ku-Klux-Clans
Regelmoral
und
Tugendmoral
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führt ebenfalls nicht weiter, weil jedes mögliche Leben - ob gut oder schlecht - eine Erzählung darstellt, und auch Uber den Begriff der Tradition ist die Abgrenzung von moralischem und unmoralischem Tun nicht zu gewinnen, da es eine Reihe von Traditionen gibt, die sich moralisch gründlichst diskreditiert haben. Man könnte nun einwerfen, und Maclntyre würde wohl so replizieren, daß die vorgelegte Definition der Tugenden in ihrer Gesamtheit gesehen werden muß. Aber die Bündelung von Praxis, narrativer Struktur und Einbettung in die Tradition leistet nicht mehr. Denn unklar bleibt, wie jedes dieser Elemente die Unterbestimmtheit des anderen kompensieren soll. So schließt die Festlegung des Guten über das mit der Suche nach dem Guten verbrachte Leben nicht schlechte Praktiken aus, und der Begriff der Tradition kann weder den in moralischer Hinsicht offenen Charakter der narrativen Struktur ausgleichen noch die ethische Qualifizierung von Praktiken ermöglichen. Was Maclntyres Tugendlehre fehlt und wodurch die Schwierigkeit der Unterbestimmtheit entsteht, ist ein übergeordneter moralischer Gesichtspunkt, der als Qualifikationsinstanz aber nicht nur über den Tugenden, sondern gleichermaßen über moralischen Regeln und Rechten steht. Aus dieser Sicht verliert dann auch das Argument deontologischer Moralphilosophen an Kraft, die den moralischen Status von Tugenden nur über deren Anbindung an moralische Regeln zu bestimmen für möglich halten, und der Weg zu einem Verständnis der Tugenden als eigenständiger moralischer Kategorie ist frei. 46 Maclntyre hält eine teleologische Neuorientierung für unabdingbar, um aus den moralischen Desorientierungen der Moderne einen Ausweg zu finden. Gleichzeitig distanziert er sich von der Vorstellung der aristotelischen „metaphysischen Biologie", daß sich die fraglichen Ziele aus der menschlichen Natur herleiten. 47 Dies bedeutet aber, daß Maclntyre das „Telos des Menschen" nur noch in der vagen und völlig offenen Form konservieren kann, daß das Gute für den Menschen eben in dessen „Suche nach dem Guten" besteht. Maclntyres Kritik an der modernen Moralphilosophie verliert mit dieser Bestimmung des Guten weiter an Boden, da sich seine Definition auf erstaunliche Weise einer liberalen Position annähert, die das Gute gleichfalls in den Bereich der individuellen Verfolgung des guten Leben delegiert und sich vor einer substantiellen Festlegung scheut. 48 Mit seiner subjektivistischen Lesart des Guten macht Maclntyre mehr Zugeständnisse an einen modernen Liberalismus, als mit seiner harschen Kritik an der modernen Kultur vereinbar ist. Folgerichtig versucht er eine „kommunitaristisch-kontextuelle" Eingrenzung des Guten über die Traditionen, in die wir eingebettet sind. So bestimmt er, daß das Gute für uns nach Maclntyres Definition ebenfalls als Praxis qualifizieren. Siehe Gewirth (1984) S. 40. Maclntyre ist in diesem Punkt schlicht ambivalent. So räumt er ein, daß es möglicherweise schlechte Praktiken gibt, die seine Bedingungen erfüllen, aber dies untergrabe nicht den Punkt, daß der Begriff der Praxis bei der Definition der Tugenden wesentlich ist. Siehe Maclntyre (1987), S. 267f. 46 Vgl. dazu Kap. 13.2 dieser Arbeit. 47 Siehe Maclntyre (1987), S. 263. 48 Vgl. Doppelt (1985), S. 209 und S. 231f. Wie wir noch sehen werden, ist hier eine differenziertere Einschätzung des Liberalismus notwendig, da der Liberalismus streng genommen nicht ohne substantielle Annahmen Uber das Gute auskommt. Vgl. dazu Kap. 8.3 dieser Arbeit. Auch Gewirth kritisiert Maclntyres obige Festlegung des Guten entschieden: Da Maclntyre jegliche inhaltliche Bestimmung des Guten schuldig bleibe, setze sich seine Konzeption um nichts weniger dem Vorwurf des „Formalismus" aus als etwa die Kantische Ethik. Siehe Gewirth (1984), S. 43.
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Maclntyres Alternative
zur
Aufklärungsmoral
rückgebunden bleibt an die sozialen Rollen - Tochter, Sohn, Bürgerin - , die wir innehaben. 49 Aber genau hier werden Maclntyres Ausführungen vollends absurd: Denn die Suche nach dem guten Leben bedeutet für viele Individuen ein Transzendieren der konservativen Rollendefinitionen und festgeschriebenen normativen Überzeugungen traditioneller Gemeinschaftsbezüge. Für moderne Gesellschaften ist eine weitgehend freie Interpretation von sozialen Rollenbildern kennzeichnend; den verschiedenen Rollen korrespondiert meist nicht nur ein einziges Gut, was ein simples Ablesen des Guten aus den unterschiedlichen Rollenfunktionen verunmöglicht, wie etwa Amy Gutmann betont: „Was folgt aus ,was gut für mich ist, muß das Gute für eine Person sein, die als Frau in einer katholischen, italienischen Arbeiterfamilie der ersten Generation in Amerika geboren wurde'?" 5 0 Eine Antwort auf die Frage nach dem Guten fällt, so Gutmann, um nichts leichter, wenn wir Wer bin ich? statt Welche Zwecke soll ich wählen? fragen. 51 Maclntyre verfängt sich in folgendem Dilemma: Einerseits zwingt ihn sein Unternehmen einer metaphysikfreien Rettung des „Telos" zu einer spezifisch modernistischen Interpretation des Guten in Form der Projektion der Zielgerichtetheit auf die erzählerische Gesamtstruktur eines Lebens. Andererseits liefert er mit dem Versuch, die so gegebene Unterbestimmtheit des Guten über die im Rahmen von Traditionen festgelegten Rollenfunktionen auszugleichen, das moralisch Gute an die faktischen Wertvorstellungen bestimmter sozialer Gemeinschaften aus. Nach Meinung von Ernst Tugendhat resultieren die wesentlichen Schwierigkeiten von Maclntyres Ansatz daraus, daß er einem doppelten Irrtum aufsitze. Zum einen, so Tugendhat, gehe Maclntyre in der Annahme fehl, daß Aristoteles überhaupt eine aus biologistischen Annahmen gespeiste Teleologie vertreten hätte. 52 Zum anderen mißverstehe Maclntyre den Begriff des moralisch Guten, indem er eine spezifisch funktionalistische Konzeption des Guten entwickle. Maclntyre erläutert, wie wir gesehen haben, den Begriff der Tugenden mit Hilfe des Begriffs der Praktiken: Tugenden befähigen uns, bestimmte Tätigkeiten vorzüglich auszuführen und ermöglichen uns ein Erreichen der diesen Aktivitäten inhärenten Güter. Da Maclntyre, wie Tugendhat ausführt, die „gegenwärtige Kultur als eine nur noch instrumenteile interpretiert" 53 , sucht er nach etwas, das wir um seiner selbst willen tun. Entsprechend verfalle er auf den Begriff der Praktiken und beziehe Tugenden auf das ihnen immanente Gute. Damit verfehlt er aber aus Tugendhats Sicht schon das Wesentliche des Moralischen, denn die Idee des Nichtinstrumentellen könne sich in moralischer Perspektive nur auf den Umgang mit Personen beziehen. Es gibt nach Tugendhat unzählige moralisch bedeutungslose Dinge, die wir im Gegensatz zu rein instrumenteilen Handlungsvollzügen um ihrer selbst willen tun oder wo
49 Vgl. etwa folgende Textstelle: „Ich bin der Sohn oder die Tochter von jemandem, der Vetter oder Onkel von irgendwem; ich bin ein Bürger dieser oder jener Stadt, ein Mitglied dieser oder jener Zunft oder Berufsgruppe; ich gehöre zu dieser Sippe, diesem Stamm, dieser Nation. Was also gut für mich ist, muß gut für jemanden sein, der diese Rollen innehat." Maclntyre (1987), S. 294. 50 Gutmann (1993), S. 76. 51 Ebda. 52 Siehe Tugendhat (1993), S. 219 und S. 243f. Martha C. Nussbaum weist ebenfalls die These Maclntyres, daß Aristoteles eine „metaphysische Biologie" voraussetze, zurück. Vgl. Nussbaum (1988), S. 177. 53 Tugendhat (1993), S. 221.
Regelmoral und Tugendmoral
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wir die Mittel, die wir zum Erreichen bestimmter Zwecke einsetzen, auch um ihrer selbst willen wollen - als Beispiel erwähnt Tugendhat den Geigenspieler, der spielt, um sich zu verbessern und gleichzeitig einfach des Spiels wegen. 54 Für Tugendhat läßt sich die moralische Idee des Nichtinstrumentellen angemessen nur in der Kantischen Form artikulieren - ein Weg, den sich Maclntyre mit seiner generellen Zurückweisung der Aufklärungsmoral und seiner herben Kritik an der Zweck-an-sich-Formel des kategorischen Imperativs, dem Kernstück von Tugendhats Ansatz, freilich verschlossen hat. In Maclntyres Kritik des modernen Individualismus sieht Tugendhat einen zweiten Grund für die Verknüpfung von Tugendkonzeption und Praktiken: Dem Begriff der Praktiken korrespondiert das Konzept sozialer Rollen, und Maclntyres Rezept gegen die pluralistische Relativierung der Werte besteht ja gerade darin, die Menschen an ihre gesellschaftlichen Rollenfunktionen zu erinnern. 55 In einer detaillierten Textexegese, die hier nur kurz zusammengefaßt werden soll, versucht Tugendhat zu zeigen, daß Maclntyres funktionalistisches Verständnis des Guten auf einer irrigen Lesart einer Schlüsselstelle der Nikomachischen Ethik beruht. Aristoteles stellt an den Beginn seiner Untersuchung die Frage nach dem Guten für den Menschen, und seine Antwort lautet zunächst, daß die Menschen das Gute im Glück erblicken. Im Anschluß daran weist Aristoteles auf drei verschiedene Lebenskonzepte hin, die Menschen für gewöhnlich mit einem glücklichen Leben assoziieren: das genußorientierte Dasein, das politische Leben und die kontemplative Existenzform der Hingabe an die Philosophie. 56 Anschließend unternimmt Aristoteles einen neuerlichen Anlauf zur Bestimmung des Guten, der nach Tugendhat auf den ersten Blick einen Bruch zu dem eingangs eingeschlagenen Weg einer Klärung des Guten darstellt. 57 Aristoteles versucht hier eine Annäherung an das Wesen des Guten, indem er „von der eigentümlichen Leistung des Menschen" 58 ausgeht. Aristoteles scheint hier also, wie Tugendhat einräumt, die These zu vertreten, daß „bei allen Dingen, die eine Funktion haben", das Gute „in der Erfüllung der Funktion" besteht. 59 Entsprechend bestimme sich das gute Leben für den Menschen aus der Menschen „wesensmäßig" qua Menschsein zukommenden Funktion. Nach Tugendhat ist genau diese auf den ersten Blick so naheliegende Lesart der fraglichen Textpassage für Maclntyres funktionalistische Auffassung des Guten verantwortlich wie auch für die weitverbreitete Ansicht, daß Aristoteles seine Konzeption von Moral auf „metaphysischen" Annahmen über die Natur des Menschen aufbaue. Tugendhat plädiert nun für eine andere Interpretation der Stelle, indem er auf zwei stillschweigende Voraussetzungen von Aristoteles aufmerksam macht. Das „Wozu eines Lebewesens" - so die erste Annahme - sei nach Aristoteles nicht in einem funktionalen Sinn zu verstehen: „Das Lebewesen ist nicht für etwas anderes da wie Axt oder Auge, sondern seine .Funktion' besteht nur in der Selbsterhaltung. Fragen wir bei einem Lebewesen nach seinem Wozu, so besteht dieses einzig im Leben und im gut Leben." 60 Die zweite Annahme lautet,
54 Ebda. 55 Siehe Tugendhat (1993), S. 222. 56 Siehe Aristoteles (1995), Buch 1.3, S. 109f. 57 Ebda., Buch 1.6, S. 115-117. 58 Ebda., S. 115. 59 Tugendhat (1993), S. 241. 60 Ebda., S. 243.
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Maclntyres Alternative zur Aufldärungsmoral
daß das, wonach der Mensch strebt, für Aristoteles gleichfalls darin liege „zu leben und gut zu leben". 61 Damit will Tugendhat offensichtlich der naheliegenden Replik, daß die gleich zu Beginn der Nikomachischen Ethik erfolgende Definition des Guten als „dasjenige", „wonach alles strebt" 62 , doch nur in einem funktionalistischen Sein gemeint sein könne, den Boden entziehen. Mit der von ihm vertretenen Lesart verliere sich, wie Tugendhat meint, der vorgeblich „metaphysische" und funktionale Charakter von Aristoteles' Lehre des Guten, und Aristoteles' vielgeschmähter Biologismus entpuppe sich als völlig harmlos. Ebenso löse sich die Diskrepanz zwischen dem zunächst unternommenen Versuch des Aristoteles, das Gute über das zu fassen, was die Menschen unter einem glücklichen Leben verstehen, und der späteren scheinbar funktional-substantiellen Definition. Wenn sich die „Funktion" des Menschen auf das zu leben bzw. das gut zu leben reduziert, ist nach Tugendhat keinerlei Unterschiedlichkeit in den Begriffsklärungen mehr zu erkennen, denn genau diese Auffassung liege den im Rahmen des ersten Definitionsversuchs erwähnten drei Formen eines guten bzw. glücklichen Lebens zugrunde. 63 Tugenden sind nach Tugendhat „diejenigen Dispositionen, die uns dazu befähigen, das Menschsein als solches im Miteinander vorzüglich zu vollziehen". 64 Obwohl diese Charakterisierung zunächst relativ vage wirkt, bringt sie Tugendhats wesentlichen Punkt zum Ausdruck: Entscheidend für die Bestimmung einer Tugend sei nicht der Begriff der Funktion, sondern jener des guten Handelns.65 Davon ausgehend definiert Tugendhat Tugenden als ein „So-Sein" in Form einer lobenswerten Haltung oder Einstellung. 66 Maclntyres auf dem Begriff der Praxis aufbauenden funktionalistischen Interpretation, die nicht zuletzt aus einer falschen Lesart von Aristoteles resultiere, fehle diese auf das gute Handeln im allgemeinen bezogene Perspektive, die Tugenden mit einer nicht-funktionalistischen Idee des Guten verbindet. Allerdings gerät Tugendhat an diesem Punkt, wie ich im letzten Teil der Arbeit zeigen werde, selbst in Schwierigkeiten: Tugendhats obige Definition läßt noch die Bestimmung des guten Handelns offen; doch seine nachfolgende Explikation des Guten bleibt zu stark im Rahmen der Kantischen Philosophie, womit er die Eigenständigkeit des Tugendbegriffs ganz entgegen seiner Absicht in gewisser Weise unterläuft. 67 Tugendhats Kritik an Maclntyres „funktionalistischer" Interpretation der Tugenden ist nur insoweit berechtigt, als Maclntyre in der Tat mit der abstrusen Idee des aus der Natur ablesbaren „Telos" des Menschen liebäugelt - eine Idee, die, wie Tugendhat und Nussbaum meinen, nicht einmal Aristoteles 61 Ebda., S. 244. 62 Aristoteles (1995), Buch 1.1, S. 105. 63 Siehe Tugendhat (1993), S. 244. 64 Ebda., S. 219. 65 Daß der Begriff der Tugend nur über den Begriff des guten Handelns definiert werden kann, vertritt auch Philippa Foot: "It is in the concept of a moral virtue that in so far as someone possesses it his actions are good; which is to say that he acts well." Foot (1995), S. 5f. 66 Siehe Tugendhat (1993), S. 228f. 67 Vgl. dazu Kap. 12.1 dieser Arbeit. Auch Philippa Foot muß ihre oben zitierte Definition weiterführen. Dabei versucht sie, diese Eingrenzung des Guten über unmittelbar einsichtige Tatsachen über angemessenes oder unangemessenes menschliches Verhalten - sie verweist hier auf artspezifische Notwendigkeiten und Besonderheiten zu erreichen, womit sie dem vielkritisierten, auch bei Maclntyre zumindest partiell vorhandenen Fehler gefährlich nahekommt, das Gute aus dem „Wesen der Menschen" herzuleiten. Vgl. dazu Foot (1995), S. 8ff.
Regelmoral und Tugendmoral
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akzeptabel gefunden hätte. Tugendhat irrt aber in der seiner Kritik impliziten Annahme, daß jede teleologische Interpretation von Tugenden deren moralische Dimension verfehle: Der Sinn von Tugenden, wie im übrigen auch anderer moralischer Kategorien, besteht in ihrem Bezug auf ein Gut, nämlich ihrem Beitrag zur Sicherung des guten Lebens. Dies hat Maclntyre wohl letztlich gemeint, wenn er auch infolge der mangelhaften Präzisierung des Begriffs des Guten und seines Angriffs auf den übergeordneten moralischen Standpunkt die philosophische Umsetzung dieser Idee schuldig bleibt. Im Mittelpunkt einer Tugendethik steht die Frage nach den moralisch angemessenen Charaktereigenschaften und nicht jene nach den grundlegenden moralischen Prinzipien. Als vorrangiges Problem gilt, was eine gute Person ausmacht und welche Art von Person wir sein wollen; die Antwort auf die Frage, was wir tun sollen, folgt daraus. Fragen des moralischen Charakters und der moralischen Haltungen sind zweifellos wichtig. In konkreten Kontexten folgt die moralische Reflexion nur in den seltensten Fällen den Mustern einer rigorosen Anwendung von allgemeinen Grundsätzen auf spezifische Situationen; eine über Tugenden geschärfte und geschulte Urteils- und Empfindungsfähigkeit wird vielmehr relevant, um einen Sinn dafür zu entwickeln, in welcher Situation welche Handlungen angemessen sind. Die Überlegung, wie eine gute Person einen moralischen Konflikt lösen würde und welche Art von Charaktereigenschaften bestimmte Handlungsoptionen voraussetzen, eröffnen gerade im Fall der moralischen Dimension persönlicher Beziehungen einen vielversprechenderen Zugang als der Versuch, aus Prinzipien und Regeln eine Klärung zu gewinnen. Moralische Regeln liefern gewissermaßen Rahmenbedingungen für unser Verhalten, aber das breite Spektrum und die Details dessen, wie wir anderen begegnen, ist über Regeln nicht vollständig abzudecken. Dennoch ist ein Verzicht auf Prinzipien, Regeln und Rechte in der Ethik nicht möglich, da der Bereich des Moralischen nicht allein mit einer Tugendethik zu erfassen ist. Moralische Fragestellungen reichen über die Ebene einer Individualethik, auf die der Begriff der Tugenden primär abzielt, hinaus. Wie man sich leicht klarmachen kann, finden wir in der Ethik lediglich mit der Kategorie der Charakterideale nicht das Auslangen. Statt soziale Bedingungen und Strukturen als gerecht oder ungerecht zu beurteilen, würden wir nur noch darüber sprechen, ob individuelles Handeln gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen ist. Eine auf dieses Vokabular beschränkte Sprache verkürzt den Bereich des Moralischen in unzulässiger Weise, denn moralisches Unrecht läßt sich nicht allein über die Untugenden anderer benennen. So wäre es reichlich seltsam, wollte man den Umstand, daß eine Ungleichbezahlung von Frauen für gleiche Arbeit eine Ungerechtigkeit darstellt, allein mit dem Hinweis auf die charakterlichen Mängel der Firmenleitung erklären; und das Argument, daß eine Unterrepräsentanz von Frauen in Positionen des öffentlichen Bereichs den Grundprinzipien einer gerechten Gesellschaftsordnung widerspricht, berührt mehr Punkte als die Frage der Tugenden und Untugenden von Gesellschaftsmitgliedern. Viele Formen des Unrechts und der Ungerechtigkeit lassen sich als solche nur identifizieren, wenn verdeutlicht werden kann, daß bestimmte Handlungen oder Strukturen die grundlegenden Rechte von Individuen verletzen oder gegen basale Prinzipien der Moral verstoßen. Für die Analyse moralischer Phänomene ist ein Zusammenspiel von Regeln und Tugenden notwendig. 68 68 Interessanterweise wehrt sich Maclntyre gegen den Vorwurf einer zu ausschließlichen Akzentuierung einer Tugendethik. Im Vorwort zu Whose Justice? Which Rationality?
(S. IX) stellt er klar, daß es nicht seine Absicht
war, eine Tugendlehre als eine Alternative zu einer Prinzipienethik zu formulieren, und weist auf ein von ihm in
130
Maclntyres
Alternative
zur
Aufklärungsmoral
Philosophinnen und Philosophen in der kantischen Tradition subsumieren Tugenden - sofern sie überhaupt darauf eingehen - unter moralische Regeln oder Grundsätze. Daß Charaktereigenschaften als Tugenden gelten können, setzt, so ihr Argument, eine moralische Evaluierung voraus, die ohne Bezug auf moralische Regeln nicht möglich ist. Tugenden sind nach dieser Sicht Dispositionen, die uns anhalten, gemäß moralischen Grundsätzen zu handeln, und ihr Wert hängt von der Qualität der Regeln ab, zu deren Befolgung sie uns motivieren. Anders gesagt: Das Rechte als ein System moralischer Grundsätze wird einer Konzeption des Guten bzw. des guten Menschen vorgeordnet und legt die Rahmenbedingungen einer Tugendmoral fest. Paradigmatisch für dieses Verständnis ist Rawls' Formulierung: „Die Tugenden hingegen sind Gesinnungen und Gewohnheiten, die uns zum Handeln gemäß bestimmten Grundsätzen des Rechten veranlassen."69 Tugenden sind nach dieser Interpretation Schnittstellen von moralischen Regeln und konkretem Handeln und keine eigenberechtigte moralische Kategorie. Sie stellen über ihre motivationalen Möglichkeiten eine Verbindung von theoretischen Einsichten und Handlungszusammenhängen her, ergänzen aber nicht das regelorientierte moralische Räsonieren durch eine weitere Form moralischer Reflexion. Dies entspricht jedoch einer zu eingeschränkten Sicht von Tugenden. 70 In den deontologischen Ansätzen reduziert sich der Tugendbegriff auf den „Sinn für das Rechte". Tugenden haben aber für sich betrachtet und nicht nur als motivationales Pendant von Regeln moralischen Wert, indem sie den über Grundsätze nicht faßbaren Bereich der Moral zur Geltung bringen. Werden Tugenden nur als Umsetzungsinstanz moralischer Regeln betrachtet, so After Virtue entwickeltes Argument hin, welches zeige, daß eine Tugendethik nicht genügt, um unsere Vorstellungen von Moral abzudecken. Maclntyre fordert uns in der fraglichen Textpassage auf zu überlegen, was notwendig wäre an moralischen Vorstellungen, wollte man ein Gemeinwesen gründen, das sich unter anderem die gemeinsame Realisierung eines Projekts zum Ziel gesetzt hat, welches alle als ein Gut anerkennen. Über zwei Formen von Wertungen müßte eine solche Gesellschaft verfügen: Zum einen müßten die Gesellschaftsmitglieder die Begriffe der Tugend und Untugend kennen, die ihnen ermöglichten, die Charaktereigenschaften, die zur Verwirklichung des gemeinsamen Guten beitragen, positiv auszuzeichnen. Zum anderen müßten sie aber auch klar jene Handlungsweisen benennen können, die inakzeptabel sind, weil sie das Funktionieren des Gemeinwesens zerstören würden. Und diese Verbote sind nach Maclntyre nicht über Tugenden auszudrücken. Es gebe Verstöße, die unabhängig davon, ob jemand als tugendhaft gilt, moralisch zu verurteilen sind: „Umgekehrt ist ein Scheitern im Gemeinwesen durch eine Gesetzesübertretung nicht einfach dem Scheitern gleichzusetzen, wenn jemand nicht gut genug ist. Es ist ein Scheitern ganz anderer Art. Obwohl jemand, der Tugenden in hohem Maß besitzt, weit weniger dazu neigt, sich schwerer Vergehen schuldig zu machen als andere, kann ein rechtschaffener, bescheidener Mensch bei Gelegenheit einen Mord begehen, und sein Vergehen wiegt nicht mehr und nicht weniger als das eines Feiglings oder Aufschneiders." Maclntyre (1987), S. 204. Im wesentlichen präsentiert Maclntyre hier eine Variante des schon erwähnten Standardeinwands gegen den Ausschließlichkeitsanspruch einer Tugendlehre, daß es neben der Kategorie der Tugenden auch jener der Normen oder Rechte bedarf, um das Spektrum unterschiedlicher moralischer Verluste abzudecken. Maclntyre scheint hier aber nicht nur zu vergessen, daß er den Rückgriff auf eine aristotelische Tugendlehre explizit als die Alternative zu den an die Tradition der Aufklärungsmoral anknüpfenden zeitgenössischen Ethik-Modellen präsentiert hat, sondern auch zu übersehen, daß er sich mit seinem Angriff auf die Tradition der Prinzipienmoral wie auch auf die ethischen Rechte-Ansätze selbst jenes Instrumentariums beraubt hat, um der von ihm geforderten Differenzierung moralischer Bewertungen gerecht werden zu können. Entsprechend bleibt er auch die genaue Klärung der Relationen zwischen Tugendmoral und Regelmoral in seinen späteren Arbeiten schuldig. 69 Rawls (1975), S. 476; vgl. auch S. 473. 70 Vgl. Tugendhat (1993), S. 229.
Regelmoral und Tugendmoral
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ignoriert man auch den moralischen Stellenwert von moralischen Empfindungen. Tugenden sind als moralische Kategorie auch deshalb wichtig, weil sie Gefühlen und Empfindungen den ihnen im Rahmen der Moral zustehenden Platz einräumen. Auch Gefühlshaltungen haben moralischen Wert, und in manchen Situationen beläuft sich ein moralisch angemessenes Verhalten eben darauf, in einer bestimmten Weise zu empfinden. Bisweilen kann unsere moralische Schuld in nichts anderem als unseren Gefühlen gegenüber anderen oder im Fehlen gewisser Empfindungen liegen. Tugenden sind, wie Maclntyre schreibt, „nicht nur Dispositionen, auf bestimmte Arten zu handeln, sondern auch auf bestimmte Arten zu empfinden. Tugendhaft zu handeln heißt nicht, wie Kant später annehmen sollte, gegen die Neigung zu handeln; es bedeutet, aus einer Neigung heraus zu handeln, die durch die Pflege der Tugenden entsteht. Moralische Erziehung ist eine ,education sentimentale'." 71 Oft vermögen uns Empfindungen für die situationsbezogene Angemessenheit oder Unangemessenheit bestimmter moralischer Grundsätze zu sensibilisieren und versetzen uns in die Lage, die Funktion und Reichweite von Regeln zu verstehen, aber ihre Funktion erschöpft sich nicht darin. Das Argument der Vertreter einer deontologischen Moralkonzeption, daß Charakterdispositionen der Evaluierung bedürfen, um als Tugenden gelten zu können, ist richtig. Ein Irrtum aber wäre es zu glauben, dies nur durch den Bezug auf moralische Regeln leisten zu können. Wie oben schon angesprochen, verspricht die Prüfung von einem übergeordneten moralischen Standpunkt her, der gleichermaßen Regeln, Rechte und Tugenden einbezieht, eine nicht-reduktionistische Lösung. Notwendig ist also eine durch den moralischen Standpunkt in Form eines übergreifenden Prinzips zusammengehaltene Synthese von Regelmoral und Tugendmoral - eine Moralkonzeption, die dem Begriff des Guten auf einer allgemeineren Ebene Geltung verschafft als nur in der Form der individuellen Wahl einer Lebensform; ein Moralansatz, der eine Verbindung herstellt zwischen dem Konzept der öffentlichen und dem einer privaten Moral, zwischen einer politischen Ethik und einer Individualethik und aus der Sicht der feministischen EthikDebatte zwischen einer Care-Ethik und den auch aus feministischer Perspektive so wichtigen Begriffen moralischer Rechte und Regeln. Maclntyre, wenn ihm auch das Verdienst zukommt, den Tugendbegriff wieder ins Zentrum philosophischer Aufmerksamkeit gerückt zu haben, erinnert mit seiner interpretativen Anlehnung der moralischen Tugenden an Gemeinschaften und Traditionen wie auch seiner teils unterbestimmten, teils simpel konventionalistischen Lesart des Guten vorwiegend daran, wie eine solche Ethik-Konzeption nicht aussehen und von welchen Irrtümern sie sich fernhalten sollte. 71 Maclntyre (1987), S. 201; vgl. auch Pence (1991), S. 256.
8
Die Grenzen der Gerechtigkeit: Michael Sandels Kritik am Liberalismus
Charakteristisch für einen Liberalismus, wie er sich exemplarisch in dem Werk von John Rawls vertreten findet, ist die auf den Voraussetzungen von Gleichheit und Freiheit der Subjekte beruhende Formulierung von Grundprinzipien einer gerechten Gesellschaft, welche den individuellen Wertvorstellungen der Individuen einen Freiraum zugestehen. Diese Prämisse manifestiert sich in Rawls' Theorie im Vorrang des Rechten vor dem Guten. Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch einen Wertepluralismus und eine Vielzahl unterschiedlichster Lebensformen aus, und kennzeichnend für den Liberalismus ist die Forderung der Neutralität gegenüber variierenden Vorstellungen des guten Lebens, sofern diese nicht die aus den Primärannahmen von Gleichheit und Freiheit hergeleiteten Grundsätze der Gerechtigkeit und individuellen Rechte verletzen. Die wohlgeordnete Gesellschaft, so das liberalistische Credo, sollte von Prinzipien des Zusammenlebens bestimmt werden, die nicht eine umfassende Theorie des Guten voraussetzen, denn darüber wäre in modernen Gesellschaften ohnehin kein Konsens zu erzielen. Der Liberalismus versucht über individuelle Rechte und Freiheiten den Rahmen abzustecken, innerhalb dessen Individuen ihre Lebenspläne und Ideen des Guten verfolgen können. Die Überlegenheit einer solchen Konzeption politischer Philosophie gegenüber traditionelleren Ansätzen, die oft in nicht auflösbaren Auseinandersetzungen über das „wahre" Gute steckenbleiben, liegt auf der Hand; aber die Vertreter des Kommunitarismus geben zu bedenken, daß dieser scheinbare Vorzug um den Preis der Ausklammerung wesentlicher Dimensionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erkauft wird und die liberale Theorie einfach ihre eigenen Voraussetzungen ausblendet. Unter den von kommunitaristischer Seite vorgebrachten Einwänden gegen den Liberalismus ist Michael J. Sandels in seinem Buch Liberalism and the Limits of Justice1 entwickelte Kritik an der Theorie Rawls' besonders prominent geworden. Sandels Gegenargumente berühren gleichermaßen die Ebene der politischen Theorie wie jene der Moralphilosophie, was insofern naheliegt, als Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit explizit politiktheoretische und moraltheoretische Überlegungen kombinierte und seiner Gerechtigkeitskonzeption eine bestimmte Form deontologischer Ethik zugrundeliegt.2 Sandel wendet ein, daß Rawls' liberaler Entwurf der politischen Grundstrukturen einer gerechten Gesellschaft den Stellenwert des gemeinsamen Guten, wie es in spezifischen Formen kommunalen Lebens Ausdruck findet, unterspiele und nicht berücksichtige, daß Gemeinschaftlichkeit ein wesentliches politisches Gut darstellt. Moraltheoretisch betrachtet summieren sich seine Einwände zu dem Argument, daß eine liberale Moralkonzeption, also eine deontologi sehe Ethik mit dem klassi1
Sandel (1982).
2
Rawls' Gerechtigkeitstheorie bildet die Folie einer liberalen Moralkonzeption - und deren Struktur ist im Zusammenhang unserer Überlegungen interessant.
Das bindungslose
Selbst.
133
sehen Vorrang des Rechten vor dem Guten, unverzichtbaren und grundlegenden Aspekten unserer moralischen Erfahrung nicht gerecht werde. 3 Sandels Kritik an der Subjektkonzeption des Liberalismus korrespondiert mit einer grundsätzlichen Kritik am Primat der Gerechtigkeit. Dem Guten müsse wieder Raum gegeben werden, und das bedürfe einer Reflexion auf die „geteilten Werte" einer Gemeinschaft und den für die individuelle Identität konstitutiven Bindungen. Rawls' individualistisch-instrumentelle Theorie des Guten untergräbt laut Sandel die Konzeption einer Gesellschaft als eines Gemeinwesens. Sandels Einwände lassen sich in drei Argumentationslinien differenzieren: 1. Rawls' Liberalismus basiere auf einem unplausiblen Konzept der Person, das auch den Vorrang des Rechten vor dem Guten fragwürdig mache; 2. Rawls' Differenzprinzip setze letztlich einen „kommunitaristischen" Gemeinschaftsbegriff voraus, und 3. Rawls gehe von einer unzulänglichen Theorie des Guten aus. Ich werde im folgenden genauer auf diese Argumente und die Frage eingehen, ob und wie weit sie eine Modifikation von Rawls' liberalem Moralverständnis notwendig machen.
8.1
Das bindungslose Selbst und der Vorrang des Rechten vor dem Guten
Obwohl sich die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Kommunitarismus inzwischen von der Ebene der Subjektkonstitution weitgehend gelöst hat und diese Facette der Debatte wohl zu Recht als mehr oder weniger ausgeschöpft gilt, scheint es doch aus zwei Gründen nicht überflüssig, Sandels diesbezügliche Argumentation nachzuzeichnen. Zum einen hat sich eine Art Common sense-Verständnis der kommunitaristischen Subjektkritik eingebürgert, wonach diese gegenüber dem abstrakt-atomistischen Personenbegriff der liberalen Theorie die soziale Gebundenheit und Einbettung der Individuen ins Treffen führe. Das ist zwar richtig, doch Sandel hat diese These mit einer relativ differenzierten philosophischen Argumentation begründet und beruft sich nicht einfach auf eine anthropologische Trivialität. Wenn man Sandels Einwände nur im soziologischen Sinn liest und deren philosophische Dimension übergeht, so liegt es gleichsam auf der Hand anzunehmen, daß sich die Kommunitaristen an den mehr oder weniger bizarren Rawlsschen Geschöpfen des Urzustands, den aneinander desinteressierten und hinter einem Schleier der Unwissenheit räsonierenden rationalen Egoisten, stoßen. Diese im Grunde banale Kritik, die Sandel so nicht vertritt, läßt sich natürlich leicht mit dem Hinweis widerlegen, daß die liberale Theorie keineswegs auf die soziale Situierung der Individuen vergesse und die Kommunitaristen völlig verkennen, daß die Rawlsschen Entscheidungsträger nicht „Produkte einer schlechten Soziologie" 4 seien, sondern Rawls sich einer theoretischen Konstruktion bedient, um die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen aus einer unparteilichen Perspektive, welche allgemeine Anerkennung und Zustimmung finden kann, zu veranschaulichen. Diese Verteidigung von Rawls ist für sich genommen stimmig, nur geht sie an Sandels Kritik vorbei, da er sich explizit von der Idee distanziert, Rawls' Personenbegriff wegen einer soziologischen Fehlzeichnung anzugreifen. 5 3
Siehe Sandel (1982), S. 179.
4
Kersting (1993b), S. 196; vgl. auch Kersting (1991), S. 92.
5
Siehe Sandel (1982), S.41ff.
134
Michael Sandels Kritik am Liberalismus
Ein genauerer Blick auf Sandels Argumente scheint mir darüber hinaus unerläßlich für die Bewertung der feministischen Auseinandersetzung mit Liberalismus und Kommunitarismus. Denn auch manche feministische Philosophinnen tendieren zu einer soziologischen Lesart von Sandels Einwänden, was nicht zuletzt bedingt, daß sich ein Teil der feministischen Diskussion um die Theorie Rawls' auf wenig ergiebige Punkte konzentriert. Für den Kommunitarismus, der ja gegenüber dem Liberalismus wieder den Begriff des Guten in der überindividuell sinnstiftenden Form einer Gemeinschaftsorientierung stark machen will, steht folgerichtig die Infragestellung der Kernthese jeder liberalistischen Position, des Vorrangs des Rechten vor dem Guten, im Mittelpunkt. Unter den kommunitaristischen Kritikern war gerade Sandel bemüht, die Schwachstellen dieser Rangordnung zu verdeutlichen. Im wesentlichen entwickelt Sandel zwei Einwände. Das erste Argument: Da aus der Annahme des Primats des Rechten eine widersprüchliche Konsequenz - nämlich ein „epistemisch inkohärenter" Subjektbegriff - folge, müsse sie aufgegeben werden. Die Priorität des Rechten vor dem Guten sei nicht haltbar, da sie mit einer in sich nicht stimmigen Vorstellung des moralischen Subjekts verknüpft bleibe. Aus diesem Argumentationsaufbau wird klar, warum sich die Auseinandersetzung mit dem Liberalismus bei Sandel so stark auf eine metaphysisch-ontologische Ebene verlagert. Der zweite Einwand, der sich direkter gegen die liberale Prioritätenordnung richtet, bedient sich eines Rückgriffs auf die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit: Gerechtigkeit sei nicht, wie Rawls meint, die erste Tugend sozialer Institutionen; der Vorrang der Gerechtigkeit bedeute manchmal einen Verlust an Moralität. Sandels erster Vorwurf geht also dahin, daß Rawls keinen Ausweg aus den Irrtümern der Kantischen Theorie finde und letztlich Kants abstruse Konstruktion eines von allen Bindungen und Neigungen gelösten Selbst reproduziere. Im Detail: Dem Vorrang des Rechten vor dem Guten korrespondiere eine Subjektkonzeption, die das Subjekt als seinen Zielen und Zwecken vorgeordnet begreift. Beide Voraussetzungen seien Kernideen von Kants Moraltheorie, aber Rawls' Versuch scheitere, diese Subjektkonzeption sowie den Vorrang des Rechten vor dem Guten beizubehalten, gleichzeitig aber auf Kants Metaphysik zu verzichten; in Rawls' Urzustand entstehe wieder Kants transzendentales Subjekt. Bei Kant hängt, wie Sandel betont, der Primat des Rechten mit dem Bestreben zusammen, die Moraltheorie von allen empirischen Bedingungen wie Wünschen, Neigungen und Interessen freizuhalten. Die Grundlage des moralischen Gesetzes muß nach Kant unabhängig von Kontingenzen der Erfahrung und speziellen Umständen der Natur sein, und diese Basis ist der autonome Wille des Subjekts der praktischen Vernunft, das Teil der über die Welt der Erfahrung hinausgehenden und von den Naturgesetzen unabhängigen intelligiblen Welt der Vernunftwesen ist. Da Rawls die Konzentration der Kantischen Theorie auf die Grundsätze des Rechten übernimmt, bleibt sein Ansatz, so Sandel, auf die für sich genommen unplausible und inkohärente Sicht des Subjekts als eines „körper- und bindungslosen" Wesens festgeschrieben.6 Rawls stützt seine Theorie der Gerechtigkeit bekanntlich mit einem vertragstheoretischen Gedankenexperiment: Individuen, die sich in einer Ausgangsposition anfänglicher Gleichheit und Freiheit befinden und nur sehr allgemeine Kenntnisse über sich selbst und ihre Vorstellungen des Guten haben und ihre spätere Position in der Gesellschaft nicht kennen, überlegen, für welche Grundsätze der Gerechtigkeit und damit welche Struktur der Gesellschaft sie sich, geleitet vom Selbstinteresse, entscheiden würden. Sandel greift nun die einzelnen 6
Ebda., S. 26f. und S. 36ff.
Das bindungslose
Selbst.
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Bedingungen von Rawls' Konstruktion der Ausgangssituation - Schleier der Unwissenheit, gegenseitiges Desinteresse - nicht für sich genommen an, sondern kritisiert den der Wahlsituation zugrundeliegenden Begriff der Person: das „Bild des ungebundenen, d. h. gegenüber Zwecken und Zielen als primär und unabhängig verstandenen Selbst".7 Rawls' Primat des Rechten vor dem Guten impliziert nach Sandel eine Subjektkonzeption, bei der das Selbst gleichsam hinter seinen Zielen zurücktritt: "On Rawls' conception, the characteristics I possess do not attach to the seif but are only related to the seif, standing always at a certain distance. This is what makes them attributes rather than constituents of my person; they are mine rather than me, things I have rather than am." 8 Doch ein nur auf kontingente Weise mit seinen Zielen verknüpftes Subjekt mutiert nach Sandel zu einer Art mystischen, geistähnlichen Entität, denn die Ziele und Bindungen eines Individuums seien gerade konstitutiv für personale Identität und davon nicht ablösbar. Sandels Argument bewegt sich hier ganz auf der Linie, daß Rawls im Grunde Kants metaphysisch belastetes Konzept eines der phänomenalen Welt enthobenen transzendentalen Subjekts reproduziert und dies auch muß, da die Begründung für den Primat des Rechten vor dem Guten letztlich genau in der mit dieser Subjektkonzeption vollzogenen Abstraktion von allen empirischen und materialen Bedingungen liegt. Mehrere Erwiderungen sind hier möglich. Zum einen kann man Sandels Kant-Interpretation in Frage stellen und bestreiten, daß Kants Subjektauffassung überhaupt zu den von Sandel unterstellten Schwierigkeiten führt. Aber auch wenn man die Skepsis gegenüber Kants Begriff des transzendentalen Ich teilt, läßt sich bezweifeln, daß die Vorstellung eines Subjekts, das seine Ziele und Zwecke wählt, in die Aporien der Kantischen Personenkonstruktion führt. Onora O'Neill wendet sich etwa entschieden gegen eine ontologische Interpretation von Kants „Zwei-Welten"-Theorie und weist darauf hin, daß Kant nur aus Gründen metaphorischer Veranschaulichung von der intelligiblen Welt spricht.9 Die Unterscheidung von phänomenaler und intelligibler Welt belaufe sich nicht auf eine Differenzierung zwischen zwei ontologisch distinkten Bereichen, sondern bringe nur zwei Standpunkte zur Geltung, von denen her sich das Subjekt sehen und begreifen kann: entweder als bestimmt von seinen Neigungen, Interessen oder Wünschen oder als frei davon.10 Nach dieser Interpretation würde Kant mit dem transzendentalen Subjekt nicht ein metaphysisches Gespensterwesen einführen, sondern nur zum Ausdruck bringen, daß Individuen sich auf einen Standpunkt zu stellen vermögen, von dem her sie ihre Neigungen, Interessen und Wünsche kritisch reflektieren. O'Neill liest also aus Kants Text bereits jene metaphysikfreie Sicht des moralischen Subjekts heraus, für die etwa Rawls, in bewußtem Abstand zu Kant, explizit votiert. Ich will mich hier nicht auf eine grundsätzliche Diskussion darüber einlassen, wie weit O'Neills Kant-Exegese zuzustimmen ist und ob Kants Subjektbegriff nicht doch unplausiblen metaphysischen Dichotomien verhaftet bleibt. Die Auseinandersetzung auf der Ebene der Kantischen Philosophie zu entscheiden, ist letztlich auch deshalb nicht notwendig, da die 7 Sandel (1993), S. 24. 8 Sandel (1982), S. 85. 9 O'Neill hat hier folgende Erläuterung Kants in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vor Augen: „Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken . . . " Kant (1785), S. 95. 10 Siehe O'Neill (1989c), S. 59f.
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Michael Sandels Kritik am Liberalismus
Frage der Gültigkeit von Sandels Einwänden ja nicht davon abhängt, ob sie nun auf einer korrekten oder irrigen Rekonstruktion von Kants Thesen beruhen. Mit seinem Angriff auf die Vorstellung eines seinen Zielen und Zwecken vorgeordneten Selbst unterstellt Sandel einfach generell, daß jede Art der Grenzziehung zwischen dem Ich und seinen Interessen, Neigungen und Projekten nicht möglich ist, will man an einer kohärenten Subjektkonzeption festhalten, die mit unserem Selbstverständnis und unserer Sicht von uns selbst, von uns als Personen mit einer Fülle besonderer Eigenschaften, verträglich ist. Sandel hat natürlich recht, daß ein von absolut allen Neigungen, Wünschen und Zielen „gereinigtes" Selbst ein Unding wäre. Aber ein solches Subjekt wird von einer Theorie, die annimmt, daß Personen ihre Interessen und Begehren überdenken, ihre Werte revidieren und ihre Ziele wählen können, nicht vorausgesetzt. Wir degenerieren nicht zu einem identitätslosen Etwas ohne alle personalen Konturen, wenn wir unsere Ziele reflektieren und uns von manchen unserer Bindungen distanzieren, wie Will Kymlicka verdeutlicht: "I can always envisage my seif without its present ends. But this does not require that I can ever perceive a seif unencumbered by any ends the process of practical reasoning is always one of comparing one 'encumbered' potential seif with another 'encumbered' potential seif." 11 Sandel selbst ist es, der in seiner Argumentation die empirisch-ontologische und die begriffliche Ebene nicht klar auseinanderhält: Man kann begrifflich zwischen dem Subjekt und seinen Zielen trennen, ohne damit eine ontologische Kluft in dem Sinn aufzureißen, daß Subjekt und Ziele sich nun plötzlich in voneinander separierten Welten befinden. Ein Blick auf Kants epistemologische Gründe für die Einführung des Begriffs des transzendentalen Subjekts mag in dem Zusammenhang hilfreich sein. Gegenüber dem Empirismus hat Kant bekanntlich geltend gemacht, daß dieser eine Subjektkonzeption schuldig bleibt: Aus einer Abfolge ungeordneter Sinneseindrücke sei keine Vorstellung eines Ich und kein Begriff personaler Identität zu gewinnen. Insofern nimmt Kant eine strukturierende Tätigkeit des Verstandes an, die Einheit in die Vorstellungsmannigfaltigkeit bringt. Als einheitliches Bewußtsein muß ich mir meiner Vorstellungen als meiner bewußt sein können, und dies setzt ein erfahrungsunabhängiges Moment der Reflexion voraus - ohne diese Bedingung ist weder personale Identität noch Erkenntnis möglich.12 Dieser Gedanke, daß es einen von der sinnlichen Erfahrung verschiedenen Strukturierungsprozeß (Kants „transzendentale Apperzeption") geben muß, der ein kohärentes Bewußtsein erzeugt und die Selbstzuschreibung von Erfahrung und somit Objekterfahrung ermöglicht, liegt Kants Idee von einem transzendentalen Subjekt zugrunde. Wenn man die Frage der Zwei-Welten-Aporie ausspart und überdies für eine metaphysisch unverfängliche Deutung der erkenntnistheoretischen Passagen Kants plädiert, so kommt man nicht umhin zuzugestehen, daß Kants Argumentation gegenüber einem radikalen Empirismus weitgehend erfolgreich ist und eine wichtige Einsicht über die Bedingungen von Selbstbewußtsein artikuliert: Eine kohärente Ich-Vorstellung ist nur möglich, wenn begrifflich zwischen dem Ich und seinen möglichen Erfahrungen unterschieden wird. 11 Kymlicka (1990), S. 212. 12 Kant drückt dies in der berühmten Passage aus: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können, denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung
würde entweder
unmöglich,
(1781/1787), Band 1, S. 136 (Kursivsetzung im Original).
oder wenigstens flir mich nichts sein."
Kant
Das bindungslose
Selbst.
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Legt man Sandels Kritik erkenntnistheoretisch um, so wäre jede Differenzierung zwischen dem Subjekt und seinen Erfahrungen illegitim. Damit aber ist es wohl eher Sandel, der eine unplausible Subjekttheorie vertritt, denn diese Unterscheidung ist gerade notwendig, um überhaupt den Begriff des Subjekts und den der personalen Identität entwickeln zu können. Mit anderen Worten: Sandels Kritik an einem seinen Zielen vorgeordneten Subjekt ist überhaupt nur nachvollziehbar, wenn man „vorgeordnet" in einem ontologischen Sinn interpretiert. Wer aber würde dies ernsthaft tun? Sandel unterschiebt hier dem Liberalismus eine Metaphysik, welche diesem ganz sicher nicht zugrundeliegt und die sich möglicherweise nicht einmal bei Kant findet. Im Grunde läßt sich auf dieser Ebene gar kein Unterschied zwischen dem liberalen und dem kommunitaristischen Personenbegriff ausmachen - auch Sandel differenziert zwischen dem Subjekt und seinen Erfahrungen. Sandels Einwände gegen die Subjektkonzeption des Liberalismus beschränken sich nicht auf die metaphysisch-ontologische Ebene, sondern berühren auch eine normative Dimension, in welcher die moraltheoretischen Vorstellungen des Kommunitarismus transparenter werden. Dem liberalen Subjekt fehlt es nach Sandel an moralischer Tiefe - eine Reihe unverzichtbarer Aspekte unserer moralischen Erfahrung blieben ihm verborgen.13 Personale und moralische Identität beinhalte die Anerkennung des moralischen Gewichts jener partikularen Bindungen, aus denen sich die unverwechselbare Geschichte eines individuellen Lebens zusammensetzt - eines Kontexts, für den man sich nicht einfach vom Standpunkt einer vollkommen autonom und rational handelnden Person entscheiden könne, sondern in dem man sich bereits befinde: "For to have character is to know that I move in a history I neither summon nor command, which carries consequences none the less for my choices and conduct." 14 Das von konstitutiven Bindungen freie deontologische Selbst ist nach Sandel zur Selbsterkenntnis in einem moralischen Sinn nicht fähig, da ihm gewissermaßen das Material für die Reflexion auf sich selbst und die sich aus seinen Situierungen und Bindungen ergebenden Verpflichtungen abhanden gekommen ist. Nach Sandel können wir den Personenbegriff des Liberalismus nur „auf Kosten jener Loyalitäten und Überzeugungen" übernehmen, „deren moralische Kraft teilweise auf dem Faktum beruht, daß sie in unserem Leben untrennbar mit unserem jeweiligen Selbstverständnis verknüpft sind, d. h. mit uns als den Mitgliedern dieser Familie, dieser Gemeinschaft, dieser Nation oder dieses Volkes, mit uns als den Bürgern dieser Republik".15 Dem liberalen Subjekt, für das bei der Wahl von Zielen nur seine Präferenzen zählen, stellt Sandel das sich seiner sozialen Einbettung und den für seine Identität konstitutiven Werten bewußte kommunitaristische Selbst gegenüber. Wir können uns nicht von unseren Partikularitäten loslösen, unsere Identität ist geformt von den Umständen und den Gemeinschaften (primär die Familie), in die wir geboren wurden, und in der Parteilichkeit dieses Selbstbildes "the limits of justice can be found". 16 Nun wird wohl kaum jemand - die Vertreterinnen einer liberalen Position eingeschlossen bezweifeln wollen, daß die Identität eines Individuums zu einem Gutteil durch die sozialen Gemeinschaften, denen es sich zugehörig fühlt, bestimmt ist. Der Hinweis auf die soziale Eingebundenheit der Menschen bringt jedoch, wie Rawls betont, nur „eine triviale Auffas13 Siehe Sandel (1982), S. 179. 14 Ebda. 15 Sandel (1993), S. 29. 16 Sandel (1982), S. 11.
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sung der menschlichen Gemeinschaftsorientiertheit" zum Ausdruck.17 Soll der Unterschied zwischen einer kommunitaristischen und einer liberalistischen Position nicht von vornherein verschwimmen, so muß Sandel die Verbindung von Selbst und sozialen Bindungen, von Identität und Gemeinschaftswerten anders definieren als der Liberalismus. Aber hier bleibt Sandel als Abgrenzung nur die Möglichkeit, die Verbindung für zwingender zu erklären als der Liberalismus in dem Sinn, daß personale Identität nicht nur mit Wert- und Zielvorstellungen im allgemeinen zusammenhängt, sondern unlösbar an ganz bestimmte Wertvorstellungen geknüpft bleibt. Die Trennlinie zwischen liberaler und kommunitaristischer Position kann Sandel nur dann ziehen, wenn er die Möglichkeiten der autonomen Entscheidung für Ziele einengt und letztlich als mit personaler Identität unvereinbar erklärt. Genau diesen Weg schlägt er ein: Die für die Identität eines Selbst konstitutiven Werte können nicht gewählt, sondern nur „entdeckt" werden; das Selbst kann sich seiner Ziele nur bewußt werden "by reflecting on itself and inquiring into its constituent nature, discerning its laws and imperatives, and acknowledging its purposes as its own". 18 Damit rückt Sandel die Frage, wie sich das gute Leben für uns bestimmt, in eine konventionalistische Perspektive. Für eine liberale Position bleibt die Frage des guten Lebens verknüpft mit der kritischen Überlegung, welche Person wir sein und werden wollen, für welche Ziele wir uns entscheiden und was wir für wertvoll halten sollen. Sandel reduziert praktisches Räsonieren auf eine Form der „Entdeckung". Wir finden das Gute, indem wir uns jener Werte bewußt werden, die durch die gemeinschaftlichen Bindungen des Individuums seine Identität ausmachen: "The relevant question is not what ends to choose, for my problem is precisely that the answer to this question is already given, but rather who I am, how I am to discern in this clutter of possible ends what is me from what is mine." 19 Für Revision, Überdenken, und Distanzierung von Zielen und Werten, für all jene mit dem Begriff praktischen Überlegens unabdingbar verknüpften Elemente bleibt in diesem Modell kein Platz. Man mag sich zu Recht fragen, ob Sandel dies ernsthaft meinen kann, denn zu offensichtlich ist wohl, daß die Frage einer philosophisch vertretbaren Konzeption des Guten nicht über das Bewußtmachen bereits vorgegebener Ziele und Werte zu lösen ist. Aus der These, daß soziale Zugehörigkeiten konstitutiv für personale Identität bleiben, ist weder eine Widerlegung des Liberalismus noch ein Argument zugunsten des Kommunitarismus zu gewinnen. Für die Identitäten moderner Individuen ist typisch, daß sie ihre Beziehungen und Bindungen reflektieren und ihre Ziele stets neu bestimmen - sie übernehmen nicht unbesehen die Werte ihrer Gemeinschaften. Die unverfängliche These, daß soziale Zugehörigkeiten konstitutiv für personale Identität sind, reichert Sandel unter der Hand mit einer deterministischen Sicht der Gemeinschaftsbezogenheit an, um eine Rechtfertigung für seinen kommunitaristischen Standpunkt zu bekommen. Sandel läßt zwar die Möglichkeit zur Reflexion auf Seiten des Individuums zu, aber darunter versteht er einfach ein Nachvollziehen vorgegebener Ziele und Bindungen, und nicht die aus kritischen Überlegungen notwendige Entscheidung für neue Projekte.20 Der Kommunitarismus kann dem Individuum gar keine kritisch-konstruktive Funktion in der Bestimmung 17 Rawls (1975), S. 567. 18 Sandel (1982), S. 58. 19 Ebda., S. 59. 20 Siehe Sandel (1982), S. 153.
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seiner Identität zugestehen, "(f)or so long as Sandel admits that the person can re-examine her ends - even the ends constitutive of her 'seif - then he has failed to justify communitarian politics".21 Sandel wirft der liberalen Moral vor, Personen einen Freiraum zuzubilligen, in dem sie sich ohne Rücksicht auf besondere Bindungen und Verpflichtungen rein nach ihren kontingenten Präferenzen für ihre Zielvorstellungen entscheiden. Dabei übersieht er, daß der Liberalismus die Wahlmöglichkeiten der Individuen deutlichen Beschränkungen unterwirft und daß Autonomie im Sinne einer willentlichen Entscheidung nicht mit Willkür gleichzusetzen ist. Neben dem am liberalen Subjektbegriff festgemachten Einwand gegen den Primat des Rechten vor dem Guten entwickelt Sandel wie erwähnt noch ein zweites Argument. Rawls will eine an den deontologischen Grundprämissen der praktischen Philosophie Kants orientierte Konzeption der Gerechtigkeit entwickeln, die aber auf das „metaphysische Beiwerk" der Kantischen Theorie verzichtet.22 Rawls sieht sehr wohl das Problem, daß sich Kants Ethik wegen der tiefgreifenden Dualismen von Vernunft und Gefühl, Erscheinung und Ding an sich, empirischem und transzendentalem Subjekt, phänomenaler und intelligibler Welt, ständigen Einwänden aussetzt und Gefahr läuft, den Bezug zur Lebenswelt, der „Situation der Menschen in der Welt" 23 , zu verlieren. Deshalb versucht er, eine weniger dem Idealismus als vielmehr dem Empirismus verpflichtete Spielart deontologischer Ethik und liberaler Theorie zu entwerfen. Bei Rawls' empiristischer Umdeutung der deontologischen Ethik verschiebt sich, so Sandel, die Frage des Vorrangs des Rechten vor dem Guten gleichermaßen auf eine empirische Ebene. Denn Kants deontologische Begründung der Priorität des Rechten beruhe gerade auf der Ausgrenzung aller empirischen Bestimmungen und sei nicht ablösbar von den metaphysischen Voraussetzungen, welche Rawls nicht mehr übernehmen wolle. Eine entscheidende Rolle bei Rawls' empiristischer Reformulierung der deontologischen Konzeption - Rawls zieht etwa allgemeine Tatsachen über Personen und Institutionen heran und nimmt bewußt auf faktische Verhältnisse Bezug - spielen nach Sandel die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit. Diese charakterisiert Rawls im Anschluß an Hume als Situationen, wo eine Knappheit der Güter und Ressourcen in Kombination mit konfligierenden Interessen und Bedürfnissen der Individuen gegeben ist: Die Menschen stellen gegenseitig konkurrierende Ansprüche an die zu verteilenden Güter. Um den Primat des Rechten nun im Rahmen seines empiristisch angereicherten Ansatzes rechtfertigen zu können, müßte Rawls laut Sandel zeigen, daß die erwähnten Bedingungen - Knappheit der Güter und Interessenkonflikte - durch alle gesellschaftlichen Institutionen hindurch in einem Maß gegeben sind, so daß der Gerechtigkeit ein dominanter Stellenwert zukommt und sie alle anderen Tugenden verdrängt. Sandel bezweifelt, daß dieser Nachweis möglich ist. Es seien eine Reihe sozialer Institutionen vorstellbar - Sandel nennt hier kleinere kommunale Einheiten wie Nachbarschaften, Städte, Gewerkschaften, Universitäten - , wo die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit in einem geringeren Ausmaß oder möglicherweise gar nicht gegeben wären. Wenn Institutionen sich durch ein gemeinsames Projekt, ein von allen geteiltes und gemeinsam verfolgtes Ziel auszeichneten, würden Solidarität und Gemeinschaftlichkeit statt Interessenkonflikten über21 Kymlicka (1990), S. 214. 22 Siehe Rawls (1975), S. 297. 23 Ebda., S. 290.
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wiegen. Als Paradebeispiel einer Institution, wo der Gerechtigkeit angeblich keine Priorität zukommt, führt Sandel typischerweise die Familie an: In einer mehr oder weniger idealen Familiensituation, in der spontane Zuneigung und allgemeines Wohlwollen die Beziehungen untereinander kennzeichnen, seien die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit nur zum geringen Teil gegeben. Gerechtigkeit rücke erst in den Vordergrund, wenn die Harmonie der Familie gestört sei und nicht mehr Zuwendung und Liebe, sondern Zank und Streit die Situation bestimmten.24 Das Akzentuieren von Gerechtigkeit belaufe sich in dem Zusammenhang klar auf einen moralischen Verlust. Mit der hier demonstrierten sentimentalen Sicht sozialer Institutionen erreicht Sandel schwerlich eine Widerlegung von Rawls' Thesen. Keine der von ihm angefühlten Organisationsformen ist nicht durch Interessengegensätze gekennzeichnet. Die Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Gemeinschaft ist schon für sich genommen irreführend: Institutionen können durch eine gemeinsame Zielvorstellung definiert sein, und gleichzeitig bleibt es unabdingbar, daß die in ihnen zur Verteilung gelangenden Güter gerecht distribuiert werden. Das Beispiel, daß in einer idealen Familiensituation der Stellenwert der Gerechtigkeit schwindet, übersieht, daß Gerechtigkeit eine Vorbedingung familiärer Harmonie und Eintracht darstellt. Sandels Charakterisierung der Familie fügt sich ganz in das klassisch-patriarchale Bild, wonach die Familie jenseits der Gerechtigkeit liegt - als die dem Bereich des Öffentlichen entgegengesetzte private Welt der Tugenden, des Wohlwollens, der Großzügigkeit und der Nachsicht. Hätte er eine realistischere Einschätzung der Familie, und würde er sehen, daß in der Familie neben Liebe und Zuwendung noch andere Güter verteilt werden, könnte er nicht die Familie als Beispiel zitieren, wo der Gerechtigkeit keine Priorität zukommt.25 So wie die Dinge stehen, läuft nicht die Rawlssche Annahme eines Vorrangs der Gerechtigkeit, sondern Sandels These auf einen moralischen Verlust hinaus, da seine Widerlegungsbeispiele streng genommen entwickelt er nur eines - letztlich auf der stillschweigenden Annahme basieren, daß Individuen um der „Gemeinschaftlichkeit" willen auf ihre berechtigten Ansprüche verzichten. Gegen Sandels Argumentation spricht auch ein grundsätzlicherer Punkt, der von allen Debatten um die angemessene Sicht sozialer Institutionen unberührt bleibt: Um den Vorrang des Rechten vor dem Guten begründen zu können, muß Rawls gar nicht die These voraussetzen, daß soziale Institutionen nie anders als durch Begrenztheit der Ressourcen gekennzeichnet sind.26 Rawls begründet die Priorität des Rechten einfach damit, daß sich über Grundsätze des Rechten als Grundprinzipien und Rahmenbedingungen des Zusammenlebens eine Einigkeit erzielen läßt und diese die Zustimmung aller vernünftigen Subjekte zu gewinnen vermögen, über Konzeptionen des Guten aber kein Konsens herstellbar ist.27 Das Rechte in Form von Grundsätzen einer gerechten und wohlgeordneten Gesellschaft sollte nach Rawls deshalb Priorität genießen, weil es ein Grundmerkmal einer freien Gesellschaft darstellt, den Menschen in einem gewissen Maß die Wahl ihres guten Lebens zu überlassen. Das von Sandel konstruierte Dilemma - der Primat des Rechten läßt sich nur begründen, wenn man entweder die Kantische Metaphysik übernimmt oder ihn sonst anhand der Güter24 25 26 27
Siehe Sandel (1982), S. 33. Vgl. dazu auch das nachfolgende Kap. 9. Vgl. dazu auch Gutmann (1993), S. 74f. Siehe Rawls (1975), S. 487.
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knappheit empirisch quer durch alle möglichen Institutionen nachweist - stellt sich in der Form nicht. Sandel, nicht Rawls, versteht die Priorität des Rechten als empirische These über die konkrete Verfassung gesellschaftlicher Institutionen und glaubt irrtümlich, daß Rawls' Versuch, seiner Theorie eine stärker empirische denn metaphysische Ausrichtung zu verleihen, dies verlangt. Die empirische Anreicherung der Theorie bezieht sich aber nur auf gewisse Voraussetzungen des Entscheidungsverfahrens der Ausgangsposition - Rawls nimmt an, daß die Menschen gewisse grundlegende Interessen und Bedürfnisse wie das Verlangen nach Freiheit, Selbstachtung und dem Erwerb von Eigentum teilen - und die Anwendung der Theorie auf konkrete gesellschaftliche Institutionen. Bei der Begründung des Vorrangs des Rechten vor dem Guten spielen empirische Erwägungen keinerlei Rolle. Sandel kritisiert, daß die Konzentration auf Gerechtigkeit die für das Gemeinschaftsleben maßgeblichen Tugenden wie Wohlwollen, Zuwendung, Einfühlung und Solidarität verdränge. Mit Bezug auf Rawls ist dieser Vorwurf aber zu präzisieren und differenzierter zu sehen. Rawls geht es auch um den Entwurf einer Theorie distributiver Gerechtigkeit, also um die Frage, wie gesellschaftliche Institutionen aussehen müssen, damit sie eine gerechte Verteilung gesellschaftlicher Güter gewährleisten. Für die Lösung dieser Frage betrachtet Rawls in der Tat den Altruismus als wenig hilfreich, denn altruistische Gefühle für andere würden im Fall von Interessenkonflikten keine Beurteilungsstandards bieten.28 Allerdings marginalisiert Rawls altruistische Haltungen nicht zur Gänze; er betont sogar den Stellenwert der Menschenliebe für den Zusammenhalt der wohlgeordneten, gemäß den Prinzipien der Gerechtigkeit strukturierten Gesellschaft.29 Problematisch ist nicht, daß Rawls die Tugenden des Wohlwollens in den Gesamtrahmen gerechter Institutionen einbettet. Virulent wird, so denke ich, eine andere Frage, nämlich ob Rawls im Rahmen seines doch zutiefst deontologischen Ansatzes den altruistischen Tugenden überhaupt den Raum geben kann, der ihrer auch von ihm anerkannten Bedeutsamkeit angemessen wäre. Gerechtigkeit kommt nach Sandel stets eine ausgleichende und korrigierende Funktion zu, um moralisch fragwürdige Umstände zu verbessern. Jede Berufung auf Gerechtigkeit kennzeichne bereits einen moralisch defizitären Zustand. Sandels Überlegungen sind hier offenbar von der auch bei Kritikerinnen liberaler Rechte-Ansätze beliebten These geleitet, daß Rechte und Standards der Gerechtigkeit immer einen Indikator sozial antagonistischer Verhältnisse bilden und wir nicht übersehen sollten, daß der Idealzustand eine Gesellschaft wäre, in welcher diese Begriffe überflüssig werden. Dem mag so sein: Verzichtet man aber auf eine allzu utopische Ausrichtung von Moraltheorie und politischer Theorie und konzentriert die intellektuellen Anstrengungen auf das bescheidenere Unterfangen des Entwurfs der bestmöglichen Verfassung gesellschaftlicher Verhältnisse unter den vorfindbaren empirischen Bedingungen, so empfiehlt sich ein Verzicht auf Kategorien wie Rechte und soziale Gerechtigkeit wohl kaum. 28 Ebda., S. 217-220, insbes. S. 218: „Der Altruismus ist am Ende, wenn seine vielen Komponenten in Form seiner vielen Objekte einander entgegengesetzt sind." 29 Sandel kommentiert dies nicht ohne Sarkasmus: "Even in the face of so noble a virtue as the love of mankind, the primacy of justice prevails, although the love that remains is of an oddly judicial spirit." Sandel (1982), S. 171. Sandel unterscheidet aber nicht hinlänglich zwischen Fragen des moralischen Charakters und dem Problem der aus moralischer Sicht angemessenen Gestaltung sozialer Institutionen. Die beste Voraussetzung für Tugenden wie Wohlwollen, Großzügigkeit und Gemeinsinn sind gerechte gesellschaftliche Rahmenbedingungen.
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Fassen wir zusammen: Beide Argumente, mit denen Sandel den Vorrang des Rechten vor dem Guten zu widerlegen versucht, verfehlen ihr Ziel. Das erste, welches sich auf die Ungereimtheiten des liberalen Personenbegriffs stützt, scheitert, da sich weder dessen angebliche Inkohärenzen nachweisen lassen noch Rawls auf die ihm von Sandel unterstellte Subjektkonzeption verpflichtet ist. Die normativen Implikationen von Sandels Subjektkritik, in die seine ontologischen Bedenken praktisch fließend übergehen, belaufen sich auf einen sozialen Konventionalismus, der sämtliches kritische Potential der Moraltheorie vernichtet. Der zweite Einwand überzeugt nicht, denn Rawls muß nicht einen empirischen Nachweis des Vorrangs des Rechten liefern, um den Schwierigkeiten der Kantischen Theorie zu entgehen. Auf Sandels daran anschließende Kritik, daß Gerechtigkeit Gemeinschaftswerte untergrabe, kommen wir im Zusammenhang mit der Theorie Rawls' noch zurück.
8.2
Differenzprinzip und Solidarität
Sandel verfolgt die Konsequenzen der Rawlsschen Subjektkonzeption tief in die Theorie der Gerechtigkeit hinein. Neben der im vorhergehenden Abschnitt diskutierten Kritik, daß eine Grundprämisse des Liberalismus an den Inkohärenzen des deontologischen Personenkonzepts scheitert, argumentiert er, daß dieser Begriff auch die von Rawls positiv entworfene Vorstellung von Gerechtigkeit unterlaufe. Der erste Teil von Rawls' zweitem Grundsatz der Gerechtigkeit, das sogenannte Unterschieds- oder Differenzprinzip, setze recht besehen einen Gemeinschaftsbegriff voraus, der mit Rawls' Sicht des Subjekts im Widerspruch stehe. Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit, in denen Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß zum Ausdruck bringt, lauten bekanntlich: „1. Jede Person hat ein gleiches Recht auf das umfassendste System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist. 2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind zulässig, wenn sie (a) zum größten zu erwartenden Vorteil für die am wenigsten Begünstigten, und (b) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen. "30 Das Differenz- oder Unterschiedsprinzip, also der Grundsatz 2a), besagt in seiner detaillierteren Ausformulierung, daß soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten durch institutionelle Vorkehrungen und Einrichtungen so zu regeln sind, daß sie die Aussichten der am schlechtesten gestellten Personen verbessern. Das Differenzprinzip, das sowohl ein Teilungswie ein Umverteilungsprinzip ist, artikuliert Rawls' Auffassung von demokratischer Gleichheit als einer Form der Verteilung, die er von einer Distribution nach den Gesichtspunkten der „natürlichen Freiheit" und der „liberalen Gleichheit" abgrenzt.31 Nach Rawls führen weder die natürliche Freiheit noch die liberale Gleichheit zu einer gerechten Sozialordnung, da sie die Verteilung sozialer und ökonomischer Güter von zufälligen und moralisch betrachtet 30 Rawls (1992b), S. 60 (Kursivsetzung im Original). Hier wird die Formulierung der Grundsätze, wie sie sich in einer späteren Arbeit von Rawls findet, zitiert, da sich in der Theorie der Gerechtigkeit unterschiedliche Fassungen finden, welche die sukzessive Entwicklung von Rawls' Position reflektieren. Vgl. etwa Rawls (1975), S. 81 und S. 336. 31 Siehe Rawls (1975), S. 92-104. Rawls' Liberalisms ist also einer mit „sozialem Antlitz", der mit libertären Positionen nichts zu tun hat.
