Textschicksale: Das Werk Arthur Schnitzlers im Kontext der Moderne 9783050095899, 9783050064703

This collection of essays charts new approaches to Schnitzler. The essays look at previously neglected early and late te

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German Pages 295 [296] Year 2017

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einführung
I An der Schwelle zu Einer Neuen Epoche
Übergänge der Wiener Moderne: Schnitzlers Prosa der 1880er Jahre
Arthur Schnitzler und der Naturalismus: Der naturalistische Einfluss auf seine frühen Dramen
„Ein wirklicher Erzähler“: Ferdinand von Saar und Arthur Schnitzler – ein literarhistorisches Konstrukt?
II Wissenschaftliche, Politische und Literarische Diskurse
Arthur Schnitzlers Paracelsus im Kontext zeitgenössischer Hypnose-Theorien
Namens- oder Familienähnlichkeiten: Fallgeschichte und Falldrama bei Schnitzler und Freud
Wirkung und Scheitern der symbolischen Funktion in Arthur Schnitzlers Flucht in die Finsternis
Schnitzlers Erzählung Der letzte Brief eines Literaten: Experimente mit sich selbst und dem Anderen
Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann: Konflikte deutsch-jüdischer Identitäten
Die Entzauberung des Mythos: Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt als subversive Charakterstudie im Spannungsfeld intertextueller Bezüge vom Barock bis zur Décadence
III (Inter)Medialität
Reigen der Stimmen: Zu Arthur Schnitzlers musikalischem Erzählen
‚Stimme‘ und ‚Partitur‘: Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else
Arthur Schnitzlers ‚anmutiges Monstrum‘: Der junge Medardus als Historiendrama (1910) und Filmprojekt (1920)
IV Inner- und Aussereuropäische Rezeption
Warum Professor Bernhardi von der Wiener Zensur verboten wurde
Schnitzler und die „Uebersetzungs-Miseren“
Die Rezeption Arthur Schnitzlers in China
Siglen
Die Autoren
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Textschicksale: Das Werk Arthur Schnitzlers im Kontext der Moderne
 9783050095899, 9783050064703

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Textschicksale

Textschicksale

Das Werk Arthur Schnitzlers im Kontext der Moderne Herausgegeben von Wolfgang Lukas und Michael Scheffel

Druckvorlagenerstellung: Martin Jedamzik

ISBN 978-3-05-006470-3 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009589-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038012-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: ÖNB/Wien, AS Album 3,3 Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Wolfgang Lukas und M ichael Scheffel Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I A n der Schwelle zu einer neuen Epoche Stefan Scherer

Übergänge der Wiener Moderne: Schnitzlers Prosa der 1880er Jahre .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 K arl Zieger

Arthur Schnitzler und der Naturalismus: Der naturalistische Einfluss auf seine frühen Dramen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Giovanni Tateo

„Ein wirklicher Erzähler“: Ferdinand von Saar und Arthur Schnitzler – ein literarhistorisches Konstrukt? . . . . . . . . . . . . . 41 II Wissenschaftliche, politische und literarische Diskurse M arianne Wünsch

Arthur Schnitzlers Paracelsus im Kontext zeitgenössischer Hypnose-Theorien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 A ndrew Webber

Namens- oder Familienähnlichkeiten: Fall­geschichte und Falldrama bei Schnitzler und Freud .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

VI

Inhaltsverzeichnis

M arie Kolkenbrock

Wirkung und Scheitern der symbolischen Funk­tion in Arthur Schnitzlers Flucht in die Finsternis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 M ichael Titzmann

Schnitzlers Erzählung Der letzte Brief eines Literaten: Experimente mit sich selbst und dem Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 M ax H aberich

Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann: Konflikte deutsch-jüdischer Identitäten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Barbara Neymeyr

Die Entzauberung des Mythos: Schnitzlers No­velle Casanovas Heimfahrt als subversive Charakterstudie im Spannungsfeld intertextueller Bezüge vom Barock bis zur Décadence .. . . . . . . . . . . 139 III (Inter)Medialität Rüdiger Görner

Reigen der Stimmen: Zu Arthur Schnitzlers musikalischem Erzählen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Wolfgang Lukas und Ursula von K eitz

‚Stimme‘ und ‚Partitur‘: Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else .. . . . . . 185 H ans P eter Buohler

Arthur Schnitzlers ‚anmutiges Monstrum‘: Der junge Medardus als Historiendrama (1910) und Film­projekt (1920) .. . . . . . . . . . . . . . . 211 IV Inner- und aussereuropäische Rezeption Jaques L e R ider

Warum Professor Bernhardi von der Wiener Zensur verboten wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Inhaltsverzeichnis

VII

Judith Beniston

Schnitzler und die „Uebersetzungs-Miseren“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 X iaquiao Wu

Die Rezeption Arthur Schnitzlers in China .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Siglen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Die Autoren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Einführung Schnitzlers erzählerische und dramatische Werke üben bis auf den heutigen Tag nachhaltige Faszination aus. Zugleich repräsentieren sie oft bemerkenswerte ‚Textschicksale‘. Zum einen sind sie, Schnitzlers Arbeitsgewohn­ heit entsprechend, nicht selten Resultat langer und komplexer, sich zum Teil über mehrere Jahrzehnte erstreckender, mit Stoffverzweigungen bzw. -fusio­nen einhergehender textgenetischer Prozesse. Zum anderen ist das Werk kaum eines anderen großen Autors der Klassischen Moderne in so vielfältiger Weise Objekt von produktiver Aneignung, Bearbeitung und Adaption für Bühne, Film, Funk und Fernsehen geworden. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Schnitzlers Texte, entgegen hartnäckigen Klischee­ vorstellungen von der ewigen Wiederkehr derselben Motive (‚Liebe, Traum, Spiel und Tod‘ etc.), eine enorme thematisch-motivliche Bandbreite aufweisen. Brennpunkt­artig verknüpfen sie eine Vielzahl diskursiver Stränge aus der Sozial-, Anthropologie-, Gender-, Denk- und Wissensgeschichte der Epoche (nicht nur der Psychoanalyse!) und verarbeiten dabei zum Teil zahlreiche wissenschaftliche wie literarische Fremdtexte. Die Beiträge nähern sich diesem Thema in vier verschiedenen, grob thematisch geordneten Sektionen. Deren erste, „An der Schwelle zu einer neuen Epoche“, gilt Schnitzlers Startphase in den 1880er und 90er Jahren. Stefan Scherer widmet sich einigen der bislang nur wenig beachteten ganz frühen Erzählungen und Prosaskizzen der 1880er Jahre, die zeitlich vor dem Jungen Wien anzusiedeln sind. Bei Texten wie Mein Freund Ypsi­ lon (1889) oder Reichtum (1891) handelt es sich um frühe psy­chiatrische Fallgeschichten, die nicht nur Schnitzlers Vertrautheit mit der zeit­genössischen Psy­chiatrie belegen, sondern vor allem die literarische Moderne geradezu herbei­schreiben: Mithilfe erzähltechnischer Verfahren, von der indirekten Rede über Formen der erlebten Rede im Präteritum und Präsens bis hin zum Inneren Monolog erproben sie experimentell die literarische Dar­ stellung des unsichtbaren psychischen Innenraums und nehmen dabei auch eine innova­tive Perspektivierung und Subjektivierung der Realität vor. Karl Z ieger greift im Anschluss daran noch einmal die Frage nach der Relation Schnitzlers zum Naturalismus auf und konstatiert, dass das dramatische Frühwerk der 1890er Jahre fraglos naturalistische Elemente aufweist, sofern man einen weiteren, nicht auf die Abbildung sozialer Unter­schichten fixierten Naturalismus-Begriff zugrunde legt, der sich primär über den

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Wolfgang Lukas und Michael Scheffel

poetologisch-epistemologischen Bruch mit dem vorangehenden, durch massive Darstellungsrestriktionen charakterisierten ‚realistischen‘ Para­dig­ ma li­terarischer Mimesis definiert. Am Beispiel des zwischen 1891 und 1898 ent­standenen Dramenquartetts – Das Märchen, Freiwild, Liebelei und Das Vermächtnis – weist Zieger zudem auf Figuren- wie auf Handlungsebene zahlreiche Korrespondenzen mit dem zeitgenössischen Theater skandinavischer (Ibsen), deutschsprachiger (Gerhart Hauptmann, Max Halbe, Paul Lindau), französischer (Maurice Donnay, Henry Becque) und russischer Provenienz (Tschechow) nach. In diesen ‚sozialen‘ Stücken, die zwar nicht direkt Unterschichten, aber verschiedene soziale Milieus (Kleinbürgertum, Großbürgertum, Bohème und Theatermilieu) inszenieren, übt Schnitzler seinen soziologischen Blick ein und damit ein Programm, das auch das spätere, im Zeichen einer radikalisierten Psychologie(sierung) stehende Werk grundlegend bestimmt: die Entlarvung der immer auch als exemplarisch für die menschliche Gesellschaft überhaupt ver­standenen Wiener Jahrhundertwende-Gesellschaft. Betonen Scherer und Zieger somit den Bruch mit der vorangehenden ‚realistischen‘ Epoche, so zeigt Gio­vanni Tateo anhand der Beziehung von Schnitzler und Fer­dinand von Saar zugleich auch eine unbestreitbare Nähe des frühen Schnitzler zum späten Realismus auf. Die Gemeinsamkeiten zwischen dem Frühwerk des Ersteren und dem Spätwerk des Letzteren konstituieren allerdings ein „Paradigma des scheinbar Ähnlichen, dennoch aber zutiefst Unterschiedlichen“. Saar erweist sich als Autor des Übergangs, der die Schwelle zur neuen Epoche, so sehr er sie vorbereiten mag, nicht überschreitet und dem sich die neuen Schöpfungen der jungen Autoren wie Schnitzler letztlich nicht erschließen. Die daran anschließende Sektion „Wissenschaftliche, politische und literarische Diskurse“ situiert Schnitzlers Werk im Feld zeitgenössischer Diskurse aus Wissenschaft und Politik sowie der Literatur. Deren wohl prominen­ testem, dem psychiatri­schen bzw. psychoanalytischen, widmen sich die ersten drei Beiträge. Marianne Wünsch liest das, die historische Figur des Paracelsus als Protagonisten inszenierende, gleichnamige Versdrama als literarischen Programmtext: Anhand des von Hippolyte Bernheim entwickelten Modells der ‚posthypnotischen Suggestion‘ – ein Konzept, das Schnitzler sowohl als Rezensent der Bernheimschen Schriften als auch aus eigener therapeutischer Hypnosepraxis bestens vertraut war – führt er sowohl eine moderne An­ thropo­­­logie ein, die auf der Anerkennung einer Psychologie des Unbewussten basiert, als auch einen neuen, subjektivierten Realitätsbegriff. Paracelsus erweist sich damit zugleich als Meta-Text, in dem Schnitzler die eigene literar­historische Position an der Schwelle einer neuen Epoche reflektiert. Andrew Webber gewinnt der Diskussion um die ‚Doppelgänger­schaft‘ von Schnitzler und Freud neue Aspekte ab, indem er sie von den Perso-

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nen löst und einer strukturellen Reinterpretation unterzieht. Somit lässt sich zum einen, zurückgehend auf Freuds berühmtes Diktum von der novellistischen Machart seiner Fallgeschichten und auf seine Ausführungen zu Jensens Gradiva, von einem ‚Doppelgängerverhältnis‘ von Literatur und Psychoanalyse im Allgemeinen und, bezogen auf die Gattung bzw. Text­ sorte, vom „generischen Doppelgängertum“ zwischen (psychoanalytischer) Fallstudie und der Novelle im Besonderen sprechen. Webber macht dies fruchtbar für eine Neuinterpretation von Das weite Land, indem er die Ambiguität des ‚Falls‘ zwischen Casus und Lapsus aufzeigt und die damit korrelierte konstitutive Spannung des Dramas zwischen literarischer Norm und Innovation analysiert. Mit Flucht in die Finsternis widmet sich Marie Kolkenbrock einer Fall­ geschichte im wörtlichen Sinn, deren literarischen Mehrwert gegenüber der klinischen Fallgeschichte es heraus­zuarbeiten gilt. Kolkenbrock verbindet die psychologisch-psychiatrische Perspektive mit einer soziologischen und konsta­tiert beim Helden die Korrelation von psychischem Selbst­ verlust – Verlust des Subjekt­status – einer­seits mit dem einer sozialen Delegitimierung äqui­valenten Verlust der symbolischen Funktion andererseits. Hinter der Angst Roberts vor der Krankheit verbirgt sich der heimliche Wunsch nach ihr als einer alternativen, nicht-bürgerlichen Existenz, die zugleich Entlastung von der permanenten Krise der symbolischen Funktion verheißt. Keine Fall­geschichte, jedoch gleichfalls eine radikale experimentelle Studie stellt die späte Nachlass-Erzählung Der letzte Brief eines Literaten dar. Michael Titzmann zeigt auf, dass das komplexe System, das die Werte ‚Liebe‘, ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ hier in wechselnden hierarchischen Konstella­ tio­­nen eingehen, zugleich mit der Kontrastierung zweier übergeordneter Werteparadigmen korreliert, einem ‚alten‘, originär dem 19. Jahrhundert und dem ‚Realismus‘ verpflichteten, und einem ‚neuen‘, modernen. Damit thematisiert der Text – in dieser Hinsicht also strukturell durchaus Paracelsus vergleichbar – anhand der Erzählung eines individuellen Schicksals zugleich als Meta-Text seine eigene literarhistorische Position. Unter Einbeziehung der Entwürfe aus dem Nachlass lässt sich ferner die Textgenese dieser Erzählung als System von Transformationen beschreiben, innerhalb dessen im Laufe des Entstehungsprozesses pro struktureller Position jeweils verschiedene Varianten durchgespielt werden. Dies wiederum ist analog zum Gesamtœuvre, das seinerseits beschreibbar ist als System interdependenter Transformationen gemeinsamer Ausgangskonstellationen, „bei denen experimentell die Besetzungen potentieller Variablen ausgetauscht werden“ – ein Beleg für die hochgradig experimentelle Erzählkunst Schnitzlers. Am Beispiel eines Vergleichs von Schnitzler mit Jakob Wassermann wendet sich Max H aberich dem zeitgenössisch höchst relevanten politi-

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schen Diskurs über die ‚jüdische Identität‘ zu. Die Lektüre der literarischen Werke (Schnitzlers Der Weg ins Freie, Professor Bernhardi; Wassermanns Die Ju­ den von Zirndorf u.a.) im Hinblick auf die in ihnen vertretenen Positionen zur ‚Judenfrage‘ ergeben eine deutliche Differenz. Während Wassermann ein lebensphilosophisch grundiertes utopisches Modell entwirft, das den (ost)jüdischen Helden als messianische Figur entwirft, die die Überwindung der Krise der bürgerlichen Kultur und das Erreichen einer deutsch-jüdischen Symbiose verheißt, vertritt Schnitzler in seinen Werken einen „auf­ geklärten apolitischen Individualismus“, der die kritische Distanz zum Judaismus und Zionismus mit einem politischen Skeptizismus verbindet. Mit ihrer detaillierten Studie zur produktiven Verarbeitung von Fremdtexten in Casanovas Heimfahrt schließt Barbara Neymeyr diese Sektion ab. Sie deckt zahlreiche Korrespondenzen mit literarischen Werken unterschiedlichster Gattungen auf und liest die Novelle als „subversive Charakterstudie im Spannungsfeld intertextueller Bezüge vom Barock bis zur Décadence“. Dem Text eignet dabei insgesamt eine irreduzible Ambivalenz: Denn in dem Maße, wie er einerseits die fundamentale Entzauberung des Casanova-Mythos betreibt, trägt er zugleich zum Fortwirken eben dieses Mythos in der Moderne bei. Die dritte Sektion ist dem Phänomen der „(Inter)medialität“ gewidmet, das sowohl textimmanent als auch am Beispiel der medialen Adaption eines literarischen Werks in den Blick genommen wird. Rüdiger Görner eröffnet die Sektion mit einer Untersuchung zur Musikalität von Schnitzlers Schreiben. Unter Rekurs auf das Konzept einer ‚kinetischen Semantik‘ stellt er die innovative These auf, diese sei konstitutiv für Schnitzlers Poetik und für die Ausbildung einer ganz spezifischen „musikalisierten Narrativität“, die sich vom frühen (u.a. Welch eine Melodie) bis zum späten Werk (u.a. Spiel im Morgengrauen) nachweisen lasse. Eine besondere Rolle spielt dabei die Stimme: So indizieren etwa stimmliche Veränderungen in Schnitzlers Werken (bis hin zur Aphonie: u.a. Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg ), wie Görner in einer genauen Lektüre nachweist, jeweils psychische Ausnahmezustände. Die Stimme steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Wolfgang Lukas und Ursula von Keitz zu Fräulein Else. Schnitzlers zweite berühmte Monolognovelle, die zeitgleich mit der Erfindung des Hörspiels in den frühen 1920er Jahren entsteht, lässt sich als ‚Sprech-Partitur‘ fassen, in der die Performanz der Stimmen, der eigenen und der fremden, textimmanent bereits angelegt ist. Nicht zufällig notiert der Autor bereits vor der Erstpublikation die prinzipielle Aufführbarkeit gerade dieses Textes. Damit partizipiert die Novelle – in der Schnitzler eigenen diskreten Weise – an den epochalen, im Kontext der Sprachkrise entstehenden Tendenzen der Avantgarde-Literatur zur Phonetisierung und Re-Oralisierung. Letztere schreiben sich mate-

Einführung

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riell-typographisch in den Textkörper ein und konstituieren die spezifische äußere Gestalt dieses Monolog-Experiments. Hans Peter Buohler schließlich betrachtet am Beispiel von Der junge Medardus sowohl die Genese des Textes als auch dessen Weiterverarbeitung, die ihrerseits einen exemplarischen Fall plurimedialer Mehrfachverwertung darstellt. Anhand des Vergleichs des Erstdrucks sowohl mit einer erhaltenen Strichfassung für die Uraufführung als auch mit Schnitzlers ungewöhnlich ausführlicher, z.T. sogar Angaben für Kameraeinstellungen, Schnitt und Lichtführung enthaltenden Einrichtung für den Film lassen sich Schnitzlers medienspezifische Adaptionsstrategien wie Augmentation und Expansion, Reduktion oder Inversion exemplarisch studieren. Bemerkenswerterweise greift Schnitzler dabei in einigen Fällen auf frühe Entwürfe des Dramas zurück. Insgesamt orientiert sich seine Einrichtung, so ein bemerkens­wertes Ergebnis dieser Analyse, bei aller Nähe zum Dramentext doch unverkennbar an der Publikumswirksamkeit und legt damit bereits deutlich jene Transformation des subtil psychologischen Dramas zum melodramatischen Historienspektakel an, die die Verfilmung von Kertész/Curtiz (1923) dann dramaturgisch radikalisiert umsetzen wird. Die vierte Sektion widmet sich Aspekten der „Inner- und außereuropäischen Rezeption“. Im ersten Beitrag rekonstruiert Jacques L e R ider die Gründe für das Aufführungsverbot von Professor Bernhardi durch die Wiener Theaterzensur. Anders, als man vorschnell geneigt sein könnte zu glauben und als es die zeitgenössischen Beifallsreaktionen auf das Aufführungs­ verbot seitens antisemitischer, christlich-klerikaler und deutschnationaler Kreise vermuten lassen, waren weder Antisemitismus noch katholischer Klerikalismus treibende Kräfte für dieses Verbot. Im Gegen­teil ging die Zensurbehörde seit den 1890er Jahren sogar relativ streng gegen antisemitische Stücke vor. Die – in Berlin (wo das Stück seine Uraufführung erlebte) bezeichnenderweise nicht verstandene – Be­gründung lautete vielmehr auf Verunglimpfung Österreichs. Das Aufführungs­verbot bestätigte damit die dem Stück innewohnende politische und soziale Sprengkraft und sanktionierte somit Schnitzlers Angriff auf die herrschende Elite und, in letzter Instanz, seinen radikalen moralischen Pessimismus. Le Rider legt in seinem Beitrag auch die Erstpublikation einer öffent­lichen Stellungnahme Schnitzlers gegen die Zensur (1897) vor. Judith Beniston untersucht in ihrem Beitrag am Beispiel Großbritanniens die zeit­g­enössische Übersetzungspraxis sowie Schnitzlers Umgang mit seinen Übersetzern und wertet dabei zahlreiches bislang unbekanntes Material aus den Nachlässen in Cambridge und Marbach aus. Schnitzler profilierte sich als streitbarer Kämpfer um Autorenrechte, teils durchaus geschickt, mit finanziellem Scharfsinn (besonders in den Jahren der Währungskrise nach dem I. Weltkrieg) und mit dem Selbstverständnis eines

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Wolfgang Lukas und Michael Scheffel

geistigen Arbeiters im kapitalistischen Markt, teils aber auch naiv, so etwa mit seinem Plädoyer für einen ewigen Urheberschutz. Der diese Sek­tion und zugleich den Band abschließende Beitrag von Xiaoqiao Wu skizziert die bislang weitgehend unbekannte Geschichte der Rezeption Schnitzlers in China, von den ersten Anfängen seiner Rezep­ tion in der Bürgerlichen Republik der 1920er Jahre bis zur Gegenwart. War die erste Phase der Rezeption, die sich in den 20er und 30er Jahren zu einem regelrechen ‚Schnitzler-Fieber‘ steigerte, überwiegend von chinesischen Autoren-Übersetzern getragen, die Schnitzler als ästhetisches Vorbild im Kontext literarischer Reformbewegungen feierten, kam es erst relativ spät, nämlich erst im Zuge der in den 1980er Jahren einsetzenden Schnitzler-Renaissance, nach seiner jahrzehntelangen Verpönung als ‚reaktionär‘ und ‚dekadent‘ während der Zeit der Kulturrevolution, zu einer Ent­deckung durch die chinesische Germanistik. Erstmalig werden die Werke des Wiener Autors damit auch nicht mehr auf dem Umweg über englische oder französische Übersetzungen, sondern direkt rezipiert. Der vorliegende Band versammelt insgesamt fünfzehn Beiträge, die mehrheitlich auf eine internationale, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Tagung zurückgehen, die anlässlich des 150. Geburtstags von Arthur Schnitzler im November 2012 an der Bergischen Universität Wuppertal unter dem Titel „Textschicksale. Das Werk Arthur Schnitzlers im Spannungsfeld von Produktion, Rezeption und Adaption“ stattfand. Wir danken Alexander Wagner und Martin Jedamzik für Korrekturlesungen, letzterem darüber hinaus für die sorgfältige Erstellung des Satzes. Unser besonderer Dank gilt sowohl dem De Gruyter Verlag in Gestalt von Anja-Simone Michalski und Susanne Rade als auch, nicht zuletzt, den Autoren dieses Bandes für ihre große Geduld. Wuppertal, im Februar 2017

Die Herausgeber

I  A n der Schwelle zu einer neuen Epoche

Stefan Scherer

Übergänge der Wiener Moderne: Schnitzlers Prosa der 1880er Jahre Setzt man den Beginn der Wiener Moderne 1889 an,1 dann gibt es für Arthur Schnitzler gegenüber den anderen bedeutenden Autoren dieser Gruppierung – Hofmannsthal und Beer-Hofmann, nachrangig bereits Andrian und Salten – einen gewichtigen Unterschied: Schnitzler beginnt mit dem Schreiben bereits einige Zeit vor diesem Neueinsatz, der den Anschluss der deutschsprachigen Literatur an den europäischen Ästhetizismus markiert.2 Diesen Übergang der Moderne – verstanden als genitivus subjectivus wie als genitivus objectivus – vor der Etablierung des ‚Jungen Wien‘ will ich an Schnitzlers frühesten Prosatexten aufzeigen: von den ersten, impressio­ nistisch orientierten Prosaversuchen über die stärker vom Naturalismus be­eindruckten Erzählungen um 1890 wie Reichtum (1889) bis hin zur Prosaskizze Spaziergang (1893). Dieses wenig beachtete Feuilleton ist bemerkenswert, weil Schnitzler hier seine Autoren-Kollegen aus dem Griensteidl-Kreis (Hofmannsthal, Beer-Hofmann und Bahr) verschlüsselt ihre unterschiedlichen Orientierungen besprechen lässt. Schnitzler selbst porträtiert sich darin in der Figur des Fritz, um sich in der seit 1891 als „Clique“ beäugten Gruppe poetologisch zu positionieren.3 Seine von der Forschung vergleichsweise wenig beachtete früheste Prosa4 hat Schnitzler bekanntlich verworfen: Sie stamme aus einer Zeit, „wo So Jens Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle. 2., durchges. Aufl. 1986. Königstein i.Ts. 1986, S. 9. 2 Noch im Schnitzler-Handbuch heißt es dagegen: „Die ersten Schriften Schnitzlers stehen in unmittelbarem Kontakt von Jung Wien; seine literarische Sozialisation im Bund dieser österrei­ chischen Autoren war entscheidend für seine frühen Werke.“ (Dominik Orth: „Schnitzler und Jung Wien“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 18–27, hier S. 19) Richtig wird an anderer Stelle gesehen, dass der Naturalismus-Verächter Paul Goldmann durch Abdrucke in seiner Zeitschrift An der Schönen Blauen Donau seit 1889 als „Entdecker Schnitzlers gelten“ darf (Norbert Bachleitner: „Intendanten, Verleger, Autorenkollegen“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 11–17, hier S. 16). 3 So Schnitzler im Tagebuch am 9. Oktober 1891 (Tb 1879–1892, S. 352). 4 Dass sie „häufig unbeachtet“ bleibt, obwohl „bereits einige wichtige Themen der späteren literarischen Werke in bemerkenswerter Komplexität“ dargestellt sind, betont Filippo Smerilli: 1

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Stefan Scherer

mich der ‚Fall‘ mehr interessiert hat als die Menschen, und ich denke das meiste aus dieser Epoche muß wie luftlos wirken.“5 Blickt man auf Schnitzlers Prosatexte nach Sterben (verf. 1892, ED 1894) – der ersten größeren Erzählung in der Neuen deutschen Rundschau, die seinen Ruhm begründete –, ist diese Selbstkritik zwar nachvollziehbar. Nur scheint mir aber auch in der ‚luft-‘, d.h. umgebungslosen Gestaltung von ‚Fällen‘ ohne Aufmerksamkeit auf das soziale Umfeld eine bestimmte Qualität zu liegen, was die Entwicklung literarischer Verfahrensweisen zur Erschließung von Innenverhältnissen angeht.

1.  ‚Verinnerung‘ des Erzählens Die neue Psychologie lautet der Titel eines einschlägigen und in der Forschung zur Wiener Moderne zu Recht vielzitierten Aufsatzes von Hermann Bahr6 im ersten Jahrgang der 1890 von Michael Kafka gegründeten Zeitschrift Moderne Dichtung, die im Feld der Literatur- und Kulturzeitschrift den Beginn der literarischen Moderne in Wien markiert. Hermann Bahr, Chefprogrammatiker des Jungen Wien, fordert auf der Basis seiner Erfahrungen mit dem aktuellen Ästhetizismus in Frankreich eine neuartige Darstellung, die den in Berlin akut so erfolgreichen Naturalismus weniger ‚überwindet‘ als vielmehr auf spezifische Weise fortschreibt: Dessen Verdienste – der mikroskopische Blick aufs Detail, die phonographische Methode als Nuancenkunst – sollten nämlich auf die Erschließung von Innenverhältnissen

5 6

„Kleinere Erzählungen I: 1880er Jahre“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 163–165, hier S. 163. Ausgeführt wird diese Komplexität hier jedoch kaum im Blick auf die literarischen Verfahren. Was für die Erzählungen der 1890er Jahre betont wird, die sich „als Experimentierfeld“ erweisen, „auf dem Schnitzler diverse Formen, Techniken und Kompositionsweisen des Narrativen erprobt und dabei auf seine Weise und mit durchaus unterschiedlicher Vehemenz an der von Bahr proklamierten Überwindung des Naturalismus (1891) mitwirkte“, lässt sich bereits für die Prosa der 1880er Jahre reklamieren (Peer Trilcke: „Kleinere Erzählungen II: 1890er Jahre“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 166–169, hier S. 166). So Schnitzler im Brief an Hofmannsthal vom 10.12.1903. In: Hugo von Hofmannsthal/Arthur Schnitzler. Briefwechsel. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a.M. 1983, S. 179. Zur Bedeutung dieses Aufsatzes für die Wiener Moderne vgl. Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1988, S. 80–84; Horst Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psy­chiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993, S. 393–433; Iris Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne. Tübingen 1992, S.  13–26. „Die epochale Bedeutung, die in erzähl­ theoretischer Hinsicht Bahrs Die neue Psychologie zukommt, ist mittlerweile anerkannt“ (Achim Aurnham­mer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin u.a. 2013, S. 72, Anm. 57). Folgt man Rieckmann 1986 (Anm. 1), werden Bahrs Postulate v.a. von Beer-Hofmanns Novel­ len (1891, 1893) und „ansatzweise“ von Bahrs eigenem Roman Die gute Schule (1890) eingelöst (S. 179).

Übergänge der Wiener Moderne: Schnitzlers Prosa der 1880er Jahre

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übertragen werden. Statt um die ‚Sachenstände‘ (états de choses) gehe es um die ‚Seelenstände‘ (états d’âme) im Zeichen einer neuen ‚Nervenkunst‘: Alles, was auf die Nerven wirkt, müsse in diesem ‚inneren Naturalismus‘ so direkt wie möglich, d.h. gleichsam unter Ausschaltung des Erzählers aufgezeichnet und als ursprünglicher „Tumult und Wirbel“7 unmittelbar ‚gezeigt‘8 werden. Diese Technik, „die durch den Naturalismus gegangen ist“, sei „dekompositiv, indem die Zusätze, Nachschriften und alle Umarbeitungen des Bewußtseins ausgeschieden und die Gefühle auf ihre ursprüngliche Erscheinung vor dem Bewußtsein zurückgeführt werden“.9 Bahr geht es demnach darum, „das Unbewußte auf den Nerven, in den Sinnen, vor dem Verstande zu objectivieren“.10 Mit einem Wort: „Die Psychologie wird aus dem Verstande in die Nerven verlegt – das ist der ganze Witz“.11 Was Bahr um 1890 damit projektiert, ist die ‚Verinnerung des Erzählens‘ (Erich von Kahler),12 die erstmals Édouard Dujardin in seinem Roman Les Lauriers sont coupés (1887) in Form des Inneren Monologs konsequent durchhält.13 Arthur Schnitzler, der Dujardin erst 1898 lesen wird,14 erprobte indes Darstellungstechniken, mit denen die von Bahr geforderte literarische Erfassung von ‚Seelenständen‘ gelingt, bereits vorher in seinen experimentellen Prosaskizzen der 1880er Jahre. Eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung für diese Fähigkeit, Varianten der literarischen Erkundung von Innenverhältnissen zu entwickeln, sind die Erfahrungen des in zeitgenössischen psychiatrischen Debatten über Nerven- und Geisteskrankheiten wohlinformierten Arztes, wie auch immer Schnitzler sich in seinen medizinischen Schriften skeptisch gegenüber einer naturwissenschaftlichen Be7 8 9 10 11 12 13

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Hermann Bahr: „Die neue Psychologie“. In: Das junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunst­ kritik 1887–1902. Hg. von Gotthart Wunberg. Bd. 1: 1887–1896. Tübingen 1976, S. 92–101, hier S. 96.  Ebd., S. 98. Ebd., S. 95 (Hervorhebung St.S.) Ebd., S. 99 (Hervorhebung St.S.) Ebd., S. 96. Zur Forschung, die an die einschlägige Formel Erich von Kahlers anschließt, vgl. Michael Scheffel: „Narrative Modernität: Schnitzler als Erzähler“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 299–305, hier S. 299. Dazu und zu den Vorläufern des Inneren Monologs etwa bei Dostojewski und Tolstoi vgl. Michael Niehaus: „Die Vorgeschichte des ‚inneren Monologs‘“. In: arcadia 29, 1994, H. 3, S.  225–239. Dass es sich bereits hier um den Inneren Monolog wie dann in Schnitzlers Lieutenant Gustl (1900) handelt, bestreitet neben Niehaus auch Mario Gomes: Gedankenlese­ maschinen. Modelle für eine Poetologie des Inneren Monologs. Freiburg 2008: Vor Dujardin gebe es keine Literatur, „deren Inhalt ausschließlich aus ungeschriebenen Gedankenaufzeichnungen besteht.“ (S.7) Gomes unterscheidet daher „die Form des Gedankenzitats im allgemeinen“ von der „Definition eines narrativen Paradigmas“ (S. 90), also den Inneren Monolog‘ in einem narrativen Kontext vom ‚Inneren Monolog‘ ohne einen solchen Kontext, weil hier „der Erzähler der Gedankenlesemaschine weicht“ (S. 96). Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden und dramatischen Werken. München 1974, S. 104.

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schreibung psychopathologischer Zustände äußert.15 Dieser Vorbehalt gehört dann auch zu den Gründen, sich nach 1893 vom Arztberuf endgültig abzuwenden, denn nur die literarische Behandlung genügt der Komplexität menschlicher Seelenzustände, wie sie der Arzt Schnitzler früh einzusehen lernt. Zugleich aber versetzen ihn gerade seine psychiatrischen Kenntnisse in die Lage, das ‚unrettbare Ich‘ in literarischen ‚Versuchsanordnungen‘16 auszuleuchten, noch bevor Ernst Mach die später berühmt gewordene Formel in seinem Buch Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen 1886 in die Welt setzte.17 Nach der Promotion 1885 redigierte Schnitzler im Auftrag seines Vaters die Internationale klinische Rundschau. Dank der Diskussionen über den Wahnsinn bei Meynert und über die von Charcot entwickelten Hypnosetechniken erhält er Einblicke in die abgründige Psyche: Das bewusste Ich ist nur eine Schein-Identität von relativer Bedeutung gegenüber elementaren Triebregungen und psychopathologischen Zuständen. Dabei umkreisen die medizinischen Schriften Schnitzlers, meist Rezensionen von Neuerscheinungen auch aus dem Bereich der Psychiatrie, immer wieder die Frage nach der äußerlichen Sichtbarkeit der Neurose oder der Hysterie – so in den bedeutenden Silvesterbetrachtungen (1889), wo Schnitzler hervorhebt, dass der Psychiater „sehen lernen muß wie kein anderer“.18 Gerade die Einsicht in die Grenzen einer Psychiatrie auf naturwissenschaftlicher Grundlage, die eben nur äußere Symptome ‚sehen‘ kann, lässt die literarische Gestaltung attraktiv erscheinen. Gegenüber dem Blick auf einen Befund von Außen verfügt diese über ganz eigene Erschließungskapazitäten für komplexe Psycholagen. Bereits die frühen Prosaskizzen funktionieren entsprechend als ‚Diagnosen‘19 analog zum wissenschaftlichen Experiment oder zum ärztlichen Befund: angezeigt in Untertiteln wie „Studie“ (für Die Braut, entst. 1891, ED 1932) oder vermittelt durch Ärzte-Figuren als Berichterstattern über besondere ‚Fälle‘, die ihnen begegnet sind. In vordefinierten „Testsituationen“20 mit offenem Ausgang werden bereits in der ganz frühen Prosa Schnitzlers Grenzoperationen zwischen Normalbewusstsein und Wahnsinn, zwischen Wachen und Träumen, zwischen Wahr15 Arthur Schnitzler: Medizinische Schriften. Zusammengestellt von Horst Thomé. Wien u.a. 1988. 16 Vgl. Michaela Perlmann: Arthur Schnitzler. Stuttgart 1987, S. 139; von ‚Experimentalanordnungen‘ spricht Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler. Stuttgart 2005, S. 108. 17 Zur Bedeutung Ernst Machs für die Wiener Moderne und zur Rolle Bahrs bei der Verbreitung seiner Thesen um 1904 vgl. Stefan Scherer: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne. Tübingen 1993, S. 340–347. 18 Arthur Schnitzler: „Silvesterbetrachtungen“. In: Schnitzler 1988 (Anm. 15), S. 173–176, hier S. 173. 19 Vgl. Worbs 1988 (Anm. 6), S. 197. 20   Fliedl 2005 (Anm. 16), S. 114.

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heit und Lüge mit literarischen Mitteln so nachvollzogen, dass auch für den Leser der Realitätsstatus des Erzählten unsicher bleibt. Wie weit die Darstellung in dieser Zeit reichen kann, zeigt die Prosaskizze Mein Freund Ypsilon. Aus den Papieren eines Arztes (entst. 1887, ED 1889).21 Die ärztlichen Aufzeichnungen simulieren die Dokumentation eines Fallberichts. Dem korrespondiert die nüchterne Sicht des Arztes im Kontrast zur haltlosen Phantasie des schwächlichen Dichters Ypsilon. Der Arzt hält es für „Wahnsinn“ (24), dass sich der Philologie-Student Martin Brand in seine eigenen „Phantasiegebilde“ verliebt (25). Zum Schluss stirbt der Freund aus unerfüllter Liebe seiner von ihm erfundenen ‚trivialen‘22 Märchenfigur Türkisia nach: „[D]eine Nerven sind krank von dem überheftigen Reize, dem deine wilde Phantasie dich überliefert“ (28), meint der Arzt, obwohl er selbst bereits die Gespräche über Ypsilons Fiktionen ausphantasiert,23 bis auch er das Sterben Türkisias empfindet und sie sogar als Tote vor seinem inneren Auge sieht: Ein Bild tauchte vor mir auf, als wir durch die schlechterleuchteten Gassen fuhren, das ich nimmer loswerden konnte … Ich sah die Prinzessin Türkisia im Sarge liegen, der ganz von Glas war, und davor stand mein unseliger Dichter mit tränen­ losen, schmerzlichen Augen. […] Eben begann er zu schreiben. Alles um ihn war versunken. Die sterbende Türkisia bannte ihn in ihren Kreis. […] Seine Feder hastete übers Papier […]. Der Ausdruck seines Gesichts ward immer bewegter; dabei war er aber totenblaß. In einem Augenblicke hatte ich das deutliche Gefühl, daß Türkisia starb. (31f.)

Abschließende Hinweise nach dem Tod des Freundes betonen zwar die miserable Qualität des ‚misslungenen‘ Märchens ohne jegliches „Talent darin“; dieser Nachtrag gehöre zur „Vollständigkeit [s]eines Berichtes“. Ypsilon sei aber doch ein „wahrer Dichter“ gewesen: „Denn welch eine Phantasie muß es sein, die ein Wesen hervorzuzaubern vermag, in das sich der Phantast selbst bis zum Wahnsinn verliebt.“ (33) Doch dieser vernünftig räsonierende Schluss scheint mir nicht die Pointe der kleinen Skizze zu sein. Denn auch der Vertreter der praktischen Vernunft hatte ja die Halluzination seines Dichterfreunds an sich selbst vernommen, obwohl er den Freund, der für die von ihm erfundene Geliebte stirbt, tatsächlich für verrückt hält. Die Gespräche über dessen Einbildun21 Arthur Schnitzler: „Mein Freund Ypsilon. Aus den Papieren eines Arztes“. In: A.S.: Die Frau des Weisen und andere Erzählungen. Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Das erzählerische Werk. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1983, S. 23–34. Alle Zitate nachfolgend direkt in Klammern nach dieser Ausgabe. 22 „Aber Ypsilon ist nur ein jämmerlicher Nachfahre, denn er schreibt […] eine vollkommen triviale Literatur“ (Burkhard Spinnen: „Arzt gegen Dichter“. In: B.S.: Bewegliche Feiertage. Es­ says und Reden. Frankfurt a.M. 2000, S. 83–96, hier S. 94). 23 „So führte ich in der Einbildung immer ein Gespräch mit ihm, ohne daß er eigentlich den Mund auftat.“ (30)

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gen üben offenbar eine ganz eigene performative Kraft aus – ungeachtet der Tatsache, dass sie von einem Wahnsinnigen stammen. Unverhofft sieht eben auch der nüchterne Arzt das Innere eines Anderen so vor sich, als begegne er ihm selbst. Schon vor 1890 machen Schnitzlers Prosatexte auf diese Weise das Unsichtbare bzw. Uneinsehbare im Inneren des Menschen mit literarischen Mitteln auch für den normalen Verstand einsichtig, indem es vor das innere Auge des Lesers tritt: hier ermöglicht durch den gleitenden Wechsel der Erzähl­perspektiven zwischen dem ärztlichen Ich-Erzähler als Bericht­ erstatter und der Erzählung seines Freundes, dessen Erfindung den Vernünftigen affizieren. Schnitzler erprobt so Möglichkeiten einer perspektivierenden Darstellung, in der die Relativität der erzählerischen Wahrheit gegenüber der inneren Wahrheit einer Figur evident wird. Zwar handelt es sich in diesem traditionellen Erzählen24 noch um die altehrwürdige Technik der Hypotypose, d.h. um das ‚Vor-Augen-Stellen‘ durch Rede, die früh im Drama genutzt wird, weil dieser Gattung im Unter­ schied zum epischen Text der Einblick ins Innere einer Figur versagt bleibt. Noch werden Bewusstseinsvorgänge also nicht direkt, im lesenden Mitvollzug für den Rezipienten erlebbar gemacht. Andere Prosatexte Schnitzlers in den 1880er Jahren entwickeln dagegen Varianten der autonomen indirekten Gedankenrede bis an die Grenze des punktuell bereits reali­ sierten Inneren Monologs – auf eine Weise, die es bis zum Spät­realismus nicht gibt, sieht man von Ausnahmeautoren um 1830 wie Büchner mit seiner Lenz-Novelle und Mörike mit seinem Roman Maler Nolten einmal ab, wo personales Erzählen punktuell sich ankündigt und bereits mit einer medizi­nischen Darstellung des Wahnsinns verbindet.25 Die frühen Prosatexte Schnitzlers der 1880er Jahre sind insofern als erste Versuche einer einsetzenden Moderne zu begreifen, das ‚innere Afrika‘ des Menschen mit literarischen Mitteln anschaulich werden zu lassen, bevor Bahr die Verfahrensweisen program­matisch postuliert und bevor Freud aus der Einsicht in dieses unkontrollierbare wilde Land der Seele eine Wissenschaft zu machen unternimmt. Mit dieser Aufmerksamkeit kehrt sich die Frühe Moderne von Darstellungsprinzipen des Bürgerlichen Realismus ab, der seine poetischen Ord24 Es steht zugleich aber bereits für den „Versuch, einer Gattung, die ganz auf Struktur und Handlung gestellt ist, das zeitgemäß Unbewußte, seine Extreme und seine Vagheiten einzuschreiben. […] Statt zu psychologisieren läßt er [Schnitzler] das Psychologische sich ereignen, beziehungsweise läßt er es sich in einem handgreiflich-vernünftigen Alltagsbewußtsein spiegeln.“ (Spinnen 2000 [Anm. 22], S. 96) 25 Vgl. Stefan Scherer: „Naive Re-Flexion. Romantische Texturen, erzählte Theatralität und maskiertes Rollensprechen im Maler Nolten (Epigonalität und Modernität eines ‚Schwellen­ texts‘ in der ‚Schwellenepoche‘ 1830–1850)“. In: Eduard Mörike. Ästhetik und Geselligkeit. Hg. von Wolfgang Braungart und Ralf Simon. Tübingen 2004, S. 5–30.

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nungsvorstellungen in erster Linie optisch beglaubigte: genauer mithilfe des symbolischen Denkens, indem im sichtbaren Detail der äußeren Welt ihre höhere Ganzheit transparent wird.26 Schnitzlers frühe Prosa seit den 1880er Jahren hingegen interessiert sich für die literarische Erkundung dessen, was noch kein Mensch je bei einem anderen Menschen gesehen hat: seine Träume, Einbildungen, Halluzinationen oder Wahnzustände. Dieses Innenleben ist der äußeren Welt grundsätzlich unzugänglich. (Darin besteht – nebenbei gesagt – auch das unlösbare Grundproblem der Psychoanalyse: Eine Wissenschaft vom Traum kann es nicht geben, weil dessen Erleben immer im Einzelnen eingekapselt bleibt.) Erzählende Texte hingegen können diesen ‚Weltinnenraum‘ (Rilke) erfahrbar machen. Autoren wie Schnitzler und Beer-Hofmann entwickeln insofern literarische Techniken, dieses Uneinsehbare im Inneren des Menschen dem Leser vor Augen zu stellen. Statt vom ‚Realitätseffekt‘ kann man für die Prosa der Wiener Moderne vom ‚Traumeffekt‘ sprechen, indem die Grenz­verwischungen zwischen realen Wahrnehmungen und den Projektionen der Einbildungskraft in der perso­ nalen Erzählsituation direkt aufgezeichnet werden: „Es handelt sich um eine Methode, die Ereignisse in den Seelen zu zeigen, nicht von ihnen zu berichten.“27 In diesem Rahmen verschreibt sich die Literatur der Wiener Moderne, den ganzen inneren Menschen zu erkunden: auch sein „Mittel­ bewußtsein“,28 das durch Literatur überhaupt erst anschaulich wird.29

2.  Schnitzlers Prosa der 1880er Jahre Den Sinn für psychische Verfasstheiten entwickelt Schnitzler von Beginn an in experimentellen Schreibanordnungen. Bereits der erste von ihm publi­ zierte Text, ein Kongressbericht in Begleitung seines Vaters in der Wiener Me­ dizinischen Presse (1879) unter dem Titel Von Amsterdam nach Ymuiden,30 kippt unversehens in ein impressionistisches Stimmungsbild31 von einer Meer26 Dazu Stefan Scherer: „Evidenz und Gesetz. Das Lügen der Bilder in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs“. In: Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien. Hg. von Annette Simonis. Bielefeld 2009, S. 229–252. 27 Bahr 1976 (Anm. 7) S. 98. 28 So bekanntlich Schnitzlers Kategorie gegenüber den skeptisch beäugten Annahmen Freuds (Arthur Schnitzler: „Über Psychoanalyse“. Hg. von Reinhard Urbach. In: Protokolle 2 [1976], S. 277–284, hier S. 283). 29 Vgl. Stefan Scherer: „Evidence of the Entire Inner Man. Visualization of the Invisible in Radical Prose of Early Modernism (Beer-Hofmann, Einstein, Musil)“. In: „Bilderrätsel des gesprungenen Bewußtseins“. Anfänge Visueller Kultur (in) der Moderne (1890–1938) / Modernism and the Beginnings of Visual Culture (1890–1938). Hg. von Gustav Frank. Bielefeld 2017 [i.Dr.]. 30 Arthur Schnitzler: „Von Amsterdam nach Ymuiden (Von einem zweiten Berichterstatter)“. In: Schnitzler 1988 (Anm. 15), S. 63–67 31 Vgl. Fliedl 2005 (Anm. 16), S. 103f.

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fahrt um, das an den phallischen Masten der Schiffe das Potenz-Gebaren der berühmten Wissenschaftler mit Vollbärten durch einen schon psychoanalytischen Blick entlarvt. Der wissenschaftliche Bericht verwandelt sich in Literatur, mittels derer der ganz junge Schnitzler seine psychologische Schulung demonstriert, die äußeren Fassaden menschlichen Verhaltens auf das Unbewusste hin durchschauen zu können. Halluzinogene Erlebnisse, in denen sich die Grenzen zwischen Realität und Phantasma verwischen, so dass auch der Leser über den Realitätsstatus des Erzählten betrogen wird, machen dann bereits die ersten literarischen Prosatexte anschaulich: so die Skizze Frühlingsnacht im Seziersaal (entst. 1880, ED 1932/33), die mit ihrem Untertitel Phantasie zwar noch Romantikbezüge (durch das Fenster-Motiv) präsent hält, im metonymischen Gleiten der Motive aber bereits unmerklich in den Traum einer leibhaftigen dionysischen Vereinigung von Liebe und Tod mündet, in dem die Tagesreste von der Begegnung mit einem jungen Mädchen draußen vor dem Fenster verarbeitet sind.32 Im Seziersaal widmet sich der Ich-Erzähler der „Erkenntnis des Todes“ (7), nachdem er um 3 Uhr morgens den „Tanzsaal“ verlassen hatte. Mit dem betörenden Frühlingsduft33 durch das Fenster steigt ein Traum von der Liebesvereinigung eines Freundes mit Christine, der Tochter des Anatomiedieners, in diesem Reich der Leichen auf, verstärkt durch die Geigenmusik eines Wanderers, der durch das Fenster „hereinspringt“ (10), so dass sich hierin eine Allegorie des Todes zu erkennen gibt. Wachen und Träumen sind in dieser Nacht nicht mehr zu unterscheiden, ja der Traum hat zuletzt sogar soziale Folgen im realen Leben: „Seit jenem Morgen verbreitete sich die Sage, ich sei in das Mädchen verliebt“, lautet der Schlusssatz dieser frühesten Prosaskizze, der Konsequenzen nächtlicher Ereignisse mitteilt, bei denen unklar bleibt, was davon wirklich und was nur geträumt oder eingebildet gewesen ist.34 Auch die noch stark impressionistische Prosaskizze Welch eine Melodie (entst. 1885, ED 1932)35 beginnt bemerkenswert expositionslos mit einem Leitwort der späteren Psychoanalyse: „Es hört sich an wie ein Märchen …“ (7). Erzählt wird hier von den „planlos“, „mechanisch“ und „mit kindischem Eifer“ auf ein Notenblatt hingeschriebenen „musikalische[n] Zeichen“, die einem „Knabe[n]“ am Fenster an einem „schläfrige[n] Som32 Arthur Schnitzler: „Frühlingsnacht im Seziersaal. Phantasie“. In: A.S.: Entworfenes und Verwor­ fenes. Aus dem Nachlaß. Hg. von Reinhard Urbach. Frankfurt a.M. 1977, S. 7–11. Alle Zitate nachfolgend direkt in Klammern nach dieser Ausgabe. 33 Er ist „so weich und mild beinahe wie der warme Duft von herzigen Mädchenlippen, den ich heute nachts im Wirbel des Tanzes übers Antlitz hauchen fühlte.“ (7) 34 Eine Vorwegnahme der Traumdeutung erkennt darin Frederick J. Beharriell: „Schnitzlers Anticipation of Freud’s Dream Theory“. In: Monatshefte 45, 1953, S. 81–89. 35 Arthur Schnitzler: „Welch eine Melodie“. In: Schnitzler 1983 (Anm. 21), S. 7–10. Alle Zitate nachfolgend direkt in Klammern nach dieser Ausgabe.

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mernachmittag“ in den Sinn kommen, „während er an alles mögliche dachte“ (ebd.). Die Komposition, die der Wind sogleich durch das Fenster nach draußen verweht, stellte sich ohne Absicht ein, weil der Knabe „keine Ahnung“ hat, „was nun eigentlich auf dem Blatte stand“: Sie sei wie „mit offenen Augen träumend“ entstanden (ebd.). Ein erfolgloser Komponist findet das Blatt im Freien und erkennt die ungeheure Wirkung der Musik an seiner Geliebten, die beim Hören sogleich errötet. Die so absichtslos entstandene Musik übt offenbar eine derart innige Wirkung aus, als sei sie von der „Liebe selbst“ (9) geschaffen worden: „[E]in kurzes einfaches Motiv“ führt „wie weltentrückt“ zur „unvergleichlichsten Entzückung“ (8) und schließlich zu einer ekstatischen Liebesvereinigung. Der Komponist hat mit dieser Melodie daraufhin auch großen Erfolg bei den „elegantesten Damen der Stadt“, sein Klavierstück wird „populär“ (9). Er kann diesen Erfolg mit eigenen Kompositionen aber nicht wiederholen und begeht daher Selbstmord. Der Zauber der Melodie entstand eben ‚zufällig‘, aus „dem glücklichen Gedanken irgendeines Träumers“ ganz „unbewußt[ ] geschaffen“ (10). Noch ist diese Skizze insofern konventionell erzählt, als sie keine Innenperspektive einnimmt. Mit dem ersten Wort „Es“ und dem später wiederholten „vielleicht“ macht sie aber klar, dass zu den Gründen der spürbaren Wirkung der Melodie Vermutungen über das Unbewusste möglich sind. Die Musikalität äußert sich mit Hilfe einer Leitmotiv-Technik, die Formeln wie ‚Welch eine Melodie!‘ und ‚wie ein Märchen‘ auf selbst musikalische Weise miteinander verknüpft36 – eingerahmt durch die Erzählung vom Knaben, der das Stück selbst nicht spielen kann, aber mit seiner Melodie eine „neue, ungekannte Welt“ entdeckte, die „wohl tief“ zu „empfinden“, aber „kaum zu fassen” ist (ebd.). Die bezaubernde Wirkung entzieht sich damit – produktions- wie wirkungsästhetisch – der künstlerischen Verfügung. Ein literarischer Text kann die ‚neue, ungekannte Welt‘ aber artikulieren und in seiner eigenen Musikalität fühlbar machen. Zu den impressionistischen Skizzen in dieser Linie gehören Er war­ tet auf den vazierenden Gott (entst. 1886, ED 1886), Amerika (entst. 1887, ED 1889) und Erbschaft (entst. 1887, ED 1932). Dem Ich-Erzähler in der Skizze Amerika 37 steht im Präsens seiner Erzählung (vom ersten Satz an) gleich zu Beginn ein „anderes“ Amerika vor Augen, obwohl er nach einer Schiffs­passage gerade das wirkliche Amerika betreten hat (15). Es ist ein Gebiet, das plötzlich als Erinnerung in ihm aufsteigt: „Ich sehe jenes 36 Zu Schnitzlers Bewunderung Wagners vgl. Rüdiger Görner: „Musik“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 44–47, hier S. 44; zu seinem musikalischen Erzählen vgl. den Beitrag von Rüdiger Görner im vorliegenden Band. 37 Arthur Schnitzler: „Amerika“. In: Schnitzler 1983 (Anm. 21), S. 15–17. Alle Zitate nachfolgend direkt in Klammern nach dieser Ausgabe.

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kleine Zimmer“, also den Raum, in dem er einst eine Geliebte traf – und schon spürt er die „süße, weiße Hautstelle hinter dem Ohre“ (ebd.). Diese erogene Zone hatte er seinerzeit als sein ‚Amerika‘ entdeckt, weil das Wort aus dem Mund der Geliebten, „von ihren roten Lippen“, „erschallte“ (ebd.): Ausgelöst wird die Vorstellung vom gemeinsamen Land („unser Amerika“) durch den Namen Kolumbus, den das Paar während einer Theateraufführung hört (16).38 Mit der Landung im realen, aber „falschen Amerika“ steigt demnach die Sehnsucht nach diesem „süßen, duftenden Amerika da drüben“ auf (ebd.). Auf irritierende Weise verkehrt sich das Verhältnis von Wirklichkeit und Halluzination, wenn das tatsächliche Amerika (als Sehnsuchtsraum des Europäers) vom verlorenen Paradies unter gleichem Namen überdeckt wird – bewirkt durch ein Wort, das mit dem „Duft“ „von Annas Locken“ (17) als ­mémoire involontaire dem Reisenden geradezu leibhaftig vor Augen tritt. Zwar ist dieses einst von beiden ersehnte Land des Liebesglücks „unwieder­bringlich verloren“ (ebd.), im Duft bei geschlossenen Augen als „trüge­risches Spiel der Sinne“ (ebd.) aber nicht wirklich vergangen. „In höchst artistischer Weise“39 funktioniert die Prosa­ skizze somit als ein medio­logischer Text,40 der die Leistungsfähigkeit der Schrift zur Evokation einer erträumten Sinnlichkeit demonstriert, indem er eine Wahrnehmungssensation nachzeichnet, auf der Proust dann seine Recherche aufbauen wird. Der kurze Prosatext Erbschaft (entst. 1887, ED 1932)41 ist ebenfalls noch konventionell in der Er-Form im Präteritum erzählt, testet nun aber erstmals an den Vorstellungen vom Sterben vor dem Duell eines Geliebten mit dem betrogenen Gatten die autonome indirekte Gedankenrede (‚erlebte Rede‘) aus. Zur „Erbschaft“ gehören die Briefe der verstorbenen Ehefrau an den 38 Das Wort steht damit für den „neu zu erobernden Kontinent der Literatur, der sich als fremdes und unsicheres Gelände darstellte“ (Fliedl 2005 [Anm. 16], S. 110). 39 Robert Leroy und Eckart Pastor: „Von Storm und anderen Erinnerungen. Frühe Texte von Thomas Mann und Arthur Schnitzler“. In: Deutsche Dichtung um 1900. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hg. von R.L. und E.P. Bern u.a. 1991, S. 333–353, hier S. 346. Allerdings interessiert sich dieser Beitrag eher nur für die kritische Entlarvung der kitschigen „Liebeskulissen wie aus einer bürgerlichen Familienzeitschrift“ (S. 348) und weniger für die Produktivität, die aus der„Assoziation des Wortspiels“ (S. 349) in der Wortkette ‚Neues‘ – ‚entdeckt‘ – ‚Amerika‘ hervorgeht. Im Vergleich mit Storm sehen die Autoren in der „konsequenten Introspektion“ die „Technik des inneren Monologs“ vorbereitet (S. 352), den es in dieser kleinen Erzählung jedoch nicht gibt. 40 Dies im Sinne von Koschorkes Begründung in Körperströme und Schriftverkehr (1999); vgl. Stefan Scherer: „Mediologische Narration. Sinnliche Gewißheit und erzählte Medientheorie in Prosatexten der 90er Jahre“. In: Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahr­ hundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Hg. von Peter Wiesinger unter Mitarbeit von Hans Derkits, Bd. 7: Gegenwartsliteratur. Betreut von Helmut Kiesel und Corina Caduff. Bern u.a. 2002, S. 113–118. 41 Arthur Schnitzler: „Erbschaft“. In: Schnitzler 1983 (Anm. 21), S. 18–22. Alle Zitate nachfolgend direkt in Klammern nach dieser Ausgabe.

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Geliebten Emil, die der Ehemann im Mieder der Toten versteckt findet und die ihn zum Duell zwingen, weil zwei weinende Männer am Grab sein „ethisches Gefühl“ beleidigten (20). Der durchgängigen personalen Perspektive, die die Innensicht Emils wiedergibt, kontrastiert am Ende ein harter Schnitt nach dem Duell durch den Wechsel der Erzählung in die Außen­sicht (21). Sehr lakonisch wird darin von der Rückfahrt des Ehemanns mit der Leiche des Konkurrenten im Fiaker berichtet. Das un­erhörte Ereignis selbst bleibt demnach ausgespart. Schnitzler konterkariert damit die erwartete Dramaturgie der Spannungssteigerung. „Müde und traurig“ klingt am Schluss das „Pferdebahngeklingel“ (22). Ohne jede moraldidaktische Pointe endet die Geschichte völlig offen. Durch die Entwicklung von Innensichten wie in Erbschaft vertiefen sich die frühen Prosaskizzen zusehends zu psychologischen ‚Studien‘. Zu nennen sind Der Andere. Aus dem Tagebuch eines Hinterbliebenen (entst. 1889, ED 1889) oder Der Sohn. Aus den Papieren eines Arztes (entst. 1889, ED 1892)42 – der erste Text Schnitzlers, der in der Hauszeitschrift des S. Fischer Verlags, der Freien Bühne für den Entwicklungskampf der Zeit (1894 in Neue deut­ sche Rundschau umbenannt), erscheint.43 Deutlich zeigt sich hier eine Nähe zum Naturalismus,44 wie auch immer die Textur eine „forcierte Subjektivierung und Psychologisierung des Erzählens bereits durch die personale Erzähl- bzw. die intime Schreibsituation“ anstrebt.45 „Die Papiere eines Arztes“ berichten von der traumatisierenden Wirkung eines beabsichtigten Kindsmords, der dann doch nicht in die Tat umgesetzt wird: Sie konfrontieren den Leser mit dem ‚Fall‘ einer Mutter, die ihren Sohn, der sie gerade mit einem Beil tödlich verletzt hatte, im Sterben noch entschulden will. Der Arzt solle sich vor Gericht für den Freispruch einsetzen. Als Grund für den Angriff gibt sie an, dass sie, von ihrem Geliebten verlassen, das Kind in der ersten Nacht nach der Geburt töten wollte. Weil es aber so er­ barmungs­voll „wimmerte“ (83), lässt sie es leben. Ihre Schuldgefühle schlagen um in eine übermächtige Liebe, die der Sohn zeitlebens abwehrt. Er wird zum Säufer und fordert von seiner verschuldeten Mutter immer wieder aufs Neue Geld ein. Im Gerede der Leute im Haus artikuliert sich das gängige mora­lische Vorurteil über einen „Tunichtgut“ (80), dessen Trunk42 Arthur Schnitzler: „Der Sohn“. In: Schnitzler 1983 (Anm. 21), S. 79–86. Alle Zitate nachfolgend direkt in Klammern nach dieser Ausgabe. 43 Zu den anfänglichen Schwierigkeiten Schnitzlers, seine Texte bei Verlagen und Zeitschriften unterzubringen, bis ihn Samuel Fischer aus dieser „prekären Situation“ erlöste, vgl. Bachleitner 2014 (Anm. 2), S. 13. 44 Zu dieser naturalistischen Tendenz bei „didaktische[m] Duktus“ im Hervortreten philosophischer Reflexionen, „auf denen das naturwissenschaftliche Denken Schnitzlers gewissermaßen aufliegt“, vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, S. 284. 45 Trilcke 2014 (Anm. 4), S. 167.

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sucht und Gewalttätigkeit, während die Mutter seine Abnormität auf ihre eigene Schuld zurückführt. Schnitzler reflektiert so die Determination (und damit Nicht-Kontrollierbarkeit von Gefühlen und Verhaltensweisen) durch frühkindliche Erfahrungen. Unbewusste Regungen entstehen im Augenblick der allerersten Wahrnehmung: „Niemals noch hat ein Mensch von seiner ersten Lebensstunde zu berichten gewußt“ (86). Und doch könne dieser Moment eine bedeutende Rolle für ein ganzes Leben spielen. So sei auch beim Sohn der „erste Blick“ entscheidend gewesen, denn er „glüht“ „mit zerstörender Macht in jene Kindesseele hinein, die ja tausenderlei Ein­ drücke aufnimmt, lange bevor sie dieselben zu enträtseln vermag“ (ebd.). Zum Schluss problematisiert der Arzt die Willensfreiheit im Verhältnis zur Determination, indem er die Möglichkeit, solche Fragen durch medizinischen Fortschritt einmal lösen zu können, zumindest in Aussicht stellt: „[E]s ist noch lange nicht klar genug, wie wenig wir wollen dürfen und wieviel wir müssen.“ (ebd.) Mit Reichtum (entst. 1889, 2. Fassung 1891, ED 1891)46 schreibt Schnitzler dann die erste größere Erzählung, in der die literarische Grenzverwi­ schung zwischen Realität, Halluzination, Traum und Wahnsinn bereits so tricky vollzogen wird, dass kaum mehr zu entscheiden ist, was es mit dem nächtlichen Spielgewinn des verarmten Anstreichers Karl Weldein wirklich auf sich hat, ja ob dieser je stattfand. Noch oszilliert diese Generationen-Erzählung, die erstmals im Werk Schnitzlers mehrere Jahre übergreift, zwischen naturalistischer Schilderung sozialer Lebensverhältnisse und ‚Ver­ innerung‘ des Erzählens. Dabei ist Reichtum – der erste Prosatext, den Schnitzler 1891 mit der Modernen Rundschau in einer angesehenen Zeitschrift unterbringen konnte – bereits derart radikal, dass die Traumförmigkeit des Lebens eine für den Leser nachvollziehbare literarische Gestalt gewinnt. Denn auch ihm wird es systematisch unmöglich gemacht, Wahrheit und Einbildung voneinander zu unterscheiden.47 Das unerhörte Ereignis ist der unverhoffte Reichtum eines verarmten Anstreichers, der einmal Maler werden wollte. Sein nächtliches Spielerglück wird aber von Beginn an so erzählt, dass es sich auch nur um die fixe Wahnidee von Weldein handeln könnte, der am nächsten Morgen, berauscht von seinem Glück, im Frack erwacht. Auf jeden Fall aber findet er das in der Nacht angeblich gewonnene und am Pfeiler einer Brücke am ‚rauschenden‘ „Strom“ („der die Stadt durchschneidet“, 56) von ihm vergrabene Geld 46 Arthur Schnitzler: „Reichtum“. In: Schnitzler 1983 (Anm. 21), S. 47–78. Alle Zitate nachfolgend direkt in Klammern nach dieser Ausgabe. 47 Zur konsequent durchgehaltenen „Mitsicht mit dem Protagonisten“ nach der Umarbeitung in der zweiten Fassung vgl. Michael Scheffel: Arthur Schnitzler. Erzählungen und Romane. Berlin 2015, S. 26–35, hier S. 31; eine Dokumentation der ersten Fassung bei Urbach 1974 (Anm. 14), S. 83–93. Scheffel führt indes nicht aus, dass man es eigentlich mit zwei Mitsichten zu tun bekommt: der des Vaters und später dann des Sohns.

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nicht wieder,48 obwohl er in der darauf folgenden Nacht in direkter Nähe danach sucht.49 Trotz der deutlich erkennbaren naturalistischen Motive – die Trunksucht und der Wahnsinn als Vererbung (vgl. 62), das soziale Elend mit dem schmutzigen Geruch der qualmende Lampe (48), das Ticken der Wanduhr nach Maßgabe der phonographischen Methode (47) bis hin zum naturalistisch geschilderten qualvollen Sterben, das wie in Holz’/Schlafs Ein Tod (1889) noch bei der Außensicht verbleibt (vgl. 69f.)50 –, trotz dieser unverkennbar naturalistischen Anlage in der Darstellung einer äußeren Welt aus Elend und Not bewegt sich also gerade diese Erzählung an der Umschlagstelle zum ‚inneren Naturalismus‘.51 Immer wieder gleitet Reichtum nämlich umstandslos in die Einbildungen und Träume Weldeins: „Daß es kein Traum gewesen sei, das stand nun fest; wie wäre er sonst in diesem Anzug ins Bett gekommen? Es war also Leben und Wahrheit.“ (47) Aber auch diese Selbstvergewisserung geht möglicherweise nur auf den „Streich“ zurück, den seine nächtlichen Begleiter, Freiherr von Reutern und Graf Spaun, mit ihm „wie die guten Geister im Märchen“ gespielt haben (48). Entsprechend ziehen auch am Morgen „die seltsamen Bilder der heutigen Nacht vor ihm vorüber.“ (49). Dass der Sohn später tatsächlich Geld findet, nachdem seinem Vater im Delirium des Sterbens die Stelle wieder einfällt, wo er es vergraben haben will, beglau48 „Und er hielt sich am Geländer fest, während er schrie und raste … ‚Verstecken! Ich hab’ es verstecken müssen … Im Strom … Auf dem Grund? … […]‘.“ (56) 49 Der Text verschränkt hier wie auch sonst leitmotivisch das Rauschen des fließenden Wassers mit dem Rausch des nächtlichen Spielerglücks; die Wiederholungsstruktur bildet sich dabei in Formeln wie ‚Es rauscht, es rauscht‘ selbst ab (vgl. zu dieser Isotopie-Kette 52, 53, 55, 56, 59, 65, 70, 71). Das sprachlich angezeigte Ineinander von rauschender Natur und Berauschung im Alkohol und Spielerglück bewirkt aber nicht, dass Weldein die Stelle, wo er das Geld vergraben haben will, tatsächlich findet, obwohl er durchaus ahnt, ganz in ihrer Nähe zu sein. Schnitzler lässt das auch den Leser ahnen, als Weldein beim nächtlichen Suchgang den „Fluß“ an „einem mächtigen steinernen Löwen“ rauschen hört (53): Erst „im Fieber“ aber erinnert sich der Sterbende an die „Löwenbrücke“ (69), wo sein Sohn schließlich tatsächlich Geld findet. Beim Versuch, die nächtlichen Ereignisse nach dem Spielgewinn auch mit Alkohol zu simulieren, damit ihm die richtige Stelle in der Erinnerung aufsteige, gelingt ihm genau das nicht – wohl auch, weil im Strom des Bewusstseins, den der Innere Monolog anzeigt, die Erinnerung selbst zerfließt (vgl. 55f.). 50 Dabei wird auch in Reichtum der Punkt kenntlich, an dem die phonographische Methode des Naturalismus für die Verfahrenstechniken des Inneren Monologs genutzt werden kann (vgl. Scherer 1993 [Anm. 17], S. 288–290). 51 Vgl. zu diesem Text in diesem Sinn auch Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösungen im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996, S. 235f. Bereits in Reichtum erkennt Lukas einen entscheidenden Mechanismus, der Schnitzlers Werk bestimmt: die ‚psychologisierende‘ Substitution, die auf der Oberfläche den Ausgangszustand zyklisch bestätigt, in der Tiefe aber das eigentliche narrative Ereignis als Austausch der Motive inszeniert: „Was beim Vater eher akzidentell motiviert war, wird nun beim Sohn auf eine notwendige, ganz im Wesen der Person gründende Motivation zurückgeführt“ (S. 236). Reichtum eröffnet gegenüber der naturalistischen Determiniertheit des eigenen sozialen Milieus insofern auch den Gedanken an die Vererbbarkeit von Wahnsinn in der eigenen Familie.