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willkürlichen Faktoren abhängig machen. In einem auf dem Prinzip natürlicher Freiheit basierenden Gesellschaftsgefüge, das den Individuen nur formal die gleichen Chancen einräumt, hängen die Aussichten der Gesellschaftsmitglieder von der Anfangsverteilung natürlicher Fähigkeiten und somit von einer „Laune der Natur" ab.32 Ein am Grundsatz liberaler Gleichheit orientiertes System geht davon aus, daß Menschen aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht an ihren Möglichkeiten und Aufstiegschancen gehindert werden sollten, und sucht über die Schaffung bestimmter institutioneller Rahmenbedingungen - etwa den für alle Gesellschaftsschichten offenen Zugang zu Bildung - einen gewissen Ausgleich sozialer und kultureller Ungleichheiten. Abgesehen von dem Bemühen um eine Garantie sozialer Chancengleichheit funktioniert die Verteilung auf meritokratischer Basis: Individuen kommen in den Genuß jener Güter, die sie aufgrund ihrer Fähigkeiten und Begabungen „verdienen" und die ihnen nach ihren Verdiensten zustehen. Als gerecht kann eine solche Struktur nach Rawls nicht gelten, da sie nur den Einfluß sozialer, nicht aber natürlicher Kontingenzen zurückdrängt: Natürliche Fähigkeiten sind immer noch ein Kriterium der Vermögensverteilung. Vom moralischen Gesichtspunkt her ist nur ein System befriedigend, in dem die gesellschaftlichen und natürlichen Kontingenzen insgesamt beseitigt sind, und dies ist laut Rawls der Fall, wenn die aus den besseren Aussichten einer Person aufgrund ihrer natürlichen Begabungen und bevorzugten sozialen Stellung resultierenden Vorteile auch den weniger begünstigten Gesellschaftsmitgliedern zugute kommen: „Wer von der Natur begünstigt ist, sei es wer wolle, der darf sich der Früchte nur so weit erfreuen, wie das auch die Lage der Benachteiligten verbessert." 33 Dem Differenzprinzip liegt die Vorstellung zugrunde, daß Personen nicht automatisch einen Anspruch auf die ihren zufälligen Talenten korrespondierenden Vorteile haben; die Verteilung der sich aus den natürlichen Begabungen ergebenden Vorteile und Gewinne sei eine „Gemeinschaftssache". Talente werden in gewisser Weise zum Allgemeinbesitz, die daraus resultierenden sozialen und wirtschaftlichen Begünstigungen müssen nach Rawls allen zukommen - vor allem aber jenen, die nicht das Glück hatten, von der Natur bevorzugt zu werden. Rawls macht geltend, daß zwar Unterschiede an Begabungen und Fähigkeiten unvermeidlich sind, nicht aber Ungerechtigkeiten der Form, daß nur die „Günstlinge der Natur" die entsprechenden gesellschaftlichen Auszahlungen genießen dürfen. Gerecht sei nur ein Design gesellschaftlicher Institutionen, das die natürlichen Unterschiede nicht auf soziale und wirtschaftliche Benachteiligungen umlege. Das Differenzprinzip ist für Rawls ein Teilungsprinzip, insofern die Mitglieder einer gerechten Gesellschaft bereit sind, das Schicksal die zufällige Ausstattung mit Begabungen - mit anderen zu teilen und ein Prinzip der Verteilung insoweit, als es vorsieht, daß alle an den allgemeinen gesellschaftlichen Gewinnen und Erträgen partizipieren. Das Unterschiedsprinzip setzt, wie Sandel meint, eine Form der Gemeinschaft voraus, die über die liberal-individualistischen Prämissen von Rawls' Ansatz hinausgeht. Gegen die dem Differenzprinzip zugrundeliegende Annahme, daß natürliche Gaben ein Gemeinschaftsgut (common asset) sind, ließe sich einwenden, daß sie den Unterschied zwischen Personen verwische und einige Personen als Mittel für die Sicherung des Wohlergehens anderer betrachte, womit ein Grundprinzip des deontologischen Liberalismus - das Prinzip gegenseitiger Ach32 Ebda., S. 93. 33 Ebda., S. 122.
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tung - verletzt werde.34 Rawls steht nach Sandel folgender Ausweg offen: Er könnte versuchen, der erwähnten Kritik mit dem Verweis auf seine spezifisch deontologische Subjektkonzeption zu begegnen und zu argumentieren, daß natürlich nicht Personen als Mittel benutzt werden, sondern bestenfalls Begabungen und damit verknüpfte soziale und wirtschaftliche Güter. Anders gesagt: Da Rawls ja eine scharfe Grenze zwischen der Person und ihren Attributen, worunter Zielvorstellungen wie auch Begabungen und Talente fallen, zieht, und die Person gleichsam „hinter ihren Attributen" liegt, wird der Unterschied zwischen Personen durch die Idee des „gemeinschaftlichen Besitzes" von Talenten nicht aufgehoben und Instrumentalisierung ausgeschlossen. Nun führt, wie Sandel betont, diese Replik zu jenem Problem, das uns als Sandels Standardargument gegen Rawls schon bestens bekannt ist: Rawls lege sich damit neuerlich auf die inkohärente Konzeption eines von seinen Zielen und Zwecken abgespaltenen Subjekts fest. Gemäß Sandel kann Rawls das Kippen der Person in ein radikal situiertes, ein kontextuell und kollektiv aufgesogenes und als Individuum nicht mehr auszumachendes Subjekt nur um den Preis vermeiden, daß er an der Konstruktion eines "radically disembodied subject" festhält - jenem Kantischen Bild der Person, dem Rawls ja entkommen wolle.35 Die einzige Möglichkeit, am Differenzprinzip festzuhalten, ohne wieder in eine unplausible Subjektmetaphysik zurückzufallen, besteht, so Sandel, in der Annahme eines „gemeinsamen Subjekts", einer intersubjektiven Konzeption des Selbst. Wenn man hinterfrage, in welchem Sinn die anderen Individuen als „andere" gelten und anerkenne, daß die angemessene Beschreibung des Selbst "may embrace more than a Single empirically-individuated human being" 36 und das Selbst sich nur mit Bezug auf die Gemeinschaft definiere, dann sei die Idee, daß andere an meinen Talenten teilhaben und diese Gemeinschaftssache sind, nicht weiter problematisch. Dieser erweiterten Subjektvorstellung korrespondiert aber nach Sandel die Idee der „konstitutiven Gemeinschaft"; die Idee, daß das Selbst von seiner lebensweltlichen Situierung in einem Gesamtkontext geteilter Begriffe, Praktiken und Überzeugungen so tief durchdrungen ist, daß personale Identität gar nicht anders als gemeinschaftlich konstituiert begriffen werden kann. 37 Dieser konstitutive Gemeinschaftsbegriff sei aber mit den individualistischen Annahmen der Rawlsschen Position nicht verträglich. Manche Philosophinnen und Philosophen haben diesen Einwand dahingehend gelesen, daß Rawls' Liberalismus keinen Platz biete für die Vorstellung solidarischer Gemeinschaftlichkeit und ihm eine gewisse Berechtigung zugestanden.38 Rawls' Gesellschaftskonzeption 34 Siehe Sandel (1982), S. 79-81; vgl. auch Sandel (1993), S. 28. Sandel greift hier eine Kritik von Robert Nozick an Rawls' Theorie auf. Vgl. Nozick (1974), S. 228-231. Ein im Prinzip ähnliches Argument entwickelt Sandel mit Bezug auf Dworkins Begründung von Maßnahmen positiver Diskriminierung. Dworkin rechtfertigt diese Maßnahmen mit dem Hinweis auf das „Ideal einer gerechten Gesellschaft". Auch Dworkin müsse, wolle er nicht in einen problematischen Utilitarismus zurückfallen, welcher die Unterschiede zwischen Personen nicht ernst nimmt, den Begriff einer konstitutiven Gemeinschaft voraussetzen; einer Gemeinschaft, die unsere Ziele und Werte durch die gemeinschaftlich definierte Vorstellung des Guten bestimmt. Siehe Sandel (1982), S. 135-147. 35 36 37 38
Siehe Sandel (1982), S. 79. Ebda., S. 80. Ebda., S. 63f. und S. 149-152. Vgl. etwa Koller (1993b), S. 99-102 und S. 105f. Koller differenziert zwischen drei Formen der Gemeinschaft, der Besitz-, der Kooperations- und der Solidaritätsgemeinschaft. In der Besitzgemeinschaft versuchen Menschen, einen gemeinsamen Besitzanspruch an einer Gütermenge zu regeln. Im Fall von Kooperationsgemein-
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orientiere sich zu ausschließlich am Muster einer Kooperationsgemeinschaft und vernachlässige den Begriff der Solidaritätsgemeinschaft: Die Individuen arbeiten zusammen, weil dies in ihrem eigenen Interesse liegt und sie sich davon Vorteile versprechen. Sie sind sich darüber im klaren, daß sie nur durch gemeinsame Anstrengungen einen gesamtgesellschaftlichen Güterertrag erreichen und sich so auch ihren eigenen Nutzen und Gewinn sichern können. Gemeinsame Ziele verfolgen sie aus Gründen der individuellen Interessenwahrung. Diese Sicht gesellschaftlicher Beziehungen biete keinen Raum für die Kategorie sozialer Solidarität im Sinne eines allgemeinen und gemeinschaftlichen Interesses am Schicksal und Wohlergehen anderer, das im Rahmen moderner Gesellschaften mit ihrer Tendenz zur Individualisierung ein besonderes Desiderat darstellt. Da Rawls den Begriff distributiver Gerechtigkeit nur auf die Verteilung der Vorteile und Erträge der gesellschaftlichen Zusammenarbeit eingrenze, verpflichte Rawls' Theorie die Gesellschaftsmitglieder nicht zur Hilfeleistung gegenüber all jenen, deren Einsatz in einem interessendefinierten Kooperationsspiel notgedrungen geringer ausfällt und die auf die Unterstützung anderer angewiesen bleiben.39 Das Differenzprinzip setze tatsächlich ein Maß an sozialer Solidarität voraus, das in Rawls' Theorie nicht gegeben sei. Formen der Unterstützung für Hilfsbedürftige und Schwache würden im Rahmen einer zum wechselseitigen Vorteil kooperierenden Gesellschaft keinen Platz finden. 40 Nun betrachtet aber Rawls die Idee einer sozialen Gemeinschaft gerade als integrales Element seiner Theorie der Gerechtigkeit.41 Die soziale Gemeinschaft erfüllt alle Bedingungen einer Solidaritätsgemeinschaft: Die Menschen sind durch Zuneigung, Freundschaft und ein Interesse an ihrem gegenseitigen Wohlergehen miteinander verbunden, sie empfinden die Verschiedenheiten der Menschen, was ihre individuellen Talente anbelangt, als Bereicherung und erfreuen sich an den unterschiedlichen Fähigkeiten der einzelnen, welche „zum Wohle aller zusammenwirken".42 Eine im Sinne der Vorstellung der Gerechtigkeit als Fairneß wohlgeordnete Gesellschaft weist laut Rawls alle Merkmale einer sozialen Gemeinschaft auf. Er nimmt an, daß sich die Beziehungen der Menschen, sofern sich diese an den Grundsätzen des Rechten orientieren und die Gestaltung ihrer Sozialordnung an den Prinzipien der Gerechtigkeit ausrichten, automatisch nach dem Muster einer Solidargemeinschaft entwickeln: „Die Anerkennung der Grundsätze des Rechten und der Gerechtigkeit knüpft die Bande der Freundschaft zwischen den Bürgern und schafft die Grundlage der Gemeinsamkeit bei allen verbleibenden Gegensätzen." 43 Das gemeinsame Gute werde durch die Schaffung gerechter Institutionen gefördert und gesichert, und die Menschen realisierten als Mitglieder der sozialen Gemeinschaft, sofern sie sich individuell um die Einhaltung der Prinzipien der Gerechtigkeit bemühen, „ihre Natur als moralische Subjekte und damit ihr persönliches und gemeinschaftliches Wohl". 44
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Schäften arbeiten Menschen zusammen, um in den Genuß von Gütern zu kommen, die sie nur durch Zusammenarbeit erreichen können, und für Solidaritätsgemeinschaften ist ein Interesse am gegenseitigen Wohlergehen charakteristisch, das die Menschen verbindet. Siehe Koller (1993b), S. 99ff. Ebda., S. 101. Siehe Rawls (1975), Abschnitt 79, S. 565-574. Ebda., S. 571. Ebda., S. 562. Ebda., S. 573.
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Bedeutet dies, daß recht besehen alle Einwände von Seiten der Kommunitaristen an Rawls vorbeigehen und die kommunitaristische Kritik nicht einmal in der Minimalvariante, daß Rawls den Begriff der Solidarität vernachlässige, haltbar ist? Rawls' um die Institution der sozialen Gemeinschaft erweiterte Variante des Liberalismus scheint doch der Grundidee des Kommunitarismus Rechnung zu tragen, daß Gesellschaften nicht allein durch individuelle Rechte, sondern ebenso durch einen gemeinschaftlichen Hintergrund von Überzeugungen zusammengehalten werden. Ist damit der Wind aus allen kommunitaristischen Segeln genommen? Sandel ist sich dessen bewußt, daß Rawls Gemeinschaftsakzentuierungen ins Spiel bringt, und entwickelt darum seine Kritik eine Stufe weiter zu der These, daß Rawls' soziale Gemeinschaft nicht dem kommunitaristischen Begriff der konstitutiven Gemeinschaft entspreche. Aber in welcher Form ist hier ein Unterschied auszumachen? Die dargelegte Konzeption sozialer Gemeinschaft, als deren paradigmatische Realisierungen Rawls explizit ja auch Familien und Freundschaftsgruppen anführt 45 , entspricht doch ganz dem kommunitaristischen Gemeinschaftskonzept einer durch gemeinsame Tätigkeiten und eine Vorstellung des Guten definierten Sozietät. Tatsächlich zeigt Sandel für sich genommen gar keine attributiven Unterschiede zwischen der sozialen und der konstitutiven Gemeinschaft auf. Er zieht die Trennlinie zwischen den beiden Gemeinschaftsbegriffen, indem er wieder den Begriff des Subjekts ins Spiel bringt: Eine konstitutive Gemeinschaft durchdringe die Identität des Subjekts stärker als dies Rawls' soziale Gemeinschaft tue. Das kommunitaristische Postulat, daß ein Gemeinschaftssinn die Gesellschaftsmitglieder verbinde, beläuft sich nach Sandel auf mehr, als daß die Individuen solidarische Empfindungen hegen und gemeinschaftsbezogene Ziele verfolgen. Sie besage, daß die Identität der Individuen zum Teil durch jene Gemeinschaften definiert wird, denen sie zugehören.46 Genau dies sei bei Rawls nicht der Fall. Rawls räume zwar ein, daß das allgemeine Gut der Gemeinschaft Teil der Ziele und Werte des Selbst sei, es spiele aber keine identitätsstiftende Rolle, da dies mit Rawls' Konzeption des Subjekts als eines seinen Zielen vorgeordneten Selbst unverträglich wäre: "For while Rawls allows that the good of Community can be internal to the extent of engaging the aims and values of the seif, it cannot be so thoroughgoing as to reach beyond the motivations to the subject of motivations. The good of Community cannot reach that far, for to do so would be to violate the priority of the seif over its ends." 47 Doch Sandel kann hier nur deshalb eine Differenz ausmachen, weil er eine für seine Argumentation gegen Rawls entscheidende und mit zirkularitätsverdächtiger Regelmäßigkeit wiederkehrende Annahme als gleichsam sakrosankt voraussetzt, daß nämlich Rawls ausweglos auf die Vorstellung eines von seinen Zielen und Zwecken gelösten Selbst festgeschrieben ist. Wie ich im vorhergehenden Abschnitt argumentiert habe, vertritt Rawls aber weder die Subjektkonzeption, die Sandel ihm unterstellt, noch verpflichtet ihn eine seiner philosophischen Annahmen auf die Konstruktion eines von allen Interessen und Motiven gelösten Ich. Somit schließt nichts aus, daß das Selbstverständnis der Rawlsschen Individuen sich auch über ihre gemeinschaftlichen Zugehörigkeiten definiert und der sozialen Gemeinschaft eine identitätsbestimmende Funktion zukommt. Wenn aber der von Sandel behauptete Unterschied auf der 45 Ebda., S. 570. 46 Siehe Sandel (1982), S. 150. 47 Ebda., S. 149.
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personentheoretischen Ebene nicht auszumachen ist, dann bricht auch die Grenzziehung zwischen Rawls' sozialer und Sandels konstitutiver Gemeinschaft zusammen, und die Differenzen von Rawls' Version des Liberalismus und dem Kommunitarismus werden insgesamt schwimmend. Dennoch meine ich, daß die Rawlssche Position an einem Defizit leidet. Das Problem liegt in jenen grundlegenden Werten, die Rawls als allgemein anerkannte Güter in Form seiner schwachen Theorie des Guten voraussetzt und in seinem kantischen Verständnis der Tugenden. Die gemeinschaftliche Dimension von Rawls' liberaler Theorie, in der die Elemente der Solidarität, Zuwendung und Anteilnahme am Schicksal anderer zum Tragen kommen, bleibt ein bloßes Anhängsel seines Gesellschaftsentwurfs und ist nicht mehr als ein willkürlich aufgesetztes Konstrukt, da Rawls nicht die philosophischen Voraussetzungen schafft, um die soziale Gemeinschaft als integralen Bestandteil seiner Theorie ausgeben zu können. Insofern scheint die Kritik, daß Rawls soziale Solidarität und Gemeinschaftssinn vernachlässigt und Gesellschaften auf interessenorientierte Kooperationsgefüge reduziert, berechtigt. Geht man davon aus, daß sich der Streit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus letztlich auf die Frage eingrenzt, welchem gemeinsamen Wertehorizont liberal-demokratische Gesellschaften in welchem Maße verpflichtet sind, so zielt die kommunitaristische Kritik recht besehen wohl auf diese Schwachstelle, wenn auch Sandels Argumente durch ihre stark metaphysisch-ontologische Akzentuierung zu einem Gutteil in eine andere Richtung weisen. Die Schwierigkeit liegt aber nicht in einer metaphysischen Fehlzeichnung der Person, sondern darin, daß Rawls nicht für die theoretischen Grundlagen sorgt, damit seine an den Grundsätzen des Rechten orientierten Individuen auch jene Tugenden entwickeln, die notwendig werden, damit die von ihnen gelebte Form sozialer Beziehungen über ein interessengebundenes Kooperationsspiel hinausreicht. Um das Problem zu verdeutlichen, soll im folgenden Rawls' Theorie des Guten etwas genauer untersucht werden.
8.3
Eine instrumentelle Theorie des Guten?
Charles Taylor hat die Ansicht vertreten, daß in der Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse zwei Problemstellungen miteinander vermischt wurden, die man auseinanderhalten sollte: nämlich ontologische Fragen und Fragen der Parteinahme. Erstere betreffen „die Faktoren, die man als bestimmend ansieht, um das soziale Leben zu erklären", während sich Fragen der Parteinahme auf die möglichen Interpretationen des moralischen Standpunkts beziehen sowie das Problem, ob das Gewicht einer Moraltheorie oder politischen Theorie auf individuellen Rechten und Freiheiten oder auf dem kollektiven Guten und dem Gemeinschaftsleben liegen sollte.48 Auf ontologischer Ebene ist die Auseinandersetzung, wie Taylor mit Recht betont, inzwischen zugunsten einer liberalen Position entschieden. Interessanter und offener ist die Kontroverse in der zweiten Dimension - ob die liberale Position eine befriedigende Erklärung des moralischen Standpunkts zu liefern vermag. Der kommunitaristische Einwand lautet, daß Moral nicht allein über eine Theorie des Rechten definiert werden kann, sondern notwendig
48 Siehe Taylor (1993), S. 103f.
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Michael Sandels Kritik am
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auch eine Theorie des Guten umfaßt. Desgleichen sei die Formulierang von Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit nicht möglich, ohne gewisse Annahmen über das Gute vorauszusetzen.49 Nun ist dies aber eine Sicht, die Rawls durchaus teilt, bedenkt man, daß er den dritten Teil seiner Theorie der Gerechtigkeit dem Versuch widmet, eine Konzeption des Guten zu entwickeln. Die Differenz zwischen den Kommunitaristen und Rawls kann sich also nur auf unterschiedliche Definitionen des Guten beziehen. Sandel kritisiert, daß Rawls eine aus moralischer Sicht unzulängliche Theorie des Guten vertrete. Rawls' Prinzipien der Gerechtigkeit sind das Ergebnis eines vom rationalen Selbstinteresse der Individuen geleiteten Entscheidungsverfahren im Urzustand. Der Überlegungsprozeß unterliegt dabei gewissen Beschränkungen, welche die Grundbedingungen des moralischen Standpunkts zum Ausdruck bringen. Diese Einschränkungen erstrecken sich, so Sandels Einwand, aber nicht auf die Theorie des Guten. Das Gute, wie Rawls es definiere, sei aus moralischer Sicht beliebig. Denn im Rahmen des von den Prinzipien der Gerechtigkeit abgesteckten Spielraums stehe es Individuen frei, ihre persönliche, völlig von den jeweiligen zufälligen Begehren bestimmte Vorstellung des guten Lebens zu verfolgen. Mit anderen Worten: Da Rawls das Gute mit der Realisierung jenes rationalen Lebensplans gleichsetze, der am besten die Befriedigung der unmittelbaren Wünsche und Begehren einer Person gewährleiste, reduziere sich bei ihm das Gute auf ein "matching of pre-existing desires, undifferentiated as to worth, with the best available means of satisfying them". 50 Rawls' Definition des Guten verfehle damit bereits im Ansatz die Ebene des Moralischen. Wenn das Gute nicht mehr ist als das Produkt beliebiger subjektiver Präferenzen, so erfüllt es nach Sandel nicht seine aus moralischer Perspektive wesentliche Funktion: nämlich einen Maßstab moralischer Bewertung darzustellen. Das Gute bei Rawls sei so zufällig und willkürlich wie die Wünsche, von denen es ausgeht und um nichts wertvoller als diese Begehren. Das Gute, darin verortet Sandel die ethische Bedeutung dieses Begriffs, sollte jedoch als Ausdruck unserer grundlegenden Werte und übergeordneten Zwecke ein Regulativ der jeweiligen Interessen und Bedürfnisse der Individuen darstellen.51 Rawls' Theorie des Guten kennzeichnet nach Sandel eine massiv utilitaristische Schlagseite - das Gute für Individuen bestehe in nichts anderem als deren Bestreben, alle ihre Wünsche auf bestmögliche Weise zu realisieren und einfach jenen Lebensplan zu wählen, „der den Erwartungswert des Nutzens maximiert".52 Dieser auf die Idee einer optimalen persönlichen Interessenbefriedigung beschränkte Begriff des Guten biete weder für das Konzept einer öffentlichen noch das einer privaten Moral die geeignete Basis. Rawls' Erklärung des Guten fügt sich, wie Sandel betont, problemlos in die Struktur seiner Gerechtigkeitstheorie, indem sie das Postulat des Primats des Rechten vor dem Guten
49 50 51 52
Vgl. Taylor (1988c). Sandel (1982), S. 178. Ebda., S. 165. Rawls (1975), S. 455; vgl. dazu Sandel (1982), S. 166. Sandel sitzt hier jedoch einem Mißverständnis auf. Das Problem ist nicht der Utilitarismus - von einem solchen ist Rawls weit entfernt. Die Schwierigkeit liegt darin, daß Rawls' optimierende Rationalitätskonzeption, die er voraussetzt, um die Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze entscheidungstheoretisch absichern zu können, hier durchbricht. Rawls versucht - dies ist das Charakteristikum seiner Theorie - , durch entsprechende Einschränkungen die mit der Moral schwerlich zu vereinbarenden Auswirkungen dieses Rationalitätsbegriffs auf seine Konzeption des Guten abzufangen.
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lediglich variiert, keineswegs aber in Frage stellt. Kennzeichnend für den Liberalismus ist wie erwähnt die weitgehende Neutralität gegenüber unterschiedlichen Konzeptionen des guten Lebens. Eine Theorie des Guten, welche nur auf bestimmten formalen Bedingungen der allgemeinen Vernünftigkeit basiert und keinerlei inhaltlich-substantielle Annahmen trifft, scheint Individuen genau jenen für den Liberalismus unabdingbaren Freiraum zu eröffnen, den die Kommunitaristen gerade als Verlust von Bindungen und gemeinschaftlichen Wertüberzeugungen anprangern und in dem die Vertreter einer liberalen Position einen maßgeblichen Wert erblicken: nämlich den der individuellen Freiheit in Form größtmöglicher Autonomie in der Wahl des eigenen Lebensplans und der persönlichen Lebensform. Wenn sich das Gute aber auf nicht mehr beläuft als die unhinterfragte Erfüllung gegebener Präferenzen, dann bedarf es, wie Sandel meint, keiner besonderen Anstrengungen, um zu begründen, warum dem Rechten Priorität zukommt. Rawls' subjektivistisch-instrumentelle Konzeption des Guten sei nicht nur für sich betrachtet unbefriedigend, sondern wirke sich auch negativ auf den moralischen Stellenwert der Gerechtigkeit aus, sofern Gerechtigkeit nun bloß der Absicherung keinerlei moralischer Überprüfung unterworfener subjektiver Präferenzen und Wertvorstellungen diene: "But in fact the morally diminished status of the good must inevitably call into question the status of justice as well. For once it is conceded that our conceptions of the good are morally arbitrary, it becomes difficult to see why the highest of all (social) virtues should be the one that enables us to pursue these arbitrary conceptions 'as fully as circumstances permit'." 53 Rawls' instrumentelle Auffassung des Guten verfehlt nach Sandel einen wesentlichen Teil jener Aufgaben, die eine Theorie des Guten erfüllen sollte. Sie biete keinen Ansatzpunkt für eine Reflexion über die geteilten Wertüberzeugungen und das „gemeinsame Gute". Eine Theorie der Gesellschaft, welche dem Guten nur noch in Rawls' individualistischer Variante Raum gebe, blende alle gemeinschaftlichen Bezüge aus und übersehe die identitätskonstitutive Funktion von Gemeinschaften. Die Schwierigkeit, ausgehend von dieser Theorie des Guten Fragen des moralischen Charakters zu analysieren, erläutert Sandel am Beispiel des Begriffs der Freundschaft. Werde das Gute mit der Wahl unmittelbarer subjektiver Wünsche identifiziert, bleibe das Wissen um das für eine Person Gute streng genommen nur diesem Individuum vorbehalten. Eine Bedingung von Freundschaft ist aber, daß einem das Wohlergehen einer Freundin oder eines Freundes nicht gleichgültig ist. Freundschaft bedeutet auch, in Situationen der Unsicherheit mit anderen über die eigene Identität und über mögliche Handlungsoptionen nachzudenken. Dies setzt aber, so Sandel, unsere Zugänglichkeit für andere im Sinne eines „geteilten Selbstverstehens" und eine Transparenz des für uns Guten voraus. Wenn das Gute einen strikt privaten Charakter in Form subjektiver Vorlieben annimmt und somit anderen streng genommen verborgen bleibt, so verunmögliche dies die für Freundschaften charakteristische Anteilnahme am Wohl anderer. Die kommunitaristische These eines gemeinschaftlich konstituierten Charakters, die davon ausgeht, daß Personen eine Geschichte mit anderen teilen, entgehe diesen Schwierigkeiten.54 Sandel scheint freilich einen Teil von Rawls' Ausführungen über das Gute, wie sie sich im dritten Teil seiner Theorie der Gerechtigkeit finden, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Denn 53 Sandel (1982), S. 168. 54 Ebda., S. 181.
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Rawls versucht sehr wohl, das Gute in Form des individuellen Lebensplans mit dem Begriff des moralischen Werts zu verknüpfen. Die Idee eines rationalen Lebensplans bildet zudem nur ein Element von Rawls' Theorie des Guten; diese beinhaltet noch die Konzeption der Grundgüter, die Tugenden und auch die Vorstellung des allgemeinen Guten, wie es sich in Form einer wohlgeordneten Gesellschaft ausdrückt. Wie Rawls in einer späteren Arbeit klarstellt, macht seine Gerechtigkeitstheorie von fünf verschiedenen Formen des Guten Gebrauch, nämlich (1) der Idee des Guten als des Rationalen, (2) der Idee der Grundgüter, (3) der Idee der zulässigen umfassenden Konzeptionen des Guten, (4) der Idee der politischen Tugenden und (5) der Idee des Guten einer wohlgeordneten Gesellschaft. 55 Sandels Kritik richtet sich vorwiegend gegen das Gute in der ersten Fassung. Nun betont Rawls selbst, daß das Gute als das Rationale die Basis bildet, auf der die anderen Ideen des Guten aufbauen. 56 Die Frage ist also, ob Rawls das Gute rein auf einer instrumentellen Stufe ansiedelt und wie weit sich der Umstand, daß er bei der Idee des rationalen Lebensplans ansetzt, auf die anderen Begriffe des Guten auswirkt. Werfen wir zunächst einen genaueren Blick auf die Art, wie Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit seine Thesen über das Gute aufbaut. Bei seiner Entwicklung einer Theorie des Guten verknüpft Rawls zunächst eine funktionale Interpretation des Begriffs „gut" mit dem Begriff eines rationalen Lebensplans. Die funktionale Interpretation bezieht sich auf die Eigenschaften, die man an einem Gegenstand mit Hinblick auf seine verschiedenen Verwendungsweisen wünscht: A ist gut, wenn A die Eigenschaften aufweist, die für die üblichen Arten seiner Verwendung notwendig sind. Ausgehend von dieser Grundvorstellung gewinnt Rawls eine erste Bestimmung des für Personen Guten: A ist gut für Person X, wenn A die Eigenschaften besitzt, die Person X in Anbetracht ihrer Interessen und Ziele an A wünschen wird. 57 Ein nächster Schritt besteht in der Einengung der Interessen und Ziele. Nicht alle, sondern nur jene Interessen und Ziele, die als vernünftig gelten können, finden im Rahmen einer Theorie des Guten Platz. Um diese Abgrenzung leisten zu können, bringt Rawls den Begriff des rationalen Lebensplanes ins Spiel, der bestimmt, was für eine Person gut ist. Der Lebensplan eines Menschen ist rational, „wenn er (1) mit den Grundsätzen der vernünftigen Entscheidung, angewandt auf alle maßgebenden Eigenschaften seiner Situation, übereinstimmt und (2) von diesen Plänen deijenige ist, den dieser Mensch unter vollem Einsatz seiner abwägenden Vernunft wählen würde, d. h. bei vollständiger Kenntnis der wesentlichen Tatsachen und nach sorgfältiger Erwägung der Folgen". 58 Die Grundsätze der vernünftigen Entscheidung schaffen eine erste Begrenzung der möglichen Lebensplanoptionen, und aus dieser Klasse wird dann mit Hilfe der abwägenden Vernunft der für die Person rationale Plan gewählt. Die Elemente der vernünftigen Entscheidung umfassen den Grundsatz wirksamer Mittel (ein gewähltes Ziel ist mit dem geringsten Aufwand an Mitteln zu erreichen), den Grundsatz der Einschließung (jener Plan ist zu wählen, der die Ziele anderer möglicher Pläne umfaßt, darüber aber hinausgeht und zusätzliche Ziele umschließt) und den Grundsatz größerer Wahrscheinlichkeit (den Plan mit den größten Erfolgsaussichten realisieren). Unter „abwägender Vernunft" versteht Rawls einen komplexen Reflexionsprozeß, bei dem im Lichte der Kenntnis der einschlägigen Tatsachen überlegt 55 Siehe Rawls (1992h), S. 364. 56 Ebda., S. 368. 57 Siehe Rawls (1975), S. 437ff. 58 Ebda., S. 446.
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wird, welcher Plan am besten unsere Bedürfnisse erfüllt. Rawls kommt somit zu folgender Festlegung des Guten für Personen: „Die Antwort auf die Frage, ob etwas unserem Wohle dient, hängt davon ab, wie gut es in einen Plan paßt, der durch die abwägende Vernunft gewählt werden würde."59 Aus der so erreichten Definition des Guten als des Rationalen läßt sich nach Rawls mit Hilfe allgemeiner Tatsachen über die menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse eine Liste von Grundgütern ableiten. Diese Grundgüter sind: Freiheit und Chancen, Vermögen und Einkommen, Selbstachtung und festes Vertrauen in den eigenen Wert.60 Rawls nimmt an, daß alle Menschen, unabhängig davon, was sie im einzelnen in ihrem Leben erstreben, auf jeden Fall diese Grundgüter wollen, die unabdingbare Voraussetzungen „für die Aufstellung und Ausführung eines vernünftigen Lebensplanes" darstellen.61 Die schwache Theorie des Guten in Form der Grundgüterkonzeption wird bei Rawls bereits im Urzustand vorausgesetzt. Rawls leitet bekanntlich folgende Überlegung: Will man den Vorrang des Rechten vor dem Guten nicht unterlaufen und sich beim Entwurf einer den Standards der Gerechtigkeit angemessenen Gesellschaftsstruktur nicht von vornherein kaum einlösbare Begründungslasten auferlegen, so darf man bei der Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze nicht bereits von einer umfassenden Theorie des Guten Gebrauch machen. Gleichwohl müssen bestimmte Annahmen über das, was ein Gut darstellt, getroffen werden, um überhaupt Prinzipien der Gerechtigkeit formulieren zu können. Diesen Anforderungen glaubt Rawls zu genügen, indem er das Gute im Urzustand auf jene grundlegenden Güter beschränkt, von denen seiner Meinung nach „allgemein einleuchtet", daß Menschen sie im Rahmen eines rationalen Lebensplans wollen. Rawls' Strategie geht also dahin, einen nicht kontroversiellen Kernbereich des Guten zu isolieren, auf dem die Formulierung der Gerechtigkeitsprinzipien basiert. Abgesehen davon ist es Individuen freigestellt zu entscheiden, worin sie ein Gut erblicken. Die mit dem Vorrang des Rechten vor dem Guten verknüpfte Neutralitätsthese, die oft dahingehend gelesen wird, daß der Liberalismus gegenüber unterschiedlichen Konzeptionen des Guten schlechthin indifferent ist und alles zuläßt, verlangt also ein detaillierteres Verständnis: Die Neutralität bezieht sich nur auf die über die schwache Theorie hinausreichenden Vorstellungen des Guten. Hinsichtlich einer universalistisch zu deutenden Kernvorstellung des Guten trifft der Rawlssche Liberalismus konkrete substantielle Voraussetzungen. In einem nächsten Schritt versucht Rawls, seine über rationale Lebenspläne definierte Theorie des Guten auf das Problem des moralischen Werts und die Vorstellung des moralisch guten Menschen auszudehnen.62 Rawls greift explizit den Einwand auf - womit er gewissermaßen schon Sandels Jahre später formulierte Kritik antizipiert - , daß seiner Theorie des Guten eine instrumenteile oder ökonomische Werttheorie zugrundeliegt, welche nichts mit der Vorstellung moralischer Werte zu tun habe. Dieses Problem stellt sich nach Rawls aber nicht, wenn man die schwache Theorie, also die Liste der Grundgüter, nicht unmittelbar auf moralische Werte umlegt, sondern erst über den Urzustand den Weg zu einer vollständigeren Theorie des Guten sucht, welche auch die Ebene moralischer Werte berührt. 59 60 61 62
Ebda., S. 460. Ebda., S. 434. Ebda., S. 472. Ebda., S. 473ff.
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Rawls bezieht im folgenden den Begriff des „moralischen Werts" ausschließlich auf den Begriff des „guten Menschen" und den der Tugenden. Als „gut" kann eine Person gelten, die sich durch jene Tugenden auszeichnet, hinsichtlich welcher die Subjekte im Urzustand guten Grund haben zu wollen, daß sie ihren Mitmenschen zukommen. 63 Die Tugenden, auf welche die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft Wert legen, sind die moralischen Gesinnungen, welche die Menschen zum Handeln in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Gerechtigkeit motivieren. Rawls meint, daß ihm mit dieser Erklärung des Guten der Balanceakt zwischen substantieller Zurückhaltung und ethischer Aussagekraft gelungen ist. Betrachtet man diese Erklärungen von Rawls, so verliert Sandels Kritik, daß Rawls das Gute auf die zufälligen und willkürlichen Wünsche von Individuen relativiere, an Boden. Einmal versucht Rawls über formale Standards eine deutliche Einschränkung der Bedürfnisse: Nicht alle sind zugelassen, sondern nur jene, die sich in die Struktur eines vernünftigen Lebensplanes fügen. Daß Rawls überhaupt die Interessen und Bedürfnisse von Individuen als Ausgangspunkt nimmt, kann ihm schlecht zum Vorwurf gemacht werden. Denn damit trägt Rawls nur dem allgemein einsichtigen Umstand Rechnung, daß das Gute für Individuen nicht völlig abgelöst von dem bestimmt werden kann, was für Personen tatsächlich ein Grundgut darstellt. Sandel läßt zudem außer acht, daß Rawls neben den formalen Vernunftrestriktionen, die für eine gewisse Qualifizierung unserer Interessen sorgen, auch die Verbindung der Theorie des Guten mit der Ebene der Moral versucht. Rawls' Konzeption des Guten ist also reichhaltiger, als Sandel unterstellt. Dennoch meine ich, daß Sandel, wenn er die „instrumentelle" Ausrichtung von Rawls' Konzeption des Guten betont, einen wunden Punkt berührt. Rawls' Theorie des Guten greift in der Tat zu kurz - sowohl auf der Ebene der schwachen Theorie in Form der Grundgüter wie auf der Ebene der Tugenden. Rawls' Entwurf einer wohlgeordneten Gesellschaft vernachlässigt Solidaritätswerte, weil diese in seiner Konzeption des Guten keinen Platz finden. Wie wir gesehen haben, geht Rawls davon aus, daß in einer wohlgeordneten Gesellschaft die Menschen Solidarität beweisen, Anteilnahme am Schicksal der anderen zeigen und die Einstellungen des Altruismus und der Menschenliebe entwickeln, da die allgemeine Anerkennung der Grundsätze der Gerechtigkeit, ungeachtet aller Interessengegensätze, für das Entstehen von Gemeinsamkeit sorgt. Die wohlgeordnete Gesellschaft scheint die perfekte Synthese von liberalen Grundwerten wie gleichen Rechten und Chancen nebst größtmöglicher persönlicher Freiheit und den „kommunitaristischen" Idealen von Gemeinschaft und sozialen Bindungen. Doch Rawls verabsäumt es, die philosophischen Grundlagen zu schaffen, damit er diese Idealform gesellschaftlichen Zusammenlebens auch als tatsächliche Konsequenz seiner Theorie ausgeben kann. Ein Grund dafür, warum es nicht berechtigt ist, daß Rawls der wohlgeordneten Gesellschaft alle Merkmale einer Solidargemeinschaft zuschreibt, liegt genau in den Voraussetzungen über das Gute, die der Rawlsschen Theorie zugrundeliegen. Die Formulierung von Grundsätzen der Gerechtigkeit verlangt selbstredend bereits gewisse Annahmen darüber, was für Menschen im allgemeinen gut ist, welche Güter durch die 63 Ebda., S. 476. Es drängt sich hier die Frage auf, wie weit diese Form der Bestimmung des Guten nicht schon die für den Urzustand geltende Bedingung des gegenseitigen Desinteresses verletzt. Auch diese Schwierigkeit ist wohl ein Indikator für das allgemeine Problem, daß Rawls bei der Entwicklung der Theorie des Guten immer wieder in Konflikt mit den auf rationale Egoisten zugeschnittenen Modalitäten des Urzustands gerät.
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Institutionen einer Gesellschaft geschützt und garantiert werden sollen. Nun bleibt Rawls' schwache Theorie des Guten jedoch auf Güter reduziert, auf die miteinander konkurrierende rationale Egoisten Wert legen. In Rawls' schwacher Theorie des Guten reflektiert sich - ein Punkt, der mehrfach kritisiert worden ist - das Wertespektrum einer freiheitlich-kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft mit dem vorrangigen Ziel der Einkommensmaximierung.64 Wenn aber die schwache Theorie des Guten nicht schon Gemeinschaftswerte wie Solidarität und Anteilnahme einschließt, so werden sich diese Werte auch nicht in dem im Urzustand beschlossenen Gesellschaftsmodell finden. Denn warum sollten die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft plötzlich Gemeinschaftswerte hochheben, wenn sie diese gar nicht zu jenen allgemeinen und grundlegenden Gütern zählen, die alle wollen und die alle als solche anerkennen? Gemessen an seiner schwachen Theorie des Guten, die ja in die Grundsätze der Gerechtigkeit einfließt, fehlt Rawls' Behauptung, daß seine Gesellschaft eine Solidargemeinschaft ist, jegliche Basis. Aus welchem Grund sollten die Individuen plötzlich einander unterstützen, sich einander verbunden fühlen und Anteilnahme füreinander entwickeln, wenn ihre primären Werte neben der Wahrung ihrer Rechte und Chancen nur darin bestehen, sich den größtmöglichen Anteil an Einkommen und Vermögen zu sichern?65 Nun ließe sich einwenden, daß sich für Rawls noch eine andere Möglichkeit bietet, die Gemeinschaftswerte in seine Gesellschaftstheorie zu integrieren - nämlich auf der Ebene der moralischen Haltungen und Gesinnungen der Menschen. Auch wenn sich diese Werte nicht in Rawls' Liste der Grundgüter finden, so könnte doch seine Vorstellung des guten Menschen die Momente von Gemeinschaftssinn, Anteilnahme und Altruismus umfassen, die notwendig sind, damit eine Gesellschaft auch als Solidargefüge gelten kann. Aber genau dies ist nicht der Fall, da Rawls' um den Begriff des guten Menschen erweiterte „vollständige Theorie des Guten" 66 auf die Grundsätze der Gerechtigkeit rückbezogen bleibt. Auf der Ebene der Tugenden kann Rawls die Werte der Gemeinschaftlichkeit, die sich in Anteilnahme und der Unterstützung für andere ausdrücken, gleichfalls nicht retten, da er die Tugenden nur als motivationale Schnittstellen von Prinzipien des Rechten bzw. der Gerechtigkeit und Handlungskontexten faßt. Rawls kennt recht besehen nur eine Tugend: den Sinn für Gerechtigkeit, der für die Realisierung der Prinzipien der Gerechtigkeit sorgt. Rawls reproduziert das für Kants Ansatz charakteristische Verständnis von Tugenden, bei dem die Tugenden inhaltlich ganz im Schatten der Prinzipien und Regeln stehen. 64 Dieses Argument wurde auch von feministischer Seite vorgebracht. Rawls' Liste gesellschaftlicher Grundgüter ist gerade aus der Perspektive der Geschlechterdifferenz nicht so allgemein plausibel, wie er annimmt. Wie Kritikerinnen betont haben, bestehen gute Gründe für die Annahme, daß gerade der Grundsatz der Einkommensmaximierung zur Geschlechterungleichheit innerhalb wie außerhalb der Familie beiträgt. Vgl. etwa Nussbaum (1992), S. 47. 65 Man könnte dem entgegenhalten, daß aber doch das Differenzprinzip Solidarität voraussetze und die Mitglieder der Gesellschaft, sofern sie die Grundsätze der Gerechtigkeit befolgen, Solidarität entwickeln. Fatal wirkt sich hier aber aus, daß das Differenz- oder Unterschiedsprinzip eine Ungleichverteilung rechtfertigt, sofern sie allen zum Vorteil gereicht, und Rawls die Güter, die zur Verteilung kommen, auf die Vorteile der Kooperation einschränkt, womit die Gesellschaftsmitglieder über die bloße Gleichbehandlung hinaus keine Unterstützung und Hilfe finden. Siehe dazu Koller (1993b), S. 101. 66 Dieser auf moralische Werte eingeengte Begriff der „vollständigen Theorie des Guten" ist nicht zu verwechseln mit jenem einer umfassenden Theorie des Guten, welche sich auf die Gesamtheit der Wertvorstellungen einer Person bezieht.
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Für eine Moralkonzeption, die mehr als nur Prinzipien und Regeln umfassen und auch Überlegungen des Guten und moralischen Gefühlen Raum geben will, dürfen die Tugenden aber nicht nur als Umsetzungsmöglichkeiten des Rechten begriffen werden. In ihnen müssen sich auch die für die soziale Qualität unseres Zusammenlebens unabdingbaren Werte in Form einer Kernvorstellung des Guten reflektieren. Rawls muß also einen über eine kantische Sicht hinausreichenden Tugendbegriff voraussetzen, denn Moralität beschränkt sich nicht auf die Befolgung von Prinzipien und Regeln als Grundsätzen des Rechten, sondern findet zu einem Gutteil in moralischer Empfindungsfähigkeit Ausdruck, in jenem von Hume akzentuierten „Fortgang der Gefühle", ohne welchen Moral nur den Intellekt, nicht aber die Empfindungen von Menschen berühren und zum algorithmusähnlichen Automatismus des „richtigen Resultats" und der „optimalen Entscheidung" verkümmern würde. Um diesen reichhaltigeren Tugendbegriff zu gewinnen, muß Rawls seine schwache Theorie des Guten modifizieren. Erst wenn die Liste der Grundgüter - besser gesagt: der Grundwerte - auch Solidarität und Anteilnahme umfaßt, gibt es überhaupt einen theoretischen Grund dafür, daß die Menschen neben dem Gerechtigkeitsempfinden und dem Sinn für das Rechte auch jene Haltungen und moralischen Gefühle entwickeln, welche diese sozialen Werte realisieren. Um über den Kernbestand eines liberalen Moralansatzes hinauszugehen und in dem von Rechten und Grundsätzen der Gerechtigkeit abgesteckten Rahmen auch den moralischen Phänomenen des Altruismus, des Wohlwollens und der Solidarität Raum zu geben, bedarf es einer Theorie des Guten dergestalt, daß diese Aspekte zu den grundlegenden moralischen Werten zählen, die das Gute ausmachen. Rawls sucht in der über den Urzustand entwickelten vollständigen Theorie des Guten die Verbindung mit moralischen Werten. Aber auch auf dieser Ebene reflektiert er nur ein Gut: das der Gerechtigkeit. Doch gewisse moralische Werte reichen über Gerechtigkeit hinaus und lassen sich über eine auf die Grundsätze des Rechten rückbezogene Theorie des Guten und der Tugenden nicht erfassen. Damit Gesellschaften lebenswert sind, müssen sie weitere Güter und Werte vermitteln und uns noch anderes bieten als nur die Garantie, daß unsere Rechte anerkannt werden. Rawls hat dies klar gesehen, aber es gelingt ihm nicht, diese Einsicht theoretisch umzusetzen, da er weder auf der Ebene der schwachen noch jener der vollständigen Theorie des Guten die Anbindung der Gemeinschaftswerte ermöglicht. Bei Rawls wiederholt sich das für deontologische Ethik-Ansätze notorische Problem, dem wir bei der Diskussion von Kants Ansatz wieder begegnen werden: Kant weiß um den moralischen Stellenwert von Altruismus und Anteilnahme für andere, gleichzeitig findet diese Erkenntnis in der spezifischen Struktur seiner Ethik-Konzeption keinen Niederschlag.67 Wenn Rawls seinen Ansatz auf diesen beiden Ebenen - der im Urzustand vorausgesetzten Theorie des Guten und der Tugenden - im skizzierten Sinn modifiziert, dann erst kann er glaubwürdig die These vertreten, daß eine wohlgeordnete Gesellschaft eine Form der sozialen Gemeinschaft darstellt. In Rawls' Gesellschaft könnten sich dann im Rahmen der über liberale Rechte und Gerechtigkeitsprinzipien definierten Grundstruktur jene solidarischen Bindungen entwickeln, die für eine Form des Zusammenlebens, die den Bedürfnissen der Menschen nach Zuwendung und Gemeinschaft gerecht wird, unverzichtbar sind. Wenn die soziale Gemeinschaft zumindest auf theoretischer Ebene - praktisch gesehen bleibt sie immer bloßes Desiderat - in den Rawlsschen Gesellschaftsentwurf integriert wird, steht Rawls 67 Vgl. Kap. 10 dieser Arbeit.
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gewissermaßen über der Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse, denn eine so verstandene liberale Gesellschaft würde d e m „konstruktiven Potential kommunitaristischer Werte" 6 8 auf bestmögliche W e i s e Rechnung tragen. Aber ohne die indizierten Veränderungen ist der Begriff der sozialen Gemeinschaft nicht aus den Prämissen der Rawlsschen Theorie zu gewinnen. 6 9 D i e vorgeschlagenen Korrekturen von Rawls' Theorie ermöglichen auch eine differenziertere Sicht auf den von Sandel so scharf kritisierten Primat des Rechten vor dem Guten. Recht besehen taucht diese These in verschiedenen Varianten auf, die zur Vermeidung von Mißverständnissen zu trennen sind. Z u m einen kann der Vorrang des Rechten vor d e m Guten bedeuten, daß eine Moraltheorie (inklusive einer Konzeption der gerechten Gesellschaft) das Gute überhaupt ausklammern und auf alle Reflexionen über das Gute verzichten sollte. D i e s e Interpretation der Vorrangthese ist aber, w i e die bisherigen Ausführungen w o h l hinreichend verdeutlichen, unhaltbar und muß zurückgewiesen werden. D o c h Rawls versteht die Priorität des Rechten nicht in diesem Sinn, w i e seine eingehende Auseinandersetzung mit der Frage des Guten dokumentiert. Im Gegensatz zu den meisten anderen Theoretikern deontologischer Provenienz ist er sich über die Unverzichtbarkeit einer Theorie des Guten sehr w o h l i m klaren.
68 Gutmann (1993), S. 83. 69 In gewissem Sinn liegt es nahe, hier noch weiterreichende Veränderungen der Rawlsschen Theorie - etwa die Annahme eines anderen Rationalitätsbegriffs - zu fordern. Ein Gutteil der Schwierigkeiten bei der Einbeziehung von Gemeinschaftswerten resultiert aus Rawls' ökonomischer Rationalitätskonzeption und der korrespondierenden Skizzierung der Urzustandssubjekte als selbstbezogener und auf individuelle Nutzenmaximierung bedachter rationaler Egoisten. Wie erwähnt setzt Rawls dieses Rationalitätsverständnis voraus, um die Wahl seiner Gerechtigkeitsprinzipien als die entscheidungstheoretische Lösung des Ausgangsproblems ausgeben zu können - eine bekanntlich umstrittene Strategie (für manche Kritikerinnen und Kritiker sind Rawls' entscheidungstheoretische Voraussetzungen unplausibel; für andere ist die Entscheidungstheorie im Rahmen von Rawls' Begründungsverfahren ohnehin entbehrlich). Wenn man auch generell Rawls' etwas seltsam anmutende Urzustandsannahmen nicht überbewerten sollte, da es sich um ein begründungstheoretisches Gedankenexperiment handelt, so setzt er mit der Voraussetzung egoistischer Rationalisten doch einen Akzent, der seinen nachfolgenden Versuch, den solidarischen Gehalt seiner Theorie zu beweisen, scheitern läßt. Rawls gelingt es durch den Schleier der Unwissenheit zwar, die für Egoisten unumgänglichen Parteilichkeiten herauszufiltern; es gelingt ihm aber nicht, altruistische Haltungen und Werte hineinzuprojizieren. Er müßte einen anderen Rationalitätsbegriff voraussetzen, einen Begriff, der „Rationalität" zwar immer noch mit der Wahl der geeigneten Mittel für das Erreichen der gesetzten Ziele verbindet, der aber noch andere Ziele zuläßt als nur die egoistische Nutzenmaximierung. Vgl. dazu Kap. 13.1 dieser Arbeit. Seine schwache Theorie des Guten rechtfertigt Rawls mit dem Hinweis, daß sie „für sich selbst zu sprechen" scheint, während der Prüfstein der vollständigen Theorie des Guten die Übereinstimmung mit unseren Werturteilen im Überlegungsgleichgewicht darstellt. Siehe Rawls (1975), S. 473. Der Hinweis auf das Überlegungsgleichgewicht ist wichtig, da dieses wohl das entscheidende Instrumentarium zur Überprüfung der vorausgesetzten Theorie des Guten darstellt. Gleichzeitig ist offensichtlich, daß Rawls den Konsequenzen dieses Testverfahrens für seine Annahmen über das Gute nicht voll Rechnung trägt. Hätte er den Test des Überlegungsgleichgewichts auch auf die schwache Theorie des Guten angewendet, so wäre er wohl nicht umhin gekommen, diese zu modifizieren. Die schwache Theorie des Guten ist daraufhin zu befragen, ob sie jene Grundwerte umfaßt, die zu einer Gesellschaftsform führen, deren Konsequenzen unseren wohlerwogenen Werturteilen entsprechen. Und eine Gesellschaft, die nur „rechtsförmige" Beziehungen kennt, wird diesem Prüfkriterium eben nicht gerecht, denn das Fehlen von Solidaritätsleistungen zieht Konsequenzen nach sich, die kaum unsere moralische Zustimmung finden werden.
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Zum anderen kann mit dem Primat des Rechten gemeint sein, daß es Individuen innerhalb des von den Prinzipien des Rechten abgesteckten Spielraums an Handlungsmöglichkeiten freisteht, ihre Konzeption des guten Lebens zu verfolgen. Diese Formulierung verlangt eine gewisse Präzisierung. Denn der Begriff des „guten Lebens" umfaßt zunächst moralische und außermoralische Werte. Wenn die These besagt, daß es über einen Minimalbestand grundlegender moralischer Werte hinaus Individuen überlassen bleibt, das für sie Gute zu formulieren, so ist ihr zuzustimmen. Das so vielfach kritisierte Neutralitätspostulat des Liberalismus erfährt also gewisse Einschränkungen: Der Primat des Rechten bedeutet nicht Neutralität gegenüber allen Vorstellungen des Guten und des guten Lebens, sondern nur gegenüber jenen, die gerade nicht die Sphäre der Moral im engeren Sinn berühren. Die Individuen müssen nicht in allem, worin sie ein Gut erblicken, miteinander übereinstimmen - in diesem Sinn ist der Vorrang des Rechten einleuchtend. Rawls selbst hat hier zu Mißverständnissen Anlaß gegeben, da er die These vom Vorrang des Rechten immer wieder als grundlegende Prämisse seiner Theorie betont, ohne hinlänglich klarzustellen, worauf sich die Neutralität gegenüber „dem Guten" tatsächlich bezieht.70 In gewissem Sinn sollte man sich vom „kommunitaristischen" Beiklang der hier entwickelten Kritik an Rawls' Theorie nicht täuschen lassen - die Übereinstimmungen mit Sandels Einwänden gegen Rawls' Theorie sind nur äußerst begrenzt vorhanden. Wenn auch die Korrektur und Ergänzung der liberalen Theorie durch Gemeinschaftswerte in den kommunitaristischen Überlegungen gleichsam mitschwingt, so haben die Kommunitaristen diesen Punkt eigentlich auf erstaunliche Weise vernachlässigt. Dies hängt wohl damit zusammen, daß die Kommunitaristen primär nicht an einer Modifikation des Liberalismus interessiert waren, sondern zunächst den Anspruch hatten, diesem eine alternative Konzeption politischer Theorie gegenüberzustellen. Sandel fallt es aber - neben den aufgezeigten immanenten Schwierigkeiten seiner Argumentation - äußerst schwer, die Konturen einer eigenständigen kommunitaristischen Position überhaupt nachzuzeichnen, und er vermag die Abgrenzung zum Liberalismus nur über die konventionalistische Identifikation des common good mit den geteilten Wertüberzeugungen konkreter Gemeinschaften zu leisten. Damit entgeht der Kommunitarismus auf politischer Ebene nicht den schon monierten stark konservativen Konsequenzen. Die Kommunitaristen übersehen in ihrer Glorifizierung des durch Gemeinschaftlichkeit und gemeinsame Projekte geprägten kommunalen Lebens völlig, daß ohne einen Grundbestand liberaler Rechte die Berufung auf das Gemeinwohl und das gemeinsame Gute neben einem für sich genommen problematischen Konventionalismus und Rückfall in vormodernes Denken durchaus politische Gefahren birgt, etwa die Ausgrenzung von Andersdenkenden und Minderheiten. Amy Gutmanns Skepsis fällt deutlich genug aus: „Das Gemeinwohl der puritanischen Einwohner Salems im 17. Jahrhundert befahl ihnen, Hexen zu verfolgen. Das Gemeinwohl der Moral Majority des 20. Jahrhunderts befiehlt ihnen, Homosexuelle nicht zu tolerieren. Die Durchsetzung liberaler Rechte, nicht das Fehlen einer festgegründeten Gemeinschaft, steht zwischen der Moral Majority und dem heutigen Gegenstück zur Hexenjagd." 71 70 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. 13.2 dieser Arbeit, wo diese Fragestellung nochmals zur Sprache kommt. 71 Gutmann (1993), S. 80.
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Guten?
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Auf philosophischer Ebene bedeutet Sandels konventionalistische Sicht des Guten eine Bankrotterklärung. Sein Hinweis, daß eine Moraltheorie mit der Konzeption des Rechten allein nicht das Auslangen findet, ist durchaus berechtigt, doch seine weitgehend nebulose Konzeption des Guten trägt den komplexen Beziehungen zwischen Grundgütern, grundlegenden Werten und dem Guten auf der Ebene persönlicher Tugenden in keiner Weise Rechnung. Weder geht er den Verästelungen der Rawlsschen Theorie des Guten nach noch gelingt es ihm, eine alternative Lösung aufzuzeigen, die das Gute nicht nur in Form einer diffus-plakativen Berufung auf Gemeinschaftlichkeit ins Spiel bringt. Das Verdienst des Kommunitarismus ist es, auf die wesentliche Funktion von Solidaritätswerten aufmerksam gemacht zu haben; sein gravierendes Defizit liegt darin, nicht hinlänglich zwischen den kommunitaristischen Werten wie Anteilnahme, Wohlwollen und Gemeinschaftssinn und den geteilten Werten konkreter Gemeinschaften zu unterscheiden und phasenweise die beiden Wertsphären schlicht zu verwechseln. Die kommunitaristischen Denker befinden sich auch im Irrtum, wenn sie meinen, mit dem Hinweis auf die in der liberalen Theorie vernachlässigten Gemeinschaftsaspekte schon den Liberalismus aus den Angeln gehoben zu haben: Der Kommunitarismus bietet keinen alternativen Gesellschaftsentwurf, sondern nur den Anlaß für eine Ergänzung der liberalen Theorie. Das Ziel kann nur in einer Modifikation des Liberalismus liegen, denn der Preis für den Verzicht auf liberale Rechte und Gerechtigkeit zugunsten von Gemeinschaft und gemeinsamem Guten wäre schlicht der Rückfall in demokratische Grundprinzipien wie Freiheit und Toleranz unterlaufende gesellschaftliche Verhältnisse.
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Das Rechte oder das Gute? Feministische Kritik an Liberalismus und Kommunitarismus
Im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit der modernen Moralphilosophie und politischen Philosophie haben einige feministische Theoretikerinnen mehr oder weniger offen mit den kommunitaristischen Gegenpositionen zum Liberalismus sympathisiert. Auf den ersten Blick scheint tatsächlich eine Übereinstimmung zwischen der feministischen Kritik an Theorien liberalen Zuschnitts und den Einwänden von Seiten kommunitaristischer Denker gegeben. Die These der Kommunitaristen, daß eine angemessene Rekonstruktion moralischer Begriffe nicht ohne Reflexion auf die für unsere Identität konstitutiven sozialen Bindungen auskommt, findet oberflächlich betrachtet eine Entsprechung in den feministischen Tendenzen zu einer kontextsensitiven Moraltheorie, welche die konkreten Erfahrungen und Lebensbezüge der Moralsubjekte berücksichtigt. Die Argumente kommunitaristischer Philosophen gegen den atomistischen Subjektbegriff liberaler Theorien überschneiden sich gleichfalls mit feministischen Kritiklinien, die ein aus sozialen Strukturen gelöstes und von seinen lebensweltlichen Bindungen abgespaltenes Selbst in Zweifel ziehen. Vor allem die kommunitaristische Akzentuierung von Fragen des guten Lebens und des moralischen Charakters zielen offenbar in die gleiche Richtung wie die feministischen Ansätze zu einer moraltheoretischen Integration der altruistischen Werte von Sympathie und Anteilnahme; der Versuch mancher Philosophinnen, eine „Moral der Gerechtigkeit" mit einer „Moral der Liebe" zu kombinieren, deckt sich so gesehen mit den Bestrebungen des Kommunitarismus, den Stellenwert von Gemeinschaftswerten und Konzeptionen des Guten ins Blickfeld zu rücken. Zwar präsentiert sich der Liberalismus mit seiner Betonung von Autonomie und Gleichheit als logischer Anknüpfungspunkt der Emanzipationsbewegungen von Frauen. Doch trotz der vielversprechenden Formeln des liberalen Programms - Freiheit, Chancengleichheit und Anerkennung individueller Rechte - hat sich auch in liberalen Gesellschaften an der Benachteiligung und Ungleichbehandlung von Frauen nur wenig geändert. So sind Frauen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens nach wie vor unterrepräsentiert, ihre Chancen auf eine berufliche Laufbahn sind deutlich geringer als jene von Männern, und der überwiegende Teil der einkommensschwachen und von Sozialhilfe lebenden Mitbürger sind Frauen. Die Unterschiede in den individuellen Möglichkeiten von Frauen und Männern und der „ungleiche Wert der Freiheit"1 sind so gravierend, daß eine Reihe feministischer Theoretikerinnen sogar bezweifelt, daß sich aus dem Liberalismus überhaupt die begrifflichen und theoretischen Grundlagen für eine den Interessen und Bedürfnissen von Frauen angemessene Moraltheorie und auch politische Theorie gewinnen lassen.2 1 Vgl. Rössler (1992a). Der „Wert der Freiheit" ist ein ursprünglich von Rawls eingeführter Begriff, der aber nie auf die Idee kommt, diesen auf das Geschlechterverhältnis anzuwenden. Vgl. dazu Rawls (1975), S. 255-258. 2 Für genauere Ausführungen siehe Jaggar (1983), Kap. 7-10; vgl. auch Klinger (1994).
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Für viele Feministinnen liegt die entscheidende Schwäche des Liberalismus in der rein formalen Interpretation der grundlegenden Begriffe von Gleichheit und Gerechtigkeit und der negativen Konzeption von Freiheit als der Forderung der Nicht-Einmischung. Nur auf der Basis eines materialen Begriffs der Gleichheit als der Herstellung gleicher Verhältnisse und eines positiven Freiheitsbegriffs ließen sich überhaupt strukturelle Maßnahmen zur Korrektur der im Ergebnis ungleichen Situation von Frauen begründen.3 Auf dieser Ebene ergeben sich ebenfalls Querverbindungen zum Kommunitarismus, denn auch kommunitaristische Kritiker haben den Begriff der negativen Freiheit hinterfragt und dafür plädiert, bei materialen Weiten und einer Konzeption des Guten Anleihen zu machen, um die Leerstellen der liberalen Theorie auszugleichen.4 Ungeachtet dessen waren die Beziehungen zwischen Feminismus und Kommunitarismus von Beginn der Debatte an ambivalenter Natur. Eine relativ positive Rezeption erfolgte zunächst von Seiten jener feministischen Philosophinnen, die an Gilligans Version der Moralkritik anknüpfen. Skepsis war die Reaktion bei den feministischen Theoretikerinnen, die sich vorrangig an Begriffen wie Gleichheit, Autonomie und individuellen Rechten orientieren und die den feministischen Standpunkt als Spielart einer liberalen Position begreifen; diese Philosophinnen wandten sich sehr bald gegen die restaurativen Elemente des Kommunitarismus. Einer der auffallendsten Berührungspunkte von Feminismus und Kommunitarismus liegt wie betont in der Kritik am Subjektbegriff der liberalen Theorie. Der Kommunitarismus beklagt die Vereinzelung und Fragmentierung in modernen Gesellschaften, den Verlust an Gemeinsamkeit und sozialen Bindungen. Liberale Individuen gelten ihm als auf sich zurückgeworfene Einzelkämpfer in einer von Konkurrenz und Machtkämpfen geprägten Gesellschaftsform, die ihre Eigeninteressen auf wohlkalkulierte Weise verfolgen und keine Verbindlichkeiten und Verantwortlichkeiten gegenüber der Gesellschaft als Ganzes kennen. Dem Liberalismus entgeht nach Meinung der Kommunitaristen, daß ohne Gemeinschaftsorientierung des individuellen Handelns und ohne eine Konzeption des common good ein moralischer Erosionsprozeß einsetzt, der sozial und politisch nicht mehr aufzufangen ist und der die Möglichkeiten eines guten und gelingenden Zusammenlebens untergräbt. Das atomistische Selbst liberaler Theorien, ein „freischwebendes" Subjekt, das auf sich gestellt seine autonom gewählten Ziele und Zwecke verfolgt, scheint kommunitaristischen Denkern das genaue Abbild moderner Verhältnisse.5 Von feministischer Seite wurde immer wieder auf die weltfremden Züge der liberalen Subjektkonzeption hingewiesen, die völlig übersehe, daß „auch das autonome Individuum irgendwo sozialisiert werden muß". 6 Das Gesellschaftsbild der liberalen politischen Theorie reflektiert, wie Seyla Benhabib bemerkt, „eine seltsame Welt: eine Welt, in der Individuen 3 Vgl. Jaggar (1993b). 4 Vgl. Taylor (1988b). 5 Michael Walzer weist auf die Unverträglichkeit der zwei Formen von kommunitaristischen Einwänden hin: Zum einen werde die Realitätsferne des Liberalismus und der liberalen Subjektvorstellung kritisiert, zum anderen dem Liberalismus vorgeworfen, die Theorie der modernen atomistischen Gesellschaft zu sein. Beide Argumente können, wie Walzer ausführt, nicht gleichzeitig gelten, sondern sind nur isoliert betrachtet teilweise richtig. Siehe Walzer (1993). 6 Rössler( 1992b), S. 76.
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erwachsen sind, bevor sie geboren wurden, in der Jungen Männer sind, bevor sie Kinder waren; eine Welt, in der weder Mütter noch Ehefrauen noch Schwestern existieren".7 Das „bindungslose" Konzept des Selbst ist nach Meinung vieler Kritikerinnen auf einen genuin männlichen Erfahrungsbereich zugeschnitten und widerspricht einer für viele Frauen grundlegenden Erfahrung der besonderen Verbundenheit mit einer anderen Person: "It is absurd to think of a mother and child as two molecules who have bumped into each other and will then go their own ways again unaffected by the encounter." 8 Ein abstrakt-atomistisches Bild personaler Identität scheint nicht zuletzt deshalb verfehlt, weil es die Rolle von familiären Sozialisationsleistungen und den Geschlechterkontext, in dem die Identitätsbildung steht, nicht berücksichtigt. Wie die genauere Analyse von Sandels Einwänden gegen den liberalen Personenbegriff im vorhergehenden Kapitel ergab, ist eine auf subjekttheoretischer Ebene angesiedelte Kritik des Liberalismus wenig ergiebig. Die feministische Analyse, so werde ich im folgenden argumentieren, sollte zu diesen Argumenten auch deshalb auf Distanz gehen, da sie in gewisser Weise von den aus dem Blickwinkel der Geschlechterungleichheit eigentlichen Schwachpunkten der Theorie Rawls' ablenken. In ihrem für die feministische Ethik-Diskussion bahnbrechenden Aufsatz Der verallgemeinerte und der konkrete Andere9 hat Seyla Benhabib eine feministische Kritik an Rawls' Theorie des Urzustands entwickelt, die zum Teil auf Sandels einschlägigen Argumenten basiert, wiewohl sie sich von den konservativen Implikationen der kommunitaristischen Position explizit distanziert.10 Benhabib greift zwei Punkte an: Einmal kritisiert sie, daß Rawls nur von einer Konzeption des verallgemeinerten Anderen ausgeht, da die Bedingungen des Urzustands wie der „Schleier der Unwissenheit" und das „gegenseitige Desinteresse" verhindern, daß die Urzustandssubjekte überhaupt Kenntnis der für die Wahrnehmung von Personen als konkreten Anderen notwendigen individuierenden Merkmale und spezifischen Besonderheiten erlangen. Die Vernachlässigung des Standpunkts des konkreten Anderen führe dazu, daß die andere Person als „ vom Selbst unterschieden "11 verschwindet, was in Verbindung mit der klassischen Interpretation von „öffentlich" und „privat" eine Ausgrenzung und Privatisierung weiblicher Erfahrung zur Folge habe. Zum anderen teilt sie Sandels Kritik, der in Rawls' Personenbegriff eine epistemische Inkohärenz ortet und unterstreicht damit ihren Vorwurf, daß die Rawlsschen Subjekte metaphysischen Entitäten ohne alle menschlichen Züge und konkreten Identitäten gleichen: „Die Auffassung, das Selbst könne unabhängig von seinen moralischen Zielen als Individuum gedacht werden, ist inkohärent: wir wüßten nicht, ob es sich bei einem solchen Wesen um einen Menschen, einen Engel oder den Heiligen Geist handelte." 12 Benhabibs Nähe zu Sandels Überlegungen schwächt jedoch ihre Einwände, da der an die Adresse von Rawls gerichtete Vorwurf der epistemischen Widersprüchlichkeit ja nicht haltbar ist. Wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt, hängt Kants Konzeption des transzenden7 8 9 10 11
Benhabib (1989a), S. 466. Greschner (1989), S. 134. Benhabib (1989a); revidierte Fassung (1995e). Siehe Benhabib (1995c), S. 83ff. und Benhabib/Cornell (1987b), S. 1 lff. Benhabib (1995e), S. 178 (Kursivsetzung im Original).