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bigt das Faktum, es habe den Spielgewinn für den alten Weldein gegeben, nicht wirklich: So wie Schnitzler dieses Finden als Inneren Monolog darstellt – „Und hier … ja … etwas, das aussah wie ein Tuchende … und jetzt … noch ein Stein … Es rauschte und hallte wider … und das? Das! Es war dunkel unter der Brücke … […] Ja! Er war’s! der Schatz! Der Reichtum, das Glück!“ (71) –, zeigt sogar eher an, wie sehr auch der Sohn bereits an dieser Stelle (ähnlich wie Christian in Tiecks Der Runenberg ) dem Wahnsinn verfallen ist.52 Zwar findet der Sohn an der besagten Stelle, an die sich der Vater erst im Sterben wieder erinnert, offenbar tatsächlich Geld, das er sogleich verspielen wird: In der genealogischen Logik, wonach im Naturalismus auch der Wahnsinn als vererbbar gilt, besagt das aber nicht wirklich, dass es der Vater dort vergraben hat. Zum Schluss spricht ja sogar die väterliche Instanz selbst im wahnsinnig gewordenen Sohn: „Mein Sohn, mein armer Sohn!“ (78). Damit schließt die Erzählung. In der zyklischen Anlage einer „Wiederholungsstruktur“53 wird so eben auch signalisiert, dass sich bereits der Vater in einem Wahn verloren hatte. Folgt man dieser Lesart, erbt der Sohn, der zum Schluss die Perspektive seines Vaters einnimmt, auch den bereits für diesen geltenden Verlust der Fähigkeit, zwischen Realität und Einbildung unterscheiden zu können. Wie auch immer noch das Präteritum vorherrscht: Die Verfahrenstechniken des Inneren Monologs sind in dieser Erzählung fest etabliert,54 so dass auch der Leser die Realitätsebenen nicht mehr auseinander halten kann. Und wie auch immer man die erbgenetische Determination in der Familiengenealogie beurteilt: Die Erzählung lässt tatsächlich die Deutung zu, dass der ganze Reichtum nichts anderes als eine Einbildung gewesen ist – eine Projektionsfläche für die unerfüllt gebliebenen künstlerischen Ambi­ tionen des Vaters, die auch im Sohn ebenso unerfüllt bleiben. Blickt man auf die Erzählverfahren, mit denen all diese Ereignisse vermittelt werden, ist der Realitätsstatus des Erzählten auch für den Leser nicht mehr auf­ zuklären. Direkt mit dem in Lieutenant Gustl realisierten Inneren Monolog vergleichbar ist schließlich die Prosaskizze Der Andere. Aus dem Tagebuch eines 52 Die intertextuelle Bezugnahme auf Tiecks Runenberg wird evident, als der junge Weldein dem Grafen Spaun die Stelle unter der Bücke zeigt, wo er das Geld gefunden haben will, denn er schiebt sich jetzt „Steine in die Tasche“, in denen er Geld sieht (77). 53 Magdolna Orosz: „Reichtum“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 169–171, hier S. 170. 54 Die ‚Verinnerung‘ des Erzählens reicht hier über die erlebte Rede (etwa 50f.) bis hin zu längere Passagen mit Inneren Monologen (z.B. 55ff.), auch wenn noch das Präteritum dann auch beim Wechsel in die Erzählerrede vorherrscht (vgl. 57). Eine „Mischform aus erlebter Rede und innerem Monolog“ erkennt Scheffel 2015 (Anm. 47), S. 33. Folgt man dagegen Gomes 2008 (Anm. 13), S. 90, sei der Innere Monolog in Reichtum noch nicht erreicht, weil man es hier noch nicht mit der Aufzeichnung einer Gedankenlesemaschine ohne Erzähler zu tun habe.

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Hinterbliebenen (entst. 1889, ED 1889).55 Unvermittelt nimmt diese literarische Simulation eines Tagebuchs im Präsens nämlich gleich mit dem ersten Satz die Innenperspektive ein, indem sie direkt versprachlicht, was dem Schreiber spontan durch den Sinn geht. Zwar hat man es damit tatsächlich nicht mit einem Inneren Monolog, sondern eben mit Aufzeichnungen zu tun. Schnitzler aber erprobt hier erstmals mehr oder weniger durchgängig diejenigen sprachlichen Mittel, die er später für die Gestaltung in Lieute­nant Gustl nutzen wird: unvollständige Sätze im Präsens, Auslassungen als Leerstellen bzw. Stockungen des Schreibprozesses, Abtönungspartikel wie „Ja, ja!“ (44) usw. Das Tagebuch hält auf diese Weise die Spontaneität des Denkens und Grübelns eines von seiner gestorbenen Frau verlassenen Mannes fest: sein Empfinden über den ‚Anderen‘, den er am Grab seiner Gattin trauernd antrifft, der also möglicherweise ihr Geliebter gewesen ist. Er stellt ihn aber nicht zur Rede, offenbar weil er sich nicht den Glauben daran zerstören lassen will, von seiner Gattin leidenschaftlich geliebt worden zu sein – und weil das „Grab“ selbst „keine Antworten“ mehr geben kann (46). Es bleibt für ihn ein unlösbares Rätsel, so dass an dieser Leerstelle die assoziativ oszillierenden Vermutungen bis zum letzten Satz vor dem Bild der geliebten Frau wuchern können: „Abende, Nächte hinein starre ich in diese stummen, lächelnden, rätselhaften Augen …“ (ebd.).

3.  Literarische Selbstbeobachtung der etablierten Wiener Moderne: Spaziergang Der kurze Prosatext Spaziergang erscheint am 6. Dezember 1893 in der Morgenausgabe der Deutschen Zeitung in Wien innerhalb einer geplanten Reihe unter dem Titel Wiener Spiegel.56 Er ist allein deshalb bemerkenswert, weil darin die unterschiedlichen poetologischen Positionen zwischen den bedeutendsten Autoren des Jungen Wien ausgehandelt werden. Hinter den ‚vier Freunden‘ Hans, Max, Stefan und Fritz, die sich auf einem Spaziergang an den Stadtrand von Wien über ihre Situation am Ende des Jahrhunderts unterhalten, können aufgrund der jeweils formulierten Hal55 Arthur Schnitzler: „Der Andere“. In: Schnitzler 1985 (Anm. 21), S. 40–46. Alle Zitate nachfolgend direkt in Klammern nach dieser Ausgabe. 56 Arthur Schnitzler: „Spaziergang“. In: Schnitzler 1977 (Anm. 32), S. 152–156. Alle Zitate nachfolgend direkt in Klammern nach dieser Ausgabe. Zum Verhältnis dieser Skizze zum noch ausgeprägten ‚impressionistischen Programm‘ der kleinen Erzählung Das Himmelbett (entst. 1891–1893), deren Eingang Schnitzler im Spaziergang übernimmt, vgl. Konstanze Fliedl: „Kunst-Licht und Licht-Kunst. Zu frühen Texten Arthur Schnitzlers“. In: Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse – Umwelt – Wirkungen. Hg. von Jürgen Nautz und Richard Vahrenkamp. Wien u.a. 1993, S. 448–463, hier S. 460ff.

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tungen Bahr, Beer-Hofmann, Hofmannsthal und Schnitzler selbst identifiziert werden. Als „Versuch des jungen Schnitzler […], durch die Gespräche der vier Freunde sich selbst über seine zukünftige Produktion zu verständigen“, wurde der Text zuerst von Scheible gedeutet.57 Er rekurriert dabei auf die These vom Zerfall des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft, dem die Jung-Wiener durch eine Kunst zu begegnen suchten, die Scheible dem Begriff des Ästhetizismus – „verstanden als bloß subjektive Herstellung eines Sinnzusammenhangs“ – subsumiert.58 Weil er aber diese Position unterschiedslos auf alle Figuren bezieht, kommen ihm die Differenzen der verschiedenen Sichtweisen, die den Gegenstand der Skizze bilden, nicht in den Blick. Ausgangspunkt des Gesprächs über das Verhältnis der Freunde zu Wien, über die „Seele“ der Stadt und die hier möglichen Formen des Künstlertums, ist ein vorabendlicher Spaziergang an den Rand der Vorstadt. In „freier Luft“ entfliehe man dem „Dunstkreis“ des Zentrums, „aus dem die Straßen mühselig heranzuschleichen schienen“ (152). Dieses Bild reflektiert bereits das Problem, über das sich die vier Freunde zu verständigen suchen, denn es steht für die Dialektik von Stimmung und Wahrheit, von impressionistischer Auflösung der Form und Ordnung, die den Freunden als Panorama der vor ihnen sich ausbreitenden Stadt vor Augen steht, nachdem sie in der Vorstadt an ihren prekären sozialen Verhältnissen vorübergegangen sind. Hans erinnert sich bei diesem Anblick an seinen Auslandsaufenthalt (der Bahr erkennen lässt). Das Leben in der Fremde habe ihm die sentimentale Sehnsucht nach Wien und seiner Vorstadt geweckt, „dieses seltsamen Grenzgebietes […], wo die Stadt allmälig aufhört und ihr dumpfes, langes, angstvolles Athmen in einem müden, tröstlichen Seufzen aushaucht“ (152f.). Max fällt ihm ins Wort, dass doch gerade hier „das Charakteristische“ aufhöre. Das Heimatgefühl komme in ihm nur deshalb auf, weil „hier die Stadt als ein Ganzes“ vor ihm liege und er sie deshalb „geordneter“ sehe, als wenn er „durch ihre Straßen“ wandele (153). Angespielt wird damit auf die in Beer-Hofmanns Novellen (1891, 1893) gestalteten Wahrnehmungsformen der Großstadt, in denen sich der impressionistische Zerfall der Wirklichkeit in Stimmungsreflexe anzeigt.59 Hinter Stefans Ideal der historisierenden Anverwandlung der Alt-Wiener-Zeit verbirgt sich Hofmannsthal (erkennbar an den Anspielungen auf seinen Prolog zu dem Buch ‚ Anatol‘ ). Fritz schließlich, in dem sich Schnitzler 57  Hartmut Scheible: „Arthur Schnitzler. Figur – Situation – Gestalt“. In: Arthur Schnitzler in neuer Sicht. Hg. von Hartmut Scheible. München 1981, S. 12–33, hier S. 23. 58 Ebd., S. 18. 59 Vgl. Scherer 1993 (Anm. 17), S. 32, Anm. 39.

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selbst äußert, meint, dies sei alles nur „ein Raffinement mehr, um sich am Lebendigen zu freuen.“ Er wolle sich von Hans sein „lustiges Wien nicht traurig“ und von Stefan sein „lebendiges Wien nicht historisch machen“ lassen (153). Max bezichtigt er der „Dürre des Gesetzmäßigen und Notwendigen“ (154), also dessen, was Beer-Hofmann zum Schluss seiner „Novelle“ Das Kind (1893) behauptet.60 Er wolle deshalb anders sein als er, aber auch anders als Stefan, der „überall Komödianten“ sehe, die ihm „ahnungslos was vorspielen“. Er wolle nämlich „unter“ den Menschen von Wien, „als einer von ihnen“ leben, woraufhin ihn Max angeht, er sei ein „verschämter Localpatriot“. Der Einwand von Hans, hier handele es sich vor allem um „das Geheimnis der Stimmung“ (154), bringt schließlich den Begriff auf, um den das ganze Gespräch kreist. Max meint dazu, seine Freunde seien „Mystiker“, denn die Stimmung verwirre nur: „Unsere Augen müssen wir schärfen, um endlich die Fäden zu sehen, welche zwischen den Einzelheiten laufen.“ (155) Er formuliert damit, was Beer-Hofmann in seinem Roman Der Tod Georgs (1900) als Überwindung der bloßen Stimmung durch Einsicht in das ‚Gesetz‘ der Welt gestalten wird. In der „Müdigkeit“ der Stimmung dagegen seien die Dinge wie im Traum verunklärt, indem sich ein „wallende[r] Schleier“ vor die Wirklichkeit lege. Von dieser Wahrheit aber wollen die Freunde nichts wissen. Auch Schnitzler selbst teilt diese Auffassung nicht: An eine Wahrheit, die vom Subjekt der Wahrnehmung absieht, konnte er einerseits nicht glauben; andererseits wäre in der klaren und ‚wachen‘ Sicht auf die Dinge alle Sehnsucht ausgetrieben, die, wie Stefan am Ende der Skizze betont, das Leben überhaupt erst reizvoll erscheinen lässt. Seine eigene Poetologie formuliert Schnitzler in den Worten von Fritz dann so: Daß ich es [Wien] liebe, gebe ich zu, daß ich es kenne, nicht. Und ich möchte es kennen! Was weiß ich denn eigentlich davon? Ich kenne die Straßen, die Gebäude, ich kenne die Mundart, die der Wiener spricht, ich kenne Typen, Gesellschaftskreise, ich kenne den Corso auf dem Ring, das Treiben im Prater, die Burgmusik – aber was den Duft dieser Dinge macht, und wieso es eigentlich kommt, daß uns oft in einem stillen Praterspaziergange, oder auf dem alten Platz vor der Minoritenkirche, oder aus einem Worte eines süßen Wiener Mädels die ganze rührende und reiche Seele der Stadt entgegenflutet, das, das möcht’ ich wissen!“ (154).

60 Vgl. ebd., S. 25–37. 

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Arthur Schnitzler und der Naturalismus: Der naturalistische Einfluss auf seine frühen Dramen Schnitzler und sein Werk werden landläufig nicht unbedingt gleich mit dem Naturalismus identifiziert – schon eher mit dem Schlagwort des ‚Im­ pressionismus‘ oder, in Frankreich z.B., mit einem ‚naturalisme de l’intériorité‘.1 Dennoch hat die Schnitzler-Kritik in den letzten zwanzig Jahren mehrfach zumindest ansatzweise die Frage nach Schnitzlers Naturalismus erörtert, bzw. auf naturalistische Elemente in seinem Werk hingewiesen. Tatsächlich sprechen auch einige Indizien für eine Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rolle der Naturalismus für sein Werk wirklich gespielt hat. Diese Indizien findet man zuerst in seiner Biographie: 1862 geboren, hat Schnitzler zu einem Zeitpunkt begonnen, sich literarisch zu betätigen, als der Naturalismus – entgegen manchen Behauptungen – auch in Wien an der Tagesordnung war. Und wenn schon sein Studium der Medizin und seine Beschäftigung mit den Arbeiten von Jean-Martin Charcot (1825–1893) über die Krankheiten des Nervensystems sowie mit jenen von Hippolyte Bernheim (1840–1919) über Hypnose per se noch keinen Naturalisten aus ihm machen, so gehört dieses Interesse an der Wissenschaft doch zu den grundlegenden Elementen der naturalistischen Literaturtheorie. Vergessen wir auch nicht, dass in seinem Diagramm Der Geist in der Tat der Brückenbauer (Mathematiker) und der Naturforscher positiv belegte Positionen einnehmen. Anekdotisch anmuten mag die Tatsache, dass Schnitzler dem Vorstand des – freilich kurzlebigen – Vereins Freie Bühne angehört hat, der 1891 in Wien nach dem Vorbild von Otto Brahms Berliner Freien Bühne gegründet worden war und der sich die Organisation von Vortrags- und Leseabenden, sowie Theateraufführungen im Geiste des Naturalismus zum Ziel gesetzt hatte. In diesem Zusammenhang ist es allerdings nicht uninteressant, dass dieser Verein von der zeitgenössischen Wiener Presse tatsächlich als Ver­ einigung von Schriftstellern angesehen wurde, „die sich unter der Fahne des 1 Vgl. dazu u.a. Karl Zieger: Arthur Schnitzler et la France 1894–1938. Enquête sur une réception. Villeneuve d’Ascq (Lille) 2012.

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Naturalismus zusammengefunden hatten“.2 Schließlich belegt das – durchaus auch von Schnitzler geteilte – Interesse der ‚Jung-Wiener‘ an Ibsen und an dessen Besuch in Wien, ebenfalls 1891, die Tatsache, dass der Naturalismus auch in der Hauptstadt der Donaumonarchie – wenn auch nur während einer kurzen Periode (in den Jahren um 1890) – als die „Strömung der Moderne par excellence galt“ und damit zur Herausbildung der ‚Wiener Moderne‘ beigetragen hat.3 Auch in der Rezeption der Werke Schnitzlers ist immer wieder vom Naturalismus die Rede, wobei das besonders auf die Rezeption in Frankreich zutrifft, einem Land, in dessen Literaturgeschichte der Naturalismus bekanntlich einen wichtigen Platz einnimmt. Von Interesse ist hier, dass die meisten französischen Rezensenten in Schnitzlers Werk eine von seinen Exzessen befreite (oder auch abgeschwächte) Spielart des Naturalismus zu finden glauben. So ist bereits in Besprechungen der Novelle Sterben, die schon 1895 von Gaspard Vallette ins Französische übersetzt wurde, von einem ‚verfeinerten‘ (‚gereinigten‘ oder auch ‚gesäuberten‘) Naturalismus die Rede. Mehr als dreißig Jahre später noch liest man in Félix Bertaux’ Vorwort zum 1929 im Verlag Stock erschienenen Novellenband La Pénom­ bre des âmes : „pour la première fois, Autrichiens et Allemands avaient eux aussi un ‚naturalisme qui sent bon‘ [einen ‚wohlriechenden‘ N.], un réalisme psychologique pour gens du monde“ (S. 10); und Pierre Brisson schreibt in der einflussreichen Pariser Tageszeitung Le Temps vom 3. Oktober 1932 zur Aufführung von La Ronde im Pariser Théâtre de l’Avenue (Inszenierung Georges Pitoëff): Les dix dialogues […] représentent la liberté superlative et l’extrême avant-garde de la période naturaliste, mais d’un naturalisme sans combats, sans contradicteurs sérieux et où la franchise des situations prend beaucoup moins l’allure d’un principe et d’une profession de foi que d’un amusement.4

Das führt uns, wenn schon nicht zu einer etwas mühsamen Definition von Naturalismus, die hier keineswegs unternommen werden soll, so doch zu einer Präzisierung: Meinen Ausführungen liegt bestimmt kein enger Naturalismus-Begriff zugrunde, der etwa thematisch den Naturalismus auf die Darstellung des Elends der Unterschichten reduzieren würde, ihn zeitlich auf die 1880er Jahre fixieren oder ihn auf die Experimente des Sekunden2 Vgl. Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. 2., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart 2007, S. 51. 3 Vgl. Norbert Bachleitner: „Le Théâtre libre de Vienne“. In: Le Théâtre libre d’Antoine et les théâtres de recherche étrangers. Hg. von Philippe Baron. Paris 2007, S. 39–54, hier S. 40. 4 „Die zehn Dialoge sind Ausdruck eines höchsten Maßes an Freiheit und der avantgar­ distische Endpunkt der naturalistischen Periode, aber eines Naturalismus, der ohne Kämpfe auskommt, keine seriösen Widersacher hat und in dem die Offenheit in der Darstellung der Situationen weniger einem Prinzip oder einem Glaubensbekenntnis gleichkommt als einem Amusement “ (Übs. K.Z.).

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stils und des konsequenten Berliner Naturalismus beschränken würde. Es geht mir vielmehr um einen literarischen Ansatz, der die Forderung nach der Darstellung der empirischen, besonders der gesellschaftlichen Wirklichkeit stellt, basierend auf möglichst genauer Beobachtung und Dokumentation, und um die Frage nach der Verwirklichung dieses Anliegens; um die Frage also, wie die künstlerische Illusion, Alltags­leben auf der Bühne zu zeigen, wie der Anspruch auf die Darstellung von ‚Wahrheit‘ zu erreichen sei. Es geht hier um die Konsequenzen eines solchen Anspruchs für das literarische Schaffen am Ende des 19. Jahrhunderts, um die Brüche mit herkömmlichen Darstellungsformen, wie sie im europä­ ischen Drama dieser Zeit häufig sind, zum Beispiel im analytischen Drama Ibsens. Das (dramatische) Frühwerk Schnitzlers soll unter diesem Aspekt betrachtet werden. In dieser Hinsicht sind die folgenden Analysen vor allem den theo­retischen und methodologischen Ansätzen verpflichtet, die in Frankreich besonders von Yves Chevrel und Jean-Pierre Sarrazac ent­ wickelt worden sind.5 Obwohl hier also im wesentlichen vom Theater die Rede sein wird, sei nicht unerwähnt, dass sich naturalistische Elemente natürlich auch in Schnitzlers Prosawerk finden lassen: die bereits erwähnte Novelle Sterben, die als erster großer Erfolg im erzählerischen Schaffen Schnitzlers und als erster Beweis für sein Talent gilt, kann als eine Art klinische Versuchs­ anordnung gelesen werden. Die Beschreibung des Milieus ist zwar knapp, im Vordergrund steht die Analyse des psychologischen Verhaltens der beiden Protagonisten, Felix und Marie, aber gerade darin entspricht die Novelle einem klinischen Naturalismus, der eher an die Brüder Goncourt als an Zola erinnert;6 zu denken wäre auch an das gesellschafts- und milieu­ bedingte Schicksal von Berta Garlan, an die gesellschaftlichen Zwänge, denen die Protagonisten des Romans Der Weg ins Freie unterliegen, sowie an bestimmte Aspekte des Romans Therese. Chronik eines Frauenlebens : denn wenn das Unheil für Therese seinen Lauf nimmt, weil sie aus ihrem bürgerlichen Milieu ausbricht, so erlebt sie ja gerade an der Entwicklung ihres Buben, Franz, die Auswirkungen z.B. des ländlichen Milieus, in dem er – weit von ihr entfernt – aufgewachsen ist, auf seine Sozialisation. Vom erzähltechnischen Standpunkt ist die Anregung von Franz Norbert Mennemeier interessant, der einen Zusammenhang zwischen der naturalistischen Ästhetik des Guckkastentheaters und der Technik des Inneren Monologs herstellt: Lieutenant Gustl und Fräulein Else machten, so Men­ nemeier, den Leser zum ‚objektiven‘ Zuschauer subjektiver Bewusstseins­ 5 Vgl. Yves Chevrel: Le Naturalisme. Paris 1982 (2. Aufl. 1993); Jean-Pierre Sarrazac: Poétique du drame moderne. De Henrik Ibsen à Bernard-Marie Koltès. Paris 2012. 6 Vgl. dazu Giuseppe Farese: Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien 1862–1931. München 1999, S. 61.

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prozesse und ähnelten Monodramen, bzw. einem intimen epischen Theater ohne Rampe – womit wir beim dramatischen Schaffen wären. Franz Norbert Mennemeier betitelt seinen Einführungsaufsatz in Dieter Kafitz’ Buch Drama und Theater der Jahrhundertwende „Aspekte des naturalisti­ schen Dramas – Von Emile Zola bis Arthur Schnitzler“.7 Er sieht sogar Anatol, vor allem aber Reigen als literarische Versuchsanordnungen, wobei natürlich die Darstellung der unterschiedlichen Milieus durch die sozial bestimmten Diskurse besonders dem Reigen naturalistische Züge verleiht. Mennemeier zieht auch den Vergleich mit dem ‚Intimen Theater‘ Strindbergs. Die von Strindberg intendierte psychologische Differen­zierung und Vertiefung wird, so Mennemeier, in Stücken wie Der einsame Weg und Das weite Land weitergeführt, wobei er Letzteres zu den „wichtigsten drama­ tur­gischen Experimenten der damaligen Epoche“ zählt.8 Jeffrey B. Berlin bestätigt in seinem Aufsatz „Die Beziehungen zwischen Ibsen und Schnitzler“,9 dass das Werk Schnitzlers am deutlichsten von allen Autoren des ‚Jungen Wien‘ Parallelen zu Ibsen aufweist, ortet im Einsamen Weg – nicht ganz überzeugend – ein Nora-Motiv und führt außerdem Zwischenspiel und Profes­ sor Bernhardi (im Vergleich mit Ibsens Volksfeind ) an. Noch stärker ist allerdings der Bezug von Schnitzlers vier in den 1890er Jahren geschriebenen abendfüllenden Stücken: Das Märchen, Liebelei, Freiwild und Das Vermächtnis zu Werken der als ‚Naturalisten‘ bezeichneten Autoren seiner Zeit. Man könnte diese Dramen als ‚sozio-psychologische‘ Stücke, oder auch als sozialkritische Tendenzstücke bezeichnen, die in dieser Hinsicht in seinem Werk ein ähnliches ‚Quartett‘ bilden würden wie die ‚Tetra­ logie‘ (Stützen der Gesellschaft, Nora, Gespenster und Ein Volksfeind ) in dem Ibsens. Jedenfalls sind sie als Etappen der Entwicklung seiner Theaterarbeit von Interesse, sowie als Zeugnisse der am Ende des 19. Jahrhunderts in der Wiener Gesellschaft aktuellen Fragen und Probleme. Dramentechnisch das naturalistische Stück Schnitzlers schlechthin ist Das Märchen. Thema des Dramas, das am 1.  Dezember 1893 am Deutschen Volkstheater in Wien uraufgeführt wurde, ist bekanntlich die Art und Weise, wie die bürgerliche Gesellschaft mit den sogenannten ‚Gefallenen Mädchen‘ umgeht, also mit jenen jungen Frauen, die nicht ihren ersten Liebhaber geheiratet haben, in der Folge nicht mehr als ‚heiratswürdig‘ galten, als ‚minder­wertig‘ betrachtet und so – mehr oder weniger zwangs­ läufig – von einem Liebesabenteuer ins nächste gestürzt wurden. Das Thema war am Ende des 19. Jahrhunderts an der Tagesordnung, wie zum Bei7 Franz Norbert Mennemeier: „Aspekte des naturalistischen Dramas – Von Emile Zola bis Arthur Schnitzler“. In: Drama und Theater der Jahrhundertwende. Hg. von Dieter Kafitz. Tübingen 1991, S. 1–19. 8 Ebd., hier S. 16f. 9 In: Text und Kontext 10, 1982, H. 2, S. 383–398.

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spiel die ungefähr zur selben Zeit entstandenen Werke Der Schatten von Paul Lindau (1839–1919), uraufgeführt im Oktober 1888 am Deutschen Theater, Berlin, oder die Komödie La Douloureuse von Maurice Donnay (1859–1945), die Schnitzler während seines Paris-Aufenthalts im Frühjahr 1897 gesehen hat, beweisen. Heute ist natürlich nicht mehr dieses Thema interessant, sondern die Art und Weise, wie im Stück das Weiterwirken der Vergangenheit im Leben der Figuren demonstriert wird, wie also die Vergangenheit die Gegenwart der Figuren mitbestimmt. Das Stück weist ein umfangreiches Personal auf: Die vierzehn Personen sind durch den einleitenden Nebentext ziemlich genau fixiert. Schnitzler beschreibt nicht nur ihr Äußeres und ihre Charaktermerkmale, sondern weitgehend auch ihre berufliche und gesellschaftliche Situation und zeichnet so einen Mikrokosmos des bürgerlichen Wiener Mittelstandes. Der erste Akt spielt in der Wohnung von Frau Theren, deren eine Tochter, Fanny, am Beginn einer vielversprechenden Karriere als Schau­spielerin steht, während die andere, Klara, als Klavierlehrerin ihr Geld verdient und ihre bevorstehende Vermählung mit dem biederen Beamten Adalbert Wandel ankündigt. Es ist Empfangsabend, jour fixe, an dem allerlei Bekannte erscheinen, zumeist aus dem mittleren Bürgertum, aber auch Studenten und Künstler. In der Konversation kommt man auch auf das Thema der ‚Ge­fallenen‘ zu sprechen, das der Schriftsteller Fedor Denner groß­zügig als Märchen aus einer kindischen Welt abtut, um dann dem Beamten Wandel gegenüber heftig die bürgerlichen Vorurteile zu kritisieren – zur Er­leichterung Fannys, die nicht nur gerade die Rolle einer Mätresse ein­ studiert, sondern selbst eine ‚Vergangenheit‘ hat. Die Zuneigung Fannys, die Fedor im zweiten Akt erwidert, bedeutet für den Schriftsteller aber ein Dilemma, nämlich die Konfrontation der Theorie mit der Lebenspraxis, die Konfrontation der vorgetragenen liberalen Überzeugungen mit den Gebräuchen und Gepflogenheiten seines Milieus: Erstere würden ihn darin bestärken, seinen Gefühlen für die junge Schauspielerin nachzugeben, letztere aber lassen deren vergangene ‚Abenteuer‘ auf ihr lasten und veranlassen ihn, auf Distanz zu ihr zu gehen. Er kann nicht vergessen, dass er nicht ‚der Erste‘ bei ihr war. So erweist er sich im dritten Akt als unfähig, dem Druck der bürgerlichen Moral zu widerstehen, und redet Fanny dringend zu, den Vertrag mit einem Theater in Sankt-Petersburg anzunehmen, den abzulehnen sie – zu­gunsten einer Verbindung mit ihm – bereit gewesen wäre. Nach einem letzten, verzweifelten Versuch, Fedors Vertrauen zu gewinnen, unterschreibt Fanny den Vertrag … mit dem Eindruck, sich damit endgültig für ein un­stetes Wanderleben entschieden zu haben. Dies ist bezeichnender­ weise allerdings erst der dritte Schluss, den Schnitzler für dieses Stück geschrieben hat.

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Im 1891 fertiggestellten Bühnenmanuskript, das auch der Uraufführung am 1. Dezember 1893 am Deutschen Volkstheater zugrunde gelegen hat, ist die letzte Auseinandersetzung zwischen Fedor und Fanny ziemlich lang und scheint sogar dem jungen Schriftsteller recht zu geben: Fedor wirft Fanny ihre Vergangenheit vor und verlässt angeekelt den Raum. Seinem Freund Leo gegenüber, der ihn zurückhalten will, rechtfertigt er sich mit dem „Gewicht der Vergangenheit“.10 Die zuerst in Tränen ausbrechende Fanny fasst sich, um nicht durch einen etwaigen Eklat die Verlobung ihrer Schwester Klara mit Wandel, dem braven Beamten, zu gefährden, die gerade im Nebenzimmer gefeiert wird. Für die zweite Aufführung hat Schnitzler die Erklärungen Fedors gegenüber seinem Freund gekürzt. Er beschleunigt das Ende und lässt Fanny auf der Bühne zusammenbrechen, wobei sie noch gegen das Schicksal der Frauen protestiert.11 Dieser Schluss, der die Verzweiflung von Fanny akzentuiert und schon das Ende von Christine in Liebelei andeutet, wurde in die erste Buchfassung von 1894 (bei Pierson in Dresden und Leipzig erschienen) aufgenommen. Erst 1902 hat Schnitzler dann für die Ausgabe im S. Fischer Verlag den endgültigen (heute üblichen und vorhin erwähnten) Schluss geschrieben: Er nimmt dabei die emotionelle Niederlage Fannys, ihren theatralischen Zusammenbruch auf der Bühne zurück und unterstreicht stattdessen ihre Selbstbeherrschung, denn die junge Schauspielerin behauptet, jetzt ihren eigenen Weg gefunden zu haben. Damit hat Schnitzler – und das ist in diesem Zusammenhang wichtig – zwei mögliche konventionelle Schlüsse abgelehnt, die ihm nach der missglückten Uraufführung von mehreren Seiten vorgeschlagen worden waren: nämlich das happy end genau so wie einen Selbstmord Fannys. Mit dieser Ablehnung eines konventionellen Schlusses aber reiht sich Schnitzler bewusst in die Reihe der naturalistischen Dramatiker ein und weist Gemeinsamkeiten mit Henry Becques Drama Les Corbeaux [Die Raben] (1882) auf, das zwar mit einer Heirat endet, die aber keineswegs eine glückliche zu werden verspricht, und, vor allem, mit Ibsens Nora oder Ein Puppenheim (1879), auf das gleich näher einzugehen sein wird: so wie Nora muss und will Fanny ihren Weg gehen … Der Vorhang fällt, aber das Leben geht weiter – dieser offene Schluss löst also die dramatische Spannung nicht auf und verweist damit auf eine Proble­matik, die letztlich außerhalb der Bühne liegt. Er ist ebenso wie die detaillierte Beschreibung der vierzehn Personen der Handlung und die präzisen Nebentexte ein Merkmal, das Schnitzlers Stück mit vielen naturalistischen Dramen gemeinsam hat. Darüberhinaus entspricht Das Märchen aber 10 Dieser Schluss ist abgedruckt in Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München 1974, S. 143–146, hier S. 145. 11 Ebd., S. 146f.

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auch noch in anderen Belangen der am Ende des 19. Jahrhunderts gängigen naturalistischen Dramaturgie. Da wären einmal die beiden Hauptpersonen, Fedor und Fanny, die an Figuren aus anderen naturalistischen Dramen erinnern. So hat Fedor Mühe, seine fortschrittlichen Ideen in die Praxis umzusetzen, bleibt er doch in den Vorurteilen der Gesellschaft gefangen – damit erinnert er an Alfred Loth in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) – allerdings gewissermaßen mit umgekehrten Vorzeichen: Loth treibt Helene in den Selbstmord, weil er stur an die psychologische Determiniertheit und an die Vererbungslehre glaubt und nicht fähig ist, seinen dogmatischen Eifer des Sozialreformers zu relativieren; Fedor hingegen gibt seine an sich fortschrittlichen Ideen unter dem Druck der Gesellschaft auf. Der Wandel von Fedors Haltung zwischen dem ersten und dem dritten Akt ist frappierend: Man versteht leicht, dass Fanny berührt ist, wenn Fedor im ersten Akt die ‚freie Liebe‘ verteidigt (übrigens ein Thema eines anderen naturalistischen Dramas, nämlich von Max Halbe, das eben diesen Titel Freie Liebe (1890) trägt): […] wir haben kein Recht, Unnatürliches zu fordern und für Natürliches zu strafen. Und ich finde es höchst anmaßend von der Gesellschaft, ein Weib einfach darum, weil es wahr und natürlich liebte, mit gedankenloser Verachtung aus ihrem Kreise auszuschließen. […] merken Sie denn nicht, daß wir sie erst damit er­niedrigen, ihnen damit die Rückkehr unmöglich machen, sie tiefer und tiefer stoßen? Ich rede ja nicht von einem Weib, das sich verkauft oder verschleudert – aber woher nehmen wir das Recht, jedes Weib für rechtlos zu erklären, das die Kühnheit hatte, zu lieben, bevor wir erschienen? (DW I, 150f.)

Freilich darf man die Indizien nicht übersehen, die bereits im ersten Akt auf Fedors künftigen Gesinnungswandel hinweisen: So liest man zum Beispiel im Nebentext: „fedor spielt den Ruhigen“ (DW I, 146) oder „fedor spricht die folgenden Sätze alle naiv, ohne jeden Bezug auf den speziellen Fall“ (DW I, 150); sein Freund Leo sagt von ihm, er sei ein „Utopist“ (DW I, 152), und Klara, Fannys Schwester, eine klassische Vertreterin der bürgerlichen Moral­vor­ stellungen, tut Fedors Aussagen als „Redereien“ ab (DW I, 153). Sein Verhalten in den ersten beiden Akten lässt eine unübersehbare Tendenz Fedors zur Flucht vor der Wirklichkeit, das heißt zur Flucht vor Fannys Vergangen­ heit erkennen, zum Beispiel wenn er sich weigert, Anspielungen seiner Freunde auf ein früheres Verhältnis Fannys mit einem der Gruppe bekannten Dr. Witte zur Kenntnis zu nehmen. Im übrigen hat er sadistische Züge, wenn er im zweiten Akt Fanny zwingt, ihm ihre Vergangenheit zu gestehen. Gerade durch die Erzählung Fannys erhält das Stück aber seine epische Breite. Die Widersprüche Fedors werden bis zum Schluss von Schnitzler durch die Nebentexte erhellt. Mit Fanny hat Schnitzler eine junge Frau aus dem Bürgertum gestaltet, weder naiv-unschuldig, noch femme fatale. Keine mythische Figur, sondern

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eine, die der sozialen Realität der Epoche entspricht. Die Zuschauerinnen können sich (oder Frauen aus ihrer Umgebung) leicht mit ihr identifi­zieren, obwohl sie als ‚Sünderin‘ dargestellt wird. Fannys Dilemma wird gleich am Beginn im ersten Gespräch mit ihrer Schwester Klara deutlich: Während diese gerade dabei ist, eine bürgerliche (Interessens-)Ehe mit einem Be­ amten einzugehen, wird Fanny von der eigenen Familie wie von der Gesellschaft als Außenseiterin gesehen. Sie wird als Schauspielerin sicher Erfolge feiern, aber das Recht auf Ehe- und Familienglück im bürger­lichen Sinne wird ihr selbst von der eigenen Familie abgesprochen. Doch Fanny ist ein moderner Frauencharakter und kämpft um die Anerkennung als ehrenhafte Frau. – Auch wenn die Umstände unterschiedlich sind, so lassen manche ihrer Aussagen an Ibsens Nora Helmer denken. Wie Nora kämpft Fanny gegen die Hypokrisie, gegen die Heuchelei der Gesellschaft und dafür, als Frau und als vollwertiges Individuum anerkannt zu werden: Ich habe Sie gebeten, Sie sollen mir die Überzeugung lassen, daß ich keine Verlorne und daß ich Ihrer würdig bin – wie Sie meiner! … Ja … ich bestehe darauf – Gleich und gleich stehen wir uns gegenüber. (DW I, 172).

Damit verbunden ist auch das Recht auf eine Vergangenheit. Sie ist auch bereit, diese Fedor zu enthüllen, aber wie Torvald bleibt Fedor ein Gefangener der männlichen und bürgerlichen Moralvorstellungen seiner Zeit. Er hat – so Reinhard Urbach – „das muffige Zimmer seiner Welt […] zwar mit kühnem Geist gelüftet – aber nicht verlassen“.12 Dazu kommt noch, dass Schnitzlers erstes abendfüllendes Drama – selbstverständlich möchte man sagen – mit der Einheit der Zeit bricht. Die Entwicklung der Handlung, die schon im ersten Akt angedeutet wird, ist auf einen Zeitraum von zwei Wochen angelegt. Wiederholungseffekte (der dritte Akt reproduziert die Situation des ersten Aktes, ein Abend bei den Therens) und Variationen ergänzen einander. Es ist auch nicht untypisch – und erinnert ebenfalls an Becques Die Ra­ ben und Ibsens Nora oder Ein Puppenheim – dass bei der Uraufführung des Märchen am 1.  Dezember 1893 im Deutschen Volkstheater in Wien die ersten beiden Akte durchaus Gefallen gefunden haben (wohl nicht zuletzt auch dank der schauspielerischen Leistung von Adele Sandrock) und erst die Auflösung im dritten Akt das Publikum irritiert und skandalisiert hat, sodass das Stück nach der zweiten Aufführung abgesetzt wurde. Die Zusicherung, es mit einem veränderten Schluss wieder aufzunehmen, wurde nicht eingehalten. Einige der Reaktionen weisen auf die dramaturgischen Elemente hin, die das Publikum und die Kritik gestört haben mögen, aber gewissermaßen 12 Reinhard Urbach: Arthur Schnitzler. München 1972, S. 36.

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zum ‚naturalistischen Arsenal‘ gehören: Die erste diesbezügliche Reaktion hat Schnitzler schon zwei Jahre vor der Uraufführung erhalten, und zwar von Burgtheaterdirektor Max Burckhard, der die Ablehnung des Stückes lapidar mit „zu viel Rede, zu wenig Handlung“ rechtfertigt.13 Und noch nach der Wiener Uraufführung reagierte Otto Brahm ähnlich. Auf die sehr wohlwollende Meinung des dänischen Literaturkritikers Georg Brandes, die Schnitzler auch Brahm hat zukommen lassen, antwortete dieser: Dem Urteil des Herrn Georg Brandes kann ich wohl zustimmen, wenn ich das Werk nicht als Drama (Hervorh. K.Z.) betrachte; für die Bühne hat es meines Erachtens zuviel Psychologie und zu wenig Anschauung, zuviel Tendenz und zuwenig Gestalt.14

Interessant ist in unserem Zusammenhang eine Feststellung, die Schnitzler anlässlich einer Neuinszenierung von Das Märchen am 16. März 1925 in Berlin, also fast 32 Jahre nach der Uraufführung, in seinem Tagebuch macht: „Das Stück wirkte nicht schlecht auf mich. Allerlei unfertiges im Dia­log und naturalistische [Velleitäten]; aber wie echt gefühlt.“15 Stellt sich die Frage, was Schnitzler unter „naturalistischen Velleitäten“ versteht. Damit könnten Längen und ein gewisses Pathos in den Dialogen zwischen Fanny und Fedor gemeint sein, oder auch einige ‚unfertig‘ gebliebene Neben­figuren, wie die jungen Leute aus gutem Haus, die in der Familie Theren verkehren, die geschwätzig, müßig und redegewandt sind … und sehr ‚wienerisch‘. Seinem Urteil fügt Schnitzler im Tagebuch noch eine bemerkenswerte Anmerkung hinzu: „Die Einstellung Fedors gegenüber Fannys Vergangenheit heute als veraltet abzuthun ist albern;– insofern es sich um ein psycho­ logisches nicht um ein sociales Problem handelt ist es ein ewiges.“16 Ein kurzer Blick auf die drei anderen ‚naturalistischen‘ Dramen Schnitzlers der Neunzigerjahre, in denen wir ein ähnliches Personal wie im Märchen finden, enthüllt ebenfalls naturalistische Elemente: Liebelei, uraufgeführt am 9. Oktober 1895 am Burgtheater und der erste echte Bühnenerfolg Schnitzlers, ist so hinlänglich bekannt, dass sich hier ein Resümee der Fabel erübrigt. Gegenüber dem Märchen ist die Zahl der Personen und die Länge der Nebentexte deutlich reduziert, die Handlung konzentrierter, die Dialoge gestraffter, präziser. Aber auch die Ge­schichte der Musiker-Tochter Christine hat das – Schnitzler aus eigener Erfahrung bekannte – Verhalten der Männerwelt den Frauen, in diesem Fall den ‚sü13 Siehe dazu Schnitzlers Tagebucheintragung vom 28.10.1891: „beim Eintritt in den Saal [zu einem Vortrag von Friedrich Michael Fels in der „Freien Bühne“] Nachricht, dass Burckhard das Märchen zurückgewiesen [zu viel Rede, zu wenig Handlung]. (Sehr verstimmt drüber [sic]“). Tb 1879–1892, S. 354. 14 Zitiert nach Farese 1999 (Anm. 6), S. 64. 15 Tb 1923–1926, S. 236. 16 Ebd.

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ßen Mädeln‘, gegenüber im Visier. Und wenn es Fritz auch mit seinen Liebes­erklärungen im zweiten Akt vielleicht ernst meint, so kann er den gesellschaftlichen Zwängen nicht entkommen, auch nicht, was das tödliche Duell betrifft. Die Personen des Stückes entstammen auch hier der unmittel­baren Erlebniswelt von Autor und Publikum. Die Milieuzeichnung ist äußerst subtil, gerade im zweiten Akt gelingt es Schnitzler mit nur wenigen Worten und Hinweisen (die Lage der Wohnung, die Einrichtung, die Bilder, die Bücher auf der Stellage), Christines Lebenswelt zu schildern und dem Werk naturalistische Substanz zu geben. Die Reaktion von Christine am Schluss ist nicht nur Verzweiflung über den Verlust des Geliebten. Dass das Begräbnis von Fritz ohne ihr Wissen stattgefunden hat, lässt sie auch die Klassenschranken erkennen, die die Tochter eines bescheidenen Theater­musikers von einem Studenten aus dem Großbürgertum trennen. Freiwild, am 3. November 1896 in Otto Brahms Deutschem Theater in Berlin uraufgeführt (also einer dem Naturalismus zugetanen Bühne), hat zwei Themenkreise zum Inhalt, die Schnitzler zutiefst bewegt haben: die militärische – und aristokratische – Tradition des Duells zur Wieder­ herstellung einer vermeintlich beleidigten Ehre einerseits, die Lage und das Schicksal der Schauspielerinnen andererseits. Die Handlung spielt in einem kleinen Kur- und Badeort in der Nähe von Wien – das nur in der Sommersaison bespielte Theater ist dort mehr oder weniger das einzige Zentrum gesellschaftlichen Lebens. Paul Rönning, wohlhabender Bürger und Zivilist, verabreicht nach einer Auseinandersetzung wegen der Schauspielerin Anna Riedel Oberleutnant Karinski eine Ohrfeige, lehnt aber die dadurch ausgelöste Duellforderung Karinskis entschieden ab und wird daraufhin vom Offizier auf offener Straße erschossen. Neben der Debatte um die von Schnitzler und vielen seiner Zeitgenossen als veraltet empfundene Duellpflicht (drei Jahre nach Freiwild wird er das Thema mit beißender Ironie in der Monolognovelle Lieutenant Gustl be­handeln), erregt auch die Darstellung der prekären Situation der Theater­leute, und besonders der Schauspielerinnen, Interesse. In diesem Sinne behandelt Schnitzlers Stück im wahrsten Sinne eine soziale Frage: Natürlich scheinen auf den ersten Blick Milieu und Lebensbedingungen der dar­gestellten Personen weit entfernt von der Misere der Weber oder schlesischen Bauern. Bei genauerer Betrachtung erkennt man aber, dass Schnitzler hier die Prekarität und die ‚psychologische‘ (um nicht zu sagen ‚moralische‘) Misere der Theaterleute darstellt. Die meisten der Offiziere, die das Theater besuchen, tun das nicht der gegebenen Stücke oder der Kunst, sondern der Schauspielerinnen wegen. Die Bühne wird zu einer Art ‚Auslage‘ für künf­tige ‚Jagdbeute‘. Das geht soweit, dass der Theater­ direktor ernsthaft daran denkt, in der Operette auch die männlichen Rollen von Frauen spielen zu lassen. Damit drückt Schnitzlers Theaterdirektor

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Schneider nur etwas subtiler aus, was Zola in seinem Roman Nana (1879) Bordenave, dem Direktor des Théâtre des Variétés, in den Mund legt, nämlich die Aus­sage, sein Theater sei eigentlich ein „Bordell“. Schneider spricht, wohl etwas heuchlerischer, von seinem „Kunstinstitut“ (DW I, 284). Der Zweck ist aber derselbe, wie eine Anweisung von Direktor Schneider an den Regisseur Finke zeigt: […] die Damen dürfen nicht dastehen wie die Klötze – Bewegung, lieber Finke, Bewegung in den Massen, das ist das Geheimnis. Und nicht die schönsten Beine im Hintergrund verkümmern lassen – notieren Sie sich die schönsten Beine, wenn Sie sich sie nicht auswendig merken können; - und dann Leben, Lustigkeit, Wechsel­beziehungen hergestellt zwischen Bühne und Publikum, das ist’s, mein lieber Finke! (DW I, 320)

Sein Ziel ist es, durch den Reiz und den – zweideutigen – Ruf der Schauspielerinnen die Offiziere ins Theater zu locken. So wirft er im ersten Akt Anna noch vor, „unliebenswürdig“ zu sein und droht ihr, ihre Gage um die Hälfte zu kürzen (DW I, 283). Als er freilich dann von der Möglichkeit eines bevorstehenden Duells zwischen Karinski und Rönning wegen Anna erfährt, da ändert er blitzartig seine Meinung ihr gegenüber: „[…] wir haben eine Zugkraft gewonnen. Eine Naive, für die sich das Publikum duelliert – das ist für ein Sommertheater alles, was man sich wünschen kann. Wir bieten den Leuten etwas, wie ?“ (DW I, 320) Der 1897, also nach dem Reigen, skizzierte und schon am 8. Oktober 1898 in Berlin uraufgeführte Dreiakter Das Vermächtnis ist „ein Drama über die Verlogenheit der bürgerlichen Moral, deren Vertretern die Sitte mehr gilt, als die Sittlichkeit“.17 Hugo, ein junger Mann aus gutem, groß­bürgerlichen Haus, liegt nach einem Sturz vom Pferd im Sterben und kann gerade noch seine Familie bitten, sich um seine Freundin und das gemeinsame, vier Jahre alte Kind zu kümmern – einen unehelichen Sohn, dessen Existenz er bisher verschwiegen hatte, weil Toni, seine Freundin, aus einfachen Verhältnissen stammend, nach bürgerlichen Gepflogenheiten nicht heiratswürdig war. Die Familie respektiert zuerst dieses „Vermächtnis“ des Sohnes, lässt die junge Mutter aber Illegitimität und Verlassenheit spüren. Als dann auch das Kind stirbt, wird Toni offen als „Gefallene“ betrachtet und ihr mitgeteilt, dass für sie kein Platz mehr in der Familie sei. Sie verlässt überstürzt das Haus und läuft, wie Reinhard Urbach wohl richtig vermutet, wahrscheinlich auch aus dem Leben.18 Damit ähnelt der Schluss von Das Vermächtnis dem von Liebelei, ist aber etwas pathetischer, wenn Franziska, Hugos Schwester, klarsichtig ihrer Mutter vorwirft: „Wir sind feig gewesen, wir haben es nicht gewagt, sie so lieb zu haben, wie sie es verdient hat. Gnaden haben wir ihr 17 Urbach 1972 (Anm. 12), S. 56. 18 Vgl. ebd.

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erwiesen, Gnaden – wir! – Und hätten einfach gut (Hervorh. i.O.) sein müssen, Mama!“ (DW I, 464) Das Märchen, Liebelei, Freiwild und Das Vermächtnis tragen also deutliche Spuren einer Theaterästhetik, wie sie im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in mehreren europäischen Literaturen eben mit dem Begriff des ‚naturalistischen Theaters‘ verbunden wurde, und verdienen eben in dieser Hinsicht unser Interesse: (1) Schnitzler schöpft die Sujets seiner Stücke aus der sozialen Aktualität seiner Zeit und situiert die Handlung in klar definierten Milieus: vor allem dem Wiener Bürgertum in seinen verschiedenen Abstufungen. Interessant ist, dass die unter den gesellschaftlichen Verhältnissen leidenden Protagonistinnen, jene die als Opfer der Gesellschaft dargestellt werden, praktisch alle aus dem bürgerlichen Mittelstand oder aus dem Klein­bürgertum kommen, was auf die prekäre Situation dieser jungen Frauen hinweist. Schnitzler schafft mit ihnen der Lebenswirklichkeit nachempfundene Gestalten, die die Distanz zwischen Bühne und Publikum aufheben und eine Identifikation des Zuschauers mit dem Geschehen auf der Bühne ermöglichen. (2) Das Märchen und Freiwild weisen dazu aber noch die Besonderheit auf, zumindest teilweise im Theatermilieu zu spielen. Sie zeigen aber nicht ‚Theater auf dem Theater‘, sondern das Theater als Institution, die im Leben der Menschen eine Rolle spielt, die menschliche Verhältnisse aufdeckt. Die Handlung von Das Märchen ist in der bürgerlichen Mittelschicht angesiedelt, in der auch noch nicht arrivierte Künstler und Schriftsteller verkehren, die eine Überwindung der althergebrachten Konventionen und eine neue Kunst fordern – und darin in Treplew in Tschechows Möwe ein russisches Pendant haben. Die regelmäßigen Auseinandersetzungen dieser jungen Künstler mit dem biederen Beamten Wandel bescheren dem Stück einige komische Momente und machen es zu einer Satire auf die Wiener Gesellschaft. In dieser Gesellschaft aber hat das Theater eine besondere Rolle: Schauspielerin zu werden ist der Wunsch fast jeden jungen Mädchens, auch wenn damit nicht immer nur künstlerische Ambitionen verbunden sind, sondern auch die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Aufstieg, wie das die naiv-provokanten Aussagen der kleinen Emmi Werner zeigen (DW I, 136ff.). Der gesellschaftliche Status der Schauspieler und Schauspielerinnen ist ambivalent. Sie werden zwar – im besten Fall – vom Publikum be- und umjubelt, dennoch aber auch als leichtlebige Menschen und Außenseiterinnen gesehen – und zwar von eben diesem Publikum, das ja zum größten Teil aus dem Bürgertum besteht. Damit wird verständlich, weshalb nicht nur Fedor, sondern auch Wandel, der künftige Schwager, Fanny zuredet, den Vertrag mit dem Theater in Sankt-Petersburg zu unter­schreiben. Das ist für ihn die ideale Gelegenheit, die einen gut bür­ ger­lichen Haushalt möglicher­weise gefährdende Schwägerin in weite Ferne

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ab­zuschieben. Denn seine Ehe wünscht er ungetrübt und vorbildlich. Wandels Aussagen über Künstler und über das Theater sind der perfekte Ausdruck des Misstrauens und der bürgerlichen Vorurteile gegenüber diesem Milieu. Das Theater steht natürlich auch in engem Zusammenhang mit Fannys Schicksal. Schnitzler erzeugt eine Art Widerspiegelungseffekt, wenn Fannys erste große Rolle (von der im Stück zwar die Rede ist, in der man aber Fanny nie in der Ausübung ihres Schauspielerberufs sieht) ausgerechnet die einer „Gefallenen“ ist. Das macht ihr im dritten Akt sogar Fedor auf einiger­maßen hinterhältige Art und Weise zum Vorwurf: „Ich bitte dich, diese Rolle! – Es muß sehr wohl tun, wenn man so seine eigenen Erlebnisse zu künstlerischen Zwecken ausnützen kann.“ (DW I, 183) Und wenn Fanny am Schluss des Stückes ihre Schwester beruhigen will, indem sie beteuert, jetzt ihren Lebensweg zu kennen, so bleibt neben der bitteren Ironie auch noch die Frage, wie das gemeint ist, ob nämlich Fanny, wie das Helga Schiffer suggeriert,19 nun gezwungen sein wird, ihre künst­ lerische Identität in immer neuen Engagements in Frage zu stellen, und ihre Identität als Frau in immer neuen Verhältnissen … ? Die Aussagen einiger Personen des Stücks deuten darauf hin. Eine solche Interpretation stünde auch im Einklang mit Schnitzlers Anliegen – denn das Los der Schau­ spielerinnen und der von der Gesellschaft geächteten jungen Frauen haben den Schriftsteller immer sehr beschäftigt. (3) Was den Aufbau dieser Dramen betrifft, so handelt es sich um eine mehr oder weniger freie Zusammenfügung untereinander mehr oder weniger autonomer Akte, und was sich außerhalb des Bühnenraumes abspielt, ist fast ebenso wichtig wie das auf der Bühne gezeigte Geschehen. Das Gewicht der Vergangenheit der Personen, der roman familial, muss zum besseren Verständnis der Handlung von den Protagonisten erzählt werden und verleiht damit diesen Stücken eine epische Dichte, die von den Zeitgenossen nicht unbedingt goutiert wurde, aber schon auf das Theater des 20. Jahrhunderts vorausweist. Jean-Pierre Sarrazac hat in diesem Zusammen­hang von der „romanisation du drame“20 gesprochen. (4) Der dramatische Konflikt wird nicht wirklich gelöst, das Ende bleibt häufig offen. Das trifft auf jeden Fall auf Das Märchen zu, in dem das Leben der Protagonisten nach dem Fallen des Vorhangs weitergeht. In Liebelei und Das Vermächtnis wird der Selbstmord der Protagonistin zwar nahegelegt, findet aber, wenn überhaupt, außerhalb des Bühnengeschehens statt. Nur Frei­ wild endet mit der Ermordung einer der Hauptfiguren, das letzte Wort des Stückes allerdings ist die verzweifelte Frage Annas: „Wohin?“ (DW I, 326), 19 Vgl. Helga Schiffer: Die frühen Dramen Arthur Schnitzlers. Dramatisches Bild und dramatische Struk­ tur. Amsterdam 1994, S. 65. 20 Sarrazac 2012 (Anm. 5), S. 112.

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mit der sie auf die Aufforderung reagiert, den Ort des Geschehens zu verlassen. Schnitzler beginnt in diesen Stücken mit seiner Enthüllung der bürgerlichen Wiener Gesellschaft des Fin de siècle, die er dann in späteren Dramen und erzählerischen Werken fortsetzen wird – und wenn sich auch das Gewicht von der sozialen Anklage stärker hin zur gesellschaftlichen Analyse und zur psychologisch tiefergehenden Darstellung der zwischen­ menschlichen Beziehungen und Kommunikation hin verlagert, bzw. der Beziehungs- und Kommunikationslosigkeit, so sind doch auch in den späteren Werken drama­turgische Elemente der frühen ‚sozialen‘ Stücke zu beobachten. Und so gesehen stellt dann Schnitzlers (dramatisches) Frühwerk die landläufige Meinung in Frage, der zufolge der Naturalismus in der österreichischen Literatur(geschichte) keine Rolle gespielt habe.

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„Ein wirklicher Erzähler“: Ferdinand von Saar und Arthur Schnitzler – ein literarhistorisches Konstrukt? Am 23. November 1896 begann Arthur Schnitzler mit der Abfassung des „Hemicyklus von zehn Dialogen“; dieser erhielt später den Titel Liebesreigen, der dann 1899 in Reigen verkürzt wurde.1 Ebenfalls im Herbst 1896 – wenn auch vom Verleger ins Jahr 1897 vordatiert – veröffentlichte Ferdinand von Saar bei Georg Weiß in Heidelberg unter dem Titel Herbstreigen drei Novellen, die ab 1891 entstanden waren: Herr Fridolin und sein Glück, Ninon und Requiem der Liebe.2 Nur wenige Monate nach Herbstreigen erschien die zweibändige Ausgabe der Novellen aus Österreich, die alle vierzehn zwischen 1865 und 1892 zunächst einzeln veröffentlichten Erzählungen Saars vereinigte: von Innocens bis zu Schloß Kostenitz.3 Die Ähnlichkeit der Titel Reigen bzw. Liebesreigen und Herbstreigen verdankt sich also offenbar dem Zufall; diesen allerdings definiert in Schloß Kostenitz Graf Poiga-Reuhoff seiner Gesprächspartnerin Klothilde gegenüber als „nichts anderes, als geheimnisvolle Notwendigkeit“.4 Die Unter­ 1 Tb 1893–1902, S. 226. Zu diesem Zeitpunkt hat das Werk noch nicht seinen endgültigen Titel gefunden. Von Liebesregen ist am 24. Februar des darauffolgenden Jahres die Rede, als Schnitzler im Tagebuch die Fertigstellung des Werks notiert (S. 239). Schnitzler entschloss sich erst 1899 zur Änderung des Titels, auf Anraten des Theaterkritikers Alfred Kerr. Zur Entstehungsgeschichte des Werks vgl. Giuseppe Farese: Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien. 1862–1931. München 1999, S. 75–78 und 216–223; außerdem Gabriella Rovagnati: „Ewige Wiederkunft des Gleichen. Arthur Schnitzler und sein Reigen“. In: Arthur Schnitzler: Ein Lie­ besreigen. Die Urfassung des ‚Reigen‘. Hg. von Gabriella Rovagnati. Frankfurt a.M. 2004, S. 9–95. 2 Das Erscheinungsdatum des Werks ist 1897, tatsächlich kam es jedoch bereits im Herbst des Vorjahres auf den Markt. Zwei dieser Novellen waren bereits einzeln erschienen: Herr Fridolin und sein Glück 1894 in der Zeit sowie Requiem der Liebe 1896 in Cosmopolis; für Ninon hingegen, die Saar während eines seiner wiederholten Aufenthalte auf dem Gut Raitz in Mähren verfasst hatte, handelte es sich um den Erstdruck. Vgl. dazu Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke. Hg. von Jakob Minor. 12 Bde. Leipzig [1908], Bd. 10, S. 61. 3 Die zweibändige Ausgabe der Novellen aus Österreich erschien zwischen Frühjahr und Sommer 1897 und wurde 1904 neu aufgelegt. 1877 war bereits ein Band unter demselben Titel erschienen, mit den vier zuvor publizierten Novellen: Innocens, Marianne, Die Steinklopfer und Die Geigerin, sowie der neu hinzugefügten fünften Novelle Das Haus Reichegg. 4 Saar 1908 (Anm. 2), Bd. 9, S. 312.

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schiede, die beide Werke in Bezug auf die sie tragenden literarischen Konzepte, aber auch auf ihre Gattungszugehörigkeit (Erzählung und Drama) aufweisen, liegen auf der Hand und brauchen an dieser Stelle nicht eigens erörtert zu werden. Dessen ungeachtet verbindet beide Werke ein im Kern analoges Gedankenspiel: Das Motiv der Tanzpaare wird jeweils in der Metapher des ‚Liebesreigen‘ verankert und damit eine neue, entschieden erotisch konnotierte Deutung evoziert. Bei Schnitzler fügt sich eine solche Metapher in ein formales wie thematisches Strukturprinzip ein; bei Saar verdankt sich dieselbe Metapher einem konkreten visuellen Erlebnis des Autors, das er selbst in einem Brief an Abraham Altmann vom 6. November 1896 festhält, nämlich seiner Betrachtung des gleichnamigen Ölgemäldes, das Gabri­el von Max 1874 geschaffen hatte.5 Das „stimmungsvolle Bild“ des für seinen mystisch-allegorischen Stil bekannten Prager Malers zeigt vor einer flämisch-renaissancehaften Kulisse einen lockeren Reigen, in dem „eine Reihe ziemlich düsterer Gestalten […] in einem herbstlichen Garten Früchte von den Bäumen pflückt“. Das Gemälde suggerierte Saar eine direkte Analogie zu seiner eigenen narrativen Komposition, die so zugleich einen entschieden theatralischen Zug erhält: Die Protagonisten der drei Geschichten ziehen hier „in wechselnder Herbstbeleuchtung“ am Leser vorbei, gleich einem auf der Bühne inszenierten Reigen von tableaux vivants. Die gewollt theatralische Dimension des Herbstreigens scheint quasi in umgekehrter Analogie zu einer an sich zweideutigen Äußerung Schnitzlers in einem Brief an Otto Brahm vom 7. Januar 1897 zu stehen, wo nämlich die „bunte Reihe“ der zehn Dialoge, an denen er gerade arbeitete, als „etwas Unaufführbares“ definiert wird.6 Ob sich Schnitzler dabei auf den anstößigen Inhalt der Sequenzen oder die undramatische Form des Werks – oder vielleicht auch auf beides – bezog, muss offen bleiben. Die zweite Möglich­keit hat in jüngster Zeit Peter Sprengel veranlasst, Schnitzlers Reigen in die „Tradition des philosophischen und/oder satirischen Dialogs [zu rücken], wie er in der griechischen Antike von Platon und Lukian ausgebildet wurde“. 7 Das zyklische bzw. serielle Prinzip lieferte also beiden Autoren ein geeignetes Deutungsmuster des Lebens, das sie allerdings aus jeweils unterschiedlichen Prämissen herleiteten und mit jeweils anderen Absichten verwendeten. Bekanntlich fühlte Schnitzler für sich selbst eine tiefe See5 Ferdinand von Saar: Briefwechsel mit Abraham Altmann. Hg. von Jean Charue. Bonn 1984, S. 67. Das Gemälde (108 x 173 cm) befindet sich im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt. Vgl. dazu Susanne Böller: „Poesie mit malerischen Mitteln – Einige frühe Genrebilder“. In: Gabriel von Max. Malerstar, Darwinist, Spiritist. Hg. von Karin Althaus (Ausstellungskatalog). München 2011, S. 110–117, insb.: S. 113–115. 6 Der Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm. Hg. von Oskar Seidlin. Tübingen 1975, S. 57. 7 Peter Sprengel: „Reigen. Zehn Dialoge. Die ungeschriebenen Regeln der Liebe“. In: Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Hg. von Hee-Ju Kim und Günter Saße. Stuttgart 2007, S. 101–116, hier S. 103.

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lenverwandtschaft mit der dramatischen Struktur des Einakterzyklus. Erinnert sei hier nur an das Bekenntnis in seinem viel zitierten Brief an Otto Brahm vom 1. Oktober 1905: „Der Einakterzyklus sitzt tief in meinem Wesen“.8 Das distinktive Merkmal für die Verbindung zwischen den einzelnen Akten eines Dramas und der Verbindung zwischen den Szenen eines dramatischen Zyklus bestimmt Schnitzler mit Hilfe des Bilds von „Kette“ und „Schnur“: die Ringe einer Kette sind gleichsam durch eine innere, „verhakende Notwendigkeit“ verbunden, die den „mehr oder weniger echten, an einer Schnur aufgereihten […] Steinen“ hingegen fehlt. Bezeichnenderweise verteidigt er an dieser Stelle allerdings konkret nicht das Strukturprinzip des Einakterzyklus, sondern vielmehr das seines Dramas Der Ruf des Lebens, in dem die ausgeprägte Autonomie der einzelnen Akte angeblich den Zusammenhalt des Werkes gefährdete. Das Drama offenbart für ihn also eine innere, in seiner Tiefenstruktur verankerte Verknüpfung zwischen den einzelnen Segmenten, auch wenn diese auf den ersten Blick keinen unmittelbar notwendigen Bezug zueinander erkennen lassen. Die Einheitlichkeit resultiert nicht aus der einfachen Verbindung im Sinne der Reihung, sondern lässt sich auch in der richtigen Anordnung der Teile, in der Komposition, aufspüren. Das gilt natürlich ebenso für Anatol und Reigen, deren Episoden sowohl durch die Wiederkehr der Figuren verbunden sind, als auch durch die Wiederholung einzelner Situationen, die mit der Aufeinanderfolge von Illusion und Ernüchterung quasi einen Teufelskreis generieren; das gilt aber auch für die späteren Ein­akterzyklen Lebendige Stunden, Marionetten, Komödie der Worte, in denen die Verbindung zwischen den einzelnen, in sich abgeschlossenen dramatischen Szenarien durch eine gemeinsame Thematik gewährleistet wird. In ähnlicher Weise schreibt sich auch das gesamte Erzählwerk Fer­ dinand von Saars in ein zyklisches bzw. serielles Paradigma ein; dieses wurzelt in der für Saar charakteristischen Sichtweise der Realität, die nachhaltig von der Schopenhauerschen Willensmetaphysik geprägt worden war, der sich Saar in jungen Jahren angenähert hatte und an der er Zeit seines Lebens festhielt. Darüber hinaus erhält dieser philosophische Diskurs in erzähltechnischer Hinsicht eine gewollt figurative Konnotation, d.h. er fungiert als Grundgerüst für die Aneinanderreihung einzelner narrativer Episoden (‚Porträts‘), die nur im Hinblick auf das jeweilige Personenensemble minimal variieren. Der insistente Rückgriff auf einen Ich-Erzähler, der als Beobachter oder Augenzeuge an den Geschehnissen seiner Figuren teilhat, versteht sich nicht nur als formales Mittel zur Schaffung epischer Distanz gegenüber dem erzählten Gegenstand. Vielmehr erhält diese Erzählform im Rahmen von Saars Autorstrategie eine tiefere, ideelle Bedeutung, indem 8 Schnitzler/Brahm 1975 (Anm. 6), S. 172.

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sie nämlich das unüberwindliche Spannungsmoment akzentuiert zwischen dem Bewusstsein (der jeweiligen Ich-Erzähler) um die Vergeblichkeit des menschlichen Handelns einerseits und dem unbewusst geführten Existenzkampf der Protagonisten andererseits, die allesamt Opfer ihrer unerfüllten Wünsche und Sehnsüchte sind. Saars Erzähler-Figuren sind häufig Schriftsteller, die abseits der Gesellschaft, in einer freiwilligen, von ihnen selbst geschaffenen Isolation leben, die sich aber zugleich einer regen Anteilnahme an der Verbitterung und den Leidensgeschichten ihrer Figuren fähig erweisen. Das Bewusstsein um die Negativität der historischen Wirklichkeit, der Welt als solcher und der den Menschen umschließenden Natur, lässt sie die Ereignisse mit Abstand betrachten. Und doch erfüllt sie zugleich ein Bedauern um die eigene Abgeschiedenheit in der Gewissheit, dass nicht einmal die Befreiung vom Schmerz zum Glück führt und dass tertium non datur. Das Strukturmoment der Vernetzung, das in nahezu obsessiver Weise die Reproduktion des skizzierten Grundmodells generiert – und das im Übrigen häufig innerhalb der Erzählungen noch einmal verdoppelt wird – kommt somit in Saars Novellen vor allem in den Konturen seiner Figuren zum Tragen.9 Ein ähnliches serielles Verfahren lässt sich übrigens auch in Schnitzlers Roman Therese beobachten, dem einige Novellen Saars eng zur Seite gestellt werden können, wie Geschichte eines Wienerkindes, Ninon, Sappho und Conte Gasparo. Ich bin nun einmal nicht imstande zu analysieren. Ich male mehr oder minder gelungene Porträts und der Leser muß sich aus den Farben und Konturen die Geschichte der Personen selbst machen. Ergo bin ich – was ich Ihnen schon öfter sagte – kein eigentlicher Novellist und Romancier. Aber ein Poet, denk’ ich, bin ich doch und damit muß ich mich über sonstige Mängel trösten. Übrigens müssen meine sämtlichen Novellen in einer Reihe betrachtet werden.10

Mit diesen Worten in einem Brief an Richard Lieben vom Dezember 1891 rückte Ferdinand von Saar das serielle Moment des eigenen erzählerischen Projekts in engen Bezug zu seiner ausgeprägten Neigung für die bildende Kunst. Diese Neigung charakterisierte seine Erzählkunst, die in ihren 9 Dieses an figurativ-visuellen Bezügen reiche Grundmodell realisiert sich allerdings nicht nur in Form der doppelten individuellen Perspektive, wie sie die vierzehn Rahmennovellen aufweisen, sondern auch noch in einer anderen Variante, auf die man vielleicht den von Hellmuth Himmel eingeführten Begriff der „Bekanntschaftsnovelle“ anwenden könnte, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass Himmel diesen ausschließlich thematisch und nicht formal versteht. In der Rahmennovelle wird die Einheit der Erzählung durch den Protagonisten getragen, der eine entscheidende Episode seines Lebens schildert, in den elf „Bekannntschaftsnovellen“ hingegen durch eine Erzählfigur, deren menschliches Schicksal anhand einer Reihung signifikanter episodischer Schilderungen rekonstruiert wird. Vgl. Hellmuth Himmel: Geschichte der deutschen Novelle. Bern u.a. 1963, S. 325. 10 Zit. nach Anton Bettelheim: „Ferdinand von Saars Leben und Schaffen“. In: Saar 1908 (Anm. 2), Bd. 1, S. 7–188, hier S. 159.

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theo­retischen Reflexionen immer wieder auf den semantischen Bereich des Visuellen, insbesondere auf das Gemälde und die Malerei, Bezug nimmt. Für eine Interpretation dieses Inszenierungsmusters im narrativen Diskurs hat man die Bilder des Kaleidoskops und des Mosaiks bemüht;11 naheliegender bzw. kongenialer scheint der Vergleich mit der thematisch angeordneten Gemäldeausstellung einer Galerie, der wiederum den idealtypischen Kontext der Einrahmung aufnimmt, die dem Erzählmaterial selbst erst seine ontologische und kulturelle Legitimation verleiht. Ein solches ‚Ausstellungsprojekt‘ gewann um 1877 konkrete Gestalt, als die zunächst separat publizierten ersten fünf Erzählungen unter dem Titel Novellen aus Österreich in gesammelter Form erschienen. Diesen Titel behielt Saar für die folgenden, jeweils erweiterten Sammlungen bei, die 1894, 1897 und 1904 auf den Markt kamen.12 In einem Brief an seinen Verleger vom 9. Juni 1896 empfahl er, alle bisher erschienen Novellen unter einem einzigen, übergeordneten „Gesichtspunkt“ zu lesen; nur als Teile eines Systems erhielten die Novellen ihren Sinn, gewännen sie ihre ursprüngliche kollektive Identität zurück und würden so wieder zu dem, was der Autor selbst beabsichtigt hatte: „Kultur- und Sittenbilder aus dem österreichischen Leben von 1850 bis zur Gegenwart“.13 Die „virtuelle Begegnung“ zwischen Schnitzler und Saar, die im November 1896 bei der Formulierung des Titels ihrer Werke stattfand, wirft also erneut die Frage nach dem zyklischen bzw. dem seriellen Prinzip auf, das in ihrem literarischen Werk jeweils auf erstaunlich ähnliche, zugleich aber auch zutiefst unterschiedliche Weise Gestalt gewinnt. Das Paradigma des scheinbar Ähnlichen, dennoch aber zutiefst Unterschiedlichen scheint deshalb eine fruchtbare Arbeitshypothese für einen Vergleich zwischen beiden Autoren zu liefern, die zugleich die bisherigen, nahezu ausschließlich im Rahmen literarhistorischer Rekonstruktionen entwickelte Sichtweise der Forschung, nach der Saars Werk eine Vorwegnahme der eigentlich jüngeren, aber doch noch zeitgenössischen Literatur der neunziger Jahre liefert, um ein wichtiges Strukturmoment ergänzt bzw. vertieft. Eine solche literarhistorisch akzentuierte Sichtweise hatte im Grunde schon Ende des 11 Giselheid Wagner: Harmoniezwang und Verstörung. Voyeurismus, Weiblichkeit und Stadt bei Fer­dinand von Saar. Tübingen 2005, S. 19f. 12 Jakob Minor dehnt in der von ihm besorgten Gesamtausgabe von Saars Werken (Anm. 2) den Titel Novellen aus Österreich auch auf die nach Schloß Kostenitz entstandenen Erzählungen aus. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass diese Entscheidung, die weder durch Saars eigene Wahl, noch durch seine narrative Entwicklung motiviert ist, in der Forschung zu Missverständnissen geführt hat. Vgl. dazu Karl Konrad Polheim: „Ferdinand von Saars Erzählkunst. Am Beispiel des Brauer von Habrovan“. In: Ferdinand von Saar. Ein Wegbereiter der literarischen Moderne. Festschrift zum 150. Geburtstag mit den Vorträgen der Bonner Matinée und des Londoner Symposions sowie weiteren Beiträgen. Hg. von K.K.P. Bonn 1985, S. 11–42, hier S. 12, Anm. 6. 13 Zit. nach Saar 1908 (Anm. 2), Bd. 7, S. 7.

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19. Jahrhunderts Hermann Bahr vorgegeben, wenn auch nicht speziell mit Bezug auf die Verbindungen zwischen Saar und Schnitzler, sondern auf die Autoren-Generation der Wiener Moderne insgesamt. Eine solche Deutung zeichnet sich aber ebenso in den Worten ab, mit denen der deutlich ältere Saar dem jüngeren Kritiker Bahr sein Verhältnis zur neuen Generation gestand: „Ich bin halt der Übergang von den Alten zu euch!“14 Im Kielwasser von Bahrs Interpretation bzw. Saars Selbstinterpretation bewegt sich James Lee Hodges Dissertation über Saar von 1961, wo ausdrücklich von einer „Anticipation of Twentieth Century Themes and Techniques“ die Rede ist.15 Ernest H. von Nardroff hingegen geht in einem zehn Jahre später publi­zierten Aufsatz der Frage nach, inwieweit eine Novelle wie Schloß Kostenitz als „A Prelude to Schnitzler“ betrachtet werden könne.16 Auf derselben Linie bewegen sich schließlich auch noch die beiden Studien von Wolfang Nehring aus den achtziger Jahren.17 Die bislang nur am Rande beachteten materiellen Zeugnisse, die den – nunmehr realen – Kontakt zwischen beiden Autoren dokumentieren, sind spärlich, aber deshalb keineswegs bedeutungslos. Es handelt sich im Einzelnen um dreizehn Notizen aus Schnitzlers Tagebuch (sechs davon datieren in das Jahrzehnt zwischen 1893 und 1904, weitere sieben in die Zeit nach 1906, Saars Todesjahr),18 sowie ein Korpus von vier Briefen und zwei Karten Saars, das in Cambridge aufbewahrt wird.19 Hinzu kommt ein umfangreicher Brief Saars, der auf den 5. Februar 1894 datiert ist und sich im Marbacher Literaturarchiv befindet.20 Das Korpus der Briefe Schnitzlers an Saar besteht hingegen aus einem einzigen Dokument: einem unveröffentlichten, nichtinventarisierten Brief vom 6. Oktober 1893, der in ein Widmungsexemplar des Anatol eingelegt ist, das sich im Saar-Gedenkraum in der Villa Wertheimstein (dem heutigen Bezirksmuseum Döbling, Wien) befindet, wo der Dichter oft als Gast gewohnt hatte.21 Diese Asymmetrie ist sicherlich der schlichten Tatsache 14 Hermann Bahr: „Die Pincelliade“. In: Die Zeit [Wien] 10, 1897, Nr. 122, S. 76f.; der Aufsatz wurde unter dem Titel „Ferdinand von Saar“ in den Band Bildung. Berlin und Leipzig 1900, S. 140–144, aufgenommen. 15 James Lee Hodge: The Novellen of Ferdinand von Saar. Anticipation of Twentieth Century Themes and Techniques. Philadelphia 1961. 16 Ernest H. von Nardroff: „Ferdinand von Saar’s Schloß Kostenitz: A Prelude to Schnitzler?“. In: Modern Austrian Literature 4, 1971, No. 4, S. 21–36. 17 Wolfgang Nehring: „Vergänglichkeit und Psychologie. Der Erzähler Ferdinand von Saar als Vorläufer Schnitzlers“. In: Polheim 1985 (Anm. 12), S. 100–116; ders.: „Von Saar zu Schnitzler: Die Ankündigung der Moderne im 19. Jahrhundert“. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 86–88, 1982–84, S. 351–359. 18 Tb 1893–1902, S. 10f., 54f., 70; Tb 1903–1908, S. 37, 100; Tb 1913–1916, S. 41; Tb 1917–1919, S. 38, 149, 177, 192, 205; Tb 1920–1922, S. 357. 19 CUL, B88. 20 DLA, Mappe Nr. 1829. 21 Der Brief wird von Giselheid Wagner zitiert (Anm. 11), S. 55.

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geschuldet, dass Saar, wie sein erster Biograph Anton Bettelheim bekräftigt, den Großteil der an ihn gerichteten Briefe wegwarf,22 – ganz im Unterschied zu Schnitzler, der bekanntlich dazu neigte, alles aufzubewahren. Der erste Kontakt zwischen den beiden Schriftstellern reicht allerdings in das Jahr 1893 zurück: dies belegen zwei Eintragungen in Schnitzlers Tagebuch – eine kurze Notiz vom 20. Januar und ein Vermerk vom 2. Oktober, der das erste sicher belegte Zusammentreffen erwähnt.23 Das Jahr 1893 markiert in der Entwicklung von Jung-Wien insgesamt einen Schlüsselmoment. Im Zuge seiner Bemühungen um die Konstruktion einer eigenen Identität der österreichischen Literatur war Hermann Bahr auf der Suche nach einheimischen Bezugsmodellen für die Definition einer neuen Moderne, deren Interesse, jenseits der poetologischen Kon­zepte des Naturalismus Berliner Prägung, vorzugsweise auf die Wirklichkeit der Innenwelt zielte und sich dabei den jüngsten Erfahrungen der europä­ischen, insbesondere der französischen Literatur öffnete. In dem schon berühmten Ferdinand von Saar, den die Stadt Wien gerade anlässlich seines 60. Geburtstags am 30. September 1893 „als heimatlichen Dichter“ gefeiert hatte,24 glaubte Bahr eine geeignete Identifikationsfigur gefunden zu haben. Insbesondere die Wiener Elegien, die Mitte Februar erschienen und innerhalb weniger Monate eine zweite Auflage erlebten, hatten seit einer öffentlichen Autoren-Lesung am 14. Januar 1893 im Wiener Musikverein vor den Mitgliedern der Grillparzer-Gesellschaft großen Anklang gefunden.25 Kurz gesagt: Saars schwierige, entbehrungsreiche Anfangsjahre als Schriftsteller waren in weite, wenn auch noch schmerzhaft nachwirkende, nie ganz verdrängte Erinnerung gerückt. Dank der Bekanntschaft mit Josephine von Wertheimstein, der Schwester der Fabrikanten Max und Julius von Gomperz und Ehefrau des Bankiers Leopold von Wertheimstein, die ihn 1871 in ihren literarischen Salon in Döbling einführte, hatte Saar Kontakte zu führenden Vertretern des Adels sowie des politischen und kulturellen Lebens in Wien knüpfen können. Vor allem aber hatte er auch zwei weibliche Angehörige des ältesten habsburgischen Adels kennengelernt: Elisabeth zu Salm-Reifferscheidt, die ihm in den folgenden Jahren wiederholt ihre Gastfreundschaft auf ihren mährischen Landsitzen von Blansko und Raitz gewährte, und Marie zu Hohenlohe. Der erste Tagebuchvermerk Schnitzlers vom 20. Januar 1893 steht in direktem Bezug zur zeitgenössischen Debatte über die moderne österrei22 Saar 1908 (Anm. 2), Bd. 1, S. 191. 23 Tb 1893–1902, S. 10f. und 54. 24 Der Verein für deutsche Literatur „Ostarrichi“ feierte Saar mit einem Festblatt. Dem heimat­ lichen Dichter Ferdinand von Saar zum 60. Geburtstage. Geleitet von Viktor Felgel-Feidegg und Wilhelm Arthur Hammer, Wien, am 30. September 1893. 25 Herbert Klauser: Ein Poet aus Österreich. Ferdinand von Saar – Leben und Werk. 2. erw. Aufl. Wien 1995, S. 63f.

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chische Literatur und die Verteidigung ihrer Vorrechte: „Dtsch. Ztg.; der Burg von Bahr ‚empfohlen‘: Nissel, Saar, Karlweis, Schwarzkopf, David und ich“.26 Schnitzler spielt hier auf eine in der Deutschen Zeitung erschienene Glosse Hermann Bahrs an, mit der der unermüdliche Streiter und Vorkämpfer der neuen literarischen Schule zu einer Polemik zwischen Ludwig Fulda und dem Direktor des Burgtheaters Max Burckhard Stellung nahm. Die Angelegenheit hatte auch in Deutschland Beachtung gefunden, insbesondere in der Münchner Allgemeinen Zeitung, die einen Aufruf zur Boykot­tierung des Wiener Theaters publiziert hatte, dem sich auch Gerhart Hauptmann anschloss. So endete Bahrs Artikel mit einer „Empfehlung“ an Burckhard, den österreichischen Autoren im Spielplan seines Theaters mehr Raum zu geben: Aber vielleicht merkt Herr Direktor Burckhard die Lehre und erinnert sich, daß es auch in Wien Dichter gibt, wenn sie freilich nicht Misch und Moser, sondern nur Nissel und Saar, Schwarzkopf und Karlweis, David und Schnitzler heißen.27

Kurze Zeit später zitierte Karl Kraus Bahrs Artikel vollständig in einer ausführlichen Schrift zur Verteidigung des deutschen Naturalismus, die in der Gesellschaft erschien; die extrem polemischen Töne, die Kraus anschlägt, kommen bereits in der sarkastischen Überschrift zum Tragen: Zur Ueberwin­ dung des Hermann Bahr.28 Bahr stellt in seiner Glosse eine der für ihn so typischen Namenslisten zum Zweck der Ein- bzw. Ausgrenzung zusammen. In der umfassenderen und zugleich weitaus berühmteren Liste, die sich in seinem Aufsatz Das junge Oesterreich vom September desselben Jahres findet (wo übrigens Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach zu den Schutzherrn der neuen Generation ernannt werden), finden sich einige dieser Namen wieder – so Gustav Schwarzkopf, Carl Karlweis, Jakob Julius David –, und zwar unter denjenigen Autoren, die sich Bahr zufolge selbst eher nicht zu den Repräsentanten der neuen österreichischen Schule hätten rechnen wollen.29 Wie Schnitzlers zweite Tagebuch-Eintragung vom 2. Oktober bezeugt, nahm er selbst an dem „Freundesmahl“ teil, das die Deutsche Zeitung zu Saars 26 Tb 1893–1902, S. 10f. 27 Hermann Bahr: „Burckhard und Fulda“. In: Deutsche Zeitung [Wien], 20. Januar 1893, Nr. 7566, S. 6. 28 In: Die Gesellschaft, Jg. 9, Mai 1893, S. 627–636. 29 Die besagte Liste findet sich im zweiten der insgesamt drei Teile des Aufsatzes, der am 27. September 1893 in der Deutschen Zeitung, 1893, Nr. 7813, Morgen-Ausgabe, S. 1–3, hier S. 1, erschien. Die beiden übrigen Teile wurden jeweils in der Morgen-Ausgabe vom 20. September 1893 (Nr. 7806, S. 1f.) und vom 7. Oktober 1893 (Nr. 7823, S. 1–3) abgedruckt. Der Aufsatz wurde anschließend zusammen mit seinem ‚Zwilling‘ Das jüngste Deutschland in den Band Studien zur Kritik der Moderne. Frankfurt a.M. 1894, S. 45–96, aufgenommen. Vgl. dazu Giovanni Tateo: „La questione del Moderno“. In: Hermann Bahr. Il superamento del Naturalismo. Hg. von G.T. Milano 1994, S. 165–230, hier S. 202–208.

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sechzigstem Geburtstag im Sacher ausgerichtet hatte: „S. kennt ‚Sohn‘ und ‚Reichtum‘. Daraus entwickelt sich ein theoretisches Kunstgespräch über abgethane Dinge, bei dem sich S. als naiv und verständig […] erwies.“30 Die wenigen Worte machen deutlich, dass sich Schnitzlers Haltung deutlich von dem Enthusiasmus unterschied, den zur selben Zeit seine Freunde Hofmannsthal und Bahr für Saar bekundeten. So hatte der 18-jährige Hofmanns­thal, der Saar im Hause Gomperz begegnet war, am 13. Dezember 1892 eine kurze Rezension zu Schloß Kostenitz in der Deutschen Zeitung veröffentlicht, wobei es sich übrigens um dieselbe Zeitung handelt, in der im Juli/August desselben Jahres auch die Novelle selbst zum ersten Mal erschienen war. Die Rezension besitzt geradezu eine paradigmatische Funktion im Hinblick auf die Strategie des Verfassers, ein zwar zeitgenössisches, aber formal und inhaltlich noch an die jüngste Vergangenheit gebundenes Erzählmodell aufzunehmen und in einer ausgedehnten Reflektion über die Themen der eigenen, unmittelbaren Gegenwart neu zu verankern. Die Formulierungen, die der noch sehr junge Hofmannsthal wählt, weisen dabei deutlich auf die Grundzüge seines eigenen thematischen Repertoires voraus, von seinen lyrischen Dichtungen jener Jahre, bis hin zu seiner fiktiven Kor­respondenz Ein Brief (1901) und Briefe des Zurückgekehrten (1906).31 Die Affinität zu Saar spürte Hofmannsthal insbesondere in der Atmosphäre auf, die dessen Novelle verströmt, und die eine Art Schwebezustand darstellt zwischen dem zutiefst österreichischen Drang der Hingabe an den „räthselhaften Bann des Vergangenen“, an „ein unsagbares Heimweh“ und „sinnloses Verlangen nach alledem, was so verwandt ist und dabei so unbegreiflich weit und ganz unwiederbringlich“ einerseits,32 und dem dezidiert modernen Bewusstsein um die Endgültigkeit dieses Verlusts andererseits. Auf derselben Wellenlänge wie Hofmannsthals Rezension liegt Hermann Bahr mit seinen Zwillings-Aufsätzen Das jüngste Deutschland und Das junge Oesterreich, die zwischen Ende August und Anfang Oktober 1893 – in auffallender zeitlicher Parallelität zu den Feierlichkeiten zu Saars sechzigstem Geburtstag – in der Deutschen Zeitung publiziert wurden.33 Die feindliche Haltung der „jüngsten“ deutschen Autoren gegenüber dem Realismus des 19. Jahrhunderts, den diese allerdings nicht mit der Generation Storms, Fontanes und Raabes bzw. Kellers und Meyers gleichsetzten, sondern ausschließlich mit den sog. Epigonen Paul Heyse und Friedrich Spielhagen, 30 Tb 1893–1902, S. 54. 31 Wagner 2005 (Anm. 11), S. 59–63. 32 Hugo von Hofmannsthal: „Ferdinand v. Saar. Schloß Kostenitz“. In: H.v.H.: Sämtliche Wer­ ke. Kritische Ausgabe. Hg. von Rudolf Hirsch, Anne Bohnenkamp, Mathias Mayer, Christoph Perels, Edward Reichel und Heinz Rölleke. Bd. XXXII: Reden und Aufsätze. 1. Hg. von Hans-Georg Dewitz, Olivia Varwig, Mathias Mayer, Ursula Renner und Johannes Barth. Frankfurt a.M. 2015, S. 67–69, hier S. 68 und 67. 33 Siehe Anm. 29.

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kontrastiert Bahr mit der „herzlichsten Verehrung“, „innigsten Liebe“ und „zärtlichsten Treue“, welche umgekehrt die jungen österreichischen Autoren für ihre eigenen unmittelbaren literarischen Vorläufer empfanden, reprä­sentiert von der mährischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar.34 Eine solche Literatur, die sich bereits in den weichen Tonlagen einer décadence, dicht an der Feinfühligkeit der eigenen Zeit bewegte, konnte für Bahr als Ausgangsmodell eines neuen Entwurfs der Moderne fungieren.35 Während der gesamten neunziger Jahre scheinen viele junge Schriftsteller Saars Anschluss zu suchen, um ihm zumindest einige Worte der Solidarität zu entlocken, wenn sie ihn schon nicht für das Neue wirklich gewinnen konnten. Bahrs Zeugnis in einer 1895 in der Zeit gedruckten Rezension zufolge geizte dieser gegenüber den literarisch ambitionierten Besuchern, die zu ihm nach Döbling pilgerten, durchaus nicht mit Ermutigungen, auch wenn er diese häufig in den ihm eigenen mürrischen und zackigen Ton einkleidete.36 Während sein Name für Hofmannsthal und Bahr in besonders überzeugender Weise für die Kontinuität zwischen Alt und Neu stand, so bekundete Saar selbst allerdings mehrfach ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den jüngsten literarischen Bewegungen, die sich in jenen Jahren in Österreich und Europa zu etablieren begannen. Eine solche Haltung spiegelt zweifellos die typische Angst des alternden Autors, nicht mehr auf der Höhe der eigenen Zeit zu sein und diese neue Literatur nicht mehr verstehen zu können, die den Mut aufgebracht hatte, das Problem einer radikalen formalen Erneuerung aufzuwerfen, um dadurch zu jenen Tiefen der modernen Nervenzustände vorzustoßen, deren Ergründung sich ja am Ende auch seine eigene Erzählkunst verpflichtet fühlte. Im schmerz­lichen und resignierenden Bewusstsein der eigenen Unzeitgemäßheit scheint Saar das einzig tröstliche Moment aus der Überzeugung zu ziehen, dass seine Werke notwendig bzw. sogar förderlich waren, um den Übergang von der alten zur neuen literarischen Schule mitzutragen.37 Auch in einem Brief an Marie zu Hohenlohe vom 20. Dezember 1894 drückte er seine Empfindung aus, dass sich seine Schriftsteller-Laufbahn dem Ende zuneigte. Den 34 Bahr 1894 (Anm. 29), S. 75. Die 1829 bzw. 1830 geborenen Deutschen Spielhagen und Heyse waren gleichaltrig mit Ebner-Eschenbach und Saar, die 1830 bzw. 1833 geboren wurden. 35 Dazu Giovanni Tateo: „‚Ganz anders die jungen Wiener‘. Hermann Bahr e il recente passato letterario austriaco“. In: Cultura tedesca, 40, Januar–Juni 2011: Letterature del Danubio, S. 93–103, hier S. 95. Die Debatte über das Konzept der Moderne erschöpft sich natürlich nicht in der an sich durchaus problematischen Gegenüberstellung Wien/Berlin. Dazu Gotthart Wunberg: „Wien und Berlin. Zum Thema Tradition und Moderne“. In: G.W.: Jahr­ hundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Tübingen 2001, S. 176–186, hier S. 176. Vgl. außerdem Peter Sprengel und Georg Streim: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Wien u.a. 1998. 36 Vgl. Bahr 1900 (Anm. 14), S. 140. 37 Ebd., S. 141.

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Grund dafür sah er jedoch nicht im Versiegen seiner Kreativität, die er im Gegenteil für lebendiger denn je erklärt, sondern eben in der Präsenz jener neuen Literatur, zu der er seiner eigenen Überzeugung nach keinen wirklichen Beitrag mehr zu leisten vermochte.38 Trotz des Bewusstseins, dass seine Dichtungen „bis an die Grenze derselben führ[t]en“, überschritten sie diese dennoch nicht und verharrten so in einer Art Zwischenraum: Dieser besaß einerseits nicht mehr die Authentizität der Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Saar noch geformt hatte und deren Werten er sich verpflichtet fühlte, ohne sich jedoch andererseits vollständig der modernen Gefühlskultur öffnen zu können, die den Bedürfnissen der Gegenwart mit einer von Grund auf erneuerten Literatur begegnete. Die knappen Tagebuch-Notizen aus diesem Zeitraum ermöglichen kaum ein vollständiges Bild über Schnitzlers Haltung gegenüber Saar. Der oben bereits zitierte einzige erhaltene Brief an Saar vom 6. Oktober 1893, zeigt den typischen Respekt, zu dem sich ein junger, aufstrebender Schriftsteller gegenüber dem älteren berühmten Kollegen verpflichtet fühlte.39 Fest steht, dass Schnitzler sich gegenüber der gesamten österreichischen Literatur der unmittelbaren Vergangenheit, die Saar noch ein gültiges Identifikationsmodell bot, stets eher desinteressiert zeigte. Bei mindestens zwei Gelegenheiten, d.h. in einem Brief an den Germanisten Moritz Necker von 189340 und in einem weiteren Brief an die Freundin Marie von Ebner-Eschenbach vom 20. Januar 1905,41 betonte Saar ausdrücklich seine Zugehörigkeit zu der Franz Grillparzer nachfolgenden Schriftstellergeneration, also zu jenen Autoren, die, wie er selbst, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts geboren waren, wie Robert Hamerling, Ludwig Anzengruber, Peter Rosegger und eben auch die Ebner-Eschenbach selbst. In Schnitzlers Tagebuch tauchen dieselben Autoren nur ganz vereinzelt auf: Robert Hamerling einmal, Peter Rosegger achtmal und die Ebner fünfmal. Ausnahmen bilden lediglich Ludwig Anzengruber (19 mal) und der häufiger genannte Franz Grillparzer, was allerdings den einfachen Grund hat, dass ihre Dramen weiterhin in den Spielplänen der Wiener Theater präsent waren. Sogar Adalbert Stifter wird nur an vier Stellen genannt, und zwar je zweimal in den Jahren 1918 und 1926. In einer Notiz vom 12. Juli 1918 heißt es gar: „Seit ein paar Tagen Rosegger (von dem ich so gut wie nichts kannte) ‚Allerhand Leute‘“.42 38 Fürstin Marie zu Hohenlohe und Ferdinand von Saar: Ein Briefwechsel. Hg. von Anton Bettelheim. Wien 1910, S. 219f. 39 Siehe Anm. 21. 40 Moritz Necker: „Briefe von Ferdinand von Saar“. In: Österreichische Rundschau 16, 1908, S. 194–207, hier S. 203f. 41 Briefwechsel zwischen Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach. Hg. von Heinz Kindermann. Wien 1957, S. 140. 42 Tb 1917–1919, S. 161. Vgl. dazu Giovanni Tateo: „Schnitzler und der Spätrealismus“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 1–7, hier S. 4.

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Dessen ungeachtet sandte der junge Schnitzler – ähnlich wie Hofmannsthal, Andrian, Beer-Hofmann, Schaukal – dem älteren Saar seine eigenen Werke zu: zunächst Alkandis Lied, Anatol und Das Märchen, dann Sterben sowie schließlich Leutnant Gustl und Frau Bertha Garlan. Saars Antworten ließen nicht auf sich warten. Der gewählte Ton unterscheidet sich klar von dem der Dankschreiben an die Verfasser von Gestern und Garten der Er­kenntnis, „Schöpfungen der ‚neuesten‘ Literatur“, die sich, wie er selbst bekennt, seinem Verständnis gänzlich verschlossen.43 In seinem Brief vom 5. Februar 1894 an Schnitzler äußert er sich über den Anatol sehr positiv, indem er das Werk als „hochinteressant“ und „geistvoll“ bezeichnet sowie seinem Autor „große Welt- und Weiberkenntnis“ attestiert; Alkandis Lied hält er hingegen für ein weniger bedeutsames Werk; schließlich geht er auf Das Märchen näher ein, das für ihn eine „concentrierte Vertiefung der Anatol-Themen“ liefert, mit offenkundigem Bezug auf Denksteine. Das Herzstück des Briefs beschäftigt sich mit den Gründen für den Misserfolg dieses Dramas, das am 1. Dezember 1893 im Deutschen Volkstheater in Wien aufgeführt und über eine zweite Aufführung nicht hinausgelangt war, wozu übrigens zuvor bereits auch Hermann Bahr und Jakob Julius David – allerdings mit ganz anderen Argumenten als Schnitzler – in ihren Rezensionen in der Deutschen Zeitung bzw. in der Wiener Allgemeinen Zeitung Stellung genommen hatten:44 Daß es sich auf der Bühne nicht halten konnte, daran ist, meiner Meinung nach, nur der Umstand schuld, daß Sie die Gestalt Fanny nicht genug verdichtet, nicht genug herausgearbeitet haben. Ich glaube, die modernen jungen Dramatiker schaden sich sehr, indem sie gewissermaßen unbedingt den Spuren Ibsens folgen. Dieser war es, der zuerst den Monolog aus dem Drama hinausgedrängt hat. Ich aber behaupte, daß der Monolog absolut notwendig ist – und zwar als Moment – wenn auch nicht der Selbsterkenntnis, so doch der Selbstbeobachtung, ohne welche kein Mensch (der diesen Namen beansprucht) jemals sein wird und sein kann. Würde Fanny nur ein einziges Mal ihre Stellung zu Denner in ernster Selbsteinkehr überdacht, würde sie ihr Gesicht geprüft – und dasselbe wahr und echt vor ihrem Gewissen befunden haben: dann wären auch wir überzeugt und würden ihr Schicksal als ein tragisches erkennen. So müssen wir, wie Denner, an Worte und Beteuerungen glauben – oder nicht glauben, wie er selbst.45 43 Die betreffenden beiden Briefe an Hofmannsthal vom 5. Februar 1892 und an Andrian vom 4. April 1895 sind jeweils ediert in: Jugend in Wien. Literatur um 1900. Hg. von Bernhard Zeller. Stuttgart 1974, S. 91 und 162. Vgl. auch Rudolf Hirsch: „Ferdinand von Saar und Hugo von Hofmannsthal“. In: R.H.: Beiträge zum Verständnis Hugo von Hofmannsthals. Frankfurt a.M. 1995, S. 281–299, hier S. 282, sowie Wagner 2005 (Anm. 11), S. 56f. 44 Hermann Bahr: „Arthur Schnitzler: Märchen“. In: Deutsche Zeitung, 2. Dezember 1893, Nr. 7879, Morgen-Ausgabe, S. 1–3; wiederabgedruckt in: Wiener Theater 1892–1898. Berlin 1899, S. 242–252; Jakob Julius David: „Arthur Schnitzler: Das Märchen“. In: Wiener Allgemei­ ne Zeitung, 3.12.1893, S. 7. 45 Brief Saars an Schnitzler vom 5. Februar 1894. In: DLA, Mappe Nr. 1829 (Hervorh. i.O.).

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Bei einem Autor wie Saar, der für die Theaterdichtung bei den Modellen des historischen Dramas schillerscher Prägung stehen geblieben war und sich überdies oftmals dem Verdacht einer ganz und gar epischen Berufung aussetzte, darf die Verteidigung des Monologs „als Moment der Selbst­erkenntnis bzw. -beobachtung“ ebenso wenig verwundern wie die entsprechende Polemik gegen das Theater Ibsens und dessen Anhänger, also letztlich gegen die Prinzipien des Naturalismus. Weitaus interessanter ist hingegen der Satz, der dem oben zitierten Textausschnitt vorausgeht: „Das ‚Märchen‘ […] hat, da ich ähnliche Seelenqualen und Conflikte in meinem Leben oft genug durchgemacht, sehr stark auf mich gewirkt“. Es scheint fast, als ob Saar das Thema des Dramas, die Eifersucht auf die Vergangenheit der Geliebten, als sein eigenes betrachtete, das auch er selbst hätte behandeln können, das ihn deshalb zu „ergreifen“ vermochte, weil es sein eigenes Empfinden und Erleben zutiefst berührte. Beide Kategorien – das eigene Empfinden und Erleben – besitzen in Saars Werk insgesamt eine tragende Funktion, wie er in einem Brief an Abraham Altmann vom 5. Juli 1898 offen darlegt: „Aus meinen Schriften kann man sehr viel – vielleicht alles herauslesen, was ich gelebt u. erlebt“. Altmann gegenüber, der seinerseits mit Bezug auf den Zyklus Herbst­reigen von „subjektiver Novellentechnik“ gesprochen („Ihre Novellentechnik möchte ich die subjektive nennen“) und Saars Erzählungen als „erlebte Novellen“ definiert hatte,46 bestätigte er die enge Beziehung seiner Novellen­gestalten zum „Original – das heißt wirklich geschaute[n] Figuren, wenn auch die Handlung fast ganz meine Erfindung ist.“ Unter diesen Vorzeichen erschien es ihm als notwendige Konsequenz, „das Gepräge des Selbst- und Miterlebten“ zu bewahren. Die Präsenz eines in der Rolle des Zuschauers und Beobachters beteiligten Erzählers erwies sich somit als „ein künstlerischer Notbehelf “, der es ihm ermöglichte, das Moment der Beobachtung in einen Kontext einzubinden und damit die Authentizität der Erzählung zu garantieren, ohne zugleich eine kritische Distanz des Erzählers selbst aufzugeben.47 Saars wohlwollende, ja in vieler Hinsicht sogar einvernehmliche Haltung gegenüber Schnitzlers Werken wird wenige Monate später erneut bestätigt, als Saar in einem Brief vom 13. Dezember 1894 dem jungen Kollegen für die Zusendung der gerade erst veröffentlichten Novelle Sterben dankt: Bewunderungswürdig ist die Kunst – oder besser gesagt die Wahrheit, mit der Sie die Seelenqualen des hinsterbenden Felix, den allmäligen Loslösungsprozeß der Geliebten schildern. Aber hätten Sie nicht dieses psychologische Duett (oder wenn Sie wollen Terzett) vielstimmiger machen, nicht einige Handlung und Verwicklung dazu erfinden können? Gerade das wollte ich nicht! werden Sie ausrufen. Und dann 46 Saar 1984 (Anm. 5), S. 62. 47 Ebd., S. 67f.

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haben Sie auch recht. Es muß, es darf ja nicht ein Werk wie das andre sein, und da Sie schon so viel Abwechslungsvolles gebracht haben, so wird dieses peinvolle Nachtstück in seiner knapp umrahmten Düsterkeit auch den richtigen Platz in der Reihe Ihrer Schriften finden, allwo es seine eigenthümliche Wirkung ganz und voll ausüben kann.48

Saar ist sich also des innovativen Charakters der Erzählung durchaus bewusst, er zeigt sich „verständig“, aber das hindert ihn nicht daran, aus einer sichtlichen Naivität heraus unkonventionelle, ihm selbst fremde formale Strategien zu problematisieren, wie in diesem Fall die Gestaltung des „psycho­logischen Duetts“ der beiden Liebenden im Angesicht des Todes ohne ein komplexeres Handlungsgeflecht.49 Das aussagekräftigste Zeugnis liefert allerdings ein Brief Saars vom 19. Juni 1901, in dem sich dieser bei Schnitzler für die Zusendung der beiden Novellen Leutnant Gustl und Frau Bertha Garlan bedankt; der Brief markiert zugleich das Ende eines sechsjährigen Schweigens der überlieferten Dokumente, das nur durch eine Karte Saars vom 11. Oktober 1895 gebrochen wird, mit der er Schnitzler zum Erfolg der Erstaufführung von Liebelei zwei Tage zuvor am Burgtheater gratuliert. In den betreffenden Novellen findet Saar noch einmal Schnitzlers „berühmte Kraft der Seelenanalyse und Milieuschilderung“ wieder. Allerdings zeigt er sich dabei an Leutnant Gustl nur wenig interessiert, den er beiläufig als „Virtuosenstück“ abtut.50 Umso mehr Aufmerksamkeit schenkt er Frau Bertha Garlan, die er im Vergleich zum Gustl als „echteres Kunstwerk“ wertet: Man athmet die Luft der kleinen Landstadt und lebt die öden, gedrückten Verhältnisse mit, als befinde man sich dort. Daher kommt es auch, daß man sich ungefähr in der Mitte des Buches fragt, ob diese Zustände so eingehender Behandlung auch wirklich werth sind – und man fängt an, ein bißchen ungeduldig zu werden. Aber die zweite Hälfte wirkt mit dem ergreifenden Schluß nach rückwärts, wie ein wuchtiger elektrischer Lichtstrom, der allem und vor allem der Heldin vollen Reiz und volle Bedeutung verleiht. Jeder Zug in diesem stillen, still verlangenden und eigentlich nichts erlebenden Frauenleben wird als nothwendig empfunden, zwängt sich tief ein, und so wird ‚Frau Bertha Garlan‘ zu den Büchern gehören, die man niemals aus dem Gedächtnisse verliert. Man hat sie, wenn ich nicht irre, zu Ma­dame Bovary in Beziehung bringen wollen. Höchst 48 Brief Saars an Schnitzler vom 13. Dezember 1894. In: CUL, B88 (Hervorh. i.O.). 49 Zu den Begriffen „naiv“ und „verständig“ vgl. den oben (Anm. 30) bereits zitierten Tagebucheintrag Schnitzlers vom 2. Oktober 1893. 50 Nebenbei bemerkt: die Ähnlichkeit der Titel legt es auch hier nahe, vom „Zufall als geheimnisvoller Notwendigkeit“ zu sprechen, denkt man an jenen Leutnant Burda, dem Saar etliche Jahre zuvor, 1889, ein novellistisches Porträt widmete. Dazu Maria Pospischil Alter: „Ferdinand von Saars Leutnant Burda und Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl. Entwurzelung und Desintegration der Persönlichkeit“. In: Begegnung mit dem „Fremden“. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanistik-Kongresses. Tokyo 1990. Bd. 10. Hg. von Eijiro Iwasaki. München 1991, S. 133–139.

„Ein wirklicher Erzähler“: Ferdinand von Saar und Arthur Schnitzler

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ungerechtfertigt! Denn es ist alles ganz anders. Die einzige Ähnlichkeit, die man aber an den Haaren herbeiziehen müßte, besteht darin: daß beide Romane in der Provinz spielen.51

Interessanterweise beschäftigt sich Saar eher kritisch mit den Elementen des Romans, die bis heute als seine größte Stärke betrachtet werden, nämlich dem ersten Teil, der den Gegenstand der Erzählung in der Atmosphäre einer Provinzstadt (Krems) verankert und die zweite Reise der Protago­nistin nach Wien vorbereitet, bei der dann die Begegnung mit ihrer Jugendliebe stattfindet. Zugleich stellt Saar damit seine Kenntnis der einige Wochen zuvor in der Zeit erschienenen Rezension von Alfred Gold unter Beweis, der den gelungenen, von der Literaturkritik mehrfach wieder aufgenommenen Vergleich mit Flauberts Roman eingeführt hatte, von dem Saar selbst sich allerdings distanziert.52 Saars besonderes Interesse an Schnitzlers Roman lässt sich allerdings erst im Licht einer Textpassage aus seiner eigenen Novelle Requiem der Liebe vollständig erklären, die sein narratives Triptychon Herbstreigen beschließt. Man könnte nämlich sagen, dass der zweite Teil von Frau Bertha Garlan zu Schnitzlers Novelle nahezu spiegelbildlich ist, wobei natürlich die Rollen im Sinne der traditionellen Geschlechterordnung vertauscht und also auf die männliche und nicht die weibliche Perspektive zugeschnitten sind: Lässt sich einerseits Berta in eine Analogie zu dem Komponisten Leo Bruchfeld rücken, so umgekehrt auch der Geigen-Virtuose Emil Lindbach zu Paula. Auch bei der narrativen Gestaltung der Eingangsszene beider Texte ergeben sich auffallende Ähnlichkeiten: [Bertha Garlan:] Langsam schritt sie den Hügel hinab; nicht über die breite Fahrstraße, die in Windungen zur Stadt hinunterlief, sondern über den schmalen Weg zwischen den Weingeländen. […] Die späte Nachmittagssonne strahlte ihr entgegen und hatte noch so viel Kraft, daß Berta ihren dunkeln Strohhut ein wenig tiefer in die Stirn drücken und den Blick senken mußte. Auf den Hängen, an die die kleine Stadt sich lehnte, flimmerte es wie ein goldener Nebel, die Dächer unten glänzten, und der Fluß, der dort, außerhalb der Stadt, zwischen den Auen hervorkam, zog leuchtend ins Land. Die Luft war ganz regungslos, und die Kühle des Abends schien noch fern. (ES I, 390) [Requiem der Liebe:] An einem milden, sonnigen Septembermorgen schritt Leo Bruchfeld die weitläufige Gasse hinunter. Er erinnerte sich noch der Zeit, wo hier nur zwei Reihen unansehnlicher Häuser gestanden, durch eingeplankte schattige Gärten voneinander getrennt, was gerade diesem Teil des ehemaligen Wiener Vorortes ein sehr ländliches Aussehen verliehen hatte.53 51 Brief Saars an Schnitzler vom 19. Juni 1901. In: CUL, B88 (Hervorh. i.O.). 52 Alfred Gold: „Arthur Schnitzler: Frau Bertha Garlan“. In: Die Zeit 27, 4. Mai 1901, Nr. 344, S. 78. 53 Saar 1908 (Anm. 2), Bd. 10, S. 107.

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Zwei augenscheinlich ähnliche und doch zutiefst unterschiedliche Spaziergänge: der Nachmittagsspaziergang Berthas, die nach dem Besuch am Grab ihres Mannes mit ihrem kleinen Sohn ins Dorf zurückkehrt; der Morgenspaziergang Leo Bruchfelds in Döbling, auf dem er überraschend seiner nie vergessenen Liebe Paula wiederbegegnet. Was in Schnitzlers Roman also über fünf Kapitel hinweg vorbereitet wird, ereignet sich bei Saar unmittelbar am Beginn der Novelle. Es ist nicht bekannt, ob Schnitzler Saars Erzählung vor der Abfassung seines Romans bereits zur Kenntnis gelangt war. Ein konkreter Hinweis auf Requiem der Liebe findet sich im Tagebuch erst Jahre später, und die Frage, ob er bei der Lektüre der Geschichte Leo Bruchfelds auf der Veranda seines Hauses an jenem 27. Mai 1913 eine gewisse Ähnlichkeit zu der seiner eignen Heldin entdeckte, muss also unbeantwortet bleiben.54 Mit Saars Brief vom 19. Juni 1901 ist schließlich auch das Ende der hier unternommenen Rekonstruktion ihrer gegenseitigen Beziehung erreicht. Anzufügen bleibt noch, dass Schnitzler sich an dem 1903 von Richard Specht herausgegebenen Band zu Saars siebzigstem Geburtstag beteiligte, für den er nämlich den Abdruck des ersten Bilds der ersten Fassung von Liebelei genehmigte, das hier neben einigen impressionistischen Prosa­ skizzen von Peter Altenberg, einer Pantomime Hermann Bahrs (Der Mi­ nister), drei Gedichten des mährischen Autors Jakob Julius David, einigen kurzen Prosastücken von Theodor Herzl, Hugo von Hofmanns­thals lyrischer Szene Was die Braut geträumt hat sowie dem Einakter Schöne Seelen… von Felix Salten steht.55 Ferdinand von Saar starb am 23. Juli 1906 und wurde drei Tage später auf dem Döblinger Friedhof beigesetzt; in Schnitzlers Tagebuch wird dieses Ereignis allerdings mit keinem Wort festgehalten. Dennoch findet sich Saars Name in Schnitzlers Aufzeichnungen, neben der zuvor zitierten Notiz zur Lektüre von Requiem der Liebe, noch weitere Male: Am 24. April 1917 im Rahmen einer Diskussion Schnitzlers mit Bettelheim, Saars erstem Biographen, und dem Schriftsteller Millenkowich, seinem lebenslangen Freund, über die Unterschiede von Saars Werken zu denen Paul Heyses;56 ferner am 6. Juni 1918 anlässlich seiner Lektüre des Dramas Tempesta,57 und schließlich am 28. November desselben Jahres anlässlich des Abschlusses seiner Lektüre der ersten drei Bände von Saars Novellen, zweifellos nach der 1908 von Minor besorgten Ausgabe. Diese enthält auch die von Bettelheim eigens dafür verfasste Biographie, auf die sich 54 Tb 1913–1916, S. 41. 55 Widmungen zur Feier des siebzigsten Geburtstages Ferdinand von Saar’s. Hg. von Richard Specht. Wien 1903. 56 Tb 1917–1919, S. 38. 57 Ebd., S. 149.

„Ein wirklicher Erzähler“: Ferdinand von Saar und Arthur Schnitzler

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wiederum bereits einen Monat zuvor eine weitere Tagebuchnotiz bezieht (21. Oktober 1918).58 Der Vermerk vom 28. November ist deshalb besonders aufschlussreich, weil er endlich einmal ein Urteil über Saar enthält, dem allerdings zugleich wiederum ambige Züge anhaften: Ein wirklicher Erzähler; der Stil öfters ungepflegt oder platt;– Atmosphäre, nicht viel Kraft; keine große Persönlichkeit. Allzuoft weiß man am Schluß nicht, warum er eigentlich angefangen seine Geschichte vorzutragen.– Einige, insbesondere Frau­en, wahrhaft gestaltet.59

Dessen ungeachtet teilt er noch am 14. September 1922 beiläufig mit, Saar zu lesen („las noch Saar“),60 während die letzte Reflexion, die er Otto P. Schinnerer in einem Brief vom 25. Dezember 1929 anvertraut, zu einem eher versöhnlichen Ton zurückfindet: Zu C. F. Meyer, den Sie jetzt übersetzen, bin ich persönlich immer nur mit kühler Bewunderung gestanden und habe mich immer gewundert, daß man Meyer und Keller in deutschen Literaturgeschichten so oft im gleichen Atem nennt. Kennt man übrigens Fontane in Amerika? Oder Ferdinand v. Saar?, den österreichischen Novellisten, der auch hier allzu rasch vergessen wird und stets sehr zu Unrecht im Schatten der keineswegs größeren Ebner-Eschenbach stand. (Br II, S. 635)

58 Ebd., S. 192. 59 Ebd., S. 205. 60 Tb 1920–1922, S. 357.

II  Wissenschaftliche, politische und literarische Diskurse

Marianne Wünsch

Arthur Schnitzlers Paracelsus im Kontext zeitgenössischer Hypnose-Theorien Schnitzlers Paracelsus. Versspiel in einem Akt, im Zeitschriftenabdruck 1898, als Buch 1899, dem Jahre von Haeckels Die Welträtsel und Freuds Die Traum­ deutung, erschienen, greift ein Thema auf, das Schnitzler schon im ersten Teil des Anatol-Zyklus, Die Frage an das Schicksal (1889; Buch 1890), gestreift hatte und das jetzt im Paracelsus in seinen ideologischen Implikationen vorgeführt wird: das Thema der Hypnose. Paracelsus kann wohl als Thesenstück benannt werden, in dem zentrale anthropologische Strukturen des Œuvres von Schnitzler im Besonderen und des Literatursystems der Frühen Moderne im Allgemeinen thematisiert werden und implizit von der Anthropologie des Realismus abgegrenzt werden. Das Thema Hypnose hat im medizinischen und ideologischen Diskurs insbesondere in der Phase der Konstituierung des Literatursystems der Frühen Moderne eine erstaunliche publizistische Resonanz: Max Dessoir stellt 1888 eine Bibliographie zusammen, die schon 801 Titel zu diesem Thema zu nennen weiß;1 wenige Jahre später soll er sie um weitere 300 Titel ergänzt haben. Die ideologische Brisanz des Themas über seine eventuelle medizinische, psychologische, juristische Relevanz hinaus wird sich in der Folge nicht zuletzt in literarischen Texten zeigen, zu deren frühesten Beispielen Anatol und Paracelsus gehören. Entgegen jener falschen Kontinuität, die etwa Ellenberger 1973 zwischen Mesmers Magnetismus in der Goethezeit und dem Hypnotismus seit den 1880 Jahren behauptet,2 haben schon die Zeitgenossen, so etwa Albert Moll in Der Hypnotismus (2. Aufl. 1890) zurecht sehr deutlich die Differenz zwischen diesen beiden Klassen von Theoriebildungen betont; übrigens lässt auch Schnitzler beiläufig in Die Frage an das Schicksal seinen Helden Anatol zwischen Magnetismus und Hypnotismus unterschei­den. (DW I, 30) Das Phänomen der Hypnose scheint seine medizinische Relevanz in Frank1 Max Dessoir: Bibliographie des modernen Hypnotismus. Berlin 1888. Zitiert nach: Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Bern u.a. 1973, S. 1008. 2 Vgl. Ellenberger 1973 (Anm. 1.).

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reich erlangt zu haben, wo in Paris der seinerzeit berühmte Mediziner Jean Martin Charcot (1825–1893) Vorlesungen über Hypnose im Kontext seiner Untersuchungen zur Hysterie hält und wo in Nancy Hip­polyte Bernheim (1840–1919) in den Jahren 1884, 1886, 1911 seine Theorie der ‚Sug­ gestion‘ in Buchform publiziert.3 Für die deutsche Rezeption des Hypnotismus scheint nicht zuletzt der Schweizer Psychiater Auguste Forel eine bedeutende Rolle gespielt zu haben. In seinem Hypnotismus notiert dann Moll: Ebenso finden wir eine Reihe von Aerzten in Oesterreich auf demselben Gebiete thätig, es seien genannt v. Krafft-Ebing, Freud, Frey, Schnitzler, F. Müller.4

Freud selbst reiste ja bekanntlich in der Tat 1885/86 zu Charcot und Bernheim und publizierte 1893 Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phäno­ mene ; aus seinen anfänglichen Experimenten mit der Hypnose gehen dann die Anfänge der Psychoanalyse – die Studien über Hysterie 1895 – hervor. Schnitzler seinerseits rezensiert u.a. in den Jahren 1887 bis 1893 zehn Publi­ ka­tionen zum Hypnotismus von Charcot, Bernheim, Forel, Krafft-Ebing, Schrenck-Notzing; die Texte von Charcot und Bernheim waren von Freud übersetzt, dessen diesbezügliche Leistung Schnitzler regelmäßig hoch gelobt hat.5 Durch verbale/nonverbale Operationen des Hypnotiseurs wird eine Person in den ‚hypnotischen Zustand‘ versetzt: ein Zustand, der insofern schlafähnlich ist, als das Bewusstsein der Person zeitweilig ausgeschaltet wird, bis der Hypnotiseur sie wieder erweckt. Wie die Person durch Suggestion in diesen Zustand versetzt wird, so können ihr während dieses Zustandes durch Suggestion Vorstellungen vermittelt bzw. Handlungs­ aufträge gegeben werden. Im hypnotischen Zustand kann die Person Fragen beantworten oder Handlungen ausführen, die der Hypnotiseur verlangt. Bevor der Hypnotiseur den Befehl zum Erwachen gibt, kann er der Person befehlen zu vergessen, was ihr suggeriert worden ist und was sie gesagt oder getan hat (posthypnotische Amnesie). Besonderes Interesse fand jedoch die ‚posthypnotische Suggestion‘;6 in diesem Fall gibt der Hypno­tiseur der Versuchsperson im hypnotischen Zustand Aufträge, was sie nach dem ‚Erwachen‘, also im posthypnotischen Normalzustand, wenn 3 Hippolyte Bernheim: De la suggestion dans l’état hypnotique. Paris 1884. – Ders.: De la suggestion. Paris 1911. 4 Albert Moll: Der Hypnotismus. 2. Aufl. Berlin 1890, S. 13. 5 Die Rezensionen Schnitzlers sind abgedruckt in: Arthur Schnitzler: Medizinische Schriften. Zusammengestellt von Horst Thomé. Wien u.a. 1988, S. 82f., 90–93, 172, 210–215, 297f. 6 Bernheim beschreibt sie wie folgt: „Les considérations sur l’amnésie servent à interpréter le mécanisme des suggestions post-hypnotiques. On appelle ainsi les suggestions faites pendant le sommeil provoqué pour se réaliser seulement après le réveil.“ (Bernheim 1911 [Anm. 3], S. 96; ähnlich auch Moll 1890 [Anm. 4], S. 95ff. und 197ff.)

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sie ihr Bewusstsein und ihren Willen wieder erlangt hat, zu sagen oder zu tun habe. Hervorzuheben ist noch, dass mittels Hypnose angeblich falsche Erinnerungen der Person implantiert bzw. richtige Erinnerungen gelöscht werden können. Zwei zentrale Aspekte dieser neuen Hypnose-Theorien bleiben offenkundig umstritten. Da ist zum einen die Frage, ob alle Personen gleichermaßen hypnotisierbar seien und ob der Grad der Hypnotisierbarkeit von bestimmten psychischen oder sozialen Merkmalen der Person abhängt. Es ist zum anderen die Frage, ob und inwieweit einer Person die Ausführung verbaler oder nonverbaler Handlungen im hypnotischen bzw. post­ hypnotischen Zustand aufgetragen werden kann, wenn diese Handlungen den Werten oder den Normen des Individuums widersprechen. So wird einerseits diskutiert, ob Hypnotisierte Handlungen an sich selbst zulassen, die moralisch oder juristisch normverletzend sind wie z.B. sexueller Missbrauch der Person. Anderseits geht es darum, ob die Person durch Hypnose zu Handlun­gen veranlasst werden kann, die sie selbst oder andere physisch oder ökonomisch schädigen. Es hat demnach offenkundig eine umfängliche forensisch-juristische Diskussion gegeben, die etwa Moll 1890 und Bernheim 1911 referieren; beispielshalber genannt sei Forels Der Hypnotismus und seine strafrechtliche Bedeutung von 1888. Während einerseits die Möglichkeiten eines Einsatzes der Hypnose zu medizinisch-therapeutischen Zwecken zur Diskussion standen, haben die Annahmen der Hypnose-Theorien andererseits gravierende ideologische Implikationen. Denn zum einen legen die hypnotischen Phänomene die Existenz eines Unbewussten in der Psyche einer Person nahe, was schon Max Dessoir in Das Doppel-Ich von 1890 gefolgert zu haben scheint und was natürlich zu den konstitutiven Bedingungen der mit den Studien zur Hysterie beginnenden neuen Psychologie Freuds gehört. Korreliert ist damit wiederum zum anderen eine massive Begrenzung des seit der Aufklärung erhobenen Anspruchs auf Autonomie des Subjekts. Denn in eben dem Ausmaß, in dem angenommen wird, dass Personen hypnotisierbar seien und eventuell sogar zu Handlungen gegen ihr eigenes Werte- und Normensystem veranlasst werden können, in eben diesem Ausmaß erscheinen Personen folglich als manipulierbar und zu selbst willenlosen Instrumenten anderer degradierbar. Auffällig ist, dass unter denen, die die Hypnose-Theorien rezipiert und sich mit ihnen auseinander gesetzt haben, sich einerseits nicht wenige befinden, die zugleich als Theoretiker zur Sexualität in Erscheinung getreten sind (so etwa Krafft-Ebing, Freud, Moll), zum anderen solche, die für okkultistische Theorien anfällig waren (so z.B. du Prel und Schrenck-Notzing),7 7 Carl du Prel: Der Spiritismus. Leipzig 1893. Albert von Schrenck-Notzing: Materialisations-Phä­ nomene. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie. München 1914.

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wie auch solche, die den Okkultismus bekämpften (Dessoir).8 Dass insbesondere die Fans des Spiritismus sich auch für Hypnose interessieren, liegt auf der Hand. Wie spätestens seit dem 18. Jahrhundert versuchen sich die neuzeitlichen Okkultisten immer wieder durch illegitime Vereinnahmungen wissenschaftlich zu legitimieren.9 Im spiritistischen Modell fällt angeblich ein ‚Medium‘ in ‚Trance‘, in welchem Zustand es Kontakte zu übernatürlichen ‚Wesen‘ zu haben oder übernatürliche Wirkungen auslösen zu können behauptet.10 Der ‚Trance‘-Zustand ähnelt natürlich dem hypnotischen Zustand, wenn auch nur darin, dass die Person ihres Bewusstseins und Willens beraubt zu sein scheint. Relevanter sind Korrelationen mit dem für die Epoche so wichtigen Thema Sexualität. Sie sind potentiell schon bei Charcot angelegt, insofern bei diesem Hypnose bei Hysterie-Kranken zur Anwendung kommt und bei Charcots Demonstrationen an Patientinnen der latent sexuelle Charakter der hysterischen Anfälle öffentlich sichtbar wurde, den Freud dann in seinen Studien über Hysterie 1895 theoretisieren wird. Krafft-Ebing wird in einer der späteren Auflagen seiner Psychopathia Sexualis von 1886 als eine Form sexueller Beziehungen die ‚Hörigkeit‘ einführen, die die extreme Manipulation einer Person durch eine andere impliziert. Es wird in der Folge nicht zuletzt literarische Texte geben, in denen quasi-hypnotische Operationen der sexuellen Unterwerfung eines Lustobjektes dienen. Kommen wir nun also zu Schnitzlers Paracelsus-Drama. Im Gegensatz zu naturalistischen Dramen, auch denen aus Schnitzlers Anfangsphase selbst, wie z.B. Liebelei (1896) und Freiwild (1898), oder auch nicht-naturalistischen Dramen wie z.B. Schnitzlers Reigen (1903) oder Der einsame Weg (1904), bedient sich unser Text des Verses, des traditionellen hochrangigen 5-hebigen Jambus; auch einige wenige andere Dramen des Autors wählen die Versform.11 Nicht nur in Werken Schnitzlers, sondern auch bei anderen zeitgenössischen Dramatikern, bei denen Texte in Prosa mit solchen in Versform koexistieren, erweist sich die Wahl einer metrischen 8 Max Dessoir: Vom Jenseits der Seele. Stuttgart 1917. 9 Vgl. dazu Michael Titzmann: „Das ‚Unsichtbare‘ und die Phantasie der ‚Macht‘. Verknüpfungen von Okkultismus und Naturwissenschaft in der Frühen Moderne“. In: Sciences, sciences oc­cultes et littérature (1890–1935), Sonderheft 1 der Recherches germaniques. Hg. von Christine Maillard. Strasbourg 2002, S. 173–202. 10 Vgl. dazu Marianne Wünsch: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930), München 1991, Kap. 3.1, S. 84–95; dies.: „Okkultismus im Kontext von Thomas Manns Zauber­ berg“. In: Moderne und Gegenwart. Erzählstrukturen in Film und Literatur. Hg. von Lutz Hagestedt und Petra Porto. München 2012, S. 273–293. 11 Zur Klassifikation und Abgrenzung von naturalistischer und nicht-naturalistischer Dramatik vgl. Michael Titzmann: „Das Drama des Expressionismus im Kontext der Frühen Moderne und die Funktion dargestellter Delinquenz“. In: Verbrechen – Justiz – Medien. Hg. von Joachim Linder und Claus-Michael Ort. Tübingen 1999, S. 217–272. Siehe auch den Beitrag von Karl Zieger im vorliegenden Band.

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Form als semantisiert. Zwei Beispiele mögen ausreichen. In Hofmannsthals Der Abenteurer und die Sängerin (1909) koexistieren in ein- und demselben Text Passagen in Prosa mit solchen in Versform; in Hauptmanns Und Pippa tanzt! (1906) ist der erste naturalistische Teil in Prosa verfasst, der zweite, nicht- bzw. antinaturalistische Teil in Versform. Es kann also gefolgert werden, dass Dramen, die – ob naturalistisch oder nicht-naturalistisch – mit dezidiert mimetischen Anspruch auftreten, in der Frühen Moderne die Prosaform wählen; hingegen scheint die Versform, ob partiell oder total, zu signalisieren, dass der Text insgesamt oder der betroffene Textpassus einen Anspruch über den der mimetischen Abbildung hinaus erhebt. Das kann dann wie in Hauptmanns Pippa auf einen nicht-mimetischen Verstoß gegen den kulturellen Realitätsbegriff hinauslaufen oder wie bei Hofmannsthal (und zusätzlich auch bei Hauptmann) auf eine Hervorhebung des metrischen Teils gegenüber dem prosaischen, die einem ideologischen Dominanzanspruch der metrischen Passus äquivalent wäre. Paracelsus ist nun wie gesagt ein Thesendrama, das zentrale Komponenten der Anthropologie Schnitzlers und der Frühen Moderne einführt: Die Versform akzentuiert also den ideologischen Anspruch. Paracelsus erfüllt strikt die Einhaltung der drei aristotelischen Einheiten: Die Handlung ist situiert an einem Junitag im Hause des Waffenschmieds Cyprian in Basel zu „Beginn des 16. Jahrhunderts“ (DW I, 465). Das auftretende Personal besteht aus sechs Personen:

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Nur eine der Figuren ist historisch, d.h. hat in der extratextuellen Realität existiert: Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493–1541), der sich Paracelsus nannte. Paracelsus ist nun bekannt dafür, dass er sich als Mediziner mit innovativem Anspruch in Opposition zur tradierten, auf Exegese antiker Texte basierenden Medizin setzte, der Medizin, die im Text die Figur des Doktor Copus vertritt, der sich auf Hippokrates, Galen und deren mittelalterlichen arabischen Vermittler, Avicenna, beruft (DW I, 469). Als Handlungszeitraum ist also der intellektuelle Umbruch der Renais­sance gewählt, in der dem tradierten, sich auf Autoritäten berufenden Buchwissen innovative Theorien konfrontiert werden, die sich – wie z.B. auch der historische Paracelsus, wenn auch nicht eben zurecht – auf ‚Empirie‘ berufen. Der Wissenswandel, den im Text Paracelsus repräsentiert, bildet zugleich den Wissenswandel der Medizin im späten 19. Jahrhundert ab, in dem die neuen Theorien des Hypnotismus, also Theorien über Psychisches, sich einer Medizin konfrontiert sahen, die sich nur mit Physischem befasst hatte, was zu neuen Formen der Psychiatrie/Psychotherapie führen wird. Freilich muss, was Paracelsus anlangt, zugleich festgehalten werden, dass dieser, wie in der Frühen Moderne bekannt, vorsichtig ausgedrückt, Theorien erfand, die alles andere als ‚empirisch‘ und ‚wissenschaftlich‘ sind und zudem auch okkultistische Elemente einbeziehen. Durch dieses kulturelle Wissen, das unser Text voraussetzt, wird die Figur des Paracelsus – und mit ihr ihre ideologischen Ansprüche – notwendig von vornherein relativiert, auch wenn sie im Handlungsverlauf dank der Anwendung hypnotischer Praktiken und deren ideologischer Interpretation zunehmend dominant wird. Gegeben ist im Text zunächst der Raum der bürgerlichen Familie des erfolgreichen Waffenschmieds Cyprian, seiner Frau Justina, seiner Schwester Cäcilia. In diesen Raum ist schon in der Vorgeschichte der jugendliche Junker Anselm eingetreten, dessen Heimat das Besitztum seines Vaters ist; in diesen Raum tritt in der dargestellten Gegenwart Paracelsus ein, der laut Text in Basel aufgewachsen und ausgebildet und nach einem unsteten Wanderleben nun befristet nach Basel zurückgekehrt ist. Wie in Hofmannsthals Der Abenteurer und die Sängerin und in Schnitzlers Der einsame Weg wird hier also die Opposition ‚Sesshafte‘ versus ‚Nicht-Sesshafte‘ aufgebaut. Anselm nimmt zwischen diesen Oppositionen eine mittlere Position ein: Er hält sich zwecks musikalischer Ausbildung befristet in Basel auf, um schließlich an den Heimatort, das Gut des Vaters, zurückzukehren. Wie bei den beiden weiteren genannten Texten Schnitzlers und Hofmannsthals gilt im Paracelsus, dass ‚Sesshaftigkeit‘ korreliert ist mit konservativer, traditioneller, bürgerlicher Ideologie, die sich für selbstverständlich und ungefährdet hält. Zu ihren basalen Prämissen gehören die anthropologischen Theoreme, die für das Literatursystem des Realismus charakteristisch waren: die Annahme einer Konstanz der Person ab ihrem Erwachsenenalter, die Annahme

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einer Dominanz des bewussten Ich über alles Nichtbewusste, folglich die Annahme der selbstbeherrschten autonomen Person, die Annahme einer Invarianz der einmal im erwachsenen Alter bewusst gewählten Überzeugungen und Beziehungen, hier also vor allem die Nicht-Infragestellung der einmal eingegangenen erotischen Beziehung, der Ehe zwischen Cyprian und Justina. Zu diesen konservativen Prämissen gehört auch die Abwertung und Verachtung derer, die von diesen Werten und Normen abweichen, und das heißt in diesem und vergleichbaren Texten, der ‚Abenteurer‘ und der Gruppe der ‚Nicht-Sesshaften‘, hier also des Paracelsus. Repräsentant der bürgerlichen Ordnung ist in diesen Texten jeweils der Ehemann, während die Ehefrau gegenüber den Verlockungen des Abweichlers anfällig war bzw. ist. Paracelsus wird zunächst durch Reden über ihn im Haus des Cyprian eingeführt, wo der traditionelle Arzt, Doktor Copus, über den Auftritt des Paracelsus auf dem Marktplatz – in Gegenwart des Augenzeugen Cyprian – berichtet. Erst danach tritt Cyprian, der Paracelsus als alten Bekannten der Familie mitbringt, auf und berichtet über die „Wunderkuren“ des Paracelsus. Dieser habe nicht nur eine Gelähmte und eine Stumme geheilt, sondern zudem einen Jüngling „durch seiner Augen Macht“ (DW I, 480) in Schlaf versinken lassen und ihm suggeriert, er käme von einer weiten Reise heim, woraufhin er, wie ihm befohlen, von seinen Abenteuern erzählt habe. Daraufhin habe Paracelsus angeordnet, er solle den Inhalt dieser ‚Träume‘ nach Erwachen wieder vergessen. Gesetzt wird also, Paracelsus habe diesen Jüngling in einen hypnotischen Zustand versetzt und ihm Erlebnisse suggeriert, die dieser aus eigener Kraft zu ausführlichen Abenteuern ausspann, an deren Realität er auch nach dem Erwachen noch glauben würde, hätte ihm Paracelsus nicht die posthypnotische Amnesie befohlen: CYPRIAN Und hättet Ihr ihn nicht befreit Von diesen Träumen, die Ihr selbst ihm schuft? PARACELSUS Zeitlebens würd’ er schwören, daß es wahr. (ebd.)

Der hypnotische Akt, der hier Paracelsus zugeschrieben wird, wird nicht als solcher benannt: Dem 16. Jahrhundert im Allgemeinen, wie Paracelsus im Besonderen, ist das Phänomen ‚Hypnose‘ natürlich unbekannt. Cyprian hat zwar Paracelsus zu sich eingeladen, aber um ihn – nicht zuletzt seiner Gattin – als verachtenswerten Außenseiter und Versager vorzuführen; er beschimpft ihn u.a. als „Lumpen“, „Landstreicher“, „Hexenmeister“ (DW I, 479, 483, 475). Er provoziert ihn somit zu einer Racheaktion, mit der zugleich die zentrale ideologische Auseinandersetzung eingeleitet wird. Paracelsus erhebt den Anspruch auf die Macht, andere zu manipulieren:

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PARACELSUS […] So viel vermag ich! Wer vermag so viel? Ich kann das Schicksal sein, wenn’s mir beliebt! (DW I, 480)

Diesem Machtanspruch konfrontiert Cyprian zunächst seine konservativ­christliche Ideologie: CYPRIAN […] Das Schicksal kommt von Gott, nicht von den Zaubrern, Und was Ihr schafft, ist Wahn – doch keine Wahrheit. (ebd.)