12 Ebda., S. 180.
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talen Subjekts, gegen die sich der Inkohärenzverdacht gegenüber einem von seinen Zielen und Bindungen abgespaltenen Selbst in erster Linie richtet, mit seinem Versuch einer aprioristischen Vernunftbegründung der Moral zusammen; Rawls entwickelt demgegenüber eine Form der Vertrags- und Kohärenzrechtfertigung, die ihn in keiner Weise auf die Kantische Subjektvorstellung verpflichtet. Rawls' Subjekt ist kein metaphysisch-bindungsloses Selbst, sondern ein Ich, das in der Beziehung kritischer Evaluierung zu seinen Zielen, Zwecken und Verbundenheiten steht. Der Kritik Benhabibs, daß die Urzustandssubjekte konturenlosen Wesen glichen, deren Identität offen bleibe, fehlt es - abgesehen von dem Bezug auf Sandels brüchige Argumentation - für sich genommen an Gewicht, denn der Urzustand ist ein fiktives Gedankenexperiment unter bestimmten, klar als hypothetisch ausgewiesenen Voraussetzungen. Diskutierbar bleibt allerdings der Punkt, wie weit in der Rawlsschen Ausgangsposition nur der Standpunkt des „verallgemeinerten Anderen" Ausdruck findet und dies zu einer Verarmung der Theorie führt, da die Lebensumstände, Geschichten und Positionen konkreter Anderer nicht berücksichtigt werden.13 Die eigentliche Zielrichtung von Benhabibs Kritik, und so betrachtet ist sie nur zu berechtigt, liegt im Fehlen von Faktoren wie Anteilnahme, Empathie und Solidarität für die jeweiligen besonderen Personen in der Theorie Rawls' und eines Großteils moderner Moraltheorien. 14 Benhabib ortet ein in der Tat gegebenes Defizit in Rawls' liberaler Konzeption. Problematisch ist aber, daß sie das Fehlen von Empathie und Altruismus an der epistemischen Stimmigkeit des Rawlsschen Subjektbegriffs festmacht. Diese Verlagerung auf die personentheoretisch-ontologische Ebene verwickelt sie zum einen in die Schwierigkeiten der Sandeischen Argumentation; zum anderen wird so die Frage akut, ob damit nicht aus dem Blick gerät, worum es sich bei Rawls' Konstruktion des Urzustands handelt: um eine theoretisch definierte Situation mit theoretisch definierten Personen. Mit den partiell informationslosen, gegenseitig desinteressierten Individuen des Urzustands wollte Rawls nur eine Veranschaulichung der Unparteilichkeitsbedingung leisten - der Idee, daß moralische Regeln durch individuelle Voreingenommenheiten nicht verzerrt sein dürfen. Die Bedingung des Schleiers der Unwissenheit ist nicht mehr als eine Illustration der mit dem moralischen Standpunkt verknüpften einleuchtenden Forderung, daß die Bedürfnisse aller Moralsubjekte gleichermaßen Berücksichtigung verdienen. Ob man Rawls' relativ aufwendige „Metaphysik des moralischen Standpunkts" gutheißt oder nicht, ist ein Punkt; eine andere Sache ist, daß die theoretische Funktion der Prämissen der Ausgangsposition nicht 13 Dagegen macht Okin wie erwähnt geltend, daß Rawls Altruismus und Hinhören auf den konkreten Anderen sehr wohl voraussetze, da die Funktion des Schleiers der Unwissenheit ja gerade darin besteht, daß wir nicht wissen, wer wir im wirklichen Leben sein könnten. Okin (1993), S. 319-329. Vgl. dazu und zu meiner Kritik an Okins Versuch, den vorgeblich altruistischen Zuschnitt der Rawlsschen Theorie am Entscheidungsverfahren des Urzustands nachzuweisen Kap. 4.3 und Kap. 4.4 dieser Arbeit. 14 In der Neufassung ihres Aufsatzes Der verallgemeinerte und der konkrete Andere distanziert sich Benhabib unter dem Eindruck von Okins Einwänden und deren alternativer Lesart des Urzustands davon, die Defizite der Rawlsschen Theorie an der Aussparung von Empathie und Wohlwollen festzumachen: eine, wie ich meine, unnötige Relativierung ihrer ursprünglichen Kritik. Sie wiederholt allerdings ihren Vorwurf der epistemischen Inkohärenz und der Nichtbeachtung des konkreten Anderen; letzteres mit folgenden zwei Argumenten: Zum einen vermöge Rawls nicht zu präzisieren, wer das am wenigsten begünstigte Individuum sei; zum anderen schließe das fiktive Modell des Urzustands mit seinen definitorisch festgelegten Moralsubjekten einen faktisch institutionalisierten moralischen Dialog mit realen Individuen aus. Siehe Benhabib (1995e), S. 184-191.
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übersehen werden darf. Dies hieße, die methodologischen Rahmenbedingungen ignorieren, in die Rawls' Konstruktion eingebettet ist. Denn für sich betrachtet ist es relativ unerheblich, welche abstrakten und realitätsfernen Annahmen Rawls trifft. Entscheidend ist, welches Wertespektrum sich in diesen Voraussetzungen reflektiert und welche Form der Moraltheorie daraus resultiert. Rawls vernachlässigt in der Tat Solidaritätswerte; besser gesagt: Er vermag sie nicht in seine Theorie zu integrieren. Dies hat aber nichts mit den Bedingungen des Schleiers der Unwissenheit und des gegenseitigen Desinteresses zu tun, sondern ist, wie im vorhergehenden Kapitel ausgeführt wurde, darin begründet, daß er in der Ausgangssituation eine bestimmte (schwache) Theorie des Guten voraussetzt, so daß die Subjekte im Urzustand Solidarität und Empathie nicht zu jenen Grundgütern zählen, welche in die von ihnen im Urzustand aneinander gewünschten moralischen Haltungen einfließen. Das methodische Herzstück von Rawls' Theorie ist das Überlegungsgleichgewicht: die Idee, daß die Konsequenzen von moralischen Grundsätzen mit unseren wohlerwogenen moralischen Einzelurteilen verträglich sein müssen. Fehlt diese Übereinstimmung, so zwingt uns dies zu Modifikationen. Wenn man davon überzeugt ist, wie es Rawls offenbar ist, daß das moralische Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft auch die affektiven Werte von Empathie, Mitgefühl und Solidarität beinhaltet, dann ist dafür zu sorgen, daß die theoretischen Voraussetzungen dieses Ergebnis gewährleisten. Welche Revisionen der Rawlsschen Theorie dies verlangt, habe ich schon erläutert. Benhabib greift Rawls' Theorie auch deshalb an, weil diese zu einer Ausgrenzung der Sichtweisen und Situierungen von Frauen führe. Richtig ist, daß Rawls an keiner Stelle seiner Theorie die Geschlechterordnung reflektiert und sich nie fragt, ob seine Grundsätze der Gerechtigkeit auch eine gesellschaftliche Gleichheit von Frauen garantieren. Aber diese Ignoranz resultiert gleichfalls nicht aus den epistemischen Einschränkungen des Urzustands. Aus der Perspektive der Geschlechterdifferenz kann dem Schleier des Nichtwissens durchaus eine konstruktive Funktion zukommen, wie etwa Okins Modifikation von Rawls' Gerechtigkeitstheorie verdeutlicht.15 Rawls setzt bei seiner Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze voraus, daß die Subjekte im Urzustand „Familienoberhäupter" - sprich: Männer - sind16, und diese Annahme führt ihn dazu, das Problem der Gerechtigkeit innerhalb der Familie auszuklammern. Konsequenterweise ergänzt Okin die Bedingungen des Urzustands dahingehend, daß zum einen die Individuen explizit nicht wissen, ob sie in der Gesellschaft, deren Form sie festlegen, Frauen oder Männer sein werden und daß zum anderen die Familie Teil der Grundstruktur der Gesellschaft ist, so daß sie bei der Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien Berücksichtigung finden muß. Um zusammenzufassen: Aus dem metaphysisch-ontologischen Disput über den Subjektbegriff läßt sich für eine feministische Konzeption des moralischen Subjekts nichts gewinnen.17 Aus feministischer Perspektive ist die atomistische Sicht des Selbst problematisch, da dem individualistischen Ich Verbundenheit, Anteilnahme und Zuwendung fremd bleiben und 15 Siehe Okin (1989), S. 89-109. 16 Siehe Rawls (1975), S. 151. 17 Wie auch Marilyn Friedman betont, verdeutlichen die kommunitaristischen Reflexionen über die theoretische Konstitution des Selbst nicht die moralischen Qualitäten eines Subjektbegriffs. Siehe Friedman (1994), S. 188f. Allerdings übersieht Friedman, daß die kommunitaristische Personenkritik auch eine normative Position absichern will.
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es unfähig ist zu Bindungen, die auf Vertrauen und der Wahrnehmung wechselseitiger Bedürfnisse basieren. Die feministische Argumentation, die dahin geht, daß ein „soziales Selbst" aus Gründen moralischer Wertigkeit vorzuziehen ist, hat jedoch mit der Art jener Überlegungen, die Sandels Kritik an Rawls' Subjektbegriff zugrundeliegen, nichts zu tun. Die „Frage des Subjekts" stellt sich für die Moralphilosophie nur insofern, als das jeweilige Personenkonzept bereits prinzipielle normative Voraussetzungen reflektiert. Mit anderen Worten: Die Gleichsetzung des moralischen Subjekts mit einem egoistischen Rationalisten verdient nicht deshalb Kritik, weil der rationale Egoist ein „abstraktes, bindungsloses" Wesen darstellt, sondern weil sich in dieser Definition ein Verständnis von Moral reflektiert, gegen das aus feministischer Sicht einiges spricht.18 Die Charakterisierung des moralischen Selbst als eines egoistischen Nutzenmaximierers, der seine Beziehungen zu anderen an strategischen Vorteilserwägungen ausrichtet und sich nur aus diesen Gründen kooperationsbereit zeigt, wird deshalb problematisch, weil damit eine Akzentsetzung zugunsten eines von Mißtrauen und Konkurrenz bestimmten Sozialgefüges verbunden ist. Entscheidend ist also die normative, nicht die metaphysische Ebene. Genau dieser Punkt gerät durch eine Annäherung feministischer Philosophinnen an Sandels Argumentationslinie aus dem Blickfeld. Zudem gilt die Gefahr, daß die kommunitaristische Kritik am liberalen Personenbegriff leicht auf eine anthropologische Ebene abdriftet, auch für die feministischen Einwände. Der bloße Hinweis auf die soziale Gebundenheit der Individuen und der Versuch einer möglichst lebensnahen Fassung des Personenkonzepts bringt für sich genommen relativ wenig und verdeckt die eigentliche Intention der feministischen Bedenken. Es geht nicht darum, philosophische Subjektannahmen auf ihren Abstraktionsgrad abzuklopfen, sondern um die moraltheoretischen Auswirkungen des unterstellten Personenbegriffs. Gerade die normative Dimension der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus sorgt aber für die gravierenden Differenzen zwischen Kommunitarismus und Feminismus. In ihrer idealisierenden Betonung von Gemeinschaftlichkeit tendieren die kommunitaristischen Denker zu einer unkritischen Haltung gegenüber den Wertvorstellungen jener Gruppen, denen das Individuum „zugehört", wobei sich Feministinnen uneingeschränkt auch kaum jenen Sozietäten - Nachbarschaft, Volk, Nation, Bürger - zurechnen werden, die etwa Sandel als paradigmatisch für Gemeinschaften anführt. Sandel wie auch Maclntyre bedienen sich eines Begriffs personaler Identität, welcher einen praktisch unauflöslichen Zusammenhang zwischen dem Ich und den Werten der Gemeinschaften, in denen es lebt, konstruiert. Die normativen Implikationen des kommunitaristischen Personenbegriffs widersprechen schlicht einem modernistisch-kritischen Standpunkt. Für aufgeklärt denkende Individuen und emanzipierte Frauen ergeben sich aus dem zufälligen Umstand, daß sie in einem be18 Rawls' Theorie bietet ein gutes Beispiel dafür, daß diese Frage - besonders bei einem entsprechenden Komplexitätsgrad einer Theorie - nicht mit einer Betrachtung des moralischen Subjekts allein beantwortet werden kann. Obwohl die Urzustandssubjekte bei Rawls egoistische Rationalisten sind, fängt er die normativen Konsequenzen dieser Voraussetzung durch die restlichen Urzustandsbedingungen weitgehend ab und gelangt zu einem nichtegoistischen Moralansatz. In seiner Theorie des Guten kann er die Spannungen, die sich aus seinen individualistischen Annahmen und der gleichzeitig klaren Entscheidung für eine deontologische Moralkonzeption ergeben, allerdings nicht lösen; abgesehen davon leidet seine Konzeption des Guten auch an den üblichen deontologischen Verkürzungen des Guten.
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stimmten Land in eine bestimmte Familie geboren wurden, keinerlei Postulate darüber, wie sie ihr Leben führen sollen und wodurch sich ein gutes Leben auszeichnet. Eine Klärung des eigenen Selbstverständnisses hat nichts mit einer Entdeckung unveränderlicher Gebundenheiten und Zugehörigkeiten zu tun. Personale Identität bestimmt sich zwar über Bindungen und Werte, aber weder handelt es sich dabei um deterministische Konstanten noch sind sie der autonomen Interpretation wie der kritischen Reflexion entzogen. Für Feministinnen ist ihre Identität gerade mit der Überwindung der auf sie projizierten gesellschaftlichen Rollenerwartungen verknüpft. Die Vorstellung, daß das Selbst bestimmt ist von „identitätskonstitutiven" Gemeinschaftsgebundenheiten, für die man sich nicht entscheidet, "cannot explain how women become feminists". 19 Das Identitätsverständnis der Kommunitaristen, welches die Person einfach mit ihren konventionell zugeordneten Rollen gleichsetzt, insbesondere der unverhohlene Traditionalismus Maclntyres, haben mit feministischen Überlegungen nicht das geringste zu tun, und von den scheinbar vorhandenen Parallelen zwischen Feminismus und Kommunitarismus bleibt so gut wie nichts. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, daß die liberale Subjektkonzeption - ein seine Ziele und Zwecke wählendes Individuum - in Wirklichkeit einer feministischen Position wesentlich näher steht als die kommunitaristische Sicht der Person. Was ist nun aber mit den erwähnten Verkürzungen des liberalen Personenbegriffs, den sozialisationslosen Geisterwesen, welche das liberale Universum bevölkern? Die Ausklammerung von Faktoren wie Sozialisation und Geschlechtsidentität beläuft sich auf ein nicht bestreitbares Defizit des Liberalismus, das es zu korrigieren gilt. Das Problem liegt aber nicht in einer soziologischen oder anthropologischen Fehlzeichnung, sondern dem Übergehen ganz bestimmter Problemstellungen. Ein vom gender-Kontext abstrahierender Begriff des Selbst ist der Indikator für die blinden Flecke der liberalen Theorie: Die Frage der Geschlechterordnung wird von ihr in keiner Weise thematisiert. Weder analysiert der Liberalismus die für die Ungleichstellung von Frauen zentrale Institution der Familie noch verfolgt er die tiefgreifenden Asymmetrien im Status von Frauen und Männern quer durch die gesellschaftlichen Strukturen. So spricht Rawls wie erwähnt in seiner Gerechtigkeitstheorie das Problem der Arbeitsverteilung und der Chancengleichheit in der Familie an keiner Stelle an. Hätte er, wie Okin dies fordert, explizit die Bedingung eingeführt, daß die Subjekte im Urzustand nicht wissen, ob sie Frauen oder Männer sein werden, so würde die derzeitige Form der Familie schwerlich den Entscheidungsprozeß des Urzustands überleben. Denn für das nach wie vor gelebte Familiensystem, das durch die ungleiche Verteilung häuslicher Lasten und Pflichten für eine Benachteiligung der Frauen innerhalb wie außerhalb der Familie sorgt, kann sich ein rationales Subjekt nur entscheiden, wenn es mit Sicherheit davon ausgehen kann, daß es nie eine Frau sein wird. Der Liberalismus als politische Theorie hat sich mit der Institution der Familie so gut wie nicht beschäftigt und sich davor gehütet, die Vertragsidee auf die Familie anzuwenden.20 Aber um den Kommunitarismus steht es in dieser Hinsicht nicht besser. Sandels Bild der Familie, mit dem er Rawls' These, Gerechtigkeit sei die „erste Tugend" sozialer Institutionen,
19 Greschner (1989), S. 135. 20 Vgl. Klinger (1994), S. 34.
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zu widerlegen versucht, haben wir schon kennengelernt.21 Michael Walzer, dessen Sphären der Gerechtigkeit den kommunitaristischen Gegenentwurf zu Rawls' Gerechtigkeitstheorie darstellt, setzt sich zwar im Rahmen seiner Gerechtigkeitskonzeption mit der Familie auseinander, aber seine Analyse krankt gleichfalls an einem sentimentalen Familienverständnis.22 Die Familie ist für Walzer ein Ort der Ungleichheit, wobei er die Ungleichheit auf das unterschiedliche Maß, in dem die einzelnen Familienmitglieder Liebe, Zuwendung und Zuneigung erfahren, bezieht. Da Walzer die Familie primär als „emotionale Einheit" sieht, „innerhalb deren Liebe angesammelt und weitergegeben wird" 23 , nimmt er an, daß den Frauen innerhalb der Familie „erhebliche Macht" zukomme. Weder sieht er, daß in der Familie auch andere soziale Güter als Liebe und Zuneigung zur Verteilung kommen, noch reflektiert er den strukturellen Zusammenhang zwischen der ungleichen Verteilung von Hausarbeit wie Kindererziehung und der außerfamiliären Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt.24 Wie feministische Theoretikerinnen gezeigt haben, kommt der Familie eine Schlüsselfunktion in der Ungleichstellung von Frauen zu, und eine den Interessen von Frauen angemessene politische Theorie kann auf eine eingehende Analyse und Restrukturierung dieser Institution, was auch eine Neuziehung der Grenzen von Öffentlichkeit und Privatheit insgesamt verlangt, nicht verzichten. In dieser Hinsicht bedarf die liberale Theorie einer feministischen Transformation, wobei die Neuschreibung aber nur in deutlicher Distanz zum Kommunitarismus erfolgen kann. Warum diese entschiedene Ablehnung des Kommunitarismus? Liefert dieser mit seiner Wiederbelebung der Idee des Guten nicht trotz allem wichtige Impulse für den Feminismus, bedenkt man, daß dem Liberalismus in seinem Engagement für individuelle Freiheiten und Rechte phasenweise der Blick dafür verloren geht, daß ein konsequentes Beharren auf NichtEinmischung in schlichte Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer umkippen kann? Gemeinsinn und Solidarität sind doch auch für den Feminismus zentrale Werte, und desgleichen besitzt die Idee des Guten erhebliches Gewicht, da die Vorstellung eines guten und qualitätvollen Lebens den notwendigen normativen Hintergrund für die Benennung und Konkretisierung der Rahmenbedingungen einer aus feministischem Blickwinkel akzeptablen Gesellschaftsform bildet.25 Doch abgesehen davon, daß die feministische Theorie auf liberale Grundsätze wie subjektive Rechte und Freiheiten nicht verzichten kann, sollte man sich keinesfalls von den kommunitaristischen Appellen an das Gute und die Gemeinschaftlichkeit täuschen lassen. Denn dort, wo der vage Gemeinschaftsbegriff der Kommunitaristen26 und die Berufung auf das Gute - teils dient sie nur der Artikulation eines diffus-dumpfen Unbehagens mit der Moderne - eine Konkretisierung erfahren, brechen die Gegensätze zum feministischen Denken schlagartig auf. Die Kommunitaristen sind relativ zurückhaltend, was die politische Umsetzung ihrer Vorstellungen betrifft. Eines der wenigen Beispiele, das Sandel für die Politik eines an kommu21 22 23 24 25 26
Vgl. Kap. 8.1 dieser Arbeit. Siehe Walzer (1992), Kap. 9. Ebda., S. 330. Vgl. Nagl-Docekal (1993b). Vgl. etwa Nussbaum (1993b) und (1993c). Zur Kritik der verschwommenen Gemeinschaftsvorstellung der Kommunitaristen siehe Koller (1993b), S. 83-91.
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nitaristischen Prinzipien ausgerichteten Gemeinwesens anführt, betrifft bezeichnenderweise die Pornographie: „Kommunitaristen ließen es wahrscheinlich eher als Liberale zu, daß eine Stadt pornographische Buchläden mit der Begründung verbietet, die Pornographie verstieße gegen ihre Lebensweise sowie die Werte, die sie aufrechterhält." 27 Hier wird nun sehr deutlich, was die Kommunitaristen unter dem „gemeinsamen Guten" verstehen: nichts anderes als die konventionellen Moralüberzeugungen der Majorität, die sich unter dem bekannten Topos der „guten Sitten" nur allzuleicht in jenen selbstgerechten Gesinnungsterror verkehren, der immer wieder den Interessen und Rechten von Frauen gefährlich wurde.28 Nun haben bekanntlich auch Feministinnen entschieden gegen die Pornographie Stellung bezogen 29 , aber ihre Einwände beziehen sich auf völlig andere Aspekte als den Verstoß gegen „kommunale Werte". Der Pornographie wird vorgeworfen, daß sie Frauen instrumentalisiert und zum Objekt einer männlich definierten Sicht der Sexualität macht; Pornographie ist, wie Catharine MacKinnon nachhaltig betont, eine Form der Gewalt gegen Frauen. Die feministische Kritik, selbst wenn sie MacKinnons Position nicht uneingeschränkt teilt, analysiert Pornographie im Zusammenhang mit den allgemeinen Mechanismen der Unterdrückung von Frauen und hält wohlweislich Abstand zu der Berufung auf die sittlichen Standards und Gewißheiten der Gemeinschaft. Um Klarheit über die Beziehungen von Feminismus und Kommunitarismus zu gewinnen und gleichzeitig auch die Position des Feminismus innerhalb des Spannnungsfelds von Liberalismus und Kommunitarismus zu definieren, ist Amy Gutmanns Differenzierung wichtig, die zwar die kommunitaristische Liberalismuskritik in ihren politischen Konsequenzen als konservativ einstuft, den „kommunitaristischen Werten" für sich genommen aber einen bedeutsamen und im Liberalismus nicht genügend berücksichtigten Stellenwert einräumt. 30 Davon ausgehend läßt sich sagen: Wenn der Feminismus in seiner Korrektur und Transformation der liberalen Theorie auf Gemeinschaftswerte und Reflexionen über das Gute zurückgreift, so bringt ihn dies nur höchst oberflächlich gesehen in die Nähe des Kommunitarismus. Die feministische Theorie hat die Defizite liberaler Philosophie, die auch in der Moraltheorie ihren Niederschlag finden, unabhängig von den kommunitaristischen Kritikern entdeckt, und unter dem Blickwinkel der Geschlechterdifferenz kann die Reflexion auf die vom Liberalismus vernachlässigten sozialen Ideale nur in deutlichem Abstand zum Kommunitarismus erfolgen. Denn Marilyn Friedmans Zusammenfassung der prekären Relationen von Feminismus und Kommunitarismus bleibt nichts hinzuzufügen: „Indessen ist die kommunitaristische Philosophie als ganzes für die feministische Theorie ein gefährlicher Weg." 31 27 Sandel (1984c); zitiert nach Gutmann (1993), S. 79. 28 Für eine interessante Diskussion im Kontext der Rechtsprechung in Deutschland und Österreich vgl. Graf (1994), S. 149-151. 29 Vor allem MacKinnon (1987), Kap. 11-14 und MacKinnon (1989a), Kap. 11. Auf die Frage, wie weit MacKinnons speziellen Vorschlägen zu einer geänderten Gesetzgebung zuzustimmen ist, kann ich hier nicht eingehen. 30 Siehe Gutmann (1993), S. 83. 31 Friedman (1994), S. 185.
IMMANUEL KANT UND DAVID HUME MORALTHEORETIKER DER FRAUEN?
Die moderne Moralphilosophie war im wesentlichen von zwei Richtungen bestimmt: der Kantischen Ethik und dem Utilitarismus. 1 Seit geraumer Zeit sind aber Veränderungen und Umbrüche in der vormals festgefügten moraltheoretischen Landschaft zu bemerken. Durch das wiedererwachte Interesse an aristotelischen Theorien des guten Lebens rücken Kantianismus und Utilitarismus aufgrund gewisser Gemeinsamkeiten als „unparteiliche Prinzipienethiken" näher zusammen 2 , und ihnen werden nun die sogenannten „Tugendethiken" gegenübergestellt. 3 Im Zuge dieser Neuorientierung - so ist die Theorie Kants nun nicht nur den Standardargumenten aus dem utilitaristischen Umfeld ausgesetzt - erlebt auch ein Philosoph eine Renaissance, dessen Moraltheorie die längste Zeit ein Schattendasein führte und im deutschen Sprachraum ohnehin nie die ihr gebührende Beachtung fand: David Hume. Die feministische Kritik der Moralphilosophie, die sich, wie wir gesehen haben, nicht auf einen bestimmten theoretischen Ansatz einengen läßt, bereichert und belebt die neuerdings vielfältiger und differenzierter verlaufenden Kontroversen um das angemessene Verständnis von Moralität. Ein Gutteil der feministischen Argumente richtet sich gegen die nachkantischen Moralansätze und auch gegen Kant selbst. Doch nach Meinung nicht weniger KantExegetinnen beruhen die Einwände gegen Kants Ethik auf groben Mißverständnissen und einer insgesamt verkürzten Sicht von Kants Moralphilosophie. Die Theorie Kants erlitt, wie Barbara Hermán bemerkt, das philosophisch unerquickliche Schicksal, "the captive of its critics" 4 zu sein. Die Gewohnheit, die Darstellung der Moralkonzeption Kants durch seine Kritikerinnen und Gegner für die verbindliche Interpretation zu halten, hätte sich schon so stark eingebürgert, daß der Blick auf den eigentlichen Text, auf das sorgfältige Studium dessen, was Kant wirklich zu sagen hatte und sagen wollte, zunehmend verstellt sei. Aufgrund ihrer Skepsis gegenüber Kants Ansatz wandten sich einige feministische Philosophinnen dem Moralansatz Humes zu, da sie in diesem eine Struktur zu entdecken glaubten,
1
Die Dominanz dieser beiden Strömungen spiegelt sich in der Tatsache, daß die Klassifikation ethischer Theorien in deontologische und teleologische Theorien in der analytischen Moralphilosophie bis heute üblich ist und als erschöpfend gilt.
2
Erinnert sei etwa daran, daß sich Bernard Williams' Einwände gegen den „unparteilichen moralischen Standpunkt" gleichermaßen gegen den Utilitarismus wie gegen die Theorie Kants richten. Siehe Williams (1984b), S. 11-14. Vgl. dazu Kap. 6. 1 dieser Arbeit.
3
Manche Kritiker der klassischen Ansätze, wie eben Bernard Williams, verfolgen nicht länger das Ziel, eine einheitliche, geschlossene Theorie der Moral zu entwickeln. Ihnen geht es einfach um eine Analyse und ein besseres Verständnis des Phänomens „Moral" im Kontext unserer Lebenszusammenhänge. Insofern wäre es irrig, sie als „Tugendethiker" zu bezeichnen.
4
Herman (1993a), S. VII (Preface).
168 welche den moralischen Einsichten und Erfahrungen von Frauen nähersteht. Dabei entwickeln sie eine Interpretation von Humes Theorie, die der Sicht von Hume als dem Vertreter einer individualistischen Vertragstheorie der Moral widerspricht. Ein genauerer Blick auf diese beiden Klassiker ist schon deshalb notwendig und wichtig, um etwas Licht in diese rivalisierenden und gegenläufigen Auslegungen zu bringen, die infolge der Situierung philosophischer Probleme im historischen Kontinuum des Dialogs der Argumente und Ideen einen wesentlichen Einfluß auf die gegenwärtigen Debatten ausüben. Zudem bin ich der Überzeugung, daß sich in einem wichtigen Punkt, nämlich in der grundlegenden Deutung des moralischen Standpunkts, Kants und Humes Theorie näher stehen als vielfach angenommen. Eine entsprechende Synthese ihrer beider Reflexionen zum Phänomen der Moral weist den Weg zu einer Moralkonzeption, die auch vom feministischen Gesichtspunkt her Zustimmung zu finden vermag. In diesem Teil der Arbeit werde ich mich also eingehender mit den ethischen Theorien von Kant und Hume beschäftigen. Nach einem jeweiligen Exposé ihrer Ansätze, welches im Fall von Hume durch den geringeren Bekanntheitsgrad seiner Theorie breiter ausfällt, komme ich auf die konträren Lesarten zu sprechen. Dabei versuche ich zu zeigen, daß die Einwände gegenüber Kants Theorie zumindest zum Teil berechtigt sind. Humes Theorie, so meine These, kann nicht auf einen moralischen Egoismus reduziert werden und reicht mit der Einbindung des Affektiven über Kants Ansatz hinaus in Richtung einer Integration der auch im Umkreis der feministischen Ethik-Debatte als grundlegend betonten Werte von Empathie, Fürsorglichkeit und Anteilnahme.
10
Pflichten, Imperative und die Achtung für das moralische Gesetz: Die Moraltheorie Immanuel Kants
10.1
Grundzüge von Kants Ethik
Kants Theorie gilt als das klassische Beispiel eines deontologisehen Ansatzes: Die Moralität einer Handlungsweise bemißt sich nicht an externen Faktoren, etwa den Konsequenzen, die sie nach sich zieht oder dem Umstand, daß sie zur Realisierung wertvoller Ziele beiträgt. Moralische Richtigkeit resultiert bei Kant aus der Art und Struktur der Handlung selbst; Elemente wie Zweckdienlichkeit oder Folgenabschätzung betrachtet er als unerheblich zur Beurteilung des moralischen Werts unseres Tuns. Die Idee dahinter ist, daß diese Momente Heteronomie in die Moral bringen, und von heteronomen Prinzipien ausgehende Moraltheorien vermögen nach Kant schlicht nicht, den kategorisch bindenden Charakter von Moralität zu erfassen. 1 Moral würde sich so auf hypothetische Imperative, auf reine Zweck-MittelÜberlegungen der Form „Wenn du X willst, mußt du Y tun" reduzieren, womit der Nötigungs- und Verpflichtungscharakter von Moralität relativiert wäre. Moralische Gebote sind für Kant kategorische Imperative, sie gelten unbedingt. Die Ausklammerung jeder heteronomen Willensorientierung, dem „Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit" 2 , beschränkt sich nicht nur auf Folgen und Zweck-Mittel-Überlegungen: Auch Neigungen und Gefühle sind für die moralische Qualität einer Handlung unerheblich. Moralität bedeutet für Kant, in Übereinstimmung mit dem obersten Prinzip der Moral, dem kategorischen Imperativ, zu handeln. Der kategorische Imperativ ist ein Testkriterium, das unsere Handlungen rein formal über deren strukturelle Merkmale auf ihren moralischen Gehalt überprüft. Moralisch richtiges Handeln ist nach Kant Handeln um der Pflicht willen, Handeln im Einklang mit und aus Achtung für das moralische Gesetz. Handlungen, deren motivationale Basis nicht im Willen zur Achtung des kategorischen Imperativs liegt, sondern in Neigungen, Interessen und Gefühlen, fehle moralischer Wert. Für Angemessenheit vom moralischen Standpunkt genüge es nicht, wenn unser Handeln pflichtgemäß ist; bloße Konformität mit der Pflicht schließe nicht aus, daß reines Selbstinteresse - für Kant der Gegensatz par excellence zu Moralität - unsere „Triebfeder" bildet. Erst wenn wir aus Pflicht agieren, also den Willen zur Respektierung des obersten Grundsatzes der Moralität zur Grundlage unseres Tuns machen, genügen wir den Ansprüchen und Forderungen der Moral. Moralisch handeln verlangt nach Kant Abstand von unseren Neigungen und Empfindungen, selbst wenn diese altruistischer Natur sind. Mit welcher Unerbittlichkeit Kant die Idee des Handelns aus Pflicht vertritt und Moralität im strengen Gegensatz zu Neigungen versteht, verdeutlichen die beiden bekannten Beispiele 1
Siehe Kant (1785), S. 76-80.
2
Ebda., S. 75.
170 aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: der Fall des seines Lebens überdrüssigen Menschen und das Beispiel der Person, welche wenig an spontaner Sympathie für andere empfindet. 3 Im Gegensatz zu der „Sorgfalt", mit welcher die meisten Menschen auf den Erhalt ihres Lebens achten und ihre Gesundheit schützen, erfüllt für Kant der aus Pflicht erfolgende Entschluß zum Weiterleben eines zutiefst am Dasein leidenden Menschen die Bedingungen von Moralität. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Wohltätigkeit: Auch ihr spricht Kant den „sittlichen Gehalt" ab, selbst wenn sie - ohne alle niederen Beweggründe wie „Eitelkeit" oder „Eigennutz" - nur aus Gründen innerer Anteilnahme und dem Bedürfnis, anderen etwas Gutes zu tun, erfolgt. Erst wenn die Handlung ohne Neigung um der Pflicht willen geschieht, qualifiziere sie sich als moralisch: „Gesetzt also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle Teilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, andern Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen gnug beschäftigt ist, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus, und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren echten moralischen Wert." 4 Kants Ausgrenzung aller Neigungen, Empfindungen und Ziele und der formale Zuschnitt seines Ansatzes bedingen einander wechselseitig. Jede inhaltliche Formulierung des moralischen Gesetzes würde Moral mit heteronomen Werten verknüpfen und Kants entscheidende Prämisse, daß der Charakter und das Wesen von Moralität nur aus sich selbst durch a priori Reflexion ihrer Voraussetzungen verständlich werden kann, untergraben. Kant wiederholt diesen Grundgedanken unermüdlich und in verschiedenen Varianten; er ist der rote Faden, der sich durch seine Moralphilosophie zieht. Die notwendige Verbindung von moralischer Autonomie als Gesetzgebung des Willens und Formalität verdeutlicht er wohl nirgends so nachhaltig und explizit wie am Ende des ersten Abschnitts der Grundlegung, wo er von der Verurteilung aller Versuche, den moralischen Wert von Handlungen mit den zu erwartenden Konsequenzen zu verknüpfen, erstmals auf den kategorischen Imperativ überleitet: „Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung, auch ohne auf die daraus erwartete Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d.i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden." 5 Der kategorische Imperativ prüft die Moralität unserer Handlungen rein über das formalstrukturelle Erfordernis, ob die unser Tun leitenden Grundsätze verallgemeinerbar sind. In den berühmten vier Beispielen der Grundlegung skizziert Kant, wie er sich die Anwendung seines Prüfverfahrens vorstellt. 6 So können wir uns vom moralischen Standpunkt gesehen die Maxime, Versprechen nicht zu halten und geliehenes Geld nicht zurückzuzahlen, nicht zum Prinzip machen, da uns die Verallgemeinerung dieser Maxime - die Vorstellung, daß alle an3
Ebda., S. 23f.
4
Ebda., S. 24.
5
Ebda., S. 28.
6
Siehe Kant (1785), S. 5 2 - 5 4 und S. 61-63.
171 deren auch so handeln - sofort deren Ausnahmestatus bewußt machte: Die Universalisierung sei in dem Fall schlicht „denkunmöglich". Ein Handeln nach diesem Grundsatz ist überhaupt nur auf dem Hintergrund möglich, daß nicht alle anderen so handeln - ein Moment, welches Kant mit dem Begriff der „Selbstzerstörung von Maximen" auf den Punkt bringt. Analog behandelt Kant die Fälle der Gleichgültigkeit gegen andere; des Versäumnisses, die eigenen Talente zu fördern und des Überdrusses am Leben, das umstrittenste und zweifellos am wenigsten überzeugende Beispiel Kants. 7 Die vielkritisierten „metaphysischen" Aspekte von Kants Theorie sind besonders im dritten Abschnitt der Grundlegung, in dem Kant die transzendentale Deduktion des kategorischen Imperativs entwickelt, präsent. 8 Zwei Ideen spielen in seiner Begründung des moralischen Gesetzes eine zentrale Rolle: jene der Freiheit und die der Autonomie, der moralischen Selbstgesetzgebung von Subjekten. 9 Wie schon erwähnt, ist die Autonomie der Moral grundlegend für Kants Ansatz und die logische Konsequenz seiner Ablehnung aller Zielvorstellungen. Moral kann nur aus sich selbst bestimmt und über die a priori Einsehbarkeit ihres Grundprinzips begründet werden, da jeder Rückgriff auf einen moralexternen Rechtfertigungsgrund per definitionem als unverträglich mit Moral entfallt. Die Autonomie im Sinne der moralischen Selbstgesetzgebung ist mit Freiheit gleichzusetzen - nur ein in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz handelndes Subjekt ist nach Kant frei. Seine Auffassung von Freiheit und Autonomie in Kombination mit seiner Skepsis gegenüber allen empirischen Bestimmungen veranlaßt Kant bekanntlich zur Einführung der intelligiblen Welt und einer bestimmten Konzeption des moralischen Subjekts. Frei sind wir nur insofern, als wir Teil der intelligiblen Welt sind, Mitglieder in einem Reich der Zwecke. 10 Als empirische Wesen sind wir Teil der Sinnenwelt, Spielball unserer Präferenzen, Interessen und Begehren. Als freies, der Moralität fähiges und somit vernünftiges Wesen, das unter der Bedingung der Freiheit handelt, sind wir nicht länger empirisches, sondern transzendentales Subjekt: Teil der intelligiblen Welt der reinen Vernunftwesen und in der Lage, unsere Handlungen abstrahiert von unseren de facto Determinierungen ausschließlich am Grundsatz der Moralität zu orientieren und diesen zur Grundlage unseres Willens zu machen." Kant leitet hier ein bestimmtes Bild der menschlichen Natur: Menschen sind ichbezogen, parteilich und ohne die kontrollierende Instanz der Vernunft mehr oder weniger hilflos ihren subjektiven Begehren ausgeliefert. Zudem charakterisiere uns eine manifeste Tendenz, unsere 7 Vgl. FN 36 dieses Kapitels. 8 Dies entspricht dem Aufbau der Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten. Im ersten Abschnitt versucht Kant, aus-
gehend vom gewöhnlichen moralischen Bewußtsein, die Voraussetzungen von Moralität analytisch
zu er-
schließen, was im Aufweis des kategorischen Imperativs als unumgänglicher Bedingung von Moralität gipfelt. Nach einer Darlegung der verschiedenen Formulierungen des moralischen Gesetzes im zweiten Abschnitt erfolgt im letzten Teil dessen Rechtfertigungsversuch. 9 Der Stellenwert des Autonomiegedankens reflektiert sich auch darin, daß das Prinzip der Autonomie direkt in einer von Kants verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs Ausdruck findet, nämlich in Form der Forderung, so zu handeln „daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne". Kant (1785), S. 67. Kants Idee der Autonomie wird häufig falsch verstanden - einfach als größtmögliche Unabhängigkeit von anderen. Aus diesem Mißverständnis heraus wird dann Kant vorschnell ein von sozialen Bindungen losgelöster Zuschnitt seiner Moralphilosophie unterstellt. 10 Siehe Kant (1785), S. 81-89. 11 Ebda., S. 89-91.
172
Die Moraltheorie Immanuel
Kants
Vorteile zu verfolgen und uns von jenen Normen des Zusammenlebens auszunehmen, die wir objektiv betrachtet keinerlei Schwierigkeiten haben, als grundlegende soziale Regulative einzusehen. Eben darum bedürfe es der Moral als einer unseren unmittelbaren Neigungen gegensteuernden Instanz. Es ist hier nicht der Ort für eine genauere Erörterung von Kants Rechtfertigung des Moralgesetzes, der transzendentalen Deduktion des kategorischen Imperativs. Die oben dargelegten Annahmen verdeutlichen die wesentlichen Prämissen des Arguments: Die menschliche Natur ist durch eine Dualität gekennzeichnet. Menschen sind durch Neigungen, Begehren und Wünsche determiniert; gleichzeitig erlaubt ihnen ihr Vernunftvermögen, sich von diesen faktischen Bestimmungen zu lösen, und diese beide Faktoren konstituieren ihre Zugehörigkeit zur phänomenalen Welt einerseits und der intelligiblen Welt andererseits. Kant versucht nun, die Verknüpfung der zwei Welten über das Argument herzustellen, daß die Gesetze der Verstandeswelt jene der empirischen Welt umfassen und so verständlich werde, daß ein Grundprinzip der intelligiblen Welt auch für empirische Subjekte Gültigkeit hat und deren Handeln in der phänomenalen Welt bestimmt: „Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben, enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist, und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Prinzip gemäße Handlungen als Pflichten ansehen müssen." 12 Kants relativ komplizierte und verästelte Deduktion des Sittengesetzes, die freilich nicht als Deduktion im formallogischen Sinn zu verstehen ist, reduziert sich letztlich auf den Punkt, daß der oberste Grundsatz der Moral durch Vernunft a priori einsehbar ist. 13
10.2
Zwei Lesarten der Kantischen Theorie
10.2.1
Formaler Universalismus und abstrakter Rationalismus
Viele Philosophinnen und Philosophen führen den „formal-universalistischen" Charakter eines Großteils der zeitgenössischen Moraltheorien auf den Einfluß Kants und dessen Verständnis von Moral zurück. Kants Theorie ist für sie durch einen mehrfachen Abstraktionsschub gekennzeichnet: der Abspaltung alles Empirischen als Motivationsbasis wie als Ziel-
12 Kant (1785), S. 90. Die Annahme der „Verstandeswelt als Grund der Sinnenwelt" ist letztlich auf die grundlegende konstruktivistische Prämisse von Kants Philosophie zurückzuführen, daß die Struktur unseres Bewußtseins die Art und Form unserer Erfahrung der Sinnenwelt mitbestimmt. 13 Für eine genauere Darstellung der Deduktion vgl. Paton (1962), S. 302-316. Da sich Kants Argumentation letztlich auf Einsicht reduziert, werden die mit Berufung auf Kant erfolgenden Versuche einer „transzendentalen Letztbegründung", die sich auf präsuppositionstheoretische Argumente reduzieren, irgendwie verständlicher, wenn auch nicht überzeugender. Denn Kant verbindet mit einem „transzendentalen Beweis" natürlich mehr als nur den Aufweis einer analytischen Relation.
Formaler
Universalismus
und abstrakter
Rationalismus
173
Orientierung aus der Moraltheorie, der Fassung des kategorischen Imperativs als eines rein formalen Moralprinzips und der Fortsetzung der Ausgrenzung faktisch-anthropologischer Elemente in seiner Definition des moralischen Subjekts. Diese Merkmale verfestigen sich zu jenem mittlerweile prominenten Bild von Kant als dem Exponenten einer aus allen konkreten Lebensbezügen gelösten Moraltheorie - eine Interpretation, welche die feministische Kritik an Kant nur zu verständlich macht. Durch die Ausgrenzung von Empfindungen, so ein Hauptvorwurf an die Adresse von Kants Ethik, blieben Werte wie Empathie und Mitgefühl unberücksichtigt. Kant vermöge nicht, der moralischen Bedeutsamkeit eines direkten Altruismus gerecht zu werden; seine Theorie anerkenne nicht die „Sorge" für andere als moralisch gut und wertvoll. 14 Als Folge davon sei die moralische Dimension persönlicher Beziehungen in den Kategorien der Kantischen Moraltheorie nicht faßbar. Kants Skepsis gegenüber Gefühlen, Empfindungen und Neigungen resultiert zum einen aus seiner Einschätzung, daß sie wechselhaft und insofern als Basis der Moralität untauglich sind. Zum anderen bringt er gegen die Einbindung von Gefühlen in die Moral vor, daß moralische Empfindungen nicht Gegenstand von Pflichten sein können: „Denn Liebe als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohltun aus Pflicht, selbst, wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt.. ."' 5 Die Verteidiger moralischer Gefühle setzen dem zwei Argumente entgegen: Einmal führen sie an, daß Handeln auf der Basis anteilnehmender Empfindungen nicht mit impulsivem oder launenhaftem Handeln gleichzusetzen sei. Altruistische Gefühle hätten eine kognitive Dimension, die sie klar von der Ebene reflexhafter Reaktionen abhebe. Da sie auf das Wohl von Mitmenschen gerichtet sind, können sie rationale Überlegungen einbeziehen nämlich wie der anderen Person am besten zu helfen ist - , wenngleich Empfindungen weiterhin ihre motivierende Basis bilden. 16 Des weiteren weisen sie darauf hin, daß Kant nicht genügend zwischen persönlichen und altruistischen Gefühlen differenziere. Persönliche Gefühle wie Zuneigung oder Liebe müßten von affektiven Haltungen - also Anteilnahme und Mitgefühl - getrennt werden. Während persönliche Gefühle meist auf moralisch irrelevanten spezifischen Eigenarten und Eigenschaften bestimmter Personen basierten, seien Empathie und Anteilnahme in ihrer intentionalen Ausrichtung durch einen moralisch relevanten Faktor definiert: dem Wohl anderer Personen. 17 Das Argument läßt sich auf den Punkt bringen, daß selbstredend nicht persönliche Liebe, sehr wohl aber Sympathie im Sinne des Verstehens und der Einfühlung moralisch belangvoll ist. In Kants Reflexionen zur Liebe wird tatsächlich eine mangelnde Unterscheidung zwischen persönlichen und altruistischen Gefühlen offensichtlich. Kant differenziert bekanntlich zwischen zwei Formen der Liebe: der „praktischen Liebe", die auf dem Motiv der Pflicht basiert, und der „pathologischen Liebe", der Liebe aus Neigung. 18 Da moralische Empfindungen, wie etwa die emotionale Anteilnahme am Wohlergehen anderer, nicht durch Pflicht bedingt sind, betrachtet Kant sie als Spielart pathologischer Liebe. Kant ordnet Altruismus 14 15 16 17 18
Vgl. Blum (1980), S. 7. Kant (1785), S. 25. Vgl. Blum (1980), S. 21 f. Zur Rationalität von Emotionen vgl. auch De Sousa (1987). Vgl. Blum (1980), S. 25. Siehe Kant (1785), S. 25f.; vgl. Kant (1797a), S. 532f.
174
Die Moraltheorie
Immanuel
Kants
der Liebe aus Neigung zu, womit sich die irrtümliche Gleichsetzung moralischer und persönlicher Empfindungen (wie etwa der romantischen Liebe) ergibt. 19 Lawrence A. Blum ortet beispielsweise eine grundsätzliche Doppelgleisigkeit in Kants Denken über die Angemessenheit von moralischen Beweggründen. Emotionen würden von Kant auf ihr tatsächliches Funktionieren hin kritisiert, während er im Fall von Vernunftgründen auf deren prinzipielle Möglichkeiten baue. Für Blum gilt ein Symmetrieprinzip, was den Status von Handeln aus dem Motiv der Pflichterfüllung und Handeln aus dem Motiv moralischer Empfindungen betrifft: Wir vermögen beide zur Grundlage unseres Tuns zu machen; es steht uns aber gleichermaßen frei, nicht danach zu handeln. Moralisches Versagen ist kein Privileg unserer Gefühle, es kann auch die Ebene unserer rationalen Einsichten betreffen. 20 Allgemein läßt sich die Kritik, die in Kants Ethik einen abstrakt-rationalistischen Zuschnitt diagnostiziert, in folgende Punkte zusammenfassen: 1. Da Kant ein rein formales Testkriterium, das nur abstrakte Situationsgemeinsamkeiten berücksichtige, in den Mittelpunkt seiner Theorie stelle, mangle es dieser an Kontextsensitivität und der Möglichkeit, substantielle moralische Normen zu generieren. Mit Bezug auf konkrete Problemstellungen bleibe sie deswegen hoffnungslos unterbestimmt. 2. Kants Theorie impliziere eine unplausible Subjektkonzeption. Kants moralische Akteurin sei ein allen Situationsgebundenheiten und sozialen Kontexten enthobenes transzendentales Ich, womit Kants Moraltheorie der Bezogenheit auf Lebenszusammenhänge verlustig gehe. Indem sie moralische Subjekte über ein einziges Merkmal - deren Vernunftcharakter definiere, entglitten ihr die konkreten realen Individuen. Die reduktionistische Bestimmung des moralischen Subjekts bedinge eine gleichsam definitorische Identität und NichtUnterscheidbarkeit der Individuen. Ihre Verbindlichkeit beziehen moralische Grundsätze über die a priori Reflexion rein rationaler Subjekte. Wie vermöge aber etwas, das Gültigkeit für allen Bindungen entrückte und von ihren empirischen Bestimmungen abgespaltene Wesen hat, Relevanz für konkrete Subjekte, die Teil der Lebenswelt sind, beanspruchen? 3. Aus der Einsehbarkeit des obersten Prinzips der Moralität folge, daß davon abgeleitete spezifischere moralische Grundsätze für alle Vernunftwesen in allen Kontexten gleichermaßen gültig sind. Dadurch werde die Kantische Theorie nicht der Differenz zwischen realen Subjekten und ihren unterschiedlichen Situiertheiten gerecht. In ihrem ungebrochenen Universalismus übersehe die Theorie Kants, daß moralische Angemessenheit nicht unabhängig von spezifischen Umständen und kontextuellen Besonderheiten bestimmbar ist. 4. Indem Kant Moralität an ein von Neigungen und Interessen abstrahiertes Handeln aus Pflicht binde, verkürze er den Bereich der Moral in unzulänglicher Weise. Insbesondere verdränge seine krude Pflicht/Neigung-Psychologie Phänomene aus dem Bereich des Moralischen, die dort einen Platz haben sollten wie Gefühle des unmittelbaren Wohlwollens, der Empathie und der Anteilnahme. 5. Kants Vorstellung eines vom empirischen Ich abgespaltenen transzendentalen Subjekts mache seine Theorie für reale, kontextsituierte und kontextgebundene Wesen unverständlich. Kants übertriebener moraltheoretischer Rationalismus zwinge ihn zu einer rein metaphysischen Konstruktion: der Annahme einer neben der empirischen Welt existierenden intelligiblen Welt reiner Zwecke. Mit der Vorstellung eines vom empirischen Ich gelösten Subjekts 19 Vgl. Blum (1980), S. 28; vgl. auch Okin (1993), S. 3 0 7 - 3 1 1 und Williams (1978b), S. 360ff. 2 0 Siehe Blum (1980), S. 2 9 - 4 2 .
175 reiner Vernunft wie auch mit der Vorstellung einer von der sinnlichen verschiedenen noumenalen Welt untergrabe Kant sein eigenes Programm, eine von obskurer Metaphysik freie Moralbegründung zu liefern. Eine Reihe von Philosophinnen und Philosophen spricht diesen Vorwürfen allerdings die Berechtigung ab, da sie an dem eigentlichen Kern von Kants Ethik vorbeigingen.
10.2.2
Maximen, Wohltätigkeit und Sittlichkeit
Bedeutende Kant-Interpretinnen und Interpreten wie Onora O'Neill, Otfried Höffe, H. J. Patón und Barbara Hermán lesen Kant anders. 21 Nach ihrer Meinung ist die Kantische Theorie, was ihre Anwendungsseite betrifft, keineswegs allen Lebensbezügen enthoben, sondern sehr wohl kontextsensitiv und für praktische Probleme relevant. Nicht nur biete sie substantielle Folgerungen für das, was zu tun richtig ist; sie sei auch relevant für aktuelle Fragestellungen von moralischer Brisanz. Obwohl von diesen Kant-Exegeten nur Onora O'Neill und Barbara Hermán explizit beanspruchen, den Einwänden von Seiten feministischer Philosophinnen begegnen zu können 22 , lassen sich aus Höffes und Patons Kant-Exegese die Antworten gleichsam extrapolieren. Eine erste Korrektur dieser Interpreten an der oben dargelegten Sicht lautet, daß Kant nicht ein Handeln entgegen unseren Neigungen zur Grundbedingung von Moralität erkläre. Besonders Paton und Hermán haben diese These aufs entschiedenste zurückgewiesen. 23 Nach Paton ist Kant nur verständlich, wenn man sich nicht auf einzelne Textstellen fixiert, sondern den Gesamtzusammenhang berücksichtigt, den Kant zwischen Handlungspsychologie und moralischer Beurteilung sieht. Demnach unterscheidet Kant zwischen drei Hauptformen von Handlungen, die pflichtmäßig sein können: 1. Solche, die aus unmittelbarer Neigung geschehen; 2. jene, deren Beweggründe in reinem Selbstinteresse ruhen und, 3. solche, deren motivierende Gründe weder in unmittelbarer Neigung noch in selbstsüchtiger Absicht liegen, sondern die aus Pflicht getan werden. 24 Alle diese Handlungen können pflichtmäßig sein, aber moralisch sind sie unterschiedlich einzustufen. Paton scheint es offensichtlich, daß eine Handlung nicht allein dadurch moralische Qualität erlangt, weil wir eine unmittelbare Neigung haben, sie zu tun: „Kann irgendjemand ernstlich behaupten, eine Handlung müsse gut sein oder müsse eine Pflicht sein, nur weil wir die Neigung haben, sie zu vollbringen?" 25 Ebenso könne eine auf egoistische Motive rückführbare Handlung nicht als moralisch wertvoll gelten. Erfolge die Handlung aber aus Pflicht, aus dem Willen zur Achtung des moralischen Gesetzes, so komme ihr unmißverständlich moralischer Wert zu. 21 Siehe O'Neill (1989a); Höffe (1988); Paton (1962); Herman (1993a). Die Rede von einer alternativen Lesart will nicht die durchaus vorhandenen Unterschiedlichkeiten in der Kant-Rezeption der erwähnten Autorinnen und Autoren verwischen oder in Abrede stellen. Bezogen auf den Gegensatz zu der im vorhergehenden Abschnitt entwickelten Interpretation stehen aber die Gemeinsamkeiten, die sich deutlich zu einem anderen Kant-Bild fügen, im Vordergrund. 22 Siehe O'Neill (1989a), S. Xf. (Preface) und Herman (1993e). 23 Siehe Paton (1962), S. 38-55 und Herman (1993d). 24 Siehe Paton (1962), S. 40. 25 Ebda., S. 42.
Die Moraltheorie
Immanuel
Kants
So weit geht Patons Rekonstruktion kaum über eine Wiederholung von Kants Thesen hinaus. Sein entscheidender argumentativer Schritt lautet: Nichts in Kants Argumentation deute darauf hin, daß ein Handeln, zu dem wir eine Neigung haben und das zugleich aus Pflicht geschieht, nicht moralischen Wert hat. Bei seiner Analyse der Beweggründe von Handlungen bediene sich Kant einer Methode der Isolation; er differenziere die einzelnen Motivationsstränge unserer Handlungen und mache deren Bewertung davon abhängig, welche Motive dominieren. 26 Die obige Einteilung von Handlungstypen sei also nur eine idealtypische Konstruktion, die sich aus der Hervorhebung eines der möglichen Handlungsmotive ergebe. De facto würden diese Motive aber häufig vermischt auftreten. Wir können, wie Paton meint, „nur insoweit überzeugt versichern ( . . . ) , eine Handlung sei gut, als wir glauben, daß der Wille zur Pflichterfüllung aus sich heraus ohne die Unterstützung durch eine Neigung genügt hätte, die Handlung zu veranlassen". 2 7 Die Moralität einer mit Neigungen verbundenen Handlung ist, so Paton, umstrittener, als wenn uns diese Überwindung kostet und Pflicht und Neigung auseinanderfallen. Mit seiner Pflicht/NeigungKonstrastierung verdeutliche Kant nur, daß für die Moralität unseres Tuns ein über die Ebene unmittelbaren Wollens hinausreichendes Kriterium unabdingbar ist. Somit beruht Kants Moraltheorie, so könnte man Patons Argumentation zusammenfassen, nicht auf einer dubiosen Psychologie, die moralische Subjekte auf rationalistische Pflichterfüller reduziert und sie allen Lebenskontexten, in denen Neigungen, Interessen und Bedürfnisse der Menschen eine Rolle spielen, entfremdet. Kant wisse sehr wohl, daß unmittelbare Neigungen etwa Mitgefühl und Anteilnahme - im moralischen Leben bedeutsam sind. Einer der bekanntesten Einwände, seit Hegels Zeiten bis in die Gegenwartsphilosophie beharrlich wiederholt, richtet sich gegen Kants Formalismus. Kants Versuch, aus einem formalen Kriterium materiale Normen herzuleiten, könne nur scheitern. Die Kritiker Kants weisen in dem Zusammenhang darauf hin, daß sich die zeitgenössischen Varianten der Universalisierungsbedingung - paradigmatisch jene Hares - auf Präferenzen und Interessen beziehen, was den substantiellen Gehalt einer Ethik sichere, die sich auf den Verallgemeinerungstest stützt. 28 Mit der Verbannung alles Heteronomen bleibe Kant dieser Weg versperrt. Der Vorwurf des leeren Formalismus beruht für die Verteidigerinnen Kants auf einem grundlegenden Mißverständnis und einem Verkennen des Aufbaus von Kants Theorie. Sie halten es für verfehlt, den kategorischen Imperativ als Generierungsinstanz moralischer Regeln aufzufassen. Nach ihrer Alternativdeutung hat der kategorische Imperativ in Kants Theorie nicht den Stellenwert einer allgemeinen moralischen Regel, aus der sich spezifischere Handlungsanweisungen ableiten lassen. 29 Die bekannte Sicht des kategorischen Imperativs als jenem obersten Moralprinzip, aus dem die „richtige" Norm für den Einzelfall deduziert werden kann, verweist diese Lesart in den Bereich moraltheoretischer Mythen. Für O'Neill, aber auch Höffe und Herman resultieren die Fehldeutungen aus dem Übergehen der Rolle, die Maximen in Kants Theorie spielen. Kant selbst bestimmt Maximen als „das subjektive Prinzip zu handeln", welches „vom objektiven Prinzip, nämlich dem prakti26 Ebda., S. 40f. 27 Ebda., S. 42. 28 Dies gilt etwa auch für Habermas' Fassung der Universalisierungsbedingung. 29 Siehe O'Neill (1989c), S. 59; (1989e),S. 160; (1989g), S.216.
Maximen, Wohltätigkeit und Sittlichkeit
177
sehen Gesetze, unterschieden werden" müsse. 30 Letzteres sei im Gegensatz zur Maxime „gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d. i. ein Imperativ". 31 Für das Verständnis des Begriffs einer Maxime ist, so die Replik der Kant-Verteidiger, wichtig, den Unterschied zwischen praktischen Grundsätzen und Regeln zu beachten. Maximen verkörpern, wie Kant im ersten Abschnitt der Kritik der praktischen Vernunft betont, keine Regeln, sondern Grundsätze, die eine oder mehrere praktische Regeln unter sich vereinigen. 32 Sie beinhalten, wie Höffe dies ausdrückt, „die Art und Weise, wie man sein Leben als ganzes führt", sind aber durch ihren Bezug auf bestimmte Lebensbereiche nicht mit Lebensformen gleichzusetzen. 33 Sie definieren die Lebenshaltungen und Handlungspläne von Individuen. Als kontextspezifische Prinzipien des Handelns prägen Maximen in Verbindung mit kulturellen Bedeutsamkeiten und Praktiken unser Handeln in konkreten Zusammenhängen. Hat man sich beispielsweise die Maxime der Toleranz, des Wohlwollens und der Wohltätigkeit zu eigen gemacht, so bedeutet dies auch, spezifischere Regeln wie „Respektiere die Lebens- und Kulturformen anderer", „Begegne anderen Menschen zuvorkommend" und „Setze Maßnahmen des sozialen Ausgleichs" zu akzeptieren, und diese Regeln bedingen in einzelnen Situationen über die Instanz davon bestimmter Regeln und Intentionen ein entsprechendes Verhalten. Maximen sind, wie O'Neill sagt, jene zugrundeliegenden Prinzipien, die unsere spezifischeren Intentionen leiten und bestimmen. 34 So kann uns beispielsweise die Maxime, Menschen in Not zu helfen, dazu bringen, Geld für karitative Organisationen zu spenden. Wir können unsere Maximen frei wählen, wobei unsere Sozialisation, Erziehung, kulturelle Identität sowie der Umstand, welche Art Mensch wir sind, mitbestimmen, welche Maximen wir uns zu eigen machen. Maximen sind nicht einfach mit moralischen Faustregeln gleichzusetzen, obwohl im Normalfall, wenn unsere moralische Erziehung nicht gänzlich ihren Zweck verfehlt hat, moralische prima facie-Prinzipien einen Gutteil unserer Maximen darstellen werden. Die entscheidende Prämisse der Alternativdeutung lautet nun: Der kategorische Imperativ ist keine oberste moralische Regel, sondern ein grundlegendes Prinzip zur Einschätzung jener subjektiven Prinzipien, die unser Tun und Lassen bestimmen. Mit anderen Worten: Der kategorische Imperativ ist nicht als Generierungsinstanz moralischer Regeln, sondern als Testkriterium unserer Maximen zu verstehen. Er prüft einfach, ob den Grundsätzen unseres Handelns moralischer Wert zukommt oder nicht. Als Test der moralischen Akzeptierbarkeit unserer Handlungen erfüllt der kategorische Imperativ demnach zwei Funktionen: Einmal verlangt er Klarheit über die unserem Handeln zugrundeliegenden Prinzipien; zum anderen beschränkt er unseren Handlungsspielraum nachhaltig - daß wir uns nur nach den Maximen richten, von denen wir auch wollen können, daß sie allgemeines Gesetz werden, und wir keine Maximen wählen, die andere Menschen instrumentalisieren. An den vier Beispielen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten demonstriert Kant in der Tat genau die Anwendung des kategorischen Imperativs. Kriterium ist, ob eine Ma30 Kant (1785), S. 51. 31 Ebda. 32 Siehe Kant (1788), S. 125-127. 33 Höffe (1988), S. 186. 34 Siehe O'Neill (1989d), S. 84.
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Die Moraltheorie Immanuel Kants
xime widerspruchslos verallgemeinert gedacht oder widerspruchslos verallgemeinert gewollt werden kann. Durch dieses Verfahren gewinnen wir Einsicht in unsere Verbindlichkeiten, jene gegen uns selbst wie gegen andere, über jene, die eindeutig festgelegt sind (vollkommene Pflichten), und jene, die einen bestimmten Spielraum der Realisierung lassen (unvollkommene Pflichten). 35 Maximen, die verallgemeinert nicht denkmöglich sind, korrespondieren vollkommene Pflichten; Maximen, die zwar widerspruchslos verallgemeinert gedacht, aber nicht gewollt werden können, generieren unvollkommene Pflichten. Kants Zuordnung der vier Beispiele zu diesen Unterscheidungen ist bekannt: Versprechen zu halten (und geborgtes Geld rückzuerstatten) ist eine vollkommene Pflicht gegen andere, denn die Maxime „Ich will ein Versprechen geben, es aber nicht halten" beläuft sich auf eine Widersprüchlichkeit im Denken: nämlich eine Verpflichtung eingehen und gleichzeitig nicht eingehen. Gleichfalls kann ich es mir nach Kant nicht zur Maxime machen, mir das Leben zu nehmen, wenn dieses mehr Überdruß als Freude bringt, denn die einem solchen Handeln zugrundeliegende Selbstliebe motiviere für gewöhnlich zur Erhaltung des Lebens. Es führe also zu einem Widerspruch des Denkens, wenn eine Triebfeder menschlichen Handelns gleichzeitig zur Zerstörung und Erhaltung des Lebens beiträgt - die Erhaltung des eigenen Lebens ist also eine vollkommene Pflicht gegen sich selbst. 36 Die Maximen, die Talente zu entwickeln und dem Wohlergehen anderer gegenüber nicht gleichgültig zu sein und dieses zu fördern, stellen unvollkommene Pflichten (im ersten Fall gegen sich selbst, im zweiten gegen andere) dar - sie können nicht ohne Widerspruch gewollt werden. Eine Welt, in der alle ihr Leben „bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort, auf Genuß" 3 7 einrichten, ist für Kant zwar denkmöglich, kann aber von einem vernünftigen Wesen nicht widerspruchslos gewollt werden, da dieses über die Transzendierung der Ebene der Sinnlichkeit definiert ist. Auch die Maxime der Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal und dem Wohlergehen anderer läßt sich verallgemeinert denken, das Resultat wäre allerdings eine sozial gesehen kümmerliche Welt. Nun kann man auch dies, wie Kant betont, nicht widerspruchslos wollen, da man aufgrund der Unvollkommenheiten der menschlichen Natur zwangsläufig in Situationen geraten wird, wo man die Hilfe anderer benötigt. 38 Kant ist häufig vorgeworfen worden, daß aus seinem Verallgemeinerungsverfahren kein Widerspruch folge. Doch Kants „Widerspruch" bezieht sich freilich nicht auf eine logische 35 Zum Unterschied von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten vgl. Paton (1962), S. 175f. 36 Siehe Kant (1785), S. 52. Kants Idee der „Pflichten gegen sich selbst" und seine Thesen zur Selbsttötung haben einiges an Kritik erfahren. So bemerkt Arthur Schopenhauer: „Was man gewöhnlich als Pflichten gegen uns selbst aufstellt, ist zuvörderst ein in Vorurtheilen stark befangenes und aus den seichtesten Gründen geführtes Räsonnement gegen den Selbstmord." Schopenhauer (1840), S. 167. Maclntyres Kommentar zu Kants Argumentation im Selbsttötungsbeispiel fällt nicht weniger scharf aus: „Das ist so, als würde jemand behaupten, daß jeder, der sich für die Maxime entscheidet, ,Ich trage immer kurzgeschnittene Haare', inkonsequent sei, weil ein solches Wollen dem Wachstumstrieb der Haare .widerspreche', der jedem von uns eingepflanzt ist." Maclntyre (1987), S. 69. 37 Kant (1785), S. 53. 38 In Kants eigenen Worten: „Also widerstreitet sich die eigennützige Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, d. i. sie ist pflichtwidrig, folglich die gemeinnützige, des Wohltuns gegen Bedürftige, allgemeine Pflicht der Menschen und zwar darum: weil sie als Mitmenschen, d.i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe bereinigte vernünftige Wesen anzusehen sind." Kant (1797a), S. 589f.
Maximen, Wohltätigkeit und Sittlichkeit
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Kontradiktion, sondern auf den Aufweis jenes Antagonismus, welcher darin besteht, moralische Verbindlichkeiten in allgemeiner Form festzulegen, aber sich selbst davon ausnehmen zu wollen. Kants Idee ist einfach: Wenn Verallgemeinerung eine Grundbedingung von Moralität darstellt, dann kann ich nicht etwas zu meinem Handlungsgrundsatz machen, wenn dies voraussetzt, daß andere gerade nicht danach handeln. Stellt sich heraus, daß ein bestimmtes Prinzip überhaupt nur infolge seines Exklusivstatus möglich ist, gerät es in Widerspruch zur Universalisierungsklausel, die im Grunde nur der gleichen Berücksichtigung aller Ausdruck verleiht. O'Neill demonstriert die Konsistenzforderung an folgendem Beispiel: In der bloßen Annahme der Maxime, Sklave zu werden, liege kein begrifflicher Widerspruch, sehr wohl aber in der Überlegung, ob diese Maxime ein allgemeines Gesetz sein könnte. Denn wenn jedermann Sklave wäre, gäbe es niemanden mehr mit Eigentumsrechten und insofern könnte niemand mehr Sklave werden. Das gleiche gelte für die Maxime, Sklavenhalter zu werden: Da bei ihrer Verallgemeinerung niemand mehr Sklave wäre, könnte es auch keine Sklavenhalter mehr geben. Da beide Maximen - Sklave oder Sklavenhalter zu werden - nicht verallgemeinerbar sind, disqualifizieren sie sich moralisch; nach ihnen handeln, hieße, für sich selbst eine Ausnahme zu machen. Und genau dies wäre die vom kategorischen Imperativ akzentuierte Inkonsistenz.39 Für die Anhängerinnen und Anhänger der positiven Kant-Exegese erledigen sich damit die prominentesten Gegenargumente. Berücksichtige man den Begriff und die Funktion von Maximen, so werde evident, daß die Vorwürfe des leeren Formalismus und des abstrakten Universalismus Kants Theorie schlicht nicht tangieren. Als Test unserer Maximen liefere der kategorische Imperativ selbstredend substantielle Folgerungen - Inhalt und Gehalt ruhten ja in den Maximen. Darüber hinaus sei eine Maximenethik kontextbezogen und sensibel gegenüber situativen Differenzen; subjektive Grundsätze blieben an besondere Bedingungen und Gegebenheiten gebunden. Nur wenn wir genau die partikularen Umstände unseres Handelns erfassen und reflektieren, wüßten wir, welche Maximen unser Handeln bestimmen. Maximen repräsentierten gewissermaßen die materiale Seite von Kants Moraltheorie und stellten die Verbindung zur Lebenswelt her, die Verbindung zwischen kategorischem Imperativ und konkretem Handeln. Fazit dieser Lesart: Kants Moraltheorie ist wesentlich reichhaltiger, als das Klischeebild suggeriert, und reicht weit in Lebenskontexte und Alltagssituationen hinein. Kants moralische Subjekte sind nicht von der Lebenswelt abgehobene, voneinander ununterscheidbare Vernunftwesen, sondern konkrete Personen in ganz spezifischen Umständen. Ihre Grundsätze bleiben geprägt von ihrer Identität, Sozialisation und individuellen Situation. Ungeachtet seiner metaphorischen Ausdrucksweise darf Kants Rede von der sensiblen und der intelligiblen Welt nicht in ontologischer Manier interpretiert werden. Kant hat nicht in platonischer Weise zwei Welten eingeführt, sondern macht auf zwei mögliche Standpunkte der Betrachtung aufmerksam. Wir können uns unter zwei Gesichtspunkten sehen: Zum einen als von unseren Neigungen, Bedürfnissen und Wünschen determinierte Wesen; zum anderen als Wesen, die über die Fähigkeiten der kritisch-rationalen Denkhaltung verfügen und über die Berechtigung ihrer spezifischen Begehren zu reflektieren vermögen. Eine sinnvolle Interpretation
39 Siehe O'Neill (1989d),S. 96.
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von Kants Theorie sieht uns nicht als in zwei Welten geteilte, sondern als unter zwei Perspektiven begreifbare Subjekte. 4 0 Die alternative Kant-Lesart beinhaltet auch eine Aufwertung lange vernachlässigter Aspekte und Elemente von Kants Ansatz. So legt O'Neill bei ihrem Rehabilitationsversuch besonderes Gewicht auf die „Zweck-an-sich-Formel" des kategorischen Imperativs, die lautet: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." 41 Diese Fassung des kategorischen Imperativs beinhaltet eine negative und eine positive Pflicht: die anderen nicht zu instrumentalisieren und ihr Wohlergehen zu befördern. Der Forderung der Nichtinstrumentalisierung wird nach O'Neill entsprochen, wenn die Betroffenen freiwillig einer bestimmten Behandlung zustimmen und ihr Einverständnis auf voller Information über die eigentlichen Absichten ihres Gegenübers beruht und in keinem Fall durch Zwang, Nötigung oder Täuschung zustandekommt. An zwei für Instrumentalisierung besonders anfälligen Bereichen menschlicher Interaktion, nämlich dem Problem der Gestaltung von Arbeitsverhältnissen und jenem von sexuellen Beziehungen, demonstriert O'Neill die Relevanz dieser Formel für aktuelle Lebenskontexte. 42 Der Rückgriff auf diese Formulierung des kategorischen Imperativs ermöglicht noch einen anderen Blickwinkel auf Kant. So argumentiert etwa Herta Nagl-Docekal, daß Kants Konzeption eine Fürsorglichkeitsethik, wie sie im Anschluß an Gilligans Arbeiten thematisiert wurde, miteinschließe. 43 Kants Zweck-an-sich-Formel, so Nagl-Docekal, enthalte neben dem Instrumentalisierungsverbot und der Forderung, das Recht anderer auf Selbstbestimmung ihrer Zwecke zu respektieren, auch das Gebot, „andere im Verfolgen ihrer jeweils individuellen Glücksvorstellungen soweit als möglich (und soweit dies nicht der Moral widerspricht) zu unterstützen". 44 Damit entgehe Kants Theorie einem Großteil der von feministischer Seite geäußerten Kritik - daß Kant zwar eine „Ethik der Prinzipien" entwickle, aber affektive Werte ausgrenze. Im folgenden werde ich vor dem Hintergrund der beiden erläuterten Lesarten der Frage nachgehen, ob die Auffassung von Kants Ethik als kontextsensibler Maximenethik den Einwand zu entkräften vermag, daß Kant moralische Empfindungen vernachlässige. 4 0 Siehe O'Neill (1989c), S. 59. Vgl. dazu auch Kap. 8.1 der vorliegenden Arbeit, in dem diese Deutung bereits im Zusammenhang mit Sandels Kritik an Kant und Rawls angesprochen wurde. Mit der Metapher der intelligiblen Welt will Kant, so O'Neill, die Grenze menschlicher Vernunft, nicht deren transzendenten Charakter aufzeigen. Siehe O'Neill (1989c), S. 61. O'Neill sieht auch erkenntnistheoretische Gründe für Kants Einführung der intelligiblen Welt gegeben: "The reason that w e must 'transfer' ourselves to the intelligible world is that if w e are not agents, we will never have reasons to think of ourselves as confronting a natural world that is causally determined, and so resists our control." O'Neill (1989c), S. 6 3 (Kursivsetzung im Original). 41 Kant (1785), S. 61. 4 2 Siehe O'Neill (1993), S. 3 5 4 - 3 6 4 . 4 3 Siehe Nagl-Docekal (1993a) und (1996). 4 4 Nagl-Docekal (1993a), S. 24.