„Wahn“ heißt ganz offenkundig Illusion – wahlweise Selbstbetrug. Aber Paracelsus führt aus, dass das jeweils Geglaubte, sei es auch „Wahn“, zum Zeitpunkt, wo es geglaubt wird, für das Subjekt von „Wahrheit“ nicht zu unterscheiden ist und dass selbst die Erinnerung täuscht. Seine epistemologische Position erläutert er am Beispiel des Traums: „daß jede Nacht / Uns zwingt hinabzusteigen in ein Fremdes“ (DW I, 481), und dieses Fremde sind die „Träume“ – am Rande sei angemerkt, dass in eben diesem Jahr Freuds Traumdeutung erscheint und dass Schnitzler selbst über Jahrzehnte ein Traumtagebuch geführt hat.12 Dem konfrontiert Cyprian seine traditionelle Position, der zufolge Nacht und Traum in Opposition zu Tag und Bewusstsein stehen und nur letztere relevant sind. Er wirft Paracelsus vor, „[d]ie Grenzen [zu] löschen zwischen Tag und Nacht“ (ebd.). Anhand des Cyprian und des Paracelsus wird hier also die Opposition zwischen Grenzziehung und Ausgrenzung im Realismus und Grenztilgung und Einbeziehung des Ausgegrenzten in der Frühen Moderne vorgeführt.13 Cyprian will alles ausschließen, was dem semantischen Raum ‚Nacht‘ zugeordnet ist, wozu, wie in der Folge Paracelsus demonstrieren wird, auch der Bereich des Unbewussten der Person gehört. Jene „Gewissheit“ und „Sicherheit“, die Cyprian sowohl von Anselm (DW I, 474) als auch von sich selbst (z.B. DW I, 481) zugeschrieben wird und die nicht zuletzt darauf basiert, dass Cyprian wie im Realismus das Konzept der Person auf deren Bewusstsein einzuschränken und damit seine eigene Autonomie und die Garantie des gesicherten Besitzes seiner Frau zu gewährleisten sucht, wird nun von Paracelsus zerstört, indem er Justina in einen hypnotischen Schlaf versetzt (DW I, 484). Er suggeriert ihr, sie habe sich tatsächlich auf einen Sexualakt mit Anselm eingelassen, der sie in der Tat begehrt und zu einem Rendezvous im Garten in der folgenden Nacht zu überreden suchte (DW I, 474), was aber Paracelsus nicht wissen kann. Der Rache12 Arthur Schnitzler: Träume. Das Traumtagebuch 1875–1931. Hg. von Peter Michael Braunwarth und Leo A. Lensing. Göttingen 2012. 13 Michael Titzmann: „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘“. In: Weltentwürfe in Literatur und Me­ dien. Hg. von Hans Krah und Claus-Michael Ort. Kiel 2002, S. 181–210.

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akt funktioniert: Nachdem Paracelsus Justina wieder erweckt hat, glaubt sie posthypnotisch den Normverstoß des Ehebruchs begangen zu haben. Sie wirft sich ihre Schuld vor – und sozusagen reuig Cyprian zu Füßen. Während dieser daran verzweifelt, Justina ihren „Wahn“ nicht ausreden zu können, kommentiert Paracelsus: PARACELSUS Ein Traum, mein Bester – was bedeutet’s weiter – Ihr wißt es besser – und Ihr seid das Leben. (DW I, 486)

Er führt damit vor, dass „Leben“ nicht im Sinne Cyprians mit ‚Tag ≈ Bewusstheit‘ äquivalent ist, sondern auch ‚Nacht ≈ Traum ≈ Wahn‘ umfasst. Der durch Hypnose suggerierte ‚Wahn‘ wird nun aber in den scheinbaren ‚Geständnissen‘ Justinas über das hinaus ausgebaut, was ihr Paracelsus suggeriert hatte. Sie scheint Umstände des Ehebruchs zu ‚erfinden‘, die Paracelsus nicht vorgegeben hatte: nämlich dass das Treffen im Gartenhaus stattgefunden habe, während der Mond schien und der Flieder duftete (DW I, 489). Da Justina nun mehr ‚gesteht‘, als Paracelsus suggeriert hat, fällt Paracelsus selbst in Zweifel: „Und wenn es d o c h die Wahrheit wäre / Die ich nur aufgerüttelt ihr im Herzen?“ (DW I, 490): PARACELSUS Wer gibt uns jemals an, Ob dies, wovon sie träumt, nicht auch erlebt ward? CYPRIAN Ihr glaubt – Justina – Er eilt zu ihr. PARACELSUS für sich Schlägt mir überm Haupt Des eignen Zaubers Schwall mit Hohn zusammen? Und wirren sich die Grenzen selbst für mich –? (ebd.)

Auftritt Anselm, der von Justina und Cyprian des Ehebruchs bezichtigt wird, den er bestreitet. Paracelsus will die Situation klären, indem er Justina nach erneuter Hypnose suggeriert, sie habe nach dem Erwachen die frühere Suggestion, die des Ehebruchs, zu vergessen: CYPRIAN Was nun? Was nützt uns alles dies, Wenn sie erwacht, und diese Stunde schwindet Aus dem Gedächtnis ihr? Was weiß ich dann? Wenn sie im Traum vielleicht die Wahrheit sprach! PARACELSUS Da schaff ’ ich Rat. – Merkt auf, Justina: Eins Gebiet’ ich euch: Seid w a h r , wenn Ihr erwacht, Wahr, wie Ihr nie gewesen – seid so wahr, Nein! w a h r e r als Ihr pflegt gen Euch zu sein […]. (DW I, 493)

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Paracelsus, der zunächst mit dem absoluten Machtanspruch aufgetreten war, ein „Schicksal“ sein zu können, und nun zunächst selbst nicht mehr weiß, was „Wahn“, was „Wahrheit“ ist, führt in seinem hypnotischen Akt sozusagen eine Metaebene ein, um diese Frage zu klären. Der Auftrag an Justina, „wahr, wie Ihr nie gewesen“ zu sein, würde noch der offiziellen Hypnose-Theorie entsprechen, denn er adressiert sich an das Bewusstsein Justinas und verlangt nur Ehrlichkeit von ihr. Er korrigiert seine Formulierung selbst: Die Forderung „Nein! W a h r e r als Ihr pflegt gen Euch zu sein“ impliziert offenkundig: dass über ihre Bewusstseinsinhalte hinaus ihr Unbewusstes bewusst werde und sich artikuliere. Hypnose wird hier zu einer invasiven Technik, die es erlaubt, in das Unbewusste eines anderen Subjektes einzudringen. Diese Aufforderung an ihr posthypnotisches Verhalten begrenzt Paracelsus dadurch, dass dieser Zwang nur bis zum Abend dauern solle. Über diese Beschränkung klagt Cyprian, woraufhin ihn Paracelsus – wie sich in der Folge zeigen wird: zu Recht – versichert: PARACELSUS Es ist genug. Ihr werdet froh sein, daß die Sonne sinkt, – Und wenn sie aller Frauen beste wäre. (DW I, 493)

Paracelsus weckt Justina auf, und diese macht an die Adresse Anselms klar, dass es tatsächlich, wenn jener noch eine Nacht geblieben wäre, zum gewünschten Sexualakt gekommen wäre. Die Umstände, die sie der ursprünglichen Suggestion des Paracelsus hinzugefügt hatte, stammen also aus ihrem Unbewussten und repräsentieren ihre Bereitschaft, in der nächsten Nacht der Versuchung zum Liebesakt mit Anselm zu erliegen. Was sie also der Suggestion durch Paracelsus hinzugefügt hat und diesen sich fragen ließ, ob dem suggerierten ‚Wahn‘ nicht überraschender Weise eine ‚Wahrheit‘ entspräche, war nichts anderes als ihre unbewusste Bereitschaft zum Sexualakt mit Anselm. Nun hatte Cyprian den Paracelsus in sein Haus eingeführt, um diesem seine eigene Überlegenheit zu demonstrieren und dabei insbesondere, dass er, im Gegensatz zu Paracelsus, die von beiden begehrte Frau, Justina, in seinen ‚Besitz‘ gebracht habe: CYPRIAN […] Vergangenes ist vergangen. Zum Gatten nahm sie m i c h , nicht Euch, und preist Alltäglich ihren Gott für diese Wahl. […] Ja – seht mich an, mein Lieber, dieser Arm, Der, wie bekannt, ein gutes Schwert zu schmieden Und, wenn’s dazukommt, auch zu schwingen weiß, Ist wohl dazu gemacht, ein Weib zu schirmen.

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Das ist es, was die Frau verlangt, und drum Gewann ich sie, und drum kann ich sie halten. Zu fürchten hab’ ich nichts…Erinnrung nicht Und keine Schwärmerei. Vom Gegenwärt’gen Umschlossen und gebändigt ist das Weib. Geöffnet ist mein Tor…ich fürchte niemand. (DW I, 477f.)

Cyprian hat also die konservative – Realismus-typische! – Position vertreten, dass mit der Eheschließung ein gesicherter und definitiver Zustand erreicht sei. In dem ‚Wahrheitszwang‘, in dem sich Justina dank der Hypnose befindet, wird Cyprian anhand des Falles Anselms bewusstgemacht, dass Justina eben kein ‚gesicherter Besitz‘ ist. Anhand dessen, was sie in diesem ‚Wahrheitszwang‘ über ihre Vergangenheit vor dreizehn Jahren, über ihre damalige Einstellung zu Paracelsus aussagt, nämlich dass sie in jener Nacht, in der Paracelsus Basel verließ, zur uneingeschränkten Hingabe an diesen bereit gewesen wäre, wenn dieser sie verlangt hätte, wird Cyprian bewusstgemacht, dass er Justina nie besessen hat. Mehr noch: JUSTINA […] Ja, Cyprian! So leicht verlorst du mich! Doch hast du’s nicht geahnt – wie’s deine Art. Du dachtest, war ich dir erst angetraut, So war dir meine Zärtlichkeit gewiss. Und doch! in mancher Nacht, hättst du gefühlt, Wie fern ich dir war – wahrlich! minder stolz Wärst du der Frau gewesen, dir im Arm! (DW I, 495)

Im Gegensatz zu statischer Konstanz und Sicherheit, wie sie, von den relativ wenigen Ehebruchsgeschichten abgesehen, die Literatur des Realismus kennt und wie sie Cyprian nach der Eheschließung zu haben glaubt, wird hier wie auch sonst im Werke Schnitzlers und unzähligen anderen Texten der Frühen Moderne früh schon vorgeführt, dass auch eheliche Beziehungen nicht statisch, sondern dynamisch sind und jederzeit in eine – der epochentypischen – Krise geraten können, weil keiner der Partner alle erotischen Wünsche des anderen voll und für immer erfüllt – exemplarisch etwa später in Schnitzlers Traumnovelle (1926) demonstriert. Und nun wünscht sich Cyprian in der Tat, dass es endlich Abend werden möge und das Ende dieser Wahrheitsphase Justinas komme. Was sie ausführt, ist für Cyprian ausgesprochen desillusionierend: Sie wählt zwar gegenüber den Versuchungen eines emphatischen Lebens14 das reduzierte Leben, das reduzierte Glück im Sinne des Realismus, aber sie thematisiert es als solches: 14   Zum Konzept des ‚emphatischen Lebens‘ vgl. Marianne Wünsch: „Das Modell der ‚Wiedergeburt‘ zu ‚neuem Leben‘ in erzählender Literatur 1890–1930“. In: Hagestedt/Porto 2012 (Anm. 10), S. 81–118.

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JUSTINA Ein friedlich Glück, Ist’s auch nicht allzu glühend, bleibt das beste. (DW I, 494)

In diesem frühen Text wird also noch einmal im Sinne des Realismus von der Frau resignativ reagiert: unter Verzicht auf das Risiko emphatischen Lebens und seines Glücksversprechens nimmt sie die bürgerliche Beschränkung in Kauf. Während nun Justinas Beziehung mit Anselm, der zwar auf der Reise, aber letztlich sesshaft ist, freilich ein Ehebruch wäre, aber nicht der soziale Ruin Justinas, sofern er nicht aufgedeckt wird, thematisiert Justina selbst, dass ihre Hingabe an Paracelsus, dem dezidiert ‚Nicht-Sesshaften‘, für sie in jedem Falle eine soziale Katastrophe gewesen wäre („Wär’ ich zu Haus in Schand und Spott verdorben“, DW I, 495). Die frühere Beziehung mit Paracelsus ist also eindeutig höherrangig als die jetzige mit Anselm, die eigentlich nur illustriert, dass es auch noch in der Gegenwart erotische Versuchungen für Justina gibt. Wenn Justina thematisiert: „Noch fühl’ ich meiner Jugend letzte Schauer“ (DW I, 494), dann heißt das, dass sie sich, wie nicht wenige andere Frauen (oder Männer) im Œuvre Schnitzlers, an der Grenze zwischen Jugend und Nicht-Jugend befindet.15 Das wiederum entwertet freilich implizit ihren resignativen Gestus der Bescheidung auf ein „friedlich Glück“, da mit der Jugend im Literatursystem das Recht auf Erotik erlischt. Wenn Justina nach der zweiten Hypnotisierung zu sich kommt, wendet sie sich zunächst an Paracelsus: JUSTINA öffnet die Augen und spricht gleich, als wäre nichts geschehen Nun sagt – wie lang noch starrt Ihr mich so an! Vergeblich! – Euer Zauber will nicht wirken. Ja! hätte Euer Blick noch so viel Kraft, Wie zu der Zeit, da Hohenheim ihr hießt – – Ich mein’ – für m i c h –– doch damit ist’s vorbei! (DW I, 493)

Da der Text impliziert, dass Justina jetzt nicht nur bewusst ehrlich ist, sondern eben sogar die Wahrheit des Unbewussten sich enthüllt, bedeutet diese Stelle also, dass für Justina keinerlei Versuchung durch Paracelsus mehr ausgeht. Nun wurde aber, wie oben zitiert, vom Text gesetzt, dass Paracelsus seine hypnotische Dominanz „durch seiner Augen Macht“ ausübt. Während also Justina zwar auf den Augenkontakt mit Paracelsus nicht mehr erotisch zu reagieren behauptet, reagiert sie darauf gleichwohl hypnotisch. Somit stellt sich die Frage, ob Paracelsus, wenn er denn wollen würde, Jus15   Vgl. dazu auch Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996, S. 83–95.

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tina auch gegen ihr Unbewusstes zur Erotik bewegen könnte: Es ist dies die Frage, die eben auch in der zeitgenössischen forensisch-juristischen Diskussion umstritten und also offen bleibt. Unser Text entzieht sich dem Problem aber schon an früherer Stelle: CYPRIAN wütend Wenn Ihr das wirklich glaubt, verruchter Mensch, Warum nicht zwingt ihr sie, mit Euch zu gehen, Da Ihr sie jetzt in Eure Macht gebannt – ? PARACELSUS Ich bin kein Räuber! Ihr versteht mich schlecht. Euch nehmen wollt’ ich sie, doch keinem geben. Rein soll sie bleiben – nur für Euch beschmutzt. (DW I, 487f.)

Da Paracelsus also von sich aus auf einen ‚Besitz‘ Justinas verzichtet, muss sich das Drama in dieser Frage nicht festlegen. Wir haben gesehen, dass der Text das, was der Realismus aus seinem Realitätskonzept ausgrenzt und erst die Frühe Moderne in dieses in­ tegriert, als ‚Nacht‘ metaphorisiert, während ‚Tag‘ den bewussten Anteil der Person und ihre Willensentscheidungen repräsentiert. Der metaphorischen ‚Nacht‘ auf der discours-Ebene entspricht auf der Ebene der histoire die reale Nacht: Wenn Justina sich Paracelsus oder Anselm hingeben würde, wäre es jeweils in der Nacht vor deren Abreise. Sowohl metaphorisch als auch real ist ‚Nacht‘ der Zeitraum der Versuchung und Gefährdung. In diesem semantischen Modell überlagert sich nun aber die posthypnotische Setzung des Paracelsus: Nur solange es noch ‚Tag‘ ist, soll Justina dem Befehl genügen, „w a h r e r als Ihr pflegt gen Euch zu sein“. Da nun diese Form der ‚Wahrheit‘ die Wünsche des Unbewussten, das der ‚Nacht‘ zu­geordnet ist, inkludiert, erzwingt Paracelsus also, dass das, was metaphorisch dem Bereich der ‚Nacht‘ angehört, im wörtlichsten Sinne ‚zutage‘ gefördert wird: Unbewusstes wird bewusstgemacht – ein quasi-therapeutischer Akt, ein quasi-psychoanalytischer Akt: Justina wird bewusstgemacht, was sie sich selbst nicht zugegeben hat, und Cyprians bürgerliche Ideologie wird des­illusioniert. Ergebnis ist unter anderem ein neues Konzept der Person, in dem das Unbewusste nicht mehr exkludiert, sondern integriert wird und in dem sowohl die Person als auch ihre Beziehungen zu dynamischen Größen werden. Die Implikationen der neuen Beziehungskonzeption, die Schnitzler später, etwa in der Traumnovelle (1926), noch radikaler anhand des Falkenir in der Komödie der Verführung (1924), demonstrieren wird, sind hier vorerst nur angedeutet, wenn Paracelsus zu Cyprian über Justina sagt: „Zu Gast ist sie bei Euch – so gut wie ich“ (DW I, 487). Denn das bedeutet ja, dass jeder Zustand einer Beziehung, selbst der der Ehe, ein nur vorläufiger ist, auf den sich keine(r) der Beteiligten verlassen kann. Am Ende der letzten Szene wird noch ein ideologisches Résumé gezogen. Paracelsus führt

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aus, dass alles, was Menschen tun, nur ‚Spiel‘ ist; und das heißt, dass das menschliche Leben den Charakter des Uneigentlichen, des quasi-therapeutischen Rollenspiels hat. Zitieren wir ihn noch einmal: PARACELSUS […] Mit Menschenseelen spiele ich. Ein Sinn Wird nur von dem gefunden, der ihn sucht. Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von andern, nichts von uns: Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug. (DW I, 498)

Für sich beansprucht er also eine durchaus problematische Manipulatorenrolle gegenüber anderen („mit Menschenseelen spiele ich“); es ist evident, dass er dabei sowohl ‚Gutes‘ als auch ‚Böses‘ ausrichten kann. Gesetzt wird von ihm die Tilgung traditioneller Grenzen: der von ‚Traum und Wachen‘, der von ‚Wahrheit und Lüge‘. Was er hier thematisiert, ist somit zugleich, dass der Realitätsbegriff, der im – zumal dem späten – Realismus latent in einer Krise war, sich nun in einer manifesten Krise befindet: Es gibt keinen verlässlichen Konsens mehr, was ‚Wahrheit‘, was ‚Wirklichkeit‘ ist. ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘ sind hier wie in der Folge generell im Œuvre Schnitzlers Größen, die in sozialen Interaktionen ausgehandelt werden müssen, deren Ergebnis bestenfalls ein vorläufig-temporärer Konsens ist. „Sicherheit ist nirgends“, da man weder die Psyche der anderen noch die eigene kennt, wenn sie nicht in Ausnahmesituationen durch extreme Operationen, wie sie die zweite Hypnose hier darstellt, zumindest befristet und vorläufig aufgedeckt wird. Die Schlusssentenz des Paracelsus läuft darauf hinaus, dass nur eine grundsätzliche Skepsis gegenüber sich selbst und den anderen vor Illusionen bewahren, wenn auch nicht ‚Wahrheit‘ garantieren kann. Das letzte Schlusswort nach dem Abgang des Paracelsus hat dann Cyprian. Er hat dazugelernt: Seine ideologische Sicherheit, inklusive der Sicherheit seine Frau zu ‚besitzen‘, ist aufgebrochen. In seiner Wahrnehmung ist eine Grenze geöffnet, aber auch wieder geschlossen worden: CYPRIAN […] Ein Sturmwind kam, der hat auf Augenblicke Die Tore unserer Seelen aufgerissen, Wir haben einen Blick hineingetan… Es ist vorbei, die Tore fallen zu. – (ebd.)

Im Gegensatz zu späteren Figuren im Werke Schnitzlers scheint Cyprian anzunehmen, dass die Grenztilgung ein einmaliges Ereignis war, nach dem die alte Ordnung auf neuer höherer Ebene, nämlich nach dem Bewusstsein der Desillusionierung seiner früheren Einstellung, letztlich doch wieder restauriert ist. Paracelsus hatte in seinem Schlusswort gesetzt, „Ein Sinn /

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Wird nur von dem gefunden, der ihn sucht.“ Cyprians Schlusswort ist: „Es war ein Spiel, doch fand ich seinen Sinn; / Und weiß, dass ich auf rechtem Wege bin“ (ebd.). Evident ist, dass ein ‚Sinn‘ in der Logik dieses Textes nichts Gegebenes ist, sondern etwas zu Suchendes. Offen bleibt, ob es einen solchen ‚Sinn‘ objektiver Natur gibt, oder ob ‚Sinn‘ immer nur eine subjektive Setzung ist; Cyprian meint zu wissen, er habe einen solchen quasi-wahren ‚Sinn‘ gefunden – doch dass er glaubt, die psychische Öffnung gegenüber dem Unbewussten sei nur eine – und nunmehr abgeschlossene – Episode gewesen, scheint diese seine Überzeugung infrage zu stellen. Schnitzler funktionalisiert in seinem Text das epochal relevante Thema der Hypnose als Instrument, dessen er sich bedient, um eine neue komplexe Anthropologie und einen neuen Realitätsbegriff thesenhaft einzuführen.

Andrew J. Webber

Namens- oder Familienähnlichkeiten: Fallgeschichte und Falldrama bei Schnitzler und Freud Es gehört zum Wesen des Doppelgängers, dass er – denn meistens ist diese Figur männlich – ständig wiederkehrt, als Revenant oder mehr oder weniger unheimlicher Gast. Und so kann ich, als Verfasser eines Buchs zum Doppelgänger in der deutschen Literatur,1 nicht umhin, hier eine Version der ständig wiederkehrenden und nicht selten von der Kritik in Frage gestellten Freud-Schnitzler-Doppelgängergeschichte anzubieten. Ich hoffe nur, dass diese Version nicht allzu bekannt wirken wird. Eins der Ziele meines damaligen Buchs war es, ein allgemeineres Doppelgängerverhältnis zwischen Psychoanalyse und Literatur zu erörtern (bzw. ein Dreiecksverhältnis mit den visuellen und audiovisuellen Medien – in der Zeit der klassischen Moderne nicht zuletzt mit dem neuen Medium Film). Grundlegend für dieses Doppelgängerverhältnis ist eine gewisse Spannung zwischen tradierten Normen der Darstellung und Innovationen, die diese Normen ins Schwanken bringen, nicht zuletzt in Form von Überschreitungen der Grenzen zwischen den vermeintlichen Doppelgängern. Heute möchte ich das Doppelgängerverhältnis ‚Psychoanalyse – Literatur der Moderne‘ aus einer neuen Perspektive beleuchten. Hierbei wird es sich strenggenommen nicht immer um Doppelgängertum handeln, sondern auch um subtilere Affinitäten und Spiegelungen, die aber trotzdem mit der für das Doppelgängerverhältnis charakteristischen Unheimlichkeit behaftet sind. Dabei wird Schnitzler als exemplarischer Fall für die Spannung zwischen Norm und Innovation in der Literatur der klassischen Moderne angesehen, wobei sein zunächst vielleicht etwas konventionell anmutendes Stück Das weite Land (1911) als besonders bezeichnender Fall eben dieser Spannung und in diesem Sinne als eine Art Doppelgängerdrama erörtert werden kann.2 1 Andrew J. Webber: The Doppelgänger. Double Visions in German Literature. Oxford 1996. 2 Dass Das weite Land zur psychoanalytischen Deutung einlädt, zeigte sich schon zwei Jahre nach der Uraufführung des Stücks im Aufsatz von Carl Furtmüller: „Schnitzler’s Tragikomödie Das weite Land. Ein Versuch psychologischer Literaturbetrachtung“. In: Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie. Monatsblatt für Seelenkunde 4, 1913, S. 28–40. Furtmüller bezeichnet Schnitzler als „Dichter der Libido“ (S. 31), kommt allerdings unter Heranziehung

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Ich beginne bei Freud und der Fallstudie, in der er sich vielleicht am intimsten mit den Strukturen der Literatur und ihrer Verwandtschaft zu den Techniken der Psychoanalyse befasst – nämlich der 1908 verfassten Studie Der Wahn und die Träume in Wilhelm Jensens ‚Gradiva‘. Mit dieser Analyse der Novelle von Jensen habe ich mich bereits im Rahmen eines anderen Aufsatzes auseinandergesetzt, der in einem Sammelband zu den Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Literatur erschienen ist.3 Ziel jenes Aufsatzes war es, die Disposition der Fallstudie als psychoanalytisches Paradigma und dabei auch den Charakter des Doppelgängerverhältnisses zwischen Fallgeschichte und Novelle zu erörtern. Die Basis hierfür war Freuds bekannte Aussage bzw. sein Bekenntnis, dass ihm aufgefallen sei, „daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind“.4 Das Zitat ist auch in der englischsprachigen Kritik weit verbreitet, allerdings leider mit der unzureichenden Übersetzung von ‚Novellen‘ als ‚short stories‘. Die Eigentümlichkeiten des Novellengenres, und nicht zuletzt seine Lage zwischen Gesetzmäßigkeit und Verletzung von Konventionen durch das Einspielen des Unerhörten oder Sensationellen, sind hier nämlich sehr wichtig. Diese ambivalente Konstitution spiegelt sich auch in Freuds Aussage. Es wird dabei nicht ganz klar, ob dieses „zu lesen sind“ einen Sachverhalt der Abweichung vom Normativen einfach konstatiert (Krankengeschichten sollten nach der Regel nicht wie Novellen zu lesen sein, aber bei den meinigen ist dies freilich der Fall), oder vielmehr als performative Anordnung – als Regel jenseits der normativen Gesetze – zu verstehen ist. Es stellt sich also die Frage, ob nicht nur der Verfasser der Krankengeschichten einer Versuchung, diese wie Novellen zu lesen, zu unterliegen tendiert, sondern Leser überhaupt sie so zu lesen haben. Sicher ist, dass man als Leser der Fallstudien und der darin verfassten Krankengeschichten immer auch als eine Art Novellenleser, im klassischen Fall als Rahmennovellenleser, vorgehen muss. Mein Aufsatz zu Gradiva galt der Spannung, die der Fallstudie zugrunde liegt, nicht nur bei Freud, aber dort vielleicht in paradigmatischer Form, und zwar die zwischen den Forderungen des einzelnen Falls – des Singulären – und der Beschaffenheit des Allgemeinen oder Universalen. Ein Grundzug der Novelle ist es, einen singulären Fall, der die Grenzen des allgemein Angenommenen zu überschreiten droht, darzustellen, und dabei auf dem der Theorie des männlichen Protestes von Alfred Adler zur Schlußfolgerung, dass die Libido hier als Maske funktioniert: „So zeigt uns auch Schnitzler’s Drama ein doppeltes Gesicht: Auf dem Grunde einer Komödie der Libido erhebt sich die Tragödie des männlichen Protestes.“ (S. 40). 3 Andrew J. Webber: „The Case Study“. In: A Concise Companion to Psychoanalysis, Literature and Culture. Hg. von Laura Marcus und Ankhi Mukherjee. Oxford 2014, S. 34–48. 4 Sigmund Freud: „Fräulein Elisabeth v. R…“. In: S.F. und Josef Breuer: Studien zur Hysterie. In: S.F.: Gesammelte Werke. Bd. 1. Hg. von Anna Freud et al. Frankfurt a.M. 1999, S. 196–251, hier S. 227.

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exemplarischen oder normativen Charakter der vermeintlichen Randerscheinung zu bestehen, die sich – so August Wilhelm Schlegel – als „Geschichte außer der Geschichte“ ereignet. Laut Schlegel erzählt die Novelle „folglich merkwürdige Begebenheiten, die gleichsam hinter dem Rücken der bürgerlichen Verfassungen und Anordnungen vorgefallen sind“.5 Und hierin liegt wohl primär der gemeinsame Zug, der Novelle und Fallstudie mit einem gewissen generischen Doppelgängertum – einer Art inwendiger Identität trotz offenkundiger kontextueller Unterschiede – prägt. Für Freud, in seinem Aufsatz Massenpsychologie und Ich-Analyse, dreht sich die Struktur der Identifizierung um den sogenannten „einzigen Zug“,6 einen vielleicht etwas unscheinbaren kleinen Aspekt seines Systems, der aber in der post-Freudschen psychoanalytisch geprägten Theorie – vor allem bei Lacan und Derrida – zu einem grundsätzlichen Datum geworden ist. Im Falle des Doppelgängerverhältnisses wird der angeblich einzige oder par­tielle Zug, der zum Träger der Identifizierung wird, verdoppelt, bzw. geteilt, als Stigma oder Schibboleth einer unheimlichen Doppelidentität. So kann Freud beim Betrachten seiner Fallgeschichten gleichsam immer nur auch die Züge, die Physiognomie, von Novellen sehen, und erstere nach den Konventionen letzterer lesen. Charakteristisch für das Doppelgänger­ verhältnis ist auch die Tendenz, dass die ursprüngliche Doppelung sich weiter verdoppelt und somit das Subjekt dem Zwang von seriellen Identifizierungen mit dem Anderen preisgibt. Im Falle von Gradiva muss Freud gleichzeitig als literarischer und als psychoanalytischer Leser vorgehen und dabei nicht nur im Autor, Jensen, eine Art Doppelgänger erkennen, sondern auch in seinem von Wahn befallenen und dann im Laufe der Novelle mehr oder weniger befreiten Protagonisten. So ist es kaum verwunderlich, dass Freuds Arbeit an dieser novellistischen Fallstudie auch unheimliche Züge trägt: Züge, die nicht einzig bleiben und den Leser somit zu einer verunsichernden Art Doppelidentifizierung zwingen. Dieser für die psychoanalytische Vorgehensweise durchaus typische doppelbödige Moment wird in Gestalt eines kleinen unheimlichen Dramas in die Gradiva-Fallstudie eingefädelt. Es handelt sich um ein Doppel­gänger-, oder vielmehr Doppelgängerinnendrama mit der charakte­ristischen Struktur des Wiederholungszwangs. Dass eine solche dramatische Szene auch Teil der Fallstudie werden kann, liegt wohl nahe, bedenkt man, dass Theodor Storm die Novelle als „die Schwester des Dramas“7 bezeichnet hat, 5 August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Bd. 3. Hg. von Jacob Minor. Heilbronn 1884, S. 248. 6 Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: Freud 1999 (Anm. 4), Bd. 13, S. 71–161, hier S. 117. 7 Theodor Storm: „Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881“. In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Hg. von Albert Köster. Leipzig 1920, S. 122f.

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und dass diese Gattungsverschwisterung durchaus auch auf das Doppelgängerverhältnis zwischen Fallgeschichte und Novelle bezogen werden kann. Konstitutiv für dieses Verhältnis ist nämlich auch eine gemeinsame Verwandtschaft zum dramatischen Charakter des Falls. Performativ muss Freuds Rahmenstudie zur Novelle Jensens wie die Rahmenerzählung einer Novelle gelesen werden, und damit auch eine Art schwesterliche Ähnlichkeit zum Drama aufweisen. Um kurz noch bei Storm als Verfasser von proto-psychoanalytischen Novellen zu bleiben, könnte man dessen Befürwortung der „symptomatische[n] Behandlung“ als Technik des Novelle­ schreibens in Betracht ziehen; und zwischen diesem Vorgehen ohne „Psychologisierung vor den Augen des Lesers“ und den wesentlich auf Sprech- und Körper­akten reduzierten darstellerischen Methoden des Dramas besteht tatsächlich eine Wahlverwandtschaft.8 Für Schnitzler, der im Gegensatz zu Storm bekanntlich zwischen den verschwisterten Gattungsformen Drama und Erzählung hin und her schwenkt und dessen Dramen und narrative Fiktionen auch in einzelnen Fällen genetisch fusioniert sind oder voneinander geklont werden, ist diese vielleicht nicht immer ganz geheure Verwandtschaft der Genres besonders naheliegend. Denn für Schnitzler gilt auch die von Musil aufgestellte Bezeichnung der Novelle als „Symptomhandlung eines Menschen“,9 also als psycho-performatives Genre. Hierbei könnten wir auch an zwei Stellen bei Freud denken: Erstens, im Bruchstück einer Hysterie-Analyse, auch Dora genannt. (Ein Merkmal der Fallstudie ist es ja, dass sie mit ihrem Protagonisten oder ihrer Protagonistin identifiziert wird, seine oder ihre charakteristischen Züge trägt.)10 Bei seiner familiär Dora genannten Fallstudie bzw. psychoanalytischen Novelle also bezieht sich Freud in einer Fußnote auf Schnitzlers frühen Einakter Paracelsus (1898) als Dramatisierung einer der Behandlung wider­ strebenden Analysandin.11 Die dramatisch organisierte ,Fallgeschichte‘ von Fräulein Else, die vielleicht eher als Schwesterfigur von Dora identifiziert werden könnte und die mit ihrer Symptomhandlung ohne ärzt­ liche, geschweige denn psychoanalytische Fürsorge auskommen muss, gibt es nämlich 1905 – zur Zeit der Veröffentlichung des Falls Dora – noch 8 Brief vom 15. November 1882. In: Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausg. Bd. 3. Hg. von Clifford A. Bernd. Berlin 1974, S. 36f., hier S. 37. 9 Vgl. Ernst Kaiser und Eithne Wilkins: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk. Stuttgart 1962, S. 322. 10 Freud bezeichnet die symptomatisch geprägte „Leidensgeschichte“ von Psychosen als ihre Biographie, als ob sie eine an der Person des Leidenden angelehnte zweite Identität wäre. Vgl. Freud 1999 (Anm. 4), Bd. 1, S. 227. 11 „Ein Dichter, der allerdings auch Arzt ist, Arthur Schnitzler, hat dieser Erkenntnis in seinem ‚Paracelsus‘ sehr richtigen Ausdruck gegeben.“ Sigmund Freud: Bruchstück einer Hysterie-Ana­ lyse. In: Freud 1999 (Anm. 4), Bd. 5, S. 161–286, hier S. 203.

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nicht.12 Zweitens beschreibt Freud in der Traumdeutung die dialektisch – zwischen schrittweiser Steigerung und kunstvoller Verzögerung – veranlagte dramaturgische Struktur von Sophokles’ Ödipus Rex als der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar.13 Somit wird auch eine Verwandtschaft von Falldrama – sei dies nun das kleine häusliche Drama Schnitzlers oder das große klassische ödipale Urdrama – und Fallgeschichte erkannt: und zwar einerseits als Fallgeschichte im engeren Sinne (das novellistische Drama einer psychischen Störung oder Symptomhandlung) und andererseits als Darstellung eines Behandlungsvorgangs mit schrittweise gesteigerten und strategisch herausgezögerten Offenbarungen. Was hat es also für eine Bewandtnis mit dem Freudschen Dramolett, das in seine Behandlung der nach einer klassischen Doppelgängerin oder Revenante benannten Fallstudie nach der gleichnamigen dramatischen Novelle Jensens eingebettet wird? Wird der Protagonist, Norbert Hanold, von der unheimlichen Erscheinung einer doppelten Figur heimgesucht und verstört, so wird es auch Freud selber im kleinen nacherzählten Drama aus seinem Behandlungszimmer. Es handelt sich um eine Verwechslungsszene und damit um eine Abwandlung der klassischen Doppelgängerszene als Krise der Agnorisis und der darauf basierenden Ontologie.14 Diese Szene, die wohl auch als möglicher ,Falke‘ oder symbolischer Drehpunkt einer psychoanalytischen Novelle dienen könnte, weist auch eine charakteristisch unheimliche Identifikation von Krankengeschichte und -studie, Binnenerzählung und analytischem Rahmen auf. Anders gesagt, entsteht hier eine unheimliche Doppelgängerbeziehung zwischen der Symptomhandlung des Protagonisten (also des literarischen Analysanden) und der Symptombehandlung des Analytikers. Freud erzählt die Anekdote von einem Arzt, der eine gewisse Verantwortung für eine an den Folgen der Basedowschen Krankheit gestorbene Patientin empfand, dann aber mehrere Jahre später von derselben in seinem Behandlungszimmer aufgesucht bzw. heimgesucht wurde (G 99).15 Es hat sich jedoch in der Folge herausgestellt, dass die zweite Patientin, die angebliche Wiedergängerin, eigentlich die Schwester der ersten war, deren Gesichtszüge auf ähnliche Weise von derselben Krankheit entstellt waren. Darauf wendet sich aber die dramatische Erzählung auf theatralische Weise, als Freud bekennt, dass der auf diese Art heimgesuchte Arzt niemand anders als er selbst war. Die Anfälligkeit des aufgeklärten Arztes dafür, Gespenster in der Ordination zu sehen, wird 12 Zu den Parallelen zwischen Fräulein Else und Dora vgl. Andrew Webber: „Psychoanalysis, Homosexuality and Modernism“. In: The Cambridge Companion to Gay and Lesbian Writing. Hg. von Hugh Stevens. Cambridge 2011, S. 34–49, hier S. 44f. 13 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Freud 1999 (Anm. 4), Bd. 2/3, S. 26. 14 Vgl. Webber 1996 (Anm. 1), S. 7 und passim. 15 G = Sigmund Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘. In: Freud 1999 (Anm. 4), Bd. 7, S. 29–122.

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durch die Verschiebung seines Erlebnisses auf eine dritte Person verneint („Ich weiß von einem Arzt …“), um dann doch durch ein nachträgliches Erkennen des anderen als sich selbst korrigiert zu werden. In dieser Szene identifiziert sich der zwiegespaltene Analytiker auch in vermittelter Form mit der unheimlich wiederholten Erfahrung des Geistersehers Hanold. Hierbei wird auch die von der Basedowschen Krankheit „Befallene[ ]“ zu einem Gegenpart des Analytikers, und die sonst unschuldige Wendung „in diesem Falle“ (G 99) scheint auch eine Art Doppelgängerfunktion zu haben. Der Analytiker selbst entpuppt sich als das von einem Wahn befallene Subjekt eines Falldramas, das auch die Angst vor einem beruflichen Sturz mit sich trägt. So sieht sich der Analytiker als Doppelgänger nicht nur im Verfasser des Fantasiestücks, sondern auch in der Person seines fantasierenden Prot­ago­ nisten, eine Identifizierung also mit dem Analysanden und seinen Projektio­ nen, die der klassischen psychoanalytischen Dynamik der Gegenübertragung entspricht. Und somit wird die zweideutige Doppelgängerbeziehung zwischen Novelle und Krankengeschichte auch zur Basis einer unheimlichen Erscheinung im analytischen Rahmen der Fallstudie – unheimlich nämlich, weil das Drama der Wiedergängerin im Ordinations­zimmer sich um eine missratene Anagnorisis dreht, hinter der auch eine Fehldiagnose steckt. So hat der Analytiker an den Symptomen des Protagonisten, Hanold, teil. Dieser hatte auch im Gegenzug – wie Freud bald darauf bemerkt – das junge Liebespaar, das er in Pompeji sah, als Geschwister „diagnos­tiziert“ (G 100), sprich fehldiagnostiziert. Dieses Sich-doppelt-Sehen im literarischen Text impliziert eine Frage zur diagnostischen Zuverlässigkeit der vor allem auf die überdeterminierte Sprache der Träume zurückgreifenden psychoanalytischen Lesart. Freud organisiert nämlich seine Lektüre nach dem Entstellungsprinzip als charakteristischem Zug der Traumarbeit. Hierbei geht es ihm nicht zuletzt um spielerische Zweideutigkeiten von Wörtern mit der Wurzel ,Fall‘: ‚Zufall‘, ‚Anfall‘, ‚Einfall‘.16 Es handelt sich um ein wortspielerisches System der seriellen Verdoppelungen, das mit dem ,Fall‘ von Hanold zusammenzuhängen scheint. Da Freud diesen Fall nur aus zweiter Hand behandeln kann, muss er seine eigenen ‚Einfälle‘ anstatt derer des fiktiven Analysanden einsetzen (G 101), und läuft dabei sozusagen Gefahr, selber ‚reinzufallen‘. Und diese Gefahr ist es wohl, die hinter dem Verkennen der Züge im Basedowschen Drama steckt. Der ‚einzige Zug‘ wird verdoppelt und somit die Identifizierung – diagnostisch und ontologisch – unsicher. Am Ende sei16 Diese Spiele mit dem ,Fall‘ Hanolds werden explizit von der Gradivafigur, Zoë Bertgang, in ihrer quasi-analytischen Rolle gehandhabt. Vgl. Sigmund Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘ mit dem Text der Erzählung von Wilhelm Jensen. Hg. von Bernd Urban und Johannes Cremerius. Frankfurt a.M. 1973, S. 74f.

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ner Analyse wird diese Unsicherheit, die dem Wahn von Hanold in seinem Umgang mit der Doppelfigur Gradiva zum Verwechseln ähnlich sieht, von Freud anerkannt. In dieser Fallstudie, als – so Rand und Torok – „Spiegel der Literatur“,17 gibt es laut Freud „zwei Fälle“ (G 120). Entweder sei seine Lesart zuverlässig, oder aber in ihrer Fixierung auf den „charakteristischen Zug“ (G 114) der Traumarbeit suspekt. Und diese unsichere Identifizierung wird auch zur epistemologischen und ontologischen Herausforderung für den Leser, der in Anbetracht der zwei Fälle im psychoanalytischen Spiegel „selbst mit sich einig“ werden müsse (G 120). Dieses etwas unheimliche kleine Fallstudiendrama ließe sich auch auf verschiedene literarische Fallgeschichten Schnitzlers, also des vermeintlichen Freud-Doppelgängers, beziehen. Man denke etwa an die Szene im pathologisch-anatomischen Institut in der Traumnovelle und die Unfähigkeit des Arztes, die Gesichtszüge der Leiche zuverlässig zu erkennen – eine Szene, die die diagnostische Instanz des Arztes aufs Unheimlichste aushöhlt. Hier soll aber stattdessen ein Falldrama in Betracht gezogen werden, und zwar die im Erscheinungsjahr von Freuds Gradiva-Studie begonnene und drei Jahre darauf uraufgeführte Tragikomödie Das weite Land. Den Anlass hierzu könnte eine Bemerkung von Konstanze Fliedl geben. In ihrer Studie Arthur Schnitzler. Poetik der Erinnerung weist Fliedl auf eine eigenartige Stelle in Das weite Land hin: Im Gespräch mit seiner Frau berichtet Friedrich Hofreiter, dass er im Daily Telegraph von den jüngsten Ausgrabungen in Kreta gelesen habe (DwL 26).18 Für Fliedl kann diese scheinbar unmotivierte Stelle als Anspielung auf die für das anamnestische Projekt der Freudschen Psychoanalyse so wesentliche Analogie zur Archäologie, und damit auf „die Geistesverwandtschaft mit Freud, das vielzitierte ‚Doppel­ gängertum‘ verstanden werden.19 Wenn nicht mit Pompeji, beschäftigt sich Das weite Land doch mit dem Begrabenen, und wie bei Jensens Gradiva scheint das Begrabene (bzw. der/die Begrabene) auf symptomatische Weise umzugehen. Ist die Seele nach der programmatischen Aussage des Stücks ein „weites Land“, so ist sie auch ein vielfach geschichtetes, labiles und totlebendiges. Die Friedhofsszene, die, ohne direkt dargestellt zu werden, dem Anfang des Stücks innewohnt, impliziert auch ein solches Terrain: Stätte nicht nur der Begrabung von Toten, sondern auch des Versinkens von Lebenden.20 Als zweiter Anlass zu diesem Aufsatz muss jetzt eine zweite professionelle Verwechslung gebeichtet werden. Es wird wohl manchen Leserinnen 17 Nicholas Rand und Maria Torok: Questions for Freud. The Secret History of Psychoanalysis. Cambridge MA u.a 1997, S. 49. 18 DwL = Arthur Schnitzler: Das weite Land. Hg. von Reinhard Urbach. Stuttgart 2002. 19 Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler. Poetik der Erinnerung. Wien 1997, S. 453. 20 „Auf dem Friedhof ist man geradezu versunken.“ (Frau Wahl, DwL 11).

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und Lesern von Das weite Land aufgefallen sein, dass die Leiche, die nicht in den dramatis personae vorkommt, und dennoch durch das Drama geistert, den Namen einer Krankheit trägt. Man fragt sich selbstverständlich, ob dieser Name vom ärztlichen Dichter unwissentlich gewählt worden sein kann. Ich weiß aber von einem etwas psychoanalytisch veranlagten Literaturwissenschaftler, der diesen Namen mit einem anderen verwechselt hat, nämlich mit dem besagten Basedow im Falldramolett von Freud – wobei der gemeinsame Zug freilich ziemlich oberflächlich ist. Und dieser Literaturwissenschaftler war – wie leicht zu eruieren sein mag – niemand anders als ich selbst. Die Verwechslung war um so durchschaubarer, als sie nur von einem einzigen Zug der schriftlichen Form der zwei Namen herrührte (auch wenn Basedow oft fälschlicherweise als ,Basedoff‘ ausgesprochen wird). Diese eponymischen Krankheiten müssten eben so unverwechselbar sein wie ihre Namen und Namensgeber. Basedow bezeichnet eine Krankheit der Schilddrüse, die auch eine entstellende Wirkung auf die Gesichtszüge der davon Betroffenen hat, genannt nach Karl Adolph von Basedow (1799–1854); und Korsakow (auch Korsakoff) ein mit dem Alkolholismus assoziiertes Syndrom, das vor allem durch Amnesie, Konfabulieren und Apathie – Mangel an Affekt und Kommunikationsbereitschaft – symptomatisch in Erscheinung tritt, benannt nach dem russischen Arzt Sergei Korsakow, der im Sterbejahr Basedows auf die Welt kam und 1900 starb.21 Die amnesische Verwechslung – vielleicht ein wahnhaftes Nebenprodukt der Beschäftigung mit der bekannten Doppelgängerbeziehung zwischen Schnitzler und Freud – war zwar flüchtig, führte aber zu weiteren Gedanken über Namens- und Familienähnlichkeiten und so auch zu diesem hoffentlich nicht allzu konfabulierten Aufsatz. Nun soll also der Frage nachgegangen werden, inwieweit man Korsakow als symptomatisches Gebilde für Das weite Land ansehen darf ? Lässt sich das Stück als soziopathisches Falldrama verstehen, und der gestorbene russische Pianist als Namensgeber einer Störung, die – wie sein Name – postum und gleichsam als corpus delicti durch das Stück geistert?22 Wenn ja, dann würde man die phantomartigen Symptome dieser Störung wohl in sich wiederholenden – wenn auch von diagnostischer Ungewissheit geprägten – Zügen erkennen können. 21 Die Fehlfunktionen des Erinnerns und die Tendenz zur Konfabulation sind das Hauptanliegen von Alfred Döblin in seiner Dissertation Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psy­ chose (1905). Ob Schnitzler von dieser Arbeit wusste, muss dahingestellt bleiben. 22 Der tote Klavierspieler hieß in den im Sommer 1908 entstandenen Entwürfen zunächst Eichenbaum (CUL, Mappe A 96,4), dann Wintermann, bzw. Winterstein (Mappe A 95,1). Schnitzler hat sich also erst später im Entstehungsprozess für den Namen Korsakow entschieden. In der früheren Skizze war Eichenbaum offenbar als Ostjude ,aus Tarnopol‘ konzipiert, wobei auch auf die ostjüdische Abstammung Hofreiters (in der Skizze heißt er noch Welsberg) angespielt wird.

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Wäre es also angebracht, den Namen des verstorbenen Pianisten Korsakow mit dem der Krankheit – und somit gewissermaßen Alexei mit Sergei zu identifizieren? Das Stück scheint in der Art, wie es mit Namen umgeht, die Lizenz hierzu anzubieten. Hier spielt Schnitzler nämlich auf charakteristische Weise mit den Namen seiner Personen. So entlehnt er den markanten Namen Demeter Stanzides dem aus derselben Quelle entstammenden Roman Der Weg ins Freie und setzt somit transgenerische Doppelgänger in die Welt. Er markiert auch den etwas listigen und giftigen Bankier mit dem sprechenden Namen Natter (was zu bewussten Anspielungen aufs ‚Natternpaar‘ führt), oder die von der Qual der Suche nach einem heiratsfähigen Mann für ihre Tochter affizierte Mutter mit dem Namen Wahl. Von besonderem Interesse ist aber die Benennung eines Dolomitengipfels nach dem ehemaligen Spitzentouristen Dr. Aigner. Der Aignerturm, als Symbol auch der erotischen Eroberung und Ort eines dramatischen Falls – in jeder Bedeutung des Worts, spielt nämlich eine metonymische Rolle im Stück. Er ist ein paradigmatischer ,Fallort‘ in der seelischen Landschaft vom ‚weiten Lande‘. Insofern hat die Benennung des Gipfels womöglich auch eine homophone Wirkung: Er steht nämlich danach als Symbol der männlichen Aneignung,23 aber auch ihrer Prekarität. Was hat es also mit dem Aignerturm, diesem sowohl topophil als auch topophob besetzten Landschaftselement, für eine Bewandtnis? Ich zitiere hierzu Dr. Mauer, den Arzt des Stückes, und denjenigen also, der vielleicht am ehesten auf die Namensgleichheit vom verstorbenen Pianisten Korsakow und dem von der Amnesie charakterisierten und nach einem toten Arzt benannten Syndrom kommen würde: „Der Aignerturm … man hat wirklich schon vergessen, daß der nach einem lebendigen Menschen so heißt.“ (DwL 16).24 Das „man hat wirklich schon vergessen“ von Dr. Mauer ist eine Art unwissentlicher Diagnose der in diesem Stück immer wieder auftretenden, gewollten oder ungewollten Vergesslichkeit. Erinnern und Vergessen beruhen auf der Fähigkeit, Menschen und Erlebnisse zu identifizieren, sprich differenzieren – in diesem Fall („nach einem lebendigen Menschen“) auch auf der Differenzierung von Leben und Tod. In diesem Stück, wie bei Schnitzler überhaupt, treten aber Amnesie und Anamnese – genau wie Tod und Leben – oft gleichsam als Doppelgänger auf und widerstehen damit der kritischen Fähigkeit der Differenzierung. So ist, laut 23 Dr. Aigner wird als ,Aneigner‘ – Kolonisator und Frauensammler – dargestellt. 24 Die Vergessenheit um den Namen des Gipfels könnte als gemeinsamer, intertextueller Zug mit Ibsens Hedda Gabler gelten. In einem zweideutigen Dreiecksgespräch mit ihrem Mann und Lovborg vergisst Hedda nämlich den Namen eines seltsamen Gipfelzugs (bzw. spielt ein solches Vergessen), den sie auf der Hochzeitsreise besucht hat und der sich dann als die Dolomiten entpuppt. Dies folgt direkt auf Lovborgs Versuch, sie noch mit ihrem Mädchennamen zu nennen, so dass Akte der Benennung von Personen und Bergen erotisch besetzt werden.

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Genia Hofreiter, das Erinnern an seinem Anfang mit dem Vergessen zum Verwechseln ähnlich (DwL 104). Diese unheimliche Verwandtschaft zwischen Vergessen und Erinnern dehnt sich auch auf die sich verdoppelnden Beziehungen zwischen Personen und anthropomorpher Szenographie aus, nicht zuletzt weil im Falle des Aignerturms ein Element der Landschaft mit dem Namen nicht nur eines menschlichen Baus, sondern mit dem einer Persönlichkeit behaftet wird, um an diese (Aigner also) und ihre Errungenschaft zu erinnern. So ist der Aignerturm gleichzeitig ein exemplarischer Ort des Vergessens und des Erinnerns: Der tödliche Unfall, der dort stattgefunden hat, bleibt „begreiflicherweise im Gedächtnis“ (DwL 16) von Aigners Sohn, da sein Vater dem Berg, genau so wie ihm selbst, seinen Namen gegeben hat. So konstatiert, mit ihren wie üblich treffend gewählten Worten, Erna Wahl: „Das muß doch eigentlich ein sonderbares Gefühl für Sie sein, Herr Fähnrich, daß da in den Dolomiten ein Felsen steht, mit dem Sie gewissermaßen verwandt sind.“ (ebd.) Die halbbrüderliche Verwandtschaft mit einem Steingebilde – und außerdem auch einer Stätte des Todes – kann für das menschliche Subjekt nur unheimlich sein. Hierin steckt auch eine Wahlverwandtschaft zwischen Das weite Land und der Fallgeschichte um die zweideutig zwischen Mensch und Stein, Erinnerung und Vergessen, Leben und Tod sich bewegende Gradiva. In beiden Fällen wird das menschliche Sein archäologisch-architektonisch mit dem toten Stein gleichgemacht, um dann ein unheimliches Nachleben zwischen Erinnerung und Vergessen zu führen. Und diese Verwechslung dreht sich in den zwei Texten um das Zusammenspiel von Namen und anderen bezeichnenden Wörtern, körperlichen Merkmalen und szenographischen Zügen. Für Freud weist Jensens Novelle nicht zuletzt in ihren körperlichen Aspekten die Art von sprachlichen Entstellungen und Kodierungen auf, die den Traum charakterisieren, und Ähnliches könnte man von den Zügen von Schnitzlers Stück behaupten. Das weite Land ist ein Stück, das sich auch mit Fragen der Physiognomie befasst, die ja, wie die Arbeit von Marie Kolkenbrock beweist, auch sonst ein wichtiges Anliegen für Schnitzler ist.25 Hier gehen Namensähnlichkeiten in einer komplexen Interaktion mit körperlichen Spiegelungen (unter anderem auch physiognomischen Familienähnlichkeiten) einher. Das Physiognomische im breitesten Sinne – typische Merkmale des Aussehens, aber auch des Benehmens (eigentlich also pathognomische Züge) – spielt in den Regieanweisungen und Dialogen eine zentrale Rolle. Pathognomie und Physiognomie fallen auch an gewissen Stellen durch die Erstarrung der Figuren zusammen, als ob das Stück von einer Art rigor mortis angefallen wäre, so etwa, als die lachende Miene von Hofreiter in seiner Begegnung mit 25 Marie Kolkenbrock: Stereotype and Destiny. Arthur Schnitzler’s Narrative Fiction. New York u.a. 2018 (in Vorb.).

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Frau Meinhold im fünften Akt „wie eine Maske wirkt “ (DwL 133). Gegenpart zur (Toten)Maske Hofreiters ist die immer wieder sich einstellende Starre seiner Frau, die er mit einer „Bildsäule“ (DwL 31) vergleicht und somit in die Nähe von Jensens Gradiva rückt. Diese Erstarrung oder Ver­steinerung steht in einer paradoxen Beziehung zur Lesbarkeit der Physio­ gnomie: Wird die Bewegung der Züge neutralisiert und gefangen, so wird auch die Selbstähnlichkeit der Figuren in Frage gestellt (kurz bevor Hofreiter seine Frau als Bildsäule anprangert, hinterfragt er die Zuverlässigkeit ihrer Erscheinung: „das sieht dir nicht einmal ähnlich“, ebd.). Der wiederholt auftretende Diskurs der Ähnlichkeit führt auch wiederholt ins Zweideutige und Widersprüchliche. Mit Hinblick auf die klassische Instanz der Anagnorisis – die Narbe des Odysseus – wäre in der Welt Schnitzlers der Schmiss wohl der para­ digmatische Fall des für die Identifizierung wesentlichen ‚einzigen Zuges‘.26 Im Falle von Das weite Land ist es interessanterweise eine Person, die für ein Duell mit Hofreiter sicherlich ihre Gründe hätte, sich aber nicht mit ihm schlägt, sondern als Wundarzt beistehen muss, Dr. Mauer also, der diesen ‚einzigen Zug‘ aufweist. Die Beschreibung der „Narbe von einem Säbelhieb auf der Stirne“ markiert bei Mauers erstem Auftritt bezeichnenderweise eine Szene der verstörten Anagnorisis. Hier wird Mauer auch im übertragenen Sinne Sekundant, eine Art Doppelgänger also, seines Freundes Hofreiter: Genia hört den Wagen ihres Mannes und nimmt an, dass er aus der Stadt zurückgekehrt ist, und so steckt hinter ihrem überraschten Erkennen des Arztes – „Sie sind’s, Doktor?“ (DwL 15) – eine für das Stück mit seinen Netzwerken von wiederholter Ersetzung symptomatische Verkennung. Die Zuschauer kennen Hofreiter noch nicht und so ist Mauer im Augenblick seines Erscheinens Hofreiter. Das Verwandtsein und die damit verbundenen Familienähnlichkeiten dehnen sich in Das weite Land nicht nur auf Menschen – etwa auf die zahlreichen Halbbrüder des jungen Fähnrichs, die sein Vater Dr. Aigner angeblich in jedem Tiroler Dorf gezeugt hat – sondern auch, wie schon konstatiert wurde, toponymisch auf Berge (der mit dem Fähnrich verwandte Aignerturm als priapisches Monument des väterlichen Namensgebers, aber auch Erinnerungsort von Fällen und männlichem Versagen). Und vielleicht dehnt es sich auch eponymisch auf Syndrome aus. So würde der Name Korsakow eine Familienähnlichkeit mit der Krankheit markieren, und etwa in Form von Amnesie symptomatisch nach dem Tod des Pia­nisten auftreten. Die Züge der abwesenden Leiche würden somit gleichsam als Symptome einer Verwandtschaft auch unter den verschiedene Familiennamen tragenden Personen des Dramas erscheinen. Und das Sprechen des Namens Korsakow, 26 Zur Narbe als oft ambivalentes Zeichen der Identität vgl. Webber 1996 (Anm. 1), S. 77 und pas­sim.

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bzw. das Sprechen in seinem Namen (so beim Vorlesen des Briefes), funktioniert als eine Art Prosopopoeia für diese tote Figur ohne eigene Sprechrolle. Von dem vielleicht auch mit einem sprechenden Namen ausgestatteten Dr. Mauer,27 der – so Reinhard Urbach – auch eine therapeutisch-analytische Rolle innehat,28 und der sich eines „diagnostischen Blick[es]“ rühmt (DwL 18), würde man vielleicht auch eine architektonisch stabile Position außerhalb der symptomatischen Störung erwarten. Aber eine solche Souveränität als diagnostische Instanz genießt er ebensowenig wie etwa seine Berufsgenossen Fridolin in der Traumnovelle oder Paul in Fräulein Else. Dieser Mauer ist nicht nur eine Figur von Festigkeit oder Schutz, nicht nur eine Folie für die schlüpfrigen Symptomhandlungen des Stücks, sondern selber davon angefallen. Sein erstes Auftreten als ‚Hofreiter‘ wäre also nicht unschuldig. Auch wenn er dem das Drama durchziehenden Konfabulieren widersteht, so ist er – wie schon erörtert – für die nicht minder präsenten Symptome der Amnesie, aber auch der Apathie und der Kommunikationsunfähigkeit, durchaus anfällig. So muss diese architektonische Figur auch in das Falldrama eingebaut werden – Mauern spielen hier wohl nicht zufällig eine wichtige szenographische Rolle.29 Mauer steht in einer zentralen – wenn auch von der Bühne abwesenden – Szene des Falldramas am Aignerturm. Hofreiter, dem er als Freund dient und der für seine Freunde so fatal zu sein scheint, kehrt an die Szene einer traumatisch verdrängten Erinnerung zurück, nützt sie für einen Kuss mit der von Dr. Mauer geliebten Erna Wahl aus und tötet dabei als Wiederholungstäter wenn nicht seinen Freund, so doch zumindest ihre Freundschaft. War Mauer am Anfang des Stücks als Hofreiter erschienen, so wird er im Gegenzug von diesem ersetzt. An dieser Stelle, an der sein früherer Freund Bernhaupt – auch wohlgemerkt ein Arzt – in den Tod gefallen war, bringt Hofreiter auch seinen Freund Mauer zu Fall (Frau Wahl fürchtet tatsächlich, dass er tödlich herabgestürzt sei, DwL 97).30 Wie schon angedeutet, spielt das Wort ,Fall‘ hier eine Doppelrolle, die auch seiner mehrdeutigen Funktion in Freuds Gradiva–Fallstudie ent27 Im Monolog Frieberg, einer Vorstufe zum Stück, wird der Arzt in der von starkem Regen begleiteten Eröffnungsszene Regenhart genannt, und der Protagonist geht „immer um die Mauer“ (DwL 166). So kann der Name Dr. Mauer als daraus hergeleitete Kompromissbildung verstanden werden. 28 Reinhard Urbach: „Nachwort“ (DwL 177). So konstatiert etwa Mauer, dass Genia Hofreiter sich ihrer Gedanken zum Tode Korsakows nicht bewusst ist (DwL 45). 29 So erscheint die Friedhofsmauer als Kulisse in der ersten Szene (und kehrt als Erinnerung von Frau Wahl im 2. Akt wieder), und die Mauer des Hauses als Rahmen für die betont statische visuelle Begegnung von Genia Hofreiter und Erna Wahl am Ende des 4. Aktes, während Mauer der Szene isoliert beiwohnt („steht allein“, DwL 125). 30 Diese Szene wird also zur Verwirklichung der (implizit tödlichen) Gefahr, die Hofreiter seinem Freund Mauer einredet, nämlich dass er als Gast in seinem Haus vom unerlösten Gespenst des letzten Hausgastes – des toten Korsakow also – heimgesucht werden könnte.

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spricht: Fall nämlich als Casus, aber auch als Lapsus. So kann der „Unglücksfall vor sieben Jahren auf dem Aignerturm“ (DwL 70) eigentlich nur in diesem Sinne doppeldeutig aufgefasst werden; und vielleicht auch die Beschreibung der Wasserfälle – „Fälle, die von den Bergen herabstürzen“ (DwL 91f.) – als Anspielung auf das Gebirge in seiner Eigenschaft, sowohl als Szene von Absturzunfällen als auch als psychisch verstörte Landschaft von ,Fällen‘ zu fungieren. Herr von Aigner möchte zwar für Dr. Mauer „nie mein Fall“ (DwL 23) gewesen sein, aber die Konstruktion Mauer fällt am Aignerturm und wird dabei in den Fall Hofreiter fatal verwickelt. Die Doppelrolle Lapsus-Casus schließt auch andere ein. Der Fall als Lapsus kann sowohl physisch als auch psychisch oder ethisch-sozial verstanden werden. Dass der Fall als Lapsus auch eine psychoanalytische Lesart suggeriert, scheint die Botschaft des kleinen grotesken Zwischenspiels zu sein, als der im Foyer des Hotels schlafende Tourist plötzlich erwacht und, wohl vom Traum eines Sturzes im Gebirge traumatisiert, pantomimisch von der Szene verschwindet: „erhebt sich, schreit auf, heult geradezu und stürzt über die ganze Bühne, endlich hinaus.“ (DwL 96) Dieses melodramatisch performative Stürzen über die ganze Bühne kann als ein weiteres Symptom des das Drama durchziehenden Fall-Syndroms verstanden werden. Der Fall als Casus ist nicht minder mehrdeutig. Dieses Stück mit seinen vielen Todesfällen, mit seinen zweideutigen Erschießungen und Szenen von Verdacht und Beobachtung (so etwa das nächtliche Schlüpfen des Fähnrichs aus dem Schlafzimmerfenster von Genia Hofreiter), ist auch ein Falldrama im kriminologischen Sinne.31 Nicht umsonst gibt es wiederholte Anspielungen auf Mord und auch Serienmord (DwL 25, 73). Der ,Fall‘ als Sturz, vom Berg oder aus dem Fenster, schwebt immer zwischen Unfall und wissentlichem Akt – sei es Mord oder Selbstmord. Daher rührt auch die frühere Beschreibung des symptomatischen Körpers des unter unklaren Umständen gestorbenen Korsakow als corpus delicti. Freud kommt zwar nicht in Schnitzlers Stück vor, aber vielleicht kann der abwesende ,Doppelgänger‘ indirekt in den Zügen eines anderen Autors, der tatsächlich hier auftritt, erkannt werden. Dass der raffinierte Rufmörder Herr Natter zufällig einen neuen Sherlock Holmes liest (DwL 50), könnte auch auf eine zweite Ordnung der Verwandtschaft hinweisen: Conan Doyle und Freud als Verfasser von mit merkwürdigen Fällen erfüllten Casebooks. Als gemeinsamer Nenner würde etwa das methodologische System von Morelli dienen, das auf beide Einfluss hatte. Giovanni Morelli (1816–1891), als Arzt ausgebildet, aber vor allem für sein kunsttheoretisches Werk un31 Dieser kriminologische Aspekt wurde etwa in der neuesten Aufführung des Stücks am Wiener Burgtheater (R.: Alvis Hermanis, Premiere 24.9.2011) hervorgehoben, indem das Drama als erotisches und kriminelles Melodram in die stilisierten Konventionen des film noir eingekleidet wurde.

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ter dem anagrammatischen Pseudonym Ivan Lermollief bekannt, hat eine Methode der Identifizierung von Kunstwerken anhand von einzigen für ihren Schöpfer charakteristischen Zügen entwickelt: eine Methode, die sich auch auf die von Symptomen bzw. bedeutsamen Einzelheiten geleitete Methodik der Psychoanalyse bzw. der Kriminologie beziehen lässt.32 Das scheinbar nebensächliche Auftauchen von Sherlock Holmes mag eben eine solche Einzelheit sein, ein Indiz, das ein zweideutiges intertextuelles Licht auf die (Un)Fälle des Dramas wirft. Nach diesem zwischen Psychoanalyse und Kriminologie angesiedelten Muster wäre Fragen von Erkenntnis und Identifizierung, von Taten oder Krankheiten, Tätern oder Krankheitsursachen, in Form von einzigen, charakteristischen Zügen in Das weite Land nachzuspüren. Und in den hier nur ansatzweise erörterten Namens- und Familienähnlichkeiten dieses Falldramas sieht man vielleicht die Möglichkeiten einer solchen Morellischen Technik. In seiner psychoanalytischen Form kann diese Technik einerseits als hermeneutisches Werkzeug angesehen werden, anhand dessen die Feststellung von Identitäten vorgenommen werden kann. So geht Freud etwa in Der Mann Moses als Detektiv vor, indem er „Fällen von Textent­ stellungen“ nachspürt,33 um auf die Wahrheit von Akten und Identitäten zu kommen.34 Andererseits kann diese Technik jedoch zu Verdopplungen und Verkennungen führen (so wie in der von Freud gebeichteten Szene der zwei identisch entstellten Schwestern). Das Problem der richtigen Inter­ pretation solcher Merkmale ist vielleicht der wesentlichste gemeinsame Zug der vermeint­lichen Doppelgänger Schnitzler und Freud. Und wenn Freud von der Angst der wiederholten Verkennung heimgesucht wird, so kann man auch in den seriellen Effekten, sowohl innerhalb des Schnitzlerschen Dramas als auch zwischen verschiedenen Werken geisternd, Symptome einer ähnlichen Angst vor Verdoppelung und Verwechslung sehen. Im Fall Gradiva wird diese Angst auch in Fragen des Originellen und der Reproduktion (nicht nur von klassischen Figuren) wider­gespiegelt. Für Schnitzler, der – nicht zuletzt in seinem Reigen – für seine Analyse der Serialität in den menschlichen Beziehungen und der diese Serialität ver32 Vgl. Carlo Ginzburg: „Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes“. In: Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce. Hg. von Umberto Eco und Thomas A. Sebeok. München 1985, S. 125–179. Durch Freud angeregt, nimmt Theodor Reik auch die Morellische Methode als Modell einer psychoanalytischen Lesart im Vorwort zu seiner Studie Arthur Schnitzler als Psycholog. Minden 1913, S. iv-vi. Reik diagnostiziert eine verdrängte homosexuelle Bindung als einen solchen charakterischen Zug in den Werken Schnitzlers und nicht zuletzt in Das weite Land (S. 123–126). 33 Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Freud 1999 (Anm. 4), Bd. 16, S. 101–246, hier S. 144. 34 Vgl. Andrew Webber: „Traumatic Identities. Annette von Droste-Hülshoff and Freud“. In: Harmony in Discord. German Women Writers in the Eighteenth and Nineteenth Centuries. Hg. von Laura Martin. Oxford u.a. 2001, S. 185–205.

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schleiernden Illu­sionen bekannt ist, kann die auktoriale Wiederholung auf der Meta­ebene allzu leicht von einem die Identität untermauernden Merkmal zu einem Symptom der Selbstverdoppelung – der fehlenden Originalität – werden. Die Angst vor dieser Ansteckung des Textes durch die seriellen psycho­sozialen Störungen der Figuren, ihrer Pathognomie, mag wohl auch hinter einer Tagebuchnotiz vom 19. Februar 1909 stecken: „Fand plötzlich allzu heftige Ähnlichkeiten mit dem ,Zwischenspiel‘, was mich verstimmte.“35 Für den Arzt und raisonneur, faute de mieux, unseres Stücks ist die Triebfeder des vermutlichen Selbstmords von Korsakow seine Kunst: Ich bitt dich, ein Künstler! Die sind alle mehr oder weniger anormal. Schon daß sie sich so wichtig nehmen. Der Ehrgeiz an und für sich ist ja eine Geistesstörung. Dieses Spekulieren auf die Unsterblichkeit! Und die reproduzierenden Künstler, die haben’s gar schlecht. Sie mögen noch so groß sein wie sie wollen, es bleibt doch nichts übrig als der Name und nichts von dem, was sie geleistet haben. Ich glaub’ schon, daß einen das verrückt machen kann. (DwL 25).

Der Name von Korsakow bleibt tatsächlich in dem Stück übrig, als resistentes Zeichen eines Syndroms, das nicht nur diesen – weniger unsterblichen als untoten – Künstler affiziert. Ob der Stückesschreiber Schnitzler auch Angst vor diesem Syndrom und seinen Symptomen der Vergesslichkeit, der Apathie, and des seriellen Konfabulierens haben muss, bleibt eine zum Teil offene Frage. Eine weitere Frage wäre, ob er nach der Diagnose Mauers als (sich) reproduzierender Künstler angesehen werden könnte. Sind die psycho-sozialen Strukturen der Wiederholung mit Ersetzung, die für die Handlung von Werken wie Das weite Land prägend sind, auch für die drama­tische und erzählerische Arbeit von Schnitzler und ihren Anspruch auf Originalität bestimmend? Diese Frage würde sich einerseits auf den Charakter seiner Werke als Schlüsselfiktionen oder -dramen beziehen,36 anderer­seits auf das serielle Wesen seiner Charaktere und ihrer Situationen, das, weil es die Physiognomie seiner Gesellschaft reproduziert, auch von ihren Zwangswiederholungen beherrscht wird. Um die psychoanalytisch anmutende Wendung von Hofreiter aufzugreifen, wäre die Figur des Doppelgängers also doch emblematisch für die psychische „Ökonomie“ (DwL 28) der Namens-, Familien- und anderen Ähnlichkeiten, die Das weite Land, wie das Werk Schnitzlers überhaupt, durchdringen? Um noch einmal auf Freuds Schlusswort zu sprechen zu kommen, gibt es im Falle der hier vorgeführten Analyse wohl zwei Fälle: 35 Tb 1909–1912, S. 50. 36 Dass Das weite Land auch als Schlüsseldrama aufgefasst werden kann, ist hinreichend belegt. Um mit dem Portier zu sprechen, der für Rosenstock Modell stand, „photographierte“ Schnitzler die Menschen im Hotel mit seinen Notizen „besser als jeder Photograph.“ (DwL 165).

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Entweder wir haben ein rechtes Zerrbild der Interpretation geliefert, indem wir in ein harmloses Kunstwerk Tendenzen verlegt haben, von denen dessen Schöpfer keine Ahnung hatte, und haben damit wieder einmal bewiesen, wie leicht es ist, das zu finden, was man sucht, und wovon man selbst erfüllt ist, eine Möglichkeit, für die in der Literaturgeschichte die seltsamsten Beispiele verzeichnet sind. Mag nun jeder Leser selbst mit sich einig werden, ob er sich dieser Aufklärung anzuschließen vermag. (G 120)

Interessant hierbei ist, dass Freuds erster Satz seine Doppelstruktur nicht erfüllt – dass also kein „oder …“ auf „Entweder …“ folgt. Für einen rhetorisch sehr geschulten Schriftsteller wie Freud ist dieser Lapsus besonders frappierend. Der Leser muss stattdessen auf die Beschreibung des zweiten Falls warten – sprich auf die „Regeln und Absichten“ (ebd.), von denen der Dichter nicht unbedingt weiß und die trotzdem eine konstitutive Rolle spielen: die literaturkritische Auffassung also, die von Freud empfohlen wird. Dass die physiologische und pathologische Störung, als die Schnitzler seinen Schaffensprozeß beschreibt,37 auch eine Art Korsakow-Syndrom mit den dazugehörenden Symptomen enthalten könnte, muss wohl eine Spekulation bleiben. Es läßt sich schwer schätzen, inwieweit die hier angedeuteten symptomatischen Züge des Falldramas als bewußt, unbewußt – oder, um die von Schnitzler bevorzugten Kategorien anzuwenden – halb- oder mittelbewußt einzustufen sind.38 Wir müssen eben selbst mit uns darüber einig werden, ob wir Das weite Land in den Zügen der hier vorgeführten etwas spielerischen Lesart wiedererkennen. Oder, und dies wäre meine eigene Position, bleibt der kritische Akt der Anagnorisis zwischen den zwei Fällen hängen – wird die Literatur also im Spiegel der Psychoanalyse erkennbar, aber nicht ganz?

37 Arthur Schnitzler: „Bestimmungen über meinen schriftlichen Nachlass (Wien, 16. August 1918)“. In: Der Nachlaß Arthur Schnitzlers. Hg. von Jutta Müller und Gerhard Neumann. München 1969, S. 36. 38 Vgl. Arthur Schnitzler: „Über Psychoanalyse“ (1926). In: Psychoanalyse in der literarischen Moder­ ne. Eine Dokumentation. Bd. 1. Hg. von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann. Marburg 2006, S. 181–183, hier S. 181.

Marie Kolkenbrock

Wirkung und Scheitern der symbolischen Funktion in Arthur Schnitzlers Flucht in die Finsternis Schnitzlers 1931 erschienene „Wahnsinnsnovelle“,1 wie er sie provisorisch in seinem Tagebuch nannte, begleitet den Sektionsrat Robert durch eine Art Übergangszustand von noch relativer geistiger Gesundheit in einen Zustand vollständigen Realitätsverlustes, der ihn schließlich zum Mörder seines Bruders werden und in den eigenen Tod gehen lässt. „Die Auf­zeichnungen, die man in seiner Reisetasche fand, wurden dem Gericht übergeben und auszugsweise veröffentlicht. Der Fall in all seiner Düsterkeit lag so klar wie möglich: Verfolgungswahn, wer konnte daran zweifeln?“2 So fasst der Erzähler die Ereignisse aus Flucht in die Finsternis zusammen und verspricht damit offenbar einen repräsentativen Charakter des Dargestellten im Sinne einer Fallgeschichte. Da wir wohl generell von einem literarischen Text erwarten, dass er über eine individuelle Krankengeschichte hinausgeht, ist dies allein noch nicht weiter bemerkenswert. Auch Marianne Wünsch bemerkt im Zusammenhang mit ihrer Untersuchung der Erzählung: „Unser Text muss also mehr erzählen als eine bloße Krankengeschichte: aber was?“3 Was ich im Folgenden versuchen werde zu zeigen, ist, dass sich in Schnitzlers Novelle eine Verschaltung von psychischer Krise und dem drohenden Verlust der symbolischen Funktion, also des gesicherten legitimen sozialen Status, feststellen lässt. Der Grenzzustand zwischen Gesundheit und Krankheit, in dem sich der Protagonist im Großteil der Handlung befindet, ermöglicht es dabei, diesem Zusammenhang nachzugehen.4 Es 1 Tb 1913–1916, S. 88 (Notiz vom 31. Dezember 1913). 2 Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis. Hg. von Barbara Neymeyr. Stuttgart 2006, S. 114. Seitenangaben in Parenthese im laufenden Text beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe; wenn nicht anders vermerkt, stammen alle Hervorhebungen von der Verf. 3 Marianne Wünsch: „Logische Argumentation und erkenntnistheoretische Probleme am Beispiel von Ar­thur​ Schnitz­lers Flucht in die Finsternis “. In: Littérature et théorie de la connaissance 1890–1935. Literatur und Erkenntnistheorie 1890–1935. Études réunies par Christine Maillard. Strasbourg 2004, S. 302–317, hier S. 302. 4 Zur Funktion des Übergangszustandes siehe vor allem Horst Thomés ausführliche Untersuchung des psychiatrischen Wissens in der Erzählung: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tü-

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soll jedoch nicht nahegelegt werden, dass sich der hier dargestellte psychische Konflikt auf die reine Außenwirkung eines krankmachenden Umfelds zurückführen lässt.5 Es geht mir vielmehr um die enge Verzahnung der Krankheitssymptomatik mit einem legitimen und abgesicherten Subjektstatus in der Gesellschaft und damit verknüpften internalisierten sozialen Rollenerwartungen. Eric Santner, der sich in seiner Studie My Own Private Germany mit Daniel Paul Schrebers prominentem Fall von Geisteskrankheit auseinandersetzt, beschreibt die symbolische Funktion als die Riten und Prozesse, die Individuen in einer Gesellschaft einen legitimen Status verleihen und damit das Funktio­nieren des sozialen und politischen Systems gewährleisten, das diese Riten und Prozesse erst hervorgebracht hat.6 Dies ist etwa bei dem performativen Prozess, in dem einem Individuum ein bestimmtes Amt und der dazugehörige Titel zugesprochen werden, in exemplarischer Weise der Fall. Umgekehrt, wenn einem Individuum diese symbolische Funktion beispiels­weise durch eine pathologisierende Diagnose aberkannt wird, gefährdet dieser Verlust der symbolischen Funktion auch seinen Subjektstatus in der Gemeinschaft. Ich möchte nun zeigen, welch eine prominente, wenn auch nicht sofort ins Auge springende Rolle die symbolische Funktion des Subjekts im Zusammenhang mit dem pathologischen Zustand auch in Flucht in die Finsternis einnimmt. Tatsächlich wird diese Verbindung bereits in den ersten zwei Sätzen hergestellt: Es klopfte; der Sektionsrat erwachte, und auf sein unwillkürliches „Herein“ erschien ohne weiteres der Kellner mit dem regelmäßig für acht Uhr bestellten Frühstück in

bingen 1993, S. 694–722, besonders S. 704. Thomé betont, dass durch den Übergangszustand die individuelle Verantwortung des Protagonisten nicht von vornherein außer Frage steht und damit eine ethische Bewertung des Erzählten möglich bleibt. Vgl. auch die Beiträge von Kenneth Segar und Harald Schmidt: Segar sieht in dem Grenzzustand darüber hinaus die Möglichkeit, eine empathische Reaktion beim Leser hervorzurufen, was bei der Beschreibung einer fortgeschrittenen psychotischen Konstitution unmöglich sei. Schmidt erkennt in der poetischen Beschreibung des Grenzfalls die Zurückweisung eines Grenzverwischungsverfahrens der Psychoanalyse, die das Hochpathologische unzulässigerweise in die Grenzen der Normalität zurückführe. Vgl. Kenneth Segar: „The Death of Reason: Narrative Strategy and Resonance in Schnitzler’s Flucht in die Finsternis“. In: Oxford German Studies 17, 1988, H. 17, S. 97–117, hier S. 101, und Harald Schmidt: „Grenzfall und Grenzverlust. Die poetische Konstruktion des Wahns in Arthur Schnitzlers Flucht in die Finsternis“. In: Literatur als Geschichte des Ich. Hg. von Eduard Beutner und Ulrike Tanzer. Würzburg 2000, S. 185–204, hier S. 189 und 194. 5 Diese These vertritt Heide Tarnoswsi-Seidel, die den krankmachenden Aspekt vor allem im familiären Umfeld Roberts, insbesondere in der Beziehung zu seinem Bruder Otto, verortet: Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis. Eine produktionsästhetische Untersuchung. München 1983, passim, besonders S. 124. 6 Vgl. Eric Santner: My Own Private Germany. Princeton, New Jersey 1996, S. 145.

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der Tür. Roberts erster Gedanke war, daß er gestern abend nun doch wieder vergessen hätte, die Tür zu versperren […]. (5)

Der Protagonist wird also zunächst mit seiner beruflichen Bezeichnung, als „Sektionsrat“, eingeführt. Im zweiten Satz nennt ihn der Erzähler jedoch ohne Überleitung beim Vornamen, Robert, und verweist so nicht nur auf die Privatperson hinter der offiziellen Berufsbezeichnung, sondern stellt außerdem eine intimere Ebene zwischen der Leserin/dem Leser und dem Protagonisten her. Gleichzeitig entsteht auf diese Weise ein Moment der Verwirrung, in dem nicht unmittelbar klar ist, dass sich beide Bezeich­ nungen auf dieselbe Person beziehen. Auf diese Weise wird also die Identität von Individuum und seiner symbolischen Funktion gleich zu Beginn der Erzählung infrage gestellt. Dieser Anfang in medias res, der in unheimlicher Weise Kafkas Process und auch Die Verwandlung anklingen lässt, beschreibt eine leicht peinliche Situation, in der Robert weniger in seiner offiziellen Rolle als Sektionsrat erscheint, sondern vielmehr unangenehmerweise in einem privaten Moment – dem des unmittelbaren Erwachens – gewissermaßen ‚erwischt‘ wird. Wie wir außerdem im weiteren Verlauf der Erzählung erfahren, befindet Robert sich gerade infolge einer Krankschreibung zur Kur in Italien, und ist damit im Moment ganz offiziell von den Pflichten seiner symbolischen Funktion befreit. Der unmittelbare Wechsel von offizieller Berufsbezeichnung zum Vornamen kann so als Korrektur verstanden werden, durch die die Fehl­bezeichnung im ersten Satz erst als solche wahrnehmbar wird. Der Text führt also performativ eine Amtsenthebung durch, indem der Berufstitel durch den Vornamen ersetzt wird. Damit adressiert der Text gleich zu Beginn zentrale Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Subjekt und symbolischer Funktion: Was geschieht, wenn das Subjekt seiner symbolischen Funktion – und damit seines sozialen Status enthoben wird? Und was ist überhaupt dieses sogenannte ‚private‘ Selbst, das nach einer Amts­ enthebung übrig bleibt? Der Vorname des Protagonisten wird dann sogleich mit dem instabilen Geisteszustand, der sich zum zentralen Thema der Novelle entwickeln wird, in Verbindung gesetzt: Sein wörtlich „erster Gedanke“ gilt seinem erneuten „Zeichen der Zerstreutheit“, das sich, wie wir im Folgenden feststellen müssen, bereits als Symptom für seine kritische psychische Konstitution erweist. Auf diese Weise werden Entzug der symbolischen Funktion und Symptom als miteinander verschaltet dargestellt, weshalb es sich lohnt, die zunächst als simpel erscheinende kausale Verbindung von Krankheit und Dienstbefreiung genauer zu untersuchen. Tatsächlich stellt sich heraus, dass Roberts symbolische Funktion bereits geschwächt war, bevor es ihm sein nervöser Zustand unmöglich machte, seine Arbeit im Ministerium weiter auszuführen. Roberts Freund und Arzt Doktor Leinbach beispielsweise

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betont wiederholt Roberts privilegierte Position, die es ihm erlaube, einfach für längere Zeit sich auf einen Kuraufenthalt zu begeben, während es „[a]ndererseits […] viele Leute [gibt], denen einfach nur die Zeit mangelt, verrückt zu werden“ (20). Dies ist natürlich kein Kompliment, sondern eine Beleidigung. Es impliziert nicht nur, dass Roberts Leiden an sich kaum ernst zu nehmen, sondern auch, dass seine Arbeit im Ministerium verzichtbar ist. Und auch Robert selbst denkt ganz ähnlich über seine eigene Tätigkeit. So bemüht er sich beispielsweise bei einem Versuch, seine später immer stärker werdenden Zwangsgedanken in den Griff zu bekommen, „an etwas Gleichgültiges zu denken. Er versuchte, sich den Inhalt seiner letzten Arbeit […] ins Gedächtnis zu rufen […]“ (31). Auf der anderen Seite beginnt ihm die Routine seines Arbeitsalltags immer wieder zu fehlen: Robert verspürte Heimweh nach seinem Kanzleiraum, nach dem großen Schreibtisch, dem bequemen, schwarzledernen Lehnsessel, den hohen Regalen mit den Aktenfaszikeln, den gelblichen Wänden mit den Landkarten und Tabellen, er sehnte sich nach einem Wirkungskreis, wo es ihm beschieden wäre wahrhaft Nützliches zu leisten und die Anerkennung eines Vorgesetzten, vielleicht gar ein Lob aus des Ministers eignem Munde zu erringen, was ihm nicht nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes, sondern auch aus einem anderen, ihm nicht gleich deutlich werdenden Anlaß von Wichtigkeit zu sein dünkte. (32)

Ohne die Aufgabe, etwas „Nützliches“ zu tun, fehlt ihm eine legitime Position in der Gesellschaft, und er fühlt sich in diesem Sinne ‚heimatlos‘, wie durch das „Heimweh nach seinem Kanzleiraum“ nahegelegt wird. Gleichzeitig fällt in dieser Passage besonders auf, wie wenig Robert selbst inhaltlich mit seiner Arbeit verbunden ist. Die ‚Nützlichkeit‘ seines Aufgabenbereiches bleibt hier zumindest abstrakt und ist wohl in erster Linie seiner Sehnsucht nach Anerkennung durch Vorgesetzte geschuldet, wodurch seine symbolische Funktion wieder gestärkt und er der Legitimität seines sozialen Status versichert würde. Auch später hält er weiterhin an seiner beruflichen Identität fest, um sich und andere davon zu überzeugen, dass er im Amt noch gebraucht wird und somit ein legitimes Mitglied der Gesellschaft ist. Als sich sein Bruder Otto etwas spöttisch über seine Reise­pläne mit seiner Verlobten äußert („Du heiratest wohl nur, um wieder dafür einen Vorwand zu haben?“), verteidigt er sich nachdrücklich: „Keine sehr lange [Reise] diesmal […]. Ich kann nicht wieder für ein paar Monate Urlaub nehmen.“ (88) Ob dies der Wahrheit entspricht, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor, aber die Aussage unterstreicht, wie wichtig es für Robert ist, den Anschein aufrecht zu erhalten, dass er weiterhin einen festen Platz und eine klare Aufgabe im Ministerium hat. Dass dies gerade nicht der Fall ist, wird natürlich schon durch die Aussage selbst, dass er nicht gleich wieder für einige Monate verschwinden kann, angedeutet und

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wird vollends klar, als Robert nach seiner langen Abwesenheit seine Arbeit im Ministerium wieder aufnehmen will. Er muss erkennen, dass seine Stelle neu besetzt worden ist und er nun einem anderen Beamten zuarbeiten soll. Dies lässt Roberts Arbeit als gewissermaßen überflüssig und die Bezeichnung „Sektionsrat“ als leeren Titel erscheinen. Dass diese Erkenntnis Robert weiter in die Krise führt, ist wenig überraschend, stellt sie doch nicht nur den symbolischen Status des Individuums selbst, sondern auch das gesamte System, von dem es umgeben ist, infrage. Dies trifft insbesondere auf Robert zu, dessen Arbeitsplatz im Ministerium ja genau der Ort ist, an dem die soziale Realität verwaltet wird. Die oben beschriebene schmucklose Funktionalität des Büros unterstreicht die hier herrschende Beschäftigung mit ‚Faktualität‘: Landkarten, Akten und Tabellen gelten alle als Repräsentationen von Wirklichkeit. Doch die bürokratische Arbeit im Ministerium verwaltet schließlich nicht nur gegebene Fakten sozialer Wirklichkeit, sondern stellt diese teilweise auch erst her: Soziale Regeln und Gesetze werden erst zur Realität, wenn sie umgesetzt und befolgt werden – und eben dies geschieht durch die Arbeit staatlicher Institutionen und Ministerien. Sich auf Benjamins Essay Die Kritik der Gewalt berufend, beschreibt Santner eine gewisse Selbstreferentialität von rechtlichen Systemen, die sich im Ursprung auf die Tautologie: „Das Gesetz ist das Gesetz“ zurückführen lässt.7 Bürokratische Verwaltung ist die performative Realisierung und Umsetzung dieser Tautologie, weil mit der Durchführung von Gesetzen und Regeln diese erst als Fakten etabliert werden. Performative Sprechakte, wie etwa die Ernennung zu einer bestimmten symbolischen Funktion, spielen bei der Aufrechterhaltung dieser Tautologie eine zentrale Rolle. Doch am 7 Vgl. Santner 1996 (Anm. 6), S. 10. In Benjamins Aufsatz findet sich kein expliziter Verweis auf diese Tautologie, jedoch beschreibt er, wie sich insbesondere im Fall der Todesstrafe in exemplarischer Weise das Recht selbst durch seine Ausübung manifestiert: „Denn in der Ausübung der Gewalt über Leben und Tod bekräftigt mehr als in irgendeinem anderen Rechtsvollzug das Recht sich selbst. Eben in ihr aber kündigt zugleich irgend etwas Morsches im Recht am vernehmlichsten dem feineren Gefühl sich an […].“ (Walter Benjamin: „Zur Kritik der Gewalt“. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Bd. II,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1980, S. 179–203, hier S. 188.) Nach Santners Interpretation bezieht sich dieses „Morsche[ ] im Recht“ auf seine fehlende legitimierte und gerechtfertigte Grundlage: „What manifests itself as the law’s inner decay is, in the final analysis, without ultimate justification or legitimation, that the very space of juridical reason within which the rule of law obtains is established and sustained by a dimension of force and violence that, as it were, holds the place of those missing foundations. At its foundation, the rule of law is sustained not by reason alone but also by the force/violence of a tauto­logous enunciation – ‚The law is the law!‘ – which is for Benjamin the source of a chronic institutional disequilibrium and degeneration.“ (Santner 1996 [Anm. 6], S. 10) Vgl. ähnliche Ausführungen bei Judith Butler: Antigone’s Claim. Kinship Between Life & Death. New York 2000, S. 21: „‚It is the law!‘ becomes the utterance that performatively attributes the very force to the law that the law itself is said to exercise.“

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Ursprungspunkt der Kette sich aneinanderreihender Amtseinsetzungen gibt es eine Lücke, die sich zumindest in säkularen Gesellschaften nicht schließen lässt – und die die Tautologie „Das Gesetz ist das Gesetz“ nötig macht. Das Wissen um dieses fehlende Glied an der Wurzel jedes sozialen Systems muss normalerweise kollektiv verdrängt werden, um das Funktionieren des Systems aufrechtzuhalten. An den Titel einer jeden symbolischen Funktion sind so bestimmte performative Akte geknüpft, die beständig wiederholt werden müssen, um den durch die Ernennung erzeugten sozialen Status auf Dauer zu realisieren und so gleichzeitig die Ordnung als Ganzes zu bestätigen: When […] one is ‚pronounced‘ husband, wife, professor […], one is invested with a symbolic mandate, which in turn compels a regulated series of social performances, rituals, behaviors that corresponds to that symbolic position in the com­ munity, that ‚iterates‘ and thereby certifies the originary performative establishing the change in one’s status.8

Es sind also diese performativen Akte, die die soziale Realität herstellen und aufs Neue bestätigen müssen und die das Wissen um das ‚fehlende Glied‘ am Ursprung verdrängen. Dennoch droht dieses Wissen immer wieder hervorzubrechen, besonders in Zeiten sozialer Krisen. Wenn dies geschieht, erscheinen die an die symbolische Funktion gebundenen performativen Akte zunehmend als leere Wiederholungen, mit denen sich das Subjekt nicht mehr identifizieren kann. Die Zeit, in der Flucht in die Finsternis spielt, ist genau eine solche der Krise: des bevorstehenden Untergangs der Habsburger Monarchie – und mit seiner Stelle im Ministerium ist Robert natürlich dem Wirken der ins Wanken geratenen Strukturen besonders ausgeliefert. Auch die häufig analysierte,9 von Ambivalenz und Konkurrenz geprägte Beziehung zwischen Robert und seinem Bruder Otto lässt sich unter anderem auf Ottos Überlegenheit, seiner symbolischen Funktion pflichtgetreu entsprechen zu können, zurückführen: Denn von Jugend auf hatte er sich dem älteren Bruder gegenüber bei äußerlich glänzenden Eigenschaften als einen Menschen von geringerem Wert erkannt, und er verhehlte sich nicht, daß sein eigener bürgerlicher Wandel von Otto zwar mit Nachsicht, oft aber mit Ungeduld und Unmut betrachtet wurde. Und Robert begriff das sehr gut. Ottos pflichtenschweres Dasein, der Ernst seines Berufes, bei dessen Übung es um so wesentliche Dinge wie um Leben und Gesundheit ging, sein sicheres und zugleich opfervolles Ruhen in der Familie, all das stellte sich für Robert in so hehrem Lichte dar, daß ihm dagegen seine eigene Existenz, wenn sie 8 Santner 1996 (Anm. 6), S. 11. 9 Vgl. z.B. Thomé 1993 (Anm. 4), S. 714, Tarnowski-Seidel 1983 (Anm. 5), S. 97–110, vgl. auch: Rolf Allerdissen: Arthur Schnitzler: Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in sei­ nen Erzählungen. Bonn 1985, S. 128–152, besonders S. 132.

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auch in den Rahmen eines Amts gespannt war, oft genug wie ohne rechte Würde und ohne tieferen Sinn erschien. (10f.)

Die Passage unterstreicht wiederum, wie wenig Sicherheit über die Legitimität seiner „Existenz“ Robert aus seinem „Amt“ zieht. Ottos symbolische Funktion erscheint dagegen gleich mehrfach abgesichert – nicht nur wegen der offensichtlichen Notwendigkeit des Arztberufes, sondern auch durch die pflichtbewusste Art, mit der er seine Aufgaben erfüllt. Sein „sicheres und zugleich opfervolles Ruhen in der Familie“ bezieht sich möglicher­ weise nicht nur auf seine wirkliche Familie, sondern kann auch metonymisch für die soziale Gemeinschaft gelten, in der er die mit seiner Rolle als Ehemann, Vater und Arzt verbundenen Aufgaben ausführt und im Gegenzug eben Sicher­heit über die Legitimität seiner sozialen Position erhält. Dem entspricht auch die Art, in der Otto in die Erzählung eingeführt wird: Wir erfahren gleich zu Beginn gemeinsam mit Robert durch einen Brief, dass Otto „zum außerordentlichen Professor“ (5) ernannt wurde. Sein Name dagegen bleibt bis zum zweiten Kapitel ungenannt, was als Betonung seiner symbolischen Funktion gelesen werden kann. Diese subtile Gegenüber­stellung der beiden Brüder schon auf der ersten Seite – während dem einen sein Titel vom Text selbst aberkannt wird, wird dem anderen ein Ehrentitel verliehen – erzeugt eine Spannung, die sich über den Verlauf der Novelle hin weiter aufbauen und sich schließlich im Brudermord entladen wird. Dabei spielt natürlich auch die ungleiche Machtverteilung eine Rolle: Als Roberts Arzt hat Otto die Befugnis, dessen Zustand zu diagnostizieren, was wie die Ernennung zum Inhaber einer bestimmten symbolischen Funktion ein performativer Sprechakt ist. Auch im Fall der Diagnose spielt die symbolische Amtsernennung eine Rolle, in dem Sinne, dass natürlich nur approbierte Ärzte berechtigt sind, sie zu stellen. Dementsprechend ist es auch nicht überraschend, dass Robert die Bewertung seines psychischen Zustandes durch Otto wie ein „Urteil“ fürchtet (10). Dies wird auch in Roberts Reaktion auf eine von Otto geäußerte Diagnose über den Zustand ihres gemeinsamen Freundes Höhnburg deutlich. Der Sprechakt der Diagnose kommt in Roberts Wahrnehmung einer schicksalhaften Weis­ sagung gleich: Auf dem Heimweg aber hatte Otto den Bruder beiseitegenommen und ihm anvertraut, daß ihr gemeinsamer Freund Höhnburg – was die andern noch nicht ahnten, er selbst als Arzt aber seit etlichen Tagen mit Bestimmtheit wußte – unheilbaren Wahnsinns verfallen sei und in spätestens drei Jahren unter der Erde liegen werde. Robert lehnte sich zunächst gegen die Zumutung auf, in dem jungen Kavallerieoffizier, der ein solches Bild ungetrübter, ja gesteigerter Gesundheit bot und der zudem ein Freund war, einen Gezeichneten, einen Verurteilten zu er­ blicken. (14)

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Durch die Engführung von gerichtlichem Urteil und Diagnose wird auf die Strukturgleichheit von beiden als performative Sprechakte hingewiesen. Durch die Wortwahl „Gezeichnete[r]“ wird beidem zudem ein schicksalhafter Charakter verliehen. Dies deckt sich mit Pierre Bourdieus Beschreibung von institutionellen Ernennungen als Verkündungen eines sozialen Schicksals: ‚Deviens ce que tu es.‘ Telle est la formule qui sous-tend la magie performative de tous les actes d’institutions. L’essence assignée par la nomination, l’investiture, est, au sens vrai, un fatum […]. Tous les destins sociaux, positifs ou négatifs, consécration ou stigmate, sont également fatals – je veux dire mortels – parce qu’ils en­ ferment ceux qu’ils distinguent dans les limites qui leur sont assignées et qu’ils leur font reconnaître.10

Soziale Stigmatisierungen und auch soziale Würdigungen bzw. Amtsernennungen können demnach als eine Art ‚Habitus-Vorschrift‘ verstanden werden – beide bringen also die Definition einer bestimmten sozialen Rolle mit bestimmten sozialen Verhaltensweisen und einer bestimmten sozialen Position mit sich. Während eine Amtsernennung als Würdigung („consécration“) zu verstehen ist, kann eine medizinische Diagnose zum Stigma werden. Wie Susan Sontag in ihrem Essay Illness as Metaphor analysiert hat, werden einigen Krankheiten bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben, die der Diagnose einen moralisierenden Effekt verleihen.11 Damit werden Krankheiten zu kulturell aufgeladenen Metaphern, die weit über die neutral-wissenschaftliche Symptombeschreibung hinausgehen. Eine medizinische Diagnose kann dementsprechend strukturell wie ein gerichtliches Urteil oder eine Amtsernennung funktionieren, in dem Sinne, als an sie nicht nur Annahmen an den weiteren Verlauf der Krankheit gebunden sind, die einen gewissen Schicksalscharakter annehmen können, sondern auch bestimmte kulturell erzeugte Ideen und Fantasien, die dem diagnostizierten Individuum eine bestimmte Rolle zuschreiben. Die Diagnose der Geisteskrankheit verleiht dem Subjekt darüber hinaus ähnlich wie die symbolische Funktion einen sozialen Status, allerdings einen mit negativem Vorzeichen, das ihm die Legitimität als Mitglied der Gesellschaft abspricht: Die Diagnose verweist das Individuum in den Bereich des peripheren ‚An10 Pierre Bourdieu: Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques. Paris 1982, S. 127f. [Hervorh. i.O.]. Dt.: „‚Werde, der du bist.‘ Das ist das Prinzip hinter der performativen Magie aller institutionellen Akte. Die Essenz, die durch Ernennung und Amtseinsetzung verliehen wird, ist im wörtlichen Sinne ein Fatum […] Alle sozialen Schicksale, positiv oder negativ, Konsekration oder Stigma, sind gleichermaßen fatal – und damit meine ich tödlich – weil sie die Personen, die sie kennzeichnen, einschließen in den Grenzen, die ihnen verliehen werden und die sie anerkennen müssen.“ [Übs. M.K.] 11 Susan Sontag: „Illness as Metaphor“. In: dies.: Illness as Metaphor & Aids and its Metaphors. Lon­don 1991.

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deren‘. Daher unterscheidet sich dieses soziale Schicksal entscheidend von anderen institutionellen performativen Akten, die einen sozialen Schicksalsspruch fällen: Es ist dieser ‚Nicht-Ort‘, der der oder dem ‚Gezeichneten‘ den Subjektstatus und damit die Zugehörigkeit zur sozialen Ordnung verwehrt. Dies ist gerade im Zusammenhang mit der gerichtlich zu entscheidenden Schuldfrage, wenn juristisches und medizinisches Wissenssystem zusammentreffen, von entscheidender Bedeutung. In diesem Sinne ist auch Roberts zutiefst ambivalente Fantasie, seine ehemalige Geliebte Alberta getötet zu haben und dafür gerichtlich angeklagt zu werden, zu verstehen. Während der Gedanke an eine Bestrafung selbstverständlich beängstigend ist, wird bei Robert dennoch auch eine gewisse Faszination und Selbststilisierung als gesuchter Mörder spürbar: Plötzlich sah er sein eigenes Porträt vor sich, mit Überzieher, Zylinder und Stock, so wie er sich in Wirklichkeit nie hatte photographieren lassen; ganz in der Art eines nachlässig vervielfältigten Bildes in einer Tageszeitung, und darunter las er mit großen Lettern die Worte: Ein neuer Blaubart. Er roch das Papier und die Drucker-​ schwärze. Gleich darauf sah er sich vor Gericht stehen als Angeklagten. Er leugnete. Er schwor zu Gott, daß er niemals einen Menschen umgebracht habe. Es ist nur ein Wahn von mir, meine Herren Geschworenen. Wie darf man mich denn wegen eines Wahns vor Gericht stellen? Ich bin krank, meine Herren Geschworenen, aber ich bin kein Verbrecher. Die Umstände sprechen gegen mich. (48)

Die Widersprüchlichkeit dieser Sätze unterstreicht nicht nur Roberts​​Ambivalenz gegenüber dieser Zwangsvorstellung, sondern auch die Komplexität der verschiedenen Aspekte, die in ihr zusammenkommen. Sein​Insistieren auf seiner Schuldlosigkeit bezieht sich bezeichnenderweise nicht nur auf die Mordtat, sondern auf die Krankheit an sich („Wie darf man mich wegen eines Wahns vor Gericht stellen?“), was als Verteidigung gegen die moralisierende Metaphorik der Geisteskrankheit und die oben erwähnte Gleichsetzung von Diagnose und Urteil verstanden werden kann. Gleichzeitig machen der Hinweis darauf, dass die Umstände gegen ihn sprechen, und auch die Imagination seines Porträts in der Zeitung deutlich, dass es sich hier nicht nur um eine Angstvorstellung, sondern auch um eine Wunschphantasie handelt. Im Zusammenhang mit Roberts unbefriedigender Posi­tion im Ministerium und seiner Sehnsucht danach, gebraucht und damit ‚gewollt‘ zu sein, lässt sich die Idee, gerichtlich verfolgt zu werden, als verschobene Erfüllung eben dieser Sehnsucht interpretieren. Denn solange er als schuldfähig erklärt wird, kann er sich seines Platzes innerhalb des sozialen Systems sicher sein, wenn dies auch eine Verurteilung nach sich ziehen kann.12 Damit ist natürlich auch das Thema der individuellen Verant12 Die Verurteilungsphantasie lässt sich in diesem Sinne als zwanghafte Wiederkehr zu der ideologischen Anrufung, die nach Louis Althusser das Subjekt hervorbringt, verstehen. Wie Judith Butler im Hinblick auf Althussers Konzept bemerkt hat, ist die Subjektwerdung dem-

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wortung angeschnitten, die in Opposition zum geisteskranken Zustand gestellt wird. Schließlich ist Roberts größte Sorge, dass „eine Geistesstörung den Menschen zum willenlosen Sklaven des Schicksals erniedere.“ (15) Um sich davor zu schützen, trägt er Otto auf, „wenn er [Otto] irgendeinmal […] die Vorzeichen einer Geisteskrankheit an ihm [Robert] entdecke, ihn ohne weiteres […] vom Leben in den Tod zu befördern“ (ebd.) – tritt also bereits vor dem wirklichen Ausbruch seiner Krankheit jegliche Verantwortung über sein Leben an seinen Bruder ab. Bezeichnenderweise geschieht auch dies gewissermaßen durch eine Amtsernennung: ganz offiziell mittels eines Schreibens, das „trocken, geradezu geschäftsmäßig, den Empfang jenes Versprechens bestätigte“ (16). Die Beruhigung, die Robert durch diese Vollmacht an seinen Bruder zunächst erfährt, ist jedoch nicht von Dauer. Zweifel über dessen Fehllosigkeit bis hin zur Infragestellung von Ottos geistiger Gesundheit und damit Zurechnungsfähigkeit verdichten sich im Lauf der Erzählung zu dem paranoiden Wahn, der ihn schließlich zum Brudermörder werden lässt. Es zeigt sich hier, dass Robert versucht, seine Unsicherheit über seinen Subjektstatus gewissermaßen durch eine Amtseinsetzung des Bruders zu kompensieren: Otto wird also die Entscheidungsmacht über seine, Roberts, Zugehörigkeit zur sozialen Ordnung und damit über Leben und Tod übertragen. Doch da diese Amtseinsetzung ebenso auf der Basis des bestehenden Systems legitimiert ist – Otto als Arzt im Besonderen und exemplarischer Vertreter der bürgerlichen Ordnung im Allgemeinen –, kann sie auf lange Sicht genauso wenig Versicherung für Robert schaffen. Es wird im Gegenteil deutlich, wie sehr die Überhöhung Ottos als gottähnliche Figur zum Anwachsen des Drucks, der auf Robert lastet, beiträgt. So reagiert er mit umso größerer Furcht, als er sich selbst beim Anzweifeln von Ottos ärztlicher Kompetenz und dem Gedanken, diese auf die Probe zu stellen, erwischt: Zugleich aber fühlte er diesen Vorsatz wie von einer unbestimmten Angst durchzittert, ungefähr so, als wenn er etwas Unrechtes begangen hätte und zumindest eines Verweises, wenn nicht gar einer Strafe gewärtig sein müßte. (13)

Dass hier erneut von Strafe gesprochen wird, zeigt nicht nur, dass Otto als Vaterfigur für Robert fungiert, sondern betont eben auch ein weiteres Mal Ottos repräsentative Funktion als Vertreter der bürgerlichen Ordnung als Ganzes.13 Aus dieser prekären Position heraus erscheint die Krankheit für Robert nicht ausschließlich als Bedrohung, sondern auch als Ausweg aus der gemäß immer mit einem gewissen Gefühl der Schuldhaftigkeit verbunden (vgl. Judith Butler: The Psychic Life of Power. Theories in Subjection. Stanford 1997, S. 107). Dies betont einmal mehr Roberts Sehnsucht nach Versicherung seines Subjektstatus. 13 Vgl. Wünsch 2004 (Anm. 3), S. 305.

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zunehmenden Bedrängnis: Da Krankheitsmetaphern nicht nur stigmatisierend, sondern auch idealisierend sein können – wie etwa beim Klischee von Genie und Wahnsinn –, erscheint die Geisteskrankheit als anderer Zustand und Gegenkonzept zum bürgerlichen Rationalismus. Tatsächlich wird die Krankheit von Robert zwischenzeitlich als mögliche Entlastung oder Chance, der Krise seiner symbolischen Funktion zu entkommen, erlebt. Immer wieder spielt Robert mit diesen positiven Stereotypen von Geisteskrankheit, da sie ihm, gerade im Hinblick auf seine unausgefüllte symbolische Position, zeitweise einen ‚alternativen‘ Lebensweg aufzuzeigen scheinen: Und ist es denn gar so wünschenswert, vernünftig zu sein? Endgültig vernünftig? […] Vielleicht bin ich sogar verrückt. Ich will es nicht in Abrede stellen. Aber wenn ich es bin, so fühle ich mich sehr wohl dabei. (94)

Es zeigt sich schon recht früh in der Erzählung, dass sich Robert zuweilen spielerisch die Rolle des Nervenkranken aneignet, etwa indem er Symptome hinzuerfindet oder halbbewusst das Verhalten des verstorbenen Höhnburg nachahmt.14 In diesem Zusammenhang ist auch Roberts Vorliebe für die darstellenden Künste interessant. Während einer Theatervorstellung zeigt er sich „kindlich erfreut, als ihm der erste Komiker mitten im Couplet von der Bühne herab vertraulich zunickte.“ (19) Dass er sich so von dem Komiker komplizenhaft angesprochen fühlt, ist ein weiterer Hinweis für seine Sehnsucht nach einer nicht-bürgerlichen Existenz. Da höhere Kreativität und künstlerische Affinität zu den positiven Stereotypen des ‚Wahnsinns‘ zählen, wird hier erneut die verführerische Qualität der Rolle des Geistes­kranken als mögliche alternative Lebensform deutlich. Die Geste des Nickens wiederholt sich in einer Interaktion zwischen Robert und einem weiteren Künstler, einem Klavierspieler in einer Nachtbar, dem Robert ein großzügiges Trinkgeld gibt: „Der Pianist nickte zum Dank […].“ (24) Das übermäßig freigiebige Trinkgeld erweist sich dabei als Identifi­kation mit dem manischen Höhnburg, der sich am Tag von Ottos fataler Diagno­ se durch besondere Lustigkeit hervorgetan hatte und dabei „dem Kellner ein Trinkgeld in ungewöhnlicher Höhe überreichte.“ (14) Gleichzeitig handelt es sich hier bei Robert um eine Fehlleistung: Nachdem er selbst in der Nachtbar durch überlautes und unpassendes Lachen aufgefallen ist, entschließt er sich, die Bar zu verlassen, ruft nach dem Kellner und denkt: „Ich werde nicht so dumm sein und ihm zehn Gulden Trinkgeld geben […].“ (23) Auf diese Weise negiert er seine Verbindung zu Höhnburg und dessen Krankheits­symptomatik. Als er dann jedoch erfährt, dass die Rechnung bereits durch einen Freund beglichen wurde, verschiebt er den Akt des 14 Vgl. die Interpretation dieser Passage bei Thomé 1993 (Anm. 4), S. 710. Zum komödiantischen Aspekt von Roberts Krankheit vgl. auch Allerdissen 1985 (Anm. 9), S. 131.

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Trinkgeld­gebens vom Kellner auf den Pianisten: „In den Teller auf dem Deckel des Pianos legte er zu den dort schon gesammelten kleineren Münzen ein goldenes Zehnkronenstück, ärgerte sich zugleich, wagte aber nicht, es zurückzunehmen.“ (24) Auf diese Weise erscheint die performative Aneignung der Rolle des Geisteskranken außer Kontrolle zu geraten und zum Wiederholungszwang zu werden. So kündigt sich bereits hier die Flucht in die Geisteskrankheit als einen ‚anderen Zustand‘, der eine Alternative zu den leergewordenen performativen Akten seiner symbolischen Funktion bieten soll, als Sackgasse an. Dies entspricht auch Roberts Erfahrung, als im weiteren Verlauf der Handlung Zwangshandlungen und -gedanken immer mehr von ihm Besitz ergreifen: „Und doch laufen meine Gedanken immer aufs neue nach dieser Richtung hin, ohne Sinn und Zweck, wie auf ein totes Geleise.“ (66) Damit wird nicht nur deutlich gemacht, dass die Krankheit keineswegs eine freiere Lebensform bedeutet, sondern dass durch die Zugschienenmetaphorik auch erneut das Gefühl eines vorbestimmten Schicksals ohne individuelle Entscheidungsfreiheit evoziert wird. Dies wird von Robert sogar an einer Stelle vorübergehend reflektiert: Von seinem eigenem Leben gleichsam im Stich gelassen, im Innersten leer geworden, hatte er allzu willig, ja, mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, eine Art Rolle für sich zu spielen begonnen, die wachsende Gewalt über ihn erlangt und allmählich angedroht hatte, sein innerstes Wesen zu zerstören. (46f.)

Hier wird also explizit eine Verbindung zwischen dem fehlenden Identifikationspotential von Roberts symbolischer Funktion, von der er sich nicht länger hinreichend angesprochen fühlt, und dem performativen Anteil seiner Krankheitssymptomatik hergestellt. Dieser Moment der Klarheit ist allerdings nicht von Dauer. Dies lässt sich unter anderem durch den Krankheits­gewinn, den Robert trotz seines Leidensdrucks unbestreitbar erhält, erklären: Wie bereits in der Passage, in der er sich mit Otto vergleicht, klar geworden ist, vermisst Robert im Hinblick auf seine eigene Existenz einen „tieferen Sinn“ (10f.). In diesem Zusammenhang wird seine Geisteskrankheit als Kompensation dieses Mangels deutlich: Schließlich ist eins seiner vorherrschenden Symptome, kontingente Erscheinungen (wie etwa Wetterverhältnisse) und auch Blicke und Gesten seiner Mitmenschen beständig mit einer höheren Bedeutung aufzuladen. Auf diese Weise ermöglicht die Krankheit es ihm tatsächlich, sein Leben als Narrativ zu entwerfen, dem der „tiefere[ ] Sinn“ wiedergegeben wurde. In seinem letzten, vollkommen wahnhaften Zustand imaginiert er sich und Otto schließlich als essentiellen Bestandteil eines höheren Plans: „Wir beide vielleicht Erscheinungs­ formen ein und derselben göttlichen Idee? Einer von uns beiden mußte ins Dunkel. Es ward über ihn verhängt, obwohl früher meine Schale hinüberneigte.“ (106) Interessant ist hier auch, dass durch die (Wieder)Einführung eines metaphysischen Schicksals das mangelhafte soziale Schicksal ersetzt

Wirkung und Scheitern der symbolischen Funktion in Flucht in die Finsternis

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und damit die spürbar gewordene Lücke am Ursprung des sozialen Systems wieder geschlossen wird.15 In diesem Sinne ist Roberts Weg in die Geisteskrankheit tatsächlich als Flucht vor seiner leer gewordenen symbolischen Funktion, die für ihn kein Identifizierungspotential mehr bereithält, zu verstehen. Gleichzeitig wird das Freiheitsversprechen dieser Stereotypen mit Nachdruck zurückgewiesen, indem die Flucht eben in der Finsternis endet und beim besten Willen nicht als ‚Weg ins Freie‘ gedeutet werden kann. Vielmehr erweist sich, dass der wahnhafte Zustand den performativen Wiederholungszwang der symbolischen Funktion – also die Aneinanderreihung performativer Akte, die diese konstituieren – in gesteigerter Form zum Ausdruck bringt. Nach der Tötung seines Bruders rast Robert in dem Bewusstsein davon, „daß er diesen gleichen Weg schon tausende Male dahin gerast und daß es ihm bestimmt war, ihn noch tausende Male bis in alle Ewigkeit durch klingende blaue Nächte zu fliehen.“ (114) Die Möglichkeit, aus dem System der symbolischen Funktionen auszubrechen, scheint also nicht gegeben. Abschließend lässt sich die Frage stellen, ob der hier beschriebene Fall von Geisteskrankheit in seiner Verzahnung mit dem Verlust der symbolischen Funktion nicht metonymisch für die Position des ‚Anderen‘ per se gelesen werden kann. Unterstützt wird diese Vermutung durch den zeitgenössischen Diskurs über die Anfälligkeit von ‚Wahnsinn‘: Bezeichnender­ weise wurde diese ausgerechnet Frauen und Juden zugesprochen, also Gruppen, die in Bezug auf die männliche, nicht-jüdische Norm die Position des ‚Anderen‘ einnehmen.16 In diesem Sinn wird Geisteskrankheit nicht nur als Marker, sondern auch als Legitimierung der Position des ‚Anderen‘ und ihrer Abgrenzung von der Norm funktionalisiert. Wie in vielen von Schnitzlers Texten geht es in Flucht in die Finsternis nicht explizit um Judentum und Antisemitismus. Dennoch halte ich es für wichtig zu betonen, dass, nur weil der Text keinen eindeutigen Hinweis darüber gibt, ob Robert Jude ist, wir nicht automatisch annehmen sollten, dass er es nicht ist.17 Vielmehr muss die Uneindeutigkeit als solche anerkannt werden: Indem offen gelassen wird, ob Robert Jude ist oder nicht, wird indirekt das zeitgenössische Stereotyp problematisiert, nach dem Juden anfälliger für 15 Eine ähnliche Interpretation wird auch angedeutet von Thomé 1993 (Anm. 4), S. 708, wenn er auf die „funktionelle Äquivalenz von Wahn und [sozialer, M.K.] Rolle“ hinweist. 16 Vgl. Sander Gilman: Freud, Race, and Gender. Princeton 1993, S. 93. 17 An vereinzelter Stelle könnte man argumentieren, dass der Text eine Verbindung von Robert und dem ‚Ewigen Juden‘ andeutet, wenn etwa seine durch die Krankheit bedingte Rastlosigkeit betont wird: So spricht er beispielweise von seinen Ängsten, „die ihn sein halbes Leben lang verfolgt und endlich durch die Welt gejagt hatten.“ (76) Auch seine bereits zitierte Wahnidee am Ende der Novelle, dazu verdammt zu sein, in einer endlosen Zeitschleife den gleichen Weg „durch klingende blaue Nächte hinzufliehen“ (114), mag diese Deutung unterstützen.

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geistige Krankheiten seien. Auf diese Weise lässt der Text nicht zu, Geisteskrankheit als vornehmlich jüdisches Problem abzutun. Gleichzeitig werden durch die Beschreibung einer Übergangsphase aus dem Bereich der Norm in den des ‚Anderen‘ die klaren Grenzen zwischen diesen Bereichen ganz allgemein, und eben nicht allein zwischen gesund und krank, verwischt. Aus dem bis hierher Gesagten ließe sich nun, trotz meines Einwands zu Beginn, der Schluss ziehen, dass Schnitzlers Novelle nicht nur eine reine soziale Determiniertheit des psychopathologischen Zustandes vorschlägt, sondern diesen auch von vornherein als rein sozial konstruiert begreift. Dies scheint auch das Schlusswort, das dem allerdings eher zwielichtigen Charakter Doktor Leinbach überlassen ist, nahezulegen: Wir aber reden von Zwangsvorstellungen! Ob wir dazu berechtigt sind, ob dieses Wort – wie so manche andere – nicht eigentlich eine Ausflucht bedeutet – eine Flucht ins System aus der friedlosen Vielfältigkeit der Einzelfälle –, das ist eine andere Frage. (115)

Die durch die Praxis der Diagnose vorgenommene Form der Kategorisierung von Norm und ‚Anderem‘ wird damit also als illusorische Kompen­ sation einer nicht völlig erfassbaren und inkommensurablen Wirklichkeit begriffen. Dass Leinbach jedoch nicht als Autorität verstanden werden kann, ist in der Forschung überzeugend hervorgehoben worden.18 Dazu passt auch, dass seine Ausführungen schließlich mitten im Satz abgebrochen werden. Was bleibt, ist ein für Schnitzlers Literatur recht typischer Mittelweg. Der Text ist weder ein Plädoyer für eine Negierung der Grenze zwischen ‚gesund‘ und ‚krank‘, noch eine Verklärung des psychopathologischen Zustandes als einzig ‚sensible‘ Reaktion auf marode Strukturen im sozialen System. Problematisiert wird jedoch, welch katastrophale Auswirkungen es haben kann, wenn die symbolische Funktion versagt und dem Subjekt nicht mehr hinreichend Versicherung über seinen legitimen Status verleihen kann. Dass wir es bei dem Protagonisten mit jemandem zu tun haben, der zunächst einmal in vielerlei Hinsicht der Norm entspricht, jedoch im Laufe der Handlung diese Position zunehmend verliert, lässt außerdem die Instabilität derselben deutlich werden.

18 Vgl. Allerdissen 1985 (Anm. 9) S. 136; Thomé 1993 (Anm. 4), S. 713; Schmidt 2000 (Anm. 4), S. 192.

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Schnitzlers Erzählung Der letzte Brief eines Literaten: Experimente mit sich selbst und dem Anderen Wenngleich Der letzte Brief eines Literaten erst postum – 1932 – erscheint, hat die Erzählung eine lange Vorgeschichte. Ein erster typographischer Entwurf von 1910 trägt den Titel Tragische Anekdote, 1912, 1913, 1914 folgen weitere Entwürfe; in einem späteren Typoskript von 1917 wird der Text Der letzte Brief eines Literaten und ein Nachwort getauft; im selben Jahr scheint die Streichung von „und ein Nachwort“ zum definitiven Titel erfolgt, unter dem die Erzählung auch im ersten Druck, in der Zeitschrift Neue Rundschau, 1932 erscheinen wird (erste Buchausgabe erst 1950).1 Schnitzlers Ein­stel­ lung zu seinem eigenen Werk scheint ambivalent gewesen zu sein und zwischen Ab- und Aufwertung geschwankt zu haben; jedenfalls hat er es zu Lebzeiten nicht publiziert. Aber auch die spätere germanistische Forschung scheint sich für diese Erzählung eher weniger interessiert zu haben; somit ist es wohl an der Zeit, sie etwas genauer zu interpretieren. Denn sie gehört zweifellos zu den Texten in Schnitzlers Werk, die besonders radikale, extreme menschliche Verhaltensweisen in Paarbeziehungen vorführen, an denen dieses Œuvre fürwahr reich ist: Und genau das macht Schnitzlers dramatische und erzählerische Texte über ästhetisch-literarische Interessen hinaus auch heute noch spannend und lesenswert, während manch einer seiner ebenfalls prominenten Zeit­genossen nurmehr wegen irgend welcher literarischer Qualitäten – das ist freilich nicht wenig – geschätzt und gelesen wird, aber was Ideologie und Anthropologie der Texte anlangt, längst nur mehr musealen Wert hat. Demgegenüber haben Schnitzlers anthropo­ logische Experimente beste Chancen, heutige Zeit­genossen nicht nur ästhe­ tisch zu beeindrucken.

1 Die Kenntnis der früheren Fassungen (CUL, A191 und 192) verdanke ich Wolfgang Lukas, dem Mitherausgeber der Digitalen historisch-kritischen Edition von Schnitzlers Werken (1905–1931). Seiner grundlegenden Monographie zu Arthur Schnitzlers Œuvre (Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996) ist mein Beitrag im Übrigen in vielfacher Hinsicht verpflichtet.

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Unser Text ist formal in drei Teile von sehr unterschiedlichem Umfang gegliedert. Der erste und umfänglichste – homodiegetisch erzählte – Teil ist der titelgebende letzte Brief eines anonym bleibenden Literaten (in der Folge von mir als „Ego“ benannt), adressiert an einen Arzt Anton Voll­ bringer, abgefasst in den Stunden vor dem Suizid Egos (während seine Geliebte, Maria, im Nebenzimmer im Sterben liegt), einen Zeitraum darstellend, der in etwa vom Vorfrühling bis zum Spätherbst des Jahres 1887 reicht, wie sich erschließen lässt. Warum Ego seine Selbstdarstellung ausgerechnet dem ihm aus der gemeinsamen Jugend bekannten Vollbringer hinterlässt, dessen Antipathie gegenüber Ego von diesem explizit thematisiert und voraus­gesetzt wird, bleibt letztlich unbeantwortet. Der dritte, sehr viel kürzere Teil ist ein (ebenfalls homodiegetischer) Kommentar des Arztes Vollbringer zu dem nachgelassenen Brief Egos an ihn, zehn Jahre später, also 1897, verfasst; warum dieser so lange nach den Ereignissen eine nicht veröffentlichte Stellungnahme zu einem nicht veröffentlichten Brief abgibt, wird nicht erklärt. Zwischen Brief und Kommentar, als zweiter Teil des Gesamttextes, befinden sich einige wenige Zeilen einer anonymen, quasi als Herausgeber fungierenden Sprechinstanz, die aus dem Nachlass des unterdessen seinerseits verstorbenen – wann und woran, wird nicht thematisiert – Voll­bringers Egos Brief und Vollbringers Kommentar ediert, ohne dass erkennbar wäre, für wen und warum. Die Kommunikationssituation, die der Text impliziert, ist also durch eine Menge von Nullpositionen charakterisiert, insofern als in der textinternen Pragmatik ungeklärt bleibt, warum und für wen Ego seinen Brief verfasst und warum und für wen Vollbringer Jahre später dazu Stellung nimmt und warum und für wen er beide Dokumente aufbewahrt. Ebenso ungeklärt bleibt der Übergang von der textinternen Pragmatik zur realen Pragmatik: Ein unbekannter, textintern repräsentierter Editor, der – warum? – Zugang zum Nachlass Vollbringers hat, gibt – warum? – die beiden Texte heraus. Eine Funktion dieser informatorischen Nullpositionen könnte in einer radikalen Beschränkung auf das liegen, was unmittelbar semantisch relevant scheint, also in einer Streichung aller für die erzählte Geschichte nebensächlichen Umstände. Egos Brief gibt nur wenige Hinweise auf dessen Herkunft und Vorgeschichte. Er scheint einer wohlhabenden Familie zu entstammen, also nicht auf Arbeit angewiesen zu sein; er lebt in Wien und schreibt Thea­terstücke, die auch durchaus erfolgreich aufgeführt werden; aus den Angaben über seine früheren, sehr seltenen Begegnungen mit Vollbringer nach der Schulzeit lässt sich für ihn wohl ein Alter zwischen Ende 30 und ca. Mitte 40 erschließen. Wenn die von ihm erzählte Geschichte im Frühjahr 1887 mit einem Ball einsetzt, ist er mit einer Schauspielerin, die Josefine („Pepi“) heißt, sich aber Syringe nennt, und die in einem Stück Egos agiert hat, liiert. Diese

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Beziehung naht ihrem Ende; laut Ego blicken sich beide – „unbewußt natürlich“ (ES II, 209) – schon nach neuen potentiellen Partnern um. Ego tanzt mit Syringe, als plötzlich ein Blick sich in den meinen senkte, so dunkel leuchtend und ernst, daß ich ihn noch immer in Aug’ und Sinn unverlöscht weiter trug, als schon die ganze Länge des Saals sich zwischen uns dehnte und tausend Menschen – nein, Schatten waren es – zwischen uns einherschwebten. (ES II, 210)

Diese Begegnung mit Maria ist zugleich das definitive Ende der Beziehung mit Syringe; Ego tanzt mit der ihm schon oberflächlich sozial bekannten Maria, und dabei „wußten wir beide, schon in diesem Augenblick, daß unser Schicksal sich für alle Zeiten entschieden hatte.“ (ES II, 211) Inszeniert wird also ein erotisches Einander-Verfallensein ‚auf den ersten Blick‘ zwischen Ego, der offenkundig über eine breitere sexuelle Erfahrung verfügt, und Maria, die ebenso offenkundig einer solchen ermangelt: Das wäre jedenfalls der sozial erwartbare Normalfall für eine junge Frau aus dem gehobenen Bürgertum, und eine Abweichung davon müsste signalisiert werden. Am Ende dieses Tanzes verfällt Maria in einen ohnmachts­ ähnlichen Zustand; aus den Worten ihrer hinzukommenden Mutter – ‚anständige‘ junge Frauen gehen nicht ‚unbehütet‘ auf einen Ball – schließt Ego, Maria müsse ein Herzleiden haben und sie selbst wisse davon. Dennoch habe sie sich in diesem Tanze so völlig hingegeben, wie dies nur ein Wesen tun kann, das plötzlich von einer unwiderstehlich heftigen Leidenschaft erfaßt wurde. Sie wird mir ihre Hand nicht verweigern, selbst wenn die Mutter und die Ärzte das Heiraten widerraten oder gar untersagen sollten. Wir werden sehr glücklich sein … ein paar Jahre, vielleicht nur ein Jahr lang oder gar nur ein paar Monate, und dann wird sie von mir scheiden. Ich aber werde zurückbleiben, allein, mit einem großen Schmerz, mit dem ersten wahrhaften Schmerz meines Lebens, den ich mir in dieser Stunde schon in seiner ganzen Furchtbarkeit vorzustellen fähig bin. Und erst dann, wenn ich diesen Schmerz durchfühle, werde ich der geworden sein, zu dem mich Gott geschaffen hat. (Nenne man mich nicht einen Gotteslästerer, nie bin ich frommer gewesen als in diesem Augenblick.) Daß ich den Schmerz bisher nicht gekannt habe, das ist die Schwäche meines Wesens, das Grundübel meiner Kunst. Darum fehlt allem, was ich bisher versucht, allem, was mir bisher bis zu einem gewissen Grad gelungen, Leidenschaft und Tiefe. Darum ist alles so kühl, so glatt – so leer, wie meine Feinde sagen. (ES II, 213)

Die Stelle – quasi Exposition und Voraussetzung alles Folgenden – bedarf einiger Kommentare. Präsupponiert wird ein soziales Zeichensystem und eine damit verknüpfte Menge anthropologischer Annahmen, wenn Ego aus der Art von Marias Tanz auf deren psychische Einstellung zu ihm schließt und daraus auch ihre Bereitschaft, ihn sogar gegen den Willen der Mutter und der Ärzte zu heiraten, folgern zu können glaubt. Beides erweist sich

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als zutreffend, was wiederum bedeutet, dass in der dargestellten Gesellschaft soziales Verhalten in hohem Grade kodiert ist (was sich ja auch in anderen Texten Schnitzlers bestätigt) und der Sprecher den Kode perfekt beherrscht. Ego will sich also auf eine Liebe einlassen, die unvermeidlich mit dem absehbaren Tod der Geliebten endet. Es ist insofern ein Experiment, das er mit sich und der Geliebten macht, mit sich freiwillig und bewusst, mit der Geliebten, ohne sie um deren Einwilligung zu fragen, also ohne deren Wissen und Willen. Das moralische Problem liegt auf der Hand: In einer von religiösen Vorurteilen befreiten Welt hat Ego selbstverständlich das Recht, mit sich zu machen, was immer er will: aber nicht mit anderen. Solche Experimente sind in Schnitzlers Welten freilich nicht selten (vgl. z.B. Die Hirtenflöte oder die Komödie der Verführung ) und gehen gerne bös aus, auch für den Experimentator. Die moralische Provokation seines Plans mit Maria wird in der Folge allerdings abgeschwächt, wenn aus dem Mediziner-Votum dann folgt, dass Maria nur zwei Alternativen hat: entweder früher dank leidenschaftlicher Liebe oder später ohne ein solches Glück zu sterben. Die Wahl, die ihr bleibt, ist dann also die zwischen einem ‚Leben‘ im emphatischen Sinne mit der Folge eines frühen biologischen Todes oder der Fortdauer des biologischen Lebens bei ‚Nicht-Leben‘ im emphatischen Sinne:2 Nicht wenige Figuren in der Literatur der ‚Frühen Moderne‘ bevorzugen das ‚emphatische Leben‘ gegenüber dem bloß biologischen und verzichten auf letzteres, wenn sie ersteres nicht haben können – aber das war dann ihre Entscheidung, nicht die eines Anderen, Selbstbestimmung, nicht Fremdbestimmung. Ego rechtfertigt seine Fremdbestimmung über Marias Schicksal quasi metaphysisch: Infolge von Marias Tod könne er der werden, zu dem ihn „Gott geschaffen“ habe; „Gott“ ist hier ein Lexem, das für eine dem Individuum vorgegebene ‚Bestimmung‘ steht und ist frei von allen Implikationen der seinerzeit verfügbaren – christlichen oder jüdischen – Religionen. „Gott“ steht hier für ein zentrales anthropologisches Konzept in der Literatur der Frühen Moderne: Gesetzt wird, es könne in einer Person dieser noch nicht bewusste, von ihr noch nicht genutzte Potentiale, d.h. Verhaltens- und Lebensmöglichkeiten geben; aufgetragen ist der Person somit ein Prozess der ‚Selbstfindung‘, d.h. der Bewusstwerdung solcher Potentiale, danach hat sie die Wahl der ‚Selbstverwirklichung‘, d.h. der Realisierung 2 Zum Konzept des ‚emphatischen Lebens‘ in der Literatur der Frühen Moderne (ca. 1890 – ca. 1930/35) vgl. z.B. Marianne Wünsch: „Das Modell der ‚Wiedergeburt‘ zu ‚neuem Leben‘ in erzählender Literatur 1890–1930“. In: Klassik und Moderne. Hg. von Karl Richter und Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 379–407; Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitroma­ ne der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart 1994; Lukas 1996 (Anm. 1); ders.: „Anthropologie und Lebensideologie“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 40–43; ders.: „Paradigma der Moderne I: Norm- und Subjektkrisen“. In: Schnitzler-Hand­ buch, S. 327–337.

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solcher Potentiale, oder des Verzichts darauf, d.h. die bewusste ‚Selbstbeschränkung‘.3 Ego glaubt nun, in ihm fände sich das Potential, ein bedeutenderer Dichter zu werden, wozu ihm bislang die Erfahrung eines wirklich großen Schmerzes gefehlt habe, womit zugleich eine Abhängigkeit der künstlerischen Qualität vom biographischen Erfahrungsreichtum postuliert wird. Um die Erfahrung eines solchen Schmerzes zu machen, will Ego nun Maria und deren von ihm eingeplanten Tod funktionalisieren, was er eben mit ‚gottgewollter‘ ‚Selbstverwirklichung‘ legitimiert: Erst wenn ich mein Schicksal mit dem Marias verbunden haben werde, in unserer Liebe, in ihrem Tod, in meinem Schmerz, wird meine Sendung [!] sich erfüllen können. (ES II, 213)

Das Experiment ist freilich ein wenig einseitig: Es ist höchstwahrscheinlich, dass Maria dabei sterben wird; es ist ungewiss, ob es für Ego die von ihm erwünschte Folge haben wird, ihn zum großen Dichter zu machen. Egos Einstellung zu Maria ist komplex: Ich liebte sie – sie war das erste Geschöpf, das ich liebte – und dachte an ihren, nein, ich rechnete mit ihrem Tod und liebte sie gerade darum noch tausendmal mehr. (ebd.)

Zwei Tage nach dem Ball macht Ego seinen ‚Anstandsbesuch‘ bei Maria und ihrer verwitweten Mutter; schon einen Tag später beim nächsten Besuch kommt es wie von selbst zu einem ersten langen Kuss; bei einem dritten Treffen betrachten sich die beiden schon als ‚verlobt‘, weshalb Ego denn auch bei der Mutter um Marias Hand ‚anhält‘, die freilich erst noch Marias Arzt konsultieren will, bevor sie ‚einwilligt‘. Der Ablauf ist zwar im Sinne der zeitgenössischen Sozialnormen korrekt, nur sein Tempo ist atemberaubend. Hier gibt es kein Bedürfnis, einander erst näher kennen zu lernen, kein Nachdenken, ob man den/die Andere(n) wirklich gleich heiraten will: Man ist sofort entschlossen – nicht nur der Mann, sondern auch die Frau. Wiederum schon am nächsten Tag erscheint der Hausarzt der Familie bei Ego und rät im Interesse von Marias Lebenserwartung dringlich von den „Erregungen einer Ehe, insbesondere […] einer Liebesehe“ ab, der ihr „krankes Herz“ nicht gewachsen sei; sie dennoch zu heiraten, führe zu „schwerster Gewissensschuld“ (ES II, 217), womit erneut die Frage aufgeworfen ist, ob biologisches Leben oder emphatisches Leben der höhere Wert sei. Ego verabschiedet den Besucher kühl und legitimiert das Fest­ halten an seinem Entschluss vor sich selbst doppelt: 3 Vgl. Michael Titzmann: „Das Konzept der ‚Person‘ und ihrer ‚Identität‘ in der deutschen Literatur um 1900“: ursprünglich 1989, jetzt auch in: M.T.: Realismus und Frühe Moderne. Inter­ pretationen und Systematisierungsversuche. Hg. von Lutz Hagestedt. München 2009, S. 308–329.