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10.3
Handeln aus Pflicht und affektive Haltungen
Ein wesentlicher Punkt der Kant-Kritik beläuft sich darauf, daß Kants Theorie nicht dem Phänomenen eines direkten Altruismus gerecht wird, also Situationen, in denen wir spontan Anteilnahme, Empathie und Mitgefühl zeigen. Kant, so der Einwand, übergehe den moralischen Stellenwert dieser Handlungsweisen, deren Motiv in der unmittelbaren Sorge um das Wohlergehen einer anderen Person liege, da seine Theorie ja nur ein Handeln entgegen allen Neigungen mit moralischem Wert belege. Diese bekannte und immer wieder thematisierte Problematik verweist tatsächlich auf einen Schwachpunkt der Kantischen Position. Allerdings wirken die Argumente von Seiten jener, die den Wert direkt altruistischer Haltungen betonen, teils überzogen, da sie sich theoretisch gesehen auf das Verteidigen einer bloßen Sympathieethik reduzieren. Exemplarisch läßt sich dies an den einschlägigen Ausführungen von Lawrence A. Blum aufzeigen, die paradigmatisch sind für eine von der Idee einer Care-Ethik inspirierte Kant-Kritik. Blum führt Kants Unvermögen, die Moralität eines direkten Altruismus anzuerkennen, auf zwei Bedingungen seiner Ethik zurück: die Idee der Verallgemeinerbarkeit und die der Pflicht. Beide Kriterien würden von direkt altruistischen Handlungen nicht erfüllt; weder seien sie universalisierbar noch verpflichtend. Die Struktur altruistischen Handelns entziehe sich Kants Definition von Moral, da sie sich nicht nach Prinzipien, Maximen und Pflichten richtet.45 Blums These ist, daß nicht alle moralisch wertvollen Handlungsweisen in universellen Prinzipien gründen. Da unmittelbar altruistisches Handeln nicht auf einem Prinzip basiere, sei auch die Überlegung, ob alle anderen so handeln können, unerheblich für den moralischen Wert von Anteilnahme und Empathie. Blums Begründung, warum Universalisierung im Zusammenhang direkt altruistischen Handelns keine Rolle spielt, lautet in geradezu entwaffnender Schlichtheit: Eine Person, die altruistisch handelt, betrachtet ihr Tun nicht aus der Perspektive der Universalisierbarkeit; motiviert von der direkten Anteilnahme für konkrete Andere reflektiert sie gar nicht, ob ihre Handlungsweise allgemein verbindlich ist. Die Universalisierbarkeitsidee ist nicht deshalb dispensiert, um den eigenen Handlungen einen Sonderstatus einzuräumen; die Überlegung, ob auch alle anderen so handeln können, taucht im Fall eines direkten Altruismus einfach nicht auf. 46 Blum illustriert seinen Standpunkt an folgendem Beispiel: Ich handle direkt altruistisch. Jemand beobachtet mich und gerät in eine Situation, die der meinen ähnlich scheint, unterläßt aber altruistisches Handeln und erzählt mir davon. Nach Blum bin ich nun nicht angehalten, das Verhalten dieser Person als falsch zu beurteilen. Ich könnte etwa der Auffassung sein, daß die beiden Situationen nicht streng analog sind. Da dies natürlich nicht Blums These stützt - die relevante Ähnlichkeit ist eine notwendige Klausel der Universalisierungsbedingung setzt er einen zusätzlichen Schritt: Es könnte sich so verhalten, daß ich keine Meinung darüber habe, ob sich die beiden Situationen in moralisch relevanter Hinsicht ähneln: "Nothing compels me to have any belief about this matter. But if I lack such a belief then I am not compelled by logic to hold any view of the rightness or wrongness of the man's action. Thus I am not compelled, on pain of inconsistency, to agree that the other man ought 45 Siehe Blum (1980), S.85f. 46 Ebda., S. 87f.
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to have done what I did. In this sense I am not committed to regarding my act as universalizable." 4 7 Den möglichen Einwand, daß sein Hinweis auf die Urteilsenthaltung reichlich seltsam wirke, kommentiert Blum mit dem Hinweis: "But I am not (at this point) denying that it is odd; I am denying only that the person is logically required, in order for his act to be genuinely altruistic, to regard his action as universalizable." 48 Man braucht keine blinde Verfechterin des Universalisierungsprinzips zu sein, um Blums Argumentation mit einigem Kopfschütteln zur Kenntnis zu nehmen. Denn es scheint geradezu evident, daß sich die Wahrnehmung einer Handlungssituation durch die involvierte Person nicht notwendigerweise mit der Ebene moralischer Beurteilung deckt. Der entscheidende Punkt ist selbstredend nicht, ob eine altruistisch handelnde Person de facto die Universalisierbarkeit ihrer Handlungsweise bedenkt und wie weit dies den motivationalen Hintergrund beeinflußt, sondern die Frage, ob dies vom Standpunkt der moralischen Einschätzung her unabdingbar ist oder nicht. Und daß dem so ist, darauf beläuft sich wohl Kants fundamentale Einsicht in die Struktur von Moralität; eine Einsicht, die dadurch, daß eine bestimmte Person die Ebene kritischer moralischer Reflexion nicht berücksichtigt, keine Schmälerung erfährt. Noch in anderer Hinsicht scheint Blums Argumentation als Einwand gegen Kant wenig tauglich. Seine Überlegungen beziehen sich offensichtlich auf moderne Fassungen des Universalisierungsprinzips. So wie Blum das Universalisierungsprinzip begreift, beläuft es sich klar auf jene reine Konsistenzforderung moralischen Urteilens, die Richard Hare zu einer Grundbedingung der Logik der moralischen Sprache zählt, von der aber selbst Hare nicht annimmt, daß sie zu substantiellen moralischen Folgerungen führt. 4 9 Mit dem kategorischen Imperativ hat diese Form der Verallgemeinerung aber wenig zu tun. Blum geht am eigentlichen Gehalt von Kants Verallgemeinerungsidee, der gleichen Berücksichtigung aller Betroffenen, vorbei. Auch Blums zweites Argument überzeugt nicht. Handlungen, die aus Anteilnahme und Empathie und einer direkten Besorgtheit um das Wohl anderer resultieren, sind, so Blum, nicht moralisch verbindlich: "We respond to others' needs, do favors, listen sympathetically, comfort friends - all for the sake of another's good. But we are not typically morally required to perform such acts. These acts are not typically mediated through a judgement that the situation is one in which a certain action is morally incumbent upon us." 5 0 Aber dies ist unplausibel. Ein nicht vom Standpunkt der Moral abgedeckter Altruismus hängt in der Luft und leidet an jenem Syndrom „moralischer Richtungslosigkeit", das bereits kritisiert wurde. 51 Es ist etwas anderes, ob man Kants spezifische Interpretation moralischer Verbindlichkeit ablehnt, oder ob man affektive Haltungen aus dem System moralischer Verbindlichkeiten überhaupt herauslöst. Blums Kritik, wenngleich in der Tendenz berechtigt, verdeckt durch ihre
47 Ebda., S. 89. 48 Ebda. 49 Genau deswegen verknüpft Hare die zunächst rein formale Universalisierungsbedingung mit der Goldenen Regel und in einem weiteren Schritt mit der Theorie des Standpunkttauschs. Siehe Hare (1981), S. 87-116. Hare gerät freilich wegen der zunehmenden materialen Anreicherung der Universalisierungsbedingung in Schwierigkeiten mit seinem Anspruch, mit rein aus der Logik der moralischen kommen. 50 Blum (1980), S. 91. 51 Vgl. Kap. 6.2 dieser Arbeit.
Sprache folgenden Grundprinzipien auszu-
Handeln
aus Pflicht und affektive
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Unzulänglichkeiten das wirkliche Problem in Kants Theorie und macht es den Kant-Apologeten leicht. Die Verteidigerinnen und Verteidiger Kants würden Blum wohl vorwerfen, sich zu ausschließlich an der Verallgemeinerungsformel des kategorischen Imperativs zu orientieren, die Bandbreite von Kants Ansichten nicht zu berücksichtigen und genau jene unangemessene Kant-Exegese, wonach abstrakte universelle Prinzipien die Kernelemente des Kantischen Ansatzes ausmachen, zu übernehmen. Er übersehe, daß Kant noch andere Fassungen des kategorischen Imperativs entwickle, deren genauere Betrachtung verdeutliche, daß Kants Ethik auch altruistische Elemente wie Anteilnahme und Wohltätigkeit umfasse. Richtig ist, daß Kant versucht, Aspekte wie Wohltätigkeit und Anteilnahme in seine ethische Theorie zu integrieren. In der Metaphysik der Sitten erörtert er ausführlich die Liebespflichten gegen andere Menschen, die er unterteilt in: Pflichten der Wohltätigkeit, Pflichten der Dankbarkeit und Pflichten der Teilnehmung. 52 So hält er explizit fest: „Wohltätig, d. i. anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein, ist jedes Menschen Pflicht." 53 Auch die folgende Stelle scheint dem Bild von Kant als dem rigorosen Gegner aller moralischen Empfindungen erheblich zu widersprechen: „Mitfreude und Mitleid (sympathia moralis) sind zwar sinnliche Gefühle einer (darum ästhetisch zu nennenden) Lust oder Unlust an dem Zustande des Vergnügens so wohl als Schmerzens anderer (Mitgefühl, teilnehmende Empfindung), wozu schon die Natur in den Menschen die Empfänglichkeit gelegt hat. Aber diese als Mittel zu Beförderung des tätigen und vernünftigen Wohlwollens zu gebrauchen, ist noch eine besondere, obzwar nur bedingte, Pflicht, unter dem Namen der Menschlichkeit (humanitas)." 54 Nicht zu übersehen ist in dem Zusammenhang auch, daß Kant die Menschenliebe zu „einer großen moralischen Zierde der Welt" 5 5 erklärt und er dem Phänomen der Freundschaft einen ganzen Abschnitt widmet und diese als „ein Ideal der Teilnehmung und Mitteilung an dem Wohl eines jeden dieser durch den moralisch guten Willen Vereinigten" 56 charakterisiert. Kants Theorie, so die Rehabilitierung in konzentrierter Form, enthält genau die von Blum monierten Elemente des moralischen Bereichs. Ihre Vielfalt und Reichhaltigkeit ist, so könnte man diese Überlegungen abschließen, nur in der verzerrenden Rezeption, die sie erfahren hat, aus dem Blickfeld geraten. Ich meine aber, daß eine solche Antwort auf die Kritik, daß Kant altruistische Werte übergeht, zu kurz greift. Es gilt, den strukturellen Zusammenhang zu berücksichtigen, in welchen die affektiven Haltungen im Rahmen von Kants Ethik eingebunden sind und zu fragen, ob sich dies mit ihrer Wahrnehmung in den an Gilligan anschließenden Ethik-Ansätzen deckt. Nur bei diesbezüglicher Übereinstimmung lassen sich die Einwände gegen Kant als obsolet zurückweisen. Hier zeigt sich aber eine deutliche Diskrepanz zwischen den beiden Positionen. Kant handelt die Sorge um die andere Person, das Befördern von deren Wohlergehen unter dem Pflichtbegriff ab - es handelt sich um unvollkommene Pflichten. Wenn Kant von Liebespflichten spricht, meint er Handlungen, die aus dem Gebot der „praktischen Liebe" er52 Siehe Kant (1797a), S. 588. 53 54 55 56
Ebda., Ebda., Ebda., Ebda.,
S. S. S. S.
589. 593. 595. 608.
184 folgen; und darunter versteht er nicht eine Form emotionaler Zuwendung, sondern ein Bewußtsein von Pflichten. Dies wird ganz deutlich in der folgenden Stelle: „Die Liebe wird hier aber nicht als Gefühl (ästhetisch), d. i. als Lust an der Vollkommenheit anderer Menschen, nicht als Liebe des Wohlgefallens, verstanden (denn Gefühle zu haben, dazu kann es keine Verpflichtung durch andere geben), sondern muß als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden, welche das Wohltun zur Folge hat." 57 Altruistische Handlungen des Wohlwollens und der Sympathie fallen bei Kant klar unter das moralische Gesetz und den Begriff der Pflicht. Dies ist streng genommen noch nicht das Problem; dieses ergibt sich erst, wenn man ins Kalkül zieht, wie Kant das moralische Sollen interpretiert: nämlich als ein Handeln aus Pflicht, was bedeutet, daß das Motiv immer die Achtung für das oberste moralische Prinzip darstellen muß. Aber in dieser Theorie moralischer Motivation liegt die eigentliche Schwierigkeit der Kantischen Ethik. Kritikern wie Blum geht es um den moralischen Wert jener altruistischen Handlungen, die von einer direkten Sorge um das Wohl der anderen Person motiviert sind. Sehr oft sind Zuwendung und Empathie die in moralischer Hinsicht angemessenen Formen der Reaktion, doch der Beweggrund liegt nicht in der „Achtung für das Sittengesetz", sondern in einem Gefühl der Betroffenheit um der anderen Person willen. Es gibt Situationen, in denen der moralische Gehalt von Handlungen durch die motivationale Berufung auf moralische Pflichterfüllung geradezu konterkariert wird. So bedarf es keiner besonderen Phantasie, um sich über die zerstörerische Irritation klarzuwerden, die die Berufung auf moralische Pflicht im Zusammenhang mit der moralischen Dimension persönlicher Beziehungen auszulösen vermag. Irgendetwas läuft definitiv schief, wenn wir etwa mit Anteilnahme und Betroffenheit auf die schwierige Situation einer Freundin eingehen wollten, ihr aber gleichzeitig signalisieren, daß wir dies nur infolge eines Sinns für moralische Pflichten tun. Nicht nur wird die Idee des Handelns aus Pflicht dem Handlungstypus des Sorgens nicht gerecht, sie untergräbt in gewisser Weise den moralischen Wert, den wir Akten der Empathie, Anteilnahme und Fürsorglichkeit zweifellos zusprechen. 58 Kants Ansatz gerät aber nicht nur deshalb in Schwierigkeiten, weil es den Wert affektiver Haltungen konterkariert, wenn wir nur um moralischer Pflichterfüllung willen Anteilnahme zeigen. Das Problem tangiert die systematischere Frage, inwieweit Kants Position überhaupt zuläßt, Anteilnahme und Empathie zum Gegenstand moralischer Forderungen zu machen. Erinnern wir uns an Kants Psychologie: Seine Liebespflichten haben nichts mit Gefühlen zu tun; dies deshalb, weil es nach Kant keine Verpflichtung zum Gefühl geben kann. Sie erfolgen rein aus dem Bewußtsein, daß die Maxime dieses Handelns in Konformität mit dem moralischen Gesetz steht. Aber wie ist es möglich, Mitgefühl und Wohlwollen zu zeigen, wenn die Gefühlsebene hier dispensiert ist? Was soll den Gegenstand von Liebespflichten bilden, bedenkt man, daß Wohlwollen, Anteilnahme und Empathie per definitionem Formen emotionaler Zuwendung darstellen? Worüber spricht Kant in dem Zusammenhang eigentlich? Ohne entsprechende Empfindungen bleiben die Maximen „leere" Grundsätze. 57 Ebda., S. 585. 58 In diesem Zusammenhang ist interessant, daß gerade Onora O'Neill moniert, daß die derzeit populäre Rede von „Rechten von Kindern" ein durchaus wirksames rhetorisches
Mittel sei, um auf die nur allzu oft triste Situation
von Kindern aufmerksam zu machen, aber der Begriff der Rechte nicht das ausdrücke, was Kinder benötigen und die Gesellschaft und ihre unmittelbare soziale Umgebung ihnen schulden. Siehe O'Neill (1989f).
185 Folgendes Dilemma konfrontiert Kants Theorie: Entweder postuliert sie moralische Grundsätze, deren Verbindlichkeit zwar theoretisch einsehbar ist, die aber praktisch nicht realisierbar sind, oder sie erklärt etwas zu Pflichten, von dem Kant gleichzeitig behauptet, daß es nicht Gegenstand von Verpflichtung sein kann. In Kants scharfem Dualismus von Gefühl und Vernunft, von Neigung und Pflicht, gehen jene Empfindungen unter, die sich unabhängig von der persönlichen Beziehung auf Mitmenschen und deren Wohl und Wehe richten und von denen in entscheidender Weise die moralische Qualität unseres Zusammenlebens abhängt. Kant hat, seine Ausführungen in der Metaphysik der Sitten beweisen es, die moralische Relevanz von Wohltätigkeit und Mitempfinden klar gesehen; gleichzeitig erlaubt ihm aber die Struktur seiner Moralitätskonzeption nicht, diese Einsicht auf theoretischer Ebene umzusetzen. In Wirklichkeit instrumentalisiert Kant Phänomene wie Sympathie und Mitleid: Statt ihnen für sich genommen moralischen Wert zuzuschreiben, ist es eine indirekte Pflicht, diese „Gefühle in uns zu kultivieren, und sie als so viele Mittel zur Teilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen". 59 Insofern fordert er uns auch auf, Plätze zu besuchen, wo Arme und Notleidende sich sammeln - nicht um Erbarmen per se zu empfinden, sondern zur Schulung unseres Pflichtbewußtseins. Als Konklusion ergibt sich: In diesem Punkt - daß Kants Theorie letztlich keinen Weg für die Anerkennung des moralischen Werts eines direkten Altruismus findet - erweisen sich die Bedenken feministischer Philosophinnen als berechtigt. Das Problem besteht nicht darin, daß Kant Anteilnahme und Mitgefühl zum Gegenstand moralischer Forderungen machen will (was ja letztlich an seiner Psychologie scheitert). Im Gegenteil: Es kann moralisch unangemessen sein, in manchen Situationen nicht mit Empathie zu reagieren. Die Schwierigkeit ist, und genau hier liegt die Schwäche von Kants Pflichtbegriff, daß sich moralische Verbindlichkeit bei Kant nicht auf moralische Gefühle erstreckt und mit einer Sicht moralischer Motivation verknüpft ist, die Empfindungen als Beweggründe des Handelns ausklammert. Aus diesem Blickwinkel erfährt Gilligans Kritik an Kohlberg, der seinen Begriff moralischer Reife an die Übereinstimmung mit einem Kantischen Moralbegriff knüpft, eine gewisse Bestätigung. Mehrere Gegenargumente legen sich nahe, auf die ich zur Absicherung des hier entwickelten Standpunkts eingehen will. Erinnern wir uns an Patons Warnungen vor plumpen Mißverständnissen: Kant sei fern davon, nur ein Handeln entgegen aller Neigung als moralisch richtig zu qualifizieren. 60 Für Paton hat Kant durchaus ein Handeln aus Neigung als moralisch wertvoll zugelassen, nur muß es eben in Konformität mit dem moralischen Gesetz stehen. Kants Polarisierung von Neigung und Pflicht diene nur dem Zweck zu verdeutlichen, daß über die moralische Qualität unseres Tuns wenig Zweifel bestehen, wenn uns eine Handlung Überwindung kostet; die Einschätzung des moralischen Werts und die Ausgrenzung von Selbstinteresse als motivierendem Faktor gelinge nicht so leicht, wenn wir ohnehin geneigt sind, so zu handeln. Nun fällt nicht schwer zu sehen, daß bei Patons Reformulierung des Kantischen Pflicht/Neigung-Kontrasts die Neigung klar sekundär ist; sie wird gleichsam zu einem moralisch irrele59 Kant (1797a), S. 595. 6 0 Auf die bekannte Ironisierung von Kants Pflichtenrigorismus durch Schillers Verse - „Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin" - reagiert Paton mit für einen Briten ungewöhnlicher Heftigkeit: „Das ist dürftige Dichtung und noch dürftigere Kritik." Paton (1962), S. 41.
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vanten Begleitphänomen einer Handlung. 61 Entscheidend für das Zusprechen von moralischem Wert ist nach wie vor, ob die Handlung aus „Achtung für das Sittengesetz" geschieht. Die Möglichkeit, daß eine Handlung wegen der Art der ihr zugrundeliegenden Neigung moralisch wertvoll ist, steht in dem Sinn auch bei Patons Interpretation nicht zur Debatte. Und natürlich mit Recht, soweit es um die Interpretation von Kant geht, denn Kant hat immer wieder unmißverständlich klar gemacht, daß die „Achtung fürs moralische Gesetz" die einzige „Triebfeder" moralischen Handelns darstellt. 62 Daraus folgt, daß Kant Anteilnahme und Mitgefühl für sich genommen nicht mit moralischem Wert belegt und belegen kann. Der einzig sinnvolle Ausweg ist, daß ein Handeln aus affektiver Teilnahme der Pflicht entspricht. 63 Ein nächster möglicher Einwand hängt mit der Interpretation des kategorischen Imperativs als Test unserer Maximen zusammen. O'Neills (und auch Kants eigene) Replik auf Blum wäre wohl folgende: Es ist durchaus möglich, Maximen aus altruistischen Handlungen herauszuschälen. Auch einem Handeln aus Anteilnahme liegt eine Maxime zugrunde; dieses ist von einem subjektiven Grundsatz geleitet, selbst wenn uns dieser möglicherweise nicht bewußt ist. Die Maxime affektiven Handelns ist schlicht: Wenn es das Wohl einer anderen Person verlangt, so will ich in einer unmittelbaren Form mit Wohlwollen, Anteilnahme und Zuwendung reagieren. Da die Anwendung des kategorischen Imperativs - des Tests, ob ich mir diese Maxime verallgemeinert denken bzw. sie zumindest verallgemeinert wollen kann - zu keinerlei Inkonsistenzen führt, kann ich mich davon überzeugen, daß altruistisches Handeln moralischen Wert hat. Doch auch O'Neills Lesart von Kant ist nicht frei von Schwierigkeiten. Ihre intentionalistische Deutung des kategorischen Imperativs begegnet dem Problem des Erkennens von moralisch relevanten Situationen. O'Neill nimmt ja in Anspruch, daß die Vorwürfe des abstrakten Universalismus an ihrer Kant-Interpretation vorbeigehen. Maximen sind demnach nicht abstrakte Regeln, sondern in das Netzwerk von situativen Besonderheiten eingebundene Grundsätze, die eine konkrete Person in ihrem konkreten Handeln leiten. Wie finden wir aber die prüfbedürftigen Maximen heraus? Handlungen lassen sich für gewöhnlich auf vielerlei Arten beschreiben, und nicht alle möglichen Varianten berücksichtigen jene Aspekte, die moralische Fragen aufwerfen. Das Problem moralischer Ignoranz taucht hier in der modifizierten Form beliebiger Situationskonzeptualisierungen auf. Wie Herman sagt, muß es etwas geben, das ein moralisches Subjekt in einem bestimmten Fall davon abhält, ihre Situation in moralisch idiosynkratischer Weise wahrzunehmen und zu beschreiben, denn wie sie treffend bemerkt: "An action is not shown to be impermissible because some maxim containing a possible description of it is rejected by the CI procedure." 64 Wie läßt sich ausschließen, daß eine den relevanten moralischen Gehalt einer Handlung gar nicht berücksichtigende Maximenidentifikation zur Grundlage moralischer Bewertung wird? Unverzichtbar werden hier Fähigkeiten moralischer Wahrnehmung, die eine mit affektiven Empfindungen und Gefühlen verbundene Sensibilität voraussetzen. Genau dies bedeutet 61 Vgl. dazu auch Herman (1993d), S. 12: "An action that is done from the motive of duty is performed because the agent finds it to be the right thing to do and takes its Tightness as his reason for acting." 62 Siehe Kant (1788), S. 199 und S. 203. 63 Vgl. dazu auch Tugendhat (1993), S. 115. 64 Herman (1993c), S. 76.
Handeln aus Pflicht und affektive
Haltungen
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aber, den Rahmen von Kants Theorie der Moral zu transzendieren: Als Evaluierungsinstanz unserer Maximen muß der kategorische Imperativ auf davon unabhängiges moralisches Wissen rekurrieren. Um Kants Testverfahren anzuwenden, dürfen wir nicht moralisch unbedarft sein. Wir müssen für die moralisch brisanten Charakteristika von Situationen und Handlungsweisen empfänglich sein und die moralische Bedeutsamkeit von Situationen realisieren - in Barbara Hermans Worten: "Kant's moral agents are not morally naive." 65 Findet der kategorische Imperativ nur auf moralisch belangvolle Maximen Anwendung, so erledigt sich auch das immer wieder als Argument gegen Kant angeführte Problem, daß durch Kants Testverfahren neutrale Handlungsgrundsätze plötzlich moralisch prämiert werden, da der kategorische Imperativ für sich die Abgrenzung moralisch relevanter und moralisch neutraler Umstände nicht leisten kann. 66 Es bedarf also einer Erweiterung der Kantischen Theorie - ein Punkt, den manche Kantianer inzwischen einräumen. In diesem Sinn plädiert Barbara Herman für die Ergänzung von Kants Theorie durch "rules ofmoral salience", moralische Relevanzregeln. 67 Darunter versteht sie die im Rahmen unserer moralischen Erziehung und Sozialisation erworbenen Regeln, die gewissermaßen den kategorialen Rahmen bilden, damit wir die soziale Welt um uns überhaupt als Welt mit moralischen Bedeutsamkeiten wahrnehmen. Sie sind als Regeln nicht direkt handlungsleitend. Herman hat hier nicht etwas wie moralische Faustregeln im Sinne, sondern Regeln, die moralische Naivität und Blindheit verhindern, die unsere moralische Wahrnehmung schärfen und uns für jene Situationen sensibilisieren, die unser moralisches Urteil fordern. Hermans Rede von Regeln ist allerdings irreführend, wenn auch symptomatisch für einen kantischen Zugang. Irreführend deswegen, weil uns nicht Regeln für die Schwierigkeiten, Nöte und das Leid anderer empfindsam machen, sondern Fähigkeiten der Empathie und affektive Einstellungen. Verlangt ist hier nicht ein Regelkanon, sondern moralische Erziehung in Form einer „Schule der Gefühle" und die moraltheoretische Untermauerung dieser affektiven Tugenden im Rahmen einer altruistische Werte umfassenden Theorie des Guten. Kant hat wohl in die Richtung einer Kultivierung der sozialen Haltungen gedacht, aber durch die für seinen moralischen Rationalismus typische Abwertung des Emotionalen übersieht er, daß diese bedeuten, in einer bestimmten Weise zu empfinden. Das Verkennen des moralischen Stellenwerts von Gefühlen zeigt sich auch daran, daß Kant den Erwerb von Tugenden auf eine trockene intellektualistische Belehrung in Form des Einübens eines moralischen Katechismus unter dem Diktat des obersten Moralgrundsatzes reduziert 68 , als ob Moral etwas wäre, das erst nach der Lektüre von Kants Schriften den Weg in die Welt der Menschen findet. Barbara Hermans Lösung ist keine, denn die Ergänzung von Prinzipien durch Relevanzregeln verschiebt nur das Problem: Ich kann alle Regeln kennen und immer noch nichts bemer-
65 Ebda., S. 75. 66 An Gegenbeispielen werden Fälle der Art angeführt: Die Verallgemeinerung des subjektiven Handlungsprinzips, zum Frühstück zwei Tassen Kaffee zu trinken, führt zu keinerlei begrifflicher Inkonsistenz, fällt aber nicht in den Bereich moralischer Wertigkeit. Vgl. zu einer solchen Kritik Maclntyre (1987), S. 68f. und Frankena (1972), S. 52f. 67 Siehe Herman (1993c), S. 77-93. 68 Siehe Kant (1797a), S. 617-625. Tugenden sind bei Kant nur Realisierungsinstanzen des moralischen Gesetzes: „Tugend ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst konstituiert." Ebda., S. 537.
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Die Moraltheorie Immanuel Kants
ken. Herman räumt, wenn auch mit entsprechender Zögerlichkeit, ein, daß affektive Gefühle und Reaktionen für die Identifikation der Anwendungsbedingungen moralischer Regeln notwendig sind. Aber daß Sympathie, Wohlwollen und Mitleid mehr darstellen als nur Mittel zur Absicherung des kategorischen Imperativ-Verfahrens, mag selbst eine für die Defizite so offene Vertreterin der Kantischen Position wie Herman nicht zugestehen, denn dies verlangte, einen entscheidenden Schritt über die Theorie Kants hinaus zu tun - konkret: den Schritt von Immanuel Kant zu David Hume. Unabdingbar für das Zusprechen von moralischem Wert ist eine Theorie des Guten, und eine solche fehlt in Kants Konzeption. 69 Ein Großteil der von Kant inspirierten modernen Ansätze teilt dieses Defizit. Zählen die Sorge um das Wohlergehen anderer und Anteilnahme wie Solidarität auch zu den Basiselementen einer schwachen Theorie des Guten, so haben wir eine vollständige Erklärung des moralischen Werts direkt altruistischer Handlungen. Dies verlangt aber eine umfassendere Moraltheorie, die auch Werte und Güter einbezieht, welche unverzichtbare Minimalbedingungen eines guten Lebens ausmachen. Insofern ist auch die These nicht haltbar, daß Kant eine „Fürsorglichkeitsethik" vorweggenommen hat. Denn die Werte von Fürsorglichkeit und Empathie, die als affektive Haltungen über moralische Regeln hinausreichen, sind nur in einer Theorie des Guten aufzufangen. Mit dieser Einbettung affektiver Werte im Rahmen einer Theorie des Guten erledigt sich auch ein möglicher weiterer Einwand der Kant-Verteidiger: daß nämlich nur ein kantischer Ansatz die moraltheoretische Absicherung von altruistischen Haltungen leistet. Die dahinterstehende Überlegung läßt sich auch so wiedergeben: Kants Rede von Pflichten zur Beförderung des Wohlergehens anderer ist durchaus plausibel, denn unsere spontanen Fähigkeiten zum Wohlwollen sind nur begrenzt vorhanden. Wir müssen Wohlwollen wie Wohltätigkeit zu einem Erfordernis der Moral erklären, da wir den Umgang von Menschen nicht zu einer Sache der Neigungen machen und den Kontingenzen bestimmter Gefühle ausliefern können. Menschen verdienen unsere Anteilnahme und unser Mitgefühl, auch wenn wir keine unmittelbare persönliche Sympathie für sie empfinden. Wohltätigkeit darf sich nicht auf Menschen beschränken, die einem persönlich verbunden sind. Es ist gut, wenn ein spontanes Gefühl des Wohlwollens unser Handeln bestimmt, man soll aber auch altruistisch handeln, wenn dieses Gefühl nicht da ist - und uns daran zu erinnern, ist Aufgabe der Moraltheorie. Daß dies tatsächlich Kants Überlegung sein dürfte, verdeutlicht die Abfolge der Paragraphen in der Metaphysik der Sitten, wo Kant auf die Liebespflichten zu sprechen kommt. Er beginnt seine Ausführungen „Von der Liebespflicht insbesondere" mit einer Reflexion über die menschliche Natur und die möglichen Grundhaltungen anderen gegenüber (Menschenfreund, Philanthrop, Egoist und Misanthrop) und setzt im nächsten Paragraph mit der Bemerkung fort: „Die Maxime des Wohlwollens (die praktische Menschenliebe) ist aller Menschen Pflicht gegen einander; man mag diese nun liebenswürdig finden oder n i c h t . . ." 70 Doch den Umstand, daß affektive Haltungen wie Empathie und Mitgefühl moralisch gefordert sind, haben wir ja mehrfach explizit betont. Kant, um meinen Einwand zu wiederholen, kann jedoch dieser Überlegung im Rahmen seiner Moraltheorie nicht gerecht werden. Ohne eine Integration der Tugenden der Einfühlsamkeit, des Mitleids und der Anteilnahme im Rahmen einer Theorie der Werte ist sie gar nicht verständlich zu machen. 69 Das Gute reduziert sich bei Kant auf die Befolgung des moralischen Gesetzes. 70 Kant (1797a), S. 587.
189 Barbara Herman glaubt, einer solchen Erweiterung von Kants Theorie entgehen zu können. Ihr Argument zielt darauf ab, daß Prinzipien Gefühle umfassen. So weist sie die Möglichkeit zurück, daß jemand das Prinzip der Wohltätigkeit akzeptiert und nicht gleichzeitig die Sensibilitäten entwickelt, wann dieses Prinzip relevant wird: "The suggestion that the Kantian agent might do everything that the morality of principle requires and yet be insensitive seems to me connected to a mistaken view of what is involved in possessing and being attached to moral principle." 71 Nun läßt sich diese Verbindung von moralischer Wahrnehmung und moralischen Prinzipien streng genommen nicht einmal bei Hermans modifiziertem Kantianismus behaupten, schon gar nicht folgt sie aber aus Kants Theorie. Gerade Herman hat ja eine maßgebliche Schwachstelle der Kantischen Theorie zugestanden: Kants Ansatz sei nur sinnvoll, wenn er durch rules ofmoral salience ergänzt werde. Wie erwähnt verdeckt aber Hermans Rede von Relevanzregeln, daß eigentlich nur affektive Empfindungen das von ihr konstatierte Defizit auszugleichen vermögen. Erst wenn sie bewußt moralische Gefühle einbezieht, läßt sich ihre obige Argumentation halten - nur stellt sie dann keine Verteidigung von Kants Position mehr dar. Der bloße Hinweis auf den Wert altruistischer Handlungen genügt allerdings nicht. Man muß diese Haltungen in eine umfassendere Moraltheorie integrieren und sie zudem der reflexiven Kontrolle vom moralischen Standpunkt her unterwerfen. Wie etwa Blum selbst betont, ist die Unterlassung altruistischer Handlungen kein zu vernachlässigendes Vergehen; es geht um die Frage moralischer Korrektheit und moralischer Verfehlung. 72 Mit der Charakterisierung der Unterlassung altruistischer Handlungen als moralisch unangemessen verweist Blum bereits auf die höherrangige Ebene des moralischen Standpunkts. Doch dies bedeutet noch nicht, daß sich die Kantische Theorie als überlegen erweist. 73 Nur bei einer Verabsolutierung von Kants Ansatz kann man zu der Konklusion kommen, daß moralische Reflexion und Begründung nur im Rahmen der Kantischen Theorie möglich sind. Die notwendige reflexive Stufe ist auch im Rahmen einer Moraltheorie möglich, die mehr umfaßt als nur eine Theorie des Rechten. Zudem sollte die notwendige Prüfung unseres Tuns und Lassens durch die unparteiliche Beurteilungsinstanz des moralischen Standpunkts nicht so ausgelegt werden, daß uns nur der moralische Standpunkt - bei Kant eben das oberste moralische Gesetz in Form des kategorischen Imperativs - zum konkreten Handeln motivieren darf. Diese Vermischung der Ebene von moralischer Reflexion und Motivation verengt den Bereich moralischen Handelns unnötig. Kants Moraltheorie, die so tiefe und wichtige Einsichten über das Phänomen der Moral bereithält, hat zweifellos viel unangemessene Kritik erfahren. In manchem aber ist sie zu Recht kritisiert worden, nicht zuletzt in ihrer Verkürzung der Moral auf Regeln und ihrer mangelnden Berücksichtigung moralischer Empfindungen. Wenden wir uns jenem Moralphilosophen zu, der Gefühle als konstitutiv für Moral betrachtet.
71 Herman (1993c), S. 81. 72 Siehe Blum (1980), S. 92. 73 In diese Richtung argumentiert Herman, wenn sie bemerkt, daß das Kantische Subjekt immer auf dem Hintergrund der reflexiven Kontrolle der moralischen Angemessenheit handle: "(H)is attendant motivation includes a higher-order (or regulative) concern for the permissibility of his actions and projects. So even if moral concern is achieved by means of heightened emotional sensitivity, the sensibility of a Kantian agent requires more than the development of emotional traits (such as sympathy)." Herman (1993c), S. 83.
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Eigeninteresse, soziale Tugenden und moralische Empfindungen: Die Moraltheorie David Humes
Die nun folgende Diskussion von Humes Moraltheorie beginnt mit einer knappen, überblicksartigen Darstellung. Dabei kommt die eigenartige Mischung von Eigeninteresse und Empathie in Humes Ethik-Konzeption zur Sprache, die sich nicht zuletzt in seiner Unterscheidung von künstlichen und natürlichen Tugenden niederschlägt und die Anlaß für zwei konträre Einordnungen seiner Theorie bot. Nach einer Erörterung dieser beiden unterschiedlichen Lesarten versuche ich in einem resümierenden Abschnitt einen umfassenderen, von etwaigen Einseitigkeiten der zwei Deutungen abstrahierenden Blick auf Humes Moralverständnis. Es wird sich zeigen, daß Humes Ansatz, wenngleich nicht frei von Schwächen, wesentliche Impulse für einen über den Rahmen von Rechten und Prinzipien hinausreichenden ethischen Ansatz liefert. Aus Humes „Gefühlsethik", so meine These, lassen sich die Elemente einer umfassenderen Moraltheorie gewinnen, die mehr als nur eine Seite des moralischen Spektrums abdeckt.1
11.1
Die Situierung der Moral im Gefühl
Eines der auffälligsten Merkmale von Humes Moraltheorie ist die Betonung des Stellenwerts der Empfindungen: Hume begreift Moral als eine Angelegenheit des Gefühls und gesteht dem Verstand nur eine begrenzte Rolle in Fragen des ethisch angemessenen Tuns zu.2 Bereits im zweiten Buch des Traktats über die menschliche Natur, der Lehre von den Affekten, kritisiert Hume das den gesamten Rationalismus beherrschende Bild eines Antagonis1 Eine kurze Rechtfertigung scheint mir angemessen, warum ich nicht jenen Philosophen als Anknüpfungspunkt gewählt habe, der gemeinhin als der krönende Abschluß dieser Richtung der Moralphilosophie gilt: Adam Smith. Gerade die für unseren Kontext relevanten Elemente - Affektivität und moralische Gefühle - erfahren bei Adam Smith eine noch feinere Ausarbeitung, und der im Rahmen unserer Hume-Interpretation so wesentliche Standpunkt der unparteilichen Bewertung findet sich bei Smith sehr deutlich in der Figur des „Unparteilichen Beobachters" artikuliert. Allerdings stellt Smiths Theorie nach meiner Sicht nur eine Weiterentwicklung jener von Hume dar; die für das Projekt einer Korrektur deontologischer Moraltheorien maßgeblichen Überlegungen finden sich alle bei Hume. Da sich also inhaltlich die Positionen von Hume und Smith kaum unterscheiden, können nur weitere Gründe die Entscheidung für ein genaueres Eingehen auf Hume rechtfertigen. Diese sind zum einen, daß Hume in der feministischen Ethik-Debatte bereits rezipiert wurde, und zwar in einer scharfen Abgrenzung zur Kantischen Theorie; zum anderen erschien mir eine genauere Beschäftigung mit Humes Ethik interessant, da Hume in der Rezeption im deutschen Sprachraum gerne als Vertreter eines rational-individualistischen Ansatzes gesehen wird und mir die Korrektur dieses Hume-Bildes wichtig scheint. 2
Im folgenden verwende ich in Anlehnung an die deutschsprachige Ausgabe des Treatise die Ausdrücke „Verstand" und „Vernunft" synonym; der Unterschied zu Kants Begriff von Vernunft ist also zu berücksichtigen.
Die Situierung
der Moral im Gefühl
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mus von Vernunft und Gefühl, demgemäß die Vernunft zur Herrscherin über die Affekte avanciert. Sein Angriff auf die Vorstellung, daß der Vernunft als Kontrollinstanz der Vorrang vor den Empfindungen gebühre, gipfelt in der etwas überspitzten und mißverständlichen Formulierung: „Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen." 3 Gegen die zumeist mit dem Hinweis auf „die Blindheit, Veränderlichkeit und das Irreführende der Affekte" begründete Überlegenheit der Vernunft führt Hume zwei Argumente ins Treffen: einmal, daß die Vernunft allein niemals das Motiv eines Willensaktes zu bilden und sich auch nicht den Affekten „hinsichtlich der Richtung des Willens" entgegenzustellen vermag, und zweitens, daß der Verstand allein nicht die Ziele des Wollens bestimmen kann. 4 Grundlage dieser Argumente ist Humes These von der „doppelten Tätigkeit" des Verstandes: zum einen die Suche nach demonstrierbaren logischen Wahrheiten und zum anderen die nach Sätzen, denen Wahrscheinlichkeit zukommt. Den beiden Verstandesfunktionen, also der Analyse der „abstrakten Beziehungen unserer Vorstellungen" einerseits und der Reflexion der uns über die Erfahrung zugänglichen Beziehungen andererseits korrespondieren zwei Formen des Wissens, nämlich mathematisches und empirisches. Nun gilt es für Hume als evident, daß die erste Art der Verstandestätigkeit niemals allein handlungsverursachend werden kann, da mathematische oder logische „Demonstration und Wollen sehr weit auseinander zu liegen" scheinen und sich auf sehr unterschiedliche Sphären beziehen, nämlich die „Welt der Vorstellungen" (Denken) und die „Welt der Realitäten" (Wollen). 5 Hume betrachtet es als offenkundige Tatsache, daß wir zu vermeiden tendieren, was Unlust zur Folge hat, und uns zu dem hingezogen fühlen, was Befriedigung bereitet. Insofern wird das Wissen um Bedingungsverhältnisse für unser Handeln relevant, denn unsere Lustund Unlust-Reaktionen erstrecken sich auch auf jene Objekte, die mit dem „ursprünglichen Gegenstand", der in uns ein Gefühl der Neigung oder Abneigung, des Behagens oder Unbehagens auslöst, durch eine Ursache-Wirkungs-Relation verbunden sind. Die Leistung der Vernunft besteht lediglich in der Erhellung und Offenlegung der „kausalen" Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen; handlungsmotivierende Bedeutung erlangt dieses Wissen nur, wenn es in einem Kontext damit steht, was uns Lust oder Unlust verschafft. Zwischen Vernunft und Handeln ergibt sich so ein lediglich indirekter Zusammenhang: Die Vernunft ist nicht unmittelbar handlungsauslösend, sondern liefert nur Hintergrundinformationen über Verursachungszusammenhänge. Hume scheint es allgemein einleuchtend, „daß der Impuls nicht von der Vernunft ausgeht, sondern von ihr nur geleitet wird". 6 Theoretisches Denken wirkt nur so weit auf unser Handeln, als es im Dienste der Befriedigung unserer Affekte steht. Das Fehlen eines unmittelbaren Bedingungsverhältnisses von Verstand und
3
4 5 6
Hume (1739), Band II, Buch II, S. 153. Die zitierte Formulierung wirkt auch irreführend, da sie den von Hume gerade angegriffenen Antagonismus von Vernunft und Gefühl verstärkt. Vgl. dazu Baier (1991), S. 160. Die in der Meiner-Ausgabe im zweiten Band des Traktats über die menschliche Natur enthaltenen Bücher II (Über die Affekte) und III (Über Moral) werden im folgenden als (1739) II bzw. (1740) III zitiert. Siehe Hume (1739) II, S. 151. Ebda. Ebda., S. 152. Neben dem empirischen Wissen steht auch das demonstrative Denken auf diese vermittelte Art in Relation zu unserem Handeln, da Mathematik die Basis für ein Erfassen der mechanischen Zusammenhänge bildet, die gleichfalls für unsere Urteile über Ursachen und Wirkungen maßgeblich werden.
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Die Moraltheorie David Humes
Wollen schlägt sich auch in umgekehrter Richtung nieder. Genausowenig wie die Vernunft eine Handlung direkt verursachen kann, vermag sie sich einem Affekt direkt entgegenzustellen und eine Handlung zu verhindern. Humes Lehre von den Affekten bildet die strukturelle Folie seiner Ethik, und die hier nur ansatzweise dargelegten Thesen über die „Motive des Willens" bestimmen auch seinen Zugang zum Problem der Moral. Denn die Überzeugung, daß Moral nicht in der Vernunft, sondern in Gefühlen lokalisiert ist, findet sich unmißverständlich in Humes affektgebundener Theorie des Handelns begründet. In der Abhängigkeit unseres Wollens und Handelns von Gefühlen liegt auch der tiefere Grund dafür, daß Hume Moralität, wie wir sehen werden, als Schule der Empfindungen begreift. Alle mentalen Akte, also alle Perzeptionen, gliedern sich nach Hume in Vorstellungen und Eindrücke. Da Vorstellungen, also Akte des Verstandes, uns nur über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge informieren und Tugend und Laster „nicht durch Vergleichung von Vorstellungen erkannt werden können", vermögen wir den Unterschied zwischen Tugend und Laster nur vermittels eines Eindrucks oder eines dadurch ausgelösten Gefühls auszumachen: „Sittlichkeit wird also viel mehr gefühlt als beurteilt." 7 Moralische Grundsätze mit ihrer klar handlungsnormierenden Funktion sind nicht das Ergebnis einer apriorischen Vernunfterkenntnis, denn die Vernunft allein bedingt kein Handeln; sie kann unsere Aktivitäten nur leiten, doch unser Tun oder Wollen entspringt nicht unmittelbar einer Verstandeseinsicht. Moralität beeinflußt unsere Handlungen und Neigungen; und da der Vernunft, wie Hume in seinen Ausführungen über die Affekte argumentiert, diese handlungsregulierende Komponente fehlt, kann die Moralität nicht aus der Vernunft hergeleitet werden: „Hätte die Sittlichkeit nicht natürlicherweise einen Einfluß auf menschliche Affekte und Handlungen, so wäre es nutzlos, daß man sich so viel Mühe gäbe, sie einzuprägen. Nichts wäre vergeblicher, als die Menge von Regeln und Vorschriften, die man bei den Moralisten im Überfluß findet." 8 Moralische Unterscheidungen sind nicht aus der Vernunft ableitbar, sondern entspringen einem moralischen Empfinden. 9
11.2
Das Zusammenspiel von Verstand und Gefühl
Die Relevanz, die Hume - ungeachtet seiner Akzentuierung der Empfindungen - dem Verstand in Fragen der Moral zumißt, wird insbesondere in seiner späteren Schrift Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral augenfällig. Bereits im ersten Abschnitt dieser Arbeit betont Hume, „daß Verstand und Gefühl bei nahezu allen moralischen Entscheidungen und Schlüssen zusammenwirken". 1 0 Für moralisches Urteilen ist es nach Hume unverzichtbar, begriffliche und inhaltliche Differenzierungen zu treffen, korrekte Schlüsse zu ziehen und den Standpunkt der Unparteilichkeit zu beziehen. Dem Verstand kommt eine wichtige Funktion zu, indem er die Fakten ordnet, uns über empirische Zusammenhänge belehrt, die Beschreibung des Gegenstandes liefert und jene „allgemeine(n) Tatsachen ermittelt und genau 7 Hume (1740) III, S. 212. 8 Ebda., S. 197. 9 Siehe ebda., S. 199. 10 Hume ( 1751 ), S. 91 (Kursivsetzung im Original).
Zusammenspiel von Verstand und Gefühl
193
bestimmt", welche für unsere moralischen Empfindungen maßgeblich werden und mitbedingen, ob sie von positiver oder negativer Art sind." Die moralische Urteilsfindung wird zu einem Zusammenspiel von Vernunft und Gefühl. Auch in der späteren Arbeit grenzt sich Hume unmißverständlich von jeder Form des moralischen Rationalismus ab: „Das Ziel aller moralischen Überlegungen ist es, uns zu lehren, was unsere Pflicht ist; und durch treffende Darstellungen der Häßlichkeit des Lasters und der Schönheit der Tugend entsprechende Gewohnheiten zu erzeugen und uns zu motivieren, das eine zu meiden und das andere anzunehmen. Aber kann dies jemals von rationalen Folgerungen und Schlüssen erwartet werden, die von sich aus keinerlei Macht über die Gemütsbewegungen haben und auch die aktiven Kräfte des Menschen nicht in Bewegung setzen?" 12 Hume wiederholt seine schon im Traktat ausführlichst dargelegte Ansicht, daß der Verstand allein niemals die Grundlage der Moral bilden kann und kommt zu der Auffassung, daß moralisches Urteilen in letzter Konsequenz „von einem inneren Sinn oder Gefühl abhängt, das allen Menschen von Natur aus gemeinsam ist". 13 Trotz seiner Zugeständnisse, was die Rolle eines rationalistischen Elements in moralischen Auseinandersetzungen betrifft, bleibt Hume in den Prinzipien der Moral seiner ursprünglichen These treu, daß Moral letztlich eine Frage der rechten Empfindungen und Gefühle ist. Die Behauptung, daß Moral nicht auf der Vernunft, sondern auf moralischen Empfindungen basiert, wirkt bei näherer Betrachtung nicht so eindeutig, wie zunächst vermutet. Dahinter verbergen sich, wie insbesondere Mackie in seinem Buch über Humes Moraltheorie zeigt, verschiedene Thesen. 14 Abhängig davon, wie die Begriffe „Vernunft" und „moralischer Sinn" zu verstehen sind, läßt Humes Behauptung, daß moralische Unterscheidungen nicht der Vernunft, sondern einem moralischen Sinn entstammen, mehrere Auslegungen zu. So bleibt nach Mackie zunächst offen, ob Hume mit der Nichtableitbarkeit von Moralität aus der Vernunft meint, daß a) moralische Urteile nicht das Ergebnis eines mathematischen oder logischen Demonstrationen vergleichbaren Räsonierens sind, oder ob er die stärkere These vertritt, daß b) moralische Unterscheidungen nicht von wahren theoretischen Annahmen ableitbar und somit nicht Objekte des Wissens sind, oder ob er gemeint hat, daß c) moralisches Urteilen überhaupt frei von kognitivistischen Annahmen ist. These a) bleibt mit einer objektivistischen Interpretation des Moralempfindens vereinbar, derzufolge sich der Begriff „moralischer Sinn" auf die Fähigkeit zur Wahrnehmung tatsächlich gegebener und aus der Realität ablesbarer moralischer Unterscheidungen analog der visuellen Wahrnehmung „primärer Qualitäten" bezieht. These b) und c) widersprechen einer objektivistischen Interpretation. „Moralischer Sinn" in der obigen zweiten Bedeutung b) entspricht in etwa, um erneut auf Lockes Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten anzuspielen, der Wahrnehmung einer „sekundären Qualität": So wie man annimmt, daß ein Gegenstand eine bestimmte Farbe hat und gleichzeitig weiß, daß die Farbe, die wir an dem Gegenstand wahrnehmen, diesem nicht „an sich" zukommt, sondern nur eine Modalität unserer Wahrnehmung ist, so sind moralische Unterscheidungen nicht objektive Tatsachen. Nach der These c) wäre der moralische Sinn analog der Wahrnehmung von 11 Ebda. 12 Ebda., S. 90. 13 Ebda., S. 91. 14 Siehe zum folgenden Mackie (1980), S. 51.
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Die Moraltheorie David Humes
Schmerz aufzufassen, womit die metaethische Theorie einer radikal-emotivistischen Position nahekäme. Wenn sich auch in Humes einschlägiger Textpassage, nämlich im ersten Abschnitt des Buch III des Traktats, durchaus Belegstellen für alle drei Varianten finden, so ist nach Mackie letztlich doch klar erkenntlich, daß Hume eine subjektivistische Interpretation des „moralischen Sinns" vertritt. 15 Aus den verschiedenen Argumenten, mit denen Hume seine Behauptung, daß Moral nicht aus der Vernunft ableitbar ist, stützt 16 , ließen sich trotz gewisser Ambiguitäten und Ungereimtheiten auf jeden Fall die Folgerungen rekonstruieren, daß moralische Unterscheidungen nicht aus der Realität ablesbare Fakten darstellen, moralische Urteile nicht im gewöhnlichen Sinn wahr oder falsch sind und der moralische Sinn nicht einer speziellen Form des Wissens um moralische Tatsachen entspricht. Mackie faßt Humes Ausführungen über das Verhältnis von Vernunft und Moral dahingehend zusammen, daß Hume die Existenz objektiv gültiger moralischer Werte zu widerlegen versucht. 17 Hume lehnt zweifellos einen metaphysischen Intuitionismus ab, demzufolge es so etwas wie moralische Fakten gibt, welche durch ein besonderes Wahrnehmungsvermögen erkennbar sind. Die unzulässige Ontologisierung moralischer Unterscheidungen untermauert er mit folgendem Beispiel: „Ich denke etwa an den absichtlichen Mord. Betrachtet denselben von allen Seiten und seht zu, ob Ihr das tatsächlich oder realiter Existierende finden könnt, was Ihr Laster nennt. Wie Ihr das Ding auch ansehen möget, Ihr findet nur gewisse Affekte, Motive, Willensentschließungen und Gedanken. Außerdem enthält der Fall nichts Tatsächliches. Das ,Laster' entgeht Euch gänzlich, solange Ihr nur den Gegenstand betrachtet. Ihr könnt es nie finden, wofern Ihr nicht Euer Augenmerk auf Euer eigenes Innere richtet und dort ein Gefühl von Mißbilligung entdeckt, das in Euch angesichts dieser Handlung entsteht." 1 8 Entsprechend begreift Hume den „moralischen Sinn" nicht in objektivistischer Weise, sondern als terminus technicus für affektive Reaktionen, welche unsere Sichtweisen und moralischen Urteile bestimmen. Der moralische Sinn beläuft sich auf ein Gefühl der Billigung oder Mißbilligung, das die Differenzierung zwischen gut und schlecht erlaubt. „Unser Bewußtsein der ,Tugend' besteht nur darin, daß wir bei der Betrachtung eines Charakters eine besondere Art von Befriedigung/úTí/e«." 19 Hume vertritt nicht eine intuitionistische, sondern eine „empfindungsbezogene" Version der moral sense-Doktrin. Letztere unterscheidet sich von der intuitionistischen oder objektivistischen Interpretation darin, daß ihr moralische Bewertungen nicht als durch einen speziellen Sinn „entdeckbare" Qualitäten gelten. Der moralische Sinn entspricht vielmehr einem Gefühl, welches Personen bei der Betrachtung von Handlungen unter den Perspektiven von Tugend und Laster teilen. 15 Ebda., S. 52. 16 Für eine detaillierte Diskussion siehe ebda., S. 51-63. 17 Ebda., S. 63. 18 Hume (1740) III, S. 210f. (Kursivsetzung im Original). 19 Ebda., S. 213 (Kursivsetzung im Original).
195
Humes Metaethik
11.3
Humes Metaethik
Diese Gleichsetzung des moralischen Sinns mit einer bestimmten Art der Empfindung fordert geradezu die Frage heraus, ob Hume Emotivist war und ob er die Bedeutung eines moralischen Urteils auf eine bloß subjektivistische Gefühlsreaktion reduziert. Die Antwort setzt eine allgemeinere Erörterung von Humes Metaethik voraus, die nur vor dem Hintergrund eines bestimmten Strukturierungsversuchs metaethischer Positionen erfolgen kann. Als Bezugspunkt soll im folgenden jene schematische Einteilung dienen, die von den Überbegriffen „Deskriptivismus" und „Nicht-Deskriptivismus" ausgeht und die unterschiedlichen metaethischen Theorien diesen beiden Kategorien zuordnet, da sich die maßgeblichen und einander durchaus gegensätzlichen Hume-Interpretationen bereits entlang dieses Begriffsrasters aufschlüsseln lassen. 20 Demnach fallen unter den Deskriptivismus der Naturalismus und Intuitionismus, wobei sich beim Naturalismus wiederum eine subjektivistische und eine objektivistische Spielart unterscheiden lassen. Dem Nicht-Deskriptivismus werden der Emotivismus und Hares Präskriptivismus zugezählt. Daraus ergibt sich folgende Einteilung: Metaethische Theorien Deskriptivismus Naturalismus subjektiver objektiver
Nicht-Deskriptivismus Emotivismus Naturalismus Naturalismus
Intuitionismus
Präskriptivismus
Charakteristisch für den Deskriptivismus ist die Einebnung des klassischen Fakten/WerteDualismus; moralische Urteile können ebenso wie empirische Urteile wahr oder falsch sein. Der Naturalismus nimmt an, daß sich normative Sätze auf Tatsachenaussagen reduzieren lassen. Nach der objektivistischen Variante des Naturalismus entspricht einem normativen Satz wie „X ist moralisch richtig" eine faktische Behauptung über eine Eigenschaft der zu beurteilenden Handlung, etwa „X trägt zum allgemeinen Wohlergehen bei". Der subjektiv-naturalistische Deskriptivismus setzt die Bedeutung normativer Sätze wie „X ist moralisch richtig" mit einer Feststellung über den moralisch Urteilenden gleich, etwa: „Die Betrachtung von X löst in mir ein Gefühl der Billigung/Zustimmung aus." 21 Der Intuitionismus stimmt mit dem Naturalismus darin überein, daß sich normative Sätze in ihrer prinzipiellen Wahrheitsfähigkeit nicht von Tatsachenaussagen unterscheiden; moralische Urteile sind für ihn aber nicht bedeutungsgleich mit empirischen Aussagen, da ihr normativer Gehalt im Bezug auf spezifische nichtempirische Eigenschaften besteht. Normative Sätze können als intuitiv wahr oder falsch erkannt werden. Im Gegensatz zum Deskriptivismus geht der Nicht-Deskriptivismus davon aus, daß moralische Urteile nicht im üblichen Sinn als „wahr" oder „falsch" charakterisierbar sind. In dem Punkt, ob sie dessen ungeachtet eine rationale Argumentation über Fragen der Moral für 20 Vgl. dazu Gräfrath (1991), S. 5ff. 21 Ebda.
196 möglich erachten, unterscheiden sich die beiden nicht-deskriptivistischen Positionen. Der Emotivismus schließt dies aus; nach dem von den Neopositivisten vertretenen Radikal-Emotivismus kommt moralischen Urteilen nicht mehr kognitivistischer Status zu als Ausrufen des Sprechers, Reaktionen der Art „Oh weh!". Auch in den gemäßigteren Varianten des Emotivismus, wonach die wesentliche Funktion moralischer Äußerungen ungeachtet eines deskriptiven Gehalts in der Kundmachung einer Einstellung der Sprecherin besteht mit dem Ziel, eine ähnliche Einstellung im Hörer hervorzurufen, gelangt moralisches Urteilen nicht über die Ebene emotiv gefärbter Appelle hinaus. Demgegenüber betrachtet der Präskriptivismus das Sprachspiel der Moral als einen Diskurs überprüfbarer normativer Überzeugungen. Wenngleich moralische Urteile nicht im strengen Sinn wahr oder falsch sein können, leitet die Sprache der Moral doch eine innere Logik: Ein moralisches Urteil hat demnach eine universalisierbare Präskription zur Folge, dergemäß das Urteil über die Handlung X auch für alle X relevant ähnlichen Handlungen gilt und sich aus einem moralischen Urteil sogar ein einschlägiger Imperativ für die Sprecherin ableitet, falls sie sich anschickt, eine Handlung zu setzen, die X in den moralisch relevanten Aspekten entspricht. Ein Gutteil moralischer Meinungsverschiedenheiten läßt sich für den Präskriptivisten über die Explikation des Zusammenhangs von Einzelurteil und universellem Prinzip lösen. 22 Die oben aufgeworfene Frage, ob Hume als Emotivist gelten kann, setzt also zunächst eine Klärung dessen voraus, ob sich in Humes metaethischen Ausführungen ein Deskriptivismus oder Nicht-Deskriptivismus reflektiert. Mackie zufolge finden sich in den einschlägigen Ausführungen von Humes Traktat so gut wie keine Evidenzen für einen metaethischen Nicht-Deskriptivismus; er sieht Hume als klaren Exponenten des metaethischen Deskriptivismus, genauer gesagt eines „dispositionellen", also subjektiv-naturalistischen Deskriptivismus, demzufolge „X ist tugendhaft (lasterhaft)" einfach bedeutet „X löst im Sprecher ein Gefühl der Billigung (Mißbilligung) aus". 23 Nun legen gewisse Passagen in Hume durchaus eine solche deskriptivistische Lesart nahe, unter anderem etwa folgende Textstelle: „Erklärt Ihr eine Handlung oder einen Charakter für lasterhaft, so meint Ihr (damit) nichts anderes, als daß Ihr zufolge der Beschaffenheit Eurer Natur ein unmittelbares Bewußtsein oder Gefühl des Tadels bei der Betrachtung dieser Handlung oder dieses Charakters habt." 24 Und in einer unmittelbar vorhergehenden Textstelle bezeichnet Hume das von einer Handlung ausgelöste Gefühl der Mißbilligung als eine Tatsache, wenngleich diese „Gegenstand des Gefühls" ist. 25 Mackie ist sich der Spannungen bewußt, die sich aus dieser Interpretation ergeben, da sie sich mit anderen Äußerungen Humes nur schwer in Übereinstimmung bringen läßt. Eine deskriptive Erklärung der Bedeutung moralischer Urteile vermag nicht, den handlungsleitenden Charakter moralischer Urteile zu erklären, den Hume ja nachhaltigst betont hat. So ist die berühmte Is/Ought-Passage26 nicht mit einer deskriptivistischen Zuordnung vereinbar. Wenn 2 2 Vgl. zum Präskriptivismus Hare (1981). 2 3 Siehe Mackie (1980), S. 6 8 - 7 0 . 2 4 Hume (1740) III, S. 211. 25 Ebda. Nicht nur Mackie, auch andere Hume-Interpreten haben aus diesen Zeilen Humes einen Deskriptivismus herausgefiltert. Vgl. zu einer genauen Erörterung Gräfrath (1991), S. 9ff. 2 6 Humes Worte am Ende des ersten Abschnitts des ersten Teils von Buch III des Traktats,
die einen Meilenstein
der moralphilosophischen Debatte markieren, seien hier trotz ihrer Bekanntheit zitiert, da sich die folgenden Ausführungen darauf beziehen: „Ich kann nicht umhin, diesen Betrachtungen eine Bemerkung hinzuzufügen, der
Humes Metaethik
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der semantische Gehalt eines moralischen Urteils jenem einer Tatsachenaussage über die Verursachung von moralischen Gefühlen entspricht, so führt dies - wie Mackie zugesteht aufgrund von Humes unmißverständlicher Annahme vom handlungsleitenden Charakter moralischer Urteile zu der dem Geist des Is/Ought-Abschnitts widersprechenden Konsequenz, daß ein Soll-Satz auf die direkteste Art, nämlich durch Bedeutungsidentität, aus einer IstAussage folgen würde. Mackie meint deshalb, daß zur Vermeidung offener Inkonsistenzen die Passage nicht im Sinne von Humes Gesetz, der Bekräftigung des unüberbrückbaren Dualismus von faktischen Aussagen und normativen Sätzen, gelesen werden sollte, sondern nur "as saying, rather lamely, no more than it literally says, that any transition from is to ought should be explained". 27 Dabei übersieht Mackie aber, daß selbst diese abgeschwächte Lesart der Sein/Sollen-Stelle nicht die deskriptivistische Interpretation plausibilisiert: Wenn ein moralisches Urteil auf eine Tatsachenaussage reduzierbar ist, so verdient der Übergang von is zu ought weder der besonderen Beachtung noch der Erklärung. Unter deskriptivistischen Prämissen verliert die fragliche Textstelle jegliche Pointe, sie wird überflüssig - ganz im Gegensatz zu Humes Einschätzung, dem der meist „unmerkliche Wechsel" vom Sein zum Sollen als „von größter Wichtigkeit" gilt. Mackie ist sich auch einer weiteren Schwierigkeit bewußt, die aus einer Zuordnung Humes zum Deskriptivismus resultiert. Hume betont immer wieder die handlungsnormierende Funktion von Moralität; eine rein deskriptive Aussage ist aber nicht handlungsleitend. Mackie räumt zwar ein, daß uns diese Schwierigkeiten zusammen mit Humes empfindungsbezogener Interpretation des moral sense dazu bewegen könnten, Hume eine nicht-deskriptivistische und möglicherweise auch nicht-kognitivistische Interpretation moralischer Aussagen zuzuschreiben, sieht aber dafür wie erwähnt so gut wie keine Textevidenz. Dennoch scheint ihm diese Diskrepanz so gravierend, daß er einen Ausweg sucht, der ermöglicht, Hume als Deskriptivisten zu lesen und gleichzeitig der handlungsleitenden Funktion moralischer Urteile zu entsprechen. So verfallt er auf den Vorschlag, Humes Metaethik als Kombination von dispositionellem Deskriptivismus und einer objectification theory, einer „Verdinglichungstheorie" moralischer Urteile, zu betrachten. Der objectification theory gemäß handelt es sich bei den Handlungen oder Charakteren zugeschriebenen moralischen Eigenschaften um reine Fiktionen, um bloße Projektionen moralischer Gefühle auf jene Handlungen und Charaktere, welche diese Empfindungen auslösen. 28 Wir neigen beispielsweise dazu, moralische Empfindungen wie etwa die der Ablehman vielleicht einige Wichtigkeit nicht absprechen wird. In jedem Moralsystem, das mir bisher vorkam, habe ich immer bemerkt, daß der Verfasser eine Zeitlang in der gewöhnlichen Betrachtungsweise vorgeht, das Dasein Gottes feststellt oder Beobachtungen über menschliche Dinge vorbringt. Plötzlich werde ich damit überrascht,
,ist' und ,ist nicht' kein Satz mehr begegnet, in dem ,sollte' oder ,sollte nicht' sich fände. Dieser Wechsel vollzieht sich unmerklich; aber er ist von größter Wichtigkeit. Dies ,sollte' oder,sollte nicht' drückt eine neue Beziehung oder Behauptung aus, muß also notwendaß mir anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit nicht ein
digerweise beachtet und erklärt werden. Gleichzeitig muß ein Grund angegeben werden für etwas, das sonst ganz unbegreiflich scheint, nämlich dafür, wie diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind." Hume (1740) III, S. 211 (Kursivsetzung im Original). 27 Mackie (1980), S. 69. Für die Auswege der anderen Vertreter der Deskriptivismus-Interpretation vgl. Gräfrath (1991), S. 10. 28 Siehe Mackie (1980), S. 71-74.
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Die Moraltheorie David Humes
nung und Abneigung in einem konstruktiven Objektivierungsprozeß als Eigenschaft einer Handlung zu betrachten, und die in die Handlung projizierte negative Eigenschaft wirkt wiederum auf unsere Gefühle zurück und sorgt dafür, daß wir diese Handlung unterlassen. Die objectification theory bewahrt also den normierenden Charakter moralischer Urteile. Mackie, der diese Theorie für weitgehend korrekt hält, weil sie den grundlegenden Eigenarten des moralischen Diskurses wie Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit und „präskriptive" Ausrichtung gerecht werde, nimmt an, daß sie auch eine angemessene Rekonstruktion von Humes Position erlaubt: Neben der handlungsleitenden Funktion der Moral anerkennt sie auch das von Hume so nachhaltig betonte Faktum, daß moralischen Urteilen ähnlich ästhetischen Urteilen ein intersubjektiv geteiltes System von Empfindungen korrespondiert. Dies alles klingt überzeugend. Mackie scheint nicht nur recht zu haben, was die Plausibilität der objectification theory für sich genommen betrifft; auch seine These, daß diese Theorie einen Gutteil von Humes metaethischen Ansichten abdeckt, dürfte richtig sein. In einem entscheidenden Punkt irrt Mackie aber. Er geht völlig fehl in der Annahme, daß nach der bestmöglichen Explikation Hume gemeinsam mit der Verdinglichungstheorie einen Deskriptivismus vertritt. Hätte Hume dies getan, so wäre seine Metaethik offen widersprüchlich, denn die objectification theory ist mit einem Deskriptivismus unverträglich. Diese Theorie liest die Handlungen oder Charakteren zugeschriebenen fiktiven Eigenschaften nicht mehr als bloße Auslöser von Empfindungen, sondern gesteht ihnen einen empfindungsnormierenden Gehalt zu: "Since these fictitious features are projections of sentiments which are intrinsically action-guiding, these features too are naturally thought of as intrinsically actionguiding. Since the system of sentiments includes a social demand that certain things be done or not done, the fictitious features are taken to involve corresponding requirements and necessities."29 Dies setzt aber bereits voraus, daß moralische Urteile Gefühle ausdrücken und etwas anderes sind als Feststellungen über Gefühle. Genau damit ist dem Deskriptivismus der Boden entzogen. Prinzipiell läßt die objectification theory zwei Deutungen zu, eine nicht-deskriptivistische und eine deskriptivistische. Gemeinsam ist ihnen, daß sie die den Handlungen oder Charakteren zugeschriebenen moralischen Eigenschaften als reine Konstrukte betrachten, womit sie beide Humes These, daß moralische Unterschiede nicht als objektiv gegebene Entitäten auffindbar sind, gerecht werden. Der Unterschied besteht darin, daß die eine Variante moralische Urteile als Ausdruck von Gefühlen interpretiert, deren handlungsleitenden Charakter anerkennt und annimmt, daß im Laufe der projektiven Verdinglichung unserer Empfindungen diese normierende Dimension auf die fiktiven moralischen Eigenschaften übertragen wird, während die andere Version die fiktiven moralischen Eigenschaften nur als Ausgangspunkte eines Verursachungsprozesses betrachtet - daß sie eben ein Gefühl der Billigung (Mißbilligung) auslösen. Konsequenterweise müßte Mackie, der Hume ja einen Deskriptivismus unterstellt, diesem auch die deskriptivistische Variante der objectification theory zuschreiben. Dies aber würde all die erwähnten Interpretationsprobleme, für die Mackie ja äußerst sensibel ist, nicht lösen. Mackie hat also gute Gründe, die erste Spielart der Verdinglichungstheorie als korrekt zu betrachten und als Interpretation von Humes metaethischer Position vorzuziehen, denn nur sie reflektiert die oben angeführten spezifischen Eigenheiten des moralischen Sprachspiels, die 29 Ebda., S. 71.
Humes
Metaethik
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Hume durchaus anerkennt. Aber genau diese Lesart anzunehmen verlangt, den Deskriptivismus aufzugeben. Im Klartext bedeutet dies, daß Hume nicht als Deskriptivist gelten kann. Trotz großer Detailschärfe und erheblicher argumentativer Differenzierung gelingt es Mackie nicht, Hume eine in sich konsistente und mit den prominentesten Textpassagen verträgliche metaethische Position zuzuschreiben.30 Ein gravierendes Defizit der deskriptivistischen Interpretation liegt darin, daß sie in offenen Widerspruch mit Humes Abgrenzung moralischer von faktischen Äußerungen gerät. Überdies bleibt der Stellenwert der Is/OughtPassage rätselhaft, wenn diese abweichend von der Standardauslegung, also nicht im Sinn einer Untermauerung der auch für spätere empiristische Ansätze so maßgeblichen Fakten/ Werte-Unterscheidung gelesen wird. Interessanter und vorzugswürdiger scheint also eine Rekonstruktion von Humes Metaethik, die mit prominenten Text-Abschnitten besser im Einklang steht und keine Umdeutung philosophiehistorisch einigermaßen etablierter und abgesicherter Humescher Standpunkte nach sich zieht. Eine solche Interpretation gelingt Bernd Gräfrath. 31 Gräfrath kombiniert das letztlich auf die ontologische Dimension abzielende Begriffspaar „Deskriptivismus/NichtDeskriptivismus" mit den aus der metaethischen Debatte einschlägig bekannten Termini „Kognitivismus/Non-Kognitivismus", die sich mehr auf den epistemologischen Status moralischer Urteile beziehen, und gelangt zu der These, daß sich Humes Position am angemessensten als kognitivistischer Nicht-Deskriptivismus beschreiben läßt. Daß Hume einen Nicht-Deskriptivismus vertritt, entspricht genau dem Ergebnis unserer Auseinandersetzung mit Mackies Interpretation. Moralische Urteile unterscheiden sich semantisch und epistemologisch von deskriptiven; wegen ihrer auf einer Empfindung beruhenden evaluativen und handlungsnormierenden Komponente entsprechen sie nicht einfach einer Feststellung darüber, daß ein Urteil ein bestimmtes Gefühl auslöst, und sind nicht wahrheitsfähig im strengen Sinn. Dennoch kann Hume kein Emotivismus zugeschrieben werden. Der Emotivismus, für den sich moralische Äußerungen auf subjektive Gefühlskundgebungen reduzieren, verunmöglicht wie erwähnt die Grenzziehung zwischen Appellen und zustimmungsfähigen Geltungsansprüchen. Nun teilt Hume zweifellos nicht ein Verständnis von Moral, demgemäß moralische Konversationen nicht über den Status emotiv gefärbter Beeinflussungsversuche hinausgelangen; Hume begreift moralisches Urteilen als eine auf einen allgemeineren, überparteilichen Standpunkt bezogene Reflexionsform. Obwohl er annimmt, daß moralische Urteile tatsächlich die Gefühle einer Sprecherin ausdrücken und nicht Berichte über Gefühle darstellen, bleibt er nicht in einem auf individuelle Gefühlsartikulationen beschränkten Moralverständnis gefangen, das streng genommen die Entwicklung einer normativen Ethik verunmöglicht. Humes einschlägige Schriften enthalten eine Reihe von Aussagen, die einen Emotivismus definitiv ausschließen. 30 Mit der objectification theory gelingt Mackie eine weitgehende Annäherung an Humes Sicht moralischen Urteilens, wenn wir uns seine Beschreibung dieser Position vor Augen halten: "As I have said, there is a system in which the sentiments of each person both modify and reinforce those of others; the supposedly objective moral features both aid and reflect this communication of sentiments, and the whole system of thought of which the objectification, the false belief in the fictitious features, is a contributing part, flourishes partly because, as we shall see, it serves a social function." Mackie (1980), S. 72. Charakteristisch für Mackie ist, wie wir sehen werden, eine bestimmte Deutung der funktionalistischen Seite dieses Unternehmens. 31 Siehe Gräfrath (1991), S. 5-44.
200
Die Moraltheorie David Humes
Auch Mackie denkt, daß sich im Traktat so gut wie keine Belegstellen für einen Emotivismus finden lassen, wertet dieses Ergebnis aber als Bestätigung seiner These über Humes metaethischen Deskriptivismus. Gräfrath entwickelt hier eine differenziertere Position: Er registriert die bei Hume in eine kognitivistische Richtung weisenden Elemente, schließt daraus aber nicht auf einen Deskriptivismus, sondern betrachtet die kognitivistischen Aspekte als in eine Variante des Nicht-Deskriptivismus integriert, die moralische Urteile in ihrer Wahrheitsfahigkeit zwar nicht als gleichrangig mit deskriptiven Aussagen, aber dennoch als revidierbar, prüfbar und diskutierbar betrachtet. Hume führt bereits im Traktat an, daß geregelte soziale Interaktionen gewissermaßen unmöglich werden, „wenn jeder von uns Charaktere und Personen immer nur so betrachtete, wie sie von seinem Standpunkt aus erscheinen".32 Nun provoziert eine auf Gefühlen aufbauende Moraltheorie, wie er eindeutig sieht, unvermeidlich den Einwand, instabil und willkürlich zu sein. Hume ist sich im klaren, daß wir nach der Möglichkeit, „eine(r) konstantere(n) Beurteilung der Dinge" suchen und „bestimmte feste und allgemeine Standpunkte der Betrachtung" 33 einnehmen müssen, wollen wir die aus einer rein individualistischen Betrachtung unvermeidlich resultierenden Widersprüchlichkeiten unserer moralischen Urteile vermeiden. Seine Lösung besteht in der These, daß eine objektivere Betrachtung unserer mit moralischen Urteilen verknüpften Gefühle sehr wohl möglich ist und wir deren Adäquatheit aus einer von individuellen Parteilichkeiten und Vorurteilen gereinigten Perspektive testen können. Unparteilichkeit bleibt für Hume ein zentrales Erfordernis moralischen Urteilens, aber diesen unvoreingenommenen Standpunkt assoziiert er keineswegs mit der völligen Abstraktion und Loslösung von unseren „ruhigen" Gefühlen, sondern begreift ihn als direkte Anwendung einer allgemeineren Sichtweise auf unsere Empfindungen. Humes auf einen unparteilichen Standpunkt verweisende Überlegungen treten in der Untersuchung über die Prinzipien der Moral deutlicher als im Traktat hervor. Hume stellt in dieser späteren Arbeit unmißverständlich klar, daß moralische Urteile einen Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit erheben, daß über moralische Meinungsverschiedenheiten rational argumentiert werden kann und wir zu einer einhelligen Beurteilung gelangen, wenn wir den moralischen Standpunkt beziehen: „Der Begriff der Moral schließt ein allen Menschen gemeinsames Gefühl ein, das denselben Gegenstand der allgemeinen Zustimmung empfiehlt; und das alle oder die meisten Menschen veranlaßt, sich davon die gleiche Meinung zu bilden oder darüber dieselbe Entscheidung zu treffen." 34 Bereits im ersten Abschnitt definiert Hume das Ziel der Untersuchung über die Prinzipien der Moral als die Reflexion und konkrete Betrachtung von Eigenschaften, die unsere Billigung und unseren Tadel verdienen, um „von da aus zu einer Grundlage der Ethik zu gelangen und jene universellen Prinzipien zu finden, von welchen letztlich jeder Tadel und jede Billigung hergeleitet wird".35 Er trifft eine klare Grenzziehung zwischen rein subjektiven und allgemein zustimmungsfähigen Gefühlen. Nur letztere, die wir auch von einem von den unreflektierten Parteilichkeiten subjektiven Fühlens abstrahierenden Blickwinkel her akzeptieren, gelten als intersubjektiv gesicherte moralische Empfindungen: „Wenn jemand einen anderen seinen Feind, seinen Rivalen, seinen Widersa32 Hume (1740) i n , S. 335. 33 Ebda. (Kursivsetzung im Original). 34 Hume (1751), S. 200. 35 Ebda., S. 93.
Künstliche und natürliche Tugenden
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eher, seinen Gegner nennt, so meint man, daß er die Sprache der Selbstliebe spricht und daß er Gefühle ausdrückt, die ihm eigen sind und die auf seinen besonderen Umständen und seiner besonderen Lage beruhen. Aber wenn er irgend jemanden als lasterhaft, hassenswert und verdorben bezeichnet, dann spricht er eine andere Sprache und drückt Gefühle aus, von denen er erwartet, daß alle seine Zuhörer darin mit ihm übereinstimmen. Er muß daher in diesem Fall von seiner privaten und besonderen Situation absehen und einen Standpunkt wählen, den er mit anderen gemeinsam hat; er muß auf ein allgemeines Prinzip der menschlichen Natur einwirken und eine Saite anschlagen, die bei allen Menschen harmonisch widerklingt." 36 Statt einen Emotivismus zu vertreten, nimmt Hume gewissermaßen bereits Adam Smiths Ideal observer-Theorie vorweg, daß nämlich moralisch begründete Urteile den Standpunkt eines unparteilichen Betrachters reflektieren. 37 Um Humes Auffassungen wirklich gerecht zu werden, darf man aber die Theorie des „Idealen Beobachters" gleichfalls nicht im deskriptivistischen Sinn lesen als Feststellung darüber, daß ein unparteiischer Beobachter moralischen Urteilen zustimmt, sondern muß sie im Sinne einer Veranschaulichung des moralischen Standpunkts als regulative Idee verstehen, um ein moralisches Urteil auf seine Angemessenheit zu prüfen. 3 8 Mit anderen Worten: Die „Ideale Beobachter"-Konzeption definiert auf illustrative Weise die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, soll der Anspruch eines moralischen Urteils auf intersubjektive Gültigkeit eingelöst werden. Selbst wenn sie Gefühle ausdrücken, sind moralische Urteile Teil eines gemeinschaftlichen Sprachspiels, das deren intersubjektive Reichweite zum konstitutiven Element seines Funktionierens zählt. Daß Hume mit seiner empfindungsgebundenen Theorie moralischer Urteile nicht in einen emotivistischen Subjektivismus oder einen Relativismus abgleitet, hängt nach Gräfrath auch damit zusammen, daß Hume eine in der Gleichartigkeit der menschlichen Natur begründete Gleichförmigkeit des Urteilens unterstellt. 39 Hume, der ja eine Untersuchung der menschlichen Natur zum Ausgangspunkt seiner moraltheoretischen Überlegungen macht, nimmt an, daß die Menschen hinsichtlich zentraler Merkmale gleich beschaffen sind. Diese Gemeinsamkeiten ermöglichen eine universell geteilte Basis der Moral. Damit entpuppt sich Hume gewissermaßen als ein Vorläufer der gegenwärtig prominenten Ansätze, die einen nichtmetaphysischen Rückgriff auf allgemeine menschliche Eigenschaften in Form eines moderaten Essentialismus als unabdingbar für eine ethische Theorie erachten. 40 .
11.4
Künstliche und natürliche Tugenden
Die Notwendigkeit, moralische Urteile auf einen unparteilichen moralischen Standpunkt zu beziehen, ergibt sich für Hume auch zwingend daraus, daß nur so die Abgrenzung zu nichtmoralischen Urteilen möglich ist. Denn die These, daß X tugendhaft oder lasterhaft ist, so36 37 38 39 40
Ebda., S. 200f., (Kursivsetzung im Original). Vgl. dazu Smith (1759), S. 262ff.; vgl. auch Mackie (1980), S. 67. Vgl. dazu Gräfrath (1991), S. 40f.; vgl. auch Mackie (1980), S. 69. Siehe Gräfrath (1991), S. 35. Zu nennen sind hier die Ansätze von Martha C. Nussbaum, Julia Annas und Hilary Putnam. Vgl. deren Beiträge in Nussbaum/Sen (1993).
202
Die Moraltheorie David Humes
fern die Betrachtung von X ein Gefühl der Lust oder Unlust erzeugt, führt ohne die für Moralität charakteristischen Zusatzbedingungen zu der absurden Konsequenz, daß auch Dinge unter die Kategorien von Tugend und Laster fallen, die nicht zum Bereich der Moral gehören. Die mit lobenswerten Handlungen oder Charakteren zusammenhängende Art der Befriedigung unterscheidet sich von der durch „unbeseelte Gegenstände" wie „eine gute musikalische Komposition und eine gute Flasche Wein" ausgelösten Lust in zwei Hinsichten: Zum einen sind Tugend und Laster nach Hume von Affekten wie Stolz, Niedergedrücktheit, Liebe und Haß begleitet, zum anderen erfordert das Gefühl moralischer Befriedigung die Abstraktion von unseren persönlichen Parteilichkeiten.41 Die Frage, „aufweiche Gründe" sich die durch Charaktere und Handlungen evozierten Gefühle der Lust und Unlust „zurückführen (lassen) und wodurch sie im menschlichen Geiste entstehen ", verweist nach Hume auf allgemeinere Prinzipien, denn dem einzelnen moralischen Urteil korrespondiert nicht eine der menschlichen Natur eingepflanzte urprüngliche und „primäre Gemütsverfassung"; unsere moralischen Gefühlsreaktionen sind das Ergebnis einer strukturierenden Betrachtung einzelner Fälle unter der Perspektive allgemeiner Grundsätze.42 Sind die unsere Einzelfallurteile leitenden Prinzipien in der Natur oder in einem anderen Ursprung zu suchen? Hume betont, daß die Antwort auf diese für seine Untersuchung zentrale Überlegung davon abhängt, von welcher Interpretation des Begriffs „Natur" - „(e)s gibt ja kein unbestimmteres und vieldeutigeres Wort" 43 - wir ausgehen. Er unterscheidet verschiedene Bedeutungen von „Natur": das Natürliche a) im Gegensatz zum Wunder, b) im Gegensatz zum Seltenen oder Außergewöhnlichen und c) im Gegensatz zum Künstlichen.44 Im Sinne a) sind Tugend und Laster gleichermaßen natürlich, während in der Bedeutung b) die (heldenhafte) Tugend als geradezu unnatürlich scheint. Aufgrund dieser Unterschiede hält Hume die pauschale Übertragung der Begriffe „natürlich/unnatürlich" auf moralische Kategorien und den Appell an das Natürliche als Kriterium einer Unterscheidung von „gut" und „böse" für unzulässig. Der Begriff der Natur für sich erlaubt keine Grenzziehung von Tugend und Laster, was auch durch die obige Interpretation c) unterstrichen wird, denn bezogen auf den Gegensatz von Natürlichem und Künstlichem gilt nach Hume, „daß unser Sinn für gewisse Tugenden künstlich, für andere natürlich ist". 45 Damit sind wir bei Humes berühmter Unterscheidung von künstlichen und natürlichen Tugenden angelangt, jener Differenzierung, die nach Ansicht einiger Interpreten seine größte Leistung in der Moraltheorie darstellt.
11.4.1
Die künstlichen Tugenden
Hume beginnt seine inhaltlichen Erläuterungen der Tugenden mit dem Hinweis, „daß unser Bewußtsein der Tugend nicht bei allen Arten derselben ein natürliches ist, daß es vielmehr einige Tugenden gibt, die Lust und Zustimmung nur erwecken auf Grund einer künstlichen 41 42 43 44 45
Siehe Hume (1740) III, S. 214f. Ebda., S. 215 (Kursivsetzung im Original). Ebda., S. 216. Ebda., S. 216f. Ebda., S. 217.
Die künstlichen
Tugenden
203
Veranstaltung, die aus den Lebensverhältnissen und Bedürfnissen der Menschheit entsteht".46 Paradigma einer künstlichen Tugend ist der Rechtssinn. Dies begründet Hume mit folgender Überlegung: Keiner unserer natürlichen Impulse liefert uns Grund für ein Handeln gemäß der Rechtsordnung. Weder die Sorge für unser Privatinteresse, also Eigenliebe, noch die Rücksicht auf das öffentliche Interesse, noch der Nutzen für die jeweils in Betracht kommende Person reichen aus, um uns zum rechtlichen Handeln zu bewegen. Es läßt sich für Hume also unmöglich ein anderes Motiv für Handlungen der Redlichkeit auffinden, als das unserer Rücksicht auf die Redlichkeit selbst. Der Rechtssinn ist somit eine künstliche, keine natürliche Tugend; das Gefühl für „Recht und Rechtswidrigkeit" stammt nicht aus der Natur, sondern ist ein Produkt von Erziehung und menschlicher Übereinkunft. 47 Ein wesentlicher Grund für das Entstehen der Rechtsordnung und der künstlichen Tugenden liegt in dem unbefriedigenden natürlichen Zustand, in dem sich der Mensch befindet. Nach Hume ist die Natur gegen keines unter all ihren Geschöpfen so „grausam verfahren" wie gegen den Menschen: Die natürlichen Stärken und Mittel, über die Menschen verfügen, bieten ihnen nur minimale Wege zur Befriedigung ihrer zahlreichen Bedürfnisse und Ansprüche. In der Vergesellschaftung liegt die einzige Möglichkeit, wie Menschen ihre naturgegebenen Schwächen und Mängel ausgleichen können. Die für Menschen charakteristischen Eigenschaften der Selbstsucht und limitierten Großmut gegenüber anderen bilden in Kombination mit dem Faktum beschränkter Ressourcen und der Übertragbarkeit von Gütern von einer Person auf eine andere die Ausgangsbedingungen für das Entstehen der Rechtsordnung. Würden wir in einem „goldenen Zeitalter" leben, das keine Knappheit der Ressourcen kennt, wo alles im Überfluß vorhanden ist und keine Konkurrenz zwischen Menschen herrscht, so wären die Rechtsordnung und damit auch die Begriffe des Rechts und der Verpflichtung sinnlos. „Man steigere das Wohlwollen der Menschen gegeneinander oder die Freigebigkeit der Natur in genügendem Maße und die Rechtsordnung wird überflüssig." 48 Dennoch weist Hume darauf hin, daß die Beschreibungen des Menschen als ein nur von Selbstsucht getriebenes und völlig rücksichtsloses Wesen „von der Wahrheit ebenso weit entfernt sind, als die Berichte über Ungeheuer, denen wir in Fabeln und Dichtungen begegnen". 49 Der von Hobbes gezeichnete Naturzustand als ein „Krieg eines jeden gegen jeden" stellt für Hume um nichts weniger eine bloße Erfindung dar als das von den Dichtern eingeführte „goldene Zeitalter". Aber beide Fiktionen lenken mit ihren Übertreibungen - einmal die Dämonisierung, zum anderen die Idealisierung der Bedingungen menschlichen Lebens den Blick auf die tatsächliche Verfassung der Menschen. 50 Wenngleich die Eigenliebe einen wesentlichen Faktor unseres Verhaltens bildet, so sind wir doch auch altruistischer Neigungen fähig; nach Hume treffen wir geradezu selten auf jemanden, „dessen wohlwollende Regungen zusammen genommen nicht seine selbstischen Neigungen überwögen".51 Unser Wohlwollen gegenüber uns Nahestehenden ist aber zwei46 47 48 49 50 51
Ebda., S. 219. Ebda., S. 226. Für eine detaillierte Diskussion von Humes Argumentation vgl. Mackie (1980), S. 76-82. Hume (1740) HI, S. 238. Ebda., S. 230. Ebda., S. 238. Ebda., S. 230.
204
Die Moraltheorie
David
Humes
fellos größer als jenes gegenüber fernstehenden Personen. Damit diese partielle Neigung zur Bevorzugung der Mitglieder unseres Nahbereichs nicht zu uneingeschränkter Parteilichkeit degeneriert, wodurch die gesellschaftliche Vereinigung und Zusammenarbeit verhindert würde, müssen wir nach Hume über unsere natürlichen Neigungen und Impulse hinausgehende Vorstellungen des Zusammenlebens entwickeln und entsprechende künstliche Institutionen schaffen: „Die Abhilfe entspringt also nicht aus der Natur, sondern wird durch Kunst hervorgebracht, oder, richtiger gesagt, die Natur sorgt für Abhilfe, indem sie uns das Unregelmäßige und Unzweckmäßige in unseren Zuneigungen beurteilen und verstehen lehrt." 52 Keine unserer natürlichen Neigungen reicht, wie Hume betont, aus, um unserem Streben nach Gewinnsucht Einhalt zu gebieten - unser Wohlwollen gegenüber uns nicht unmittelbar nahestehenden Personen ist zu schwach ausgeprägt. Die Menschen sind also zur Einführung eines Regelsystems gezwungen, das ihre natürlichen Affekte einschränkt, insbesondere das Verlangen, „Güter und Besitz für uns und unsere nächsten Freunde zu erlangen", denn diese verbreitete Eigenheit der menschlichen Natur ist nach Hume „unmittelbar zerstörend für die Gesellschaft". 53 Um diesen infolge unserer natürlichen Verfassung drohenden Konsequenzen, die in niemandes Interesse sein können, vorzubeugen, ist eine Übereinkunft aller notwendig, den Besitz an rechtmäßig erworbenen Gütern anderer Personen zu respektieren. Diese Einigung ist nach Hume nicht mit einem Versprechen gleichzusetzen, denn moralische Phänomene wie Versprechen beruhen gerade auf einer solchen Art des Übereinkommens. Die Übereinkunft entspringt der Einsicht, daß es im allgemeinen Interesse liegt, Besitzregeln anzuerkennen, sofern die anderen es auch tun. Das gemeinsame Interesse an einer Regelung und das Wissen, daß diese Regelung nur Kraft gewinnt, wenn sich alle daran halten, erzeugt „ein entsprechendes Wollen und Verhalten".54 Ein zusätzliches Abgeben eines Versprechens ist nicht mehr notwendig. Allein die individuellen Interessen sind ausreichend, um die Einhaltung der Abmachung zu gewährleisten, wie Hume mit dem berühmten Beispiel verdeutlicht: „Auch wenn zwei Männer gemeinsam die Ruder eines Bootes bewegen, so tun sie dies auf Grund eines Einverständnisses oder einer Übereinkunft, obgleich sie sich gegenseitig keine Versprechungen gemacht haben." 55 Dieses von Hume unter dem Titel der künstlichen Tugenden skizzierte Verfahren einer Kooperation im gegenseitigen Interesse betrachten manche zeitgenössische Philosophen als durch entscheidungs- und spieltheoretische Überlegungen präzisierbares Modell der Einführung und Rechtfertigung von Normensystemen schlechthin. Nicht nur die Rechtsordnung und die korrespondierenden Vorstellungen von Eigentum, Recht und Verpflichtung, sondern die moralischen Normen und Regeln im allgemeinen gelten ihnen als das Ergebnis einer durch die Verfolgung ihrer langfristigen Eigeninteressen motivierten Übereinkunft aller. Die Frage, wie weit Hume wirklich eine rational-individualistische Vertragstheorie der Moral vertreten hat, deren Tragfähigkeit als normative Ethik wir bereits in Zweifel gezogen haben 56 , kommt noch zur Sprache. 52 53 54 55 56
Ebda., S. 232 (Kursivsetzung im Original). Ebda., S. 235. Ebda., S. 233. Ebda. Für eine andere Illustration dieser Situation vgl. auch ebda., S. 268. Vgl. Kap. 4.4 dieser Arbeit.
Die natürlichen Tugenden
11.4.2
205
Die natürlichen Tugenden
Hume nimmt neben den künstlichen noch natürliche Tugenden an, also solche individuellen Eigenschaften und Talente, die dem allgemeinen Wohlergehen förderlich, die aber nicht wie die künstlichen Tugenden auf eine Übereinkunft im gegenseitigen Interesse rückführbar sind. Zu diesen natürlichen Tugenden zählt Hume neben einer „natürlichen" Abneigung gegen das Übel und einer Tendenz zum Guten eine Reihe positiv besetzter Haltungen wie Güte, Wohlwollen, Menschlichkeit, Treue, Besorgtheit um andere, Sanftmut, Wohltätigkeit, Barmherzigkeit, Großmut, Milde, Mäßigung und Redlichkeit57 - also all jene sozialen Tugenden, die zum Wohl der Gesellschaft beitragen. Als natürliche Tugenden betrachtet Hume aber auch Anlagen, die Menschen nützlich sind und ihnen bei der Realisierung ihrer Lebenspläne wertvolle Vorteile gewähren wie Fleiß, Ausdauer, Geduld, Tätigkeit, Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und Beständigkeit, Mäßigkeit, Einfachheit, Sparsamkeit und Entschlossenheit; daneben auch Eigenschaften, die einem selbst unmittelbar angenehm sind wie Heiterkeit und Zuversicht und solche, die anderen unmittelbar angenehm sind wie Beredsamkeit, Witz und gute Laune.58 Hume zieht hier bewußt keine scharfe Grenze zwischen bestimmten Anlagen und moralischen Tugenden - wesentlich ist die allgemeine Wertschätzung, die Eigenschaften genießen. Eine strikte Trennung zwischen schätzenswerten Charaktermerkmalen und moralischen Vorzügen beliefe sich nach Hume auf den Versuch, die Ethik der Theologie anzunähern und Moral analog dem bürgerlichen Recht als ein System des Belohnens und Bestrafens zu begreifen. 59 Hume kritisiert insbesondere die „mönchischen Tugenden" wie Zölibat, Fasten, Buße, Kasteiungen, Selbstverleugnung, Erniedrigung, Schweigen, Einsamkeit; sie sind für ihn zwecklos und schädlich, da sie das Glück des Menschen eher verhindern denn befördern und „das Herz verhärten, die Phantasie verdüstern und das Gemüt verbittern". 60 Er wehrt sich entschieden gegen jegliche Tendenz einer theologischen Verengung des Tugendkatalogs. Wesentlich für ihn ist, die Moral in einem weiteren Sinn zu begreifen, nämlich als die Ausbildung und Weiterentwicklung jener Gefühle und Charaktereigenschaften, die uns und anderen angenehm sind und die unsere Zustimmung und Billigung finden, weil sie dem Wohl aller förderlich sind. Die Überlegung, welche Eigenschaften man - objektiv betrachtet - an sich selbst wünschen würde, bildet das Kriterium zur Identifikation von Tugenden.61 Zu Beginn seiner Reflexionen über natürliche Tugenden weist Hume erneut auf die Abhängigkeit moralischer Unterscheidungen von ihrem Einfluß auf die Gefühle der Lust oder Unlust hin. Als tugendhaft gelten uns jene „Eigenschaften des Geistes", die Liebe oder Stolz produzieren, und als lasterhaft jene, die Haß oder Niedergedrücktheit zur Folge haben.62 Der Zusammenhang zwischen spezifischen Charaktermerkmalen, den affektiven Reaktionen von Liebe und Haß und den Zuordnungen zu den moralischen Kategorien von Tugend und Untu57 Siehe Hume (1740) III, S. 332 und S. 358. 58 Ebda., S. 365; vgl. auch Hume (1751), S. 133-175. 59 Hume (1751), S. 256. 60 Ebda., S. 198. 61 Ebda., S. 196ff.; vgl. auch Baier (1991), S. 199. 62 Siehe Hume (1740) III, S. 328.
206
Die Moraltheorie
David
Humes
gend läßt sich nach Hume erklären, wenn man auf die „Natur und die Kraft des Mitgefühls", der sympathy, zurückgreift.63 Wir sind mit unseren Stimmungen und Gefühlen dank der Einbildungskraft und des Mitgefühls unseren Mitmenschen zugänglich; Menschen vermögen mittels der Sympathie die Empfindungen anderer nachzuvollziehen und in gewissem Maße zu teilen: „Niemand kann durch eine Gemütsbewegung getrieben werden, ohne daß zugleich alle anderen bis zu einem gewissen Grade dafür empfänglich wären. Sind zwei Saiten gleichgespannt, so teilt sich die Bewegung der einen der anderen mit; in gleicher Weise gehen die Gemütsbewegungen leicht von einer Person auf die andere über und erzeugen korrespondierende Bewegungen in allen menschlichen Wesen." 64 So liegt das Prinzip der Sympathie etwa unserem Schönheitssinn zugrunde: Ein Gegenstand, der seinem Besitzer Annehmlichkeit und Freude bringt, wird für schön gehalten, und auch die anderen Menschen schließen sich dieser Beurteilung an „vermöge eines zarten Mitgefühls mit dem Nutznießer".65 Ähnliches geschieht im Falle moralischer Beurteilung. Charaktermerkmale und Haltungen rufen durch ihre angenehmen oder unangenehmen Wirkungen spontan Billigung oder Mißbilligung hervor und sprechen damit das moralische Empfinden an. Alle jene Eigenschaften finden unsere Zustimmung, von derem allgemein nützlichen und wohltuenden Einfluß uns das Mitgefühl, unsere Fähigkeit, die Situationen und Gefühle anderer nachzuerleben, überzeugt. Die Empfindung der Sympathie bildet die eigentliche Grundlage von Humes Moraltheorie; sie bestimmt unsere moralischen Wertungen und rückt das allgemeine Wohlergehen in den Mittelpunkt moralischen Urteilens. Die natürlichen und künstlichen Tugenden finden unsere moralische Zustimmung, da sie zum Guten der Gesellschaft im allgemeinen beitragen und uns aufgrund unserer Fähigkeit zum Mitgefühl nicht nur unser eigenes und das unserer Freunde, sondern auch das Wohlergehen von uns nicht nahestehenden Personen nicht gleichgültig ist. „Es ergibt sich also, daß das Mitgefühl ein sehr mächtiges Prinzip in der menschlichen Natur ist, daß es großen Einfluß auf unseren Geschmack bei der Beurteilung des Schönen hat und daß es unser Sittlichkeitsgefühl bei allen künstlichen Tugenden erzeugt. Daraus dürfen wir aber schließen, daß das Mitgefühl das Moment sein wird, das auch allerlei andere Eigenschaften uns als Tugenden erscheinen läßt, oder daß (auch sonst) Eigenschaften unsere Billigung gewinnen, weil sie für das Wohl der Menschheit zweckmäßig sind." 66 Hume findet die Erklärung moralischer Billigung über Mitgefühl und Einbildungskraft bei den natürlichen Tugenden noch einleuchtender als bei den künstlichen, da der Einzelfall stärker unsere Gefühle affiziert als die Vorstellung eines allgemeinen Vorteils. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen von Tugenden reduziert sich nach Hume auf den Punkt, daß bei den natürlichen Tugenden die guten Konsequenzen auf den Einzelfall bezogen und Gegenstand eines natürlichen Affekts sind, während im Fall der künstlichen Tugenden nur das Zusammenwirken der Menschen nach einem allgemeinen Plan oder System des Handelns das 63 Ebda., S. 329. Humes „sympathy" wird im folgenden meist als „Sympathie" oder „Mitgefühl" (manchmal auch als „Empathie") wiedergegeben; inhaltlich bezieht sich der Begriff im Unterschied zu seiner alltagssprachlichen Verwendung auf eine affektive moralische Haltung anderen gegenüber. 64 Ebda. 65 Ebda., S. 330. 66 Ebda., S. 331 (Kursivsetzung im Original).
Der Einfluß von Hobbes, Shaftesbury und Hutcheson
207
Gute zur Folge hat und ein einzelner Akt der Rechtlichkeit oftmals dem allgemeinen Wohl zuwiderläuft. Hume spricht auch den möglichen Einwand an, daß das Mitgefühl nicht Grundlage unserer moralischen Wertschätzung sein kann, da es - abhängig von einem Verhältnis der Nähe oder Distanz - Veränderungen unterworfen ist, die für unsere moralischen Gefühle und Beurteilungen nicht gelten, denn „(i)n der Tat haben wir mehr Mitgefühl mit Menschen, die uns nahe stehen, als mit fernstehenden, mehr mit unseren Bekannten als mit Fremden, mit unseren Landsleuten als mit Ausländern".67 Eine gewisse Parteilichkeit unseres Urteilens ist nach Hume immer gegeben, unabhängig davon, ob man moralisches Werten an Gefühle bindet oder nicht. Die unvermeidlichen Voreingenommenheiten und Subjektivitäten unseres Urteilens und die daraus resultierenden Widersprüchlichkeiten lassen sich insgesamt aber vermeiden, wenn wir uns eben um objektivere Standpunkte der Beurteilung bemühen. Die Tendenz zur Unparteilichkeit eröffnet uns die Chance, der unmittelbaren Neigung, Personen und Handlungsweisen vorrangig nach ihrem Vorteil oder Nachteil für uns zu bewerten, entgegenzusteuern. Nur wenn wir objektivere Haltungen und Sichtweisen entwickeln und einen unparteilichen Standpunkt der Moral beziehen, können wir von Idiosynkrasien und Beliebigkeiten geprägte Einschätzungen vermeiden. Auch hier ist es für Hume das Mitgefühl, welches uns eine ausgewogene, nicht subjektiv verfälschte Beurteilung ermöglicht. Gerade die Sympathie helfe, die Parteilichkeit unserer Gefühle zu überwinden: „Die Lust eines Fremden aber, für den wir keine Freundschaft haben, freut uns nur vermöge des Mitgefühls." 68 Auch die unter dem Begriff der natürlichen Tugenden zusammengefaßten Dispositionen bleiben unter dem Blickwinkel objektiver Standards einer ständigen Korrektur und Modifikation unterworfen. Sie sind Teil einer Theorie der Moral, die voraussetzt, daß verschiedene Moralbeurteiler unabhängig von persönlichen Erwägungen und Beziehungen gleiche Handlungsweisen gleich beurteilen. Zwischen den künstlichen und natürlichen Tugenden sieht Hume folgenden Zusammenhang: Wenn auch das Mitgefühl natürlich ist, so können uns künstliche Einrichtungen in der Förderung dieser Empfindung unterstützen. „Politische Kunstgriffe", wie eben die Schaffung von künstlichen Institutionen, ermöglichen die „Erweiterung der natürlichen Gefühle über ihre natürlichen Grenzen hinaus; aber immer muß die Natur das Material liefern und uns (zunächst) einen Begriff von sittlichen Unterschieden geben". 69
11.5
Zwischen Egoismus und Wohlwollen: Der Einfluß von Hobbes, Shaftesbury und Hutcheson
Die Humesche Theorie der Moral durchzieht eine auffällige Spannung von Egoismus und Sympathie. Auf der einen Seite beschreibt Hume die moralischen Subjekte als selbstinteressierte Akteure, denen ihr Vorteil und jener der ihnen nahestehenden Personen am wichtigsten ist. Das Eigeninteresse, das Menschen zu einer langfristigen Verfolgung ihres Vorteils umzufunktionieren vermögen, bringt sie dazu, moralische Institutionen wie die Rechtsordnung 67 Ebda., S. 334. 68 Ebda., S. 330; vgl. auch S. 336. 69 Ebda., S. 244.
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Die Moraltheorie
David
Humes
einzuführen. Personen kooperieren mit anderen im Sinne gegenseitiger Interessenwahrung, sofern auch diese sich den Eigentumsregeln unterwerfen. Andererseits sind Menschen der Sympathie fähige Wesen, welche die Gefühle ihrer Mitmenschen nachzuvollziehen und zu teilen vermögen. Dieses Mitgefühl beschränkt sich für Hume nicht nur auf die Personen unseres Nahbereichs; wenngleich es gegenüber denen, mit denen uns enge Beziehungen verbinden, auf natürliche Weise am stärksten ist, so können wir es doch in Kombination mit der uns eigenen Kraft der Imagination auf andere, uns fernstehende Personen ausdehnen. Wie eine Reihe von Arbeiten zu Humes Moraltheorie verdeutlichen, ist dieser für die Humesche Theorie so charakteristische Gegensatz zwischen Eigeninteresse und Sympathie darauf zurückzuführen, daß Hume versucht, eine Brücke zwischen zwei konträren Vorläufertraditionen in der britischen Moralphilosophie zu schlagen. Humes Theorie der Moral stellt eine Synthese der Ansätze von Hobbes einerseits sowie Shaftesbury und Hutcheson andererseits dar. Nach Hobbes suchen menschliche Wesen, die er als primär selbstinteressiert begreift, nach größtmöglicher Kontrolle einer ihnen feindlich gesinnten Umwelt. 70 Ihr uneingeschränktes Streben nach Macht ist motiviert von ihrem Selbsterhaltungstrieb: In einer Umwelt, in der Menschen sich nicht vor den Übergriffen anderer sicher fühlen können, ist Macht ein Mittel, die eigene Person und die individuellen Interessen zu schützen. Insofern unterwerfen sich Individuen, wie Hobbes ausführt, auch freiwillig einem gesellschaftsvertraglich abgesicherten System staatlicher Herrschaft; sie akzeptieren auf der Basis bloßer Klugheitserwägungen eine Form der öffentlichen Kontrolle durch einen von ihnen kontraktualistisch eingesetzten Souverän, sofern auch alle anderen diese Einschränkung individueller Interessen- und Machtverfolgung anerkennen. Diese Hobbesschen Rationalitätsüberlegungen beschränken sich nicht auf das Problem der Fundierung und Legitimierung staatlicher Herrschaft, sondern lassen sich auf Normensysteme im allgemeinen übertragen. Bezogen auf Moral bedeutet dies, daß moralische Regeln aus einem Kalkül wohlerwogenen Eigeninteresses gesellschaftlich eingeführt und akzeptiert werden, da sie unserer Selbsterhaltung dienlich und für unser Wohlergehen allgemein vorteilhaft sind. Bei Hobbes findet sich somit erstmals jener interessenorientierte Ansatz einer Rechtfertigung moralischer Institutionen, der uns bei Humes Erklärung des Zustandekommens der als „künstliche Tugenden" bezeichneten normativen Ordnungen wieder begegnet. Wie bereits erwähnt, teilt Hume allerdings nicht Hobbes' pessimistisches Menschenbild und dessen Sicht gesellschaftlicher Beziehungen als vorwiegend antagonistisch. Selbstinteresse und begrenztes Wohlwollen anderen gegenüber verkörpern nach Hume nur eine Seite der menschlichen Natur; Menschen kennzeichne auch Mitgefühl und altruistische Neigungen. Damit greift Hume die in bewußter Reaktion auf Hobbes entwickelten alternativen Konzeptionen menschlicher Wesensart auf. Hobbes' Überzeichnung negativer Züge menschlichen Gebarens und seine Reduktion der Menschen auf machtfixierte Egoisten verlangten nach einer Korrektur, um den unbestreitbar vorhandenen sozialen Verhaltenstendenzen von Personen gerecht zu werden. Eine solche Akzentuierung der positiven mitmenschlichen Dispositionen und ein entsprechendes alternatives Verständnis des moralisch guten Handelns findet sich bei Shaftesbury und Hutcheson.
70 Vgl. die Diskussion von Hobbes' Position in Kap. 4.3 dieser Arbeit.
Der Einfluß von Hobbes, Shaftesbury und Hutcheson
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Shaftesbury versucht, Hobbes' ethischem Egoismus die Basis zu entziehen, indem er annimmt, daß es natürliche, auf das gemeinsame Gute gerichtete soziale Gefühle gibt, die recht besehen in keinerlei Gegensatz zu unseren Eigeninteressen stehen. Shaftesbury unterscheidet zwischen natürlichen Gefühlen wie Liebe, Gutwilligkeit und Sympathie für die Mitmenschen, Ich-Gefühlen (Liebe zum Leben, körperliche Begehren und der Wunsch nach individuellen Annehmlichkeiten) und „unnatürlichen Gefühlen", die alle negativen, nicht zuletzt durch Aberglauben und barbarische Gewohnheiten ausgelösten Impulse sowie auch unverhältnismäßig starke Ich-Leidenschaften umfassen. Die „unnatürlichen Neigungen" sind weder dem subjektiven noch dem öffentlichen Wohl zuträglich, und auch die offenbar im Dienste des persönlichen Interesses stehenden Ich-Gefühle fördern das individuelle Glück eines Menschen nur, wenn sie starken Einschränkungen unterworfen werden. Im Gegensatz dazu tragen die natürlichen sozialen Affekte, so Shaftesbury, am besten zum allgemeinen und zum privaten Guten bei; Individuen begünstigen ihr Wohl, wenn sie jene auf das Wohlergehen aller gerichteten sozialen Empfindungen kultivieren. Denn dem persönlichen Wohl von Menschen sei am besten durch eine Sicherstellung des gemeinsamen Guten gedient.71 Obwohl Shaftesbury annimmt, daß sich uns das moralisch Tugendhafte und Lasterhafte über einen moralischen Sinn erschließt, wird die Doktrin des „moralischen Sinns" in gewissem Sinne nebensächlich, denn Shaftesburys wesentliche Argumentationslinie ist von dieser Voraussetzung nicht berührt. Der moralische Sinn hat keine inhaltlich-konstruktive Funktion, sondern bedeutet nur, daß wir uns der moralischen Qualität der sozialen Affekte bewußt sind. So gesehen stellt der moralische Sinn nur eine Verstärkung des natürlichen Impulses zum Gutsein und ein Mittel der Korrektur möglicherweise gegebener unnatürlicher Gefühle dar. Der moralische Sinn ist gewissermaßen Ausdruck dessen, daß wir uns der moralisch wertvollen sozialen Empfindungen bewußt sind und über diese reflexive Form der Bewußtmachung auch einen Affekt für diese Empfindungen entwickeln.72 Bei Shaftesbury wird durch die vorausgesetzte Harmonie von ichbezogenen und allgemeinen Interessen die in Hobbes' Ansatz durch eine vertragliche Übereinkunft garantierte Wahrung der individuellen Interessen aller gegenstandslos. Wenn sich die ichbezogenen und die altruistischen Gefühle decken und das Eigeninteresse mit der Verfolgung des allgemeinen Wohls zusammenfällt, so sind keine Abstriche von unseren unmittelbaren Wünschen notwendig, um langfristig unseren Vorteil zu sichern, und die Einführung eines Regelsystems zum Schutz der individuellen Interessen erübrigt sich.73 Shaftesburys Zugang zum Problem der Moral fand eine Weiterentwicklung bei Francis Hutcheson. Hutcheson betrachtet die „freundlichen Affekte", die unsere „Bewunderung und Liebe" auslösen, als die primären Objekte moralischer Zustimmung: „Doch sobald eine Handlung sich uns so darstellt, als entspringe sie aus Liebe, Menschlichkeit, Dankbarkeit, Mitleid, einem Streben nach dem Guten für andere und aus Freude an ihrem Glück, auch wenn dies in den fernsten Winkeln der Welt oder in einem vergangenen Zeitalter wäre, dann fühlen wir Freude in uns, bewundern die liebenswerte Handlung und loben ihren Urheber.
71 Siehe Shaftesbury (1699), S. 169-171, S. 177 und S. 186-188. 72 Vgl. dazu Sidgwick (1886), S. 180-187. 73 Vgl. Kliemt(1985), S. 39.
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Andererseits erweckt jede Handlung Abscheu und Abneigung, von der wir die Idee haben, sie sei aus Haß, aus Freude am Elend anderer oder aus Undankbarkeit entsprungen." 74 Als moralisch lobenswerte Disposition gilt das Streben nach dem Guten für andere und die Liebe zur moralischen Vorzüglichkeit, die in Menschen untrennbar mit dem guten Wollen verbunden ist. Basis der moralischen Billigung ist die Liebe oder das Wohlwollen, die einer Handlung zugrundeliegen. Für Hutcheson fallen Tugend und Wohlwollen zusammen; Handlungen finden unsere moralische Anerkennung und Billigung, sofern sie aus dem Motiv echten Wohlwollens resultieren.75 Eigenschaften, die für gewöhnlich als verdienstvoll gelten, wie etwa Besonnenheit, Mut und Gerechtigkeit, sind nur dann wirklich Tugenden, wenn sie dem Allgemeinwohl dienen und mit wohlwollenden Absichten zusammenhängen. Eine für Hutchesons Moralkonzeption zentrale Annahme lautet: Wir haben eine Neigung zu echtem Wohlwollen, und wir wünschen uns das Glück anderer für sich, nicht nur als Mittel zu unserem eigenen Glück. Wir reagieren unterschiedlich auf eine Handlung, von der wir Grund haben anzunehmen, daß sie aus einem echten guten Willen uns gegenüber und nicht nur aus wohlkalkuliertem Selbstinteresse erfolgt. Hutcheson lehnt jeden Versuch ab, Moral auf dem Eigeninteresse aufzubauen. Echtes Wohlwollen ist nicht auf Selbstliebe reduzierbar.76 Wenngleich es für Hutcheson als erwiesen gilt, „daß die Menschheit eine universale Bestimmung zum Wohlwollen, auch gegenüber den entferntesten Teilen der Art, besitzt"77, so nimmt er doch an, daß das Wohlwollen je nach sozialer Nähe und Distanz variiert und im Falle enger Bindungen am stärksten ist. Doch prinzipiell erstreckt es sich auf alle unsere Mitmenschen. Hutcheson, der voraussetzt, daß eine angemessene Berücksichtigung privater Interessen immer mit dem moralischen Sinn und mit Wohlwollen übereinstimmt, teilt Shaftesburys Harmoniepostulat zwischen allgemeinem und privatem Wohl, ist aber stärker darum bemüht, die Unabhängigkeit wohlwollender Empfindungen von Selbstinteressen zu zeigen. Hutcheson geht gleichfalls davon aus, daß wir über einen moralischen Sinn verfügen; dieser äußert sich in Form einer Tendenz zu einer unmittelbaren Reaktion der Billigung oder Ablehnung bestimmter Handlungen, unabhängig davon, ob sie unsere Interessen tangieren oder nicht. Die Urteile der Zustimmung oder Ablehnung resultieren nicht aus der Selbstliebe. Quelle unserer moralischen Vorstellungen und Begriffe ist die mit unserem Moralsinn verknüpfte Form moralischer Wahrnehmung, die uns für das uneigennützige Wohlwollen als Grundlage des moralischen Handelns sensibilisiert. Die Voraussetzung eines moralischen Sinns ermöglicht, unsere moralischen Reaktionen und Empfindungen wie Scham und Schuld zu erklären. „Aber besäßen wir weder einen Sinn für die moralischen Eigenschaften von Taten noch eine andere Vorstellung von ihnen als die des Nutzens oder Schadens, könnten wir niemals jemanden für seine Liebe zur Allgemeinheit ehren oder lieben und beachteten seine Taten nur soweit, als sie uns selbst im besonderen berührten. Wir könnten vielleicht den metaphysischen Begriff des Gemeinwohls bilden, aber ohne das Prinzip des Wohlwollens hätten wir es nur soweit angestrebt, als es zu unseren privaten Interessen beitragen würde." 78 74 75 76 77 78
Hutcheson (1725), S. 19f. Ebda., S. 61. Ebda., S. 20ff. Ebda., S. 98. Ebda., S. 105.
John L. Mackies Lesart von Hume
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Auch Hutcheson versteht den moralischen Sinn nicht als eine spezifische moralische Wahrnehmung objektiv gegebener ontologischer moralischer Qualitäten oder Wertobjekte, sondern interpretiert ihn als eine bloße Bezeichnung jener Form der Reflexion, die unserem moralischen Urteilen zugrundeliegt. Shaftesbury und Hutcheson haben gegenüber Hobbes zu Recht die sozial positiven Aspekte menschlichen Verhaltens betont, wenngleich sie auf ihre Art einer gewissen Einseitigkeit nicht entgehen; vor allem ihre These einer Deckung von individuellen und allgemeinen Interessen fällt zu optimistisch aus und wirkt angesichts des hier gegebenen Konfliktpotentials unrealistisch. Hume greift sozusagen den anthropologisch berechtigten Kern beider Vorläuferkonzeptionen auf: Einerseits befinden sich die Menschen durch ungünstige äußere Bedingungen in Konkurrenz und Konflikt miteinander, andererseits sind sie tiefer Anteilnahme füreinander fähig. Entsprechend vereinigt seine Theorie der Moral auch wesentliche Elemente der ethischen Ansätze seiner historischen Vorgänger. Humes Analyse der künstlichen Tugenden stellt eine Weiterentwicklung Hobbesscher Überlegungen dar, während seine Ausführungen über natürliche Tugenden relativ direkt an Shaftesbury und auch Hutcheson anknüpfen. Wie weit Hume wirklich eine Integration dieser unterschiedlichen Stränge in einem zusammenhängenden Ansatz gelingt, oder ob diese Komponenten eine letztlich nicht aufgearbeitete Zwiespältigkeit in seiner Theorie signalisieren, mag vorläufig offen bleiben. Festzuhalten ist, daß sich gerade aufgrund dieser gegensätzlichen Linien zwei konträre Lesarten von Humes Moraltheorie entwickelt haben, deren Differenz sich genau darauf beläuft, daß die eine die Hobbes sehen Elemente in den Mittelpunkt rückt und die andere Hume primär als Nachfolger von Shaftesbury und Hutcheson sieht. Nach einer eingehenderen Betrachtung dieser beiden Lesarten, die weitere Aufschlüsse über die genaue Struktur von Humes Konzeption vermittelt, werde ich zeigen, in welcher Form eine nicht einseitig verkürzte Rezeption von Humes Ethik zu einer moraltheoretischen Perspektivenerweiterung beiträgt. Gerade Hume liefert entscheidende Ideen für das Projekt einer umfassenden Theorie der Moral, die eine Verbindung von Regelmoral und Tugendethik sucht.
11.6
Hume, Repräsentant eines aufgeklärten Egoismus?
11.6.1
John L. Mackies Lesart von Hume
In seiner einflußreichen Studie Hume's Moral Theory hat John L. Mackie den wohl detailliertesten jener Interpretationsversuche vorgelegt, die Hume in eine ideengeschichtliche Linie mit Hobbes stellen. Er versteht das Dritte Buch des Traktakts im wesentlichen als Weiterführung Hobbesscher Überlegungen. Mackie räumt ein, daß Hume auch Affinitäten mit Hutcheson hat, doch hält er die Nähe zu Hobbes nicht nur für größer, sondern auch für maßgeblicher, da die korrekte Erklärung von Ursprung und Aufrechterhaltung der künstlichen Tugenden seiner Ansicht nach eher bei Hobbes denn bei Hutcheson zu finden ist.79 79 Mackie gesteht allerdings zu, daß sein auf Hobbes konzentriertes Hume-Bild etwas einseitig sein könnte: "However, my judgment about this may be biased by my belief that the truth also about the origin of the artificial virtues, and the forces that sustain them, lies closer to Hobbes's views than to Hutcheson's, and that the same applies to some extent even to the natural virtues." Mackie (1980), S. 151.
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Die Moraltheorie
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Hobbes' großes Verdienst sieht Mackie darin, Moral als Lösung eines sozialen Problems zu begreifen, das infolge spezifischer menschlicher Anlagen und Befindlichkeiten und der für gewöhnlich gegebenen äußeren Situation entsteht. Wenngleich Hobbes mit seiner Analyse des Problems und der Grobstruktur seines Antwortversuchs grundsätzlich richtig liege, so hält Mackie doch die Hobbessche Position in manchen Punkten für revisionsbedürftig. Hobbes' häufig kritisierte These, daß Menschen rein egoistisch sind, scheint auch Mackie überzogen. Überdies bestehe keine Notwendigkeit, einen absoluten Souverän einzusetzen, um den von Hobbes skizzierten Extremsituationen zu entkommen. Hobbes übertreibe nicht nur die Rolle, die der Regierungsgewalt in Form des absoluten Souveräns zukommt, sondern lege insgesamt zu viel Gewicht auf die Vorstellung eines expliziten Vertrags zur Einführung eines Normensystems. Bei Hume hingegen finden sich, wie Mackie unterstreicht, die notwendigen Modifikationen und Ergänzungen des Hobbesschen Ansatzes. So anerkenne Hume zum einen, daß die Menschen neben ihrem Hang zum Selbstinteresse auch altruistischer Gefühle fähig sind; zum anderen bringe er die allgemein vorteilhafte Praxis der Einhaltung von Normen in Verbindung mit der Idee einer stillschweigend akzeptierten Konvention, die sich durch den wechselseitigen Druck und die Drohung von Sanktionen ichbezogener und begrenzt großmütiger Individuen ständig reproduziert und erhält. Während bei Hobbes der Prozeß der Normentstehung unmittelbar von der Selbstliebe abhänge, seien bei Hume die moralischen Strukturen mit ihrem sozial wohltuenden Einfluß nur das indirekte Ergebnis der Selbstinteressiertheit. Hobbes' Gesetze der Natur können als moralische Regeln verstanden werden, die wir aus dem Grund befolgen, daß sie in unserem langfristigen Eigeninteresse liegen; wir unterwerfen uns ihnen, sofern wir sicher gehen können, daß dies auch die anderen tun. Aber einmal muß der Umstand, daß sich alle daran halten, bei Hobbes durch politische Gewalt abgesichert werden, zum anderen bleibt das Motiv für die Befolgung immer ein eigennütziges.80 Aus genau diesem Grund erweckt Hobbes' Moralkonstruktion, wie Mackie kritisch bemerkt, den „Eindruck eines Kartenhauses", eines schwankenden Gebildes, das zwar vom losen Zusammenhalt der Teile getragen wird, das aber sofort zum Einsturz kommt, wenn eines der Elemente nachgibt.81 Mackie stellt klar fest, daß das langfristige Eigeninteresse für die Anerkennung eines moralischen Regelsystems nicht ausreicht und weitere integrative Komponenten notwendig sind, um den rational-individualistischen Ansatz abzustützen. Statt des Hobbesschen Modells der „durch Zwangsgewalt abgesicherten Übereinkünfte", das in der Tat nicht über die Ebene strikt egoistischer Motive hinausgelangt, scheint Mackie ein System wesentlich stabiler, das „durch verschiedene Bande zusammengehalten wird, von denen einige weniger bedingt sind als die Bande des klugen Eigeninteresses".82 An einer Variante des Gefangenendilemmas präzisiert Mackie die Defizite des Hobbesschen Ansatzes. Zwei Soldaten, Tom und Dan, die sich außerhalb gegenseitiger Sichtweite auf zwei Stützpunkten befinden, haben die Aufgabe, einen feindlichen Angriff aufzuhalten. Jeder für sich überlegt, ob er davonlaufen soll. Tun beide dies, so werden sie mit großer 80 Siehe Mackie (1981), S. 140. 81 Ebda., S. 142. 82 Ebda., S. 151. Vgl. auch die folgende Textstelle in Mackies Ethik: „Da eigeninteressierte Klugheit nicht ausreicht, selbst dann nicht, wenn sie wie bei Hobbes mit einem Zwangsverfahren verbunden wird, ist es wichtig, daß die Neigung, aus moralischen Gründen zu handeln, möglichst weit verbreitet ist." Mackie (1981), S. 156f.
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Wahrscheinlichkeit getötet, während ihre Überlebenschance sehr hoch ist, wenn sie beide ausharren, da sie gemeinsam ziemlich sicher die Gegner aufzuhalten vermögen, bis Verstärkung eintrifft. Nach Mackie erfordert die optimale Lösung der Situation, daß zwischen Tom und Dan eine Art Band existiert, „das im wörtlichen oder übertragenen Sinn ihre beiden Handlungen zusammenknüpfen würde". 83 Denn selbst wenn sie sich darauf einigen, beide auf ihrem Posten zu bleiben, ändert sich damit nicht die für rationale Egoisten permanent gegebene Versuchung, eine Übereinkunft zu brechen, sofern man sicher gehen kann, daß sich der oder die andere daran hält. Anders gesagt: Konsequent selbstinteressierte Subjekte tendieren immer zu einer Abweichung von kooperativen Verpflichtungen, denn im Sinne des Eigeninteresses ist es natürlich optimal, wenn andere sich an eine Regelung halten, man selbst aber dagegen verstößt.84 Bezogen auf sein Beispiel folgert Mackie, daß es einer spezifischen Form des Drucks bedarf, damit Tom und Dan auf ihren Posten durchhalten. Neben äußeren Sanktionen wie Strafandrohung können dies „psychologische Ersatzformen" wie der Appell an soldatische Vorstellungen der Ehre und Treue oder an Gefühle der Scham und Schuld sein sowie die Berufung auf die moralische Tradition, Versprechen zu halten, sofern sich Tom und Dan als moralische Subjekte verstehen, für die das Halten von Versprechen einer moralischen Pflicht gleichkommt. Vertreter individualistischer Ansätze, die ohne diese Zusatzbedingungen, welche einen strikt eigeninteressierten Zugang erheblich relativieren, auskommen wollen, argumentieren gerne mit dem Hinweis auf die Kontinuität von Interaktionssituationen. Bei wiederholtem Auftreten von Gefangenendilemma-Situationen, was ja der sozialen Realität in etwa entspreche, sei nur eine geringe Neigung zum Vertragsbruch gegeben, denn jeder wisse, daß der oder die andere dann auch nicht mehr kooperiert, womit die individuelle Vorteilsmaximierung in Frage gestellt ist. Wie Mackie betont, genügt aber diese negative Aussicht nicht für ein übereinkunftskonformes Verhalten rationaler Egoisten: „Doch muß immer noch etwas darüber hinaus zugunsten des Versprechenhaltens in die Waagschale geworfen werden; denn selbst in diesen Fällen vermag kein Abwägen des bloßen Eigeninteresses eindeutig jeden dazu zu veranlassen, zu seinem Wort zu stehen." 85 Das Problem von Hobbes sieht Mackie darin, daß dieser „keinen Raum für die Entwicklung sekundärer Empfindungen zugunsten der Moral" läßt.86 Humes Position sei hier vorzuziehen, da dieser die Kategorie moralischer Gefühle einführt. Die moralischen Empfindungen bewirken, daß wir die Regeln der Rechtsordnung befolgen und uns auch an sonstige Übereinkünfte halten, indem sie uns für moralisch richtiges und verurteilenswertes Verhalten sensibilisieren. Doch ist der Hume, den Mackie hier als Hobbes überlegen anführt, noch der von Hobbes geprägte Hume? Werden nun nicht jene Seiten der Humeschen Theorie maßgeblich, die eindeutig auf den Einfluß von Hutcheson zurückgehen, wenn Mackie gerade die unter dem Begriff der natürlichen Tugenden zusammengefaßten Empfindungen als die bedeutsame Ergänzung von Hobbes betrachtet? 83 Ebda., S. 145f. 84 Genau dies ist auch der Grund dafür, daß der individualistische Ansatz das Trittbrettfahrer-Problem letztlich nicht lösen kann. 85 Mackie (1981), S. 148f. 86 Ebda., S. 142.
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David
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Mackie wirkt hier seltsam inkohärent. Einerseits versucht er, wegen der begrenzten Reichweite selbstinteressierter Klugheitserwägungen, moralische Gefühle und moralische Tugenden „zur Form des Verfahrens der Moral" zu zählen; da Rationalitätsüberlegungen nicht ausreichen, komme den Empfindungen, die uns zum moralischen Handeln bewegen, große Bedeutung zu. Andererseits will er einen individualistischen Moralzugang nicht aufgeben und Humes Position nach wie vor nur als modifizierten Hobbesschen Ansatz begreifen. In Humes Text finden sich, damit hat Mackie zweifellos recht, zahlreiche Stellen, die auf das Eigeninteresse als motivationale Basis der künstlichen Tugenden verweisen, so etwa: „Es müßten also die Rechtsnormen, wenn sie aus natürlichen Triebfedern herstammen sollten, noch in höherem Grade indirekt und künstlich entstanden sein. In Wahrheit ist Selbstliebe ihr Ursprung; und da die Selbstliebe des einen der des anderen entgegensteht, so müssen sich die verschiedenen Affekte der Interessenten so ausgleichen, daß sie in ein System des Verhaltens und der Lebensführung sich zusammenschließen können. Dies System, das das Interesse jedes Individuums umfaßt, ist natürlich dem allgemeinen Wohl günstig, so gewiß dies von den Erfindern nicht beabsichtigt wurde." 87 Die Frage ist aber, ob sich der Einfluß von Hobbes nicht einfach auf Humes Analyse des Entstehens der künstlichen Tugenden beschränkt und für Humes Moraltheorie im engeren Sinn nicht weiter relevant wird. Mackies „Lösung" dieser Schwierigkeit besteht darin, den moralischen Gefühlen und Tugenden keinen Eigenwert zuzugestehen und sie unter einen individualistischen Moralansatz zu subsumieren. Um zu verstehen, warum Mackie die Hobbesschen Elemente bei seiner Hume-Interpretation so deutlich bevorzugt und die auf Hutcheson zurückgehenden Aspekte vernachlässigt, muß man beachten, daß Mackie zum einen die strikte Trennung von künstlichen und natürlichen Tugenden hinterfragt und außerdem die von Hobbes erstmals skizzierte Konzeption von Moral als einem System der Verhaltensbeschränkung im individuellen Interesse aller als die angemessene Sicht von Moral begreift und zum Ausgangspunkt seiner eigenen Moraltheorie macht. Die natürlichen Tugenden gehören nach Mackie zu einem überpersönlichen handlungsregulierenden Bewertungssystem, das für die Gesellschaft insgesamt vorteilhaft und nützlich ist. Die darunter fallenden Dispositionen und Haltungen werden nicht nur subjektiv als angenehm erlebt, sondern allgemein gebilligt, weil wir deren wohltuende Wirkungen auf alle mittels der Sympathie für die Situation anderer mitempfinden. Wie die künstlichen Tugenden wirken die natürlichen Tugenden den unliebsamen Folgen eines unbegrenzten Egoismus entgegen, indem sie die unweigerlichen Konflikte zwischen ausschließlich selbstinteressierten Akteuren verhindern; sie sind Teil eines Moralsystems, das aus Gründen der allgemeinen Vorteilhaftigkeit eingeführt wurde. So betrachtet, stellen die natürlichen Tugenden, wie Mackie meint, nur eine Untermenge der künstlichen dar und sind integrierbar in einen auf dem aufgeklärten Eigeninteresse aufbauenden Moralansatz. Die Antwort auf die Frage, warum wir eine aus natürlichen und künstlichen Tugenden bestehende normative Ordnung haben wollen, kann nach Mackies Meinung nicht in den extrem variablen Operationen der Sympathie liegen, sondern nur in dem Vorteil, den dieses Beurteilungssystem für die Gesellschaft insgesamt hat. Damit aber bricht für ihn der Unterschied zwischen den künstlichen und natürlichen Tugenden zusammen.88 87 Hume (1740) III, S. 278 (Kursivsetzung im Original). 88 Siehe Mackie (1980), S. 122-125.
John L Mackies
Lesart
von
Hume
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Wie wir bei unserer Darstellung von Hume schon gezeigt haben, ist Hume kein Emotivist, der Moral auf der Ebene spontaner Gefühle ansiedelt. Die natürlichen Tugenden und die damit verknüpften Empfindungen sind der kritischen Bewertung vom moralischen Standpunkt her unterworfen. Insofern Moralität die Ausbildung, Korrektur und Verfeinerung bestimmter sozialer Empfindungen verlangt, können die natürlichen Tugenden als „künstlich" gelten, denn das Beziehen einer überpersönlichen Perspektive beläuft sich auf einen gewissen Kunstgriff im Sinne einer absichtsvollen institutionellen Erfindung der Menschen. Aber für Mackies weiterreichenden Anspruch, die natürlichen Tugenden unter eine auf dem Selbstinteresse aufbauende Moraltheorie zu subsumieren und diese als die einzig angemessene auszugeben, genügt es nicht, davon auszugehen, daß die natürlichen Tugenden „künstlich überformt" sind. Zu zeigen wäre, daß auch die natürlichen Tugenden rein aus einem egoistischen Interessenkalkül entspringen. Unabhängig davon müßten gesonderte Argumente für die Überlegenheit dieses Ansatzes angeführt werden. Nun lassen sich moralische Empfindungen schwerlich auf das Selbstinteresse reduzieren, denn der bloße Versuch, sie aus egoistischen Interessenerwägungen abzuleiten, konterkariert bereits das Spezifische moralischer Gefühle und sozialer Tugenden, das nicht zuletzt in einem affektiven Eingehen auf andere besteht. Mackie, dem dies nicht entgangen sein dürfte, der aber dennoch nicht das Scheitern eines egoistischen Ansatzes einräumen will, weicht aus diesem Grund auf eine evolutionstheoretische Erklärung moralischer Gefühle aus. Gesellschaften, in denen moralische Gefühle weit verbreitet sind und in denen die Einhaltung des aus wohlkalkulierten Gründen eingeführten moralischen Normensystems somit abgesichert ist, erweisen sich als insgesamt stärker und stabiler. Die Evolutionstheorie liefert uns, wie Mackie meint, eine Begründung für die Existenz und positive kulturelle Verstärkung dieser Empfindungen. 89 Doch damit verschiebt Mackie die Problemstellung erheblich: Die Frage nach der Struktur einer angemessenen Moraltheorie wird abgelöst von der Frage nach der Genese moralischer Vorstellungen. Dieser Schritt unterminiert in gewisser Weise auch Mackies Interpretation von Humes Moraltheorie, da er den eigentlichen Stellenwert eines Gutteils von Humes Darlegungen übergeht. Zweifellos erklärt Hume das Entstehen der künstlichen Tugenden auf der Basis des Selbstinteresses. Gleichzeitig aber finden die so eingeführten Regelsysteme ihre moralische Begründung nicht im Eigeninteresse, sondern in der natürlichen Tugend des Mitgefühls. 90 Im Grunde räumt Mackie ein, daß das Eigeninteresse für Moral nicht ausreicht. Gerade seine Kritik, daß sekundäre Empfindungen zur Absicherung von Moral notwendig sind, weist über Hobbes' Ansatz hinaus. Statt nun die allgemeinen Grenzen eines auf dem Selbstinteresse aufbauenden Moralzugangs einzugestehen und auch klarzustellen, daß Hume nur in sehr eingeschränktem Maß auf Hobbessche Ideen zurückgreift und eine andere Moralkonzeption vertritt, nimmt Mackie gleichsam seine eigenen Argumente zurück, indem er den Wert moralischer Empfindungen nicht in der moralischen Dimension im engeren Sinn betrachtet. Mackie kann am rational-individualistischen Ansatz nur um den Preis festhalten, daß er nicht mehr den inhaltlich-theoretischen Stellenwert gewisser moralischer Kategorien und Phänomene analysiert, sondern nur noch die evolutionären Gründe für deren Entwicklung und Zustandekommen. Doch damit konzentriert er sich auf eine für die philosophische Ethik89 Siehe Mackie (1981), S. 142; vgl. auch Mackie (1980), S. 80-82 und S. 148f. 90 Vgl. Hume (1740) III, S. 243f.
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Debatte nachrangige Frage: Die Genese von Moralsystemen mag zwar eine interessante Problemstellung sein, aber aus philosophisch-systematischer Perspektive gilt das vorrangige Erkenntnisinteresse nicht der Entstehung normativer Ordnungen, sondern der Frage, welche Grundsätze, Regeln und Einstellungen wir für moralisch verbindlich und angemessen betrachten sollen und was dies an philosophischen Voraussetzungen verlangt. Mackies Begründung, warum eine auf dem Eigeninteresse aufbauende Moraltheorie vorzuziehen ist, beschränkt sich, wie ich noch eingehender erläutern werde, streng genommen auf den Hinweis auf deren „Metaphysikfreiheit"; eine solche Theorie müsse nicht auf problematische ontologische Annahmen wie objektive Werte zurückgreifen. Gemessen an der Tatsache, daß Mackie so nachhaltig auf die Grenzen des rationalen Individualismus hingewiesen hat, reicht dies als Rechtfertigung schwerlich aus, da eine nicht-egoistische Moraltheorie keinesfalls zwingend auf die Annahme objektiv gegebener und möglicherweise „intuitiv erkennbarer" Werte verpflichtet ist. Wie wir noch sehen werden, geht Mackie bei der Entwicklung seiner eigenen Moraltheorie denn auch weit über einen individualistischen Ansatz hinaus.
11.6.2
Hartmut Kliemts evolutionstheoretischer Blick auf moralische Institutionen
Mackies Lesart ist für die Hume-Rezeption insgesamt maßgeblich geworden und hat besonders einige Philosophen im deutschen Sprachraum zur Übernahme und Verteidigung individualistischer Moralansätze inspiriert.91 So entwickelt Hartmut Kliemt eine Analyse moralischer Institutionen, welche insbesondere die bei Mackie nur oberflächlich angedeutete Verbindung zur Evolutionstheorie weiterführt, und Norbert Hoersters Konzeption einer „Minimalmoral" baut direkt auf Mackies Ideen auf. Hartmut Kliemt schätzt in Übereinstimmung mit Mackie Humes antimetaphysische empiristische Grundhaltung: Der interessenorientierte Humesche Ansatz setze weder skurrile metaphysische Entitäten noch eine spezielle Form intuitionistischer Erleuchtung oder ein a priori in der Vernunft gegebenes moralisches Erkenntnisvermögen voraus.92 Wie bereits ausgeführt, reicht das Kriterium metaphysischer Unverdächtigkeit allerdings nicht zur Auszeichnung eigeninteressierter Moralkonzeptionen aus, da auch andere ethische Theorien diese Bedingung erfüllen. Kliemt gilt Humes Theorie durchaus als Synthese von Hobbes und Shaftesbury. 93 Hume umgehe die Schwächen des Hobbesschen Ansatzes, indem er nicht nur das direkte Eigeninteresse, sondern auch affektive Impulse und Gefühle des Wohlwollens berücksichtige: „Wo Hobbes dem Egoismus nur Vernunft entgegenstellen und damit gesellschaftliche Ordnung letztlich nicht erklären kann, sieht Hume - hierin Shaftesbury nahestehend - ruhige soziale Affekte wirken. Und erst dieser Rückgriff auf Affekte erlaubt es Hume, eine zufrieden91 Deutschsprachige Hume-Kenner wie Gerhard Streminger und Bernd Gräfrath schließen sich Mackies Interpretation allerdings nicht an. Vgl. Streminger (1984), bes. S. 46-52; Streminger (1994a), S. 211-225 und S. 340-359; Streminger (1995b); Gräfrath (1991), S. 64-71 und S. 103-112. 92 Siehe Kliemt (1985), S. 15-18. 93 Kliemt geht nicht weiter auf den Einfluß von Hutcheson ein.
Kliemts
Analyse
moralischer
Institutionen
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stellende Erklärung gesellschaftlicher Institutionen anzugeben." 94 Kliemt vermerkt sehr wohl das damit gegebene Spannungsfeld zwischen selbstinteressierter Orientierung und der altruistischen Einstellung sympathiefähiger Individuen. Das Problem dieser auf den ersten Blick schwer vereinbaren Akzentuierungen löst sich Kliemt zufolge bei Berücksichtigung von Humes Unterscheidung zwischen Nah- und Fernbereich, die er als den eigentlich bedeutsamen Beitrag Humes zur Sozialtheorie einschätzt.95 Denn ein eigeninteressiertes Verhalten gegenüber fernstehenden Personen und Wohlwollen gegenüber Nahestehenden widersprechen sich seiner Ansicht nach nicht, da ein „tendenzieller Fernbereichsegoismus mit einem tendenziellen Nahbereichsaltruismus vereinbart werden kann". 96 Kliemt bestreitet nicht, daß die Sympathie, das für die Gesellschaftsgebundenheit des Menschen so wichtige Vermögen, die Gefühle anderer nachzuempfinden und zu teilen, bei Hume eine wichtige Rolle spielt. Von nachhaltigem Einfluß ist sie laut Kliemt allerdings nur im unmittelbaren sozialen Umfeld von Personen. Unsere Gefühle für andere hängen mit der Intensität unserer Vorstellungen und Eindrücke zusammen, und unsere Vorstellungen bedingen nur dann mithilfe der Sympathie das spontane Auftreten von Gefühlen wie Mitleid und Anteilnahme, wenn sie uns nahestehende Personen betreffen. 97 Die Unterschiede in der Stärke unserer sozialen Gefühle und Affekte erklären sich für Kliemt aus ihrer Nahbereichs- oder Fembereichskorrespondenz. Die Beschränkung wohlwollender Reaktionen auf den sozialen Nahbereich, also auf Personen, zu denen wir persönliche Beziehungen der Verwandtschaft, Freundschaft und Bekanntschaft unterhalten, ist als Interpretation von Hume sicher nicht richtig. Hume stellt bereits im Traktat wiederholt fest, daß wir Mitgefühl auch gegenüber Personen haben, denen wir uns persönlich nicht weiter verbunden fühlen. Da alle Menschen „durch Ähnlichkeit mit uns in Zusammenhang" stehen, „müssen uns ihre Person, ihre Interessen, ihre Affekte, ihre Freuden und Leiden in lebhafter Weise berühren", und infolge der Sympathie und der Lebhaftigkeit dieser Vorstellungen entsteht in uns ein Gefühl, „das dem Original gleicht".98 Hume betont explizit, daß wir etwa Mitleid auch für Fremde oder uns ansonsten völlig gleichgültige Menschen empfinden können.99 Nach Hume intensiviert zwar die Nähe eines Objekts im Sinne der Möglichkeit unmittelbarer Anschauung unsere sozialen Empfindungen, doch die Sympathie versetzt uns prinzipiell in die Lage, die Interessen und Affekte zeitlich entfernter historischer Figuren oder der fiktiven Personen literarischer Arbeiten zu teilen.100 Ein direkter Anblick verstärkt unsere mitfühlenden Regungen, wie Hume am Beispiel einer Beobachtung der Not der Passagiere und der Besatzung eines in Seenot geratenen Schiffes verdeutlicht: „Aber nehmen wir nun an, die Vorstellung würde noch lebhafter. Das Schiff werde so in meine Nähe getrieben, daß ich deutlich das Grausen wahrnehme, das sich auf den Gesichtern der Seeleute und der Passagiere malt, daß ich ihr klägliches Schreien höre, die nächsten Freunde Abschied nehmen oder sich fest umarmen sehe, entschlossen einer in 94 Kliemt (1985), S. 57. 95 Ebda., S. 107. 96 Ebda., S. 41. 97 Ebda., S. 79. 98 Hume (1739) II, S. 103. 99 Ebda.; vgl. auch Hume (1740) III, S. 346f. 100 Siehe Hume (1739) II, S. 103f.