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Daß es mir bestimmt war, vom ersten Augenblick des Besitzes an für sie zu zittern, auferlegt, sie durch eigene Schuld zu verlieren, und daß ich mir zugleich zutraute, ja, die Verpflichtung auf mich nahm, durch ein Werk, das vor Gott höher anzuschlagen war als ein Menschenleben, dieser Schuld wieder ledig zu werden, das mußte meine Leidenschaft so sehr ins Ungeheure steigern, daß sie fähig war, innerhalb einer karg zugemessenen Frist das geliebte Geschöpf reicher zu be­glücken, als es eine behaglich-unbekümmerte Zärtlichkeit imstande war, die, ohne ein Ende vor sich zu sehen, allmählich in sich selbst verlischt. (ES II, 217)

Zwei Wertentscheidungen werden verknüpft, deren eine setzt voraus, dass kurzes, aber emphatisches ‚Leben1‘ ranghöher als langes, aber durchschnittliches ‚Leben2‘, also zu bevorzugen sei, wobei freilich bei der Setzung Leben1 > Leben2 Maria wiederum nicht um ihre Meinung befragt wird; deren andere postuliert, vor Gott gelte ‚Menschenleben‘ < ‚großes Kunstwerk‘, was im Rahmen traditioneller Religion als blasphemisch gelten darf. Indem Ego Marias Tod in Kauf nimmt, würde er somit sowohl Maria als auch der Kunst etwas Gutes tun und sein ‚Gott‘ segne das ab. „Noch am selben Abend“ bespricht Ego mit Maria die gemeinsame „fluchtartige Abreise“: Ohne Bedenken, ja voll Entzücken erklärte sich Maria einverstanden. Sie machte kein Hehl aus ihrer völligen Gleichgültigkeit gegenüber dem priesterlichen Segen. (ES II, 218)

Man plant, die Zustimmung der Mutter von unterwegs einzuholen, und reist tatsächlich ab. Nun setzt sich nicht nur Ego, sondern auch Maria erstaunlich schnell – es sind gerade eben sechs Tage vom Liebesausbruch bis zur Entscheidung zur „Flucht“ – und radikal über die Normen hinweg, die für eine junge, zudem sexuell unerfahrene Frau aus dem Bürgertum seinerzeit galten: In der ‚offiziellen Moral‘ ist der bürgerlichen Frau schließlich Sexualität nur in der Ehe erlaubt; sowohl der Verlobung als auch ab da der Ehe­schließung haben längere Bedenkzeiten voranzugehen – so ist etwa Vollbringer, wie sein Nachwort belegt, mindestens zwei Jahre vor seiner Ehe erst einmal ‚verlobt‘ (während Ego und Maria unverheiratet bleiben); die Frau, die sich allzu schnell den männlichen Wünschen ergibt, mindert dadurch ihren Wert bis herab zur Quasi-‚Hurenhaftigkeit‘ und zieht sich die Verachtung des Mannes zu.4 Auch die kulturell erwartbare Religiosität bedeutet ihr nichts. All das ist hier – wie auch in anderen Texten Schnitzlers – außer Kraft gesetzt: Schnelligkeit und Radikalität der Entschlüsse werden im Letzten Brief eindeutig positiv bewertet. Man reist – ein beliebtes Ziel damaliger Hochzeitsreisen – nach Italien und beginnt mit dem südlichsten Punkt, Neapel, von dem aus man sich ab 4 In bürgerlichen Milieus galt dieses seltsame Wert- bzw. Normensystem in Deutschland wohl noch bis in die frühen 1960er Jahre.

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da in Richtung Norden bewegt, es folgt Rom, dann Florenz. Abgereist in der „düster großartige[n] Stimmung, […] ein Liebender und Mörder zugleich“ zu sein, gelangt Ego zu der beglückenden Einbildung, daß gerade die Leidenschaftlichkeit unserer Beziehungen Marias Herzleiden aufs günstigste zu beeinflussen schien […]. Aller Ehrgeiz meines Berufs, ja alle Eitelkeit des Menschentums schien damals von mir abzufallen. Da zu sein, zu lieben, geliebt zu werden, die Welt zu genießen, ohne den lächerlichen Wahn, sie nachbilden zu müssen, mich an dem zu freuen, was Größere geschaffen, ohne den neidvollen Gram, den wir Ehrgeiz nennen, war mir genug, mehr als genug, ward mir Seligkeit an sich. (ES II, 219)

Hier wird erstmals im Text ‚leidenschaftliche Liebe‘ in Opposition zu ‚künstlerischem Ehrgeiz‘ gesetzt, also die angebliche eigene Bestimmung durch einen anderen Wert ersetzt: ‚Liebe‘ > ‚Kunstproduktion‘. Als es Sommer und heiß in Florenz geworden ist, fällt Maria im Abstand von zwei Tagen jedesmal in einen todesähnlichen Zustand; beim ersten der beiden Anfälle verweigert sie die Hinzuziehung eines Arztes, beim zweiten, schlimmeren Anfall beruhigt der von Ego nun doch herbeigerufene Arzt zwar Maria, äußert sich aber Ego gegenüber eindeutig: Maria war verloren, ein Ende, ob nun binnen weniger Tage oder erst in Monaten, unausbleiblich. Linderung konnte freilich geboten werden, aber wenn man etwas für sie wünschen, erhoffen, erflehen wollte, so war es nur das eine, daß sie aus einem ihrer Anfälle nicht mehr erwachte. (ES II, 221)

Während Ego über dieses Todesurteil informiert ist, aber darüber nicht mit Maria spricht, bleibt unklar, wie diese ihre Lage einschätzt. Auf Empfehlung des Arztes reist man in einen kühleren und waldigen Ort in den Dolomiten ab. Wenn Ego zu einem längeren Spaziergang aufbricht, glaubt er aus der Art, wie sie ihn jeweils verabschiedet, schließen zu können, „daß es auch ein Abschied auf ewig gewesen sein konnte und daß sie es wußte“ (ebd.). Was nun eintritt, ist eine weitere Intensivierung und Radikalisierung der Beziehung: Und jetzt erst wurde es wahr, daß wir einander – wurde es für mein Gefühl zum ersten Male wahr, daß überhaupt zwei menschliche Wesen einander wirklich anzugehören vermochten. Denn auch in den innigsten Verbindungen, bei vollkommener gegenseitiger Treue, waltet in den Tiefen unseres Wesens der Drang von Frau zu Mann und Mann zu Frau unbeirrt nach ewigen Gesetzen weiter, ist auch nach weiteren Liebesmöglichkeiten keine Sehnsucht vorhanden, ja, graut es die innig Verbundenen selbst vor dem Spiel mit solchen Möglichkeiten – das Wissen um sie, als von der Natur selbst gewollt, ist nicht fortzudeuten und fortzudenken. Aber auch dieses bescheidenen unbewußten Maßes von Freiheit hatten Maria und ich sich in diesen Tagen begeben. Wir waren etwas Unlösliches, Unteilbares, wir waren wahrhaft eins geworden, einander nicht wie andere in Schuld – nur in Seligkeit verfallen waren wir einander. (ES II, 221f.)

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Auch in anderen Texten Schnitzlers findet sich diese anthropologische Annahme, dass auch in faktisch (z.B. Traumnovelle) oder potentiell (z.B. Ko­ mödie der Verführung ) guten bzw. sehr guten Beziehungen weiterhin ein solcher ‚natürlicher Drang‘ zu anderen potentiellen Sexualpartnern bestehe; zu Schnitzlers Ehre sei angemerkt, dass diese Annahme auch für Frauen gemacht wird, also nicht etwa der Legitimation potentieller männlicher Untreue dient. Erst die Tilgung dieses ‚natürlichen Drangs‘ in der Psyche eröffnet hier die Möglichkeit, „wahrhaft eins“ zu werden. Dieser – hier als erfüllt gesetzte – Wunsch geht letztlich auf Platons im Symposion erzählten, Aristophanes in den Mund gelegten Mythos zurück, demzufolge einander begehrende Partner im Idealfall Hälften einer ursprünglichen, vom Gott Zeus mit Gewalt getrennten Einheit seien, die die Wiedervereinigung anstrebten: ein Mythos, der seit der Renaissance, spätestens seit Marsilio Ficinos De Amore (1469), in Gestalt des Strebens nach einer solchen absoluten Einheit immer wieder durch die europäischen Liebeskonzeptionen geisterte.5 Für solche unbedingte, uneingeschränkte Vereinigung, solche ‚Verschmelzung‘ erscheint Ego denn auch „Liebe“ „ein allzu armseliges Wort“ (ES II, 222). Aber der extrem-intensive Zustand erweist sich selbst als zeitlich befristet: Nur durch ein Gesetz sollte ich noch im allgemein Menschlichen verwurzelt bleiben, durch jenes einzige zugleich, dem wir alle unweigerlich unterworfen sind und das die übrigen in einem gewissen Sinne aufhebt, nämlich, daß jedem Seelenzustand nur eine begrenzte Dauer gegönnt ist, über deren Ausmaß unser Wille nicht entscheidet. (ES II, 222f.)

Diese Regularität, dass ‚emphatisches Leben‘, also auch ‚emphatische Liebe‘, immer ein nur temporär möglicher Zustand ist, von dem man irgendwann in die ‚Normalität‘ zurückfällt, wird in der Frühen Moderne generell angenommen. Das Erlebnis eines solchen Absturzes macht Ego bei einer seiner Bergwanderungen, bei denen ihn Maria nicht begleiten kann: Das Gefühl eines ‚Nicht-mehr-Einsseins‘ überkommt ihn, empfunden als „qualvolle[s] innere[s] Versagen“ (ES II, 223). Auf den emotionalen Absturz – „so waren wir beide – Menschen wie andere auch“, er selbst nur „ein Liebender wie andere auch“ (ES II, 224) – ist er versucht, mit einem physischen „Absturz in die Tiefe“, dem „einzig gerechten Abschluß meines 5 In Ficinos De Amore (lat.-dt. Hg. von Paul Richard Blum. Hamburg 2004, S. 96f.) heißt es: „Postquam natura hominum ita divisa fuit, quisque sui dimidium cupiebat“ bzw. „Nachdem nun die Menschennatur dergestalt getrennt war, suchte ein jeglicher seine Hälfte“. Michel Houellebecq hat in La possibilité d’une île (Paris 2005, S. 478) den Wunsch, „que de deux ils ne fassent plus qu’un“, als europäisches Phantasma beschrieben: „C’est ce livre [= Platon] qui avait intoxiqué l’humanité occidentale, puis l’humanité dans son ensemble […].“ Ein letzter, wenn auch ziemlich heruntergekommener Rest dieses Wunsches liegt etwa in der deutschen bürgerlichen Redensart vor, den Ehepartner als „meine bessere Hälfte“ zu bezeichnen.

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Daseins“, zu antworten, wovon ihn nur die Überlegung abhält, welche Folgen für Maria dieses ihr unerklärliche Ereignis haben würde. Und er ist entschlossen, Marias Leben, sofern möglich, zu erhalten. Freilich zeigen sich immer wieder Symptome ihrer Erkrankung, und Maria selbst fragt Ego eines Tages, „ob sie nicht doch gefährlicher krank sei, als man es ihr bis­her zugestanden habe“ (ebd.). Man konsultiert in Folge dessen einen deutschen Arzt auf der Durchreise, der – wiederum nur Ego gegenüber – die negative Progno­se des Florentiner Arztes bestätigt, wenn auch mit dem Hinweis, dass es keine Gewissheit gäbe und Wunder möglich seien. Wegen des nahenden Herbstes übersiedeln Maria und Ego in eine Villa an einem der ober­italienischen Seen, wo sich Ego aufgrund der ärztlichen Mah­nungen zu einem „geschwisterlichen Zusammenleben“ (ES II, 225), also einer asexuellen Beziehung, verpflichtet fühlt; da Maria sich erholt, glaubt Ego zeitweilig an die Möglichkeit einer Genesung: Allmählich erst kam mir die klare Erkenntnis wieder, daß Maria eine zum Tode Bestimmte sei; nun ja, sie würde sterben, hier im Ort begraben werden, vielleicht sogar im Park, und dann würde ich eben abreisen, vielleicht in meine Heimat, vielleicht anderswohin, nach einer gewissen Zeit würde ich auch wieder zu arbeiten anfangen, wie ich es auch nach anderen Trauerfällen, nach dem Tode meiner Mutter, einer Jugendgeliebten getan […]. (ES II, 226f.)

Sogar die Möglichkeit einer reichen Heirat – er hat über seine Verhältnisse gelebt – geht ihm durch den Kopf: Solch ein Mensch war ich damals. Kein Schurke, das wäre ein viel zu großes Wort; nein, einfach ein Wicht – leer, ausgelöscht, seelenlos. Mein Gott, was machen wir alles durch in unserem kurzen Dasein. (ES II, 227)

Aber auch dieser Zustand emotionaler Leere und Erschöpfung, des Nicht-Lebens im emphatischen Sinne, ist nicht definitiv, er dauert eini­ ge Tage, bis wir eines Abends am Seeufer uns wie durch Zufall wieder einmal ansahen, ich sie, sie mich, und jeder an des andern Blick mit Staunen und Ergriffenheit zum Dasein wieder erwachte. Es war derselbe Blick, ganz derselbe, den wir einer in des andern Auge gesenkt an jenem Ballabend, da wir plötzlich gewußt hatten, daß wir einander angehörten, und mehr als das, daß wir einander verfallen waren. Wie zu einem ersten Kuß sanken wir einander in die Arme – und jetzt erst war es das Glück. Sie wußte, daß sie verloren war, und ich konnte nicht daran zweifeln, daß sie es wußte. Aber nie sprachen wir davon, und sie erwartete, sie sehnte sich danach, ich las es in ihrem heischenden Blick, an meinem Herzen ihr Leben auszuhauchen. Ich wußte damals, also vor drei Tagen wußt’ ich noch, daß Marias Tod auch der meine sein würde. (ebd.)

Die einzig mögliche Antwort auf die Frage, warum erst diese Wiederkehr des emphatischen Lebens, diese Wiederherstellung des Ausgangszustands,

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als „Glück“ benannt wird, scheint mir darin zu bestehen, dass erst jetzt eine Gleichheit der Voraussetzungen beider hergestellt ist: Nicht nur er weiß jetzt, dass sie sterben wird, und das bedeutet, dass sie nicht mehr nur das von ihm für seine Bedürfnisse manipulierte und funktionalisierte ‚Objekt‘ ist, sondern beide bei Wissensgleichheit in – wenn auch unausgesprochenem – Konsens handeln und er ihr Schicksal durch seine Todes­bereitschaft auch zu dem seinen zu machen gewillt ist. Wo bisher er fremdbestimmend über sie entschied, hat jetzt sie selbstbestimmt ihr absehbares Schicksal akzeptiert und damit im Nachhinein sein Verhalten wenigstens partiell legitimiert, auch wenn ihr seine früheren Einstellungen und Pläne unbekannt bleiben. Ego reflektiert über den Tod und misstraut seinem „Vorsatz, meinem Leben nach Marias Hinscheiden ein Ende zu machen“. Denn Wenn wir uns alles vorzustellen vermögen – daß einer, der da ist, nicht mehr da sein wird, das zu fassen, wird uns immer versagt sein. Alles übrige ist nur Gradunterschied, nicht Gegensatz: sogar Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit sind nur Gradunterschiede, Wesensunterschied gibt es nur einen einzigen – den zwischen Leben und Tod. (ES II, 228)

Mit einer Deutlichkeit wie meines Wissens in keinem der sonstigen literarischen Werke Schnitzlers wird hier ein grundsätzliches ideologisches Prinzip der Realitätsstrukturierung und -kategorisierung in seinem Œuvre (und anderen Werken der ‚Frühen Moderne‘) ausgesprochen. Noch die Literatur des ‚Realismus‘ hatte die Welt zumindest an der Textoberfläche durch disjunkte, eindeutig oppositionelle Kategorien strukturiert: Etwas war entweder X oder Non-X, ‚gesund‘ vs. ‚krank‘, ‚gut‘ vs. ‚böse‘, usw., selbst wenn in manchen Texten dieses Organisationsprinzip latent durch eine andere Realitätskonzeption unterlaufen wird, die eben in der ‚Frühen Moderne‘ dann manifest werden wird.6 Die qualitative, oppositionelle Realitätsstrukturierung wird durch eine quantitative Skalierung substituiert, bei der Grade von X bzw. Non-X zu unterscheiden sind, es folglich also z.B. um den Grad an ‚Gesundheit‘ bzw. ‚Krankheit‘, den Grad an ‚Moralität‘ bzw. ‚Amoralität‘ usw. geht. Natürlich ist diese quantitative Realitätsstrukturierung ‚realitätsadäquater‘ als die qualitative. Wo die disjunkte Realitätskategorisierung die Fiktion klarer Grenzen zwischen alternativen Größen ermöglichte, hebt eine solche Skalierung feste Grenzen auf; die Grenze wird unscharf und verschiebbar, womit auch eindeutige moralische Bewertungen nurmehr allenfalls für die quantitativen Extremwerte der Skala möglich sind. Zudem ermöglicht die Auflösung der traditionellen Grenzen in Skalierungen eine 6 Vgl. z.B. Michael Titzmann: „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘“; ursprünglich 2002, jetzt auch in Titzmann 2009 (Anm. 3), S. 275–307.

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neue, komplexe, differenzierte Psychologie, derzufolge in ein und demselben Individuum, wie hier in Ego, ‚positive‘ und ‚negative‘ Zustände und Einstellungen auftreten und einander abwechseln oder als Ambivalenz koexistieren können. Von beidem, der neuen Moral und der neuen Psychologie, machen Schnitzlersche Texte, darunter massiv eben auch Der letzte Brief, Gebrauch. Die Opposition zwischen der qualitativen und der quantitativen Strukturierung der dargestellten Welt wird bewusst und manifest gemacht, indem der neuen, quantitativen Weltsicht Egos im Kommentar Vollbringers die ältere, qualitative Konzeption explizit konfrontiert wird. Dem entspricht die explizite Referenz auf literarische Modelle: Schon eingangs spricht Ego im Brief an Vollbringer von „meiner Schuld und Sühne, wie andere dir sympathischere Autoren sich ausdrücken dürften“ (ES II, 206), womit natürlich auf Dostojewkis gleichnamigen Roman (1866/67) angespielt wird.7 Auch wird das Geschehen des Briefes auf 1887, also ein Datum, in dessen Umkreis der ‚Beginn‘ der ‚Frühen Moderne‘ angesetzt werden kann, datiert. Dass Vollbringers schriftliche Reaktion erst 10 Jahre später, also 1897, erfolgt, illustriert das Fortleben der älteren literarischen und moralischen Modelle, während sich die ‚Frühe Moderne‘ schon konstituiert hat. Der letzte Brief ist insofern auch ein Metatext zu seiner eigenen Epoche, insofern er in der Opposition Vollbringer vs. Ego auch den Wandel vom Literatursystem ‚Realismus‘ zu dem der ‚Frühen Moderne‘ abbildet; nicht zuletzt deshalb geht es hier ja auch um Literatur und die Bedingungen von deren Produktion. Doch zunächst zurück zu Egos Brief. Während Ego weiterschreibt, ist er sich sicher, der bevorstehende Tod Marias – die im Nebenzimmer, von einer Spritze Vollbringers betäubt, im Sterben liegt – würde ihn tatsächlich zum Dichter machen und ich bliebe auf Erden, um meine Sendung zu erfüllen. Und das Werk ohnegleichen, das, mit dem ich gerechtfertigt wäre vor Gott, vor mir selbst und vor der Welt – ich würde es schaffen. Und das soll nicht sein. Das darf nicht sein. Maria ist ein Totenopfer wert, wie es noch keinem sterblichen Wesen dargebracht wurde. Ich lösche mich aus, eh’ ich mich vollende. Darum habe ich mich entschlossen - - - (ES II, 228)

Der Text bricht ab, weil Ego von der Krankenschwester ans Bett Marias gerufen wird, die „in den letzten Zügen“ (ES II, 229) liegt; Ego kehrt in sein Zimmer zurück und erschießt sich. Seine letzten Zeilen bestätigen noch einmal den Rang, den in seiner Werthierarchie das ‚große Werk‘ und die dadurch erreichbare ‚Selbstverwirklichung‘ einnehmen – und beide werden dem Wert ‚Maria‘ subordiniert. Dass sich Ego erschießt, ohne Marias tatsächlichen Tod abzuwarten (was ihm Vollbringer implizit vorwerfen 7 Vgl. zu den intertextuellen Relationen Achim Aurnhammer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erz­ählen. Berlin u.a. 2013.

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wird), ist motiviert aus seiner expliziten Befürchtung, dass er von seinem Suizid-Plan abkommen könne; es ist also eine Strategie zur Verhinderung eines Rückfalls in den Zustand eines „Wichts“, als den er seine zeitweiligen Einstellungen charakterisiert hat. Nach der Überleitung durch die anonyme Herausgeberinstanz setzt nun also die hinterlassene Notiz Vollbringers ein. Der Name des Arztes ist Programm. Er ‚vollbringt‘ etwas, erzielt also eine Wirkung nach außen, wohin­gegen Ego darauf verzichtet hat, ‚sich zu vollenden‘, was eine Wirkung nach innen, auf sich selbst wäre (deren Ergebnis freilich auch eine Wirkung nach außen – das ‚Werk‘ – hätte). Der Innenperspektive Egos auf sich wird die Außenperspektive Vollbringers auf Ego konfrontiert. Die Anteile der beiden am Gesamttext sind auch sprachlich erheblich verschieden gestaltet. Der komplexen, abwägenden, Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten zulassenden Sprache Egos steht die vergleichsweise einfache Sprache Voll­bringers gegenüber, die auf Eindeutigkeit von Feststellungen und Bewertungen aus ist, kein Zögern, keine Zweifel kennt und ein unerschütterliches, ge­sichertes Welt- und Menschenbild ausdrückt. Vollbringers Schreiben ist so plakativ, dass es schon fast wie eine Parodie wirkt. Ego hat Vollbringer in seinem Brief unterstellt, dieser aus beengten Verhältnissen aufgestiegene Jugendbekannte sei erst spät zu einiger personaler Souveränität gelangt, wozu der berufliche Erfolg und die Gewährung weiblicher – nicht bezahlter – Zuwendung beigetragen habe; unterstellt wird somit auch, er sei früher erotisch auf Prostituierte angewiesen gewesen; unterstellt wird ferner, er habe Aversionen und Ressentiments gegenüber Ego, dem schon anfangs sozial und erotisch Begünstigten. Vollbringer bestätigt die Existenz solcher Abneigung gegen Ego und motiviert sie mit dessen ‚amoralischen‘ Einstellungen. Unzweideutig geladen mit Ressentiments beschreibt er Egos Suizid, bevor Marias Tod eingetreten war, wo er es für geraten hielt, sich möglichst rasch ins Jenseits zu befördern, um nicht doch am Ende genötigt zu sein, das versprochene Wunderwerk zu schaffen – wozu er übrigens, wie nach der Lektüre des Briefes wohl niemand zweifeln wird, völlig unfähig gewesen wäre. Denn ohne wahre Sittlichkeit, man mag sagen was man wolle, gibt es kein Genie, und daß es an jener dem nicht unbegabten Poeten durchaus gemangelt, liest man aus jeder Zeile seines Abschiedsbriefes mit aller wünschenswerten Deutlichkeit heraus. (ES II, 229)

Vertreten wird hier also eine extrem konservative Konzeption von Literatur (bei der weite Teile der europäischen Literatur seit der Antike auf der Strecke blieben). Vollbringer fügt hinzu, er habe mit seiner Frau auf seiner Hochzeitsreise in Wien eines der Dramen Egos im Theater gesehen und sie hätten sich erst spät „von dem peinlichen Eindruck dieses Abends erholen“ (ebd.) können. Nicht ohne Häme fügt er hinzu, keines der Stücke Egos werde jetzt, d.h. 1897, mehr gespielt:

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Die Unsterblichkeit dauert manchmal nicht so lange, als man sich bei Lebzeiten einbildet. Er ruhe in Frieden. (ES II, 230)

Die abschließende, traditionelle christliche Formel kontrastiert auffällig mit dem übel wollenden Vorgängersatz. Denn Ego hatte für seine bisherigen Werke nie eine solche „Unsterblichkeit“ beansprucht. Zutreffend ist freilich, dass unentscheidbar bleibt, ob Ego nach dem Tode von Maria das erhoffte große Werk hätte schaffen können; unentscheidbar ist es nicht wegen Egos fragwürdiger Moralität, wie Vollbringer annimmt, sondern weil natürlich Egos Fähigkeiten und seine psychischen Reaktionen auf Marias Tod nicht so berechenbar gewesen wären, wie Ego annimmt. Der von ihm vermutete Ausgang des Experiments mit sich selbst konnte, da Ego noch keine solche Situation erlebt hatte, notwendig nur ein völlig hypothe­tischer sein. Werfen wir noch einen Blick auf Schnitzlers frühere Pläne bzw. Entwürfe zum Letzten Brief. 8 In einem Tragische Anekdote betitelten Plan von 1910 will ein Dichter die „Gefühle eines Witwers“ darstellen, wozu ihm die Erfahrung fehlt. Daher sucht er sich ganz gezielt eine todkranke Frau, in die er sich erst später verliebt. Er begeht Suizid, was sie nicht versteht. Sie stirbt anschließend und beide erhalten ein gemeinsames Grab. Auch in einem Entwurf von 1912 wiederholt sich diese Situation, nur dass hier schon eine Leidenschaft ihrerseits für ihn aufgrund seiner Werke existiert, bevor sie ihn überhaupt persönlich kennen gelernt hat. In einer zweiten Variante von 1912 wird zudem eingangs ein gemeinsamer Tanz mit der Frau, hier Alberta geheißen, eingeführt, bei dem sie in Ohnmacht fällt. Seine Liebe setzt erst in der Ehe ein, wiederum begeht er Suizid, was sie, die wiederum wenige Stunden danach stirbt, nicht versteht. Am Ende des Entwurfs steht die Frage „Ein hinterlassener Brief ?“. 1913 wird die histoire tatsächlich als Brief an sie, die diesmal Agathe heißt, konzipiert. Dabei bleibt offen, ob er sterben und ihr den Brief hinterlassen will. Spätestens 1914 geht es nicht mehr um die „Gefühle eines Witwers“, sondern generalisiert um das Fehlen eines „ungeheuren Schmerzes“ in seinem Leben. Hier wird auch ihr – die in dieser Fassung Albertine genannt wird – Leiden als „Herzfehler“ spezifiziert. Auch der zeitweilige Niedergang der Liebe und deren Wieder­aufleben ist schon vorgesehen. Der Suizid des Dichters ist in diesem Fall dem Verzicht auf „irgend ein herrliches Kunstwerk“ äquivalent. Sie soll nichts von seinen ursprünglichen Plänen – „Mit ihr leben, mit ihr glücklich sein und sie töten. Ja, das wäre es.“ – erfahren. Laut „Nachschrift des Arztes“ stirbt sie hier vor ihm. Auf dem Weg bis zur definitiven Fassung von 1917 hat das Projekt also entscheidende Transformationen erfahren. Invariant bleibt der Kern 8 Quelle sind die in Anm. 1 genannten nachgelassenen Typoskripte Schnitzlers.

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der ‚Versuchsanordnung‘ Schnitzlers: Ein Dichter-Ego will durch den Tod einer Frau Gefühle erfahren, die ihm bislang fremd sind, ihm aber notwendig für ein künftiges Werk erscheinen; verhindert wird der Plan Egos durch Liebe zur Frau, was ihn zum Suizid bewegt. In den Entwürfen wird mit unterschiedlichen Besetzungen einer Reihe von Variablen auf der discours- wie auf der histoire-Ebene experimentiert. Was erstere betrifft, wird erst 1913 die Form eines hinterlassenen Briefes, zunächst an die Frau adres­siert, erwogen, die schließlich durch den Arzt als Adressaten substituiert wird; damit bleibt ihr die niederschmetternde Erkenntnis, sie sei von Ego nur benutzt worden, erspart. Nur einige hauptsächliche Umbesetzungen auf der histoire-Ebene seien genannt. In den Varianten, in denen er sich tötet, bevor sie stirbt, bleibt sie mit dem quälenden Rätsel zurück, warum er Suizid begangen habe – ein Problem, das in der Endfassung durch den praktisch gleichzeitigen Tod beider getilgt wird. Die ersten Entwürfe sind insofern brutaler als die Endfassung, als Ego von vornherein bewusst und gezielt eine todkranke Frau sucht, die er zunächst nicht einmal liebt, während sich am Ende zunächst eine Liebe ‚auf den ersten Blick‘ ereignet und Ego erst – wenn auch nur kurz – danach ihr Leiden diagnostiziert und auf sein vorher nicht geplantes Experiment verfällt, das nunmehr von Anfang an nicht nur eines mit der Frau, sondern zudem eines mit sich selbst ist. Es wird nicht eine todkranke Frau zielgerichtet gesucht, sondern eine gefundene Frau erweist sich als todkrank. Die Funktionalisierung der Partnerin wird also durch die vorgängige Liebe abgeschwächt, hingegen die Brutalität gegenüber Ego selbst gesteigert, insofern dieser nicht erst in der Beziehung allmählich die Frau liebt, sondern schon von Anfang an und dennoch mit ihrem Tode rechnet. Die Ersetzung der gezielten Suche nach den „Gefühlen eines Witwers“ durch die Suche nach einem „ungeheuren Schmerz“ ermöglicht nicht nur die Substitution der ursprünglichen Ehe der beiden durch eine definitive nicht-eheliche Beziehung, womit zugleich auch ein Stück traditioneller, religiös überdeterminierter ‚Moral‘ getilgt wird: Diese Ersetzung von Witwer-Gefühlen durch einen generalisierten Schmerz tilgt die Vorgabe eines konkreten Werkes über einen Witwer; stattdessen wird generell und unspezifiziert ein ‚großes Werk‘ angestrebt, das zudem mit dem epochalen Thema und Wert der ‚Selbstverwirklichung‘ korreliert wird, somit auch mit der Frage, was dafür zu tun ‚legitim‘ bzw. nicht-‚legitim‘ ist. Sowohl psychologisch wie moralisch – sprachlich ohnedies – wird in der Endfassung ein ganz anderes Niveau und eine weitaus höhere Komplexität erreicht. Aber auch im Gesamtœuvre Schnitzlers, nicht nur in der Textgenese des Letzten Briefes, lassen sich ganze Textgruppen immer wieder als Variationen von gemeinsamen Ausgangskonstellationen beschreiben, als Transformationen, bei denen experimentell die Besetzungen potentieller Vari­

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abler ausgetauscht werden; auf Schnitzlers Werk scheint mir der Begriff des „roman expérimental“ aus dem gleichnamigen Essai Zolas von 1880 mindestens ebenso – wenn nicht mehr – zuzutreffen als auf Zola selbst.9 Ich beschränke mich auf einige Anmerkungen zu Schnitzlers erzählerischem Werk in Hinblick auf den Letzten Brief. Formal steht Der letzte Brief zunächst in einer Reihe von Texten, in denen hinterlassene Briefe aufgefunden werden (Der Witwer, Andreas Thameyers letzter Brief, Der Tod des Junggesellen): von solchen, für die der Nachlass be­stimmt war (Thameyer, Tod des Junggesellen), von solchen, für die er nicht bestimmt war (Witwer), Briefe von Männern (Thameyer, Junggeselle), Liebesbriefe für Frauen (Witwer), Briefe an Tote (Witwer), Briefe von Toten (Thameyer, Junggeselle); die Toten können Suizid begangen haben wie Thameyer oder Ego im Letzten Brief oder sind einem natürlichen Tode erlegen wie der Junggeselle oder die Frau des Witwers. Wie auch der Letzte Brief haben sie alle mit Erotik zu tun: Der Witwer muss feststellen, dass seine tote Frau ihm mit seinem Freunde untreu war; Thameyer verleugnet die Untreue seiner Frau mit einem Afrikaner; der tote Junggeselle informiert seine Freunde, dass er sie alle mit ihren Frauen betrogen hat. Eine zweite Serie bilden die Texte, in denen eine Figur sich mit dem Tod oder Sterben einer/eines (mehr oder weniger) Geliebten auseinander zu setzen hat (Sterben, Die Toten schweigen, Der Andere, Ein Abschied, Der Witwer, Die Nächste, Der Mörder, Der letzte Brief      ). Tot oder sterbend kann dabei der Mann (Sterben, Die Toten schweigen, Der tote Gabriel, Der Sekundant ) oder die Frau sein (alle anderen Beispiele); die Beziehung zu dem oder der Toten kann eine nicht-eheliche, eine eheliche oder ein Ehebruch sein. Die Figur, auf der der Fokus liegt, ist mit Ausnahme von Sterben, Die Nächste und Der letzte Brief von einer dritten Figur betrogen oder betrügt selbst eine(n) Dritte(n); das verbindet diese Serie wiederum mit Witwer, Thameyer und Junggesellen. Man sieht schon an diesen wenigen Beispielen, wie die Texte jeweils bestimmte Bedingungen der anderen der jeweiligen Serie variieren und quasi Transformationen voneinander darstellen. An einem Text, Der Mörder (Zs. 1911; Buch 1912), der in mancher Hinsicht die meisten Gemeinsam­ keiten mit dem Letzten Brief aufweist, sei das illustriert. Der junge Jurist Alfred ist seit über einem Jahr mit einer jungen Frau einer niedrigeren Schicht, Elise, nicht ehelich liiert, fühlt seine Neigung nachlassen und befürchtet, in einer Ehe mit ihr zu enden. In Gesellschaft lernt er die Tochter eines reichen Fabrikanten, Adele, kennen, um die er wirbt, ohne sich von Elise getrennt zu haben, mit der er munter weiterhin befriedigende Sexualität betreibt. Adeles Vater erlegt Alfred eine Trennung von Adele 9 Dem Text Zolas geht bekanntlich Claude Bernards Introduction à l’étude de la médecine expéri­ mentale (1865) voraus – und nicht nur die Medizin, sondern auch die Psychologie wird im 19. Jahr­hundert ‚experimentell‘.

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für ein Jahr auf, in welchem sich Adele und Alfred ‚prüfen‘ sollen, die sich ‚Treue‘ schwören. Alfred hat sich noch nicht von Elise getrennt, mit der er sich von Genua aus auf eine Schiffsreise nach Ceylon (Sri Lanka) begibt. Er betrügt Elise mental, indem er in intensiven Liebesnächten mit ihr sie in seiner Phantasie durch Adele substituiert. Es wiederholen sich Anfälle von Elises Herzleiden; der Schiffsarzt mahnt ihn zu sexueller Enthaltung, die von ihr selbst abgebrochen wird. In ihrer leidenschaftlichen Hingabe glaubt er ihre Bereitschaft zu erkennen, an ihrer Liebe zu ihm zu sterben, womit er, um sich ihrer zu entledigen, sehr einverstanden ist. Doch da sie von der regelmäßigen Sexualität eher zu erstarken scheint, reift in ihm der Plan, sie zu ermorden. Er beschafft sich eine größere Menge Morphium, die er ihr in ihren Schlaftrunk gießt, bevor er sich noch einmal mit ihr sexuell vereinigt; sie trinkt, er sieht ihrem Todeskampfe zu, der Schiffsarzt konstatiert den Tod, Alfred täuscht Trauer vor. Er reist zurück nach Wien, wo ihm Adele erklärt, beider Beziehung sei zu Ende, da sie sich vor einem halben Jahr mit einem anderen verlobt habe; er gesteht ihr sogar, quasi als Zeichen seiner Liebe für sie, seinen Mord, was sie ungerührt zur Kenntnis nimmt. Er erwägt Suizid, wird aber von einem heimlichen Verehrer Elises zum Duell gezwungen, in dem Alfred fällt. Wo also Ego Maria liebt und sich um ihretwillen von Syringe getrennt hat, ist Alfred wegen seiner neuen Liebe zur ‚standesgemäßen‘ Adele willens, Elise zu verlassen, bringt aber den Mut nicht auf, die Trennung zu vollziehen, sondern benutzt Elise als Substitut für die noch nicht verfügbare Adele. Beide Protagonisten gehen auf Reisen, Ego mit der geliebten Frau, Alfred mit der nunmehr ungeliebten; beide Frauen haben ein Herzleiden, und in beiden Fällen dient Morphium als Medikament für die gelegentlichen Anfälle. Ego rechnet mit Marias Tod und erwartet die Erfahrung tiefsten Schmerzes, Alfred wünscht Elises Tod und erhofft sich dadurch Befreiung von ihr und neue Liebe mit Adele. Beide vermuten irgendwann, die Partnerin sei bereit zu und einverstanden mit einem Tod in den Armen des geliebten Mannes – Ego wahrscheinlich zu recht, Alfred sicherlich nicht, zumal es kein Indiz gibt, Elise wisse von ihrer Lebensgefahr. Maria stirbt nach der Morphium-Injektion durch Vollbringer, aber nicht daran; Elise wird vom geliebten Alfred mit Morphium ermordet. Ego tötet sich knapp vor Marias Tod; Alfred überlebt Elise und wirbt sofort um Adele. Es sollte deutlich geworden sein, in welch hohem Ausmaß die beiden Texte quasi komplementär sind, indem zentrale Variable oppositionell besetzt werden. Schnitzler lässt nicht nur gelegentlich Figuren mit einander Experimente machen: Sein Erzählen ist selbst auch in hohem Grade experimentell.

Max Haberich

Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann: Konflikte deutsch-jüdischer Identitäten1 Es war Schnitzler, der Wassermann in den literarischen Kreis ‚Jung Wien‘ einführte, nachdem dieser um die Wende zum 20. Jahrhundert in die k.u.k. Hauptstadt gezogen war. Die Schriftsteller freundeten sich an und kor­ respondierten über 30 Jahre. Beide sahen sich für die Dauer ihrer jeweiligen literarischen Laufbahn mit antisemitischen Angriffen konfrontiert, zu welchen sie sowohl im Werk als auch in autobiographischen Schriften Stellung bezogen. Beide haben sie ihre Ansichten zur jüdischen Religion, zum Zionis­ mus, zur Konversion zum Christentum und zum jüdischen Dilemma allgemein in ihre Romane eingeflochten. Bei Schnitzler geschah dies hauptsächlich in Professor Bernhardi (1912) und Der Weg ins Freie (1908), bei Wassermann in Die Juden von Zirndorf (1897) und ver­schiedenen Essays, insbesondere Der Ju­de als Orientale (1913). Indem man diese Texte dem Pro­zess des ‚Close Readings‘ unterzieht und dabei mit autob­iographischen Do­kumenten und Aufsätzen gegenliest, ist es möglich, die Figuren aus­zu­machen, deren Ansichten Ähnlichkeiten mit denen Schnitzlers und Wasser­manns aufweisen. Diese Momente, in denen sich Autobiographie und Literatur überschneiden, geben nicht nur die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Wien wieder, sie vertiefen auch unser Verständnis von Schnitzlers und Wassermanns einzigartigen Positionen in der jüdischen Identitätskrise des frühen 20. Jahr­hunderts. Beide Autoren gelangten schließlich zu recht unterschiedlichen ethischen und philosophischen Stellung­nahmen in der sogenannten ‚Judenfrage‘. In Anbetracht dessen – sowie der jahrzehntelangen Freundschaft der beiden Autoren – ist es überraschend, dass bis heute 1 Der Beitrag wurde digital vorab publiziert unter: https://www.academia.edu/3591754/_ Arthur_Schnitzler_und_Jakob_Wassermann_Konflikte_deutsch-jüdischer_Identitäten_ (Abruf März 2017). Für nähere Hinweise zu Schnitzlers Verhältnis zur ‚jüdischen Frage‘ s. Verf.: „‚Ich habe einfach … getan, was ich für das Richtige hielt.‘ Die Entwicklung von Arthur Schnitzlers Stellung zur ‚Judenfrage‘ von Der Weg ins Freie (1908) bis zu Professor Bern­ hardi (1912)“. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge, Bd. 24, 2011–2012, S. 47–66; sowie: Hans Otto Horch und Alexander Schüller: „ Judentum/Zionismus“. In: Schnitzler-Hand­ buch, S. 27–34; dort auch weiterführende Literatur.

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keine vergleichende Studie von Schnitzler und Wassermann unternommen wurde. Im Ganzen scheint es, als sei das, was die beiden Autoren verband, tatsächlich, wie Schnitzler notiert, ein „heiter-ironisches, freundschaftliches Verhältnis“.2 Obwohl sie in ihrer Korrespondenz nicht oft davon sprachen, war doch einer der Hauptgründe für die Dauer ihrer Freundschaft ihr gemein­samer jüdischer Hintergrund sowie ihre ähnlichen Ansichten zur jüdischen Identitätskrise. Je dringender diese Frage für Schnitzler persönlich wurde, um so mehr wurde etwa sein Verhältnis zu Hofmannsthal belastet, von dem er sich zunehmend entfernte. Schnitzler und Wassermann standen beide sowohl dem Zionismus als auch dem Judaismus skeptisch gegenüber, und beide lehnten jüdische Renegaten ab, die zum Katholizismus übertraten. Obwohl es Schnitzler manchmal so vorkam, als sei Wassermann eher an hohen Auflagenzahlen interes­ siert als daran, dauerhafte literarische Kunst zu schaffen, hielt sie doch ihre gemeinsame Überzeugung zusammen, dass sie ihren jüdischen Hintergrund niemals verleugnen und stattdessen dem Antisemitismus entschieden entgegen­treten würden. Ihre Ansätze waren verschieden, aber ihre ethische Haltung war dieselbe. Obwohl sie es nie schriftlich festhielten, wusste jeder die Entschlossenheit des anderen in dieser Hinsicht sehr zu schätzen. Die Dauer dieser Freundschaft spricht, besonders wenn man die komplizierten Persönlichkeiten beider Schriftsteller in Betracht zieht, für sich.

1.  Arthur Schnitzler (1862–1931) Die beiden literarischen Werke, in denen sich Schnitzler explizit und ausführlich mit dem Judentum auseinandergesetzt hat, verdienen es, als Vor- und fortgeschrittene Stufe in einem intellektuellen Entwicklungs­prozess gesehen zu werden, in dem er seine eigene Stellung zum jüdischen Dilemma fand. Der Weg ins Freie stellt hierbei die explorative Phase dar, in der Schnitzler Zionismus, Assimilation, etc. erkundete und fast gleichberechtigt nebeneinander­stellte, aber noch nicht solche entschiedene Kritik am Anti­ semitismus äußerte wie in Professor Bernhardi – was dem Stück schließlich auch das Aufführungsverbot einbrachte. Schnitzlers Position erinnert an diejenige anderer prominenter, unabhängiger deutschsprachiger Juden wie Sigmund Freud oder Stefan Zweig. Sie kann als aufgeklärter apolitischer Individualismus zusammengefasst werden: Aufgeklärt, weil Schnitzler sein Leben lang zum Judaismus eine kritische Distanz einhielt; apolitisch, weil Schnitzler der Politik gegenüber sehr 2 Tb 1909–1912, S. 37.

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skeptisch eingestellt war, was sich in Dramen wie Professor Bernhardi und Fink und Fliederbusch (1917), aber auch in zahlreichen Aphorismen äußert; Individualismus, zumal intellektuelle Freiheit von religiöser oder politischer Parteinahme eines von Schnitzlers grundsätzlichen Prinzipien war, an dem er besonders im Kontext des jüdischen Dilemmas festhielt und zu dem er sich im Jahr 1924 in einem Interview mit James Ben­venisti für den American Hebrew and Jewish Messenger öffentlich bekannte. Eine Vorstufe des starken Individuums wird in Der Weg ins Freie durch Heinrich Bermann repräsentiert und in Professor Bernhardi durch den Protagonisten selbst. 1.1  Der Weg ins Freie : Vorsichtiges Vortasten ohne Festlegung Mit der Publikation des Werks allein, das sich auf das jüdische Bürgertum Wiens fokussierte, hatte sich Schnitzler öffentlich zu seinem jüdischen Ursprung bekannt – so wurde es auch weithin aufgefasst. Der Weg ins Freie selbst verfügt aber über kein bestimmtes Programm oder einen Lösungsansatz zur jüdischen Problematik – es ist ein gesellschaftliches Panorama. Schnitzler stellt die verschiedenen Möglichkeiten intel­lektueller Auseinander­setzung mit dem Antisemitismus, wie sie zur Jahrhundert­ wende im jüdischen Bürgertum Wiens vertreten waren, etwa den Zionismus und die Sozialdemokratie, verhältnismäßig objektiv nebeneinander. Er nimmt selbst nicht Partei und stichelt zwar gegen den Antisemitismus, kritisiert ihn aber nicht offen. Sucht man nach Schnitzlers eigener Position im Roman, findet man nicht etwa bei der Hauptfigur, sondern bei Heinrich Bermann deutliche Parallelen. Seine Stellung zum jüdischen Dilemma formuliert dieser folgender­ maßen: Für unsere Zeit gibt es keine Lösung, das steht einmal fest. Keine allgemeine wenigstens. Eher gibt es hunderttausend verschiedene Lösungen. […] Es kommt nur für jeden darauf an, seinen inneren Weg zu finden. …Sich nicht beirren lassen. Ja, das müsste das tägliche Gebet jedes anständigen Menschen sein: Unbeirrtheit!3

Dies ist eine Frühform der zentralen Idee von Professor Bernhardi : Unbeirrtheit, wenn es gilt, auch bei Anfeindungen an den eigenen Überzeugungen festzuhalten. Im Gespräch mit dem Zionisten Leo Golowski argumentiert Bermann: Und was bedeuten überhaupt politische Ansichten bei Menschen, denen die Politik nicht zugleich Beruf oder Geschäft ist? Nehmen sie den geringsten Einfluss 3 Schnitzler: Der Weg ins Freie. Frankfurt a.M. 1992, S. 236. Alle weiteren Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.

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auf die Lebensführung, auf die Gestaltung des Daseins? Sowohl Sie, Leo, als ich, wir beide werden nie etwas anderes tun, nie etwas anderes tun können, als eben das leisten, was uns innerhalb unseres Wesens und unserer Fähigkeiten zu leisten gegeben ist. (109)

Eine weitere Gemeinsamkeit betrifft Schnitzlers Heimatgefühl. In einem Entwurf des Romans überlegt Bermann: Wir haben unsere Heimat, (daran fehlt’s nicht;) nur Mitbürger haben wir nicht, und darum – was mir übrigens sehr egal ist – kein Vaterland. …So wenig ich mich als Bruder eines Fleischhauergesellen oder eines vertrottelten Grafen fühlen würde, wenn ich genötigt würde mit ihm zusammen in eine Schlacht zu ziehn, so wenig verwandt fühl’ ich mich, mit einem jüdischen Commis oder Banquierprotzen, weil ein Gassenjunge oder ein Abgeordneter ihn und mich mit den gleichen Schimpfwörtern bedenkt. Ich wähle mir meine Brüder selbst und sie brauchen gar nichts davon zu wissen.–4

In einem Bekenntnis von 1904 schreibt Schnitzler: Ich fühle mich mit Niemandem solidarisch, weil er zufällig der selben Nation, dem selben Stand, der selben Rasse, der selben Familie angehört wie ich. […] Es ist ausschliesslich meine Sache, mit wem ich mich verwandt zu fühlen wünsche […] Ich habe Mitbürger in jeder Nation, Kameraden in jedem Stand und Brüder, die keine Ahnung von meiner Existenz haben.5

Die Wortwahl in Bermanns Passage ist fast gleich. Schnitzler hat sie nicht in die endgültige Fassung aufgenommen, weil er sich womöglich in Bermanns Dialog im dritten Kapitel auf den Zionismus und Golowskis Argumente dafür konzentrieren wollte. Im Gespräch mit Georg im sechsten Kapitel wird Bermanns innerer Konflikt besonders deutlich. Warum hat Schnitzler die obige Passage hier nicht eingefügt? Es ist anzunehmen, dass er sie für zu persönlich hielt. Beier erwähnt den Tagebucheintrag vom Juli 1914, der betont, zu welchem Grad Schnitzler sich mit Bermann identifizierte: „‚Patriotische‘ Empfindungen. Dazugehörigkeit. Leo widerspricht. Ich mache ihn aufmerksam, dass ‚wir‘ dieses Gespräch schon im ‚Weg ins freie‘ geführt haben.–“6 Schnitzler hat mehrmals darauf hingewiesen, dass Leo Van-Jung das wirkliche Vorbild für Leo Golowski war. Daraus kann man schließen, dass Schnitzlers Part von niemand anderem als Heinrich Bermann übernommen wurde.

4 „Der Weg ins Freie – Stellen und Einfälle, meist nicht verwendet“: CUL, A133 Nr. 3. 5 „Unveröffentliche Aphorismen“: CUL, A5. 6 Tb 1913–1916, S. 127.

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1.2  „Mich hab ich nirgends lieber als im Bernhardi“ Aufgeklärter Individualismus und autobiographische Aspekte Schnitzlers Ansicht nach haben Politiker keine Hemmungen, sich selbst und der Öffentlichkeit breit angelegte Täuschungsmanöver vorzuspielen, wobei die wirklichen Ziele, die sie verfolgen, nur zum Schein aus moralischen Gründen motiviert sind. Dadurch verwirren sie den gesellschaftlichen Moralbegriff. Die Leidtragenden sind natürlich die einzelnen Staatsbürger. Bernhardi ist sich als Individuum seiner intellektuellen und moralischen Verantwortung voll bewusst, was ihn im Laufe der fünf Akte in erheb­ liche Schwierigkeiten bringt. Vielleicht hatte Schnitzler den Minister Flint im Sinn, als er schrieb: Politische Überzeugung? – Das ist oft nichts anderes, als die bequeme Larve, hinter der ein Lump seine widerliche Fratze verstecken möchte, um unter dem Schutz der Maskenfreiheit auf dem politischen Faschingsrummel, den wir am Aschermittwoch Weltgeschichte zu nennen pflegen, ungestraft oder gar bejubelt sein feiges Unwesen zu treiben.7

Das Schlüsselwort hier lautet ‚feige‘. Schnitzler hatte keinen Respekt vor den Charakteren, die dazu fähig waren, ihre Gesinnung von einem Tag zum nächsten zu ändern. Flint gibt sich zunächst als Unterstützer Bernhardis aus, um ihn dann opportunistisch im Verlauf einer parlamentarischen Debatte seinen Feinden preiszugeben. Bernhardis Anwalt Goldenthal spielt seinen jüdischen Hintergrund ebenfalls herunter und ist sogar zum Katho­ li­zismus übergetreten. Seine Gattin trägt, für alle sichtbar, ein Kreuz an einer Kette, und ihr Sohn geht auf das von Jesuiten geleitete Internat in Kalksburg. (DW II, 419) Kaum kommt Bernhardi zur Tür herein, bietet Kulka ihm die Unterstützung seines Blattes, „im Kampf für Fortschritt und Freiheit“. Bernhardi unterbricht ihn jedoch: „Verzeihen Sie, ich bin kein Bundesgenosse.“ (DW II, 439) Er setzt hinzu: „Ich gehöre keiner Partei an und wünsche von keiner als der ihrige in Anspruch genommen zu werden.“ (DW II, 440) Nikolaj Beier weist auf eine klare Parallele zu Bernhardis Ablehnung von Kulkas Hilfsangebot hin: Moriz Benedikt, der Chefredakteur der Neuen Freien Presse, schlug Schnitzler zweimal im Juli 1904 eine regelmäßige Zusammenarbeit vor, noch einmal im Dezember desselben Jahres, und wieder im Oktober 1908. Schnitzler weigerte sich jedes Mal.8 Die Versuchung ist groß, die Auseinandersetzung um Bernhardi allein als Kampf zwischen Wissenschaft und Religion zu interpretieren. Aber 7 Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Hg. von Robert O. Weiss. Frankfurt a.M. 1967, S. 90. 8 Nikolaj Beier: „Vor allem bin ich ich…“ – Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk. Göttingen 2008, S. 352.

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in einem weiteren Sinne kämpft Bernhardi gegen verschiedene politische Formen des Anti-Individualismus, wie auch das nächste Beispiel be­ leuchtet. Als die aristokratischen Förderer Bernhardis Klinik nacheinander ihre finanzielle Unterstützung entziehen, weist Dr. Cyprian Bernhardi wegen seines provokativen Benehmens in einem früheren Gespräch zurecht. Er fährt fort: Es gibt Dinge, über die die Fürstin nicht einmal nachdenken darf, sonst wäre sie gerade so eine Entartete wie du, wenn du nicht über diese Dinge nachdächtest. Wir müssen diese Leute verstehen, das gehört zu unserem Wesen, und sie dürfen uns gar nicht verstehen, das gehört wieder zu ihrem Wesen. (DW II, 369)

Cyprian meint nichts anderes als kritische Reflektion. Er scheint anzudeuten, dass die Aristokratie die Rechtfertigung der eigenen Existenz anzweifeln würde, wenn sie kritisch darüber nachdächte. Bernhardi verkörpert dagegen rationale Skepsis und wissenschaftlichen Forschungsdrang, der vor allem die Wahrheit sucht – und somit auch die wahre Natur einer Institution oder Persönlichkeit enthüllen will. Cyprian spricht hier eher von der menschlichen als von der gesellschaftlichen Natur, da er den Adel nicht etwa dem Bürgertum gegenüberstellt, sondern zwei Individuen: die Fürstin und Bernhardi. Es stehen sich also auf der einen Seite Bernhardi, der kritische Wahrheitssucher, und auf der anderen die Fürstin gegenüber, die das Programm einer gesellschaftlichen Schicht oder Partei ohne Bedenken als das eigene akzeptiert. Auch der Priester darf keine höhere Wahrheit annehmen als das Dogma seiner Kirche. Eine höhere als die meiner Kirche vermag ich nicht anzuerkennen, Herr Professor. Und meiner Kirche höchstes Gesetz heißt Einordnung und Gehorsam. Denn bin ich aus der Gemeinschaft ausgestoßen, […] so ist für mich, anders als bei Männern, die in einem freien Berufe stehen, wie Sie, Herr Professor, die Möglichkeit jeden Wirkens und damit der ganze Sinn meines Daseins aufgehoben (DW II, 432).

Weiterhin bezieht sich der Priester auf Diskussionen mit „Männer[n] aus Ihren Kreisen, mit – Gelehrten, mit Aufgeklärten“ (DW II, 435), und auf den Du­alismus zwischen „Glaube“ und „Zweifel“. Das Fundament von Bernhardis ethischer Haltung ist also der Drang zur Wahrheit jenseits aller politischen Parteinahme. Somit geht es nicht nur, wie oft angenommen, um den Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft, sondern um den zwischen dem kritisch reflektierenden Individuum und denjenigen, die ihre intellektuelle Unabhängigkeit sozialen, politischen oder religiösen Institutionen überlassen. Bernhardi hält während des Verlaufs seiner gesamten Affäre an seinen Prinzipien fest. Die Charakterstärke hat Schnitzler selbst sehr geschätzt.

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Die Ähnlichkeit des Charakters und ethischen Standpunktes zwischen Autor und Protagonisten ist nicht zu übersehen. Es ist daher kein Wunder, dass Schnitzler nach der Lektüre seines Dramas im März 1918 im Tagebuch vermerkt hat: „Es gibt Sachen von mir die ich lieber habe, – aber mich hab ich nirgends lieber als im Bernhardi.“9 1.3  Zusammenfassung Schnitzler fasste als Individuum seinen jüdischen Ursprung als kulturelles, nicht religiöses Erbe auf. Er gab es niemals auf, obwohl er seit seiner Studentenzeit an mit antisemitischen Anschuldigungen zu kämpfen hatte. In einem Interview mit James L. Benvenisti vom American Hebrew and Jewish Messenger am 29. Februar 1924, stellt Schnitzler klar: Die Lösung des jüdischen Problems muss von jedem Individuum selbst gefunden werden. Es existiert keine allgemeine Lösung. Der Zionismus scheint mir alles andere als eine Lösung zu sein …Dies hält mich nicht davon ab, den Zionismus zu bewundern. Ich bewundere Menschen, die so hoch greifen und so herrlich träumen können, aber sie werden mich nie überzeugen können.10

Das war Schnitzlers Haltung zur ‚Judenfrage‘ in seinen letzten Lebensjahren. Für die Zeit der Uraufführung Professor Bernhardis gibt es kein so deutliches Bekenntnis – außer dem Drama selbst. Schnitzler hatte sich also von dem rein beobachtenden Standpunkt in Der Weg ins Freie entschieden weiter entwickelt. Nachdem er einmal seine Stellung als österreichisch-jüdischer Autor bezogen hatte, sah Schnitzler keinen Grund, sie zu ändern. Obwohl er sein Prinzip erst 1924 öffentlich auf den Punkt bringt, ist es in seinen aufs Judentum bezogenen Werken zu finden. Diese Einstellung muss sich vorbereitet haben, seit er zu einer Figur des öffentlichen Lebens wurde. Denn: „Es war nicht möglich, insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, dass er Jude war, da die anderen es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch weniger.“11 9 Tb 1917–1919, S. 125. 10 James L. Benvenisti: „Arthur Schnitzler foretells Jewish Renaissance. An exclusive interview with the eminent litterateur“. In: The American Hebrew and Jewish Messenger, New York, 29.2.1924. Zeitungsausschnittsammlung der Kommission für lit. Gebrauchsformen der Österr. Akademie der Wissenschaften. Wien, Mikrofiche 320. Der englische Originaltext des Interviews findet sich in Bettina Riedmann: Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher – Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen. Tübingen 2002, S. 396–398. Die deutsche Übersetzung stammt von: Beier 2008 (Anm. 8), S. 209. 11 Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Wien 1968, S. 328.

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2.  Jakob Wassermann (1873–1934) 2.1  Vom Volksautor zur Entdeckung seiner jüdischen Identität Jakob Wassermann stammte ursprünglich aus Fürth bei Nürnberg. Das gesellschaftliche Spektrum seines Werks ist weiter gefasst als bei Schnitzler. Die Juden von Zirndorf war sein erster großer literarischer Erfolg. Ein zentrales Thema seines Schaffens bildet die Ungerechtigkeit, mit der sich Juden konfrontiert sahen, wie auch sein eigener innerer Konflikt. Wassermanns Interesse an diesen Themen nahm während des Jahrzehnts vor 1914 zu und verstärkte sich während des Ersten Weltkriegs. Es wäre ungerecht zu behaupten, dass Wassermann mehr am deutsch-jüdischen Antagonismus litt als Schnitzler. Aber er räumte dieser Frage mehr Raum in seinem Werk ein und besprach es mit größerer Offenheit. Seine Überlegungen stellte er in zahlreichen Aufsätzen vor, darunter Das Los der Juden (1904), Der Jude als Orientale (1913) und Die psychologische Situation des Judentums (1929). Weil er sich seit der Kindheit mit dem Antisemitismus konfrontiert sah, empfand Wassermann das ständige Bedürfnis, seine kulturelle Zugehörigkeit zu Deutschland zu beweisen. Er betonte, dass er sich von den ortho­ doxen Ostjuden unterschied, die vor Pogromen in Russland nach Deutschland und Österreich geflohen waren. In einem Brief an Georg Brandes aus dem Jahr 1901 erklärt er, der „fränkisch-jüdische Volksschlag […] ist ja auch etwas ganz anderes als etwa der galizische oder polnische.“12 In diesem Lebensabschnitt fühlte sich Wassermann entschieden eher deutsch als jüdisch. Sein Judentum wurde ihm, so empfand er, von einer feindlichen Umwelt aufgezwungen. In Mein Weg als Deutscher und Jude, erinnert er sich: „In aller Unschuld war ich bisher überzeugt gewesen, ich sei deutschem Leben, deutscher Menschheit nicht bloß zugehörig, sondern zugeboren.“13 In diesem Sinne verfasste er Caspar Hauser (1908), als wahrhaften ‚Volksroman‘, um seine Zugehörigkeit zu seiner Heimat ein für allemal unter Beweis zu stellen. Neben der bekannten Legende wurde die Stadt Nürnberg selbst zum zentralen Thema mit ihren von Dürer und den Meistersingern herrührenden mittelalterlichen Traditionen sowie mit der Landschaft der fränkischen Umgebung. Antisemitische Kritiker wollten Wassermann jedoch keine Volkstümlichkeit zugestehen. In Mein Weg als Deutscher und Jude verteidigt sich Wassermann: 12 Heike Lindemann-Luiken: Es ist vergeblich… Sie sagen – Er ist ein Jude: die Auswirkungen des An­ ti­semitismus im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auf Leben und Werk Jakob Wasser­ manns. Frankfurt a.M. 2005, S. 97. 13 Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude. In: Deutscher und Jude: Reden und Schriften 1904–1933. Hg. von Dierk Rodewald. Heidelberg 1984, S. 35–131, hier S. 67.

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Ich bildete mir ein, den Deutschen ein wesentlich deutsches Buch gegeben zu haben, wie aus der Seele des Volkes heraus; ich bildete mir ein, da ein Jude es geschaffen, den Beweis geliefert zu haben, daß ein Jude […] das Vorurteil der Fremdheit besiegen könne. Aber in dieser Erwartung wurde ich getäuscht.14

Trotz der Betonung seiner fränkischen Wurzeln und des heimatlichen Bodens darf man Wassermann nicht einfach automatisch einer konservativen oder gar ‚völkischen‘ Kategorie zuteilen. Wie wir später sehen werden, gibt es abgesehen von der Behandlung von zeitgenössischen Themen in seinem Werk und seiner zukunftsgewandten Einstellung noch andere moderne Züge in Wassermanns Denken. Ein junger Philosoph, Hans Blüher, versuchte zunächst Walther Rathenau, den damaligen deutschen Außenminister, dann Wassermann zu überzeugen, eine Massenauswanderung nach Palästina anzuführen. Verwundert, dass Blüher sich in dieser Angelegenheit überhaupt an ihn gewandt hatte,15 entgegnete ihm Wassermann: „Hierin muß ich Sie gänzlich enttäuschen. Hierin hätte Sie auch Walther Rathenau enttäuschen müssen, […] denn er hatte für Ideen und Ziele des Zionismus […] genau so wenig übrig wie ich.“16 Der Schriftsteller betonte weiterhin die Wurzeln seiner Familie in Franken. Ganz offensichtlich war seine Heimatverbundenheit zu stark, um den Zionismus als ernsthafte Alternative in Erwägung zu ziehen. Wenn er auch jede Verbindung zu den ‚Ostjuden‘ ablehnte und seine kritische Einstellung zum Zionismus beibehielt, war Wassermann daran gelegen, den ‚orientalischen Juden‘ neu und positiv zu definieren. Seine Gedanken fasste er in dem Aufsatz Der Jude als Orientale zusammen. Termino­logie und Konzepte können bis auf Martin Bubers frühe Essays zurückverfolgt werden, und Der Jude als Orientale ist in der Tat auch seinem „lieben Freund“ Buber gewidmet. Der ‚Orientale‘ steht, so Wassermann, noch immer in Verbindung mit dem mythischen Ursprung des jüdischen Volkes, wodurch er, im Gegensatz zum über-assimilierten ‚Literaten‘, ein wahrer ‚Schöpfer‘ werden kann. Nur der Schöpfer ist in der Lage, kraft seiner Persönlichkeit und Offenheit gegenüber seinen Mitmenschen, Juden und Christen zusammenzuführen. Am Ende des Aufsatzes gesteht Wassermann zu: „Vielleicht mehr eine Idee als eine Erscheinung. Doch sind es nicht die Ideen, durch welche die Erscheinungen hervorgebracht werden?“17 14 Wassermann 1984 (Anm. 13), S. 91. 15 Jakob Wassermann: „Zwei Briefe an einen deutschen Philosophen“. In: J.W.: Lebensdienst. Gesammelte Studien, Reden und Erfahrungen aus drei Jahrzehnten. Leipzig 1928, S. 160–173, hier S. 160. 16 Ebd., S. 161. 17 Jakob Wassermann: „Der Jude als Orientale“. In: Wassermann 1984 (Anm. 13), S. 29–32, hier S. 32.

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Wassermann traf regelmäßig mit Lou Andreas-Salomé zusammen, die Nietzsche sehr gut kannte, um sich eingehend über zeitgenössische Philosophie und Literatur zu unterhalten. Wolzogen war derjenige, der Wassermann empfohlen hatte, sich mit Nietzsche auseinanderzusetzen, aber Lou verhalf dem jungen Autor zu einem tieferen Verständnis des einflussreichsten Philosophen seiner Zeit. Sie hatte keine Bedenken, religiöse oder quasi-religiöse Elemente in Nietzsches Denken hineinzulesen, weswegen es sehr wahrscheinlich ist, dass Wassermann Nietzsche in einem ähnlichen Sinne aufgefasst hat. Die gewaltige Lebens- und Diesseitsbejahung, die Nietzsche mit der Idee des Dionysischen in Die Geburt der Tragödie ebenso feiert wie in seinen letzten Dionysus-Dithyramben, spiegelt sich in Wassermanns Orientalen wider. Sowohl dieser als auch Nietzsches Übermensch haben einen starken Dynamismus gemeinsam, ein kraftvolles Voranschreiten, mit dem sie die einschränkenden Fesseln einer ungerechten Gesellschaft hinter sich lassen. Ihre Energie und Entschiedenheit beziehen sie aus ihrer eigenen charismatischen Führungspersönlichkeit. Zarathustra spricht: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt Ihr getan, ihn zu überwinden?“18 Einige Zeilen weiter betont Nietzsche die Diesseitsorientierung des Übermenschen: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde. […] Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.“19 Diese Idee, der Erde treu zu bleiben, finden wir auch in Die Juden von Zirndorf wieder. 2.2  Der messianische ‚Orientale‘: Die Juden von Zirndorf (1897) 2.2.1  Das gesellschaftliche Spektrum des Romans In Wassermanns Roman finden sich Parallelen zu Schnitzlers Der Weg ins Freie. Während Schnitzler den gehobenen Mittelstand schilderte, zog Wassermann es vor, das Kleinbürgertum der Provinz darzustellen, mit einem ähnlich breiten Spektrum unterschiedlicher Ansichten in der jüdischen Gemeinde. So gibt es als Nebenfigur den Bauern Isidor Rosenau, von dem es heißt: „nichts beglückte ihn mehr, als wenn man ihn für keinen Juden ansah“.20 Der human eingestellte, großväterliche Geldaja Löwengard 18 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Friedrich Nietzsche – Werke in sechs Bänden. Hg. von Karl Schlechta. Bd. 3. München 1980, S. 275–561, hier S. 289. 19 Nietzsche 1980 (Anm. 18), S. 280. 20 Jakob Wassermann: Die Juden von Zirndorf. Cadolzburg 1995, S. 75. Alle weiteren Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.