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Die Moraltheorie
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des anderen Armen zu sterben. Kein Mensch wäre roh genug, bei solchem Schauspiel irgendwelche Lust zu fühlen. Keiner würde in solchem Falle einer Regung des tiefsten Mitleides und Mitgefühles sich verschließen können." 101 Wenn auch Hume der Meinung ist, daß optische, zeitliche und auch soziale Nähe unsere mitfühlenden Affekte intensiviert, so fächert er die Differenz zwischen Egoismus und Altruismus nicht ausschließlich an der Grenze von gesellschaftlichem Nahbereich und Fernbereich auf. Vor allem meint er, daß bei der moralischen, um Unparteilichkeit bemühten Beurteilung die natürlichen Abstufungen in unserem Mitgefühl je nach bindungsmäßiger Nähe oder Distanz - „die Tatsache, daß das Mitgefühl schwächer ist, als unser Interesse für uns selbst und das Mitgefühl mit fernstehenden Menschen schwächer als für Personen, die uns nahe oder benachbart sind" - keine Rolle spielen dürfen. 102 Besonders in der Untersuchung über die Prinzipien der Moral hat Hume noch stärker den allgemein sich auf alle Menschen erstreckenden Einfluß der Sympathie betont und sie als allgemeinere Neigung zum Mitgefühl mit allen Menschen gesehen. Kliemt selbst relativiert seine eigene Bereichszuordnung von Egoismus und Altruismus, wenn er einräumt, daß uneigennützige Verhaltensweisen auch im Fernbereich häufig zu beobachten sind. Die meisten Menschen verfolgen gegenüber ihnen fernstehenden Personen nicht ausschließlich ihr unmittelbares Eigeninteresse, sondern beweisen in ihrem Handeln Wohlwollen und Rücksichtnahme auf andere: „Nicht alle, vermutlich nicht einmal die meisten Menschen belügen, wenn dies nur den geringsten Vorteil für sie selbst bietet, Fremde, der vollkommen heimliche Finder einer Geldbörse wirft diese keineswegs immer fort und behält das Geld, der Wähler geht zur Wahl, der anonyme Spender spendet häufig selbst dann, wenn er dafür nicht ewigen Himmelslohn erwartet, und nicht jeder streut den Schmutz dort, wo er es unbeobachtet tun kann, nach Belieben um sich." 103 Desgleichen unterstreicht er, daß ein solches Verhalten durch den üblichen moralischen Sozialisationsverlauf vermittelt und positiv verstärkt wird. Ein bestimmtes Maß altruistischer Einstellungen kennzeichnet allgemein unseren Umgang mit anderen, auch wenn uns dies einiges an Abstraktion von unseren direkten persönlichen Interessen abverlangt. Ein nicht zuletzt mit den Mechanismen von Belohnung und Sanktionierung verknüpftes moralisches Regelsystem bedingt nach Kliemt, daß wir soziale Tugenden über den Nahbereich hinaus verallgemeinern und etwa auch unmittelbare Hilfe für andere leisten, wenn dem nur schwache gegenläufige Affekte entgegenstehen. Mit dem Hinweis auf altruistisches Handeln im Fernbereich scheinen die Grenzen eines egoistischen Moralansatzes nachhaltig aufgezeigt. Kliemt, für den die Vorzugswürdigkeit eines individualistischen Ansatzes offenbar außer Diskussion steht, kann und will das von ihm selbst zugestandene Phänomen erweiterter sozialer Empfindungen nicht als Relativierung oder gar Widerlegung einer eigeninteressenorientierten Moralkonzeption gelten lassen. Die naheliegende argumentative Strategie, die er zur Abstützung seines Moralverständnisses entwickelt, kennen wir im Prinzip bereits von Mackie her: Auch Kliemt bemüht sich, soziale Gefühle als evolutionäre Notwendigkeiten unter den auf dem Selbstinteresse aufbauenden Ansatz zu subsumieren. 101 Hume (1740) III, S . 3 4 8 f . 102 Ebda., S. 357. 103 Kliemt ( 1985), S. 124.
Kliemts Analyse
moralischer
Institutionen
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So differenziert er zunächst zwischen der Oberflächen- und der Tiefenstruktur menschlichen Handelns und vertritt anschließend die These, daß sich das moralische Handeln in der Tiefenstruktur von seiner Oberflächenpräsentation unterscheidet. Übertragen auf das Egoismus-Altruismus-Problem besagt dies: Soziale Gefühle wie Wohlwollen und Altruismus gehören zum Oberflächenbild von Moral, während tiefenstrukturell betrachtet diese Phänomene auf das Selbstinteresse rückführbar sind. Individuen reproduzieren wohlwollende Haltungen wegen ihrer systemstabilisierenden Wirkung; Gesellschaften mit weit verbreiteten sozialen Neigungen und Affekten erweisen sich wegen der Einschränkung ungebremster und konfliktträchtiger individueller Interessenverfolgung als stabiler und überlebensfähiger.104 Auf der gleichen Linie versucht er die Tatsache zu erklären, daß sich moralisches Handeln in alltagsweltlichen Lebenskontexten als weitgehend interessenunabhängig präsentiert. Da die Vorteile im Sinne reibungsloser Systemfunktionalität für alle größer werden, wenn sie sich eine „überindividuelle" Sichtweise aneignen, wird es zum moralischen Erfordernis erklärt, in moralischen Fragen und Urteilen einen unparteilichen und von persönlichen Interessen abstrahierenden Standpunkt zu beziehen. Genau diese objektivierende Tendenz führt nach Kliemt dazu, daß moralische Prinzipien, Gebote und Tugenden in verallgemeinernder Perspektive zumeist als abgelöst von Eigeninteressen wahrgenommen werden.105 Doch diese Sicht reflektiere nur die Oberflächenebene, nicht die unterschiedliche, nämlich rein vom Mechanismus des Selbstinteresses bestimmte Tiefenstruktur. Streng genommen kann Kliemt an diesem Punkt nicht mehr widerlegt werden. Alles, was ihm Verteidigerinnen eines nicht-egoistischen Moralansatzes noch entgegenhalten mögen, eben das Vorkommen genuin altruistischer Akte oder die Unverträglichkeit von eigeninteressierter Handlungsausrichtung und unserem wohlüberlegten Verständnis von Moral, vermag er mit dem Argument zurückzuweisen, daß diese Phänomene einen Oberflächencharakter erkennen lassen, der täusche. Recht besehen wären sie ausschließlich interessenbasiert - Ergebnis eines evolutionären Prozesses, der jene Verhaltensweisen selektierte, die sich als vorteilhaft für das Überleben der Gesellschaften erwiesen. Kliemt setzt den Rückgriff auf die Evolutionstheorie ein, um all die wohletablierten Fakten und Evidenzen wegerklären zu können, die die Plausibilität eines individualistischen Ansatzes doch stark in Frage stellen und untergraben. Dieses methodische Vorgehen erklärt wohl auch, warum die Diskussionen zwischen Anhängern individualistischer und universalistischer Ansätze häufig einen so festgefahrenen Eindruck erwecken. Nun stehen Immunisierungsstrategien, und auf eine solche beläuft sich Kliemts Untermauerung eines indirekten moralischen Egoismus, im Rufe wissenschaftstheoretischer Anstößigkeit. Als ein Kriterium der Wissenschaftlichkeit von Theorien gilt gemeinhin deren Widerlegbarkeit, und diese Bedingung sollte eigentlich auch von einer Moraltheorie, die so sehr auf ihre Wissenschaftsnähe im Sinne solider empiristischer Gesinnung Wert legt, erfüllt werden. Kliemts Berufung auf die Evolutionstheorie ist unabhängig davon höchst problematisch, denn die im Umfeld der Diskussionen um die evolutionäre Erkenntnistheorie entwickelten gravierenden Einwände treffen gleichermaßen die Übertragung evolutionärer Ideen auf die Ethik. 104 Ebda., S. 67f. und S. 89ff. 105 Ebda., S. 125f.
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Das entscheidende Argument gegen das Projekt einer evolutionären Epistemologie lautet bekanntlich: Selbst wenn sich die Herausbildung epistemologischer Haltungen evolutionär erklären läßt, so leistet die Evolutionstheorie keinerlei Beitrag zur inhaltlichen Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden erkenntnistheoretischen Positionen. Diese Untauglichkeit evolutionärer Erklärungsmuster zur Entscheidung philosophischer Kontroversen gilt selbstredend auch für die Ethik. Die Frage der Angemessenheit unterschiedlicher ethischer Positionen läßt sich durch Hinweise auf die evolutionäre Herausbildung moralischer Haltungen nicht beantworten. Der Versuch, über die genetische Erklärung moralischer Institutionen auch einen normativ-ethischen Ansatz zu transportieren, vermischt zwei Fragestellungen, die voneinander zu trennen sind, nämlich Geltung und Genese. Thomas Nagel sieht ein grundlegendes Problem der Anwendung evolutionärer Vorstellungen auf Probleme der Epistemologie darin, daß Darwins Theorie der natürlichen Selektion, selbst wenn man ihre Erklärung der Entstehung von Organismen als richtig akzeptiert, „nur eine sehr eingeschränkte Erklärung der Tatsache erlaub(t), daß wir so sind, wie wir sind".106 Die Evolutionstheorie könne nur die Auswahl aus einem gegebenen Bestand an Alternativen erklären, aber nicht diese Möglichkeiten für sich: „Es handelt sich bei ihr um eine diachrone Theorie, die den besonderen Weg zu erklären versucht, den die Evolution durch eine bestimmte Menge von Möglichkeiten hindurch unter bestimmten Bedingungen nehmen wird. Sie mag vielleicht erklären, warum Wesen mit visueller Wahrnehmung oder mit der Fähigkeit zum logischen Schließen überleben werden, doch sie erklärt nicht, warum das Sehen selbst oder das logische Schließen möglich werden." 107 Nach Nagel sind die elaborierten intellektuellen Fähigkeiten von Personen nur relativ schwer einer evolutionären Erklärung zugänglich, da sie eine solche Erklärung eigentlich in Frage stellen. Denn wenn sie nur ein Anpassungsphänomen darstellen, ist gegenüber ihren kognitiven Ergebnissen, wie Nagel meint, strengster Skeptizismus geboten. Doch die menschliche Fähigkeit, beispielsweise ausgefeilte physikalische Theorien zu formulieren, gehe so weit über die Ebene oder die Umstände hinaus, „in welchen unser Denkvermögen seine evolutionären Aufgaben zu erfüllen hätte, daß es keinen aus der Evolutionstheorie stammenden Grund mehr geben kann, sich auch in bezug auf solche Dinge auf diese Theorie zu verlassen".108 Übertragen auf den Versuch der evolutionären Erklärung moralischer Fähigkeiten und moralischen Handelns besagt Nagels Argument: Die Evolutionstheorie mag vielleicht begründen, warum Wesen überleben, die ihre egoistischen Tendenzen durch soziale Affekte einschränken, aber sie erklärt nicht die Dimensionen von Egoismus oder wohlwollenden Regungen als solchen. Anders gesagt: Die Möglichkeit, daß sich Personen aus moralischen Gründen immer mehr um eine Objektivierung von Moralurteilen und eine Verfeinerung ihrer sozialen Empfindungen bemühen, kann die Evolutionstheorie für sich genommen nicht entschlüsseln. Dies bedeutet aber, daß sich die moralische Entscheidung für bestimmte Handlungsformen nicht auf den mit einer evolutionären Entwicklung verknüpften Begriff eines Überlebensinteresses reduzieren läßt. Selbst wenn man die Existenz von egoistischem und altruistischem Verhalten auf einen das Überleben der Spezies garantierenden Anpassungsprozeß zurückführt, so ist damit nicht die Frage beantwortet, welche dieser Möglichkeiten 106 Nagel (1992), S. 137. 107 Ebda., S. 137f. 108 Ebda., S. 139.
Kliemts Analyse moralischer
Institutionen
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moralisch betrachtet zu bevorzugen ist. Diese Problemstellung ist über einen evolutionären Erklärungsversuch von Verhalten nicht einzuholen. Die Evolutionstheorie schreibt uns als Angehörigen einer an ihrem Überleben interessierten Spezies „Selbstinteressiertheit" im weitesten Sinn zu, aber diese Form eines „evolutionären Egoismus" kann nicht einfach auf einen Moralansatz übertragen werden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Kliemts Begründungsversuch eines individualistischen Moralansatzes durch den Verweis auf das unser Handeln letztlich bestimmende Eigeninteresse nicht über jenen von ihm selbst kritisierten „uninformativen definitorischen Egoismus" hinausgelangt, „der in der Tatsache der Alternativenbevorzugung bereits einen Beweis für deren egoistischen Charakter sieht".109 Abgesehen von dieser Schwierigkeit ist auch Kliemts Argumentation mit dem schon angesprochenen Problem der Verschiebung der Fragestellung konfrontiert. Kliemt interessiert weniger die Struktur einer Moraltheorie als die Frage nach der Entstehung moralischer Institutionen, die er als Teil der Herausbildung gesellschaftlicher Institutionen insgesamt begreift und mit einer allgemeinen Erörterung von Evolutionsmodellen zu beantworten sucht. Auch sein Rückgriff auf Hume konzentriert sich auf die mit der Entstehung des Phänomens der Moral, streng genommen des Rechts, zusammenhängenden Aspekte der Humeschen Theorie und berührt nicht deren normativ-ethische Seiten im engeren Sinn. Wie weit Kliemt eine treffende genetische Erklärung moralischer Institutionen gelingt, mag hier offen bleiben, wenngleich einiges dafür spricht, daß der komplizierte Prozeß der Entstehung moralischer Institutionen nicht nur über evolutionstheoretische Mechanismen erklärbar ist, sondern auch auf die Berücksichtigung komplexer kultureller Faktoren angewiesen bleibt.110 Das wesentlichere Problem ist aber die Verlagerung der Problemstellung. Mit der Konzentration auf die Normgenese vernachlässigt Kliemt die Frage, an welchen normativen Prinzipien und Grundsätzen wir unser Handeln ausrichten sollen. Im Gegensatz zu Mackie geht Kliemt so gut wie nicht auf inhaltlich-moralische Fragen ein. Die Erklärung normativer Systeme ist aus moralphilosophischer Perspektive jedoch sekundär gegenüber dem Wie angemessenen moralischen Handelns.111 Natürlich könnte sich Kliemt darauf berufen, daß er einfach eine andere Fragestellung verfolgt. Aber diese Erwiderung wäre in dem Fall nicht unproblematisch, da Kliemt die normativ-ethische Ebene gewissermaßen indirekt anspricht, wenn er über die genetische Erklärung eine auf dem Selbstinteresse aufbauende Moralkonzeption favorisiert. Notwendig und angemessen wäre in dem Zusammenhang eine sich auf die inhaltlichen Stärken und Schwächen unterschiedlicher ethischer Theorien beziehende Diskussion. Kliemt, der den Unterschied zwischen den beiden Problemebenen wohl sieht, weist als Rechtfertigung auf den Einfluß evolutionärer Erörterungen auf die moralepistemologischen Fragestellungen hin. Die Erklärung des Phänomens Moral von einer individualistischen Basis her könne den Anspruch von Moralurteilen auf intersubjektive Gültigkeit rekonstruieren, ohne diesen Urteilen korrespondierende nicht-natürliche „Norm- oder Werttatsachen" anzunehmen.112 Da die Berufung auf die metaphysische Unverfänglichkeit eines individualisti109 Kliemt (1985), S. 33. 110 Vgl. etwa Taylor (1989). 111 Vgl. die bei Thomas Nagel zitierte Bemerkung von Francis Crick gegenüber Stephen Jay Gould: „Das Schlimme an euch Evolutionsbiologen ist, daß ihr immer nach dem .Warum' fragt, bevor ihr das ,Wie' versteht." Nagel (1992), S. 138, FN 7. 112 Siehe Kliemt (1985), S. 16f.
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Die Moraltheorie
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sehen Ansatzes diesen wie erwähnt vor anderen Alternativen nicht hinlänglich auszeichnet, bleibt Kliemt so gesehen die genauere philosophische Begründung von dessen Plausibilität und Vorzugswürdigkeit schlicht schuldig.
11.6.3
Hume und das Projekt einer „Minimalmoral" (Norbert Hoerster)
Norbert Hoerster, der alle Versuche einer objektivistischen Moralbegründung kritisiert, setzt ebenfalls bei einem rational-individualistischen Moralverständnis an, als dessen Vorläufer er Hume betrachtet. Zum einen bleiben nach Hoerster die Bemühungen, „die richtige Moral im Wege der Erkenntnis zu entdecken", auf die höchst problematische Voraussetzung von metaphysischen Entitäten wie objektiv erkennbaren Werten und Sollensforderungen verpflichtet, zum anderen biete auch der Nachweis der objektiven Gültigkeit keinen hinreichenden Grund, daß sich die einzelnen gemäß diesen Normen verhalten.113 Diese Probleme vermeide ein Ansatz, der zeige, daß das Akzeptieren bestimmter grundlegender Normen im aufgeklärten Eigeninteresse aller Individuen liege. Zu diesen moralischen Normen, die eine Art „Minimalmoral" bilden, zählt Hoerster: Schutz des Lebens (seine wirtschaftlichen Voraussetzungen mitgedacht), Schutz der körperlichen Integrität und der Bewegungsfreiheit, die Einhaltung von Verträgen und Abmachungen, Ehrlichkeit und Wahrheit von Mitteilungen, Schutz des Privateigentums (an Konsumgütern).114 Die Elemente der Minimalmoral garantieren einen Rahmen, innerhalb dessen Personen ihre Ziele, Präferenzen und Lebenspläne realisieren können. Die Einführung dieser Regeln läßt sich nach Hoerster auf nicht-metaphysischer Basis durch die bloße Berufung auf das individuelle Interesse rechtfertigen: Trotz aller Unterschiedlichkeiten, was die einzelnen Wünsche und persönlichen Ideale der Menschen betrifft, haben sie alle ein Interesse an bestimmten fundamentalen Regeln des Zusammenlebens. Die Vorteile des Systems einer „Minimalmoral" überwiegen für alle auf lange Sicht; es zahlt sich für jede einzelne Person aus, auf die Durchsetzung gewisser unmittelbarer Interessen zu verzichten und sich an die allgemeinen moralischen Regeln zu halten. So liegt es etwa im Selbstinteresse, die Wahrheit zu sagen, weil man selbst Wert darauf legt, von den Mitmenschen nicht belogen zu werden. Die Normakzeptanz folgt einem egoistischen Interessenkalkül der langfristigen Vorteilserzielung: Jede Person verhält sich kooperativ im Sinne der Unterwerfung unter ein im Interesse aller liegendes Normensystem, und liefert genau damit den anderen auch einen Grund, sich diesem anzuschließen. ,Jeder verzichtet auf die Durchsetzung gewisser - ihm weniger wichtiger - Interessen (etwa auf die gelegentliche Tötung eines Rivalen) zugunsten einer Sicherung seiner wichtigeren Interessen (etwa seines Interesses am Überleben). Und er erreicht diese Sicherung seiner wichtigeren Interessen gerade dadurch, daß er auf die Durchsetzung seiner weniger wichtigen Interessen verzichtet - weil nämlich dieser Verzicht die Sicherung der wichtigeren Interessen seiner Mitmenschen (nämlich deren Überleben) zur Folge hat und den Mitmenschen damit einen guten Grund gibt, seinen (also
113 Siehe Hoerster ( 1983), S.225f. 114 Siehe Hoerster (1981), S. 132.
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des einzelnen) Respekt ihres Lebens durch einen entsprechenden Akt von ihrer Seite - nämlich ihren Respekt seines Lebens - zu vergelten." 115 Neben den im Eigeninteresse liegenden Gründen sieht Hoerster die Einhaltung der „Minimalmoral" noch durch spezifische moralische Sanktionsmechanismen wie Lob, Bewunderung oder Verachtung durch Mitmenschen und „innere" Druckmittel wie das Gewissen gestützt. 116 Über diese sozialen Sanktionen glaubt Hoerster auch das „Trittbrettfahrerproblem" gelöst. Jene, die zwar die allgemeine soziale Geltung von Normen bevorzugen, aber sich selbst von deren Befolgung, wann immer möglich, ausnehmen wollen, werden durch die erwähnten äußeren und inneren Druckmittel zu regelkonformem Verhalten gebracht. Mit dem von egoistischen Interessen ausgehenden subjektivistischen Ansatz erledigt sich laut Hoerster auch das Motivationsproblem der Moral, denn die Wahrung des Eigeninteresses bilde ohnehin den stärksten Anreiz für die Befolgung von Normen. Den Einwand, daß sich gemäß dem individualistischen Zugang die Moral auf egoistische Interessenverfolgung reduziert und ihrer eigentlichen Funktion, auch die Interessen anderer zu berücksichtigen, verlustig geht, betrachtet er als gegenstandslos. Der Ansatz sei nicht an einen engen psychologischen Egoismus gebunden, der altruistische Neigungen ausschließe. Allerdings sehe er einen Altruismus bevorzugt im Nahbereich der Individuen gegeben, und diese doch weitgehend realistische Annahme stütze gleichfalls das individualistische Modell. Denn das Interesse von Individuen an dem Wohlergehen jener, denen sie sich in besonderem Maße verbunden fühlen, liefert ihnen einen zusätzlichen Grund, ein die allgemeine Sicherheit garantierendes Normensystem zu befürworten. Eine rational-individualistische Moralkonzeption falle nicht mit einem ungebremsten Moralegoismus zusammen, da sie im konkreten Einzelfall auch den Verzicht auf die Durchsetzung der unmittelbaren Eigeninteressen verlange. Umgekehrt würden neben der über Erziehung und Sozialisation laufenden Norminternalisierung die gesellschaftlichen Sanktionsmechanismen die zwischen Selbstinteresse und Normforderung möglicherweise entstehende Kluft überbrücken. Die Anspielung auf die Wirksamkeit von inneren und äußeren Sanktionen zeigt schon, daß der Begriff der Moral über das Selbstinteresse hinausgeht. 117 Wenn ein Moralansatz rein auf egoistischen Interessen aufbaut, dann können wir andere im Falle der Nicht-Einhaltung der Normen nur für ihre fehlende „Rationalität" im Sinne optimaler Interessenverfolgung kritisieren. 118 Der Verlust der Achtung bei Normverstößen und das Phänomen des schlechten Gewissens verweisen jedoch auf ein über das Eigeninteresse hinausreichendes Moralverständnis. Der rational-individualistische Ansatz wird nur einem Aspekt von Moral gerecht: Bestenfalls liefert er eine Erklärung dafür, wie Normensysteme entstehen. 11.6.4
Regeln, Rechte und Tugenden: John L. Mackies Ethik
Die Defizite eines individualistischen Ansatzes lassen sich auch anhand von Mackies normativer Ethik, die er anknüpfend an seine Hume-Interpretation formuliert, skizzieren. Mackie hält Humes Theorie, wie schon ausgeführt, nicht zuletzt aus metaphysikkritischen Gründen 115 116 117 118
Ebda. (Kursivsetzung im Original); vgl. auch Hoerster (1983), S. 228-230. Siehe Hoerster (1981), S. 133; vgl. Hoerster (1983), S. 235. Vgl. dazu auch Tugendhat (1993), S. 74f. Vgl. dazu Foot (1994), S. 213ff.
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für attraktiv. Den Skeptizismus gegenüber objektiven Werten macht er in Form einer „Irrtumstheorie" zum Ausgangspunkt seiner eigenen Moraltheorie.119 Diese Theorie besagt: Obwohl die meisten Menschen bei ihren moralischen Äußerungen implizit auch den Anspruch erheben, auf etwas im objektiven Sinn Präskriptives zu verweisen, ist dieser Anspruch doch falsch. Da sich für Mackie die Annahme objektiver Werte über die sprachliche Ebene hinaus auf eine ontologische Behauptung beläuft, spielt bei seiner Widerlegung nicht eine sprachanalytische Argumentation, sondern das „Argument aus der Absonderlichkeit", der Hinweis auf die metaphysische Abstrusität solcher Entitäten, die wesentliche Rolle; gegen die Existenz objektiver Werte könne nicht mit einer reinen Sprachanalyse argumentiert werden. In diesem Punkt freilich unterscheidet sich Mackies Ansatz kaum von alternativen Moraltheorien. Die meisten zeitgenössischen analytischen Ethik-Theorien, egal ob kantischen oder utilitaristischen Zuschnitts, teilen seine metaethische These, denn die ontologische Postulierung von objektiven Werten gilt im Prinzip bereits seit den aristotelischen Einwänden gegen die platonische Ideenlehre als problematisch. Mackies nächster Schritt, jene von Philosophen wie Kliemt und Hoerster so unbesehen übernommene Annahme, daß eine metaphysikfreie Sicht von Moral streng genommen nur im Rahmen eines individualistischen Ansatzes möglich ist, findet wohl erheblich weniger Zustimmung; die Objektivitätsannahme läßt sich ontologisch unbelastet auch im Sinne der intersubjektiven Gültigkeit moralischer Urteile interpretieren, und diese metaethische Position wird von einer Reihe unterschiedlicher normativethischer Theorien eingelöst.120 Mackie betrachtet die Moral im engeren Sinn als eine besondere Form der Verhaltensbeschränkung, um den Grenzen des Wohlwollens entgegenzuwirken, als ein System von Regeln, „deren Hauptaufgabe die Wahrung der Interessen anderer ist und die sich für den Handelnden als Beschränkungen seiner natürlichen Neigungen oder spontanen Handlungswünsche darstellen".121 Inhaltlich gesehen stellt Mackies Theorie eine Mischform dar, eine Kombination von nicht-utilitaristischem Konsequentialismus, deontologischen Prinzipien und aristotelischen Elementen. Mackie selbst begreift seine Konzeption als konsequentialistisch, weil sie das Wohl der Menschen zur Zielvorstellung der Moral macht. 122 Die Anreicherung durch deontologische Komponenten, die nicht zuletzt verhindern sollen, daß die konsequentialistische Ausrichtung in einen Utilitarismus mit all den bekannten Schwierigkeiten abgleitet, hält Mackie auch für notwendig, da Folgenabschätzungen allein das moralisch richtige Handeln nur unzureichend bestimmen. Wir benötigen, wie er meint, Prinzipien, die Handlungsarten als geboten oder verboten auszeichnen.123 Beim Entwurf seines Systems einer „praktischen Moral" setzt Mackie überraschenderweise bei der aristotelischen Frage an: „Worin besteht das gute Leben für den Menschen?" Der grundlegenden Schwierigkeit dieser Fragestellung angesichts der Tatsache, daß die individuellen Konzeptionen des guten Lebens nicht nur von Kultur zu Kultur, sondern auch innerhalb wertepluraler moderner Gesellschaften stark divergieren, ist er sich wohl bewußt. Dennoch lassen sich nach ihm einige allgemeine Aussagen über „das gute Leben" treffen, 119 120 121 122 123
Siehe Mackie (1981), S. 39ff. Zu nennen wären hier etwa die Theorien von Hare, Rawls, Habermas und Tugendhat. Mackie (1981), S. 133. Ebda., S. 190ff. Ebda., S. 197-199.
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und er versucht, eine gemeinsame Basis individueller Lebensideale in Form einiger genereller Rahmenbedingungen zu isolieren. Die unterschiedlichen inhaltlichen Ausformulierungen dieser formalen Definition des guten Lebens verweist er in den persönlichen Wertehorizont der einzelnen.124 Ein erstes gemeinsames Merkmal besteht in der Interessenbefriedigung: Ein gutes Leben ist eines, das die Interessen der unmittelbar daran beteiligten Person und der unmittelbar davon Betroffenen erfüllt. Als gut gilt ein Leben, wenn eine Person die ihr wertvoll scheinenden Lebensmöglichkeiten und Lebenspläne verfolgen kann und damit ihr eigenes Wohlergehen wie jenes der ihr nahestehenden Menschen direkt realisiert oder zumindest einen Beitrag dazu leistet. Die allgemeine Definition des guten Lebens muß nach Mackie berücksichtigen, daß Menschen von ihrer Selbstliebe bestimmte Wesen mit begrenzter Großmut sind, die ihre Interessen und die der ihnen Nahestehenden in den Vordergrund stellen. Aus diesem Grund erklärt er Selbstliebe zum moralischen Prinzip: „Wir müssen wünschen, daß die Menschen es nicht nur für erlaubt, sondern auch für richtig und geboten halten, das zu fördern, was ihrer Ansicht nach ihrem eigenen Wohl dient." 125 Auch sollten in die Bestimmung des guten Lebens einige altruistische Prinzipien eingehen, welche die Aufrechterhaltung der Beziehungen ermöglichen, in die eine Person eingebunden ist und eingebunden bleiben will. Neben den Grundsätzen eines ichbezogenen Altruismus umfaßt die allgemeine Form des guten Lebens nach Mackie noch Rechte (Freiheits- und Anspruchsrechte) und Tugenden, zu denen er interessanterweise auch Gefühle einer ausgewogenen Betroffenheit und Anteilnahme zählt.126 Die inhaltlichen Details von Mackies Moraltheorie, so lehrreich seine Erörterungen zu Rechten, Tugenden, Freiheiten, Verträgen und die ansatzweise unternommene Anwendung auf Fragen der angewandten Ethik auch ausfallen, sind hier nicht weiter relevant. Interessanter für uns ist die Frage, wie weit ein so stark mit anderen Moraltheorien durchmischter und durch deren Kategorien angereicherter Ansatz noch als individualistisch gelten kann. Die Respektierung von Rechten und Freiheiten anderer geht weit über einen moralischen Egoismus hinaus. Dies gilt auch für die Entwicklung von Tugenden, besonders wenn diese affektive Haltungen anderen gegenüber umfassen. Aus eigennützigen Erwägungen ist die Einführung von Rechten und Tugenden nicht abzusichern: Verletzungen von Rechten gelten nicht deshalb als moralisches Unrecht, weil sie unseren Eigeninteressen entgegenstehen (manchmal tun sie dies gerade nicht!), und der moralische Wert von Tugenden reduziert sich gleichfalls nicht auf den Eigennutzen. Natürlich ist hier eine Art definitorischer Trick möglich, der den Unterschied von „vorteilhaft" und „moralisch wertvoll" einebnet, indem alle mit moralischen Argumenten begründbaren Annahmen und begrifflichen Kategorien als per definitionem im Selbstinteresse liegend postuliert werden. Jede Spannung zwischen Eigeninteresse und bestimmten moralischen Anforderungen wird einem ungebremsten Egoismus zugeschrieben, die sich bei einem aufgeklärten Verständnis des Selbstinteresses ohnehin löse. Aber damit wird der Rückgriff auf das Selbstinteresse zu einer Art „Leerformel", die jede Verhaltens124 Ebda., S. 216f. und S. 220f. 125 Ebda., S. 221. Diese Festsetzung ist bemerkenswert, da Mackie im Gegensatz zu anderen Vertretern individualistischer Ansätze hier die „deskriptiv/normativ"-Unterscheidung ernst nimmt und anerkennt, daß aus der Tatsache, daß Menschen (auch) selbstinteressiert sind, noch kein Moralansatz zu gewinnen ist. 126 Siehe ebda., S. 221-242.
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form und Handlungsart abzudecken vermag, für die individuelle Gründe, seien diese nun egoistischer oder altruistischer Art, sprechen. An zwei Problemen, die Mackie selbst diskutiert, werden die Grenzen eines individualistischen Ansatzes offensichtlich: dem „Problem des Trittbrettfahrers" und jenem asymmetrischer Beziehungen.127 Mackie räumt ein, daß bei Handlungswahlen „nicht in allen Fällen egoistische Klugheitsgründe und moralische Gesichtspunkte zusammenfallen". 128 Aus der Perspektive eigeninteressierter Subjekte ist es am besten, wenn sich die anderen an die Forderungen der Moral halten, man selbst sich aber Abstriche und Ausnahmen genehmigt. Das Standardargument dagegen lautet, daß eine rationale Egoistin dies nicht tun kann, da sie so den Ausschluß aus dem Bereich der Moralsubjekte und bei allgemeiner Verfolgung dieser Strategie den Zusammenbruch der Moral riskiert, was nicht in ihrem Interesse liege. Also wird sie guten Grund haben, sich an die Moral zu halten. Diese Erwiderung übersieht aber, daß strikt selbstinteressierte Individuen immer zu Regelverstößen tendieren, die nicht das Gesamtvertrauen anderer untergraben. Mackie selbst führt in Analogie zu Humes ,/affiniertem Schurken" die Figur des „Pokerers" ein: eine Person, die manchmal moralkonform agiert und manchmal nicht, sich aber generell so minimal moralisch verhält, daß sie nicht den völligen Entzug des Vertrauens durch andere und den Verlust von deren Kooperationsbereitschaft riskiert.129 Gegen solche Menschen hat der individualistische Ansatz kein Rezept - außer den von Mackie erwähnten „Banden" in Form sekundärer Empfindungen zugunsten der Moral, die aber über eine auf dem Selbstinteresse aufbauende Moralkonzeption weit hinausreichen, wenn man nicht wieder zu der bereits kritisierten definitorischen Ausdehnung des Begriffs des Selbstinteresses Zuflucht nehmen will. Das zweite Problem des individualistischen Zugangs ist, daß er als Kooperationsansatz nur unser Verhalten jenen gegenüber abdeckt, mit denen eine Verhaltenskoordinierung (im Sinne stillschweigender Übereinkunft) in unserem Interesse liegt. Er greift nicht gegenüber Schwächeren, auf deren Kooperation wir nicht angewiesen sind, wie Hilflosen, Behinderten, alten Menschen und Kleinkindern. Mackie bringt hier den Appell an das Eigeninteresse in Form des bekannten Arguments, daß auch wir möglicherweise in die Lage kommen, die Hilfe anderer zu benötigen, ins Spiel, um diese Personen in den interessenbasierten Ansatz zu integrieren.130 Aber Situationen sind leicht vorstellbar, wo das Kräfteverhältnis zwischen Personen so ungleich ist, daß eine der Parteien über die Interessen und Bedürfnisse anderer gefahrlos hinweggehen kann. Auch wenn Individuen manchmal die Hilfe anderer benötigen, so sind sie nicht unbedingt auf jene spezifischen Personen angewiesen, die sie moralisch nicht berücksichtigen. Mackie selbst macht auf die Sinnlosigkeit aller Kooperationsüberlegungen im Verhalten gegenüber Tieren aufmerksam: „Sie befinden sich niemals auch nur annähernd in einer Position, in der wir darauf angewiesen wären, auf sie Rücksicht zu nehmen." 131 Maßgeblich für 127 Im Prinzip sind es jene Schwierigkeiten, die wir schon in Kap. 4.4 im Zusammenhang mit der feministischen Kritik am individualistischen Kontraktualismus erwähnt haben. Zum Problem des Trittbrettfahrers vgl. auch Gräfrath (1991), S. 72-80. 128 Mackie (1981), S. 244. 129 Ebda., S. 241. 130 Ebda., S. 247f. 131 Ebda., S. 248.
Hume als
Tugendethiker
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die Begründung moralischen Handelns gegenüber Tieren ist also nicht das menschliche Selbstinteresse, sondern die Empfindungs- und Leidensfähigkeit von Tieren. Mackie weist in dem Zusammenhang darauf hin, daß eine humane Einstellung zum Kern der Moral gehört: Wir können „nicht gefühllos und gleichgültig, geschweige denn grausam gegenüber von Geburt an unheilbar kranken Menschen oder gegenüber Tieren sein".132 Deutlicher lassen sich die Grenzen des eigeninteressierten Ansatzes kaum aufweisen. Im Gegensatz zu den deutschsprachigen Philosophen, die seiner Hume-Exegese gefolgt sind, hat sich Mackie bemüht, die Humeschen Ideen für die Ausarbeitung einer höchst differenzierten normativ-ethischen Theorie fruchtbar zu machen. Mackie subsumiert Humes natürliche Tugenden unter die künstlichen Tugenden und überträgt das Entstehungsverfahren künstlicher Tugenden auf die Moral insgesamt. Diese Strategie wiederholt er bei der Entwicklung seiner eigenen Moraltheorie: Moralischen Gefühlen wie Mitleid, Mitgefühl, Empathie und Betroffenheit, die er doch als unabdingbar für die Moral erachtet, gesteht er letztlich nur einen vom Selbstinteresse abhängigen instrumenteilen Status zu. Abgesehen davon, daß diese Position nicht durchzuhalten ist, verkürzt sie die Humesche Moraltheorie erheblich und wird dem nicht gerecht, wie Hume das Zusammenspiel von künstlichen und natürlichen Tugenden sah. Mackie wird so gesehen von seiner einseitigen Lesart Humes eingeholt. Er akzentuiert zu ausschließlich einen bestimmten Aspekt der Humeschen Ethik, der sich zudem für seine eigene Theorie als nicht tragfähig erweist und übersieht, wie weit sich das von ihm entwickelte Moralsystem jener anderen Seite von Hume annähert, die seine Interpretation zu sehr vernachlässigt. Wenn Mackie auch Hume verkürzt, so hat er doch eine beeindruckende normativ-ethische Konzeption vorgelegt, die Sensibilität für die Aufgaben von Moral insgesamt beweist und die Komplexität moralischer Probleme im angewandten Bereich nicht nivelliert. Dies trifft auf die deutschsprachigen Philosophen, die Mackies Ansatz aufgegriffen haben, nicht im gleichen Maße zu. Ihre Moralansätze, sofern sie über die Ebene der Moralgenese hinausgelangen, beruhen nicht nur auf einer verkürzten Lesart von Hume, sondern auch von Mackie.
11.7
Hume als Tugendethiker
Die Interpretation von Humes Ethik als Variante eines individualistischen Moralansatzes findet keineswegs ungeteilte Zustimmung. Eine Reihe von Philosophinnen und Philosophen betonen vielmehr die auf den Einfluß von Shaftesbury und Hutcheson zurückgehenden Aspekte in Humes Theorie der Moral und erachten die Rolle von moralischen Gefühlen und damit verknüpften Bewertungen des Charakters als zentral. Die Gefahr dieser Lesart, deren prominenteste zeitgenössische Vertreterin Annette C. Baier ist, liegt in der zu ausschließlichen Akzentuierung der affektiven Haltungen. 132 Ebda., S. 249.
228 11.7.1
Die Moraltheorie
David
Humes
Die Überbetonung der natürlichen Tugenden (Norman Kemp Smith)
Norman Kemp Smith blendet die Hobbesschen Elemente in Humes Theorie völlig aus. Er sieht Hume ausschließlich als den intellektuellen Nachfahren von Hutcheson. Die Verkehrung der Rollen von Vernunft und Gefühl und die Vorbehalte gegen eine Rationalisierung von Moral hat Hume nach Kemp Smith von Hutcheson übernommen. 133 Die Affekte bestimmen unsere letzten Handlungsziele, und die Vernunft ist insofern „Sklavin der Affekte", als sie sich nur auf die Mittel zu deren Realisierung konzentriert. Kemp Smith geht sogar so weit, Hutchesons Betonung des Gefühls gegenüber der Vernunft auch als bestimmend für Humes theoretische Philosophie anzunehmen, da sich Hume seiner Ansicht nach der Frage theoretischer Erkenntnis über das Problem der Moral nähert.134 Ob Kemp Smith mit seiner These, was Humes theoretische Philosophie betrifft, richtig liegt, möge dahingestellt bleiben. Für Kemp Smith steht im Mittelpunkt von Humes Moraltheorie die Sympathie - die Art und Weise, in der uns die Gefühle anderer präsent werden. Zunächst sind uns die Affekte anderer nur über äußerliche körperliche Zeichen sichtbar; dies ruft in uns die Idee der Affekte hervor, die diese Körperreaktionen in uns selbst begleitet haben. In einem nächsten Schritt verwandeln sich die Vorstellungen dieser Affekte in die Affekte selbst, die wir so direkt nacherleben.135 Da die Sympathie uns das Nachvollziehen der Wirkungen bestimmter Handlungen und Charakterhaltungen ermöglicht, als ob unser eigener Vorteil oder Verlust davon betroffen wäre, wird sie zur Grundlage moralischer Billigung oder Mißbilligung. Das Mitgefühl übt einen universellen Einfluß aus und macht Menschen zu Wesen "so essentially social that even in (their) most self-regarding passions sympathy keeps others no less than the seif constantly before the mind". 136 Die Vernunft kommt für Kemp Smith besonders im Fall der künstlichen Tugenden ins Spiel. Denn Gerechtigkeit mit all ihren institutionellen Ausformungen im Rechtssystem gelte nur deshalb als Tugend, weil sie für die Existenz und die Weiterentwicklung der Gesellschaft nützlich und notwendig sei. Und die Einsicht in diese unabdingbare Funktion der Gerechtigkeit verdanke sich der Vernunft. Wenn auch Kemp Smith die Rolle der Vernunft im Herstellen des Zusammenhangs von Nützlichkeit und künstlichen Tugenden sieht, so unterstreicht er doch gleichzeitig, daß Hume in der Sympathie die Grundlage der Anerkennung dieser Tugenden erblickt. Gerechtigkeit ist nützlich, weil sie das allgemeine Wohlergehen fördert, aber die Frage, warum das Wohl der Gesellschaft uns als Gut erscheint, verweist wiederum auf die Sympathie, welche uns empfänglich macht für die Leiden anderer. So schließt Kemp Smith: "Even the artificial virtues, therefore, rest on feeling and instinct, and except through them can acquire no moral sanction. Indeed only for convenience in distinguishing them from the more direct virtues can we name them artificial." 137 133 Siehe Kemp Smith (1941), S. 143. 134 Ebda., S. 12-20; vgl. auch S. 44ff. 135 Ebda., S. 169-174. Kemp Smith weist daraufhin, daß Hume diese weitgehend mechanistische Erklärung der Sympathie im Traktat in der Untersuchung über die Prinzipien der Moral aufgegeben hat. Dort fungiert die Sympathie stärker als einfaches Gefühl der mitmenschlichen Verbundenheit mit anderen. Siehe ebda., S. 151. 136 Kemp Smith (1941), S. 174f. 137 Ebda., S. 149.
Annette C. Baiers
Hume-Interpretation
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Kemp Smith vermeidet in seiner Erklärung der künstlichen Tugenden jede Anspielung auf Interessen und die stillschweigende Übereinkunft über deren Einführung infolge von Klugheitserwägungen. Damit wird er aber Humes Ausführungen über Moral nicht gerecht. 11.7.2
"A Progress of Sentiments": Annette C. Baiers Hume-Interpretation
Auch Annette C. Baier ordnet Humes Position anders ein als Mackie. Wie nicht zuletzt der Titel ihres Buches über Humes Traktat verdeutlicht 138 , schreibt sie Hume eine Theorie der Moral zu, die Moralität mit einer Differenzierung unserer moralischen Gefühle und Wahrnehmungen, einer fortschreitenden Reflexion der Empfindungen und einer Vertiefung wie auch Korrektur unserer Einsichten in Charakter und Tugenden identifiziert. Hume unterscheidet sich gemäß Baier von den traditionellen Moralisten nicht nur in seiner Ablehnung einer metaphysischen Begründung von Moral; er hat auch ein anderes Verständnis von der Rolle der Moral, ihrem Inhalt und ihrer Form. Gegenstand der moralischen Beurteilung sind Charaktereigenschaften und Einstellungen. Nach Baier akzentuiert Hume den bewertenden und nicht den regelorientierten Aspekt von Moral, da seine Version der Moral einer Liste gebilligter Charaktermerkmale, nicht einer Menge von Verboten entspreche. 139 Humes Studium der Affekte, nicht zuletzt die Rolle, die andere für unsere Selbstbeurteilungen spielen, bildet nach Baier die Grundlage für die plural-universelle Form der Reflexivität, die Moralität beinhaltet. 140 Wie sie hervorhebt, begegnet uns auch in Buch II und Buch III des Traktats eine gegenüber Buch I deutlich modifizierte Konzeption der Person. Statt dem solipsistischen Ich-Standpunkt in der Erkenntnistheorie komme in der praktischen Philosophie, der Theorie der Affekte und der Moral, das Ich als reales soziales Wesen, eingebunden in Rollen und besondere Beziehungen zu anderen ins Blickfeld - ein durch Selbstinteresse wie die Sorge für andere charakterisiertes Wesen, das infolge der Sympathie die Situation anderer nachzuempfinden und deren Gefühle zu teilen vermag. 141 Humes Moraltheorie basiert für Baier auf reflektierten Affekten und Gefühlen, einer Kultivierung und Verfeinerung unserer empathischen Fähigkeiten, wobei Vernunft und intellektuelle Reflexion für diesen Prozeß der Schulung unserer affektiven Ressourcen unverzichtbar sind. Hume als Emotivisten zu sehen, findet Baier völlig verfehlt, da dieser moralisches Urteilen nicht auf unmittelbare Gefühle der Billigung oder Mißbilligung reduziere, sondern als eine Angelegenheit der kritischen Betrachtung menschlicher Charakterhaltungen von einem unparteilichen Standpunkt her begreife. 142 Im letzten Teil von Buch III des Treatise stelle er unmißverständlich klar, daß wir unsere ursprünglich aufgrund der Sympathie gefällte Bewer-
138 139 140 141 142
Baier (1991). Ebda., S. 184f. Ebda., S. 134. Ebda., S. 139-141. Die Zuordnung Humes zum Emotivismus resultiert nach Baier aus einer flüchtigen und ungeduldigen Lesart von Buch III des Treatise, denn erst bei Berücksichtigung des dritten und letzten Teils der Ausführungen über die Moral in Buch III komme man zu einem vollen Verständnis von Hume: "The proper corrective for these emotivist oversimplifications is due attention to the accounts in Part III of the special points of view needed to discern virtues." Ebda., S. 180.
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Die Moraltheorie David Humes
tung einem Prozeß der Korrektur unterziehen müssen, um die unvermeidlich mit unseren spontanen Urteilen zusammenhängenden Verzerrungen und Voreingenommenheiten zu eliminieren. Besonders die aus sozialer Nähe und der subjektiven Vorteilsverfolgung resultierenden Parteilichkeiten verdienten nach Hume der Berichtigung. Aber der Humesche Standpunkt einer um Unparteilichkeit bemühten moralischen Beurteilung ist nach Baier nicht der von der Ebene menschlicher Bedürfnisse, Geneigtheiten und Gefühle losgelöste Kantische Standpunkt reiner Vernunft; Humes Perspektive sei nicht der Nageische „Blick von nirgendwo", sondern ein Standpunkt „geteilter Menschlichkeit", in dem sich die Empfindungen der P a r t e i der Menschheit gegen Laster und Unordnung" 143 artikulieren. Nicht die Abstraktion von menschlicher Besonderheit und Differenz, sondern die interpersonelle Übereinstimmung im Urteil über konkrete individuelle Haltungen und Eigenschaften sei das Ziel. 144 Moralische Wertung verlange eine allgemeine Perspektive auf unsere Affekte und deren Wirkungen für uns und andere. Moral hängt für Hume, wie Baier meint, mit der „ruhigen, beständigen Empfindung" zusammen, die sich als Ergebnis einer von Voreingenommenheiten freien, unparteilichen Betrachtung einstellt und die Konflikte zwischen Personen wie innerhalb einer Person verhindert und beendet.145 Diese Art der Empfindung erreicht einen Ausgleich zwischen unseren subjektiven Geneigtheiten und einer neutraleren Sichtweise, zwischen Nähe und Entfernung, die in die moralische Beurteilung hineinspielen. Nun stellt sich freilich die Frage nach der Reichweite einer Version von Moral, die sich auf die Bewertung von Charaktereigenschaften konzentriert. Welchen Einfluß hat diese auf unser Verhalten? Beschränkt sich die handlungsleitende Funktion einer solchen Ethik auf die Untermauerung gewisser Urteile über charakterliche Haltungen? Baier weist darauf hin, daß etwa im Falle moralischer Erziehung Urteile äußerst machtvoll sind; außerdem beeinflusse unsere Freude an einem guten Charakter auch unser Handeln: "The heart does not always regulate its love and hatred by its calm and moral evaluations, but it sometimes does, and when it does, then there will be 'a hundred ways' in which this love can be expressed, some of them active and virtue-encouraging ways." 146 Doch wirke diese Form der Moral nur indirekt auf unser Verhalten. Radikale Verhaltensänderungen seien davon nicht zu erwarten. Die Billigung von Charakterhaltungen motiviere uns nur dann, wenn wir bereits über entsprechende Handlungsdispositionen und Neigungen verfügen und zu ihrer Verstärkung tendieren. Dennoch sollte man, so Baier, die begrenzte Praktikabilität der Humeschen Moral nicht überbewerten. Hume betone, daß die Qualitäten, die wir als Tugenden qualifizieren, nicht selten vorkommen und keine ungewöhnlichen Züge menschlicher Wesen darstellen dürfen. Jene positiven Eigenschaften, die Menschen häufig zukommen, seien von der Moral zu verstärken. "One constraint that Hume imposes on the moral point of view is that it be non-Utopian, that it find value in the available human material." 147 Ausgehend von Motiven, die in der menschlichen Natur meist hinreichend stark gegeben sind, setze dann der Prozeß der 143 144 145 146 147
So Humes eigene Formulierung in Hume (1751), S. 204 (Kursivsetzung im Original). Siehe Baier (1991), S. 182. Ebda., S. 133. Ebda., S. 185. Ebda., S. 187.
Annette C. Baiers
Hume-Interpretation
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Überformung und der Weiterentwicklung ein - jene kritische Kontemplation unseres Charakters, die nicht zuletzt durch die Fähigkeit der Sympathie, durch unser Verlangen nach Achtung und moralischer Anerkennung auf unser Leben und unsere Handlungen wirkt. Auf diese indirekte Weise sorge die Moral nicht nur für eine Verbesserung individuellen Handelns, sondern auch unserer Erziehungspraktiken und Institutionen. Baier entdeckt also in Hume eine Ethik der Haltungen und Ideale, in der Empfindung und Vernunft zusammenwirken. Geleitet vom „Zauber der sozialen Tugenden" und einer Ablehnung puritanischer Neigungen akzentuiert Humes Liste der Tugenden in der Tat die positiven, sympathetischen Einstellungen, welche die soziale Qualität unseres Zusammenlebens sichern. Es ist dies ein völlig anderes Bild von Moraltheorie, als etwa Mackie aus Humes Traktat herausliest. Die Frage drängt sich allerdings auf, ob nicht auch Baier, so wie Kemp Smith, zu ausschließlich an den natürlichen Tugenden orientiert ist und die künstlichen Tugenden nicht genügend berücksichtigt. Welchen Stellenwert räumt sie den Hobbesschen Einflüssen ein und der bei Hume zweifellos vorhandenen Tendenz, die künstlichen Tugenden als das Ergebnis einer Art Konvention zur Erhaltung und Sicherung unserer Interessen und unseres Wohlergehens zu betrachten? Hume erzählt nach Baier eine Geschichte über die Entstehung von Normen und Standards der Gerechtigkeit. Allerdings beginne diese Geschichte nicht in einer Hobbesschen Welt einander feindlich gesinnter Subjekte, die sich gegenseitig bedrohen und ihres Lebens nicht sicher sein können: "Hume's justice-initiators are parents who care about their children's concerns, and friends who care about each other's cares. They are limitedly sociable persons with limited generosity, as well as a dangerous but productive love of gain. They are prone to sympathy, even with total strangers. And they seem to be amazingly gentle persons, since the problem that they see facing them, and solve by their inventiveness and ability, is not that of danger to life and limb from bloodthirsty aggressive strangers intent on removing competitors for scarce material resources . . ," 148 Für Hume ist, wie Baier meint, Gerechtigkeit die Lösung eines Problems, das sich im sozialen Kosmos gewöhnlicher Subjekte mit einer begrenzten Fähigkeit zum Wohlwollen und der Rücksichtnahme auf andere abspielt: Das Problem ist die Beweglichkeit und Transferierbarkeit von Gütern auf dem Hintergrund der Tatsache, daß die Menschen ein lebhaftes Interesse an der Akkumulation von Besitz für sich und ihre Nächsten beweisen. Diese Neigung bedarf der Kontrolle durch Bestimmungen, welche Besitzansprüche und Besitzrechte regeln. Baier versteht diese Eigenart nicht als den Beweis einer ausschließlichen Selbstinteressiertheit menschlicher Natur, so daß Gerechtigkeit zum Mittelpunkt von Moral überhaupt avanciert. Zwar machen limitierte Großzügigkeit, das Verlangen nach materiellem Besitz und die Möglichkeit, in den Besitz von Gütern anderer zu gelangen, Eigentumsregelungen erforderlich. Doch Baier sieht keinen Anlaß, aus der Notwendigkeit der künstlichen Tugend der Gerechtigkeit auf einen umfassenden Egoismus zu schließen. Desgleichen bilde nicht der Hobbessche Naturzustand den Ausgangspunkt von Gerechtigkeitsregeln, sondern eine wiederkehrende Form kleinerer Auseinandersetzungen um Besitztümer in einer generellen Situation knapper Ressourcen: "Hume's natural persons have reasonable assurance that their mates and children will not attack them, and that no one else will either, if they avoid acquiring enviable possessions . . . What Hume's convenors of justice aim to eliminate is not 148 Ebda., S. 221f.
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Die Moraltheorie David Humes
a climate of violence against persons, but a climate of incommodious insecurity of possession of material goods." 149 Hume geht, wie Baier meint, von relativ friedvollen Rahmenbedingungen des sozialen Zusammenlebens aus. Um das Ausbrechen von Konflikten möglichst zu verhindern, werden Gesetze der Gerechtigkeit erforderlich. Die Einigung auf die Regeln der Gerechtigkeit in Form einer konventionsähnlichen Übereinkunft wird nicht zuletzt möglich, da die Humeschen Subjekte aus der Art ihrer bisherigen sozialen Erfahrungen wissen, daß Kooperation und gegenseitiges Vertrauen zum Wohl aller sind. "Behind the Conventions of justice lie the ur-conventions of sexual love, family life and friendship." 150 Humes Begriff der Übereinkunft schließt nach Baier die gegenseitige Mitteilung gemeinsamer Empfindungen und Intentionen ein; wir alle wissen, daß Kooperation unser aller Wohlergehen fördert, und folglich signalisieren wir anderen unsere Bereitschaft zur Anerkennung sozialer Regeln, sofern auch sie sich dazu entschließen. Durch die wechselseitige Offenlegung der Intentionen und die gegenseitige Versicherung der Einhaltung der Übereinkunft unterscheide sich die Situation von den Vorteilskalkülen rationaler Egoisten, die im Grunde bevorzugen, daß sich die anderen an die Regeln halten und jede Gelegenheit ungestrafter persönlicher Abweichung wahrnehmen. Die Respektierung der Gesetze und Standards der Gerechtigkeit ist durch das gemeinsame Bewußtsein gewährleistet, daß diese ein besseres soziales Klima bedingen, und beruht nicht auf subjektiv optimierenden Verhaltensstrategien. Die Einigung kommt nicht unter Individuen zustande, deren Präferenzstruktur jener egoistischer Strategen gleicht, sondern unter Personen, die Sympathie mit den Bedürfnissen und Anliegen anderer in Form einer begrenzten Großmut kennzeichnet.151 Das von Hume im Zusammenhang mit den künstlichen Tugenden gelöste Koordinationsproblem hat nach Baier nicht die Struktur einer Gefangenendilemma-Situation, sondern entspricht dem "assurance game". Beim "assurance game" entscheiden sich die Beteiligten nicht für die Option A (die ihnen subjektiv den größten Nutzen verspricht, aber ein schlechteres Ergebnis zur Folge hat, wenn sich auch andere dafür entscheiden), sondern wählen die Option non-A, die das für alle Beteiligten bestmögliche Ergebnis liefert, wenn ihnen die anderen versichern, sich gleich zu entscheiden.152 Damit sieht Baier den Versuchen, Humes Analyse künstlicher Tugenden im Sinne eines rational-individualistischen Moralansatzes zu interpretieren oder gar als Bestätigung eines solchen zu lesen, den Boden entzogen.153 Baier schätzt Humes Moraltheorie nicht zuletzt deswegen als „klug und profund" ein, da Hume jene moralischen Kategorien akzentuiere, die von den im wesentlichen an Prinzipien
149 Ebda., S. 223. Humes Anspielungen auf den Hobbesschen Naturzustand sind laut Baier keine Beschreibungen der Ausgangssituation kooperativen Verhaltens, sondern Hinweise auf den Zustand, der eintritt, wenn sich das System gesellschaftlicher Normen auflöst. Siehe ebda., S. 236. 150 Ebda., S. 228. 151 Ebda., S. 23 und S. 251. 152 Ebda., S. 233 und S. 317, FN 13. 153 Die rational-individualistischen Interpretationen vermögen nach Baier auch nicht dem Umstand gerecht zu werden, daß die „Gesetze der Gerechtigkeit" für Hume nicht einfach nur als Resultat menschlicher Kooperationsschemata Anerkennung verdienen. Auch kooperativ eingeführte Normen müssen vom moralischen Standpunkt gutgeheißen werden, d. h. die von ihnen gesicherten privaten und öffentlichen Interessen müssen den Test unparteilicher allgemeiner Zustimmung passieren. Siehe ebda., S. 241-243.
Annette C. Baiers
Hume-Interpretation
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und Rechten orientierten zeitgenössischen Ethik-Modellen ausgespart würden.154 In Humes Moralkonzeption begegnen uns, so Baier, weder die moralischen Subjekte als per definitionem freie und selbstgesetzgebende Vernunftwesen noch spiele die Bezugnahme auf universelle, für alle vernunftfahigen Personen gleichermaßen gültige Prinzipien eine entscheidende Rolle. Die Bildung des Charakters und der mitmenschlichen Empfindungen, die Förderung der für das angenehme, gedeihliche Zusammenleben notwendigen sozialen Tugenden und nicht der Gehorsam gegenüber „dem moralischen Gesetz" oder davon abgeleiteten Regeln definieren Humes Moralverständnis; „die gefühlsmäßige Reaktion auf eine vollständig wahrgenommene Situation" gilt „als die höchste Form moralischer Reflexion". 155 Paradigmatisch für die im Mittelpunkt der Humeschen Ethik stehenden „natürlichen Tugenden" wird nach Baier die Sorge der Eltern für die Kinder und die Elternliebe. Zwischen Humes Ethik und den von Gilligan betonten Aspekten von Moralität lassen sich, wie Baier unterstreicht, relativ direkt Querverbindungen herstellen. Auch Gilligan betone die moralischen Gefühle und betrachte Mitgefühl als grundlegend für Moralität. Gilligans kontextsensitive Konzeption der Moral übergehe nicht soziale Bindungen und Zusammengehörigkeiten und stilisiere die moralischen Subjekte nicht zu autonomen moralischen Gesetzgebern. Ebenso wie Gilligan zähle auch Hume von anderen abhängige und ihnen an Stärke, Entscheidungsspielraum und Vernunftfahigkeit unterlegene Wesen zum Bereich der Moral, und desgleichen habe seine Theorie der Moral keinerlei Probleme mit nicht gewählten moralischen Verpflichtungen und Bindungen.156 Gilligan setzt einer Ethikkonzeption, die Interessenkonflikte nur über die Anwendung von Rechten und Prinzipien für entscheidbar hält, wie wir gesehen haben, ein Verständnis von Moral entgegen, das in einer sensiblen und konsensorientierten Situationsaufarbeitung unter Berücksichtigung aller Betroffenen eine Möglichkeit der moralischen Bewältigung von Konflikten und rivalisierenden Ansprüchen erblickt. Auch in diesem Punkt stimmen für Baier die Positionen Humes und Gilligans überein; für beide ist es „die Hauptaufgabe der Moralität, Situationen in der Weise neu zu gestalten, daß die Interessen einander nicht mehr entgegengesetzt sind".157 Nach dieser Analyse zweier unterschiedlicher Sichtweisen von Humes Moraltheorie werde ich im folgenden eine kurze abschließende Beurteilung und auch eine Einordnung von Humes Auffassung von Moral versuchen. Mit einer Verbindung der Moraltheorien von Hume und Kant, so meine These, eröffnet sich die Möglichkeit zu einem Verständnis von Moral, das den berechtigten feministischen Einwänden gegen die zeitgenössischen Moralansätze gerecht wird und das gleichzeitig weder auf eine theoretische Absicherung der affektiven Werte noch die unverzichtbaren Kategorien von moralischen Regeln und Rechten vergißt. 154 Siehe Baier (1993), S. 108. 155 Ebda., S. 121. 156 Ebda., S. 118f. 157 Ebda., S. 128.
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11.8
Die Moraltheorie David Humes
Hume und Kant: Versuch einer Synthese
Hume hat es der Nachwelt nicht leicht gemacht. Vielen Philosophinnen und Philosophen gelingt es nur mit Mühe, aus seinen Reflexionen über künstliche und natürliche Tugenden eine zusammenhängende ethische Theorie herauszulesen, und nicht wenige neigen zu der Ansicht, daß Hume eher eine Analyse der Psychologie moralischen Urteilens denn einen Beitrag zur systematischen Moralphilosophie leistet. Nach einer weitverbreiteten Einschätzung rücken bei Hume die Fragen „Was ist moralisch richtig?" und „Warum ist es dies?" aufgrund stark psychologistischer Tendenzen in den Hintergrund. Hume habe zu moralischer Verpflichtung so gut wie nichts zu sagen; recht besehen verstehe er darunter nicht mehr als die faktischen Neigungen und Abneigungen, die menschliche Wesen für die Eigenschaften anderer fühlen. 158 Doch dieses Urteil wird Humes Ethik bei weitem nicht gerecht. In seinen Ausführungen finden sich Überlegungen zum rechten Tun und Handeln wie auch zu moralischer Verbindlichkeit. Damit soll nicht behauptet werden, daß Humes Position frei von Schwächen ist. Erschwert wird der Versuch, Humes Moralverständnis als ein kohärentes Ganzes wahrzunehmen, durch die erwähnte auffällige Spannung zwischen Selbstinteresse und altruistischen Werten, die Humes Philosophie der Moral durch das Verknüpfen zweier konträrer ethischer Vorläufertraditionen durchzieht und die sich in der Hume-Exegese fortsetzt. Hume erfährt, je nach Akzentuierung der beiden Seiten, zwei höchst unterschiedliche Interpretationen. Doch Hume war nicht zwischen zwei unvereinbaren ethischen Theorien hin- und hergerissen; vielmehr ordnet er die Aspekte von egoistischer Orientierung und Rücksicht auf andere verschiedenen theoretischen Fragestellungen zu. Das Selbstinteresse und die davon motivierte Einigung auf Normen bezieht er auf eine Erklärung des Entstehens moralischer Institutionen. Seine normative Ethik im engeren Sinn entspricht hingegen einer auf moralischen Empfindungen aufbauenden Tugendethik. In Annette C. Baiers Hume-Interpretation wird dieser entscheidende Punkt von ihren Bemühungen verdeckt, die Entstehungsgeschichte von Gerechtigkeit, von Grundsätzen des Rechten, gleichfalls in den sozialen Raum einander wohlwollender und gegenseitig verbundener Individuen zu verlagern. Wird aber die fehlende normativ-ethische Reichweite der Hobbesschen Prämissen klar unterstrichen, so erübrigt sich ein solcher Versuch einer anthropologischen Korrektur, der auf seine Art überzogen ausfällt und den Vorwurf einer positiven Überzeichnung realer Verhältnisse geradezu provoziert. Deutlicher und überzeugender als Baier vertreten Bernd Gräfrath und Gerhard Streminger die skizzierte Auflösung des Schillerns von Humes Position zwischen Egoismus und Altruismus. So grenzt Hume nach Gräfrath „seine quasi-spieltheoretischen Analysen auf die Aufgabe der Rechtfertigung von Staat und Recht" ein; Humes um die natürlichen Tugenden gruppierte Tugendmoral bilde den Kern seiner Ethik.159 Auch Gerhard Streminger gesteht dem Eigeninteresse nur einen begrenzten Stellenwert innerhalb der Humeschen Theorie zu. Zwar leite Hume das Zustandekommen normativer Systeme aus dem Wirken der Selbstliebe her, doch die Verbindlichkeit moralischer Forderungen knüpfe er an die reflektierten Affekte und Gefühle. 160 Zum Verständnis von Hume scheint Streminger notwendig zu berücksichtigen, 158 Eine solche Meinung vertritt etwa Henry Sidgwick. Siehe Sidgwick (1886), S. 212. 159 Siehe Gräfrath (1991), S. 65 und S. 103,112. 160 Siehe Streminger (1994a), S. 343.
Hume und Kant: Versuch einer Synthese
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daß dieser in seiner Moralphilosophie zwei unterschiedliche Probleme diskutiert: zum einen den Ursprung moralischer Normen und zum anderen den Einfluß der so entstandenen Moral auf die Psyche und das Empfinden der Menschen.161 Hume differenziere zwischen den von den Menschen zum Schutze der Gesellschaft konventionell eingeführten Normen - den künstlichen Tugenden - und dem „Pflichtgefühl", der moralischen Anerkennung dieser Regelungen. Bei der Beantwortung der ersten Frage spielen egoistische Überlegungen die wesentliche Rolle: Wir „erfinden" Normordnungen aus unserem wohlerwogenen Eigeninteresse. Aber die Einigung auf Regeln des gedeihlichen Zusammenlebens ermöglicht uns die Ausdehnung unserer ursprünglich auf den emotionalen Nahbereich eingeschränkten altruistischen Neigungen auf den Fernbereich. Wie Streminger ausführt, assoziiert Hume zunächst die egoistischen und altruistischen Verhaltenstendenzen mit der Unterscheidung von Nah- und Fernbereich: „Während also Hume für den Nahbereich das von Shaftesbury vertretene Menschenbild überzeugend fand, erschien ihm für den Fernbereich die Hobbessche Position als richtig."162 Aber die egoistisch motivierte Einführung des Systems der öffentlichen Moral sorgt, so Stremingers Interpretation von Hume, für eine Erweiterung des ursprünglich nur gegenüber Nahestehenden vorhandenen Wohlwollens auf eine Haltung des universellen Wohlwollens, das auch die Standpunkte und Interessen uns fernstehender Personen berücksichtigt. Durch die künstlichen Tugenden und deren normative Bestimmung des sozialen Umgangs außerhalb der Primärgruppen trete bei Hume eine Übertragung der für den Nahbereich typischen Haltungen auf den Fernbereich und damit ein „Zuwachs moralischen Bewußtseins" 163 insgesamt ein. Unabhängig von den egoistischen Erwägungen, die den Anlaß zur Einigung über Normen gaben, werde die Moral nun um ihrer selbst willen anerkannt und moralisches Handeln „gleichsam zu einer zweiten Natur". 164 Die Vertreter rational-individualistischer Moralansätze, die Humes Diskussion der künstlichen Tugenden als seinen paradigmatischen Beitrag zur Moralphilosophie werten, übergehen in der Tat wesentliche Elemente von Humes Moraltheorie, vor allem seine unter dem Begriff der natürlichen Tugenden vorgelegte Analyse moralischer Phänomene, die mit einem ethischen Egoismus nicht in Einklang zu bringen ist. Recht besehen weist schon Humes Begründung, warum wir die Befolgung der Rechtsordnung für tugendhaft und die Verstöße dagegen für unrecht erachten, über einen individualistischen Moralansatz hinaus. Hume lehnt eine naturrechtlich-metaphysische Fundierung der Rechtsordnung klar ab; diese gründe nicht auf der Entdeckung ewiger unveränderlicher Zusammenhänge, sondern auf den Interessen der Menschen. Die Rechtsordnung, wenngleich sie von Individuen oft den Verzicht auf die Durchsetzung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse verlangt, sichere deren wohlerwogene Interessen; entsprechend dem Wissen, daß Personen gut tun, ihre direkten Wünsche in manchen Fällen um des langfristigen Vorteils willen zurückzustellen, komme es zur Einführung der Rechtsordnung als gesellschaftlicher Institution.
161 Die erste Fragestellung stehe im Traktat im Vordergrund, die zweite in den Untersuchungen über die Prinzipien der Moral. Vgl. Streminger (1984), S. 21-23 und S. 50. 162 Streminger (1994a), S. 343. 163 Streminger (1984), S. 22. 164 Ebda., S. 51.
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Die Moraltheorie
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Die moralische Anerkennung der Rechtsordnung ist aber auf dieser Grundlage, wie Hume explizit ausführt, nicht zu gewinnen.165 Die moralische Verpflichtung zur Einhaltung der Rechtsnormen wird wichtig, da wir nach Hume bei unserem Handeln in einem größeren gesellschaftlichen Gefüge leicht übersehen, daß die Regeln das allgemeine Wohl sichern und so auch in unserem Interesse liegen; deshalb neigen wir dazu, das übergeordnete Interesse an der Rechtsordnung hinter unser unmittelbares zurückzustellen und lassen uns zu Rechtswidrigkeiten und Verletzungen der Rechtsordnung hinreißen. Selbst wenn unsere Interessen durch die Rechtswidrigkeiten anderer in keiner Weise tangiert werden, so läßt uns doch die Sympathie, die Fähigkeit, an den Freuden und Leiden anderer teilzunehmen, diese verurteilen. Hume folgert: „So ist Eigennutz das ursprüngliche Motiv zur Festsetzung der Rechtsordnung, aber Sympathie für das Allgemeinwohl ist die Quelle der sittlichen Anerkennung, die dieser Tugend gezollt wird."166 Diese Passage ist eine Schlüsselstelle für das Verständnis von Humes Moraltheorie und für die Beantwortung der Egoismus-Altruismus-Frage. Hume stellt hier zwei Dinge klar. Zum einen hält er fest, daß ohne Rückgriff auf die natürlichen Tugenden nicht erklärbar ist, was uns moralisch an die Einhaltung der Rechtsordnung bindet. Zum anderen macht er deutlich, daß auf der Basis unserer Eigeninteressen zwar das Entstehen moralischer Institutionen erklärbar ist, die künstlichen Tugenden für sich aber nicht die Grenzziehung zwischen dem Guten und dem Schlechten zu leisten erlauben und die moralischen Kernphänomene diesen vorgelagert sind. Die von Hume so eindeutig konstatierte Tatsache, daß die normative Dimension der Moral über die Genese moralischer Institutionen nicht einholbar ist, scheinen einige Hume-Interpreten zu übersehen. Für unsere Themenstellung relevant wird die Frage, was uns Hume an Einsichten über Moral vermittelt, die eine nicht verkürzte Moraltheorie berücksichtigen sollte. Hume ist in diesem Kontext insofern aktuell, als er gewisse Verkürzungen nachkantischer Ethik-Theorien nicht mitmacht. In den zeitgenössischen universalistischen Ansätzen deontologischen Zuschnitts ist der Standpunkt der Moral mit einer Ausgrenzung von Gefühlen und in bestimmtem Maße auch partikularen Bindungen verknüpft. Genau dieser abstahierende Zuschnitt hat die vehemente Kritik von kommunitaristischer und feministischer Seite provoziert. Einem Gutteil dieser Kritik läßt sich begegnen, wenn man bei der Definition des moralischen Standpunkts berücksichtigt, was uns Hume über das Phänomen der Moral lehrt: daß nämlich moralisches Urteilen, wenn auch mit Gefühlen verwoben, dennoch überprüfbar bleibt und Moral etwas mit der Bandbreite dessen zu tun hat, was Menschen sind, nämlich Wesen, die einerseits kühler rationaler Vorteilserwägungen, andererseits aber auch tiefer Empfindungen füreinander fähig sind. Hume gelingt nicht nur der Balanceakt zwischen überzogenem moralischem Rationalismus auf der einen und Subjektivismus und Relativismus auf der anderen Seite; er liefert mit der Betonung moralischer Gefühle auch wesentliche Impulse für eine reichhaltigere Moralkonzeption, eine Theorie - so Mackies grundlegende Bedingung für die Angemessenheit moralischer Theorien - "that can account for detailed contents of actual bodies of moral thought".167 165 Hume verweist bei der Erörterung dieser Fragestellung schon auf den dritten Teil von Buch III des Traktats, die Analyse der natürlichen Tugenden. Siehe Hume (1740) III, S. 242. 166 Ebda., S. 243f. (Kursivsetzung im Original). 167 Mackie (1980), S. 74.
Hume und Kant: Versuch einer Synthese
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Wie erwähnt bestehen Parallelen zwischen Humes Moraltheorie und den an Gilligans Arbeiten anknüpfenden feministischen Moralansätzen. Humes Ethik verkörpert in gewisser Weise eine philosophisch reflektiertere Fassung jener Sicht von Moralität, die Gilligan mit dem Begriff einer Care-Orientierung belegt. Auch Hume erachtet Sympathie, das affektive Eingehen auf andere und wohlwollend-altruistische Haltungen für moralisch wesentlich; maßgeblich wird die Verfeinerung moralischer Wahrnehmung und die Verbesserung der Urteilsfähigkeit über die Schulung der Empfindungen. Gilligan ist wiederholt und zu Recht für die Kontrastierung einer „Ethik der Prinzipien und Rechte" und einer „Ethik der Fürsorglichkeit und Anteilnahme" kritisiert worden. Wenn aber eine angemessene Theorie der Moral nur über eine Synthese von Prinzipien und affektiv-altruistischen Haltungen zu gewinnen ist, so kann auch eine Humesche Tugendethik, die wir ja als den Mittelpunkt von Humes normativer Ethik identifiziert haben, nicht beanspruchen, den Bereich der Moral auszuschöpfen. Hume war dies bewußt: Aus diesem Grund führt er neben den natürlichen Tugenden die „künstlichen Tugenden" der Gerechtigkeit und des Rechtssinns ein. Aber Humes Aufarbeitung der prinzipienorientierten Seite von Moral bleibt unbefriedigend. Ein Großteil seiner einschlägigen Ausführungen bezieht sich darauf, wie und warum etwa die Rechtsordnung entstanden ist. Hume konzentriert sich auf die Genese normativer Systeme; die philosophische Frage der moralisch verbindlichen Grundsätze und Regeln spricht er recht besehen nicht an. Seine Analyse der künstlichen Tugenden beschränkt sich auf den Nachweis von deren Zuträglichkeit für das individuelle wie das allgemeine Wohl; dadurch schafft er keine Grenzziehung zwischen moralischen Regeln und Rechtsnormen, da beide gleichermaßen diesen Zweck erfüllen. Besonders in den Prinzipien der Moral, wo Hume zwischen künstlichen und natürlichen Tugenden lange nicht so deutlich wie im Traktat unterscheidet und die Analyse der künstlichen Tugenden auch vernachlässigt, fällt der moralische Regelbegriff einfach mit den Normen des Rechtssystems zusammen und gewinnt keine eigenständigen Konturen.168 Auch im Traktat gelingt es Hume letztlich nicht, die Kriterien herauszuarbeiten, die eine Auszeichnung von Regeln als moralisch verbindlich erlauben. Hume bemüht sich nicht um eine philosophische Analyse von „Gerechtigkeit", sondern setzt diesen Begriff einfach mit dem faktisch existierenden Rechtssystem gleich und ignoriert die moraltheoretische Notwendigkeit der Formulierung allgemeiner Grundsätze als normativer Rahmenbedingungen des rechten Handelns. Durch diese Einebnung der Kategorien von Geltung und Gültigkeit, von konventionell eingeführten Regelsystemen und Normordnungen, die vom philosophisch-moralischen Standpunkt her Verbindlichkeit beanspruchen können, fehlt eine der Tugendethik korrespondierende philosophische Situierung von moralischen Grundsätzen, Regeln und Rechten. Hume grenzt das Problem des moralisch Richtigen oder Falschen sehr stark auf die Frage angemessener Charakterdispositionen ein. Eine Tugendethik allein genügt aber, wie schon ausgeführt, nicht für Moral: Die Kategorie der charakterlichen Haltungen und Einstellungen reicht zur Bewältigung praktischer Konfliktsituationen nicht aus.169 168 Vgl. Hume (1751), Abschnitt III. 169 Nicht zuletzt handelt sich Hume auch das Problem ein, nicht genügend zwischen moralischen Tugenden und anderen uns angenehmen Eigenschaften zu differenzieren und entsprechend zu einer Liste von Tugenden zu gelangen, die einfach eine Mischung von intellektuellen und moralischen Vorzügen darstellt. Vgl. dazu auch Kap. 13.2 dieser Arbeit.
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Die Moraltheorie
David
Humes
In diesem Punkt erweist sich die Kantische Theorie als überlegen und unverzichtbar. Kant entwickelt in Form des Universalisierungsverfahrens ein klares Kriterium zur Identifikation moralischer Regeln. Mit der Idee universeller Achtung und Rücksichtnahme, der Bedingung, daß alle Betroffenen gleichermaßen Beachtung verdienen, hat Kant zudem ein übergeordnetes Prinzip der Moral formuliert, das einen grundlegenden Standard des moralisch angemessenen Verhaltens anderen gegenüber definiert. Das Problem Kants liegt in der Verengung dieses Standards auf moralische Regeln, geprüft werden immer Maximen. Aber Moral ist, wie wir betont haben, auch eine Sache des „angemessenen Empfindens", und Empfindungen anderen gegenüber lassen sich nicht einfach in Maximen übersetzen: Sie sind komplexer und mit der Kategorie subjektiver Handlungsgrundsätze nicht zu erfassen. Der ihnen entsprechende moraltheoretische Begriff ist jener der „Tugend", konkret in der Form einer Haltung des affektiven Eingehens auf die anderen.170 Kants Tugendbegriff bleibt hingegen, wie wir gezeigt haben, im Schatten der moralischen Regeln. Doch nur ein auf Empfindungen erweiterter Tugendbegriff erlaubt die Integration von affektiven Einstellungen wie Anteilnahme und des Wohlwollens in die Moral - als vom moralischen Standpunkt her geforderte Haltungen. Genau hier wird die Verbindung mit Humes Theorie der Moral wichtig; diese bietet eine Möglichkeit, Empfindungen und Gefühle direkt einzubeziehen, also jene Elemente, die auch zur Moral gehören, deren Behandlung im Rahmen von Kants Ansatz aber viele Philosophinnen und Philosophen zu einer pauschalen Kritik veranlaßt hat, welche die bedeutsamen theoretischen Ressourcen von Kants Moralauffassung übersieht. Aus Humes Ethik sind die Aspekte des Moralischen zu gewinnen, die in Form einer moralische Empfindungen und altruistische Neigungen berücksichtigenden Tugendethik die substantiell notwendige Ergänzung einer Regelmoral ermöglichen. Die Verbindung von Kantischen Grundsätzen und Regeln sowie Humeschen empfindungsbezogenen Tugenden bedeutet eine Integration von bisher divergenten Moraltraditionen in eine umfassendere Konzeption, in eine Theorie der Moral, die der Tatsache gerecht wird, daß die Achtung für andere und deren Anerkennung als Personen an moralische Grundsätze und Rechte, aber auch an Mitgefühl und Empfindungsfähigkeit gebunden ist. 170 Der Begriff der Tugend ist natürlich weiter und umfaßt mehr Haltungen als nur die affektiven Einstellungen; aber im Kontext unserer Themenstellung konzentrieren wir uns auf diesen Aspekt.
E I N E MODERATE THEORIE DES G U T E N
Zur Präzisierung der Aufgabenstellung in diesem letzten Teil der Arbeit mag ein kurzer Rückblick auf die wesentlichen Thesen und Schlußfolgerungen der einzelnen Abschnitte hilfreich sein. Den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bildete die feministische Ethik-Debatte, wobei ich mich auf die an die Arbeiten Carol Gilligans anknüpfende Kritik formal-universalistischer Moraltheorien konzentrierte. Methodisch summieren sich die auf dieser Argumentationslinie liegenden Einwände zu einem Plädoyer für ein Aufbrechen deontologischer Standardtheorien. Der begriffliche Rahmen dieser Ansätze, so die berechtigte Kritik, bietet keine Integrationsmöglichkeit für moralische Phänomene wie affektive Zuwendung, Einfühlsamkeit, Fürsorglichkeit, Bindung und Kontextsensibilität. Dieser Rückgriff auf traditionell als „feminin" konnotierte Werte schafft eine Ambivalenz, die sich nur durch einen die klassische Geschlechtersymbolik und Geschlechterordnung reflektierenden wie transzendierenden Ethik-Ansatz überwinden läßt. Dies erfordert eine Korrektur des „männlichen Blicks" in einem für Partikularitäten und Differenzen sensiblen Universalismus, der auch dem Moralsubjekt „Mann" jene moralischen Haltungen abverlangt, die in der asymmetrischen Beziehung der Sorge für Schwächere paradigmatischen Ausdruck finden. Auf theoretischer Ebene beläuft sich die feministische Kritik nicht zuletzt auf die Forderung, die Moraltheorie auf Fragen des Guten zu erweitern. Im zweiten Teil der Arbeit habe ich die Thesen zweier Vertreter des Kommunitarismus untersucht, die eine den feministischen Überlegungen prima facie ähnliche Kritik an deontologischen Moralvorstellungen anbringen. Sandel und Maclntyre weisen ebenfalls auf die Notwendigkeit einer Theorie des Guten hin und votieren explizit für einen Vorrang des Guten vor dem Rechten. Bei Maclntyre verbindet sich dies mit einem Rückgriff auf den aristotelischen Tugendbegriff und eine narrativ strukturierte Ethik des guten Lebens, während Sandel am Beispiel von Rawls' Theorie der Gerechtigkeit die Irrtümer einer deontologischen Moralkonzeption aufzuzeigen versucht. Das Problem dieser Ansätze besteht, so das Ergebnis unserer Analyse, darin, daß der Begriff des Guten mit den gemeinsamen Wertvorstellungen von partikularen Gemeinschaften identifiziert wird und die kommunitaristische Position letztlich in einen moralischen Traditionalismus kippt. Diese mangelnde Distanz hängt einmal mit dem scharfen Angriff auf die Moraltheorien der Aufklärung und die Idee eines unparteilichen moralischen Standpunkts zusammen; zum anderen spielt hier eine Rolle, daß die Einwände von Seiten des Kommunitarismus teils an Hegels Kritik der Kantischen Moralphilosophie anschließen und mit einer Reaktivierung des Hegeischen Konzepts der „Sittlichkeit" einhergehen. Denn aufgrund von Hegels Interpretation dieses Begriffs liegt es nahe, die Defizite der deontologischen Moralkonzeptionen durch einen Rückgriff auf die geteilten normativen Überzeugungen und eingebürgerten Wertehorizonte spezifischer Gruppen und Gemeinschaften ausgleichen zu wollen.
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Eine moderate Theorie des Guten
Genau an diesem Punkt trennen sich trotz vordergründiger Übereinstimmungen die Wege des Kommunitarismus und der feministischen Philosophie. Neben der konventionalistischen Auslegung des Guten finden vor allem die von den Kommunitaristen als exemplarische Formen des Zusammenlebens angeführten Gemeinschaften schwerlich die Zustimmung feministischer Denkerinnen. Der Weg zu Selbstbestimmung und Autonomie verläuft für viele Frauen gerade über die Abgrenzung von den Gemeinschaften, die ursprünglich ihren sozialen Lebensraum bestimmten. Moderne Individuen anerkennen durchaus den Wert des Gemeinschaftslebens, behalten sich aber die Möglichkeit des Überdenkens ihrer Loyalitäten und Bindungen vor, falls die jeweiligen Formen sozialer Nähe und gruppenkonstitutiver Wertüberzeugungen auf Repression und die Verletzung ihrer subjektiven Freiheitsrechte hinauslaufen. Genau für diese Art kritischer Distanzierung läßt der Kommunitarismus wenig Raum, da sie jenes liberal-aufklärerische Denken und Moralverständnis reflektiert, das er in Frage stellt. Dennoch verdient die Kritik von Seiten des Kommunitarismus, wird sie von der Interpretation des Guten als den geteilten Wertvorstellungen spezifischer Gemeinschaften abgelöst, Beachtung. Bezieht sich die Idee des Guten auf die kommunitaristischen Werte für sich genommen, so lassen sich die problematischen Konsequenzen vermeiden. Denn in einer strikt normativ-konstruktiven Lesart belaufen sich die Einwände der kommunitaristischen Kritiker auf die Forderung einer Ergänzung der deontologischen Moralansätze und des Liberalismus durch Gemeinschaftswerte - und diese sind nichts anderes als Fürsorglichkeit, Empathie, Anteilnahme und Solidarität, deren Berücksichtigung nicht zuletzt deshalb wichtig ist, weil sie Grundformen personaler Anerkennung reflektieren. 1 Wenngleich sich diese Sicht nicht unbedingt mit dem Selbstverständnis einiger kommunitaristischer Philosophen deckt, so stellt sie meines Erachtens die philosophisch einzig haltbare Interpretation der Intentionen des Kommunitarismus dar. Die Integration der so verstandenen kommunitaristischen Kritik in eine feministisch transformierte Ethik bedeutet darüber hinaus, daß sich der Disput um einen Primat des Rechten oder einen Vorrang des Guten dahingehend auflöst, daß eine nicht verkürzte Moraltheorie beide Begriffe als gleichwertig anerkennt und ihnen gleichermaßen Rechnung trägt. Anschließend, im dritten Teil der Arbeit, bin ich auf die Moraltheorien von Kant und Hume eingegangen. Zum einen schien es geboten, die Kritik von feministischer und kommunitaristischer Seite detailliert an der Theorie Kants zu überprüfen, da diese Einwände nach Ansicht einiger Philosophinnen und Philosophen an Kant vorbeigehen. Zum anderen vermittelt der Rückgang auf die Ansätze von Kant und Hume wertvolle Aufschlüsse über die Möglichkeit einer Versöhnung moralischer Prinzipien und Regeln mit der affektiven Dimension von Moral. Ich habe zu zeigen versucht, daß Kant den Phänomenen von Anteilnahme und Mitgefühl, wenngleich er sich über deren moralische Bedeutsamkeit sehr wohl im klaren ist, infolge bestimmter Annahmen seiner Theorie nur eine Art instrumenteilen Status zugesteht. Letztlich anerkennt Kant nicht ihren moralischen Wert per se, sondern betrachtet sie als ein Mittel, um unseren Sinn für die moralische Pflicht in Form der Achtung für das moralische Gesetz zu fördern. Dies ist eine Konsequenz seiner moralischen Psychologie und des Umstands, daß er Neigungen für sich genommen nicht mit moralischem Wert belegt. Trotz dieser Schwächen, nicht zuletzt der Problematik des unbedingten Sollens, ist Kants Ethik wichtig und aufschlußreich. Kant vermittelt uns nicht nur mit der Idee der Universali1
Vgl. dazu Honneth (1992a), S. 148ff.
Eine moderate Theorie des Guten
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sierbarkeit ein wesentliches Testkriteriuni für Moralität, auch mit der Zweck-an-sich-Formel des kategorischen Imperativs - dem Verbot der Instrumentalisierung anderer und der Forderung universeller Achtung und Rücksichtnahme - hat Kant ein Prinzip vorgelegt, das sich gerade im Kontext aktueller Probleme der angewandten Ethik als aussagekräftig erweist. Andere als Personen zu respektieren und nicht bloß als Mittel zu behandeln, verlangt deren begründete Zustimmung und Einwilligung, und die Erfüllung dieser Bedingung bildet einen wichtigen Gradmesser für die moralische Qualität von Verhältnissen. Gleichwohl bildet die mangelhafte Integration der affektiven Werte, die mit Kants Verkürzung des Begriffs des Guten auf den der Pflicht und seiner regelbezogenen Auffassung der Tugenden zusammenhängt, ein gravierendes Problem von Kants Moraltheorie. Insofern wird, so die Konklusion dieses Abschnitts, eine Erweiterung seines Ansatzes unumgänglich. Bei der Suche nach einer Möglichkeit, moralische Prinzipien und Regeln mit Anteilnahme und Empathie in einer übergreifenden Theorie zu verbinden, ist es unumgänglich, jene Richtung ethischen Denkens zu berücksichtigen, in der moralische Empfindungen und Gefühle eine große Rolle gespielt haben: die britische Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts. Aus den bereits genannten Gründen habe ich mich dabei auf David Hume konzentriert. Die These war, daß bei Hume das Selbstinteresse nur im Kontext der Entstehung der Moral eine Rolle spielt, daß es aber irrig wäre, ihn als Exponenten eines aufgeklärten ethischen Egoismus zu lesen. Hume entwickelt nach der hier vertretenen Interpretation eine über eine deontologische Ethik hinausreichende Tugendmoral. Wenn sich der Begriff der Tugenden auf mehr beziehen soll als nur Dispositionen zur Einhaltung moralischer Regeln, so muß es ein Kriterium geben, das jene Eigenschaften zu identifizieren erlaubt, die als tugendhaft gelten können. Hume legt fest, daß Tugenden jene Charakterhaltungen sind, welche - unparteilich betrachtet - universelle Billigung und Zustimmung finden. Damit definiert er den moralischen Standpunkt nicht anders als Kant, nämlich als einen von Voreingenommenheiten und Parteilichkeiten abstrahierenden Gesichtspunkt. Allerdings scheint bei der Humeschen Definition der Tugenden noch eine andere Vorstellung im Hintergrund zu stehen: die des guten Lebens. Hume faßt diesen Begriff sehr weit und nimmt in Annäherung an die antiken Philosophen die Übereinstimmung von moralischem und glücklichem Leben an. 2 Zu den Tugenden zählt er all jene positiven Eigenschaften und Charakterzüge, die zu einem „angenehmen" Leben gehören. Der große Unterschied zu Kant besteht darin, daß Hume den Tugendbegriff auf affektive Haltungen erweitert und die Sympathie im Sinne wohlwollender Anteilnahme sogar den Mittelpunkt seiner Ethik bildet. In der Analyse der moralischen Regeln fällt Hume aber hinter Kant zurück, wenngleich er sich, wie seine Einführung der künstlichen Tugenden beweist, bewußt war, daß diese im Rahmen der Moral eine wichtige Funktion haben. In dieser Hinsicht scheint die Kantische Theorie überlegen, da sie in Form des Verallgemeinerungsverfahrens ein klares Kriterium zur Auszeichnung moralischer Regeln liefert. Geendet habe ich damit, daß eine Synthese von Kant und Hume in Richtung einer durch den übergreifenden Gesichtspunkt der unparteilichen Beobachterin zusammengehaltenen Kombination von Regelmoral und Tugendmoral unerläßlich ist. Die Absicht einer Annäherung der Ansätze Kants und Humes verweist auf eine Moralkonzeption, die jenen Aspekten dieser Theorien Rechnung trägt, die nach wie vor ihre Gültigkeit bewahrt haben.
2
Zu den eudämonistischen Zügen von Humes Ethik vgl. Streminger (1995b), S. 66ff.
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Eine moderate Theorie des Guten
Vor diesem Hintergrund will ich abschließend die Grundzüge einer Moraltheorie skizzieren, die eine strukturelle Verankerung der Werte von Empathie, Fürsorglichkeit und Solidarität ermöglicht. Methodologisch ist dies nicht anders als über deren Einbindung in eine Theorie der Tugenden zu erreichen, da sich die fraglichen Werte nur in Form moralischer Haltungen konkretisieren und einlösen lassen. Es gilt demnach, eine Verbindung von moralischen Regeln, Normen und affektiven Haltungen aufzuzeigen. Dies setzt einen Tugendbegriff voraus, der sich nicht wie bei Rawls in der Vorstellung einer bloßen Umsetzung der Grundsätze des Rechten erschöpft. Meine These ist, daß sich ein solch erweitertes Verständnis der Tugenden letztlich nur unter Bezugnahme auf eine Theorie des Guten gewinnen läßt eine Bestimmung des Guten, die einerseits dem haltbaren Kern der kommunitaristischen Kritik und der feministischen Forderung nach einer Berücksichtigung von Fragen des guten Lebens gerecht wird und andererseits nicht hinter eine der maßgeblichen Einsichten des Liberalismus zurückfallt: daß nämlich das Gute in Form einer für alle Subjekte verbindlichen umfassenden Sicht des guten Lebens in modernen wertepluralistischen Gesellschaften einen Anachronismus darstellt. Die feministische Ethik-Debatte läßt sich in das breitere Projekt einer Gesellschaftskritik einbinden. Denn entgegen einer möglicherweise durch den Begriff der Tugend nahegelegten Assoziation reduzieren sich Empathie, Sympathie und die Schulung und Verfeinerung moralischer Empfindungen nicht auf eine bloße Kultivierung eines Ich-Ideals, sondern setzen als Grundlagen des Respekts gegenüber anderen als Personen den normativen Rahmen für eine Transformation und Restrukturierung gesellschaftlicher Institutionen, die von der Zielvorstellung einer Verbesserung der Bedingungen unseres Zusammenlebens und der humanistischen Idee geleitet sind, allen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft, also auch Frauen, ein gutes Leben zu ermöglichen. Im folgenden gehe ich zunächst auf den von Ernst Tugendhat in seinen eindrucksvollen Vorlesungen über Ethik entwickelten Ansatz ein, der eine Spielart jenes Ethik-Modells darstellt, das sich als Quintessenz der hier angestellten Überlegungen herauskristallisiert: eine Synthese von Regelmoral und auf moralische Affekte erweiterter Tugendethik. Tugendhat knüpft allerdings nicht bei David Hume, sondern bei Adam Smith als dem moraltheoretischen Protagonisten des Affektiven an. In der kritischen Auseinandersetzung mit Tugendhats Konzeption, die meines Erachtens letztlich Kant zu sehr verpflichtet bleibt und dadurch den Begriff des guten Lebens vernachlässigt, werden die Konturen der hier vertretenen Position klarer hervortreten.
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Ernst Tugendhats Absage an die „Vernunft-fettgedruckt"
Seit der Aufklärung und dem Wegfall religiöser Moralfundierungen haben philosophische Ethiken versucht, den Absolutheitsanspruch moralischen Sollens zu retten, indem die vormals übliche Berufung auf eine göttliche Autorität durch eine säkulare Begründungsbasis ersetzt wird, deren Legitimationsressourcen dem traditionalistischen Modell in nichts nachstehen sollen. Paradigmatisch dafür ist Kants Theorie, die das oberste Prinzip der Moral mit der Idee der Vernunft gleichsetzt und damit das Problem der Moralbegründung quasi definitorisch abfängt. Varianten dieser Lösungsstrategie haben sich bis in die Philosophie der Gegenwart gehalten. Die hier auftretende Schwierigkeit liegt nicht darin, daß die Vernunft zur nichthintergehbaren Größe und letzten Instanz in Rechtfertigungsfragen avanciert, sondern daß eine Vernunftkonzeption ins Spiel kommt, die sich nicht mit dem gewöhnlichen Verständnis von Vernunft deckt. Die Lösung dieses Dilemmas steht im Mittelpunkt der Vorlesungen Uber Ethik. Tugendhats Zugang zur Moral ist als Versuch zu verstehen, die Verbindlichkeit von Moral universell einsichtig zu machen, ohne dabei einen Vernunftbegriff vorauszusetzen, der zur Verankerung der letztlich einem religiösen Moralverständnis entstammenden Idee des unbedingten Sollens dient. Die Vorstellung eines unbedingten Sollens oder Müssens in Form einer absoluten Forderung erscheint Tugendhat schlicht „sinnwidrig". 1 Entsprechend weist er die Konzeption einer metaphysisch aufgeladenen Vernunft, einer Vernunft-fettgedruckt, die den moralischen Geboten in einer nicht-bedingten Form Nachdruck verleihen soll, als „philosophische Erfindung" zurück. 2 Vernunft und vernünftiges Handeln sind, wie Tugendhat unterstreicht, für gewöhnlich auf die Realisierung bestimmter Ziele und Zwecke bezogen. Als unvernünftig im alltagssprachlichen Verständnis gilt jene Person, die ihr System von Zielen nicht in eine konsistente Ordnung bringt oder die jene Schritte nicht setzt, die unabdingbar sind für das Erreichen der gewählten Ziele. 3 Kants Annahme eines nicht auf Zwecke relativierten Begriffs absoluter Vernunft und eines an und für sich vernünftigen Handelns, eines unbedingten Vernünftigseinmüssens, ergibt nach Tugendhat keinen Sinn. 4 Er kritisiert die gesamte Idee einer apriorischen Vernunftbegründung der Moral als „philosophische Verstie1
Siehe Tugendhat (1993), S. 25.
2
Ebda., S. 45.
3
Ebda., S. 44.
4
Siehe Tugendhat (1993), S. 70. Eine Tugendhats Argumenten ähnliche Kritik an Kants Begriff des unbedingten Sollens entwickelt Hans Krämer: „Traditionsgeschichtlich gesehen ist Kants Ethik des unbedingten Sollens eine radikalisierte theologische Ethik ohne Theologie." Krämer (1992), S. 20. Auch Krämer kritisiert die Ausgrenzung von Fragen des guten Lebens in der nachkantischen Ethik. Allerdings hält er die Rückholung dieser Dimension von Moral nur im Rahmen einer auf dem Begriff des Wollens basierenden individuellen Strebensethik für möglich, die er von der Moraltheorie im engeren Sinn, der Sollensethik, abgrenzt. Siehe Krämer (1992),
244 genheit", die nichts anderes darstelle als den Wunsch, die Berufung auf die allgewaltige Kraft von Gottes Wort in ein säkulares Denksystem herüberzuretten. 5 Das Begründetsein läßt sich, wie Tugendhat unterstreicht, nicht dadurch verstärken, daß man die moralischen Urteile aus der Vernunft oder einer anderen Instanz ableitet. Doch sieht er darin keinen Anlaß zum moraltheoretischen Skeptizismus, denn die Alternativen reduzierten sich nicht darauf, daß es nur entweder eine absolute Begründung gebe oder gar keine. Es bleibe die Möglichkeit einer „plausiblen Moralbegründung": Die Gründe für ein bestimmtes Konzept des Gutseins scheinen allgemein einsichtig und einleuchtend. Die moralischen Urteile gelten demnach nicht mit absoluter Verbindlichkeit, sondern relativ auf ein bestimmtes Moralkonzept, das durch ein „komplexes Gewebe von Gründen und Motiven" 6 abgestützt ist und dessen Plausibilität sich nicht zuletzt darauf stützt, daß es eine Rekonstruktion unseres moralischen Empfindens darstellt. Mit dieser Rückbindung an das gewöhnliche Moralbewußtsein variiert Tugendhat die Vorstellung, daß ethische Theoriebildung nicht in Form eines mehr oder weniger radikalen moralphilosophischen Konstruktivismus, sondern nur als theoretische Explikation unseres Vorverständnisses von Moral möglich ist. Tugendhats These von der Sinnwidrigkeit eines unbedingten Müssens und Sollens stößt auf die Schwierigkeit, daß sich dieses in gängigen und durchaus bedeutungsvollen sprachlichen Ausdrucksformen konserviert findet. Er selbst erklärt das „grammatisch absolute" Vorkommen der beiden Wortgruppen „müssen"/„sollen" und „gut"/„schlecht" zum Identifikationsmerkmal von moralischen Urteilen. 7 Im Gegensatz zur relativen Verwendung, bei der diese Termini in Relation zu einem bestimmten Zweck gesetzt werden, beziehe sich die grammatisch absolute Verwendungsweise abstrahiert von allen Zweck-Mittel-Verhältnissen auf die Rede von „gesollt schlechthin", „gut einfachhin" oder „schlecht einfachhin". Um konsistent zu sein, muß Tugendhat also eine mit seiner Zurückweisung des absoluten Sollens verträgliche Interpretation dieser Sprachformen entwickeln. Entsprechend argumentiert er, daß ein genauerer Blick auf die semantische Tiefendimension des linguistischen Vorkommens absoluten Müssens und Sollens eine zweifache Relativierung bloßlege. Zunächst präsentiere sich das Muß als ein unbedingtes in dem Sinn, daß die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft ein bestimmtes Verhalten wechselseitig strikt voneinander fordern. Dieses Müssen ist nach Tugendhat jedoch auf eine Sanktion bezogen, die bei NichtErfüllung eintritt, nämlich die Empörung der anderen und die korrespondierende Scham auf Seiten des Subjekts. An diesem Punkt wird ein zweiter abschwächender Aspekt maßgeblich. Das Müssen bleibt auch relativiert auf den Entschluß eines Individuums, sich überhaupt zur moralischen Gemeinschaft zu zählen. Ohne die Bereitschaft eines Individuums, das Gutsein zu wollen, würden die Sanktionen der heteronomen Empörung und der korrespondierenden subjektiven Scham ins Leere laufen und das „Müssen" keinen Anhaltspunkt finden. Ein „absolutes ,ich muß', das nicht von einem wie immer impliziten ,ich will' abgestützt ist", scheint Tugendhat „logisch gesehen ein Unding". 8 S. 7 5 - 1 2 6 . Nach meinem Dafürhalten unterläuft Krämer gerade mit der Unterscheidung dieser zwei Formen von Ethik das Programm einer „Integrativen Ethik". 5
Siehe Tugendhat (1993), S. 15.
6
Ebda., S. 28.
7
Ebda., S. 37ff.
8
Ebda., S. 62 (Kursivsetzung im Original).
Tugendhats
Absage
an die „
Vernunft-fettgedruckt"
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Ähnliches gelte für „gut" und „schlecht". Der Sinn des grammatisch absoluten „gut" ist nach Tugendhat gar nicht auf direkte Weise auszumachen, sondern verdeutliche sich in der attributiven Verwendungsweise, daß jemand als Person oder als Mitglied der Gemeinschaft gut sei. „Gut" im moralischen Sinn objektiver Vorzüglichkeit beziehe sich primär auf Personen, und Handlungen gelten dann in einem abgeleiteten Sinn als gut, wenn sie die Handlungen eines guten Menschen sind. 9 Das jeweilige Konzept des Gutseins legt nun die Kriterien dafür fest, was einen „guten Menschen" definiert. Charakteristisch für Moral ist, daß alle wechselseitig voneinander erwarten, sich moralisch korrekt zu verhalten. Entsprechend bleibt das absolute „gut" bezogen auf die Forderungen und Erwartungen der moralischen Gemeinschaft sowie die äußere Sanktion der Empörung der anderen und die innere Sanktion der Scham in Form des persönlichen Gewissens. Die Wirksamkeit der Sanktionsmechanismen wiederum ist abhängig davon, daß sich eine Person überhaupt als Mitglied der moralischen Gemeinschaft verstehen will. Dieses „Ich will", das auf einer tieferen Ebene ansetzt als etwa die individuelle Absicht, spezielle Fähigkeiten auszubilden, bedeutet, die Bestimmungsmerkmale des guten Menschen und somit die Absicht zur Einhaltung jener Normen, die das Konzept des Guten definieren, als Teil der eigenen Identität zu begreifen. 10 Die Auseinandersetzung um ein bestimmtes Moralkonzept setzt somit die Bereitschaft voraus, den moralischen Standpunkt überhaupt einzunehmen und die Begründung erfolgt relativ zu der für die Identität der Mitglieder einer Gemeinschaft konstitutiven Idee des Gutseins. In einer nichttraditionalistischen Moral könne sich das Gute aber allen partikularistischen Beschränkungen enthoben nur auf die soziale Identität „aller kooperationsfähigen Wesen" in einer universalistisch gedachten Moralgemeinschaft beziehen. 11 Tugendhats Ausführungen konzentrieren sich im Kern auf die Skizzierung einer nicht-absoluten Begründung von Moral und die Auszeichnung eines bestimmten Moralkonzepts gegenüber anderen. Um letztere Frage nicht schon durch eine spezifische Auslegung des moralischen Prinzips vorwegnehmend zu entscheiden, setzt er zunächst bei einer formalen Vorbetrachtung und einem gegenüber variierenden Ausformulierungen neutralen Verständnis von Moral an, so daß eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Moralansätzen möglich bleibt. Grundlegend für ein Moralkonzept sei ein abstrakter Begriff des Gutseins, und die einzelnen Moralkonzepte unterscheiden sich über verschiedenartige Konkretisierungen des Guten. Das jeweilige Konzept des Gutseins bestimme, was im einzelnen als gut und schlecht gilt und bilde die Grundlage der moralischen Forderung an alle, sich in einem bestimmten Sinn zu verhalten. 12 In einem zweiten Schritt gelte es dann, zwischen verschiedenen Moralkonzepten auszuwählen und einem den Vorzug zu geben. Erst dann lasse sich die Frage des konkreten moralischen Handelns beantworten. 13 9 Ebda., S. 56. Tugendhat erachtet den Begriff des „guten Menschen" deshalb für wichtig, weil damit ein „Begründungsgesichtspunkt für Billigen und Tadeln" zur Verfügung stehe, „der gleichwohl formal genug ist, um für verschiedene Moralkonzepte offen zu sein". Ebda. 10 Siehe Tugendhat (1993), S. 60. 11 Ebda., S. 78. 12 Ebda., S. 65. 13 Entsprechend läßt sich das Motivationsproblem der Moral differenzieren: Die Frage, ob ich mich überhaupt moralisch verstehen und die Perspektive des Guten zu einem Teil meiner Identität machen will, ist zu separieren von der Frage, ob ich mich auf ein bestimmtes Moralkonzept hin definiere und davon läßt sich wiederum die Frage abgrenzen, ob ich im konkreten Fall moralisch handeln will. Vgl. ebda., S. 91.
246 Tugendhat unterscheidet zwei Ebenen einer begründeten Moral, die sich infolge seiner Aufspaltung des Problemkomplexes ergeben: Die Frage, warum sich eine Person überhaupt als Mitglied der moralischen Gemeinschaft verstehen sollte, ist von der Frage nach dem angemessenen Moralkonzept zu unterscheiden. Wer nicht bereit ist, sich als moralisches Subjekt zu verstehen, dem gegenüber greifen keine Argumente. Nur wenn eine Person den ersten Schritt getan hat, werden die Gründe zur Auszeichnung eines bestimmten Moralkonzepts relevant. 14 Im ersten Fall werden Gründe im Sinne von Motiven maßgeblich, im zweiten Gründe im Sinne von philosophischen Argumenten. 15 Unter „Motiven" versteht Tugendhat auf die Interessen und die Perspektive einer Person bezogene subjektive Gründe. Von daher und seiner Ablehnung eines absoluten Vernunftbegriffs erklärt sich, warum er den rationalindividualistischen Moralansätzen, die er mit dem Begriff „Kontraktualismus" belegt, zugesteht, die erste Frage befriedigend zu lösen. Auf der ersten Ebene haben wir nach Tugendhat „die denkbar stärksten Motive" für die „kontraktualistische Moral". 16 Darüber hinaus ist dann der Schritt zur „eigentlichen Moral", zu einem bestimmten Moralansatz und einer spezifischen Auslegung des Guten zu machen, und Tugendhat meint zeigen zu können, daß wir auch gute Gründe im Sinne von Motiven für die Moral auf dieser Ebene haben. Allerdings will er hier den Kontraktualismus hinter sich lassen. Interessant wird nun, daß Tugendhat trotz seiner scharfen Kritik an Kants Versuch der Moralfundierung inhaltlich an der Kantischen Moral festhält. Als grundlegend für den Begriff der Moral erachtet er die Bedingungen der Universalität, der Egalität und der Symmetrie. „Universalität" bedeutet, daß moralische Normen für alle gleichermaßen gelten und allen gegenüber zu begründen sind. 17 Die „Egalität" drückt aus, daß alle Moralsubjekte einen gleichen Anspruch auf Berücksichtigung haben, und die „Symmetrie" unterstreicht, daß es sich bei der Moral um ein System wechselseitiger Forderungen handelt. 18 Die mit diesen Anforderungen verträglichen moralischen Regeln beziehen sich auf alle und gelten aus der Perspektive jeder beliebigen Person. Tugendhats zentrale These geht dahin, daß Kants Explikation des Gutseins in Form einer Moral der universellen Achtung dem so definierten
14 Gute Gründe (im Sinne von Motiven) dafür, sich als Mitglied der moralischen Gemeinschaft zu verstehen, ergeben sich für Tugendhat aus der Tatsache, daß mit dem Wegfall der Moral auch Phänomene aus unserem Leben schwinden würden, auf die zu verzichten schwer vorstellbar ist. So würden etwa moralische Beurteilungen und Auseinandersetzungen unmöglich und somit fehlte auch die Basis für die moralischen Affekte wie Empörung, Groll, Schuldgefühl und Scham, die so tief mit unseren sozialen Wahrnehmungsformen und unseren Beziehungen zu anderen verwoben sind. Siehe ebda., S. 20-22 und S. 88f. 15 Tugendhats Sprachgebrauch ist hier etwas verwirrend, da er an manchen Stellen einfach Motive und Gründe einander gegenüberstellt. Vgl. etwa ebda., S. 85. Motive sind natürlich auch Gründe, allerdings in einem speziellen Sinn. 16 Ebda., S. 29. Zu berücksichtigen ist, daß Tugendhat den Begriff „kontraktualistische Moral" auf die individualistischen Vertragstheorien der Moral bezieht. 17 Traditionalistische Moralkonzepte erfüllen etwa nicht die Bedingung der Universalität. Das Problem einer religiösen Begründung der Moral ist, daß moralische Normen universell gefordert und insofern auch, wie Tugendhat es ausdrückt, nicht-religiösen Menschen gegenüber „einsichtig zu machen sind". Ebda., S. 13. Zudem tendieren traditionalistische Ansätze immer wieder dazu, das Konzept des Guten auf Normen auszudehnen, die sich auf die eigene Lebensführung beziehen - als klassisches Beispiel erwähnt Tugendhat die Sexualmoral. Siehe ebda., S. 84. 18 Diese Bedingung ist zweifellos problematisch, da sie den Bereich der Moralsubjekte auf kooperationsfähige Wesen eingrenzt. Statusungleichheiten sind bereits durch die Bedingung der Egalität ausgeschlossen.
Tugendhats
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Moralbegriff am besten gerecht wird. Konkret knüpft er bei der Zweck-an-sich-Formel des kategorischen Imperativs an. Der darin enthaltene Grundsatz gleicher universeller Achtung und das korrespondierende Instrumentalisierungsverbot bilden den übergeordneten Gesichtspunkt der Moral.19 Wenngleich dieses Moralkonzept nicht mehr absolut zu begründen sei, so wirke es „auf Anhieb einleuchtend".20 Wie noch zu zeigen sein wird, versteht Tugendhat dieses Grundprinzip so, daß es auch über Kants Moraltheorie hinausreichende Elemente zu integrieren erlaubt. Da sich für die Bevorzugung eines bestimmten Moralkonzepts also nur noch eine auf allgemeine Einsichtigkeit abzielende Rechtfertigung anbietet, kommt Tugendhats Argumenten gegen andere Moralansätze einiges an Gewicht zu. Denn eine bestimmte Position gewinnt auch durch die mangelnde Überzeugungskraft der Alternativen an Evidenz. An möglichen Gegenentwürfen diskutiert er die auf Schopenhauer zurückgehende Mitleidsethik, eine an einer Idee „höherer Werte", etwa der Erhaltung des Gemeinwesens orientierte Moral, und den Utilitarismus. Schopenhauers Position treffe auf die Schwierigkeit, daß das Mitleid im Fall konfligierender Interessen überhaupt kein Abwägungskriterium an die Hand gebe und sich darauf keine Moral aufbauen lasse.21 Das Mitleid für sich genommen stelle nur eine kontingente Grundlage dar, und um eine Mitleidsethik von den Unwägbarkeiten individueller emotionaler Geneigtheiten freizuhalten, müsse man die „moralische Richtungslosigkeit" dieses Gefühls auffangen. Genau dies bedeutet nach Tugendhat, über das Mitleid hinauszugehen.22 An Ursula Wolfs Versuch, das Mitleid in einer Ethik des „generalisierten Mitleids" normativ abzusichern, indem das Handeln aus Mitleid zum Gegenstand moralischer Forderung wird, kritisiert Tugendhat, daß Wolf damit implizit eine Moral der universellen Achtung voraussetze und nicht mehr von einer Mitleidsmoral ausgehe.23 Gegenüber der zweiten Position macht Tugendhat geltend, daß die Auszeichnung sozialer Werte gleichfalls nur über die übergeordnete Perspektive des kategorischen Imperativs möglich ist - „oder es wären Zusätze, deren Verständlichkeit als Komponenten des Guten in der Luft bliebe".24 Dem Utilitarismus wirft er vor, die Maximierung des Gesamtnutzens zum obersten Prinzip zu erklären und das Problem moralischen Entscheidens auf eine Summe von „Additionen und Subtraktionen von Glück und Elend" 25 zu reduzieren. Prima facie setzten die Kantische Ethik und der Utilitaris19 Siehe Tugendhat (1993), S. 80. 20 Ebda., S. 81. Der Verweis auf die Plausibilität des kategorischen Imperativs wird nach Tugendhat schon deshalb unumgänglich, da dessen Begründung „weder als Ableitung aus einem höheren Prinzip", möglich sei, „noch indem dieses Konzept aus dem Begriff des Guten analytisch herausgedröselt würde". Ebda., S. 86. 21 Siehe ebda., S. 180, 181. Die analogen Schwierigkeiten einer Care-Ethik haben wir bereits diskutiert. Vgl. Kap. 6.2 dieser Arbeit. 22 Siehe ebda., S. 182-185. 23 Ebda., S. 185-187. Tugendhats Kritik geht insofern an Ursula Wolf vorbei, als Wolf explizit von einer „universalistisch-egalitären Moral der gleichen Rücksicht auf alle" ausgeht. Wolf (1990), S. 70. Wolf kritisiert allerdings die Eingrenzung dieses Moralkonzepts auf Personen; die Leidensfähigkeit scheint ihr das maßgebliche Kriterium für die Zugehörigkeit zum Bereich der moralischen Subjekte. Ebda., S. 73ff. In dem Punkt erweist sich ihr Ansatz jenem von Tugendhat überlegen, der, wie auch Angelika Krebs aufzeigt, Tiere nicht in seine Moralkonzeption zu integrieren vermag. Vgl. Krebs (1996). 24 Tugendhat (1993), S. 321. Tugendhat bezieht diese Kritik explizit auf den Kommunitarismus. 25 Ebda., S. 326. Tugendhat verzichtet bewußt auf die üblichen Einwände, daß der Utilitarismus Konsequenzen
248 mus beim gleichen Punkt an: den Wünschen und Interessen der betroffenen Individuen. Im Utilitarismus werde aber die Erhöhung der Gesamtmenge von Glück zum Standard, während das Kantische Prinzip die Berücksichtigung der Interessen aller gleichermaßen vorsehe; diese Form der Rücksichtnahme wird Individuen als ein Recht zugestanden, wohingegen der Utilitarismus Rechte nur im Kontext der Glücksmaximierung behandeln könne. 26 Nach der Entscheidung für ein bestimmtes Moralkonzept läßt sich die Motivationsproblematik neu aufrollen. An die Frage, ob eine Person die Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft als Teil ihrer Identität betrachten will, schließt sich jetzt die Frage, ob sie ihr Gutsein im Sinne von Kants Ansatz begreifen möchte. Wie läßt sich nun das Kantische Moralkonzept motivational absichern? Wie Tugendhat ausführt, hilft hier nur eine Verdeutlichung der Entscheidungssituation weiter. Die Subjekte müssen wählen, ob sie nach egoistischen oder altruistischen Gründen zu handeln beabsichtigen, ob sie sich rein den individuellen Interessengesichtspunkt zu eigen machen oder auch Rücksicht auf beliebige andere nehmen wollen. Entscheiden sie sich für letzteres, so haben sie bereits den Kantischen Standpunkt akzeptiert. Zwingendere Gründe gibt es für Tugendhat nicht, die Frage nach den Motiven zur Moral werfe einen immer wieder radikal zurück auf die Frage des Wollens. 27 Im Kontext unserer Fragestellung besonders wichtig und interessant ist Tugendhats Ausdehnung des Kantischen Konzepts auf Tugenden und affektive Haltungen. Sein Verständnis der Tugenden reicht im Anspruch über eine deontologische Lesart hinaus, wonach sich Tugenden nur als motivationale Verlängerung moralischer Regeln präsentieren und keinen eigenständigen Stellenwert als moraltheoretische Kategorie gewinnen. Tugendhat sucht in einem Brückenschlag zwischen der Theorie Kants und der britischen Moral-sense-Philosophie das Korsett einer Regelethik zu sprengen. Will man von einer deontologisch verkürzten Tugendauffassung loskommen, muß das übergeordnete Moralprinzip, das die Kohärenz und Einheitlichkeit eines moralischen Ausblicks sicherstellt, mehr als nur moralische Regeln umfassen. Aus dem Grund differenziert Tugendhat zwischen Prinzip und Regel: Unter „Prinzip" versteht er den für ein Moralkonzept übergeordneten Gesichtspunkt, während moralische Regeln daraus abgeleitete Formen der Handlungsanweisung darstellen. Das grundlegende Prinzip der Kantischen Ethik, und an dem will Tugendhat ja festhalten, bildet der kategorische Imperativ. Unter dieses Prinzip fallen nach Tugendhat aber nicht nur Regeln, sondern auch Tugenden. Die für den kategorischen Imperativ zentrale Überlegung, welches Handeln aus der Perspektive einer beliebigen Person gewollt werden kann, lasse sich auch auf die Frage anwenden, wie man wolle, daß die anderen einem gegenüber eingestellt seien. Das unparteilich Gewünschte und Gebilligte beziehe sich nicht nur auf Handlungen, sondern auch auf Haltungen, und das Prinzip der Moral der universellen Achtung weise über Handlungsdirektiven hinaus auf die mit dem Begriff der
generiere, die mit unseren gängigen moralischen Überzeugungen und Intuitionen unverträglich seien. Er will grundsätzlicher argumentieren und bereits das Moralprinzip des Utilitarismus zurückweisen. 26 Siehe ebda., S. 322-327. 27 Ebda., S. 92-97. Diese prinzipiell notwendige Bereitschaft zur Moral arbeitet Tugendhat sehr klar heraus: .Jemandem, der wirklich einen lack of moral sense hat oder der aus freien Stücken entschlossen ist auszusteigen und sich auf den Kontraktualismus zurückzuziehen, die Moral erstens überhaupt und zweitens in ihrem Kantischen Verständnis anargumentieren zu wollen, wäre sinnlos. Wir können unserem Freund nur sagen: take it or leave it." Ebda., S. 89.
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„Tugend" umschriebenen moralisch akzeptablen Einstellungen und Disponiertheiten in Gestalt des guten Charakters. 28 Entscheidend für das Überwinden der Begrenztheit deontologischer Ansätze ist also die Einsicht, daß sich das „abstrakte Gute" nicht nur auf Regeln, Normen oder Rechte, sondern auch auf affektive Haltungen bezieht. Wenn aber affektive Werte über die Einbindung von Tugenden in einer universalistischen Moral verankert sein sollen, müssen sie den Test universellen Gewolltseins bestehen, also aus der Sicht jeder beliebigen Person bei allen anderen erwünscht sein. Tugendhat sieht die gegenseitige Bereitschaft zur sympathetischen Einfühlung über das Prinzip des kategorischen Imperativs gedeckt: „(S)o soll ich mich verhalten, wie es aus der Perspektive eines Beliebigen gewollt wird; und was ein jeder von den anderen will, ist eben nicht nur, daß er nicht geschädigt wird, daß ihm gegenüber Wort gehalten und daß ihm bei Bedarf geholfen wird, sondern ebenso, daß man ihm sensibel begegnet und sich seinerseits so gibt (selbstbeherrscht), daß man ihm sensibel begegnen kann." 29 Genau diese Überlegung findet sich, wie Tugendhat ausführt, bei Adam Smith vorweggenommen: Smith formuliere mit dem Bild des unparteilichen Beobachters ein dem kategorischen Imperativ vergleichbares oberstes Beurteilungsprinzip der Moral. Die unparteiliche Beobachterin repräsentiere die Perspektive allgemeiner und unvoreingenommener Zustimmungsfähigkeit, die bei Smith explizit auch affektive Einstellungen umfasse. 30 Im Zentrum von Smiths Ethik stehe die „universalistisch gebotene Bezogenheit der eigenen Affektivität auf die der anderen" 31 , das empathisch-teilnehmende Offensein für die Mitmenschen und das Mitfühlen mit den Affekten der jeweils anderen. Notwendig sei nach Smith aber auch, diese Affekte wiederum einer moralischen Beurteilung zu unterwerfen. Eingehen auf die anderen bedeute nicht schon, all ihre spezifischen Affekte als berechtigt anerkennen - erneut werde der Standard des unparteilichen Beobachters maßgeblich für die Angemessenheit der mitfühlenden Anteilnahme. 32 Die Berücksichtigung des Affektiven, das sympathetische Eingehen auf die andere Person und deren Situation, wird bei Smith, so Tugendhat, zum unverzichtbaren Element „moralischer Urteilskraft": Die unparteiliche Betrachterin muß auch mit Anteilnahme und Sensibilität den Betroffenen gegenüber urteilen. 33 Ich verzichte hier auf eine Auseinandersetzung mit Tugendhats Rezeption von Adam Smith. Im Prinzip akzentuiert Tugendhat jene empfindungsbezogenen Elemente der Smithschen Morallehre, die sich bei Hume vorweggenommen finden und deren moraltheoretische Berücksichtigung in dieser Arbeit wiederholt eingefordert wurde. Fassen wir zusammen: Tugendhat skizziert die Möglichkeit einer nicht-reduktionistischen Verbindung von Regelmoral und Tugendmoral. Das Prinzip der Achtung anderen gegenüber,
28 Siehe ebda., S. 283ff. 29 Ebda., S. 296. 30 Zu Tugendhats detaillierter inhaltlicher Darstellung von Adam Smith vgl. ebda., S. 282-309. Tugendhat konzentriert sich auf Adam Smith, da er Hume falsch liest. Er schreibt explizit, daß Hume (ganz wie Kant) nur die Tugenden der Gerechtigkeit und des Wohltuns kenne, nicht aber jene der „affektive(n) Offenheit zu den anderen". Ebda., S. 285f. Diese These wird von Humes Erläuterungen zum Mitgefühl im Traktat - insbesondere dem Bild der „gleichgespannten Saiten" - wohl eindeutig widerlegt. Vgl. Hume (1740) III, S. 329. 31 Tugendhat (1993), S. 284. 32 Ebda., S. 286. 33 Ebda., S. 288.
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wie es sich in Kants Zweck-an-sich-Formel findet, formt den übergreifenden Gesichtspunkt einer Moralkonzeption, die sich in eine Menge von Regeln einerseits und eine Gruppe von Tugenden andererseits differenziert, deren moralischer Gehalt aber nicht aufeinander reduzierbar ist. Tugendhat versucht in seiner „Moral der universellen Achtung" dem Stellenwert moralischer Gefühle und affektiver Zuwendung und Empfindsamkeit gerecht zu werden, was seinen Moralansatz gegenüber den anderen zeitgenössischen Modellen im deutschen Sprachraum auszeichnet. Tugendhat unterstreicht die Bedeutsamkeit der positiven Affekte in Form des Offenseins für andere auf illustrative Weise: Fehlten die Momente von Anteilnahme und Empathie, so glichen die Menschen „in ihren Rüstungen eingeschlossene(n) Ritter(n)", deren Sicht von Moralität sich auf die Grundsätze der Nicht-Schädigung und der positiven Pflicht der Interessenberücksichtigung beschränke. 34 Damit bleibe ein wesentlicher Teil der unser Alltagsleben bestimmenden Dimensionen von Moral ausgespart. Die notwendige moraltheoretische Horizonterweiterung verdeutlicht er in der Idee einer „affektiven Kommunikation", die - im Unterschied zu Habermas' Modell - Verständigung nicht nur über die Berücksichtigung der Interessen anderer, sondern auch über die affektive Rücksichtnahme definiere, und entsprechend nicht nur auf einen „Ausgleich der Interessen, sondern eine Harmonie der Affekte" abziele. 35
12.1
Zwischen absolutem Sollen und Kontraktualismus: Probleme von Tugendhats Position
Ein wesentliches Verdienst von Tugendhats Moraltheorie liegt darin, daß er neben der Begründung eines Moralkonzepts auf eine Problemstellung eingeht, die in den gegenwärtigen deontologischen Moralansätzen so gut wie keine Beachtung erfährt: die Motivationsproblematik. Entsprechend unterscheidet er auch zwei Aspekte der Rechtfertigung: zum einen die Gründe, die ein Individuum bewegen, ein moralisches Prinzip zur Grundlage seines Handelns zu machen, und zum anderen die philosophisch-argumentative Absicherung eines spezifischen Moralprinzips, die infolge seiner klaren Absage an die Idee einer absoluten Vernunftbegründung nur noch in Form von Plausibilitätsüberlegungen möglich ist. Dies zwingt ihn, wie wir gesehen haben, zur Dekonstruktion des sprachlichen Auftretens eines „absoluten Müssens" oder „Sollens" und der korrespondierenden absoluten Verwendungsweise der Wertausdrücke „gut schlechthin" oder „schlecht an sich". Nun schleicht sich genau an diesem Punkt eine merkwürdige Inkonsistenz in die Tugendhatschen Ausführungen. Denn im Aufdecken der relativierenden Hintergrundbezüge des sprachlich absoluten Vorkommens von „sollen"/„müssen" und „gut"/„schlecht" vermischt Tugendhat jene zwei Ebenen, die er zunächst so fein säuberlich getrennt hatte, nämlich die Motivationsfrage und die der Rechtfertigung eines Moralkonzepts. Erinnern wir uns: Tugendhat entlarvt die Redeweise von einem absoluten Müssen und Sollen als in zweifacher Weise abgeschwächt. Einmal bleibe sie auf eine Sanktion bezogen, nämlich die Empörung der anderen, die eintritt, wenn die Person den wechselseitigen moralischen Forderungen 34 Ebda., S. 295. 35 Ebda., S. 296.
Probleme von Tugendhats Position
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nicht entspricht; zum anderen relativiere sie sich auf den Entschluß des Individuums, sich überhaupt zur moralischen Gemeinschaft zu zählen. Doch die hier von Tugendhat genannten relativierenden Aspekte bewegen sich interessanterweise nur in der Dimension einer der beiden vorhin genannten Fragestellungen, nämlich der Motivationsproblematik. Tugendhat übersieht, daß er die Relativierung des absoluten Müssens und Sollens auch im Rahmen der zweiten Frage, jener der Begründung eines Moralkonzepts, verdeutlichen muß, will er sich nicht dem Vorwurf aussetzen, die Frage des moralischen Sollens in Form des moralisch richtigen Handelns und des Gutseins so an das individuelle Wollen zu binden, daß er sein eigenes theoretisches Programm unterläuft. Genau in diese Richtung zielen die von Rainer Forst erhobenen Einwände, der Tugendhat dahingehend versteht, daß dieser die Begründung von Moral in ethisch „allgemeinen Bedingungen des Selbstseins als Mitglied einer moralischen Gemeinschaft" 36 verorte. Gemäß Forsts Lesart zeichnet Tugendhat seinen kantischen Ansatz gegenüber alternativen Konzeptionen über identitätstheoretische Argumente als vorzugswürdig aus - die Kantische Theorie liefere „die plausibelste Erklärung der moralischen Identität von Personen". 37 Doch damit ignoriert Forst die gesamte Palette an philosophischen Argumenten, die Tugendhat in diesem Kontext gegenüber anderen Theorien anführt. Forst gesteht zwar zu, daß Tugendhat bei einem Moralbegriff wechselseitiger, universell einsichtiger Verhaltenserwartungen ansetzt. 38 Durch seine Bezugnahme auf Motive in Form des „Gutseinwollens" von Personen könne Tugendhat aber moralische Forderungen nicht über deren nachprüfbaren Anspruch auf moralische Richtigkeit absichern; diese blieben abhängig davon, ob und wie weit sich deren Adressaten als der moralischen Gemeinschaft zugehörig begreifen wollen. Damit relativiere Tugendhat die Geltung von Moral auf die individuelle Bereitschaft zu einem bestimmten Selbstverständnis, womit nicht nur der intersubjektive Charakter der Moral verloren gehe, sondern die Berechtigung moralischer Forderungen als Problem ihrer intersubjektiven Gültigkeit gar nicht reflektierbar werde. 39 Handlungen können, so Forst, ihre moralische Rechtfertigung nicht allein aus einem Selbstkonzept und den damit verknüpften Werten und Idealen beziehen. 40 Forst stellt auch die Verbindung von Ethik und Moral in dem Begriff des „guten Menschen" in Frage. Die Idee des „Bejahtwerdenwollens" in der Form des Gebilligtseinwollens durch einen unparteilichen moralischen Beobachter schwanke zwischen einer ethischen und moralischen Bewertung des als „gut" geltenden Menschen 41 , was nach Forst das Anerkanntseinwollen auf eine partikulare Gemeinschaft eingrenzt. 36 Forst (1994), S. 377. 37 Ebda., S. 378. 38 Ebda. 39 Ebda., S. 379. 4 0 Ebda., S. 384. 41 Siehe ebda., S. 383. Die Motivationsproblematik der Moral zieht sich durch die Vorlesungen
über Ethik. Tu-
gendhat greift sie an jedem Punkt der Entfaltung seiner Theorie aufs neue auf. So kommt er im Anschluß an die Auseinandersetzung mit Adam Smith und die Erweiterung seines Moralprinzips auf affektive Haltungen nochmals auf die Frage der Motivation zu sprechen. Im Rückgriff auf Smiths Motivationstheorie meint Tugendhat, daß das „Bejahtseinwollen" durch den unparteilichen Betrachter ein starkes Motiv dafür darstelle, zur moralischen Gemeinschaft gehören zu wollen. Siehe Tugendhat (1993), S. 31 lff. Auf diese Passage bezieht sich Forst in den obigen Ausführungen.
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Desgleichen kritisiert Forst Tugendhats Bezugnahme auf den Begriff der Sanktion. 42 Da Sanktionen erst infolge des Nichteinhaltens moralischer Normen und der Verletzung moralischer Standards relevant würden, könne ihr Akzeptieren nicht die Grundlage moralischer Geltung bilden. Die normative Kraft moralischer Ansinnen dürfe nicht davon abhängen, ob sich eine Person gegenüber den mit einem Verstoß gegen die Moral verknüpften Sanktionen sensibel oder unempfindlich zeige - ein Argument, dem Tugendhat zweifellos zustimmen würde. Tugendhat entgehe die mögliche nicht-absolute Deutung „des moralisch Gesollten als des wechselseitig nicht vernünftigerweise Zurückweisbaren und damit Forderbaren", weil in seiner Interpretation das „Müssen", sofern es nicht einen unbedingten, quasi-religiösen Status hat, erst über das subjektive Wollen Bedeutung gewinne. 4 3 Da Tugendhat die moralische Geltung auf das subjektive Wollen und das, was „gut für mich" ist, relativiere, gleichzeitig aber festlege, daß sich moralische Gründe nicht nur rein auf individuelle Interessenerwägungen reduzieren dürfen, verwickle sich sein Ansatz in Widersprüche. 4 4 Der Kern von Forsts Kritik läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß Tugendhat die Begründung der Moral „auf bestimmten identitätstheoretischen oder anthropologischen Annahmen" aufbaue und insgesamt bei einer falschen Fragestellung ansetze, nämlich bei „Wer will ich sein?" und nicht bei der moraltheoretisch entscheidenden Überlegung „Was kann ich moralisch rechtfertigen?" 4 5 Forsts Einwände beruhen zu einem Teil auf Mißverständnissen, die sich aus seinem Festhalten an einer auf Grundsätze des Rechten verengten Diskursethik erklären lassen. 46 Grundlage seiner Überlegungen ist eine strikte Trennung von Ethik und Moral. Ethische Werte und Konzeptionen des Guten gelten als Antworten auf Fragen nach der eigenen Identität und dem subjektiv guten Leben; demgegenüber gehe es im Fall der Moral um die universelle Gültigkeit allgemeiner Normen und um das Problem der Rechtfertigung individuellen Handelns gegenüber allen anderen und deren berechtigten Interessen und Bedürfnissen 4 7 Durch diese definitorische Abgrenzung des Begriffs der Moral vom Guten ist Forst gewissermaßen der Blick auf die wesentliche Leistung von Tugendhats Ansatz verstellt: die Synthese von Regelmoral und Tugendmoral und die Integration affektiver Haltungen. Der rigorose Dualismus von Ethik und Moral blendet das Problem moralisch angemessener Haltungen schlicht aus; die Frage der Affektivität berührt aber nicht nur die Dimensionen der eigenen Identität und der subjektiven Wertsetzungen, sondern fällt als grundlegender Bestimmungsfaktor zwischenmenschlichen Verhaltens unter den Gesichtspunkt allgemeiner Rechtfertigbarkeit. Tugendhats Differenzierung zwischen der Motivationsfrage und der Begründung eines spezifischen Moralkonzepts und entsprechend zwischen Motiven und Gründen wird von Forst nicht berücksichtigt. Sein Vorwurf, daß Tugendhat die Auszeichnung des Kantischen
42 Zur Kritik an Tugendhats Begriff der Sanktion vgl. auch Wolf (1984), S. 200-201; vgl. auch Tugendhats Auseinandersetzung mit Ursula Wolf in Tugendhat (1983), S. 132-145. 43 Forst (1994), S. 379. 44 Ebda., S. 381. 45 Ebda., S. 384. 46 Forst übernimmt die von Habermas getroffene Unterscheidung von Fragen des guten Lebens und Fragen des Rechten und der Gerechtigkeit, wobei letztere im Kontext der Moral einerseits und dem der Rechtstheorie andererseits eine Bedeutungsdifferenzierung erfahren. Vgl. Habermas (1983b), S. 118f. und (1992c). 47 Siehe Forst (1994), S. 53.
Probleme
von Tugendhats
Position
Konzepts nur auf identitätstheoretischer Basis schaffe, verkennt den Argumentationsaufbau der Vorlesungen über Ethik. Forst verkürzt die Theorie Tugendhats auf die Motivationsproblematik, und er zieht nicht in Betracht, daß Tugendhat seine auf Tugenden erweiterte „Moral der universellen Achtung" sehr wohl als Antwort auf die moraltheoretisch zweifellos zentrale Frage versteht, welche Handlungen - aber auch Haltungen - vom moralischen Standpunkt her als richtig gelten können. Tugendhat konzentriert sich darüber hinaus eben auf eine zweite Problemstellung, mit der sich alle Moralansätze, auch die Diskursethik, konfrontiert sehen: welche motivationalen Gründe Individuen zu bewegen vermögen, sich zur moralischen Gemeinschaft zu zählen und ein bestimmtes Moralkonzept zur Grundlage ihres Handelns und ihrer Einstellungen zu machen. Der bloße Versuch eines Philosophen, diese Frage überhaupt ernstzunehmen, bedeutet noch keine Reduktion der Moral auf Anthropologie. Wie erwähnt, provoziert aber Tugendhat förmlich diese Art der Argumentation, indem er in der semantischen Analyse den Status des Sollens tatsächlich nur über die motivationalen Aspekte der Sanktion und des „Moralischseinwollens" als einen bloß vermeintlich absoluten entlarvt. Forsts Kritik ist auch insofern nicht ganz unberechtigt, als Tugendhat fallweise die Begründungs- und die Motivationsfrage miteinander verquickt. Um Einwänden, wie Forst sie vorbringt, zu entgehen, müßte Tugendhat das „grammatisch absolute" Auftreten des Sollens und Müssens in einer zweiten Hinsicht abschwächen. Denn Tugendhats Moral der universellen Achtung will sicher nicht hinter dem Anspruch zurückbleiben, daß von diesem Moralprinzip her gedeckte moralische Forderungen „vernünftigerweise nicht zurückzuweisen sind". Nun würde Tugendhat an diesem Punkt zweifellos zu bedenken geben, daß diese zusätzliche Form der Relativierung des „grammatisch absoluten" Auftretens des Sollens und Müssens ja für seinen gesamten Ansatz grundlegend ist. Denn die sprachlich absolute Verwendung von „Müssen" und „Sollen" sei ja durch das Bevorzugen eines nur noch plausiblen Moralkonzepts in eine Moraltheorie eingebettet, die nicht mehr an einem Konzept absoluter Vernunft und entsprechend auch nicht mehr an einem unbedingten Sollen festhält. Moralische Forderungen würden zwar im sprachlichen Gewand eines unbedingten Sollens auftreten, dieses bleibe aber bezogen auf seine Abstützung im Rahmen eines allgemeine Einsichtigkeit beanspruchenden Moralkonzepts. Warum verlagert Tugendhat seine Abschwächung des unbedingten Sollens so stark auf die Motivationsproblematik und beruft sich nicht auf die Relativierung des Sollens im Rahmen einer nur plausiblen Moralkonzeption? Zwei Gründe scheinen mir maßgeblich, die auf eine Ungereimtheit der Tugendhatschen Position verweisen. Der erste hängt mit Tugendhats Kritik an Rawls zusammen, der zweite Grund liegt in seinem letztlich ambivalenten Verhältnis zum Kontraktualismus. Mit seinem Vorschlag einer plausiblen Moralbegründung gerät Tugendhat unübersehbar in die Nähe eines Philosophen, mit dem er seine liebe Not hat, nämlich John Rawls. Rawls' Modell einer Kohärenzrechtfertigung moralischer Grundsätze, konkretisiert in der Idee eines Überlegungsgleichgewichts zwischen den Grundsätzen und unseren wohlerwogenen moralischen Einzelurteilen, stellt in gewisser Weise eine alternative Fassung des Tugendhatschen Modells einer plausiblen Moralbegründung dar. Rawls leistet mit dem Überlegungsgleichgewicht das, was Tugendhat mit seiner Bezugnahme auf Plausibilität erreichen will - eine reflexiv optimal abgesicherte Rekonstruktion unseres alltäglichen Moralbewußtseins. Tugendhats Kritik an Rawls, dieser berufe sich nur auf Intuitionen, ohne einen objektiven Begründungsanspruch zu erheben, bleibt ein Rätsel, denn Tugendhat begründet das Kantische
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Prinzip gerade durch eine Bezugnahme auf Evidenz oder Intuition; was anderes soll der Hinweis besagen, daß dieses „unmittelbar einleuchtet"? 48 Rawls setzt einfach einen weiteren Rechtfertigungsschritt, wenn er die Konsequenzen eines uns evident scheinenden Moralprinzips der Überprüfung in Form der Übereinstimmung mit unseren wohlerwogenen moralischen Einzelurteilen unterwirft. Die Erklärung für diese Kritik an Rawls ist letztlich darin zu suchen, daß Tugendhat mit seiner Untermauerung des Kantischen Moralprinzips, dieses sei „unmittelbar einleuchtend", wohl nicht glücklich ist und nicht glücklich sein kann, da er selbst einem anderen Begründungsbegriff den Vorzug gibt, nämlich einer hypothetischen Begründung in Form guter Gründe für bestimmte Ziele. Tugendhats Angriff auf die Idee eines unbedingten Sollens basierte ja auf seiner Überzeugung, daß die Forderung, etwas zu tun, nur in der Relation zu einem bestimmten Ziel, das im Interesse eines Individuums liegt, sinnvoll ist. Wohl deshalb weicht er auf die Motivationsproblematik aus. Denn am Begriff der Sanktion und der Empörung der anderen, die ihrerseits abhängig bleiben von der Empfänglichkeit für moralische Kritik, lassen sich gute Gründe in diesem Sinn festmachen: Wollen wir negative Reaktionen dieser Art vermeiden, dann haben wir einen guten Grund - im Sinne eines Motivs - dafür, moralisch zu sein. Dies führt uns zum zweiten Punkt, Tugendhats Verhältnis zum Kontraktualismus. Denn genau der Begründungsbegriff, zu dem Tugendhat tendiert, liegt dem Kontraktualismus zugrunde: Die besten Gründe für x haben wir dann, wenn x in unserem Interesse liegt oder ein Mittel zur Erreichung unserer Ziele darstellt. Deswegen macht Tugendhat dem Kontraktualismus auch gewisse Zugeständnisse, daß wir etwa auf der unteren Ebene moralischer Begründung die stärksten Motive für die kontraktualistische Moral haben, denn für den Kontraktualismus existiere kein Motivationsproblem der Moral. 49 Aufschlußreich ist in dem Zusammenhang auch, daß sich für Tugendhat die Plausibilität des Kantischen Moralkonzepts gerade aus seiner Nähe zum Kontraktualismus erklärt. 50 Kant selbst habe eine Erläuterung seines Moralprinzips gegeben, die sich im Ausgangspunkt nicht sehr vom kontraktualistischen Ansatz unterscheide. Im Mittelpunkt des Kontraktualismus steht die eigeninteressierte Absicht, diejenigen Normen zu akzeptieren, von denen man will, daß sich ihnen auch alle anderen unterwerfen. Von hier ist es, wie Tugendhat betont, nur ein „kleiner Schritt" zu Kants in der ersten Formel des kategorischen Imperativs ausgedrückten Überlegung, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, von der man zugleich wollen könne, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Inhaltlich gelangten beide zu den gleichen Regeln. 51 Im Kantischen Ansatz würden die Regeln jedoch um ihrer selbst willen eingehalten, im Kontraktualismus nur aus instrumenteilen Gründen. 52
48 Zu Tugendhats Kritik an Rawls vgl. Tugendhat (1993), S. 25 und S. 79. Phasenweise entsteht der Eindruck, daß sich Tugendhat nur gegen Rawls' Relativierung des ursprünglichen Begründungsanspruchs in seinen späteren Arbeiten wendet; aber dies macht noch weniger verständlich, warum er sich nicht auf die Relativierung des Moralprinzips im Rahmen eines plausiblen Moralkonzepts stützt. 49 Siehe Tugendhat (1993), S. 29 und S. 309. 50 Ebda., S. 81. 51 Drei Gruppen von Regeln ergeben sich inhaltlich aus dem Kantischen Konzept des Gutseins: erstens negative Pflichten, also die Gebote, anderen nicht zu schaden; zweitens positive Pflichten, die Regel, anderen zu helfen, und als letztes die kooperativen Regeln, etwa Versprechen zu halten und nicht zu lügen. Siehe ebda., S. 73. 52 Siehe ebda., S. 82.