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„mauschelt“ – ebenso wie Salomon Ehrenberg in Der Weg ins Freie, der absichtlich mit jüdischem Einschlag spricht, um seine Familie zu provozieren. Stefan Gudstikker, ein nichtjüdischer Schriftsteller, behauptet: „Die Juden sind viel bessere Menschen als wir, edlere Menschen.“ (106) Der Lehrer Erich Bojesen verwickelt ihn in eine Diskussion, in der es heißt, dass jüdische Kunstschaffende allgemein bereits auf untrennbare Weise mit der Kultur ihres ‚Gastlandes‘ verschmolzen seien. Für Bojesen ist das ein Problem, zumal seiner Ansicht nach Juden die Aufrichtigkeit und die Tiefe fehlen: Sie nehmen uns die Wahrheit und die Aufrichtigkeit in der Kunst […] Sie ersetzen es unbewusst mit dem Schein von Wahrheit, dem Schein von Aufrichtigkeit; sie bringen uns eine neue Art von Sentimentalität, die sich als Naivität gibt und mit grüblerischer Wehmut nach den Gründen der Dinge schreit. Ich schwöre Ihnen, mein Lieber, das ist eines von diesen Dingen, die das Schicksal und das Leben ganzer Jahrhunderte verdüstern. Darin liegt die „Judenfrage“ […] Darum müssen die Juden fort und tausendmal fort. (124)

Dieses Argument erinnert an die Diskussionen in Schnitzlers Roman, in denen Heinrich Bermann sich bemüht, seinem nichtjüdischen Freund Georg von Wergenthin seinen inneren Konflikt zu veranschaulichen. Wergenthin betrachtet das jüdische Dilemma verhältnismäßig teilnahmslos und mit erheblicher Distanz als eine äußerst verzwickte Angelegenheit. Trotz seiner Skepsis gesteht Bojesen zu: Es ist mir, als müsse gerade aus den Juden noch einmal ein grosser Prophet aufstehen, der alles wieder zusammenleimt. Es ist selten, aber bisweilen trifft man einen Juden, der das herrlichste Menschexemplar ist, das man finden kann, um und um. Alle reinen Glieder der Rasse scheinen sich vereinigt zu haben, ihn hervorzubringen, ihn mit allen köstlichen Eigenschaften auszustatten, die die Nation je besessen hat: Kraft und Tiefe, sittliche Grösse und Freiheit […] In seinem Kopf sitzen ein paar Augen voll Mildheit und Güte, man möchte sagen Frommheit in einem neuen Sinn, feurig und doch wieder schüchtern […] (182)

Bojesen spricht von der messianischen Figur, die im Roman von Agathon Geyer verkörpert wird. Gegen Ende des Romans verfällt Bojesen dem Alkohol (263), und Agathon wendet sich von seinem früheren Lehrer ab. Bojesens Ende entwertet jedoch nicht seine Ideen, die zur Zeit der Erscheinung des Romans weit verbreitet waren. In Der Weg ins Freie wird der Kontrast zwischen der Generation der Väter und der der Söhne besonders deutlich. In Die Juden von Zirndorf stellt Wassermann gleichfalls die alte Generation der jüngeren gegenüber. Bei Schnitzler entsteht der Konflikt dadurch, dass das Vertrauen der älteren Generation in den politischen Liberalismus auf die Desillusionierung der

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jüngeren trifft, die bereits mit einem neuen, rassischen Antisemitismus zu kämpfen hat. Wassermann zeigt den Generationskonflikt in einer anderen Perspektive: Baron Löwengard fühlt sich den eisernen Gesetzen seiner sozialen Schicht so stark verpflichtet, dass er darauf besteht, dass seine Tochter Jeanette einen deutlich älteren, aber wohlhabenden Herrn heiratet. Bei Wassermann erscheint die ältere Generation veralteten gesellschaftlichen Konventionen verhaftet. Löwengards unnachgiebige Strenge führt letztlich zur Entfremdung seiner einzigen Tochter, die keinen Ausweg mehr sieht als die Flucht aus ihrem Elternhaus. Jeanettes Grossvater Geldaja Löwengard stellt eine menschliche Ausnahme in der älteren Generation dar. Dank seines Sinnes für Humantität ist er das ganze Gegenteil des Barons. Der ältere Löwengard hat sich von den ‚falschen Lehren‘ bürgerlicher Verhaltensregeln befreit und von der dogmatischen Moralität, welche die jüdischen und christlichen Gemeinden in Fesseln hält. So wird Geldaja zu einem Vertrauten Agathons, der ihn immer wieder um Rat aufsucht, wenn es um die menschliche Natur geht. Geldajas skeptische Distanz zum Judentum wird in einem Gespräch mit Agathon besonders deutlich, in dem er sagt: „Ob de bist gottesfürchtig, ob de bist nit gottesfürchtig, ’s aach egal.“ (112) Wie Agathon schwört auch Geldaja Gott ab, und für beide gilt der Mensch selbst als göttähnliche, prometheische Kreatur („du bist Gott“). In einem späteren Kapitel ist es der ältere Löwengard, der in der Synagoge in Lachen ausbricht, „gerade, als der Gottesdienst mit dem Kaddisch endigen sollte“, und grinst „ein unsichtbares Etwas in der Luft“ an. (115) Geldaja durchschaut die Unaufrichtigkeit der Juden, die ihre Pietät mit Vaterlandsliebe und Kaisertreue verknüpfen wollen, wie sie es in diesem speziellen Gottesdienst getan hatte. Seine Lebenserfahrung hat ihn gelehrt, was Agathon intuitiv weiss: dass der Mensch selbst und das Vertrauen in die Menschheit die einzigen absoluten Werte sind. Im Vergleich zu Der Weg ins Freie wird das jüdische Dilemma in Die Juden von Zirndorf oberflächlicher behandelt. Die relevanten Dialoge, gewöhnlich geführt mit dem latenten Antisemiten Bojesen, sind viel kompakter gehalten als in Schnitzlers Roman. Der Zionismus wird überhaupt nicht erwähnt. Während Bojesen an einer Stelle behauptet, dass das jüdische Volk als Ganzes emigrieren sollte, spricht er nicht von Palästina als Zielland. Schnitzlers Übersicht der jüdischen Identitätskrise ist umfassender, und seine Darstellung des inneren Konflikts eines deutschsprachigen Juden ist ebenso subtil wie tiefgründig. Aber Wassermanns Schilderung dieses Problems wurde zur Zeit der Veröffentlichung als kontroverser empfunden, und so erreichte Die Juden von Zirndorf  beim deutschen und österreichischen Publikum eine lang nachhallende Resonanz.

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2.2.2  Agathon Geyer als messianische Figur Agathon hat religiöse Konzepte bereits hinter sich gelassen. Nachdem er Sürich Sperling ermordet, erklärt er seinem Vater: Ich bin kein Jude mehr und kein Christ mehr, und ich habe nicht euer Schuldfühlen in mir. […] Denn ich weiss, was bevorsteht, Vater, und meine Hände sind schon ausgestreckt für die künftige Arbeit. Ich weiss, dass mir genau so ist, als ob mit Sürich Sperling die ganze christliche Religion gestorben wäre oder vielleicht nur der christliche Geist in dem Volk, durch den es hassen musste und Blut vergiessen […] Vielleicht hab’ auch nicht ich die Tat begangen, sondern der neue, fremde Geist, der jetzt kommt […]. (194)

In einem anderen Kapitel sagt Agathon: „Oft war mir, als müsse ich allen Juden ein Wort sagen, das sie befreien könnte.“ (133) Er plant, die Kinder aus dem jüdischen Waisenhaus zu führen, wo sie, orthodoxer Lehre entsprechend, außerordentlich harter Zucht unterzogen werden. Die naheliegende Deutung dieses hochsymbolischen Akts liegt darin, dass der Messiah sein junges, unschuldiges Volk aus den Einschränkungen einer veralteten Moral in eine neue, menschlichere Zukunft führt. In Schnitzlers Professor Bernhardi erscheint der jüdische Protagonist als der christlichste Charakter in dem ganzen Stück. Der Professor zitiert wiederholt das Neue Testament und ist offensichtlich friedfertiger eingestellt als seine vermeintlich christlichen, antisemitischen Gegner. In Die Juden von Zirndorf findet sich eine ähnliche ironische Inversion, wenn Agathon die Bauarbeiter auf dem Grundstück neben dem Haus seiner Mutter anspricht, die auf das „Judenpack“ Ziegel geworfen hatten (161). Obwohl die Bauarbeiter Frau Geyer schon seit Tagen schikanierten, geht Agathon auf den lautesten von ihnen zu. Durch seine ruhige Art gelingt es ihm, sie in seine Lage zu versetzen, so dass sie von weiterem Vandalismus absehen (162). Stefan Gudstikker erkennt in Agathon einen besonderen Funken: Sehen Sie, Sie gefallen mir. Ich weiss kaum warum, aber vielleicht steckt etwas in Ihnen, was in mir nicht steckt. Sie sind ein Jude. Bei den Leuten gibt es manchmal Individuen von wunderlicher Kraft. Besonders in Ihrem Alter. […] Wenn sie so jung sind, ist ihre Seele von einem reinlichen, unbeschmutzten Feuer erfüllt. Sie sind starke Träumer, möchten die Welt aus den Angeln heben und wissen doch nichts von der Welt. […] Gehen Sie hin, Agathon, wecken Sie Ihr Volk auf. Sagen Sie, wach auf mein Volk, wie der Prophet in der Bibel. (90)

Agathon handelt und geht voran; er entspricht nicht dem Typ des von der Gesellschaft zurückgezogenen, passiven Denkers. Der stärkste Ausdruck seiner Herangehensweise findet sich in der Ermordung seines Widersachers, des brutalen Antisemiten Sürich Sperling. Er wird als Abbild eines primitiven Germanen beschrieben. Wassermann spielt hier mit einem ty-

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pischen rassischen Stereotyp seiner Zeit. Antisemiten zeichneten Juden generell als schwach, überfeinert und feminin, und stellten diesen den starken, robusten, erdnahen Deutschen gegenüber. In seinem Rembrandt als Erzieher (1890) lobt Julius Langbehn ausdrücklich Rembrandts „robuste Einfachheit, seinen Glauben, seine massive Erscheinung“, kurz: alles „das ihn als Bauern auszeichnete“, als durch und durch deutsch.21 Dasselbe trifft auf Sperling zu: Er ist ein Germane, das Urbild eines Germanen […] In ihm schien sich alles Glänzende und Rohe, alles Kraftvolle und Plumpe der Rasse vereinigt zu haben. Er liebte und hasste ohne Rechenschaft und Künstelei, ohne Berechnung und Überlegung. Er hasste die Juden unbeschreiblich; jede Gebärde, jeder Ton der Stimme, jede Handlung regte ihn auf wie Wein. […] Er war ein Tier: wild, stolz, unbezähmbar, keinem Vernunftgrund der Welt zugänglich. (77)

Sperling hält mit seinem Hass auf Juden nicht zurück, und lässt ihn an einem schwachen, wehrlosen Vorbeter, Lämelche, aus. Agathon unterbindet die Misshandlung Lämelches. Sogleich ergreift Sperling nun ihn, trägt Agathon ins Haus und kreuzigt ihn: Er reißt ihm die Kleider vom Leib, bindet ihn an ein Kreuz und verwundet ihn (134). Nach dieser erniedrigenden Folter beschließt Agathon, der „Erwecker seines Volkes“, entscheidend zu handeln. Es sollte erwähnt werden, dass in den Nachkriegsromanen, angefangen mit Christian Wahnschaffe (1919), sich diese messianische Figur zunehmend zu einem christlich inspirierten, für seine Mitmenschen sich selbst aufopfernden Charakter verwandelt.

3.  Schluss Der kontroverse und zugleich verwirrendste Aspekt von Schnitzlers Der Weg ins Freie ist, dass der Autor sich konsequent gegen Anschuldigungen gewehrt hat, es sei ein Schlüsselroman, der sein persönliches Dilemma widerspiegele. Dabei ist nicht zu leugnen, dass Heinrich Bermann im Roman Schnitzlers inneren Konflikt als österreichischer Jude zur Sprache bringt und somit autobiographische Züge trägt. Wie Schnitzler selbst empfindet Bermann sein Vaterland eher als Natur und Volk, nicht so sehr als politisches Konstrukt. Er betrachtet sich als Österreicher durch und durch, und verachtet die Antisemiten und Nationalisten dafür, dass sie ihm eine andere Ethnizität aufzwingen wollen. Gleichzeitig sieht er sehr wohl ein, dass es für die ‚jüdische Frage‘ keine allgemeine Lösung gibt. Das war auch die Wurzel von Schnitzlers eigenem Dilemma. Diese Schlussfolgerung würde ihn im 21 Fritz Stern: The Politics of Cultural Despair: A Study in the Rise of the Germanic Ideology. Berkeley 1974, S. 147.

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Laufe der Jahre zu einer Antwort führen: das individualistische Konzept des aufgeklärten apolitischen Individualismus, verkörpert durch Professor Bernhardi. Wenn Der Weg ins Freie eine gründliche, aber vergleichsweise neutrale Untersuchung der jüdischen Identitätskrise enthält, ist Professor Bernhardi stärker politisch orientiert. Dieser aufgeklärte, apolitische Individualismus, den Bernhardi als „das Richtige tun“ zusammenfasst, ergibt letzten Endes Schnitzlers eigene Stellungnahme zur ‚jüdischen Frage‘. Weder religiöse Orthodoxie noch Zionismus können in seinen Augen eine wahre Lösung bieten. Bekehrung zum Katholizismus ziehen nur die Schwächsten in Betracht. Stattdessen liegt es an jedem einzelnen deutschsprachigen Juden, für sich selbst eine Lösung zu finden, während er niemals seinen jüdischen Hintergrund verleugnen darf. Wie Schnitzler im Interview mit James L. Benvenisti geäußert hat: „Die Lösung der jüdischen Frage muss von jedem Individuum für sich selbst gefunden werden.“22 Wassermanns gedankliche Entwicklung verläuft demgegenüber nicht so linear wie die von Schnitzler. Am Anfang seiner Laufbahn bemühte er sich nach Kräften, sich durch fränkische Volksromane als echt deutscher Autor zu beweisen. Erst im Lauf des Ersten Weltkriegs beschloss er, durch einen intensiveren Antisemitismus dazu gedrängt, auch seine jüdische Identi­tät bewusst wahrzunehmen. Während Wassermann, wie Schnitzler, religiösem Dogma skeptisch gegenüber stand, sprachen ihn doch die wechsel­seitigen Einflüsse des Juden- und Christentums an. Er entwarf eine allgemeine gesellschaft­liche Theorie, beeinflusst durch Nietzsches Übermenschen und Martin Bubers positive Auswertung des Orients: Ein deutsch-jüdischer Messias, der ‚Orientale‘ würde die verknöcherte Moral der bürgerlichen Gesellschaft überwinden und schließlich eine deutsch-jüdische Symbiose herbeiführen. Wie Nietzsche bietet auch Wassermann in erster Linie eine ästhetische Lösung für die realen Probleme der Kultur und Gesellschaft seiner Zeit. Wassermanns Theorie mag vom heutigen Standpunkt aus utopisch, sogar reaktionär erscheinen. Und doch war seine Philosophie zu seiner Zeit hochoriginell. Das Phänomen der Moderne ist zu komplex, um in ‚progressiven‘ und ‚reaktionären‘ Kategorien aufgeteilt zu werden – ohnehin nur Definitionen unserer Gegenwart, die wir aus der Retrospektive auf die Zeit um 1900 anwenden. Viele Künstler und Denker des frühen 20. Jahrhunderts nahmen Elemente beider Richtungen in ihrem Werk auf. Schnitzler und Wassermann lehnten beide den Zionismus als Lösung des jüdischen Dilemmas ab. Beide waren jüdischer Orthodoxie gegenüber skeptisch eingestellt, wobei Wassermann zu einem religiösen Mystizismus 22  Siehe Anm. 10.

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tendierte. Sie hatten keinen Respekt vor den Juden, die ihren Hintergrund verleugneten. Weder Schnitzler noch Wassermann lassen sich einer bestimmten Kategorie zuteilen. Die beiden Freunde und literarischen Kollegen haben beide ihre eigene Einstellung zur sog. ‚jüdischen Frage‘ entwickelt: Schnitzler den aufgeklärten, apolitischen Individualismus und Wassermann die mystische Theorie vom ‚Orientalen‘, der eine neue Humanität und Gerechtigkeit in die Gesellschaft bringen sollte, um den Antisemitismus ein für allemal zu überwinden. Sowohl Schnitzler als auch Wassermann, zwei der prominentesten Autoren ihrer Zeit, eröffnen mit ihren vielschichtigen Gedankensystemen einzigartige Perspektiven auf die überaus komplexe jüdische Identitätskrise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Die Entzauberung des Mythos: Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt als subversive Charakterstudie im Spannungsfeld intertextueller Bezüge vom Barock bis zur Décadence 1.  Prolegomena: Schnitzlers Novelle und ihre Kontexte Die Novelle Casanovas Heimfahrt, die Arthur Schnitzler von 1915 bis 1917 verfasste und im Jahr 1918 publizierte, steht im Schnittfeld vielfältiger motivischer Vernetzungen und intertextueller Bezüge.1 Erstens schrieb sich Schnitzler mit diesem Meisterwerk2 in eine umfangreiche Tradition von Adaptionen und Transformationen des Casanova-Mythos ein, wenn er auf Episoden aus den Memoiren3 Giacomo Casanovas rekurrierte, um dessen schillernde Persönlichkeit literarisch zu gestalten. In der von bürgerlicher Ordnung und Saturiertheit bestimmten Epoche vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Typus des erotischen Abenteurers, der Konventionen sprengt, sich der Alltagsroutine entzieht und stattdessen mit impressionistischem Lebensgefühl als bindungsloser Hedonist die Intensität des Augenblicks 1 Intertextuellen Bezügen zu Hoffmannswaldau, Goethe, Kleist und Thomas Mann widmet sich Teil 3 dieses Aufsatzes. Auf die Affinität von Marcolinas aufklärerischem Wahrheits­ ethos zu Lessings Schrift Eine Duplik geht zuvor bereits Anm. 17 ein. 2 Schon Oellers bezeichnet die Erzählung zu Recht als „eines der vorzüglichen Werke Schnitzlers“ (Norbert Oellers: „Arthur Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt “. In: Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich. Neue Studien. Hg. von Mark H. Gelber, Hans Otto Horch und Sigurd Paul Scheichl. Tübingen 1996, S. 241). – Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt wird nach der folgenden Edition zitiert: Arthur Schnitzler: Casanovas Heimfahrt. Novelle. Hg. von Johannes Pankau. Stuttgart 2003. Die Belege folgen jeweils im Anschluss an das Zitat. 3 Vgl. Giacomo Casanova Chevalier de Seingalt: Geschichte meines Lebens. Hg. und eingel. von Erich Loos. Erstmals nach der Urfassung ins Deutsche übersetzt von Heinz von Sauter. Neuausgabe in 12 Bänden. Berlin 1985. – Zu Casanovas Histoire de ma vie und deren Editionsund Rezeptionsgeschichte vgl. Carina Lehnen: Das Lob des Verführers. Über die Mythisierung der Casanova-Figur in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1899 und 1933. Paderborn 1995, S. 23–34.

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kultiviert, für zahlreiche Autoren zum Faszinosum.4 Dazu trug auch die moderne Identitätskrise bei, die bereits seit dem Fin de siècle zur Abkehr von traditionellen Subjektkonzepten und zur These von der ‚Unrettbarkeit‘ eines stabilen Ich geführt hatte. Während Schnitzler seine Novelle schrieb, kündigte sich bereits der Epochenumbruch an, der nach dem Ersten Weltkrieg das Ende der Habsburger-Monarchie besiegelte. Hier ergaben sich Analogien zum historischen Kontext Casanovas, dessen Biographie ebenfalls von Umbruchserfahrungen im Zusammenhang mit einer Epochenschwelle bestimmt war: durch die Französische Revolution, die das Ancien régime beseitigte. Der erotische Abenteurer Giacomo Casanova (1725–1798), der sich auch als Schriftsteller, Diplomat und Spion betätigte und nach ausgedehnten Reisen durch Europa 1774 nach Venedig zurückkehrte, erlebte noch selbst den Übergang in ein aufgeklärtes bürgerliches Zeitalter. Wenn sich Schnitzlers Protagonist selbst den Titel „Chevalier de Seingalt“ verleiht (44), dann will er damit an aristokratischen Konventionen teilhaben. Einerseits dokumentiert er dadurch seine eigene Orientierung an Wertmaßstäben des Ancien régime, die übrigens auch sein Stolz auf Fürstengunst erkennen lässt (20), andererseits unterläuft er zugleich die feudalistische Heteronomie, indem er den Adelstitel ohne fürstliche Legitimation eigenmächtig für sich beansprucht. Zweitens hat Arthur Schnitzler seiner Novelle außer Referenzen auf Casanovas Memoiren5 auch Affinitäten zur eigenen Vita eingeschrieben: Parallel zur Arbeit am Casanova-Stoff arbeitete er seit Mai 1915 nämlich selbst an seiner Autobiographie, die postum unter dem Titel Jugend in Wien erschien. Abweichend von der geschichtlichen Faktizität, lässt Schnitzler seinen Protagonisten nicht als 49-Jährigen, sondern im damaligen eigenen Alter von 53 Jahren nach Venedig zurückkehren.6 Schon die Altersangabe in der ersten Textzeile signalisiert also eine persönliche Affinität zu Casanova, 4 Seit dem Fin de siècle setzten sich etliche Autoren in fiktionalen Werken und essayistischen Texten kreativ mit dem Casanova-Mythos auseinander: vgl. u.a. Hugo von Hofmannsthals Dramen Der Abenteurer und die Sängerin (1899) und Cristinas Heimreise (1910), Gert Hofmanns Novelle Casanova und die Figurantin (1981) und Karl Gassauers Drama Casanova auf Schloß Dux (1984). Pankau erwähnt im Nachwort zu der in Anm. 2 genannten Edition (ebd., S. 135–157, hier S. 136) auch kulturkritische Texte von Franz Blei, Georg Simmel, Stefan Zweig und Kurt Tucholsky, die auf Casanova eingehen. 5 Obwohl Schnitzler in der abschließenden „Anmerkung“ zu seiner Novelle betont, abgesehen von einzelnen Erlebnissen aus Casanovas „Erinnerungen“ sei „die ganze Erzählung von ‚Casanovas Heimfahrt‘ frei erfunden“ (119), wurden zahlreiche Rückgriffe Schnitzlers auf Casanovas Memoiren nachgewiesen. Vgl. Frithjof Stock: „Casanova als Don Juan. Bemerkungen über Arthur Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt und sein Lustspiel Die Schwestern oder Casanova in Spa“. In: Arcadia 13, 1978, Sonderheft, S. 56–65, hier S. 58–60. Martha Bowditch Alden: „Schnitzler’s Repudiated Debt to Casanova“. In: Modern Austrian Literature 13, 1980, No. 3, S. 25–32. 6 Diese Übereinstimmung wurde bereits wiederholt hervorgehoben. Vgl. z.B. Lehnen 1995 (Anm. 3), S. 184.

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obwohl Schnitzler ihn in der Novelle mit spürbarer Distanz gestaltet. Zudem offenbaren Tagebuch-Aufzeichnungen aus der Entstehungszeit eine eigene Krisenphase Schnitzlers, der am 12. November 1916 autobiographisch über einige konkrete „Symptome des Abstiegs“ nachdenkt – in der Hoffnung, dass es sich vielleicht nur um ein „tiefes Wellental“ handelt, nach dem wieder „bessere Zeiten kommen“.7 Am 25. Dezember 1917 formuliert Schnitzler dann eine vorsichtig optimistische Arbeitsbilanz und Zukunftsperspektive: „Dichterisch hebt mit der Cas. Nov.- und dem Cas. Stück vielleicht – für mich eine neue Epoche an.“8 Drittens ergeben sich aufschlussreiche textgenetische Korrelationen dadurch, dass Schnitzler den Casanova-Stoff synchron mit der Novelle auch im Lustspiel Die Schwestern oder Casanova in Spa verarbeitete. Ein Vergleich wird dabei nicht allein durch die Spezifika der jeweiligen Gattungsästhetik nahegelegt, sondern auch durch einen veränderten Fokus auf den Protagonisten selbst: Inszeniert ihn das Drama noch als 32-Jährigen im Zenit seines Ruhms, so wird der 53-jährige Casanova der Novelle schon zu Beginn in einem Décadence-Prozess präsentiert, der ihn als einen „an innerm wie an äußerm Glanz langsam verlöschenden Abenteurer“ erscheinen lässt (5). Gerade der Alterskrise, auf die Casanova mit eskapistischen Reflexen und Kompensationsversuchen reagiert, gewinnt Schnitzler attraktive Möglichkeiten ab, um in der Novelle negative Alternativen zum Casanova-Lustspiel zu gestalten. – Obwohl sich das Versdrama von der Novelle durch eine eher typisierende Charakterzeichnung, eine analytische Handlungsstruktur und das Fluidum der Rokoko-Kultur unterscheidet,9 gibt es auch motivische Analogien: Sowohl im Lustspiel Die Schwestern oder Casanova in Spa als auch in der Novelle Casanovas Heimfahrt werden Liebesnächte nachträglich problematisch. So gerät Casanova im Lustspiel nachts aus Versehen in das falsche Zimmer und schläft mit der jungen Anina, die er irrtümlich für Flaminia hält. Eifersucht und Streit sind die Folge, bis eine unerwartete Wendung das Finale dann doch versöhnlich gestaltet. In der Novelle kommt es nach der erotischen Begegnung mit Marcolina, die sich Casanova mit infamem Kalkül erschlich, indem er im Gegenzug die Spielschulden seines jungen Rivalen Lorenzi beglich, für die ahnungslose junge Frau zu einer schockartigen Desillusionierung. In ihrer entsetzten Reaktion (103f.) wiederholt sich Casanovas eigener „Ekel“ nach einem früheren Abenteuer, bei dem er von einer „häßlichen Alten […] mit infamer List“ zu einem 7 Tb 1913–1916, S. 329f. 8 Tb 1917–1919, S. 101. 9 Vgl. dazu Dirk Göttsche: „Der Abenteurer als Reflexionsfigur einer anderen Sozialität. Arthur Schnitzlers Lustspiel Die Schwestern oder Casanova in Spa im Kontext der Casanova-Figurationen der frühen Moderne“. In: Sprachkunst 30, 1999, S. 227–245. Vgl. auch den Handbuch-Artikel von Dirk Göttsche: „Die Schwestern oder Casanova in Spa“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 99–101.

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irrtümlichen Beischlaf verführt wurde (98). Während Casanova im Lustspiel durch den Koitus mit Anina ein Versehen unterläuft, präsentiert die Novelle zwei betrugsbedingte erotische Konstellationen: In der Vergangenheit wurde Casanova strategisch zum Opfer gemacht (ebd.); in der Erzähl­ gegenwart jedoch agiert er auf perfide, Marcolinas Würde und Autonomie missach­tende Weise selbst als Täter (86–91, 99–104).10 Viertens weist Casanovas Heimfahrt eine Fülle von Strukturanalogien und motivischen Vernetzungen mit anderen Werken Schnitzlers auf. So teilt Casanova die fluktuierenden Stimmungen,11 die Diskontinuität seines Selbstgefühls sowie die rastlose Suche nach erotischer Intensität und Selbstbestätigung mit dem Protagonisten des Einakter-Zyklus Anatol (1889–1893), der sich als narzisstischer Melancholiker haltlos durch ein von zahlreichen Amouren nur scheinbar erfülltes Dandy-Leben treiben lässt. Und durch die Hasard-Thematik antizipiert Casanovas Heimfahrt Aspekte von Schnitzlers späterer Novelle Spiel im Morgengrauen (1926/27): durch den unkalkulierbaren Zufall im Kartenspiel (46–49, 79–81), die Imagination vorbeirasender „Kartenbilder“ (54), vor allem aber durch gravierende Spielschulden und ihre Konsequenzen auf der Handlungsebene (81–91):12 Große finanzielle Verluste lassen den Offizier Lorenzi in Casanovas Heimfahrt und den Leutnant Willi Kasda in Spiel im Morgengrauen nämlich in eine prekäre Lage 10 Die Spiegelbildlichkeit der Szenen reicht sogar noch weiter: Mit Ekel erinnert sich Casanova daran, dass er von der „häßlichen Alten“ nach der Entdeckung seines Irrtums sogar „verhöhnt“ wurde (98). In einer Analogie dazu erwägt er, Marcolina auch selbst „mit höhnisch-lüsterner Rede zu erniedrigen“ (104). – Zwei andere Szenen sind durch die Vorstellung des revitalisierenden Eros spiegelbildlich aufeinander bezogen: So erinnert sich Casanova in Venedig an ein „Haus, in dem er die blasse, todkranke Agathe auf seine Weise wieder rot und gesund gemacht hatte“ (114). Als Reminiszenz daran erscheint eine Äußerung, durch die der auf Marcolina fixierte Casanova Amalia unter Druck setzt: „‚So verschaffe sie mir, Amalia! […] Sag’ ihr, daß ich euch gedroht habe. […] Sag’ ihr, ich wär’ ein Narr, ein gefährlicher Narr, aus dem Irrenhaus entsprungen, aber die Umarmung einer Jungfrau könnte mich wieder gesund machen“ (27). 11 Im Medium der erlebten Rede formuliert Casanova eine rhetorische Frage, die für die moderne Identitätskrise und für die ‚Unrettbarkeit‘ eines stabilen und homogenen Ich im Sinne von Ernst Mach symptomatisch ist: „Hatte er nicht schon unzählige Male erfahren, daß in jedes wahrhaft lebendigen Menschen Seele nicht nur verschiedene, daß sogar scheinbar feindliche Elemente auf die friedlichste Weise darin zusammenwohnten?“ (70). – In Schnitzlers Monolognovelle Fräulein Else und in seiner Erzählung Flucht in die Finsternis manifestiert sich die Heterogenität des Ich in extremen psychischen Ambivalenzen der Hauptfiguren. Vgl. Barbara Neymeyr: „Fräulein Else. Identitätssuche im Spannungsfeld von Konvention und Rebellion“. In: Interpretationen. Arthur Schnitzler: Dramen und Erzählungen. Hg. von Hee-Ju Kim und Günter Saße. Stuttgart 2007, S. 190–208. Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis. Hg. von Barbara Neymeyr. Stuttgart 2006. Nachwort: S. 122–143. 12 Vgl. dazu Barbara Neymeyr: „Aporien der Hasard-Leidenschaft im kulturanthropologischen Kontext. Die Inszenierungen des Glücksspiels in Stefan Zweigs Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau und in Arthur Schnitzlers Spiel im Morgengrauen“. In: Hasard. Der Spieler in der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Hg. von Louis Gerrekens und Achim Küpper. Würzburg 2012, S. 141–168.

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geraten. Sie eröffnet Casanova und Leopoldine Lebus jeweils unerwartete Handlungsoptionen, die beide dann strategisch nutzen. Die Problematik des Duells, die Schnitzler bereits in seiner ersten Monolognovelle Lieutenant Gustl (1900) reflektiert, freilich ohne dass der Zweikampf hier auch zur fiktionalen Wirklichkeit avanciert, spitzt sich zwischen Casanova und seinem Rivalen Lorenzi in Casanovas Heimfahrt dramatisch zu und hat für Lorenzi – ähnlich wie für Dr. Wehwald im Ta­ gebuch der Redegonda (1911) – ein katastrophales Finale zur Folge: Seine Absicht, sich für den infamen „Pakt“ (91) und für den Betrug an Marcolina im Duell an Casanova zu rächen, muss er mit dem Leben bezahlen. – Die Flug-Episode, die Casanova im Traum durchlebt (102), intensiviert Schnitzler einige Jahre später in der Schlusspassage seiner zweiten Monolognovelle Fräulein Else (1924), wenn die Protagonistin in ein letales Deli­ rium gerät, in dem Gedankenfetzen, Wahrnehmungen und Traumbilder in narkotischen Flugphantasien flimmernd ineinandergleiten. Während Casanovas Krisen­bewusstsein (103f.) am Ende der Novelle in dem „so lang­ ersehnten Heimatschlaf“ untergeht, in dem er „traumlos und dumpf“ versinkt (119), flieht Else nach ihrem exhibitionistischen Akt voll Scham in den Suizid. Ihre surrealen Visionen lösen sich dann in einem ekstatischen Entgrenzungs­erlebnis auf: Der Rausch ästhetischer Illusionen mündet direkt in die Agonie. Fünftens schließlich eröffnet Casanovas Alterskrise für Schnitzler attraktive Optionen, um den kulturhistorischen Anspielungshorizont der Novelle durch intertextuelle Bezüge zu erweitern. Deren Spektrum reicht von barocken Vanitas-Topoi gemäß Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus Sonnet. Vergänglichkeit der schönheit über Lessings Text Eine Duplik, Goethes Tragödie Faust I, Kleists Lustspiel Amphitryon und seine Erzählung Die Marquise von O… bis zu Thomas Manns Décadence-Novelle Der Tod in Venedig. Dass eine Analyse der skizzierten fünf Kontexte den Rahmen meines Aufsatzes sprengen würde, liegt auf der Hand. Im Folgenden konzentriere ich mich daher zunächst auf die kompensatorischen Strategien, mit denen Casanova auf die altersbedingte Krisensituation reagiert, untersuche die facettenreiche Interaktion zwischen Casanova und Marcolina und analysiere die Spiegel-Konstellationen zwischen Casanova, Lorenzi und Voltaire. Anschließend eruiere ich die vielfältigen intertextuellen Bezüge, durch die Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt in einem vom Barock über Aufklärung und Klassik bis zur Décadence reichenden kulturhistorischen Horizont situiert ist.

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2.  Analysen zu zentralen Themenfeldern der Novelle 2.1  Verlust der Aura und Strategien zur Kompensation der Identitätskrise Entsprang Casanovas rastloses Unterwegssein früher „der Abenteuerlust der Jugend“, so ist es – gemäß dem kunstvoll gestalteten Anfang der Novelle – nun die „Ruhelosigkeit des nahenden Alters“, die ihn umtreibt (5) und in eine Melange aus ohnmächtigem Zorn, Hass, quälender Unruhe und Sinnlosigkeits­gefühlen hineinreißt (6f.), aus der auch erotische Eskapaden mit seiner Wirtin und die intellektuelle Auseinandersetzung mit Voltaire keinen Ausweg bieten. Schnitzler inszeniert den alternden Abenteurer in einem Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit, von Selbsttäuschung und Desillusionierung, von Hybris, Ohnmachts­gefühlen und Selbst­ekel. Casanova, der das Fluidum des eleganten Bonvivants und unwider­stehlichen Verführers in der Erzählgegenwart vergeblich zu revitali­sieren versucht, leidet so sehr unter dem Verlust seiner Faszinations­kraft, dass er in nar­zisstische13 Größenphantasien flüchtet, durch die er seine Selbstwert­problematik aber nur kurzzeitig zu kompensieren vermag. Wiederholt schwankt Casanova zwischen Extremen: zwischen euphorischer Selbst­ apotheose und dem Absturz in Selbstverachtung und Suizid­gedanken. Die labile Psyche seines Protagonisten gestaltet Schnitzler intensiv durch erlebte Rede und inneren Monolog. Je stärker Casanova am Verlöschen des früheren Glanzes leidet (5), desto radikaler entfalten sich die antagonistischen Reflexe. Besonders symptomatisch für seine narzisstische Dimension erscheint die im Erlebnis von Eros und Agon ins Göttliche stilisierte Autoimago in der Nacht mit Marcolina und im Duell mit Lorenzi (99, 100, 107). Den Tendenzen zur Selbstentwertung folgt ein narzisstischer Omnipotenz-Rausch, in dem Casanova die Grenzen der Zeitlichkeit transzendiert, weil er Marcolina „durch die ungeheure Macht seines unverlöschlichen Wesens“ sogar „für alle Zeit zur Seinen gemacht“ zu haben glaubt (101). Mit drei verschiedenen Strategien versucht sich Casanova mental zu stabilisieren: Erstens erhofft er von erotischer Eroberung revitalisierende Selbstbestätigung, eine Überwindung des Vergänglichkeits­traumas und ein neues Gefühl von Jugendlichkeit. Zweitens will er mithilfe einer „Streitschrift gegen den Lästerer Voltaire“ (6) dauerhaften Ruhm erlangen und sich 13 Der psychoanalytischen Forschung von Heinz Kohut und Otto F. Kernberg zufolge ist die narzisstische Persönlichkeit durch eine Selbstwertproblematik bestimmt, die psychische Labilität, ein kompensatorisches Bedürfnis nach Selbstbestätigung, ungewöhnliche Egozentrik, Größenphantasien, fehlende Empathie und gesteigerte Kränkbarkeit zur Folge hat. Die narzisstische Symptomatik kann auch Regression, antisoziales Verhalten, offene Aggressivität sowie bedrohliche Feindbilder und idealisierende Überhöhungen einschließen. Vgl. dazu Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 1995, S. 261–273.

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in Venedig etablieren.14 Und drittens ringt er um narrative Selbst­kon­stitution als eloquenter Causeur, wenn er im Medium des Erzählens die habituelle Souveränität des weltgewandten Abenteurers inszeniert. Welche mentale Metamorphose Casanova durch das erlebnis­gesättigte Erzählen erfährt, wenn er Fakten mit Fiktion mischt und reale Begeben­heiten durch seine Imagination überlagert, zeigt schon die erste Episode dieser Art: Während er den Zuhörern seine phantasievoll ausgeschmückten Abenteuer präsentiert, kommt es ihm beinahe so vor, „als wäre er in der Tat noch heute der glücksverwöhnte, unverschämte, strahlende Casanova, den weltliche und geistliche Fürsten mit hoher Gunst ausgezeichnet“ hatten, „und nicht ein herabgekommener Schlucker“, der demütig darum bitten musste, in Venedig „als ein Bettler, als ein Nichts – sein einst so prangendes Dasein zu beschließen“ (20). Dieser Hiat offenbart zugleich den psychischen Wirkungsmechanismus: Indem Casanova die glanzvolle Vergangenheit narrativ in die Gegenwart hinein verlängert, schafft er sich im Medium des Erzählens eine Kontinuität seines Selbstgefühls und damit eine vorübergehend stabilisierte Identität. Ja, mitunter scheint er sich im narrativen Prozess durch den „Zauber seiner eigenen Vergangenheit“ (94) sogar gleichsam neu zu erfinden. Trotz des provin­ziellen Schauplatzes auf einem Weingut bei Mantua erhält die Novelle durch sein Erzählen eine kosmopolitische Spannweite: durch Casanovas diplomatische Aktivitäten „zwischen Madrid, Paris, London, Amsterdam und Petersburg“ (19) und weitere Abenteuer in Venedig, Turin, Murano und Spa (93f.). Das Terrain der Wahrheit verlässt der alternde Casanova allerdings keineswegs nur dann, wenn er vergangene Erlebnisse beim Erzählen nostalgisch überhöht und phantasievoll stilisiert. Mehrere Episoden der Novelle zeigen, dass er auch vor Lüge, Erpressung, Betrug, Vergewaltigung und Totschlag nicht zurückschreckt. Den Verlust der Aura, den der Protagonist durch die Einbuße an erotischer Attraktivität erlebt, intensiviert Schnitzler durch die moralische Depravation seiner Figur. Mit der nachlassenden physischen Ausstrahlung korrespondiert eine psychische Décadence Casanovas, die Schnitzler schließlich bis zur vollständigen Entzauberung des Mythos treibt. Nur einen Augenblick von zeitenthobener nostalgischer Magie verschafft er seinem Protagonisten: als er in der Idylle eines Klostergartens eine Nonne aus dem Verborgenen seinen Namen „mit dem vollen Klang der Liebe“ rufen hört (68). Die utopische Atmosphäre dieser Szene scheint 14 Entgegen Schnitzlers Behauptung in der abschließenden „Anmerkung“ zu seiner Novel­ le, Casanovas Streitschrift gegen Voltaire entspreche hier nicht „der geschichtlichen Wahrheit“ (119), hat der historische Casanova tatsächlich sogar mehrere Schriften gegen Voltaire verfasst, z.B. im Jahre 1779 Scrutinio del libro ‚Eloges de M. de Voltaire‘. Vgl. dazu detaillierter Karl Konrad Polheim: „‚Eine Wahrheit von höherem Range‘. Zu Arthur Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt “. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1998, S. 231–241.

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für Casanova aber nur vorübergehend einen Weg zum „Abschied“ (69) vom obsolet gewordenen Lebensmodell als erotischer Abenteurer und damit zur reifen Akzeptanz des Alterns zu eröffnen. Alle drei Versuche Casanovas, die unbewältigte Alterskrise zu kompensieren, nämlich seine erotische, intellektuelle und narrative Strategie, wirken zusammen, wenn er mit früheren Abenteuern und dem intellektuellen Anspruch seines Traktats gegen Voltaire der attraktiven Mathematikerin und Philosophin Marcolina imponieren will. Dennoch scheitert er mit seiner Absicht, sie durch das Fluidum seiner Persönlichkeit, durch geistige Souveränität und reichhaltige Lebenserfahrung zu faszinieren und zu verführen. In der Diskussion unterliegt er nämlich der intellektuellen jungen Frau, die seine Argumente durch glasklare Rationalität und unbestechliche Urteilskraft konterkariert und ihm seine eigene Unzulänglichkeit dabei so bewusst werden lässt, dass er sein Selbstbild schließlich kritisch hinterfragen und revidieren muss. 2.2  Casanovas Interaktion mit Marcolina Schnitzler führt Marcolinas Überlegenheit und Casanovas Scheitern während der spannungsreichen Kontroverse in mehreren Phasen vor. Dabei wird evident, dass Casanova im Gespräch mit der jungen Intellektuellen weder stringent und sachgerecht zu argumentieren vermag, noch von seinem jahrzehntelangen Erfahrungsvorsprung profitieren kann. Schon zu Beginn der Diskussion begibt er sich in riskanter Manier aufs Glatteis, als er „gegen seine eigne bessre Überzeugung Marcolina gegenüber die Kabbala als vollgültige und ernsthafte Wissenschaft zu verteidigen“ versucht und sie sogar als „die metaphysische Vollendung der Mathematik“ bezeichnet (29). Von einer spöttischen Bemerkung der Mathematikerin provoziert (ebd.), verliert er sich dabei mit rhetorischer Verve in einen haltlosen Irrationalismus, der ihm zuerst einen mitleidigen Blick, dann eine ironische Replik und schließlich energischen Widerspruch einträgt (30f.). Als Casanova bei der Abwehr von Marcolinas Ansicht, die jüdische Kabba­la sei nicht mehr als sophistisches Geschwätz, Voltaire als einen sehr begabten Sophisten bezeichnet, um vertrautes Terrain beschreiten und mit seinem Traktat gegen ihn glänzen zu können, mündet der Diskurs in eine weltanschauliche Kontroverse mit logischen Dilemmata. Denn Casanova versteigt sich zum Verdikt, Voltaire sei „bei all seinem Genie ein gott­loser Mensch“, und „ein Gottesleugner“ könne „niemals ein großer Geist sein“ (30).15 Obwohl er Voltaire Genialität attestiert, erhebt er 15 Casanovas problematische Konklusion vollzieht sich demnach in folgenden Schritten: Prämisse 1: Der geniale Voltaire ist Atheist. Prämisse 2: Ein Atheist kann kein großer Geist sein. Conclusio 1 (speziell): Voltaire ist also kein großer Geist. Conclusio 2 (generell): Genialität

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„Ungläubigkeit“ respektive „Gottlosigkeit“ (31) im Hinblick auf geistige Größe dogmatisch zum Ausschlusskriterium. Auf der Basis fragwürdiger Prämissen in Verbindung mit einer petitio principii kommt so die anfechtbare conclusio zustande, durch seine Genialität sei Voltaire nicht per se auch „ein großer Geist“ (30). Auf diese Einschätzung reagiert Marcolina mit zweifacher Kritik: Erstens bezweifelt sie generell die Legitimität von Casanovas These, weil sie Atheismus und Geistesgröße für problemlos kompatibel hält, und zweitens fordert sie von ihm speziell einen Nachweis der angeblichen „Gottlosigkeit Voltaires“ (31).16 Obwohl sich Casanova gerade durch das Thema Voltaire auf sicherem Terrain wähnte, erleidet er hier seine größte Niederlage im Disput: Die Textbelege, die Casanova als Indizien für Voltaires „Spottlust, Zweifelsucht und Gottlosigkeit“ aus dem Gedächtnis zitiert (ebd.), deutet Marcolina nämlich als Signale für Genialität und Wahrheitsdrang, intellektuelle Redlichkeit und Courage sowie als Ausweis moralischer Integrität, um dann zu erklären, dass ein solches „unermüdlich heißes Streben nach Wahrheit“ sowie „Zweifel, Spott“, ja sogar „der Unglaube selbst, wenn er mit so reichem Wissen, solch unbedingter Ehrlichkeit und solch hohem Mut verbunden sei, Gott wohlgefälliger sein müsse als die Demut des Frommen“, die meist nur intellektuelle oder moralische Defizite kaschiere, oft sogar „Feigheit und Heuchelei“ (ebd.). – Marcolinas Replik entspricht dem Wahrheits­ethos des Aufklärers Lessing17 und nötigt Casanova dazu, impliziert nicht per se auch Geistesgröße. – Wie anfechtbar diese apodiktischen Thesen von Schnitzlers Casanova-Figur sind, erhellt aus seinem konkreten Verdikt über Voltaire und aus seiner abstrakten Quintessenz, die reale Gegebenheiten sogar invertiert. Denn Genialität im Sinne einer kreativen Höchstbegabung ist ja ein Spezialfall von Geistesgröße. 16 Voltaire, der zu den bedeutendsten Kirchenkritikern des 18. Jahrhunderts zählte, attackierte energisch den Machtmissbrauch der Kirche und protestierte gegen religiös motivierte Todesurteile. Die katholische Kirche setzte seine Werke auf den Index der verbotenen Bücher und warf ihm Atheismus vor. Voltaire selbst wehrte sich allerdings gegen diesen Vorwurf. – Die Problematik des Index Librorum Prohibitorum greift Schnitzler übrigens auch in Casano­ vas Heimfahrt auf. Als Casanova vermutet, dass Marcolina von der Kirche verbotene Bücher liest, weist er auf seinen Kontakt zu einem Erzbischof hin und formuliert die inquisitorische Drohung: „Ich kann sie verderben. Euch alle kann ich verderben“ (28). 17 Aufschlussreich sind die Analogien zwischen dem aufklärerischen Wahrheitsanspruch Marcolinas und einem berühmten Diktum Lessings. In seiner Schrift Eine Duplik, die er für die theologische Debatte zu den sogenannten ‚Reimarus-Fragmenten‘ verfasste, erklärt Lessing 1778: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ (Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von

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ihre souveräne Argumentation und intellektuelle Reife staunend anzuerkennen.18 Darüber hinaus erfährt er durch Marcolinas Reflexionen eine fundamentale Desillusionierung, weil „eine gewisse schwankende Seelen­ stimmung seiner letzten Jahre, die er als Gläubigkeit aufzufassen sich gewöhnt hatte“ (ebd.), sich nun zu verflüchtigen droht. Offenbar sind gerade ihm jene Fehl­haltungen eigen, die Marcolina kritisiert: ein strategischer Pragmatismus und Opportunismus, gepaart mit geistiger Bequemlichkeit, die ihn mitunter zum sacrificium intellectus tendieren lässt. Ein konformistisches Plädoyer formuliert Casanova, indem er Marcolinas Argumentation durch ihr subversives Potential als gefährlich für die Ordnung in Kirche und Staat betrachtet (31f.). Genau diese Position revidiert er später allerdings, wenn er sich, von Bragadino zu Spitzeldiensten genötigt, in einer bis zum Hass forcierten Opposition zur Regierung sieht (76). Im Disput mit Marcolina versucht Casanova durch das Gesprächsthema Politik vergeblich, seine eigene „Erfahrung und Weltläufigkeit“ strategisch in Stellung zu bringen (32). Selbst in diesem Terrain ist sie ihm durch ihre Urteilsfähigkeit überlegen, weil sie sich vom Autoritätsanspruch staatlicher Organisationen und politischer Instanzen nicht blenden lässt, sondern illusionslos deren Machtkalkül kritisiert: „Eigennutz und Herrschsucht“ hält sie für das Prinzip der Welt (ebd.). Beeindruckt von der geistigen Auto­ nomie seiner Gegnerin, sieht sich Casanova mit nostalgischer Resignation an die frühere nonkonformistische „Kühnheit“ seines eigenen Denkens erinnert (ebd.), muss sich zugleich aber eingestehen, dass ihn schon damals eine etwas selbstzufriedene Attitüde von der intellektuellen Redlichkeit und sachorientierten Urteilsschärfe Marcolinas unterschied. Mit der religiösen Überzeugung verliert Casanova zugleich das weltanschauliche Fundament für seinen Traktat gegen Voltaire, das aber ohnehin nicht primär intrinsisch motiviert, sondern von pragmatischem Kalkül bestimmt war: Einerseits plante Casanova nämlich, „Voltaire zu vernichten“, Wilfried Barner u.a. Bd. 8: Werke 1774–1778. Hg. von Arno Schilson. Frankfurt a.M. 1989, S. 510). – Nietzsche würdigt in der Geburt der Tragödie, auf die Schnitzler im Tagebuch Bezug nimmt, Lessings unermüdliche Bereitschaft zum „Suchen der Wahrheit“ und bezeichnet dieses Ethos als „das Grundgeheimniss der Wissenschaft“ (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München u.a. 1980, Bd. 1. S. 99). – Schnitzler kann sich also direkt auf das Wahrheitsethos Lessings oder auf dessen Vermittlung durch Nietzsche bezogen haben. 18 Gesa Dane hingegen behauptet erstaunlicherweise, dass der Disput „unentschieden ausgeht, da keiner der beiden Partner den jeweils anderen überzeugt“ (Gesa Dane: „‚Im Spiegel der Luft‘. Trugbilder und Verjüngungsstrategien in Arthur Schnitzlers Erzählung Casanovas Heimfahrt “. In: Text+Kritik 138/139, 1998, S. 61–75, hier S. 68). Und auch Hans-Georg Pott unterschätzt Marcolinas Brillanz erheblich, wenn er sie lediglich als Casanova „intellektuell ebenbürtig“ betrachtet (Hans-Georg Pott: „Ein alternder Casanova. Arthur Schnitzlers Novel­le Casanovas Heimfahrt “. In: Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin. Hg. von Henriette Herwig. Freiburg i.Br. u.a. 2009, S. 195–207, hier S. 202).

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um mit seinem eigenen „Ruhm den seinen zu überstrahlen“ (51), andererseits wollte er sich mit diesem Projekt bei den gegen die „Freigeisterei“ agierenden „Venezianer Ratsherren“ anbiedern (5f.), die ihn später strategisch für Spitzeldienste19 und Denunziation zu instrumentalisieren versuchen, gerade weil ihm der Ruf eines amoralischen Freigeistes vorangehe (71–74). Durch Marcolina desillusioniert, durchschaut Casanova nicht nur seine eigene Weltanschauung als fassadenhaft und unauthentisch; vergeblich erscheinen ihm nun auch seine intellektuellen Ambitionen auf dauerhaften Ruhm. Selbstkritisch erkennt Casanova zudem, dass seine Fixierung auf den Eros eine hinreichende Konzentration auf geistige Inhalte nicht erlaubte. Wenn er meint, er hätte es mit engagierterer Arbeit „den ersten dieses Fachs, Dichtern und Philosophen“, gleichtun können (52), dann verabschiedet er sich mit dieser Autosuggestion im Irrealis der Vergangenheit bereits von seinem hybriden Anspruch, „Voltaire zu vernichten“ und seinen Ruhm „zu überstrahlen“ (51).20 Später setzt sich Casanovas Impuls zur Polemik gegen Voltaire allerdings unter inversen Vorzeichen fort: wenn er ihm nicht mehr ketzerische Radikalität, sondern kompromisslerische Feigheit vorwirft (76). Der ersten Kontroverse folgt noch ein zweiter Diskurs zwischen Casanova und Marcolina: Analog zu ihrer spöttischen Bemerkung, es sei „sehr hübsch“ von Casanova, „den größten Geist des Jahrhunderts so milde zu beurteilen“ (30), erwägt sie später mit ironischem Unterton, bei Voltaire persönlich nachzufragen, „wie er die Streitschrift seines gefährlichsten Wider­sachers“ aufgenommen habe (65). In seiner Replik meldet Casanova, der schon früher nur den „schriftstellerischen Ruhm“ als „erstrebenswert“ bezeichnet hatte (36), einen Anspruch auf Resonanz und dauerhafte Geltung bei der „Nachwelt“ an (65), den allerdings eine banale und konventionelle Kostprobe aus seinem Traktat ad absurdum führt (58). Konterkariert wird damit zugleich Casanovas Erwartung, Marcolina werde seinen „glänzenden Stil“ goutieren und ihn als Genie bewundern, das „Voltaire vernichtet“ hat (53). Bestätigung erfahren dadurch Marcolinas intuitiver Vorbehalt gegenüber Casanova und ihre skeptische Reaktion auf seine Äußerungen in beiden Disputen. Seiner Annahme, „endgültige Entscheidungen“ in philo­ sophischen oder religiösen Fragen seien möglich (65), hält sie eine methodisch reflektierte erkenntniskritische Position entgegen: „Die Unendlichkeit und die Ewigkeit zu erfassen wird uns immer versagt sein“ (ebd.). Ihr er19 Im Tagebuch erwähnt Schnitzler am 23. Februar 1915 als „traurigen Nachtrag“ Casanovas „Spionberichte, seine kläglichen Briefe“ (Tb 1913–1916, S. 175). 20 Rey verwechselt die hybride Autosuggestion von Schnitzlers Casanova-Figur mit der ernüchternden fiktionalen Realität, wenn er allen Ernstes behauptet, Schnitzler stelle Casanova „als den genialen Menschen schlechthin dar“, den sein „glänzender Geist“ dazu befähige, „sich mit den Größten auf allen Gebieten zu messen“ (William H. Rey: Arthur Schnitzler. Die späte Prosa als Gipfel seines Schaffens. Berlin 1968, S. 33).

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scheint nun sogar tendenziell „all das, was man Philosophie und Religion nennt“, wie ein bloßes „Spiel mit Worten“ (ebd.). Marcolinas Ansichten lassen deutliche Affinitäten zu mehreren Refle­ xionen in Schnitzlers Aphorismen und Betrachtungen erkennen: „Metaphysische Antinomien: Unfähigkeit, die Unendlichkeit zu erfassen – und zugleich die Unfähigkeit, sich eine begrenzte Welt vorzustellen.“21 „Wahrheiten sind immer zweifelhaft […]“.22 „Philosophie ist auch Glaube, ja im letzten Sinne Dogma; auch dort, wo sie in Zweifel ausläuft – und dort vielleicht am meisten.“23 „Die Worte spielen mit seinem Geist, nicht der Geist mit Worten.“24 Angesichts der Unfähigkeit des menschlichen Intellekts, meta­ physische Fragen verlässlich zu beantworten, betont Marcolina die Relativität philosophischer Argumentation, stellt deren Sinn überhaupt in Frage und plädiert dafür, „nach dem Gesetz zu leben, das jedem von uns in die Brust gesenkt ist“ (65). Damit scheint sie auf Goethes berühmtes Gedicht Ur­worte. Orphisch anzuspielen, das Schnitzler in seinen Aphorismen und Betrach­ tungen erwähnt.25 Die „Daimon“-Strophe in Urworte. Orphisch exponiert das individuelle Lebensgesetz: Denn die „Geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (V. 8), ist bestimmt vom „Gesetz, wonach du angetreten“ (V. 4).26 Desillusionierung und eine kritische Selbstdiagnose, zu der Marcolinas Denkimpulse maßgeblich beigetragen haben, lösen bei Casanova mehrfach Frustration und Ennui, mitunter sogar eine flächenbrandartige Aggressivität aus: Sein „ungeheurer Grimm“ richtet sich „gegen Marcolina, gegen Voltaire, gegen sich selbst, gegen die ganze Welt“ (53). Zur Quintessenz der Alterskrise wird das „Wort ‚vorbei‘“, das Casanova unwiderruflich als „Pulsschlag seines verlorenen Daseins“ empfindet (55). Umso mehr provoziert ihn direkt danach die nächtliche Zufallsbeobachtung (55f.), dass sich Lorenzi aus Marcolinas Zimmer durch das Fenster davonstiehlt, konfrontiert sie ihn doch mit der Einsicht, dass die Intellektuelle keineswegs einseitig rational orientiert ist, wie er glaubte, sondern auch die erotische Dimension in ihr Leben zu integrieren weiß,27 allerdings mit seinem jüngeren 21 Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Hg. von Robert O. Weiss. Frankfurt a.M. 1967, S. 253. Vgl. auch S. 260. 22 Ebd., S. 243. 23 Ebd., S. 246. 24 Ebd., S. 250. 25 Vgl. ebd., S. 273. 26 Vgl. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Bd. I: Gedichte und Epen I. 15. Aufl. München 1993, S. 359. 27   Auf geradezu avantgardistische Weise weicht die emanzipierte Intellektuelle Marcolina als facettenreiche Persönlichkeit von den Denkkonventionen und Weiblichkeitsklischees ihrer Zeit ab. Trotz ihrer hochentwickelten Rationalität wird sie von Amalia auch als verspieltes Naturkind mit Affinität zu Kindern charakterisiert (27). – Casanova reflektiert die unterschiedlichen Wesensdimensionen Marcolinas im gelehrten Diskurs, als Geliebte und im Spiel mit Kindern gemäß der ‚Unrettbarkeit‘ eines homogenen Ich; dabei rekurriert er auf seine

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Alter ego. – Nach der Niederlage im Disput mit Marcolina hatte Casanova ihre erotische Reserve ihm gegenüber ja zunächst auf ein Defizit bei ihr zurückgeführt: „Marcolina – ist kein Weib. Eine Gelehrte, eine Philosophin, ein Weltwunder meinethalben – aber kein Weib“ (33). Allerdings konnte der Verdrängungsakt schon damals nicht die Selbsterkenntnis verhindern, dass „er sich so nur selbst zu belügen, zu trösten, zu retten versuchte, und daß diese Versuche vergeblich waren“ (ebd.). Trotz dieser Einsicht folgen in der Novelle noch weitere antagonistische Reflexe Casanovas zur Kompensation seiner Identitätskrise. Dass sie in Eros und Agon bis ins Phantastisch-Irreale reichen, zeigt seine Imagination während des Duells mit Lorenzi: „eine Fabel ist Jugend und Alter, dachte er … Bin ich nicht ein Gott? Wir beide nicht Götter? Wer uns jetzt sähe! […] Er ist nur jung, ich aber bin Casanova! …“ (107). Dieser Einfall korrespondiert mit Casanovas Selbstapotheose nach der erschlichenen Liebes­nacht mit Marcolina, die er als singuläres Erlebnis von mystischer Intensität empfindet: „War an diesen Lippen nicht Leben und Sterben, Zeit und Ewigkeit Eines? War er nicht ein Gott – ? Jugend und Alter nur eine Fabel, von Menschen erfunden?“ (99). Nicht nur die Vergänglichkeit erscheint ihm im totum simul aufgehoben, sondern auch die für ihn existentiell so bedeutsame Differenz von „Heimat und Fremde, Glanz und Elend, Ruhm und Vergessensein“ (ebd.). Wenn sie durch coincidentia oppositorum in einer unio mystica aufgeht, dann verbindet sich der Rausch erotischer Erfüllung mit dem Verlust des Realitätssinns: Was Casanova ausschließlich betrügerischer Infamie verdankt, deutet er in narzisstischer Euphorie zum Indiz für seine eigene singuläre Persönlichkeit um: So glaubt er „die Jüngste, die Schönste, die Klügste durch die ungeheure Macht seines unverlösch­lichen Wesens gewonnen und sie für alle Zeit zur Seinen gemacht“ zu haben (100f.). Casanovas Allmachtsphantasie schlägt nach der fatalen Desillusionierung sofort in einen Suizidwunsch um (103), als er sich beim Erwachen „mit einem Blick unnennbaren Grauens“ konfrontiert sieht (101). Das intensive Ineinandertauchen der Blicke inszeniert Schnitzler hier genau als das Geeigene Erfahrung, „daß in jedes wahrhaft lebendigen Menschen Seele […] sogar scheinbar feindliche Elemente auf die friedlichste Weise darin zusammenwohnten“ (70). Dies gilt auch für Casanova, wenn er sich selbst als verzweifelt und böse sowie als sanft, lustig und gütig erlebt (ebd.). Als symptomatisch erscheinen mithin auch seine Ambivalenzen gegenüber Marcolina: Nach seiner projektiven erotischen Selbstentzündung, die sich schon vor der ersten Begegnung bis zur „törichte[n] Glut“ steigert (16), treibt ihn die „entflammte Phantasie“ zu „lüsternen“ Deutungen (21), bis Marcolinas Aura „von Herbheit und Keuschheit“ in ihm „Andacht“ und „Hingegebenheit ohne jedes Verlangen“ auslöst (28). Als Casanova seine Autosuggestion, sie sei zwar ein gelehrtes „Weltwunder […] aber kein Weib“ (33), als Irrtum erkannt hat, ist sie für ihn „die Heuchlerin, die Lügnerin, die Dirne“ (56) und „eine lüsterne kleine Hure“ (57), die er in „boshaft-lüsternen Gedankenspiele[n]“ (58) sogar als alt und hässlich imaginiert (59), bis Zorn, Verachtung, Hass abrupt in Liebe (67) umschlagen: „Lust ward zur Andacht“ (99) – in der mystisch intensivierten Erotik der gemeinsamen Nacht.

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genteil liebender Verschmelzung: als Gleichklang negativer Gefühle. Denn mit Casanovas „Wut und Scham“ korrespondieren bei Marcolina „Scham und Entsetzen“ (101). Und die von ihm erlebte Magie mystischer Intensität im Eros wird katastrophal invertiert, wenn sich Casanova nun gleichsam mit ihren Augen sieht: sein verlebtes Gesicht mit einem ins Boshafte28 depravierten Ausdruck „im Spiegel der Luft“ (ebd.) – Signum der Vertreibung aus dem imaginären Paradies der Illusionen nach dem Sündenfall. 2.3  Identität und Alterität: Casanova in Spiegel-Konstellationen mit Lorenzi und Voltaire In seiner Novelle inszeniert Schnitzler eine Mehrzahl spiegelbildlicher Korrespondenzen, die den Protagonisten vor allem mit Lorenzi und Voltaire verbinden, daneben aber punktuell auch mit Marcolina, dem Marchese und den Brüdern Ricardi: In der intellektuellen Kühnheit Marcolinas entdeckt Casanova sein eigenes früheres Ich wieder (32). Mit dem Marchese teilt er offenbar eine amoralische Disposition, ja sogar eine Tendenz zur „Schurkerei“ (83, 86), die als Korrumpierung der alternden Männer erscheint. Und in den greisenhaften Brüdern Ricardi, die nach einem Junggesellen-Leben „in der großen Welt“ durch fehlende Fortune als Alternde in eine prekäre Situation geraten sind (44), tritt ihm seine eigene Altersproblematik intensiviert entgegen. Besonders auffällig gestaltet Schnitzler allerdings die ambivalente Affinität Casanovas zu Lorenzi, mit dem ihn keineswegs nur die wechselseitige „Abneigung“ verbindet (39). Als jüngerer Doppelgänger avanciert er zum Spiegelbild Casanovas, der schon bei der ersten Begegnung intuitiv erkennt, dass ihm in Gestalt Lorenzis „sein eigenes Bild“, aber „um dreißig Jahre verjüngt“, entgegentritt (40). So suggestiv drängt sich ihm dieser Eindruck auf, dass er sich sogar fragt: Bin ich etwa in seiner Gestalt wiedergekehrt? […] Da müßte ich doch vorher gestorben sein … Und es durchbebte ihn: Bin ich’s denn nicht seit lange[m]? Was ist denn noch an mir von dem Casanova, der jung, schön und glücklich war? (ebd.)

Schon hier deutet sich die existentielle Herausforderung durch das jüngere Alter ego an, die sich durch Casanovas Gefühl einer erotischen Rivalität im 28 Stock (Anm. 5) sieht in der Novelle eine kunstvolle Kontamination von Casanova- und Don-Juan-Stoff. Aufgrund seiner Frustration werde der Protagonist böse, verlasse dabei „die Rolle des Frauenbeglückers“ Casanova und gleiche sich „dem Frauenzerstörer Don Juan“ an (S. 61). – Lukas setzt allerdings einen anderen Akzent, wenn er im Hinblick auf Schnitzlers Casanova-Novelle konstatiert: „Alter und biologische Defizienz erhalten geradezu den Rang des moralischen Makels der Person“ (Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996, S. 114).

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Hinblick auf Marcolina und durch den gemeinsamen Betrug an ihr noch steigert. – Auch wenn Casanova für Lorenzi von Anfang an eine „rätselhafte Sympathie empfunden“ zu haben behauptet (88) und ihn und sich selbst als „Brüder im Geiste“ (86) bezeichnet, signalisiert die phantastische Doppelgänger-Assoziation in Verbindung mit spontaner „Abneigung“ (39) bereits die durch die Rivalität bedingte kompromisslose Alternative: Er oder ich? – Sie wird durch das prospektive „Mitleid“ Casanovas, als er Lorenzis Tod „im ersten Gefechte“ ahnt (79), nur momenthaft überlagert und mündet schließlich in das nach dem Modell eines antikischen Agon stilisierte Degenduell, in dem sich für Casanova die Grenzen von Zeit und Identität aufzulösen scheinen: „Eine Fabel ist Jugend und Alter, dachte er … Bin ich nicht ein Gott?“ (107). Das enthusiastische Selbstgefühl, mit dem Casanova in seiner forcierten Autosuggestion auf dem eigenen Mythos beharrt, verflüchtigt sich allerdings schon im nächsten Moment nach dem Duell-Tod Lorenzis: „Glücklicher“, sagt der alternde Abenteurer, als er „den Ermordeten auf die Stirn“ küsst (108). Naheliegend erscheint hier die Assoziation an Plautus’ Sentenz „Quem di diligunt adulescens moritur“ (Jung stirbt, wen die Götter lieben). Aber Casanovas emotionale Annäherung an den getöteten Doppelgänger zeugt wohl weniger von Empathie, Zuneigung oder gar Altru­ismus als von einer auf das Alter ego verschobenen Selbstbezüglichkeit. Dafür spricht auch eine spätere Assoziation Casanovas: Erinnerungsfragmente, die sich bis zur Identitätsauflösung verfremden, evozieren in ihm nun sogar den Eindruck, als wäre er „in einer rätselhaften Weise nicht Casanova, sondern Lorenzi, nicht der Sieger, sondern der Gefallene, nicht der Entfliehende, sondern der Tote“ (112). Casanovas Duell-Sieg schlägt hier in eine Niederlage um, weil der Tod des jüngeren Alter ego zugleich symbolisch mit seiner eigenen Existenz korreliert ist: Mit dem jugendlichen Ebenbild Casanovas verschwinden insofern auch seine eigenen Zukunfts­ chancen. Und die Tötung des Rivalen impliziert zudem eine moralische Selbst-Vernichtung. Spiegelbildliche Konstellationen inszeniert Schnitzler sogar in Casanovas Einstellung zu Voltaire: Der Begriff „Zweikampf“ (112), der sich stricto sensu auf das Duell mit Lorenzi bezieht, findet eine metaphorische Verwendung, wenn Casanova mit dem berühmten Aufklärer im Diskurs „die Klingen kreuzen“ will (77), um ihn im „Zweikampf“ (33) „zu vernichten“ (51). Lorenzi tritt in der Novelle aus Casanovas Perspektive explizit und geradezu demonstrativ als erotischer Rivale und jüngerer Doppelgänger in Erscheinung (40). Überraschenderweise avanciert der intellektuelle Gegner Voltaire in einer späteren Textpassage implizit und daher weniger spektakulär zum älteren Alter ego Casanovas. – Das tertium comparationis für diese Spiegel-Konstellation bildet sich allerdings erst durch Casanovas Ge-

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sinnungsumschwung heraus: Bereits der Diskurs mit Marcolina als überlegener „Gegnerin“ (31) hatte ihm Impulse zu illusionsloser Selbstkritik gegeben und dadurch das argumentative Fundament für seine Attacke gegen Voltaires Freigeisterei ausgehöhlt. Der Verlust von Casanovas „Gläubigkeit“, die sich unversehens zu einer diffusen „Seelenstimmung“ verflüchtigt (31), mündet später in einen aggressiven Atheismus. Ihn erkennt Casanova schließlich als sein eigenes Credo, als er sich durch Alterskrise und Vergänglichkeitstrauma mit einer subjektiven Variante der Theodizee-Frage konfrontiert sieht: „Was war denn das für ein Gott, der nur den Jungen hold war und die Alten im Stich ließ“, der „Reichtum in Armut, […] Lust in Verzweiflung kehrte?“ (76). Die Inversion von Casanovas weltanschaulichen Prämissen bringt ihn selbst in eine symptomatische Affinität zu seinem ursprünglichen Vol­­taireBild. Gespiegelt erscheint hier die negativistische Trias: Denn das Zweifeln, Lästern, Fluchen (ebd.) des atheistischen Freigeistes Casanova entspricht dem Gestus, den er im Diskurs mit Marcolina noch unerbittlich als Voltaires „Spottlust, Zweifelsucht und Gottlosigkeit“ (31) verurteilte. Mit dem Verdikt, als „Gottesleugner“ könne Voltaire prinzipiell „niemals ein großer Geist sein“ (30), trifft der Polemiker Casanova mithin, ohne es zu bemerken, in einer Art von Bumerangeffekt inzwischen vor allem sich selbst. Da er die weltanschauliche Übereinstimmung mit Voltaire nach der Revision des eigenen Standpunkts ebenfalls nicht erkennt, perpetuiert sich seine Gegnerschaft, die jetzt jedoch eine genau konträre Motivation erhält: Der blasphemische Impetus, mit dem Casanova zornig „die Fäuste zum Himmel“ ballt, weckt erneut seinen militanten Hass auf Voltaire, den er in einer neuen Streitschrift als „Schwätzer“ und „Feigling“ wegen angeb­licher „Halbheit“ und „Kriecherei“ attackieren will (76). Sah er sich zunächst durch die ketzerische Radikalität des berühmten französischen Aufklärers provoziert, der sich weltanschaulichen Konventionen und religiösen Normen durch autonome Skepsis entzog, so meint er ihm nun kompromiss­ lerische Feigheit vorwerfen zu können (ebd.). Schon die Widersprüchlichkeit seiner Voltaire-Kritik konterkariert den demonstrativen geistigen Anspruch Casanovas und lässt bei ihm ein sacrifi­ cium intellectus vermuten, zumal er sich mit einer bemerkenswerten contradic­ tio in adjecto in emphatischer Hybris selbst zum „Ketzer […] mit heiligerer Überzeugung“ stilisiert, als sie allen anderen eigen ist (76). – Vollends dekuvrierend erscheint direkt danach der „Brief voll geheuchelter Demut und verlogenen Entzückens“ (77), mit dem Casanova auf die für ihn zutiefst verstörende Nachricht Bragadinos aus Venedig reagiert, der ihn für Spitzeldienste und Denunziation gegen revolutionär gesonnene Freigeister und damit für reaktionäre politische Zwecke zu instrumentalisieren sucht. Wenn Casanova im Antwortbrief sogar wünscht, sich seinen verehrten „Gönnern

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[…] sobald als möglich zu Füßen legen zu dürfen“ (ebd.), dann verwandelt er sich durch diesen haltlos-devoten Gestus in den „geprügelten Hund“ zurück (56), als der er die erotische Liaison zwischen Marcolina und Lorenzi entdeckt hatte. Durch die extreme Diskrepanz zwischen authentischer Empörung und verlogener Speichelleckerei fällt er zugleich unter Marcolinas Verdikt gegen „Feigheit und Heuchelei“ (31). Evident wird dabei ein blinder Fleck im Bewusstsein des Protagonisten: Offenbar ahnt er nicht, dass es primär die eigenen Charakterdefizite sind, die er in seinem neuen polemischen Impuls auf Voltaire projiziert. Die konträren Motive für seine Attacken auf Voltaire verraten nicht nur die Instabilität von Casanovas ketzerfeindlicher Gesinnung, die er selbst später desillusioniert auf eine eigene „Komödie […] aus Langeweile und Ekel“ zurückführt (76). Zugleich signalisieren sie einen kompensa­ torischen Abgrenzungs- und Selbstbehauptungswillen, der in der von heftigen Aggressionen (53) begleiteten Identitätskrise Casanovas offenbar einer Ich-Stabilisierung dienen soll. Dass ihn die intellektuelle oder erotische Überlegenheit eines anderen Mannes so provozieren kann, dass er sogar kompromisslos die Auslöschung des Konkurrenten beab­sichtigt, zeigt schon sein radikaler Wunsch, im „Zweikampf“ (33) „Voltaire zu vernichten“ (51).29 In Casanovas militanter Perspektive geraten die beiden Alter-ego-Figuren Voltaire und Lorenzi sogar punktuell in ein gewisses Korrespondenz­ verhältnis. Im Handlungsverlauf erleidet Casanova allerdings fundamentale Nieder­lagen im „Zweikampf“ (33, 112): erstens durch das intellektuelle Desaster im Disput mit Marcolina, zweitens durch den Verlust der argumentativen Basis für eine intellektuelle Fehde gegen Voltaire (31, 76), deren Scheitern sich tendenziell schon in der Inversion der Angriffsrichtung ankündigt, und drittens durch die Folgen des Duells mit dem jüngeren Alter ego Lorenzi, dessen Tötung Casanova moralisch diskreditiert und, wie er selbst intuitiv ahnt, seinen eigenen Untergang symbolisch vorwegnimmt (112).