255 Genau aus diesem Grund spricht Tugendhat dem Kontraktualismus ab, eine Moralkonzeption im engeren Sinn zu sein: „Das entscheidende Charakteristikum des Kontraktualismus ist, daß er kein Konzept des Guten hat; er baut sich nur auf den relativen Begriff ,gut für . . auf." 53 Der Kontraktualismus liefere zwar „eine verständliche und auch korrekte Begründung", nur sei das Ergebnis streng genommen „nicht eine Moral, sondern eine Quasimoral". 54 Hier ergeben sich allerdings erhebliche Spannungen mit Tugendhats Zurückweisung einer absoluten Vernunftbegründung. In seinen Argumenten gegen den Kontraktualismus macht Tugendhat ausgerechnet wieder Anleihen bei jenem Begriff der Kantischen Moralphilosophie, dem er selbst jede Berechtigung abspricht: der Vorstellung eines unbedingten Sollens. Denn das Ansinnen, moralische Regeln um ihrer selbst willen zu befolgen, läuft genau auf die von Tugendhat selbst als „widersinnig" kritisierte Vorstellung eines Sollens um des Sollens willen hinaus. Mit seiner Kontraktualismus-Kritik unterwandert er seinen Distanzierungsversuch von Kants Vernunftbegriff. Tugendhats Argument, daß die Defizite des Kontraktualismus darin liegen, bei „gut für . . ." anzusetzen, ist schlicht inkonsistent mit seiner These, daß eine Begründung nur relativ, also mit Bezug auf etwas, erfolgen kann. Diese Ungereimtheiten reflektieren eine Unentschiedenheit zwischen zwei Positionen: Tugendhat sympathisiert einerseits stark mit einer Humeschen Position, nämlich Moral nur noch als System hypothetischer Imperative zu verstehen - exemplarisch von Philippa Foot in einem mittlerweile klassischen Aufsatz vertreten. 55 Andererseits fürchtet er, sich mit diesem Moralverständnis dem Kontraktualismus auszuliefern und nimmt, da er gegen letzteren offenbar kein anderes Rezept sieht, ausgerechnet bei jenen Kantischen Begrifflichkeiten Zuflucht, denen er selbst zutiefst skeptisch gegenübersteht. Tugendhats Dilemma besteht mit anderen Worten darin, daß er sich auf der einen Seite entschieden von Kants Vernunftbegriff absetzt und dem ein Rationalitätsverständnis im „gewöhnlichen Sinn" entgegenhält, also die Interpretation vernünftigen Handelns als zweckbezogen. Gleichzeitig will er aber nicht den üblicherweise mit diesem Rationalitätsbegriff assoziierten moralischen Ansatz eines aufgeklärten Egoismus übernehmen, sondern an einer kantisch-universalistischen Moraltheorie festhalten. Damit ergeben sich Spannungen, die Tugendhat nicht auszuräumen vermag. Die obige Diskussion hat sich etwas stark auf den Begriff des „Sollens" konzentriert und das grammatisch absolute „gut", das ja nach Tugendhat auch eine Relativierung erfahren muß, etwas ausgeklammert. Doch stellt sich in diesem Fall das gleiche Problem. Tugendhat bezieht auch die Abschwächung von „gut", wobei er den Ausdruck zunächst einfach über die attributive Verwendungsweise in der objektiven Vorzüglichkeit des „guten Menschen" klärt 56 , wiederum zu stark auf die Motivationsproblematik und die Sanktionen der Empörung und der Scham. Auch hier müßte er, wie im Fall des Sollens, die Relativierung auf der Ebene des Moralprinzips aufzeigen, also das grammatisch absolute Auftreten von „gut" auf eine
53 Ebda., S. 76. 54 Ebda., S. 77. 55 Vgl. Foot (1972a). Tugendhat erwähnt an einer Stelle der Vorlesungen
über Ethik seine Übereinstimmung mit
Foots These, „daß moralische Normen eine bestimmte Art hypothetischer Imperative sind". Tugendhat (1993), S. 46, FN 7. Wie Tugendhat bemerkt, ist ein kategorischer Imperativ „eine Vernunftregel ohne Bezugspunkt", demgemäß wäre es „rational, etwas zu tun, nicht mit Bezug auf einen bestimmten Zweck und auch nicht mit Bezug auf das Wohlergehen des Handelnden oder eines anderen Wesen, sondern einfachhin". Tugendhat (1993), S. 44. 56 Siehe Tugendhat (1993), S. 56-61.
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Tugendhats Absage an die „
Vernunft-fettgedruckt"
philosophische Idee des Guten beziehen. Statt dessen relativiert er den Begriff in einer neuerlichen Vermischung von Begründungs- und Motivationsfrage auf das Gutsein als Bestimmungselement der sozialen Identität moralwilliger Individuen. 57 Prinzipiell steht Tugendhat die andere Möglichkeit offen: Sein Definitionsmerkmal eines Moralkonzepts, das ja auch vom Kantischen Ansatz erfüllt werden soll, ist ein abstrakter Begriff des Guten. Allerdings läßt Tugendhat den Begriff des Guten mit dem obersten Prinzip der Kantischen Ethik, dem kategorischen Imperativ, zusammenfallen, und dies ist mit ein Grund, warum er die Bezogenheit von „gut" auf ein philosophisches Konzept des Guten vernachlässigt. Notwendig ist, um bei unserem alten Anspruch zu bleiben, die Erweiterung auf eine Ethik des Guten, die über den Rahmen von Kants Theorie hinausgeht. Tugendhat muß das moralische Sollen, will er seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden, an eine Zielvorstellung rückbinden - und was liegt da näher als die Erklärung, daß die Moral eben das allgemeine Wohlergehen sichern hilft. Tugendhats Kritik einer absoluten Vernunftbegründung, die sich bis in die zeitgenössischen deontologischen Ethik-Ansätze hinein gehalten hat, scheint mir wichtig und richtig. Desgleichen stimme ich in der Ablehnung des Kontraktualismus mit Tugendhat überein, erinnert sei an die kritische Diskussion der rational-individualistischen Ansätze in Kap. 4.4 und im Hume-Abschnitt. Doch in seiner Abgrenzung vom Kontraktualismus fällt Tugendhat hinter seine eigene Kritik an Kantischen „Verstiegenheiten" zurück. Im Sinne einer konstruktiven Lösung geht es also darum, die Möglichkeit einer Absage an den Kontraktualismus aufzuzeigen, die ohne alle Anleihen bei einem unbedingten Sollen, das in einem „absoluten" Vernunftbegriff verankert ist, auskommt. Um die Integration von Tugenden in Form affektiver Haltungen wirklich zu leisten, muß eine ethische Theorie auf einer Konzeption des Guten in Form einer Minimaltheorie des guten Lebens aufbauen. Im letzten Abschnitt der Arbeit werde ich eine solche Ethik in Umrissen darlegen und argumentieren, daß sie strukturell all jene Merkmale und Bedingungen erfüllt, um auch als eine feministische Ethik gelten zu können. Zunächst versuche ich zu zeigen, daß eine solche Ethik-Konzeption mit einem Rationalitätsbegriff vereinbar ist, der Rationalität als Zweckverfolgung definiert. 57 Symptomatisch ist die folgende Stelle: „Das Begründetsein, das in den traditionalistischen Moralkonzepten beschränkt war, kann nicht in der Weise entschränkt werden, daß es noch einmal von etwas anderem abgeleitet würde oder daß, wie bei Kant, die moralischen Urteile unmittelbar aus ,der' Vernunft abgeleitet würden, sondern nur so, daß das Gutsein die soziale Identität nicht mehr nur einer bestimmten Gemeinschaft, sondern aller kooperationsfähigen Wesen ausmachen kann. Nur so kann die Rede von ,gut' einen allgemeingültigen Sinn gewinnen." Ebda., S. 78. Gemessen an diesen Ausführungen scheint Forsts Kritik naheliegend.
13
Die Moral universeller Achtung als eine Ethik des Guten
13.1
Moralische Gründe und Ziele: Der vermeintliche Gegensatz von Vernunft und Rationalität
Prämisse und Ausgangspunkt des rational-individualistischen oder kontraktualistischen Moralverständnisses ist die Idee, daß es im aufgeklärten Eigeninteresse liegt, sich den moralischen Regeln zu unterwerfen. Auf die Schwierigkeiten dieses Ansatzes, der nur in einem idealisierten System gleicher Kräfteverhältnisse zwischen Individuen funktionieren kann, wurde im Verlauf dieser Arbeit mehrfach hingewiesen; erinnert sei nur an die Grenze, auf welche das Modell bei der Berücksichtigung von behinderten Menschen, Kleinkindern und Tieren stößt.1 Im Fall gefestigter asymmetrischer Machtverhältnisse - und diese sind für eine Vielzahl unserer Beziehungen im konkreten Leben charakteristisch - liefert der Kontraktualismus keinerlei Basis für moralisches Handeln. Die universalistischen Ansätze gehen demgegenüber davon aus, daß die Moral nicht ablösbar ist von der Idee der fairen Berücksichtigung der Interessen und des Standpunkts aller Betroffenen. Jene Normen oder Regeln gelten als moralisch begründet, welche aus der Perspektive eines unparteilichen, neutralen und überpersönlichen Standpunkts die Zustimmung aller finden können. Die Überzeugungskraft dieser Modelle wird meist durch eine Berufung auf Vernunft zu untermauern versucht, wobei an einen der individualistischen Rationalität angeblich überlegenen Begriff „universeller praktischer Rationalität" appelliert wird.2 Fragt
1 Vgl. etwa die Ausführungen im Zusammenhang mit Mackies Ethik (Abschnitt 11.6.4). 2 Vgl. etwa Koller (1983), S. 297ff. Bei Rawls manifestiert sich dies in seiner Unterscheidung von Rationalität und Vernunft. Siehe bes. Rawls (1992c). „Rationalität" definiert Rawls in dieser Arbeit als „Ausdruck einer Konzeption des rationalen Vorteils der einzelnen Teilnehmer, dessen, was sie als Individuen zu erreichen trachten" (S. 98), während er „Vernunft", in expliziter Anspielung auf Kants Begriff der reinen praktischen Vernunft, als die Menge der durch die Gerechtigkeitsgrundsätze vorgegebenen Einschränkungen versteht. Umgelegt von einer Gerechtigkeitstheorie auf Moral bedeutet dies: Vernunft wird durch die Menge der Grundsätze der Moral repräsentiert. Siehe Rawls (1992c), S. 103. Ein anderes Beispiel dieser Differenzierung von zwei Rationalitätskonzeptionen findet sich in Habermas' Gegenüberstellung von instrumenteller und kommunikativer Rationalität. „Instrumentelle Rationalität" bezieht sich auf Zweckrationalität; den Begriff der „kommunikativen Rationalität" bestimmt Habermas über die Angabe der Bedingungen für ein kommunikativ zu erzielendes Einverständnis:,.Dieser Begriff kommunikativer Rationalität führt Konnotationen mit sich, die letztlich zurückgehen auf die zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunächst nur subjektiven Auffassungen überwinden . . . " Habermas (1981), S. 28. (Kursivsetzung im Original). Dies bedeutet, daß in der Dimension der praktischen Philosophie ,.kommunikative Rationalität" schon in Anlehnung an die grundlegenden Argumentationsbedingungen des praktischen Diskurses, die den Kern der Diskursethik bilden, definiert wird.
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Moral universeller
Achtung als eine Ethik des Guten
man genauer nach, was unter dieser Art von Rationalität zu verstehen ist, so entpuppt sie sich jedoch als nichts anderes denn eine Reformulierung des universalistisch definierten moralischen Standpunkts.3 Die für die Moral unverzichtbar scheinenden Bedingungen werden einfach in eine Rationalitätskonzeption gepackt, der dann eine besondere Dignität zugesprochen wird. Ein solcher Vernunftbegriff bringt aber begründungstheoretisch nichts; es handelt sich lediglich um eine Neuausgabe des von Tugendhat so überzeugend kritisierten Versuchs von Kant, die Moral definitorisch in der Vernunft zu verankern, ohne daß dieser Begriff für sich genommen einen klaren Sinn hätte.4 Damit will ich mich selbstredend nicht gegen einen universalistischen Moralansatz aussprechen. Moral ist nicht zu trennen von der Rücksichtnahme auf die Interessen, aber auch die Bedürfnisse und das Wohlergehen aller. Allerdings darf eine universalistische Moraltheorie nicht eine zur letzten Größe stilisierte und von allen individuellen Interessen abgelöste Idee der Vernunft voraussetzen, sondern muß mit einem auf Zwecke und Ziele bezogenen Rationalitätsbegriff vereinbar bleiben. Es gilt also, einen Mittelweg zwischen einem an den Begriff des absoluten Vernunftsollens geknüpften Universalismus einerseits und einem rational-individualistischen Ansatz des aufgeklärten Egoismus andererseits zu finden. Da das moralische Sollen in einem unbedingten Sinn in der Tat in der Luft hängt, muß es in einen Rahmen von Zielorientierungen und Zwecken eingebettet werden. Das Konzept einer rationalen Begründung moralischer Forderungen und Normen ist so betrachtet nicht abzulösen von dem Anführen von Gründen, die auf moralisches Handeln als notwendige Bedingung der Verfolgung bestimmter Zwecksetzungen, etwa der eines humanen und gerechten Zusammenlebens, verweisen. Aus dieser Sicht, und das ist das Resultat eines Verzichts auf den Begriff absoluter Vernunft, lassen sich moralische Normen aber nicht mehr als kategorische, sondern nur als hypothetische Imperative begreifen. Dies bedeutet nicht, deren Verbindlichkeit zu relativieren - aber das Gesamtsystem der Moral bleibt bezogen auf eine Ziel Vorstellung.
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Neben den in der vorhergehenden Anmerkung zitierten Textpassagen von Rawls und Habermas, welche diese Identifikation von Vernunft bzw. kommunikativer Rationalität mit den Bedingungen der Moral unterstreichen, wird dies auch in den folgenden Ausführungen von Peter Koller ganz deutlich: „Es ist hier nicht der Platz, um die verschiedenen Vorstellungen, die der Idee einer universellen praktischen Rationalität Ausdruck verleihen (Koller erwähnt hier u. a. den kategorischen Imperativ, den unparteilichen Beobachter, Rawls' Urzustand mit dem Schleier der Unwissenheit, Anm. H. P.-St.), im einzelnen zu untersuchen und sie unter Berücksichtigung der Ergebnisse, die sie generieren, auf ihre Plausibilität hin zu vergleichen. Ich möchte aber die These vertreten, daß alle diese Vorstellungen verschiedene Annäherungen an unser intuitives Verständnis des moralischen Standpunkts, der geläufigsten Erscheinungsform universeller praktischer Rationalität, darstellen, und daß jede angemessene Konzeption der intersubjektiv rationalen Begründung moralischer Grundsätze irgendeiner Vorstellung bedarf, die dem Konzept universeller praktischer Rationalität Rechnung trägt." Koller (1983), S. 299.
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Man könnte, unter Verzicht auf den Begründungsanspruch, dennoch versucht sein, an der Trennung von Rationalität und Vernunft mit dem Argument festzuhalten, daß sich Rationalität eben auf zweckrationale Klugheitserwägungen beschränkt und Ethik definitorisch mit praktischer Vernunft verknüpft ist, die mit Rationalität in diesem Sinne nichts zu tun hat. Gegen diese Möglichkeit wendet Julian Nida-Rümelin ein, daß sie mit der „Vorstellung von der Einheitlichkeit einer Person" in Konflikt gerät: „Wer eine bestimmte Handlung vollzieht und meint, daß sie rational sei, der wird diese Handlung auch gegenüber jedermann zu verteidigen suchen. Mit anderen Worten: Er beansprucht, diese Handlung sei vernünftig. Vice versa: Wer einen bestimmten Typus von Verhalten für gesellschaftlich untragbar hält, ihn jedoch zugleich aus Gründen der Rationalität praktiziert, der erscheint uns als eine .gespaltene' Persönlichkeit." Nida-Rümelin (1993), S. 162.
Der vermeintliche
Gegensatz
von Vernunft und
Rationalität
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Nun würden nicht wenige Philosophinnen und Philosophen die Voraussetzung eines an Zweck-Mittel-Überlegungen gebundenen Rationalitätsbegriffs zweifellos bereits als weitgehendes Zugeständnis an einen individualistischen Moralansatz werten. Die starke Reserviertheit gegenüber einer „hypothetischen Rationalitätskonzeption"5 auf Seiten der Vertreter einer universalistischen Moral basiert ja nicht auf einer bloßen Anhänglichkeit den philosophischen Größen der Vergangenheit gegenüber, sondern erklärt sich daraus, daß die gängigen Rückgriffe auf diesen Rationalitätsbegriff normativ-ethisch gesehen meist in einen aufgeklärten Egoismus münden. Da die im Rahmen von Rationalitätsüberlegungen relevanten Gründe trivialerweise immer auf die individuellen Zwecksetzungen von Personen bezogen sind, scheint von daher die Verbindung mit einem rational-individualistischen Moralverständnis gleichsam vorgegeben. Aus dieser Perspektive präsentiert sich das Problem der Moralbegründung wie erwähnt folgendermaßen: Will ich, daß Verträge und Abmachungen eingehalten werden, und habe ich das Ziel, von anderen Personen nicht hintergangen, belogen, oder verletzt zu werden, dann ist es vernünftig, also rational im Sinne meines Eigeninteresses, sich dem System moralischer Normen zu unterwerfen. So betrachtet scheint ein egoistischer Zugang zur Moral die unvermeidbare Konsequenz, will man nicht länger an einem unplausiblen Vernunftkonzept festhalten. Doch genau diese Folgerung scheint mir nicht zwingend. Das für eine bestimmte Person als vernünftig geltende Handeln ist zweifellos von den Zielen dieser Person nicht abzukoppeln - alles andere würde dem allgemein einleuchtenden Rationalitätsverständnis widersprechen. Vernünftig ist eine Person, wenn sie ihr System von Präferenzen oder Zielen in eine konsistente Ordnung bringt und jene Mittel wählt, die notwendig sind, um ihre Ziele zu realisieren.6 Doch jene, für die sich deswegen im moraltheoretischen Kontext ein aufgeklärter Egoismus zwingend nahelegt, übersehen, daß die von einer Person gesetzten Ziele zwar immer ihre individuellen Ziele sind, aber dies nicht notwendig bedeutet, daß diese Ziele ausschließlich auf den individuellen Vorteil und optimalen Nutzen dieser Person zentriert sein müssen. „Individuell" hat in diesem Kontext den trivialen Sinn, daß es sich eben um die Ziele einer spezifischen Person handelt. Damit ist noch nichts über deren Gehalt und Ausrichtung gesagt. Ein hypothetischer Rationalitätsbegriff verlangt nur, „Vernunft" und „vernünftiges Handeln" auf die Relation zwischen Gründen und Zwecken zu beziehen. Aber daraus folgt nicht, daß die hier ins Spiel kommenden Zwecke einer Person auf der inhaltlichen Ebene egoistisch sein müssen und jede Berücksichtigung der Interessen, Bedürfnisse und des Wohlergehens anderer ausgeschlossen bleibt.
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Ich verwende im folgenden diesen Terminus für die Bezeichnung einer an Zweck-Mittel-Überlegungen gebundenen Rationalitätskonzeption, um die mißverständlichen Assoziationen, die etwa die Verwendung des Begriffs „instrumentelle Rationalität" auslösen würde, zu vermeiden. Dieser Begriff der Rationalität wird auch in der Entscheidungstheorie vorausgesetzt. Die Bedingungen für Rationalität sind Vollständigkeit und Transitivität. Die erste Bedingung sichert, daß von zwei möglichen Zielen oder Ergebnissen, A und B, eine Person P entweder A dem Ziel B vorzieht oder B dem Ergebnis A vorzieht. Die zweite Bedingung, Transitivität, fordert, daß im Fall von drei Zielen, nämlich A, B, C und der Voraussetzung, daß P in ihrer Präferenzordnung A vor B und B vor C reiht, P auch A gegenüber C vorzieht. Vgl. Binmore (1992), S. 95. Streng genommen ist nur die Transitivitätsklausel ein Rationalitätserfordernis, da die Vollständigkeit nur sicherstellt, daß das Individuum eine Präferenz zwischen zwei Ergebnissen ausdrückt. Zum Begriff der Rationalität vgl. auch Nida-Rümelin (1993), S. 37ff.
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Moral universeller Achtung als eine Ethik des Guten
Es gibt einen feinen Unterschied zwischen „meinem Interesse", das als ausschließlich auf „mein Optimum" gerichtet verstanden wird, und „meinem Interesse", wo „meines" nur besagt, daß eben ich dieses Interesse und entsprechende Gründe zum Handeln habe. Setzt man bei der letzteren Bedeutung an - und nur diese wird von einem hypothetischen Rationalitätsbegriff vorausgesetzt, so schließt nichts aus, daß ein Interesse, das meines ist, sich auf einen Zweck richtet, der sich nicht auf meine persönliche Vorteilsmaximierung beschränkt, sondern das Wohlergehen anderer einbezieht. Mit anderen Worten: „Es liegt in meinem Interesse" ist mehrdeutig. Es kann zum einen bedeuten, daß etwas nur zu meinem persönlichen Vorteil ist, und zum anderen, daß etwas zwar mein Interesse ist, dieses sich aber auch auf etwas Überindividuelles wie die Bedürfnisse und Lebensumstände anderer richten kann. 7 Genau der Aspekt der Berücksichtigung der anderen wird im Zusammenhang mit Moral entscheidend. Vor der Instanz des moralischen Standpunkts vermögen nur jene individuellen Ziele und damit zusammenhängenden Handlungsgründe als legitim zu gelten, die sich nicht ausschließlich auf die persönliche Nutzenverfolgung reduzieren. Dies markiert den entscheidenden Unterschied zwischen dem individualistischen und dem universalistischen Moralzugang: Der aufgeklärte Egoist berücksichtigt andere nur, wenn es sich als zweckmäßig und unumgänglich auf dem Weg zu seinem Vorteilsmaximum erweist. Moral hingegen hat mit der Einbeziehung aller anderen zu tun, weil deren Wohlergehen für sich genommen zählt, und dem trägt nur ein universalistischer Ansatz Rechnung. Die Differenz zwischen den beiden Modellen liegt also in einer unterschiedlichen Orientierung und nicht darin, daß sie von zwei andersartigen Rationalitätskonzeptionen ausgehen, denn es gibt eben nur einen Begriff von Rationalität, der Sinn macht. Doch selbst wenn beiden Ansätzen ein gemeinsames Verständnis vernünftigen Handelns zugrundeliegt - die Wahl der geeigneten Mittel für die Realisierung bestimmter Zwecksetzungen und Konsistenz der Präferenzen - , läßt sich ihre Unvereinbarkeit klar formulieren. Die Verschiedenheit artikuliert sich, ganz unabhängig von einem an die Zielorientierungen des Individuums gebundenen Rationalitätsbegriff, in der Art der jeweils zugelassenen Zwecke und Gründe. Die Abgrenzung der universalistischen Ansätze vom Kontraktualismus manifestiert sich in der Festlegung, daß im Kontext der Moral die individuellen Gründe zum Handeln nicht aus einem egoistischen Interessenkalkül resultieren dürfen, sondern auf die Perspektive der Berücksichtigung anderer bezogen sein müssen. Die Funktion des moralischen Standpunkts läßt sich so ohne alle problematischen „metaphysischen" Konnotierungen definieren als eine Art Auswahlverfahren innerhalb der Menge potentieller individueller Handlungsgründe und Ziele. Die maßgeblichen Kriterien, welche die zulässigen Gründe und Ziele herausfiltern, sind die der Überpersönlichkeit und Unparteilichkeit. Der Gegensatz zwischen den beiden Konzeptionen, dem individualistischen Kontraktualismus und dem Universalismus, konkretisiert sich nicht zuletzt in dem sozialen Hintergrundszenario, das sich in den jeweiligen Zielvorstellungen reflektiert, und dem der Moral darin zugewiesenen Platz: einmal der nüchtern-kühle Kosmos selbstzentrierter Strategen, die sich in einem Kräftegleichgewicht auf die Einhaltung moralischer Regeln einigen, da sie in der Moral ein probates Mittel für eine optimale Realisierung ihrer egoistischen Präferenzen erblicken; auf der anderen Seite eine Welt, in der uns das Schicksal anderer, auch jener, die schwächer sind und in einer asymmetrischen Beziehung zu uns stehen, nicht gleichgültig ist 7
Vgl. dazu die Analyse des Begriffs der „Anderinteressen" in Pfordten v. d. (1996), S. 203-217.
Der vermeintliche Gegensatz von Vernunft und Rationalität
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und ihre Bedürfnisse und Lebens Situationen auch aus dem Grund Beachtung finden, weil wir daran ein Interesse haben. Die Idee einer absoluten praktischen Vernunft ist ein philosophischer Mythos, erfunden, gehegt und gepflegt, um dem Rationalitätsanspruch des moralischen Egoismus gewappneter entgegentreten zu können. Doch die Projektion der eminent wichtigen und für die Moral in der Tat konstitutiven Idee universeller Rücksichtnahme auf Rationalität führt zu nichts als deren normativer Überfrachtung. 8 Die Vertreter universalistischer Ansätze gleiten in ihren Begründungsambitionen leicht in stereotype Berufungen auf die praktische Vernunft ab, ohne zu bedenken, daß ein Vernunftbegriff, der eine universalistische Moralkonzeption schon per definitionem in sich schließt, begründungstheoretisch außer Zirkularität nichts einbringt. Mit der Konzentration auf den Rationalitätsbegriff verlagert sich die Kontroverse zwischen individualistischen und universalistischen Moralansätzen auf eine falsche Ebene. Der Egoist, also der seinen Vorteil optimierende Rationalist, kann so immer replizieren, daß es ihm nicht einleuchten mag, warum es unvernünftig sein soll, sich auf die Verfolgung des für ihn optimalen Ergebnisses zu konzentrieren, da er schlicht dieses und nichts anderes will. So gesehen hat der hartgesottene Egoismus scheinbar die besseren Argumente für sich, einfach deswegen, weil es für sich genommen nicht irrational ist, die Perspektive anderer nicht zu berücksichtigen oder nur dann zu berücksichtigen, wenn es aus Optimalitätsstrategien unvermeidlich ist, sondern weil es unserem Verständnis von Moral widerspricht, wenn man dies unterläßt. Zur Diskussion steht nicht die Rationalität oder Irrationalität des aufgeklärten Egoismus, sondern die Frage seiner Verträglichkeit mit der Moral. Die Ausrichtung am größtmöglichen Nutzen und Vorteil ist in zahlreichen Lebenssituationen nicht weiter problematisch und sogar sinnvoll - etwa wenn eine Sportlerin die Einzelheiten eines Trainingsprogramms gemessen an der größtmöglichen Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit festlegt. Nicht so im Kontext der Moral: Eine Fixierung auf den persönlichen Vorteil konterkariert die für Moral konstitutiven Bedingungen. Egoistische Moralzugänge klammern den Blick auf das Wohl der Mitmenschen aus, doch nichts schreibt vor, daß dies in Verbindung mit einem an Zielsetzungen geknüpften Rationalitätsbegriff notwendig ist. 9 Sinnvoll ist der Verzicht auf die Vorstellung einer von dem zweckbezogenen Rationalitätsverständnis trennbaren Vernunftkonzeption, aber dies allein 8
Der Vorwurf der „normativen Überfrachtung" läßt sich umgekehrt auch gegen die rational-individualistischen Ansätze erheben, da sie eben „Rationalität" schon so definieren, daß daraus ein aufgeklärter Egoismus folgt. 9 Der in der Entscheidungstheorie vorausgesetzte Rationalitätsbegriff verlangt dies keineswegs. Der Inhalt der Präferenzen ist offen; aus den Rationalitätspostulaten folgt nicht, daß die Präferenzen auf die Verfolgung des subjektiven Vorteils eingeengt sind. Die Assoziation mit der individuellen Optimierung erklärt sich zum Teil aus der Herkunft dieses Rationalitätsbegriffs aus der Ökonomie, wo es naheliegt, den egoistischen Nutzenmaximierer als das Paradigma des rationalen Subjekts zu betrachten. Sehr deutlich zu diesem Punkt hat sich Amartya K. Sen geäußert: "(B)ut it will be a mistake to assume that preferences as they actually are do not involve any concern for others . . . The insular economic man pursuing his self-interest may represent an assumption that pervades much of traditional economics, but it is not a particularly useful model for understanding problems of social choice." Sen (1970), S. 6. Eine vom Optimierungsmodell abgelöste Rationalitätskonzeption vertritt auch NidaRümelin. Vgl. seine Ausführungen zum Begriff der „strukturellen Rationalität" in Nida-Rümelin (1993), bes. S. 166-170 und S. 178-186. Zur Funktion und den Grenzen der hypothetischen Annahme, daß Menschen egoistische Nutzenmaximierer sind, im Bereich der Ökonomie vgl. Milgrom/Roberts (1992), S. 42ff.
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Moral universeller
Achtung als eine Ethik des Guten
liefert kein triftiges Argument für einen aufgeklärten Egoismus. Das Kurzschließen von Interessen und Egoismus ist vielleicht eine Art philosophischer Automatismus, aber sicher nicht unumgänglich, wie auch Philippa Foots diesbezüglicher Kommentar unterstreicht: "Can we explain how men do have reasons for acting morally if we confine ourselves to reasons based on interests and desires? It seems that we can do so, and that without placing too much emphasis on self-interested reasons for doing what ought to be done . . . A moral man must be ready to go against his interests in the particular case, and if he has reason to act morally the reason will lie rather in what he wants than in what is to his advantage."10 Aus seiner eindimensionalen Sicht der „rationalen Handlungsgründe" erklärt sich, warum der moralische Egoismus seine größte Schwierigkeit, das Trittbrettfahrer-Problem, letztlich nicht lösen kann. Wenn rationale Erwägungen per definitionem an eigeninteressierte Zielsetzungen gebunden werden, dann ist es im Sinne der Rationalität geradezu geboten, den Forderungen der Moral auszuweichen, wenn dies ohne Gefährdung des Gesamtsystems der Moral möglich ist. Unterwerfe ich mich der Moral nur aus egoistischen Vorteilsgründen, bin ich immer wieder versucht, gegen die Regeln der Moral zu verstoßen, solange mir die anderen nicht gänzlich das Vertrauen entziehen - und dahinter steht keine Ich-Schwäche, sondern ein Rationalitätspostulat! Mackies „Pokerer" ist das „moralische Subjekt" des rationalen Individualismus. Beim universalistischen Ansatz ist diese Gefahr nicht gegeben; durch die Rücksichtnahme auf die Interessen und Bedürfnisse aller gleichermaßen verbietet sich jeder Sonderstatus für das Selbst. Der rational-individualistische und der universalistische Ansatz unterscheiden sich nicht dahingehend, daß der erstere eine Interessenmoral ist und der andere nicht. Beide sind Varianten einer Interessenmoral, beide setzen bei Interessen an - wenngleich bei einer andersartigen Perspektive auf Interessen und die sich daraus ableitenden Gründe zum Handeln. Die Interessengebundenheit der Moral ist schon aus dem Grund nicht hinterfragbar, weil das Ansinnen, wie Tugendhat richtig bemerkt, „daß wir eine Moral ins Auge fassen sollten, die nicht den Menschen zugute kommt, . . . als eine eigentümliche Einstellung (erschiene)".11 Daß die Interessen der Menschen auch den Ausgangspunkt der universalistischen Moral bilden, ist so wichtig zu betonen, weil damit dem beliebtesten Argument für die Vorzugswürdigkeit des rationalen Individualismus der Boden entzogen wird. Die Kontraktualisten nehmen ja immer wieder in Anspruch, im Gegensatz zu den „metaphysikverdächtigen" Konstruktionen der Universalisten ihre Form der Moralbegründung auf einer gleichsam empirischen Ebene anzusiedeln. Nichts anderes tut ein an Interessen und Bedürfnisse geknüpfter Universalismus. In einem Punkt, und das ist nicht ohne Ironie, geht der moralische Egoismus von einer der Empirie ungleich ferneren Annahme aus als die hier vertretene Version eines universalistischen Ansatzes: gemeint ist seine gleichsam axiomatische Voraussetzung, daß alle Neigungen, alles, was Menschen de facto an konkreten materialen Zielen wollen und verfolgen, nur ihr eigener Vorteil ist. Genau dies scheint eine abwegige These, und der individualistische Moralansatz zahlt einen hohen Preis für diesen Irrtum - das Phänomen der Moral bleibt für ihn ein fremder Kontinent.
10 Foot (1972b), S. 154 (Kursivsetzung von mir eingefügt). 11 Tugendhat (1993), S. 319.
Der vermeintliche
Gegensatz von Vernunft und
Rationalität
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Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen läßt sich Tugendhats schon angesprochenes ambivalentes Verhältnis zum Kontraktualismus nun präzisieren. Tugendhat gesteht dem Kontraktualismus zu, eine „korrekte Begründung" für die Moral darzustellen, gleichzeitig spricht er ihm ab, ein Moralkonzept zu sein. Dies läuft auf eine Art „Halbierung" des Kontraktualismus hinaus: Auf der Ebene der motivationalen Begründung liefert das Selbstinteresse einen legitimen und starken Grund für die Moral; auf der Ebene der Explikation eines Moralprinzips und der korrespondierenden Festiegung moralischer Normen darf es keine Rolle spielen. Aber dies ist schwer nachvollziehbar. Wenn man sich gegenüber dem System der Moral insgesamt eigeninteressiert-instrumentell verhalten darf, warum nicht auch gegenüber den einzelnen Regeln und Forderungen? Aus der Perspektive des Egoisten gibt es keinerlei Grund, die Orientierung am Eigeninteresse aufzugeben. Tugendhats Dilemma ist demnach folgendes: Einerseits lehnt er den Kontraktualismus genau wegen der Ausklammerung der Berücksichtigung anderer ab: „(N)atürlich ist nicht der eigene Nutzen die Perspektive des sich moralisch Verstehenden."12 Umgekehrt sieht er die Attraktivität des zugrundeliegenden Begründungsbegriffs, der vor allem mit dem Motivationsproblem der Moral keine Probleme hat; einer der stärksten Gründe für ein „Ich will", das Tugendhat ja als unabdingbare Voraussetzung eines sinnvollen Begriffs des Sollens erachtet, liegt selbstredend in dem Nachweis der Interessengebundenheit. Tugendhats Zurückweisung des Kontraktualismus - dieser kenne nur ein „gut für" - ist, wie erwähnt, unverträglich mit seiner Distanzierung von der Kantischen Konzeption des Sollens und seiner eigenen Prämisse, daß Moral gut für die Menschen zu sein hat. Tugendhat kann dem Kontraktualismus nicht vorwerfen, daß er nur ein „gut für" kenne, er kann nur angreifen, daß der Kontraktualist dieses „gut" auf eine unzulässige Weise, nämlich nur im Horizont seines eigenen Vorteils versteht. Der Ausweg liegt in der Bezugnahme auf eine im gemeinsamen Interesse aller liegende Zielvorstellung. Der aufgeklärte Egoismus ist, ohne den Interessenbezug des Sollens zu unterlaufen, auch dann konsequent verbannt, wenn das moralische Sollen an jene Gründe, sprich Interessen, gebunden ist, die vor dem Richterinnenstuhl einer überpersönlichen und unparteilichen Perspektive zu bestehen vermögen. Moral und moralische Gründe müssen dem Aspekt der universellen Rücksichtnahme Rechnung tragen. Das Gute im Sinne des allgemeinen Wohlergehens bildet letztlich jenen Bezugspunkt, auf den sich das moralische Interesse richtet. Tugendhat vernachlässigt den Begriff des guten Lebens, und genau dies ist der Grund, warum seine Version einer Moral der universellen Achtung noch zu sehr Kant verhaftet bleibt. Sein Begriff moralischer Verpflichtung bewegt sich, trotz der Relativierung durch das plausible Moralkonzept, noch zu sehr im Rahmen eines unbedingten Sollens oder Gutseins.13 Erst wenn Tugendhat die moralische Achtung für andere, ausgedrückt in der Formel, andere als „Zwecke, nicht bloß als Mittel" zu behandeln, auf eine Ethik des guten Lebens hin erwei12 Ebda. 13 Wir haben bei der Kritik von Tugendhats Ansatz (vgl. Abschnitt 12.1) argumentiert, daß die Relativierung des absoluten Sollens auch im Rahmen des plausiblen Moralkonzepts erreichbar ist. Doch ein weitergehender Schritt ist hier notwendig. Denn selbst bei Tugendhats Lesart entspricht das Berufen auf das Moralprinzip des kategorischen Imperativs einem unbedingten Sollen, wenn nicht gezeigt werden kann, wofür Moral gut ist und sich der Verpflichtungscharakter moralischer Forderungen hypothetisch daraus herleitet.
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Moral universeller Achtung als eine Ethik des Guten
tert, gelingt ihm die intendierte Verabschiedung von den „verstiegenen" Konstruktionen der Kantischen Moralphilosophie. Warum hat Tugendhat diese Lösung nicht vorgeschlagen? Warum konzentriert er seine Kontraktualismus-Kritik nicht auf die Art der Zielsetzung und operiert wieder mit Kantischen Begrifflichkeiten, denen er selbst die Berechtigung abspricht? Ich vermute den Grund darin, daß der Bezug zum allgemeinen Wohl bei Tugendhat, und nicht nur bei ihm, reflexhafte Assoziationen mit dem Utilitarismus auslöst. Dies wird klar, wenn man sich Tugendhats Hume-Interpretation vor Augen hält. Hume benennt als den Grund für die Einführung der künstlichen Tugenden - der Normen des Rechts und der Gerechtigkeit, und die moralische Billigung der natürlichen Tugenden - immer wieder deren „Nützlichkeit" für die Gesellschaft. Was Hume hier nach meinem Dafürhalten meint, ist, daß die Moral das allgemeine Wohlergehen sichern hilft. In einer Gesellschaft, in welcher der Moral eine Funktion in der Strukturierung und Gestaltung sozialer Beziehungen zukommt, ergeht es den Mitgliedern besser als in einer Gesellschaft ohne die Moral. Tugendhat hingegen liest Hume, nicht zuletzt wegen dieses Verweises auf die Nützlichkeit, als Utilitaristen. Doch Hume vertritt keinen Utilitarismus.14 Mit dem bloßen Anspielen auf den „Nutzen" moralischer Regeln im Sinne ihres Gutseins für die Gesellschaft und für das Gemeinwohl unterschreibt man nicht bereits den Utilitarismus. Wenn die Moral nicht zu ihrem Guten wäre, dann gäbe es wahrlich keinen Grund für die Menschen, sich zu Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft zu machen. Doch die Anerkennung dieses Faktums ist zu differenzieren von einem Bekenntnis zum Utilitarismus. Für den Utilitarismus konstitutiv ist ein Prinzip der Nutzenmaximierung, und diese Konzentration auf die Gesamtnutzenerhöhung als Richtschnur moralischen Handelns mit all den bekannten Problemen geht weit hinaus über die Idee, daß die Moral einen Bezug zum allgemeinen Wohlergehen oder Guten haben sollte. Eine universalistische Moralkonzeption, die sich vom aufgeklärten Egoismus und vom Utilitarismus abgrenzt, identifiziert das Gute weder mit der subjektiven Vorteilsmaximierung noch der Gesamtnutzensteigerung, wenngleich sie die Verbindung mit einer Theorie des Guten als unabdingbar für Moral erachten muß. Dieser Begriff des Guten ist, so denke ich, in Richtung einer Minimalkonzeption des Guten zu verstehen, welche die notwendigen Bedingungen und Voraussetzungen eines guten und gelingenden Lebens umfaßt. Das Herzstück einer Moral der universellen Achtung und Anerkennung bildet die Idee der fairen Berücksichtigung der Bedürfnisse, Interessen, partikularen Situierungen, aber auch Verletzlichkeiten aller im Sinne ihrer Anerkennung als Gleiche.15 Will diese Moralkonzeption wirklich frei von allen Entrücktheiten und Abgehobenheiten eines „formalen Universalismus" sein, muß
14 Hume stellt zwar den Bezug der Moral zum allgemeinen Wohlergehen (public good) her und spricht in dem Sinn etwa von der,.Nützlichkeit" der künstlichen Tugenden, er anerkennt aber kein Nutzenmaximierungskriterium im engeren Sinn. Vgl. dazu Gräfrath (1991), S. 49-53; Baier (1991), S. 250f. 15 Diese Bedingung ist vereinbar mit dem Offensein für Differenzen und Besonderheiten der Situierung, denn die Anerkennung als Gleiche bedeutet nicht, alle gleich zu behandeln-, aufgrund der kontextuellen Bedingungen kann die Anerkennung als Gleiche sogar eine Ungleichbehandlung im Sinne einer unterschiedlichen GUterzuteilung rechtfertigen. Vgl. Dworkin (1984), S. 370ff. und (1985), S. 190ff. „Universalismus" ist also vereinbar mit „Partikularismus", sofern mit letzterem die Berücksichtigung spezifischer Umstände gemeint ist.
Die Rückholung des „guten Lebens"
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sie einen für die Lebensqualität der Menschen maßgeblichen materialen Bezugspunkt beinhalten, und was liegt näher, als diesen darin zu sehen, daß die Moral die Bedingungen der Möglichkeiten für ein gutes Leben formuliert und normativ absichert. Anders gesagt: Eine Moral der universellen Achtung sollte eine „Ethik des Guten" sein, denn nur diese Erweiterung auf den Begriff des „guten Lebens" ermöglicht letztendlich auch die verpflichtungsmäßig abgedeckte Anbindung des Affektiven und der Werte von Anteilnahme, Fürsorglichkeit und Solidarität. Die hier vertretene Konzeption verschiebt in gewisser Weise das Moment der Plausibilität auf die Zielvorstellung. Tugendhat bezeichnet sein grundlegendes moralisches Prinzip universeller Achtung oder Anerkennung als „unmittelbar einleuchtend". Doch zur Abrundung der Begründungsfrage ist der Verweis auf den übergeordneten Aspekt wichtig: Andere Menschen als Personen zu achten und anzuerkennen hat einen so zentralen normativen Stellenwert, da es eine grundlegende Voraussetzung für menschliches Wohlergehen darstellt. Dies bringt eine relativ unproblematische Berufung auf Einsicht ins Spiel, denn daß die Moral dem Wohlergehen der Menschen dienen sollte, dürfte als allgemein akzeptierbare Common rense-Prämisse wohl keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen. 16
13.2
Die Rückholung des „guten Lebens"
In der modernen Moralphilosophie ist die Tendenz zu einer Vernachlässigung des Begriffs des Guten unübersehbar. Die Skepsis zahlreicher Theoretikerinnen gegenüber dieser moraltheoretischen Kategorie rührt daher, daß sie hinter jedem Rückgriff auf „das Gute" einen Rückfall in vormodernes Denken vermuten. Wenn überhaupt, dann läßt sich das Gute für sie nur noch über jene Verfahrensregeln bestimmen, welche den Begriff des Rechten ausmachen. 17 Diese Philosophen übersehen aber den Unterschied zwischen einer minimalen und einer umfassenden Theorie des Guten. Sie unterstellen, daß die Voraussetzung einer Theorie des Guten die Wertvorstellungen und Ideen des Guten der Individuen unweigerlich in einer Form normiert, die sich auf einen nicht tolerierbaren Freiheitsverlust beläuft. Das Gute im Rahmen einer aus liberaler Perspektive akzeptablen Moraltheorie bezieht sich jedoch auf eine Minimalvariante des Guten in Form unverzichtbarer Werte. Zweifellos ist richtig, daß jede Festlegung des Guten die Gefahr einer zu weitgehenden Normierung individueller Konzeptionen des guten Lebens in sich trägt, aber virulent wird dieses negative Potential erst, wenn die Theorie des Guten im Sinn umfassender Wertvorgaben und als definitiv verstanden wird. Dem läßt sich entgehen, wenn man sie zum einen auf einen schmalen Kernbereich des moralisch Guten einengt und des weiteren die Bestimmungen des Guten der Revision und Kritik unterwirft. Auch eine schwache Theorie des Guten sollte um nichts weniger der Überprüfung ausgesetzt bleiben als die Theorie des Rechten. 16 Es wäre nicht angemessen, an diesem Punkt den notorischen Intuitionismus-Vorwurf zu bemühen. Problematisch ist der Intuitionismus in Form einer jede Art kritischer Überprüfung ablehnenden fundamentalistischen Berufung auf unreflektierte moralische Reaktionen. Aber keine Variante intellektueller Begründungstätigkeit - denken wir an mathematische Beweise oder logische Ableitungen - kommt ohne ein Moment der Einsicht aus. 17 Vgl. etwa Wellmer (1993b), S. 184-187.
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Freilich läßt sich fragen, wie die Unterscheidung von Kern- und Randbereich zu ziehen und der engere Rahmen abzugrenzen ist und wie begründet werden kann, daß etwas einen moralischen Wert darstellt. Will man keine fundamentalistische Position der Wertbegründung, sondern eine offene, der Möglichkeit moralischer Veränderungen zugängliche Position vertreten, dann bleibt nur eine Version der Kohärenzrechtfertigung: Bestimmte Werte sind notwendig und unverzichtbar für eine Form des Zusammenlebens, die uns akzeptabel erscheint, und diese gelten als moralisch. In Rawls' Begriffen heißt dies: Man muß die Konzeption des Überlegungsgleichgewichts auch a u f w e r t e anwenden. 18 Kants Konzept des Guten erschöpft sich in der Achtung für das oberste Prinzip der Moral, er kennt keine über das Rechte hinausreichende Theorie des Guten. Kants Tugenden beschränken sich darauf, wie Tugendhat es ausdrückt, „der Regel gemäß zu handeln, durch die das Gute bestimmt ist". 19 Genau dadurch erfährt der Tugendbegriff eine Marginalisierung, die sich bis in die zeitgenössischen Ethik-Modelle fortsetzt. Ein Heraustreten moralischer Tugenden aus dem Schatten der Kantischen Regelmoral ist nur auf der Basis einer Theorie des Guten möglich, die das Gute nicht im Rechten, auch nicht in einem in prozeduralen Bedingungen verflüssigten Begriff des Rechten aufgehen läßt. Eine solcherart modifizierte Konzeption des Guten läßt sich über eine Explikation des Begriffs des guten Lebens gewinnen. Wenn Moral recht besehen nur als System hypothetischer Verpflichtungen zu begreifen ist und sich der Sinn moralischer Tugenden nicht in einem bloßen Gutsein um der angeblich „höheren Dignität" des moralischen Prinzips und einem Moralischsein um der Moral willen erschöpfen soll, dann gewinnt deren Einbettung in den Begriff des guten Lebens einen erheblichen Stellenwert. Ohne den Bezugspunkt des guten Lebens läßt sich nicht begründen, worin der Wert affektiver Haltungen besteht und warum diese von uns moralisch gefordert sind. Die Integration des Affektiven mittels einer Subsumtion unter den kategorischen Imperativ stellt nur einen ersten Schritt dar. Die Rückbindung der Moral an das gute Leben ist eine notwendige Voraussetzung einer erweiterten Sicht der moralischen Tugenden. Blenden wir kurz zu Hume zurück: Wie sein Beispiel lehrt, und dies gilt im Prinzip auch für die Aristotelische Ethik, macht bei einem nicht-deontologischen Verständnis von Tugenden die Abgrenzung zwischen moralischen Tugenden und sonstigen begrüßenswerten Charaktereigenschaften Schwierigkeiten. Humes Begriff der natürlichen Tugenden ist notorisch weit: Er faßt darunter auch Eigenschaften wie Höflichkeit, Liebenswürdigkeit, Witz und Charme, die zugegeben positiv und angenehm, aber schwerlich als moralisch verpflichtend zu bezeichnen sind. Wir mögen die sprödtrockene, unliebenswürdige, ungehobelte oder unterkühlte Art eines Menschen bedauern, sie mag uns auch unangenehm sein, aber dies als moralisches Defizit anzukreiden, beliefe sich philosophisch gesehen auf einen höchst inflationären Gebrauch des Begriffs der Moral und in der praktischen Konsequenz auf eine übertriebene Moralisierung sozialer Interaktionsräume. Sollen Tugenden mehr darstellen als Sekundärphänomene moralischer Regeln, so wird der Unterschied zwischen moralischen Tugenden und Charaktereigenschaften, die wir in einem weiteren Sinne als angenehm empfinden, schwimmend. Bei Aristoteles schon zeigt 18 Rawls selbst denkt in diese Richtung, wenn er schreibt, daß der , .Prüfstein" seiner Theorie des Guten „die Übereinstimmung mit unseren wohlüberlegten Werturteilen im Überlegungsgleichgewicht" darstellt. Rawls (1975), S. 473. 19 Tugendhat (1993), S. 229.
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sich, wie Tugendhat in seiner Analyse der Aristotelischen Tugendlehre eindrucksvoll herausarbeitet, eine Doppeldeutigkeit des Tugendbegriffs und eine Unentschiedenheit zwischen Glückstugenden und moralischen Tugenden.20 Tugenden im Sinne guter Willensdispositionen eignet der zweifache Aspekt, daß sie gut für einen selbst oder moralisch gut sein können. Nun ist es zweifellos so, daß Menschen unterschiedliche persönliche Ziele und Lebenspläne verfolgen und ihr persönliches Glück in etwas jeweils anderem suchen. Insofern bedarf es einer Reihe von Charaktereigenschaften, die für eine Person, abhängig von den jeweils von ihr gewählten besonderen Zielen, wichtig sind. Gleichzeitig ist klar, daß diese aus der Perspektive einer Person für ihre Ziele dienlichen Eigenschaften noch nicht die Auszeichnung als moralische Tugenden verdienen. Die für eine Person und ihre spezifischen Zwecksetzungen zuträglichen Charaktereigenschaften auch als moralische zu begreifen, bedeutet, Pflichten gegen sich selbst zuzulassen.21 Genau dieser Begriff aber, der einem Synonym für eine Normierung des Bereichs individueller Lebensführung gleichkommt, hat im Rahmen einer modernen Moral, die nicht hinter die für wertepluralistische Gesellschaften selbstverständlichen liberalen Errungenschaften zurückfallen will, keinen Platz. Die Pflichten für Individuen ergeben sich aus den moralisch berechtigten Ansprüchen anderer und der gebotenen Rücksichtnahme auf die Verletzbarkeiten und Bedürfnisse der zur moralischen Gemeinschaft zählenden Wesen. Ein weitergehender Pflichtenbegriff erübrigt sich, denn die Frage der Lebensgestaltung für sich fallt in den subjektiven Freiheitsraum. Mögliche Probleme, welche die Art der Lebensführung aufwirft, etwa die Vereinbarkeit mit Verantwortlichkeiten anderen gegenüber, zählen ohnehin zum Bereich der Moral. Die Rede von Tugenden als Willensdispositionen oder Charaktereigenschaften hat die Tendenz, über das Moralische hinaus in eine Lebensphilosophie der Suche nach dem Glück und persönlicher Erfüllung hineinzureichen. Die Skepsis und das Mißtrauen vieler Philosophinnen und Philosophen gegenüber dem Begriff der Tugenden resultiert nicht zuletzt daraus, daß die reflexive Exposition verschiedener Lebensoptionen und Lebensformen so leicht in den paternalistischen Gestus weitreichender Normierungen in Form einer verbindlichen Theorie des „rechten Lebens" übergeht. Rawls' Kritik am Perfektionismus ist berechtigt: Es kann nicht Ziel und Zweck der Moralphilosophie im Rahmen einer Freiheitsspielräume garantierenden demokratischen Gesellschaftsordnung sein, eine Lebenskonzeption bis ins letzte normativ vorzugeben. Deshalb ist die Abgrenzung zwischen moralischen Tugenden und Charaktereigenschaften, die nur im Kontext eines ganz bestimmten Lebensplans Sinn machen, so wichtig. Und die Trennlinie ist im universalistischen Moment moralischer Tugenden zu suchen: Moralisch sind jene Haltungen und Einstellungen, die ein unverzichtbares Element jeder beliebigen Lebensform darstellen. Das Herausschälen eines moralischen Kembereichs aus dem Tugendbegriff gelingt über den Hinweis auf eine Minimaltheorie des Guten, welche die notwendigen Voraussetzungen für die Verfolgung individuell unterschiedlicher Konzeptionen des guten Lebens darstellt. 20 Siehe ebda., S. 234ff. Tugendhat verfolgt in den Vorlesungen über Ethik entsprechend dieser Trennung zwei unterschiedliche Traditionen. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Tugenden als verbunden mit der Suche nach dem persönlichen Glück geht Tugendhat auf Erich Fromm ein (S. 263-264); das Konzept der moralischen Tugenden analysiert er im Rückgang auf Adam Smith (S. 282ff.). 21 Vgl. ebda., S. 235.
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Anders gesagt: Worin auch immer Menschen ihr Gutes sehen, so gibt es aufgrund der universellen Merkmale und Besonderheiten menschlicher Existenzweise und den gemeinsam geteilten Erfahrungen der Verletzbarkeit und der Leidensfähigkeit 22 bestimmte Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Individuen die Realisierung ihres persönlichen Lebensplans prinzipiell offensteht. Diese geteilte Menschlichkeit bildet den Ausgangspunkt moralischer Rücksichtnahme. Als moralisch können Tugenden nur gelten, sofern sie dem für Moral konstitutiven Moment der Universalität gerecht werden. Bestimmte Haltungen erfahren von einem unparteilichen, überpersönlichen Standpunkt her allgemeine Zustimmung und Billigung, und diese Billigung erfolgt nicht zuletzt aufgrund der Einsicht, daß sie als Elemente des Guten zum universalen normativen Kern unterschiedlicher Lebensvollzüge gehören. Man könnte meinen, daß mit der Anspielung auf das gute Leben auch eine Wendung zum Glück vollzogen und gezeigt werden soll, daß Moral und Glück zusammenfallen und die moralische Person auch die glückliche Person ist. Dies wurde von einem Teil der antiken Philosophen so gesehen, aber aus der Sicht eines modernistischen Bewußtseins mit seinem geschärften Sinn für Diversität und Differenz verbietet sich diese Identifikation. Dem Begriff des Glücks eignet eine nicht aufhebbare Unbestimmtheit subjektiver Auslegung. Die Komplexität des Glücksbegriffs läßt sich auf der Ebene der Moral nicht einholen, der bloße Versuch würde unter modernen Vorzeichen seltsam wirken. Die hier vertretene Theorie des Guten intendiert keinerlei Deckung von Moral und Glück; sie formuliert, wenn man so will, nur allgemein einsichtige Voraussetzungen für persönliches Glück. Der Begriff des guten Lebens in Form einer Minimaltheorie des Guten markiert die Linie zwischen moralischen Tugenden und Charaktereigenschaften, denen ein funktionaler Stellenwert im Rahmen eines darüber hinausreichenden individuellen Lebensplanes zukommt. Wesentlich ist, zwei mögliche Deutungen des Begriffs des guten Lebens auseinanderzuhalten: Einmal kann dieses im Sinne eines alle persönlichen Wertsetzungen, Ideale und Ziele umfassenden Lebenskonzeptes besonderer Individuen verstanden werden - dazu gehören etwa Haltungen in Fragen der Religion, der Berufswahl, der Ästhetik und in gewissem Umfang der Politik. Zum anderen kann sich der Begriff in einer schwächeren Form auf jene universellen Elemente beziehen, die den notwendigen Rahmen dafür bilden, daß Individuen ihre Vorstellungen des guten Lebens zu verwirklichen überhaupt möglich ist. Die hier eingeforderte Theorie des Guten bringt den Begriff des guten Lebens nur in der schwächeren Form ins Spiel, womit sich ein neuerlicher Blick auf Rawls' These vom Primat des Rechten und der Neutralität gegenüber variierenden Konzeptionen des guten Lebens nahelegt. Die Rawlssche Toleranzbedingung gilt im Lichte der Doppeldeutigkeit des Begriffs des „guten Lebens" nur für die über den Minimalbestand des Guten hinausgehenden persönlichen Wertvorstellungen, die sich eben in einer bestimmten Lebenshaltung und einem bestimmten Lebensstil niederschlagen. Bezogen auf den engeren Begriff des „guten Lebens" hält das Neutralitätspostulat nicht. Gegenüber den universell relevanten Minimalbedingungen des guten Lebens ist Indifferenz keineswegs angebracht, sie zählen nicht zur Sphäre der moralischer Beurteilung entzogenen persönlichen Wahl von Werten und Idealen. 22 Vgl. Wolf (1984), S. 181f. und Nussbaum (1993c), S. 354. Beide Autorinnen verweisen unabhängig voneinander auf dieselbe Szene aus dem literarischen Fundus der antiken Sagenwelt, in welcher die Einsicht in existentielle Gemeinsamkeiten deutlich wird: Achill, der die Bitte des Priamos erfüllt und Hektors Leichnam übergibt.
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Rawls' Irrtum ist, pauschal vom Vorrang des Rechten gegenüber dem Guten zu sprechen, womit er die notwendige und bei ihm bereits angelegte Differenzierung zwischen einem Kernbereich des Guten und einer umfassenden Theorie des Guten als der Summe individueller Werthaltungen verwischt und dabei hinter seine eigene Unterscheidung zwischen der schwachen und der starken Theorie des Guten zurückfällt. Im Kontext seiner Behauptung des Primats des Rechten stellt Rawls das Gute bzw. das „gute Leben" unbesehen in den Kontext einer umfassenden Morallehre, was mit seiner eigenen Voraussetzung einer schwachen Theorie des Guten in Form der Gründgüterkonzeption nicht verträglich ist. In gewissem Sinn stellt die hier formulierte Position nichts anderes dar als eine Reformulierung von Rawls' schwacher Theorie des Guten auf moraltheoretischer Ebene, und dagegen kann auch von einem liberalen Standpunkt nichts einzuwenden sein. Fragen des Guten fallen nicht schlechthin in den persönlichen Wertehorizont der Individuen, sondern betreffen auch die Dimension der Moral. Ausgangspunkt einer solchen Ethik des guten Lebens sind die aus den allgemeinen Wesensmerkmalen von Menschen, aus ihrer spezifischen Verfassung und Konstitution resultierenden Bedürfnisse. 23 Zu einer Moralkonzeption, die ihren Begriff des Guten an der Erfüllung dieser Bedürfnisse orientiert, zählen Rechte, Chancen, Freiheiten, Regeln, aber auch, um unsere vorrangige Thematik aufzugreifen, die affektiven Einstellungen, also Empathie, Sensibilität, Mitgefühl und Solidarität. Diese Einbindung moralischer Empfindungen und die Konzentration auf Bedürftigkeit und Verletzbarkeit bedingen, daß sich ein solches Moralverständnis nicht nur auf Reziprozitätsverhältnisse und symmetrische Beziehungen beschränkt, sondern auch asymmetrische Beziehungen Beachtung finden: Moralische Berücksichtigung verdienen auch jene, die zu Gegenleistungen nicht in der Lage und so besonders leicht verletzbar und auf Schutz angewiesen sind. Gerade Empathie und Sensibilität werden unverzichtbar, um die Situation und Lage dieser Wesen einigermaßen zu verstehen. Moralische Verpflichtungen ergeben sich in der hier entwickelten Konzeption über die hypothetische Anbindung an die Theorie des guten Lebens: Jene Handlungen und Haltungen sind geboten, die den unabdingbaren Minimalvoraussetzungen eines guten Lebens und damit den grundlegenden Bedürfnissen aller Rechnung tragen.24 Moral als kohärentes System von Verhaltensdirektiven muß von einem übergeordneten Gesichtspunkt bestimmt sein, und dieser besteht in nichts anderem als einer überpersönlichen und unparteilichen Perspektive auf Gründe und Ziele, die uns zum Handeln und zu Haltungen bewegen. Manchmal hat die Berufung auf den moralischen Standpunkt etwas Apodiktisches; aber die Frage nach der Begründung moralischer Forderungen darf nicht dahingehend abgeschnitten werden, daß etwas gut und richtig ist, weil es der „unparteiliche Beurteiler" gutheißt. Denn mit dem analogen Argu-
23 Vgl. dazu auch Kambartel (1993a), S. 10-12. Martha C. Nussbaum entwickelt in dem Zusammenhang eine an menschlichen Fähigkeiten und Funktionsweisen orientierte Theorie des Guten, die sie in bewußtem Gegensatz zu Rawls' schwacher Theorie als „starke vage" Konzeption des Guten versteht. Vgl. dazu Nussbaum (1993c), S. 332-340. Zu Nussbaums Kritik an Rawls vgl. Nussbaum (1992), S. 47 und Nussbaum (1988), S. 152. Vgl. dazu auch Pauer-Studer (1996b). 24 Eine ganz ähnliche Position der „schwachen" Begründung moralischer Verpflichtung über die Anbindung an das gute Leben vertritt Ursula Wolf. Siehe Wolf (1984), S. 185. Allerdings faßt sie den Begriff des guten Lebens wesentlich weiter als die hier skizzierte Konzeption.
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ment, daß etwas gut ist, weil Gott es billigt, geben sich aufgeklärt denkende Menschen auch nicht zufrieden. Relevant werden die Gründe, warum bestimmte Regeln und Haltungen eine Billigung von Seiten der unparteilichen Betrachterin erfahren, und was anderes kann hier zählen, als daß diese unverzichtbar sind für ein gedeihliches Zusammenleben und das allgemeine Wohlergehen. Die Rückbindung einer affektiv erweiterten Moral der universellen Achtung und Anteilnahme an eine Theorie des Guten ist notwendig, um das mit dem übergeordneten Standpunkt verknüpfte Prinzip der Achtung inhaltlich zu präzisieren. Denn Achtung gegenüber anderen Personen verlangt, die Bedingungen eines guten Lebens für eine Person sicherzustellen und ihre spezifischen Bedürfnisse anzuerkennen, was neben dem Zugeständnis von Rechten und Chancen auch Empathie und Einfühlung voraussetzt. Wer diese Fähigkeiten der Anteilnahme nicht hat, ist nicht in der Lage, anderen gegenüber moralisch verantwortlich zu handeln. 25 Das beliebteste Argument gegen eine solche Erweiterung der Moral auf Fragen des Guten, nämlich die Einmischung in den Bereich persönlicher Wertsetzungen, greift gegen die hier entwickelte Ethik des Guten nicht. Wenn man den moralischen Standpunkt so definiert, daß es um die Förderung der Bedingungen eines guten Lebens für alle geht, so hat man eine Verbindung des Rechten und des Guten geschaffen, die vereinbar ist mit liberalen Prämissen und die der legitimen Idee, die eigentlich hinter der Eingrenzung der Moral auf Fragen des Rechten und der Gerechtigkeit steht, Rechnung trägt. 26 Moralische Prüfung und Reflexion, um auf eine Grundidee von John Rawls zu kommen, bewegt sich wohl zwischen akzeptierten Grundsätzen und Werten, deren Konsequenzen wie deren Akzeptierbarkeit vor dem Hintergrund der bestmöglichen Explikation unseres Moralverständnisses. Diese Evaluierung sollte auch den kritischen Blick auf Gesellschaftsformen beinhalten. Ein solcher für Revisionen offener Abwägungsprozeß zeigt uns, daß eine Gesellschaft nicht ohne dramatische Schmälerung der sozialen Lebensqualität auf Phänomene wie Sympathie, Mitleid, Fürsorglichkeit und Solidarität verzichten kann. In den zeitgenössischen Moraltheorien wurden diese Aspekte marginalisiert, wenn nicht überhaupt übergangen. Eine Ursache dafür liegt in jenem rationalistischen Paradigma, welches zu einer Ausgrenzung und Abwertung moralischer Gefühle führte und das, wie die feministischen Analysen der Moraltheorie gezeigt haben, nicht zuletzt infolge einer wohlbekannten Geschlechtersymbolik so unhinterfragt akzeptiert wurde und wird. Aber eine umfassendere Moraltheorie muß anerkennen, daß bestimmte moralische Empfindungen moralische Werte darstellen. Soll auch die Ethik einen Beitrag leisten, um den vielbeklagten atomistischen Tendenzen moderner Gesellschaften gegenzusteuern, so müssen wir auch auf theoretischer Ebene den Rückgriff auf diese Werte gewinnen, und dies gelingt über die Verbindung einer Moral universeller Achtung mit einer Minimalkonzeption des guten Lebens. Eine solche Ethik erfüllt, so denke ich, die Bedingungen, die von Seiten feministischer Philosophinnen an die Formulierung einer angemessenen Moraltheorie herangetragen wurden. Sie ignoriert nicht die moralischen Erfahrungen von Frauen und beweist Sensibilität gegenüber der auch in demokratischen Gesellschaften nach wie vor gegebenen Diskriminie-
25 Vgl. dazu Nussbaum (1993c), S. 353ff. 26 Vgl. dazu auch Seel (1993a), S. 232.
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rang von Frauen. Die Integration von Fragen des Guten beläuft sich auf eine Verlagerang des Blickwinkels: Die Bedürfnisse und Lebenssituationen von Frauen finden Berücksichtigung, was sich auf der Anwendungsseite nicht zuletzt in dem Befragen sozialer Strukturen und eingebürgerter Wertetraditionen daraufhin niederschlägt, ob sie auch die Minimalbedingungen eines guten Lebens für Frauen sicherstellen. Die Einbeziehung einer Theorie des guten Lebens in der skizzierten Minimalvariante bildet einen wesentlichen Schritt, um eine Moralkonzeption zu gewinnen, die nicht zuletzt ein Instrument der Evaluierung gesellschaftlicher Verhältnisse und sozialer Institutionen unter dem Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit darstellt.27 Die Einbindung moralischer Empfindungen und affektiver Einstellungen ermöglicht eine differenziertere Fassung des Begriffs der Achtung, die mehr Dimensionen berührt als nur die Wahrnehmung anderer als Rechtssubjekte. Das Ansprechen der Fähigkeiten von Empathie und Anteilnahme bedeutet auch eine Reformulierung der für Moral konstitutiven Bedingung des Standpunkttauschs, des Hineinversetzens in die anderen, die zumindest auf theoretischer Ebene einen Weg eröffnet, jene Haltungen zu durchbrechen, die Frauen das Leben in dieser Gesellschaft so schwer gemacht haben und machen. In ihrer Auseinandersetzung mit postmodernistischen und kommunitaristischen Ansätzen argumentiert Martha C. Nussbaum, daß sich hinter dem relativierenden Blick auf andere Kulturen, der sich jeder moralischen Beurteilung von deren Traditionen und Sitten enthält, letztlich eine Gleichgültigkeit und Distanz verbirgt, die den Menschen anderer Kulturen das verweigert, was Bedingung für deren Achtung als Personen wäre: das Teilen von Erfahrungen des Schmerzes im Fall von Hunger, Krankheit oder Mißhandlung. Man möchte niemals in der Situation dieser Menschen sein, und doch berührt sie nicht, da der Relativismus moralische Empfindungen auf die „Gefühle eines Touristen" reduziert, nämlich auf „Verwunderang, Neugier, amüsiertes Interesse".28 Ein ähnliches Phänomen charakterisiert den männlichen Blick auf Frauen und deren Lebensbedingungen. Männer haben Frauen, obwohl sie mitten unter ihnen lebten und leben, immer als das andere, das Fremde wahrgenommen, letztlich als Bewohnerinnen einer andersartigen Welt. Und sie haben ihnen gegenüber jene Verhaltensformen kultiviert, die sich gegenüber dem Fremden eingebürgert haben: vom paternalistischen Gestus wohlmeinender Herablassung über den Habitus des distanzierten Ethnologen bis zu offener Verachtung, Aggression und Gewalt. Selbst wenn sich die männlichen Einstellungen auf der positiveren Seite dieses Spektrums bewegten, so war doch immer jenes „arrogante Auge männlicher Wahrnehmung" spürbar, dessen Überheblichkeit sich aus dem Bewußtsein einer langen Tradition der fehlenden Anerkennung von Frauen als Gleichen speist. Die Philosophie hat in der Vergangenheit einen wesentlichen Beitrag zur Untermauerung der Ordnung der Geschlechter geleistet, und bislang haben sich zeitgenössische Philosophen kaum Gedanken darüber gemacht, wie dieser Altlast theoretisch zu begegnen wäre. Man sollte die Wirkungen der Philosophie nicht überschätzen, aber auch keinesfalls unterschätzen: Über komplexe Vermittlungsmechanismen prägen ihre Thesen und Entwürfe das 27 Theorien der Gerechtigkeit sind ohne Annahmen über das Gute gar nicht formulierbar. Insofern bildet die Überlegung, welche Arten von Gütern durch bestimmte gesellschaftliche Institutionen und Mechanismen wie verteilt sind, und ob diese Verteilungsstrukturen auch Frauen den gleichen Wert der Freiheit in der Verfolgung eines Lebensplanes zugestehen, einen gesellschaftstheoretisch bedeutsamen Beurteilungsparameter. 28 Nussbaum (1993c), S. 357.
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kulturelle Selbstverständnis von Gesellschaften. Wenn die Moralphilosophie dem entspricht, was gemeinhin als ihre Aufgabe gesehen wird, nämlich eine grundlegende Form der Reflexion auf das zu sein, wie Menschen miteinander und mit den leidensfähigen Wesen dieser Welt leben und umgehen sollten, dann ist die Gestaltung der Moraltheorie dahingehend, daß ihre Voraussetzungen und Annahmen das moralische Ideal der Gleichheit von Frauen nicht unterlaufen, wohl eine intellektuelle Schuldigkeit jener, von denen die Gesellschaft das professionelle Nachdenken über philosophische Fragen erwartet.
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