29 Dieser kompromisslose Machtanspruch Casanovas erscheint als antagonistischer Reflex: Seine narzisstische Kränkung durch die schwindende „Macht über die Menschen“ (51) stimuliert kompensatorische Bemächtigungsphantasien (27, 28, 51). Dennoch bleibt die Einsicht: „Vorbei war seine Zeit!“ (52).

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3.  Intertextuelle Korrespondenzen mit Werken vom Barock bis zur Décadence: von Kleist über Thomas Mann und Hoffmannswaldau bis zu Goethe 3.1  Analogien zu Kleists Werken Amphitryon und Die Marquise von O… Die fundamentale Identitätskrise treibt Casanova wiederholt zu Selbststilisierungen, die sich in der Interaktion mit Marcolina und Lorenzi vorübergehend sogar bis zu euphorischen Omnipotenz-Phantasien steigern. Dabei lässt seine Vorstellung eigener Göttlichkeit, der eine mentale Selbst-Annihilation bezeichnenderweise vorangeht (20) und folgt (103f.), inter­textuelle Bezüge zum antiken Amphitryon-Mythos entstehen. An die Trias von Amphi­tryon, Alkmene und Jupiter, die Kleist in seinem Drama Amphitryon inszeniert, schließt Schnitzler in seiner Novelle, wie der Forschung bisher entgangen zu sein scheint, sogar in doppelter Hinsicht an: vor allem durch die Dreieckskonstellation zwischen Lorenzi, Marcolina und Casanova,30 aber auch mit den Beziehungen zwischen Olivo, Amalia und Casanova. In erstaunlichem Maße korrespondieren die Wünsche von Schnitzlers Casanova mit denen von Kleists Jupiter: „Im untrüglichen Gefühl ebenso der Beglückende zu sein, als er der Beglückte war“ (100), möchte Casanova Marcolina nach der gemeinsamen Nacht am liebsten seine echte Identität offenbaren oder sogar erleben, dass sie selbst „ihm seinen Namen entgegen­flüstern würde“ (ebd.). Denn in der erotischen Ekstase, so bildet er sich ein, habe sich unversehens das Falsch-Infame der Ausgangssituation verflüchtigt: Wurde, was sich als Betrug entsponnen, nicht Wahrheit in den namenlosen Entzückungen dieser Nacht? Ja, durchschauerte sie, die Betrogene, die Geliebte, die Einzige, nicht selbst schon eine Ahnung, daß es nicht Lorenzi, der Jüngling, der 30 Den intertextuellen Bezug zu Kleists Amphitryon erwähnt in knapper Form bereits Lehnen (Anm. 3), S. 209. Vgl. auch Gert Sautermeister, der ohne vergleichende Textanalysen auf die Korrespondenz hinweist, die Analogien zur Trias Casanova – Amalia – Olivo dabei aber nicht berücksichtigt. Vgl. Gert Sautermeister: „Glanz und Elend eines Mythos. Zur Ästhetik und Intertextualität von Arthur Schnitzlers Casanovas Heimfahrt “. In: Zur Literaturgeschichte der Liebe. Hg. von Karl Heinz Götze, Ingrid Haag, Gerhard Neumann und Gert Sautermeister. Würzburg 2009, S. 273–302, hier S. 294–296. Marcolinas „Scham und Entsetzen“ (103) sieht Sautermeister zu Recht nicht nur durch Casanovas Betrug, sondern auch durch eine ‚alkmenische‘ Reaktion motiviert: durch Erschrecken und Selbstanklage Marcolinas infolge ihrer Verwechslung (vgl. ebd., S. 295). – Dass Schnitzler die für die intertextuellen Bezüge im vorliegenden Aufsatz relevanten Autoren Lessing, Goethe (auch den Faust), Kleist und Thomas Mann (auch den Tod in Venedig) sowie Plautus in Tagebüchern, Briefen oder Autobiographie nennt, dokumentiert Achim Aurnhammer (Hg.): Arthur Schnitzlers Lektüren: Leseliste und virtu­ elle Bibliothek. Würzburg 2013, S. 196, 213, 217, 221, 231.

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Wicht, daß es ein Mann, – daß es Casanova war, in dessen Göttergluten sie verging?“ (ebd.).

Problematisch erscheint hier allerdings seine Erwartung, durch die Echtheit der emotionalen Intensität lasse sich nachträglich die betrügerische Übernahme einer fremden Identität aufheben. Wenn die strategische Lüge hier in die ‚Wahrheit‘ des Mythos umschlagen soll, dann übersieht Casanova das Paradoxon, dass sein Ich-Erlebnis rauschhafter „Göttergluten“ nur unter der Bedingung radikaler Selbstverleugnung möglich war. Die ‚Wahrheit‘, die er sich hier suggeriert, erweist sich mithin als unrealistische narzisstische Wunschphantasie. Denn die erotische Ekstase mit Marcolina konnte Casanova ja nur durch die Verschleierung seiner Identität erreichen: schweigend und im Schutz der Dunkelheit. Der von Illusionen betörte Betrüger fällt hier also der Suggestivkraft seines eigenen Mythos zum Opfer. Offenbar adaptiert Schnitzler in seiner Novelle die Dreieckskonstellation und die ihr inhärente Identitätsproblematik aus Kleists Lustspiel Am­ phitryon: Nachdem Jupiter in der Gestalt Amphitryons eine Liebesnacht mit dessen Frau Alkmene verbracht hat, ersehnt er sich in der Szene I/4 Gewissheit darüber, dass sie dabei nicht bloß ehelichen Pflichten, sondern ihrem „Herzen“ gefolgt sei (V. 446–453).31 Jupiter schmerzt die „schmäh­ lige Verwechslung“, weil er Alkmene als „Wesen eigner Art erschienen sein“ möchte (V. 470, 475). Deshalb stellt er ihr die für sie natürlich verwirrende Frage, „Ob den Gemahl du heut, dem du verlobt bist, / Ob den Geliebten du empfangen hast?“ (V. 456f.). Dann wünscht sich Jupiter von Alkmene das Versprechen, „Daß du den Göttertag, den wir durchlebt, / Gelieb­teste, mit deiner weitern Ehe / Gemeinen Tag’-lauf nicht verwechseln willst“ (V. 496–498). Dass Schnitzler in seiner Novelle einen inter­ textuellen Bezug zu Kleists Drama herstellt, zeigen die parallel angelegten Figurenkonstellationen, die analogen Wünsche Jupiters und Casanovas, trotz der verschleierten Identität um ihrer selbst willen geliebt zu werden, und die Korrespondenz von „Göttertag“ und „Göttergluten“. Während der „Götter­tag“ allerdings der mythischen Realität Jupiters entspricht, erscheinen die „Göttergluten“ Casanovas bloß als Indiz für eine narzisstische Selbstapotheose im Medium mythischer Idealisierung. Trotz der markanten Übereinstimmungen zwischen Schnitzlers Novelle und Kleists Lustspiel sind auch Unterschiede festzustellen. Der Dreieckskonstellation gewinnt Kleist nämlich noch weitere dramatische Verwicklungen ab, indem er Amphitryon in der auf die Anagnorisis zulaufenden Szene III/11 Jupiter unterliegen lässt, weil Alkmene den Gott nach seiner 31 Kleists Amphitryon wird mit Versangaben im laufenden Text nach der folgenden Edition zitiert: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. von Ilse-Marie Barth u.a. Bd. 1: Dramen 1802–1807. Unter Mitwirkung von Hans Rudolf Barth hg. von I.-M.B. und Hinrich C. Seeba. Frankfurt a.M. 1991, S. 377–461.

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erneuten Metamorphose irrtümlich für ihren Ehemann, Amphitryon selbst hingegen für einen Betrüger hält. Und das positive Finale von Kleists Lustspiel konterkariert Schnitzler in Casanovas Heimfahrt durch die Abgründigkeit einer negativen Desillusionierung, als Casanova den schockierten Blick Marcolinas als persönliches Desaster erlebt. Auch ist ihr nicht die Zukunftsaussicht der Alkmene gemäß dem antiken Mythos beschieden, die Kleist adaptiert: nämlich einen Heros zu gebären, den Halbgott Herakles. Allerdings wird durch diese harmonisierende Wendung am Ende des Lustspiels nur vordergründig die bis in den Identitätskern reichende Krisensituation kaschiert, die Selbstbild und Partnerschaft von Amphitryon und Alkmene fundamental erschüttert. Mit der Korrelation zwischen Olivo, Amalia und Casanova schließt Schnitzler ebenfalls an die Dreieckskonstellation zwischen Amphitryon, Alkmene und Jupiter gemäß Kleists Drama an. – In der Anfangspassage der Novelle werden Ennui, Frustration und Verzweiflung Casanovas erst durch die unverhoffte Wiederbegegnung mit Olivo abgemildert, dessen Hochzeit mit Amalia Casanova sechzehn Jahre zuvor durch ökonomische Unterstützung ermöglicht hat (24, 95). Zu seiner psychischen Harmoni­ sierung tragen spontane Erinnerungen an erotische Abenteuer bei: Nicht nur Amalias Mutter hatte er damals verführt (13, 79); auch Amalia selbst hatte er – in gewisser Analogie zu einem ius primae noctis – noch kurz vor ihrer Hochzeit mit Olivo in die Liebe eingeführt (13, 25). In der Erzähl­ gegenwart gibt sich Amalia ihrer erotischen Sehnsucht nach Casanova auffälligerweise ganz ohne Schuldgefühle hin: „Wenn ich dir wieder gehöre, so ist es weder Betrug noch Sünde!“ (25). Hier stellt sie einen möglichen Koitus mit Casanova von vornherein gleichsam unter überirdische Gesetze, als sei er der Jupiter des Amphitryon-Mythos. Wenn Olivo seinem früheren „Wohltäter“ (13) Casanova mit einem Gefühl gerührter Dankbarkeit „immer wieder“ versichert, „daß alles in diesem Hause ihm, Casanova, gehöre und daß er damit schalten möge, wie es ihm beliebe“ (49f.), dann wird die Parallele zu einer Aussage von Kleists Amphitryon evident. Unmittelbar nach der Anagnorisis der Schlussszene III/11, in der sich Jupiter mit „Blitz und Donnerschlag“ offenbart, bekennt Amphitryon in ehrfürchtiger Ergriffenheit: „Anbetung dir / In Staub. Du bist der große Donnerer! / Und dein ist Alles, was ich habe“ (V. 2312–15). Wenn der Titelheld in Kleists Lustspiel nach der Anagnorisis die Totalität seines Besitzes demütig dem Göttervater Jupiter überantwortet, dann ist dabei auf jeden Fall Alkmene mitgemeint, die den unwissentlichen Ehebruch mit Jupiter ja längst begangen hat: Schon in der Szene I/4 näherte sich ihr der Göttervater mithilfe betrügerischer Metamorphose in der Gestalt Amphitryons, um eine Liebesnacht mit ihr zu verbringen. Und dieses Ereignis ist in der letzten Szene auch dem echten Amphitryon be-

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kannt. – Anders erscheint die Lage Olivos in Schnitzlers Novelle, wenn Casanova über dessen mögliche Kenntnis „von der außerordentlichen Erkenntlichkeit Amaliens“ gegenüber ihm selbst spekuliert (13), um wenig später allerdings eher von Olivos Unwissenheit auszugehen (23). Zudem gehört die erotische Episode zwischen Casanova und Amalia unwiderruflich einer fernen Vergangenheit an, weil er sich ihren Avancen in der Erzählgegenwart konsequent entzieht. Denn die allzu willfährige Liebesbeute lässt den Eroberer kalt, weil sie seinen Jagdinstinkt nicht weckt. Außerdem ist das damalige Tête-à-tête mit Casanova für Amalia folgenlos geblieben – anders als Alkmenes Liebesnacht mit Jupiter: Auf Amphitryons emphatische Bitte, Jupiter möge ihm „einen Sohn“ schenken, „Groß, wie die Tyndariden“ (V. 2333f.), antwortet Jupiter in einer mit bibli­ schem Pathos aufgeladenen Diktion, die auf die Verkündigung des Herrn im Neuen Testament (Lk 1, 26–38) anzuspielen scheint: „Es sei. Dir wird ein Sohn geboren werden, / Dess’ Name Herkules: es wird an Ruhm / Kein Heros sich, der Vorwelt, mit ihm messen“ (V. 2335–37). Auch durch diese euphorisierende Zukunftsperspektive entwickelt sich die prekäre Dreiecks­ konstellation für das von Jupiter betrogene Ehepaar trotz aller drama­ tischen Desorientierungen, die zwischenzeitlich Identität und Partnerschaft gefährdet haben, dann doch zu einem versöhnlichen Lustspiel-Schluss, weil die Aussicht, künftig Mutter und Ziehvater eines Halbgotts zu werden, für Alkmene und Amphitryon mit einer eminenten Erhöhung des Selbst­ gefühls einhergeht. Auch Kleists Erzählung Die Marquise von O… scheint für Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt als Prätext fungiert zu haben. Das tertium compa­ rationis liegt hier in der Zuspitzung konträrer Vorstellungen vom jeweiligen Protagonisten. Vor sechzehn Jahren konnte Amalia Casanova, der ihr und Olivo finanziell die Ehe ermöglicht hatte, nicht widerstehen und ließ sich von ihm verführen, weil „er ihr erschienen war wie ein Bote aus einer andern höhern Welt“ (13). Berücksichtigt man im Kontrast dazu sein infames Verhalten gegenüber Amalias Tochter Teresina in der Erzählgegenwart, so treten Parallelen zum Antagonismus der Perspektiven hervor, die Kleist in der Marquise von O… im Hinblick auf den russischen Grafen F… inszeniert. Der Text endet mit einem symptomatischen Diktum der Marquise über ihren Retter und Vergewaltiger: „er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre“.32 Auch Amalia stattet den Chevalier de Seingalt mit der Aura des Überirdischen aus: Den „edlen Gönner“ und „Wohltäter“ stilisiert sie zum „Bote[n] aus einer andern höhern Welt“ (ebd.), also zum Engel. 32 Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… In: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. von Ilse-Marie Barth u.a. Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Hg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt a.M. 1990, S. 143–186, hier S. 186.

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Ihre Projektion entspricht dem ersten Eindruck von Kleists Marquise, als sie durch den russischen Offizier aus einem gefährlichen Kampfgetümmel gerettet wird: „Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein“.33 Anders als Kleists Marquise sieht sich Amalia in Schnitzlers Novelle allerdings nicht selbst mit der ‚teuflischen‘ Komponente eines enttarnten Vergewaltigers konfrontiert. Stattdessen sind es ihre Tochter Teresina und die Intellektuelle Marcolina, die zu Opfern von Casanovas sexueller Perfidie werden. Das von Kleist inszenierte Ausnahmephänomen des unwissent­ lichen Koitus als Vergewaltigung durch einen Mann, der die Ohnmacht einer Frau rücksichtlos ausnutzt, wandelt Schnitzler in seiner Novelle ab, indem er Komponenten der Opferrolle auf zwei Figuren überträgt: auf Teresina und Marcolina. Der Sexualakt mit der erst 13-jährigen Teresina erscheint als psychophysische Vergewaltigung, weil Casanova hier seine mentale Überlegenheit und körperliche Übermacht missbraucht. Zwar ist Teresina nicht im genuin medizinischen Wortsinn ohnmächtig wie Kleists Marquise, wohl aber im übertragenen Sinne. Das zeigen charakteristische Aussagen: Casanova „warf sie aufs Bett; sie sah ihn mit großen hilflosen Augen an; doch als sie ihren Mund wie zum Schreien öffnete, zeigte ihr Casanova eine so drohende Miene, daß sie fast erstarrte und alles mit sich geschehen ließ, was ihm beliebte“ (77f.).34 Zwar wirkt Teresina am Anfang dieser Szene leicht kokett, aber ihr beschränktes kindliches Urteilsvermögen verhindert eine adäquate Einschätzung der Situation, so dass ihre Hilflosigkeit in gewisser Weise mit der physischen Ohnmacht von Kleists Marquise kor­respondiert.35 – Und der von Casanova erschlichene Koitus mit Marcolina erscheint als Überwältigung durch einen Betrug, der ihre Entscheidungs­ kompetenz und ihren Widerstandswillen außer Kraft setzt, sie also mental ‚ohnmächtig‘ macht. Wie der russische Graf bei der Vergewaltigung der bewusstlosen Marquise missachtet der Chevalier de Seingalt Marcolinas 33 Ebd., S. 144. 34 Als problematische Verharmlosung erscheint die These Potts (Anm. 18), Teresina werde „so nebenbei von Casanova ‚beglückt‘“ (S. 199). Wenn Glaser sogar meint, „daß die perverse Libido“ Casanovas „auch die ihrige ist“, übersieht er die Gewaltaspekte der Episode und exkulpiert dadurch den Täter (Horst Albert Glaser: „Masken des Libertinismus. Überlegungen zu Schnitzlers Erzählung Casanovas Heimfahrt “. In: Text & Kontext 10, 1982, H. 2, S. 355–364, hier S. 361). – Zu Casanovas Verhalten gegenüber Teresina vgl. auch Kapitel 3.5. 35 Sogar ein somatisches Symptom, das die Leser erst nachträglich als Indiz emotionaler Erregung dechiffrieren können, übernimmt Schnitzler von Kleist. Allerdings verschiebt er es vom Täter auf den Vater: Nach dem berühmten Gedankenstrich, den Kleist als Signal für den Sexualakt bewusst normwidrig im Satz platziert und dadurch betont, tritt „der russische Offizier, sehr erhitzt im Gesicht“, aus dem Haus (Kleist 1990 [Anm. 32], S. 145). In Schnitzlers Novelle betritt Teresina mit vom Weingenuss geröteten Wangen (77) das Zimmer Casanovas. Nach ihrer gewalttätigen Defloration kommt ihr Vater Olivo wohl ahnungslos, aber offenbar doch in diffuser Besorgnis „erhitzt mit gerunzelten Brauen die Treppe herauf“ (78). – Analog zu Kleist verfährt Schnitzler übrigens in den Einzelszenen des Reigen, in denen eine Kette aus Gedankenstrichen jeweils den Koitus anzeigt.

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sexu­elles Selbstbestimmungsrecht, wenn er ihr im Schutz der Dunkelheit die Identität Lorenzis vortäuscht und dadurch ihre Chance zu einem rechtzeitigen Veto suspendiert. Das tertium comparationis dieser asymmetrischen Geschlechterbeziehungen liegt also in der Okkupation des weiblichen Körpers durch einen Mann, der eine Wehrlose als Person missbraucht, indem er ihre Autonomie umgeht. 3.2  Intertextuelle Korrespondenzen mit Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig Zu Thomas Manns Décadence-Erzählung Der Tod in Venedig von 1912, die Schnitzler im Tagebuch als „außerordentlich“ würdigt,36 sind in Ca­ sanovas Heimfahrt ebenfalls intertextuelle Analogien festzustellen: schon durch den Sehnsuchtsort Venedig und die Problematik des Alternden. In beiden Werken wird das Alter der Figuren bereits in der ersten Zeile betont: Thomas Manns Protagonist Gustav von Aschenbach hat den 50. Geburtstag bereits überschritten, und Schnitzlers Casanova befindet sich im 53. Lebensjahr. Im Gespräch mit der von ihm nicht begehrten Amalia konstatiert Casanova drastisch die Symptome des Alterns, indem er seine „Runzeln“ und „Greisenhände“ beschreibt (26). Ähnlich nimmt Aschenbach die Alterssymptome des falschen Jünglings auf dem Schiff wahr, dessen „Hände […] die eines Greises“ sind.37 „Angewidert“ betrachtet Casanova sein „bleiches altes Gesicht“ mit wirren Haarsträhnen im Spiegel und intensiviert den negativen Eindruck dann sogar noch mit „selbst­quälerischer Lust“ und theatralischem Gestus (58f.). Diese kritische Selbstwahrnehmung entspricht derjenigen Aschenbachs, den „sein alternder Leib, der Anblick seines grauen Haares, seiner scharfen Gesichtszüge“ ekeln.38 Und Casanova erblickt im jüngeren Alter ego Lorenzi „sein eigenes Bild“ mit „auffallend scharfen Zügen“ (40). Durch das Verdikt „Grau“ charakterisiert Aschenbach selbst „gequälten Blickes sein Spiegelbild“, um sich dann beim Coiffeur durch Haarfärbung und Kosmetika optisch verjüngen zu lassen, weil er Tadzio „zu gefallen“ sucht.39 Dadurch gerät er allerdings in eine symptomatische Affinität zu dem greisen Geck, von dem er sich auf der Schiffsüberfahrt nach Venedig so angewidert abgewandt 36 Tb 1909–1912, S. 368. – Einige andere intertextuelle Bezüge zwischen den Novellen Schnitzlers und Thomas Manns nennt Sautermeister 2009 (Anm. 30), S. 299–302. Zu Recht betont er, dass sowohl Aschenbach als auch Casanova „Venedig und das Objekt ihres Begehrens zusammenphantasieren“ (ebd., S. 300). 37 Thomas Mann: Der Tod in Venedig. In: T.M.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a.M 1990. Bd. VIII: Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen, S. 444–525, hier S. 460. 38 Ebd., S. 518. 39 Ebd.

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hatte.40 – Casanova versucht den altersbedingten Verlust an Attraktivität anders zu kompensieren: Er entscheidet sich für eine Selbstverjüngung durch Mimik,41 erlesene Kleidung und die Inszenierung selbstbewusster Souveränität: So präsentiert er sich „in edler“ Haltung „mit einem zwar überlegenen aber liebenswürdigen Lächeln“ und einem Blick „wie im Feuer unverlöschlicher Jugend strahlend“ (61), um Marcolina zu imponieren. Für beide Protagonisten spielt die Sprache eine besondere Rolle. Wenn Casanova, „am Schreibtisch“ durch Olivo aus dem Schlaf aufgeschreckt, behauptet, es sei seine „Gewohnheit […], der Arbeit die ersten Morgenstunden zu widmen“ (59), dann erscheint diese situativ bedingte Schutz­ behauptung als Kontrafaktur zu dem tatsächlich habitualisierten Leistungs­ ethos Aschenbachs, der regelmäßig „die Kräfte, die er im Schlaf gesammelt, in zwei oder drei inbrünstig gewissenhaften Morgenstunden der Kunst zum Opfer“ darbringt.42 Beide Figuren fungieren als Autoren fiktionaler und essayistischer Werke, die in den Novellen auch genannt werden. Casanova erwähnt wiederholt seinen Traktat gegen Voltaire, setzt die Sprache als Causeur in geselliger Runde allerdings primär mündlich ein. Zugleich nutzt er die Vitalisierungskraft und das euphorisierende Potential des Erzählens, um mit der Erinnerung an die phantasievoll stilisierten Abenteuer auch die Aura seiner Glanzzeit zurückzugewinnen. Der erfolgreiche Schriftsteller Gustav von Aschenbach hingegen nimmt seine assoziativen Bildungsreminiszenzen, die ihn in den antikischen Kontext einer durch Platonischen Idealismus sublimierten Homophilie entrücken, als kreatives Stimulans für den Schreibakt: Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt, daß Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden, in denen er […] nach Tadzio’s Schönheit […] jene anderthalb Seiten erlesener Prosa formte.43

Den produktiven Enthusiasmus, durch den „pulsender Gedanke“ und „genaues Gefühl“ in einer ästhetischen Abhandlung verschmelzen, verdankt Aschenbach der idealischen Wahrnehmung des schönen Tadzio, den er mit „einer Statue“ vergleicht; das „göttliche Bildwerk“ des vollkommenen Körpers analogisiert er dabei sogar mit literarischer Produktion.44 40 Ebd., S. 460, 462. 41 Wenn Casanova mit „zornig blitzend[en]“ Augen um sich schaut, weiß er zugleich, „daß Grimm und Haß länger in den Farben der Jugend zu spielen vermögen als Sanftheit und Zärtlichkeit“ (7). Später heißt es allerdings: „Er lächelte und fühlte zugleich, daß dieses Lächeln sein Antlitz jünger machte“ (17). – Die intertextuelle Analogie im Hinblick auf Alterssymptome und Verjüngungsversuche Aschenbachs und Casanovas erwähnt bereits Sautermeister 2009 (Anm. 30), S. 299f. 42 Mann 1990 (Anm. 37), S. 452. 43 Ebd., S. 492f. 44 Ebd., S. 490–493.

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Intertextuelle Bezüge zwischen den beiden Novellen sind auch in idealistischen Perspektiven auf die jugendliche Schönheit und im Faszinosum einer analog zur Skulptur inszenierten Nacktheit zu erkennen. In Thomas Manns Tod in Venedig erschrickt Aschenbach schon prima vista „über die wahrhaft gottähnliche Schönheit des Menschenkindes“ mit dem „Haupt des Eros, vom gelblichen Schmelze parischen Marmors“, das er wie ein „Meisterwerk“ der bildenden Kunst beschreibt.45 Nachdem Aschenbach „den zart gemeißelten Arm“ Tadzios betrachtet hat, assoziiert er die „edle Gestalt“ des Jungen mit „Standbild und Spiegel“.46 Mehr als „ein kostbares Bildwerk der Natur“ wird Tadzio für Aschenbach, als er einen von Verachtung und Hass zeugenden „drohend[en]“ Blick an ihm be­obachtet.47 Analog dazu hat Schnitzlers Protagonist Casanova in einer Szene „künstlerisches Gefallen“ an einer „drohend-edlen Geste“ Lorenzis, „die den ganzen Jüngling in ein Standbild zu verwandeln schien“ (83). Schon vor dem Rache-Duell wirkt Lorenzi „schöner […] als irgendein Mensch, den Casanova je gesehen“ hat (105). Als sich die beiden Rivalen in der ins Mythisch-Archaische stilisierten Atmosphäre des Zweikampfes unbekleidet gegenübertreten, erscheint ihm Lorenzi sogar „herrlich in seiner Nacktheit wie ein junger Gott“ (106). Und der aus dem Wasser kommende Tadzio ist für den alternden Schriftsteller Aschenbach gemäß „mythische[n] Vorstellungen“ so „schön wie ein zarter Gott“.48 Nach dem Duelltod Lorenzis sieht Casanova den nackten „Jünglingsleib“ dann „in unvergleichlicher Schönheit auf dem Rasen“ liegen (107). Diese Textbelege zeigen, dass Schnitzlers Casanova wie Thomas Manns Aschenbach zur ästhetischen Idealisierung durch projektive Überformungen neigt. Und dabei modellieren beide Protagonisten das Faszinosum männlicher Schönheit auf analoge Weise nach dem Vorbild eines Kunstwerks. Schon die ästhetische Stilisierung zur Statue entrückt Tadzio und Lorenzi vorübergehend der Zeitverfallenheit des Lebens, vor allem aber das antikisierende Fluidum, das sich aus der idealistischen Perspektive Aschenbachs und Casanovas sogar gleichermaßen mit einer göttlichen Aura verbindet. Tendenzen zu einer mentalen Entgrenzung, in der sich die Realitätswahrnehmung ins Traumhaft-Unbewusste aufzulösen beginnt und Träume zugleich eine symptomatische Bedeutung für die desolate psychische Verfassung des Protagonisten erhalten, spielen in beiden Novellen eine besondere Rolle. Aschenbachs innere Zerrüttung durch die machtvolle Wiederkehr des verdrängten Eros wird im Traum durch eine dionysische 45 Ebd., S. 473f.  46 Ebd., S. 489f. 47 Ebd., S. 476. 48 Ebd., S. 478.

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Orgie symbolisiert, die durch die „Raserei des Unterganges“ seinen Tod antizipiert.49 Und Casanova fühlt sich am Ende seines Traums in Marcolinas Bett als Ertrinkender und empfindet „Todesangst“ (103). Nicht zuletzt schließt Schnitzler in Casanovas Heimfahrt durch die skizzenhafte Evokation der Décadence-Atmosphäre Venedigs, zu der „enge Gäßchen“, „schmale Brückenstege“ über „schwärzlichen Kanäle[n]“ (118), „die Rufe der Gondelführer“ (116)50 und „ein dunstschwerer Himmel“ beitragen (118),51 an Thomas Manns Tod in Venedig an, auch wenn er nicht den Protagonisten Casanova selbst, sondern dessen jüngeren Rivalen sterben lässt. Allerdings erscheint die aporetische Situation Casanovas in der Schlusspassage wie eine Antizipation des ‚Entschlafens‘ und damit bereits als eine Art mentaler Tod: Denn der „Heimatschlaf […], traumlos und dumpf“ (119), lässt an den bekannten Topos vom Schlaf als Bruder des Todes denken, und dies umso mehr, als Casanova schon auf der ersten Textseite mit einem Vogel verglichen wird, der sich „zum Sterben“ vorbereitet (5). An die Analogie von Schlaf und Tod schließen Thomas Mann und Schnitzler auch durch symptomatische Grenzüberschreitungen an: Während Aschenbachs Gesicht im Tod den „Ausdruck tiefen Schlummers“ zeigt,52 glaubt Casanova angesichts des jüngeren Doppelgängers Lorenzi schon seit langem „gestorben“ zu sein (40). Die Thematik der Vergänglichkeit durchwirkt beide Werke als Problematik des Alternden, auch wenn das auf Individuum und Kultur bezogene Fluidum des Verfalls in Thomas Manns Tod in Venedig noch facettenreicher ausgestaltet ist. An den Décadence-Topos „bei sinkender Sonne“,53 der schon zu Beginn symbolisch auf Aschenbachs Lebenssituation verweist, erinnert bei Schnitzler ebenfalls bereits auf der ersten Textseite die Charakterisierung Casanovas als eines „an innerm wie an äußerm Glanz langsam verlöschenden Abenteurer[s]“ (5). 3.3  Intertextuelle Bezüge zu Hoffmannswaldaus Sonnet. Vergänglichkeit der schönheit Nicht nur auf Décadence-Motive aus Thomas Manns Tod in Venedig greift Schnitzler in Casanovas Heimfahrt zurück, sondern auch auf Vanitas-Topoi der Barock-Lyrik. Mit hämischem Negativismus entwirft Casanova für 49 Ebd., S. 517. 50 Während der Gondoliere im Tod in Venedig als einer der Todesboten für Aschenbach selbst fungiert, erkennt Schnitzlers Protagonist Casanova die Traum-Figur des Gondoliere nachträglich als symbolische Repräsentation Lorenzis (105), den er dann im Duell tötet. 51 Beispielsweise ist bei der Ankunft Casanovas (113) und Aschenbachs (Mann 1990 [Anm. 37], S. 461) in Venedig der Himmel „trüb“. 52 Mann 1990 (Anm. 37), S. 525. 53 Ebd., S. 444.

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Marcolina eine Zukunftsvision, in der er imaginativ die Kluft zwischen den Lebensaltern überspringt. Ausgehend von einem masochistischen Blick in den Spiegel, in dem er sein „bleiches altes Gesicht“ wahrnimmt (58), rächt er sich mit Vanitas-Vorstellungen für Marcolinas erotisches Desinteresse. Vor allem aber ist Casanova von aufflammender Eifersucht auf Lorenzi erfüllt, dessen nächtliches Verschwinden aus Marcolinas Zimmer er zufällig beobachten konnte. Zugleich provoziert die faszinierende jugend­ liche Attrak­tivität Marcolinas in Casanova Neid und Missgunst. Nachdem er sie in Gedanken boshaft beschimpft hat, phantasiert er aggressiv ihren Verfalls­prozess: Denkst du, die Freude währt lang? Du wirst fett und runzlig und alt werden wie die andern Weiber, die mit dir zugleich jung gewesen sind, – ein altes Weib mit schlaffen Brüsten, mit trocknem grauen Haar, zahnlos und von üblem Duft … und endlich wirst du sterben! Auch jung kannst du sterben! Und wirst verwesen! Und Speise sein für Würmer. (59)

Die Alterssymptome lassen aufschlussreiche intertextuelle Analogien zu den Vanitas-Topoi in einem Sonett des Barock-Dichters Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau erkennen, der als führender Repräsentant der Zweiten Schlesischen Schule und als Begründer des galanten Stils zahlreiche religiöse und weltliche Lieder schrieb. Sein Sonnet. Vergänglichkeit der schönheit lautet so: „Es wird der bleiche tod mit seiner kalten hand / Dir endlich mit der zeit umb deine brüste streichen / Der liebliche corall der lippen wird verbleichen; / Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand / Der augen süsser blitz / die kräffte deiner hand / Für welchen solches fällt / die werden zeitlich weichen / Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen / Tilgt endlich tag und jahr als ein gemeines band. / Der wohlgesetzte fuß / die lieblichen Gebärden / Die werden theils zu staub / theils nichts und nichtig werden / Denn opfert keiner mehr der gottheit deiner pracht. / Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen / Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen / Dieweil es die natur aus diamant gemacht.“54 Die wichtigste Übereinstimmung zwischen diesem Gedicht und den Phantasien von Schnitzlers Casanova-Figur besteht in der Evokation der Vergänglichkeit durch die sinnliche Prägnanz, mit der jeweils in direkter Ansprache an ein weibliches Du der künftige physische Verfall antizipiert wird: durch den Alterungsprozess verschiedener Körperteile. Auch en détail sind motivische Korrespondenzen zu erkennen: in der Bezugnahme auf 54 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Sonnet. Vergänglichkeit der schönheit. In: Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher unge­ druckter Gedichte erster theil. Nach einem Druck vom Jahre 1697 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten. Hg. von Angelo George de Capua und Ernst Alfred Philippson. Tübingen 1961, S. 46f.

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Brüste, Haar und Tod. Während Schnitzlers Casanova seine auf Marcolina bezogene Vergänglichkeitsvision allerdings unwiderruflich auf Tod und Verwesung zulaufen lässt, wählt Hoffmann von Hoffmannswaldau eine Schlusspointe, die durch das diamantene Herz Konnotationen von ewiger Liebe, aber auch die christliche Vorstellung einer Unvergänglichkeit der Seele evoziert. 3.4  Intertextuelle Affinitäten zu Goethes Faust I Ausgerechnet der von einem Wunsch nach „Rache“ (59) motivierte Versuch Casanovas, sich Marcolina in imaginärer Vorwegnahme ihres Verfalls als alte hässliche Frau und dann sogar als Tote vorzustellen (ebd.), führt in dialektischem Umschlag zur erotischen Obsession durch ihre jugendliche Schönheit zurück. Denn sein Phantasiebild der weißgekleideten Toten „im offenen Sarge“ erfährt sogleich eine überraschende Metamorphose, und zwar vermittelt über das Motiv eines weißen Hochzeitskleides, das Casanovas Wunsch, mit Marcolina „für alle Zeit“ verbunden zu sein (101), antizipiert: Dabei wandelt sich der Sarg unversehens „zum Brautbett“, auf dem sie mit einem Lächeln, „wie zum Hohn, über ihren zarten Brüsten […] das weiße Gewand“ zerreißt“ (59) und damit sein Begehren zugleich stimuliert und zurückweist. – Diese ausdrucksstarke Thanatos-Eros-Phantasie verbindet sich für Casanova mit libidinösen Tantalusqualen, weil er durch Marcolinas unerreichbar erscheinende „wahrhaft überirdische Schönheit […] in neue Raserei“ gerät (ebd.) – ähnlich wie Goethes Faust, den die Leidenschaft für Gretchen so quält, dass er Mephisto auffordert: „Bring die Begier zu ihrem süßen Leib / Nicht wieder vor die halb verrückten Sinnen!“ (V. 3328f.). Als Casanova seine Arme nach Marcolina „ausstreckte, sich auf sie stürzen, sie umfangen wollte, zerfloß die Erscheinung in nichts“ (59). Dieses Phantasma erscheint als Figuration der Vergeblichkeit, als Signum der Aussichtslosigkeit seines Begehrens. Schon in Goethes Faust I 55 finden sich analoge Ausgestaltungen unbefriedigter Wünsche. Auf den antiken Topos der Tantalusqualen greift Goethes Mephisto direkter als Schnitzlers Casanova zurück: Er veranschaulicht Fausts „Unersättlichkeit“, indem er ohne „Erquickung“ ihm „Speis’ und Trank vor gier’gen Lippen schweben“ sieht (V. 1863–65). In der erotischen Dimension prägen sich die intertextuellen Korrespondenzen zwischen Goethes Drama Faust I und Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt, die der Forschung bisher entgangen zu sein scheinen, noch markanter aus: Für 55 Goethes Faust I wird mit Versangaben im laufenden Text nach der folgenden Edition zitiert: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Bd. III: Dramatische Dichtungen I. 13. Aufl. München 1986, S. 7–145.

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Casanova zerfließt die Vision Marcolinas (59), und Faust betrachtet nach dem Verjüngungstrank begehrlich das „himmlisch Bild“ eines schönen Frauenkörpers im „Zauberspiegel“ der Hexe, das sich beim Versuch der Annäherung jedoch verflüchtigt: „Wenn ich es wage, nah zu gehn, / Kann ich sie nur als wie im Nebel sehn!“ (V. 2429–35). – Hier wird zugleich eine Grundtendenz Fausts sinnlich konkretisiert: sein rastloses Streben und eine volunta­tive Spannung, die er selbst so beschreibt: „So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde“ (V. 3249f.). Dieses Charakteristikum Fausts übernimmt Schnitzler, wenn sein Casanova darüber reflektiert, „was er durch dieses ewige Suchen und Niemalsoder Immer-Finden, durch dies irdisch-überirdische Fliehen von Begier zu Lust und von Lust zu Begier sonst im Dasein etwa versäumt haben mochte“ (52).56 Damit schließt der notorische Verführer Casanova zugleich an ein Diktum Mephistos an, von dem der Prota­gonist Faust als „übersinnlicher sinnlicher Freier“ tituliert wird (V. 3534). Casanovas obsessive Fixierung auf Marcolina lässt mehrfach Anspielungen auf Goethes Faust I erkennen. Schon nach dem ersten kurzen Gespräch mit Marcolina (19) verlangt Casanova mit Verve: „‚So verschaffe sie mir, Amalia!“ (27).57 Indem er auf diese Weise Amalia für sein erotisches Verlangen nach Marcolina zu instrumentalisieren versucht, folgt er dem Verhalten Fausts, der an Mephisto ebenfalls bereits nach der ersten flüchtigen Begegnung mit Gretchen die Forderung richtet: „Hör, du mußt mir die Dirne schaffen!“ (V. 2619). Und wie Mephisto dieses Ansinnen zunächst mit dem Hinweis abzuwehren versucht: „Es ist ein gar unschuldig Ding, / Das eben für nichts zur Beichte ging; / Über die hab’ ich keine Gewalt!“ (V. 2624–26), so bemüht sich auch Amalia, Casanova seine Begehrlichkeit auszureden, indem sie ihn mit Nachdruck auf Marcolinas Reinheit (28) und Tugendhaftigkeit (25) hinweist und ihr Desinteresse an Erotik betont: „Sie will von keinem Mann etwas wissen“ (26). Außerdem erklärt 56 Das Spannungsverhältnis von ‚Begierde‘ und ‚Genuß‘ in Goethes Faust I und Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt korrespondiert mit der Willensphilosophie Schopenhauers, der Goethes Faust außerordentlich schätzte. Schopenhauer beschreibt das aus Mangel entspringende „Streben“ des Willens in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung I so: „unermüdlich streben wir von Wunsch zu Wunsch, und wenn gleich jede erlangte Befriedigung, soviel sie auch verhieß, uns doch nicht befriedigt, […] sehn wir doch nicht ein, daß wir mit dem Faß der Danaiden schöpfen; sondern eilen zu immer neuen Wünschen“ (Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. von Arthur Hübscher. Bd. 2: Die Welt als Wille und Vorstel­ lung I. 3. Aufl. Wiesbaden 1972, S. 375f.). Vgl. auch ebd., S. 365–370, 380, 196. – Durch die Lektüre Schopenhauers und Nietzsches bemüht sich schon der Protagonist Felix in Schnitzlers früher Erzählung Sterben vergeblich darum, der tödlichen Tuberkulose-Erkrankung mit einer Haltung philosophischer Weisheit und Gelassenheit zu begegnen. 57 Schnitzlers Casanova schlägt Amalia allerdings ein infames Tauschgeschäft in eroticis vor: „du sollst mich vergeblich erwartet und vergeblich von mir geträumt haben – es sei denn, daß ich vorher Marcolina besessen habe“ (26).

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sie Casanova, als er Marcolina mit Geld verführen, sie also zu einer Dirne58 machen will: „Auch für hunderttausend bekämst du Marcolina nicht. Was kann ihr am Reichtum liegen? Sie liebt die Bücher, den Himmel, die Wiesen, die Schmetterlinge und die Spiele mit Kindern“ (27). Obwohl Schnitzlers Marcolina-Figur mit Goethes Gretchen die Affinität zum Kindlich-Natürlichen teilt, dominieren hier die Differenzen: Denn als emanzipierte Intellektuelle verkörpert Marcolina einen modernen Frauentypus, der sich von der Schlichtheit der naiv-unschuldigen Gretchen-Figur fundamental unterscheidet. Goethes Faust wirkt in Schnitzlers Casanova nicht nur durch forciertes erotisches Begehren weiter, sondern auch durch nihilistische Anwandlungen, die in seiner Fluchrede kulminieren (V. 1587–1606): „[…] Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben, / Und Fluch vor allen der Geduld!“ (V. 1605f.). Wie eine Faust-Reminiszenz erscheint Casanovas atheistischer Impuls, wenn er als „Ketzer“ nicht „an Gott glauben“ kann und will: „An dir zweifeln ist das einzige Mittel, das uns bleibt – dich nicht zu lästern! – Sei nicht! Denn, wenn du bist, so muß ich dir fluchen!“ (76).59 Und wenn Lorenzi den infamen Handel mit Casanova, dessen Opfer Marcolina wird, explizit als „Pakt“ bezeichnet (91), spielt Schnitzler damit auf den Pakt zwischen Faust und Mephisto an. Analog zu Gretchens Bruder Valentin, der seine Schwester als „Hur’“ bezeichnet (V. 3730), beschimpft Casanova Marco­lina in Gedanken als „Dirne“ (56) und „lüsterne kleine Hure“ (57). Wie Faust mit Mephistos Hilfe Valentin in dem Degengefecht tötet, mit dem dieser die verletzte Ehre Gretchens rächen wollte (V. 3700–12), so ersticht Casanova den Rivalen Lorenzi, der ihn wegen der Ehrverletzung durch den erotischen Betrug an Marcolina zum Degenduell heraus­gefordert hat. In beiden Fällen stirbt der Herausforderer, woraufhin sich der Sieger eilig aus dem Staub macht. 3.5  Eine Bibel-Kontrafaktur Frustriert durch Lorenzis erotischen Erfolg bei Marcolina (55f.) und gedemütigt durch die von der venezianischen Obrigkeit geforderten Spitzeldienste gegen die Freigeisterei (71–74), entschließt sich Casanova zu einer 58 Den Begriff ‚Dirne‘ verwendet Casanova übrigens auch selbst, als er seinen erotischen Besitzanspruch ohne jede Rücksicht auf Marcolinas Lebensbedingungen äußert: „Was geht’s mich an, ob sie eine Jungfrau ist oder eine Dirne, Braut oder Witwe – ich will sie haben, ich will sie!“ (27). 59 Durch die Tendenz zum Zweifeln, Lästern oder Fluchen assimiliert sich Casanova selbst an den Gestus, den er zuvor an Voltaire als „Spottlust, Zweifelsucht und Gottlosigkeit“ at­tackiert hat (31). In dieser Hinsicht vollzieht er eine Metamorphose zum Doppelgänger seines Gegners Voltaire. Vgl. dazu das obige Kapitel 2.3.

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erotischen Gelegenheitsoffensive, die wie eine Flucht nach vorn zum Abreagieren negativer Affekte erscheint: Er vergewaltigt die noch kindliche Teresina, die dreizehnjährige Tochter seiner Gastgeber. Offenbar fungiert sie für ihn als Surrogat für Marcolina, die „kaum größer“ als Teresina ist und im Spiel mit den Mädchen noch „selber einem Kinde gleich“ sieht (24). Eine subversive Bibel-Kontrafaktur steht am Ende dieser Episode: Casanova zelebriert sie durch seine mephistophelisch anmutende Inver­sion gött­ licher Gebote aus dem biblischen Dekalog. Nachdem er Teresina aus Gründen des Selbstschutzes, also aus egoistischen Motiven, Schweigen über das Vorgefallene auferlegt hat, erklärt er: „Du sollst überhaupt immer lügen; auch Vater und Mutter und Geschwister sollst du anlügen; auf daß es dir wohl ergehe auf Erden. Merk’ Dir das“ (78).60 Hier pervertiert Casanova ironisch das vierte und achte Gebot des alttestamentarischen Dekalogs: „Viertes Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden!“ – „Achtes Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten.“ 61 Auf die Spitze treibt Schnitzler die Szene durch eine besondere Bi­ zarrerie. Denn die 13-jährige Teresina missversteht Casanovas blasphemische Bezugnahme auf den Dekalog als Segen und küsst die Hand ihres Vergewaltigers „andächtig wie die eines Priesters“ (78). Wenn er sie kurz darauf als „meine kleine Frau“ tituliert und sie „dabei nicht unzufrieden“ lächelt (ebd.), dann relativieren diese erstaunlich moderaten Aussagen am Ende dieser Episode aber nur scheinbar die Infamie62 Casanovas. Denn die ambivalenten, zwischen Angst, Entsetzen sowie Ehrfurcht, kindlicher Folgsamkeit und verhaltenem Stolz changierenden Reaktionen Teresinas lassen erkennen, dass die 13-Jährige – zumal unter Alkoholeinfluss (77) – weder die sexuelle Usurpation durch Casanova adäquat bewerten konnte, noch zur Abwehr ihres Vergewaltigers fähig war.

60 Dieses ‚Gebot‘ der Lüge beherzigt Casanova selbst geradezu habituell mit „größern und kleinern Lügen“ (20), etwa wenn er sein devotes Flehen um die Erlaubnis zur Rückkehr nach Venedig (5, 27) zu einer ‚ehrenvollen Genugtuung‘ umdeutet, zu der ihn die Honoratioren Venedigs angeblich mit empathischer Ungeduld drängen (24, 39). – Und wenn Casanova an Gott den blasphemischen Imperativ richtet: „Sei nicht! Denn, wenn du bist, so muß ich dir fluchen!“ (76), dann konterkariert er auch das erste Gebot des biblischen Dekalogs. 61 Vgl. 2. Mose 31, 18 (Lutherbibel). 62 Ein Gipfel der Perfidie liegt darin, dass Casanova der von ihm vergewaltigten und deflorierten Teresina später vor der ahnungslosen Familie ein Goldstück überreicht und sich darüber amüsiert, „das Dirnchen, deren Mutter und Großmutter ihm auch schon gehört hatten, im Angesicht ihres eigenen Vaters für ihre Gunst zu bezahlen“ (79). Dadurch degradiert er die von ihm missbrauchte Minderjährige gedanklich sogar zur Prostituierten.

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4.  Epilog: Die Fortschreibung des Mythos im Medium der Entzauberung Mit seiner novellistischen Charakterstudie führt Schnitzler Casanova in einer Alterskrise vor, die ihn moralisch depravieren lässt und mit irritierender Intensität die dunklen Seiten seines Charakters hervortreibt: Dimensionen des Abgründig-Boshaften, Aggressiven, Infamen und Intriganten. Mit dem Verlust der Aura, den der Protagonist erleidet, korrespondiert insofern die Entzauberung des Mythos durch den Autor. – Außerhalb der Erzähl­­­gegen­ wart von Casanovas Heimfahrt liegt die künftige Niederschrift der Me­moiren, zu der die Novelle allerdings bereits eine fiktionale Brücke schlägt: Nach Casanovas Abenteuer-Schilderungen in geselliger Runde, die alle, die Intellektuelle „Marcolina nicht ausgenommen“, fasziniert hatten (93), erklärt sie ihm: „ein solches Buch könnte noch weit unterhaltender werden als Ihre Streitschrift gegen Voltaire“ (95). Was sie ihm hier als attraktives Zukunfts­ projekt vorschlägt, hat der historische Casanova allerdings längst realisiert. Selbstverständlich ist den Lesern der durch die Histoire de ma vie begründete Nachruhm Casanovas bewusst. Indem Schnitzler ihn in der Novelle ohne Eitelkeit und Frivolität die „Geschichte seines Lebens“ erzählen lässt (93), spielt er bereits auf den französischen Titel der Me­moiren an. Erst die Rezeption dieser Autobiographie ließ die Aura Casanovas zum Mythos avancieren. Und nur weil Casanova durch seine Memoiren im kulturellen Bewusstsein präsent blieb, konnte er überhaupt zum literarischen Sujet für zahlreiche Schriftsteller werden. Indem sich Schnitzler mit Casanovas Heimfahrt auf originelle Weise in die Wirkungsgeschichte Casanovas einschrieb, trug er zur Perpetuierung des Mythos bei: Casanova redivivus – wenn auch im Medium der Entzauberung.

III  (Inter)Medialität

Rüdiger Görner

Reigen der Stimmen: Zu Arthur Schnitzlers musikalischem Erzählen Gibt es ein Ohr so fein, daß es die Seufzer der welkenden Rose zu hören vermöchte? Arthur Schnitzler, Aphorismen1

1.  Vorüberlegungen. Einstimmungen In der Musik dürfen Worte nicht vorlaut sein; und im Wortkunstwerk, sei es dramatisch, prosaisch oder lyrisch, wirkt das Musikalische eher als Nachklang. Die Wiener Moderne befragte – dionysisch inspiriert – das künstlerische Material neu, betrieb die Umwertung aller ästhetischen Werte.2 Gustav Mahler etwa erprobte in seiner Dritten Symphonie von ihrem zweiten bis sechsten Satz das musikalische Erzählen – und das in pro­gram­ma­tischer Absicht: „Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen.“ „Was mir die Tiere im Walde erzählen.“ „Was mir der Mensch erzählt.“ „Was mir die Engel erzählen.“ „Was mir die Liebe erzählt.“3 Dieses Erzählen erfolgt als Ergebnis eines „Sommermittagstraums“ im ersten Satz. Zu diesem Traum gehört, dass „Pan erwacht“ und der Sommer mit Bacchus-Gefolge Einzug hält. Eine Art vorweltlicher Urlaut löst diese musikalische Traum­realität aus, die sich in enharmonischer Polyphonie entfaltet. Mit allen ihm zu Gebote stehen­den Mitteln wollte Mahler eine ästhetische Eigenwelt auf1 Arthur Schnitzler: Beziehungen und Einsamkeiten. Aphorismen ausgewählt von Clemens Eich. Frankfurt a.M. 1987, S. 40. 2 Die Arbeit des Nietzsche-Kreises um Siegfried Lipiner hatte das Seine dazu beigetragen. Vgl. Renate Müller-Buck: „‚Ach dass doch alle Schranken zwischen uns fielen‘. Siegfried Lipiner und der Nietzsche-Kult in Wien“. In: Friedrich Nietzsche. Rezeption und Kultus. Hg. von Sandro Barbero, Paolo D’Iorio und Justus Ulbricht. Pisa 2004, S. 33–75, sowie Martin Liebscher: „‚Nur ausgesuchte Intelligenzen‘ – Admiration of Nietzsche in 1870s Vienna“. In: Austrian Studies 16, 2008, S. 32–50. 3 Vgl. Jens Malte Fischer: Gustav Mahler. Der fremde Vertraute. Wien 2003, S. 339.

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bauen, wobei eine reizvolle Spannung bei diesem Vorhaben zwischen dem künstlerischen Darstellungsvermögen und der kompositions­technischen Darstellungs­möglichkeit bestand. Am anderen Ende des Spektrums steht 1924 die kritische Bemerkung von Franz Werfels Verdi in seinem gleich­na­ migen Roman, der sich an seinem King Lear abarbeitet: „Die musika­lische Rede hat eine andere Logik als die des Wortes.“4 Damit steht nun zumindest ein Frage­zeichen hinter der gesamt­künstlerischen Disposition, welche die ganze Wiener Moderne als einer umfassend synästhe­tischen Erfahrung getragen hatte. Die über­ragende Bedeutung von Arthur Schnitzlers Beitrag zu diesen Diskursen bedarf längst keiner Begründung mehr. Eher stellt sich die Frage nach spezifischen produktions­ästhetischen Indika­ toren für das Gattungsverflechtende in seinem Werk und ihre rezeptions­ ästhetische Relevanz. Ein Beispiel hierfür stellt die Musikalität seines Schreibens dar, die hier an einigen wenigen Fällen näher untersucht werden soll. Dabei zeigt sich, dass diese Thematik gerade im Falle Schnitzlers einer weiteren Eingrenzung bedarf, die sich aus einer biographisch-symbolischen Konstellation, wie mir scheint, zwingend herleitet. Der Themenbereich ‚musikalisierte Narrati­vität‘ bei Arthur Schnitzler findet nämlich seinen gewisser­maßen natürlichen Ausgangspunkt in seinem Verhältnis zur Stimme. Das kann beim Spross einer Ärztefamilie nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass Schnitzlers Vater, Johann Schnitzler, eine Kapazität als Laryngologe am von ihm mitbegründeten Wiener Allgemeinen Poli­klinikum war, und der junge Arthur Schnitzler 1889 eine Arbeit Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion veröffentlicht hatte. Just in jenem Jahr heiratete zudem seine Schwester Gisela den Laryngologen Markus Hajek. Doch nicht nur die pathologische Seite des Stimmproblems gilt es hier zu berücksichtigen, sondern auch die ästhetische in Gestalt Olga Schnitzlers, die als Lieder­sängerin mit klassischem Repertoire auftrat und von Bruno Walter, der 1901 von Gustav Mahler als Dirigent an die Hofoper engagiert wurde, Gesangs­unterricht erhielt.5 Schnitzlers eigene Musikalität reichte sogar bis ins Produktions­ästhetische, belegt durch Kompositionen wie das Klavierstück von 1886 im „Tempo du Valse“.6 Dieses frühe Lebenskapitel Schnitzlers, das mit dem Leitmotto „Zwischen Erotik und Diagnostik“ überschrieben worden ist,7 hatte bis zuletzt nichts an Bedeutung verloren. Gerade der Stimme kam dabei eine besondere Bedeutung zu, die von ihrer Verführungskraft – etwa jener Adele 4   Franz Werfel: Verdi. Roman der Oper. Frankfurt a.M. 1997, S. 86. 5 Vgl. Arthur Schnitzler (1862–1931). Materialien zur Ausstellung der Wiener Festwochen 1981. Hg. von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach. Wien 1981, S. 52 f. und 88 f. 6 ‚Sicherheit ist nirgends‘. Das Tagebuch von Arthur Schnitzler. Bearb. von Ulrich von Bülow. Marbach a.N. 2001 (Marbacher Magazin 93), S. 13. 7   Ebd., S. 5–20.

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Sandrocks oder Elisabeth Bergners – bis zur Analyse der Stimmlippen mit dem Laryn­goskop und Stirnspiegel reichte. Der junge Mediziner Arthur Schnitzler interessierte sich dabei bezeichnender­weise weniger für die organisch bedingte Beeinträchtigung der Stimmlippen, sondern in der Hauptsache für die psycho­gene Aphonie. Angst, Trauma, exaltierte Gemüts­ verfassungen können zu einem derartigen funktionellen Stimm­ verlust führen, den Schnitzler vorzugsweise mit der damaligen Mode­therapie der Hypnose zu kurieren versuchte.8 Man geht schwerlich fehl, die Stimme, die längst als das „erste Objekt des Menschen“ im Sinne pränataler Wahrnehmung erkannt worden ist,9 auch im ästhetischen Bereich als eine Primärerfahrung zu verstehen. Wenn wir in der Stimme zudem den „Kern des menschlichen Selbstgefühls“ hören, aber als „verfolgende Stimme“ auch ein psychotisches Phänomen und zudem – mit Sebastian Leikert – die Musik als eine „Apotheose der Stimme“ aufnehmen,10 dann entsteht dadurch ein für die Poetik Schnitzlers fundamen­ taler Begründungszusammenhang. Die Existenz einer auf die Stimme und ihre Wirkung ausgerichteten kinetischen Semantik vermittelt hierbei ein literaturwissenschaftlich noch nicht wirklich genutztes analytisches Instru­ ment. Es scheint ideal geeignet, den rhythmischen Bewegungs­charakter im Sprachkunstwerk zu charakterisieren, was etwa im Hinblick auf Schnitzlers Reigen von erheblicher Bedeutung ist. Die kinetische Semantik geht davon aus, dass die Verregelmäßigung des Rhythmus der Sprechstimme metrumbildende Wirkung und Sprechgesang entstehen lasse. Damit sei denn auch der Übergang zur Musik gegeben. Das Umgekehrte sollte jedoch auch gelten, nämlich die Rückführung der Musik über die Rhythmus­analyse zur Sprechstimme. Die Sangesstimme wiederum gebraucht den Körper des Sängers als Resonanzraum, wodurch die Körper­lichkeit der Musik, ihre sinnliche Wirkung erzeugt wird. Die Musik­instrumente simulieren Äquivalente zu diesem menschlichen Ursprungskörper der Musik. Wäre die Rede von den diversen ‚turns‘ in den Kulturwissenschaften nicht schon bis zur Selbstparodie ausgereizt, es ließe sich mittlerweile auch von einem phonic turn reden, der die Stimmproblematik thematisiert.11 Die kine­tische Semantik geht fernerhin von einem positiv besetzten Verständnis von 8 Vgl. Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1983. 9 Vgl. u.a. Suzanne Maiello: „Das Klangobjekt. Über den pränatalen Ursprung auditiver Gedächtnisspuren“. In: Psyche 53, 1999, S. 137–157. 10 Sebastian Leikert: „Die Stimme, Transformationen und Insistenz des archaischen Objekts – die kinetische Semantik“. In: Psyche 61, 2007, S. 463–492. 11 Neben Leikert, dem Urheber des Begriffs „kinetische Semantik“, der die Stimmforschung für die Psychoanalyse fruchtbar gemacht hat, wären Doris Kolesch, Sybille Krämer, Sigrid Weigel und Thomas Macho zu nennen. Einen weiterführenden Überblick gibt der Band: Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Hg. von Doris Kolesch und Sibylle Krämer. Frankfurt a.M. 2006.

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Rituali­sierung im Sprechen, der stimmlichen Modulation und der musika­ lischen Weltwahrnehmung aus. Leikert stellt dazu folgende These auf: „Die Ritualisierung entängstigt das Subjekt und erlaubt ihm damit einen erneuten Eintritt in die archaische Erlebenswelt der kinetischen Semantik.“12 Die literarische Verarbeitung solcher Konstellationen – gerade im Werk Arthur Schnitzlers – zielt freilich eher auf das Scheitern dieser „Entängstigung“ durch Ritualisierung. Die Rückkehr aus dem Wien des Fin de Siècle in die „archaische Erlebenswelt“ ließ sich für ihn allenfalls parodistisch reali­ sieren, wenn man etwa an Schnitzlers Erzählungen Die griechische Tänzerin oder Die Hirtenflöte denkt. Schnitzlers Auseinandersetzung mit dem Musikalischen – sei es als Stoff, Strukturmittel oder Begleitung vornehmlich seines Erzählens aber auch dramatischen In-Szene-Setzens von Sprachsituationen (wieder wäre Reigen zu nennen) –, diese auf ausübender Kennerschaft beruhende Arbeit mit dem musikalischen Material komplettiert seine selbst von Freud bewunderte psychologische Kompetenz.13 Man kann mit Fug noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, Schnitzlers musikalisch grundierte und psychophänomenologisch fundierte Poetik reiche in diesem thematischen Zusammenhang weit über den der Musik eher fernstehenden Freud hi­naus. Das besagt nicht, dass damit mehr gemeint sein kann als Schnitzlers musikalische Grunddisposition und keineswegs etwa dessen Anwaltschaft für die Musik der Wiener Moderne, die er weitgehend ablehnte. So hielt er Schönberg, dessen zweites, die Tonalität durchbrechendes Streichquartett op. 10 Schnitzler bei der Erstaufführung durch das Rosé-Quartett im Dezember 1908 gehört hatte, für einen Hochstapler. Nach einer „angeregten Unterhaltung über musikalische Fragen“ mit Bruno Walter und den Mitgliedern des Rosé-Quartetts im April 1912 notierte er: „Schönberg, allerlei Schwindel“.14 Bruckner und Mahler dagegen habe er sogleich „verstanden“, was freilich insofern bedeutsam ist, als er damit die spätromantisch-symphonische Welt benennt und ihre Brechung; im Falle Schönbergs jedoch überwog der Zweifel an dessen experimentellem Ansatz. Dennoch darf das Musikalische in Schnitzlers Schreiben besondere Bedeutung beanspruchen, weil es sich von den Vorgaben der Stimme nicht nur herleitete, sondern diese auch in einem ungewöhnlichen Maße reflektierte. Die sich aus diesem Stimmlich-Bewegten ergebende kinetische Semantik sollte, so die These, als konstitutiv für seine Poetik begriffen werden. 12 www.sebastian-leikert.de/wp.../Musik_und_klinische_Arbeit.doc (aufgerufen am 18. August 2012), S. 1. 13 Vgl. dazu Peter Gay: Freud. A Life for Our Time. London u.a. 1988, S. 130; ders.: Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2002, S. 265–267. 14 Zit. nach: ebd., S. 265.

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2.  Stimmenzauber und Verhängnis Zu Schnitzlers frühesten Erzählungen gehört die 1885 entstandene Prosa Welch eine Melodie. Sie erschien jedoch erst 1932, postum also, in der Neuen Rundschau. Es geht um einen Fall von kindlicher Genialität: „Der Knabe hatte vor sich auf dem Fensterbrett ein Notenblatt liegen, auf welches er musikalische Zeichen, wie sie ihm eben einfielen, planlos ein­trug.“ (ES I, 7) Was es mit diesem Notenblatt auf sich hat? Die Natur nimmt es in Gestalt eines Windstoßes an sich und trägt es fort. Es wird von einem angehenden Komponisten gefunden, der sogleich das Außergewöhnliche dieser Melodie erkennt, daraus ein Klavierstück offenbar in Form eines großen Variationssatzes gewinnt, das später sogar für Streichorchester bearbeitet werden und einen Siegeszug „durch alle Musiksäle der Welt“ (ebd.) antreten wird. Der Komponist, der sich mit dieser fremden aufgefundenen Melodie geschmückt, danach aber keinen künstlerischen Einfall mehr hatte, nimmt sich das Leben. Der Knabe nun, der einst diese Melodie wie aus dem Unbewussten geschrieben hatte, vermag nicht, sie auf dem Klavier zu spielen. Er muss sie sich vorspielen lassen. Beim Hören seines eigenen Themas, das er freilich nicht als sein eigenes erkennt, „[stieg] eine neue, ungekannte Welt von ihm auf, es überkam ihn wie eine Ahnung von einer fernen, phantastischen Herrlichkeit, die man wohl tief empfinden, aber kaum zu fassen vermag…“. (ES I, 10) Symbolisch bedeutsam ist, dass in dieser quasi parodistischen Künstlernovelle die „musikalischen Zeichen“, die unwissentlich eine solchermaßen unerhörte Melodie ergaben, auf einem Fensterbrett aufgezeichnet wurden – mithin einem klassischen Schwellenort, einem topologischen Transitorium. Die ‚unerhörte Begebenheit‘ ist das musikalische Kunst-Stück an sich, das aus dem kindlich Vorbewussten buchstäblich heraus­gesetzt und flügge wurde. Die Novelle setzt ein mit der auf Ambiguität angelegten Bemerkung „Es hört sich an wie ein Märchen…“ (ES I, 7). Unentschieden bleibt, ob es ein solches ist oder eben eine Kunstmärchenparodie, oder ob diese Prosa vom Auffinden einer Melodie handeln will, welche die Sterilität des Scheinkünstlers, der nur zu Variationen dieses einen unerhörten Themas fähig ist, grell beleuchtet. Der Text handelt von einer doppelten Entfremdung: Der Komponist wird von der Kunst entfremdet, indem er den Variationssatz über eine ihm zugefallene Melodie vollendet. Und der Knabe wieder, der eigentliche Urheber der Melodie, kann mit ihr nur rezeptiv umgehen. Stimmen hatte Schnitzler in diesem Text noch nicht thematisiert, allenfalls andeutungsweise jene der Geliebten des Komponisten, die „flüstert“, was alle empfinden: „Welch eine Melodie“ (ES I, 8). Auch in Schnitzlers Erzählung Sterben prägen die stimmliche Charakterisierung der Protagonisten sowie die musikalische Grundierung der Hand­

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lung ihre Struktur. Die Erzählung, als Tristan-Parodie lesbar im Sinne eines verweigerten Liebestodes, setzt die stimmlichen Charakterisierungen immer dann ein, wenn die musikalischen Motive aufgebraucht sind – etwa das Sängerfest in Salzburg, nach dessen Verklingen die stimmliche Dramatik zwischen dem todkranken Felix und der das gemeinsame Sterben schließlich verweigernden Marie deutlich zunimmt; die Skala reicht dabei von einfühlsam bis schreiend und kreischend. Als besonders reizvoll erweisen sich auch die Zwischentöne, das, was zwischen Stimme und Musik wiegt, zwischen Natur und Kunst. Es ist der ganz gegen die Bedeutung seines Vornamens angstvoll Leidende, der Sterbende, Felix also, der für die Zwischentöne und Momente klanglicher Übergänge das feinste Gehör und den eigentlichen Sinn hat. An zwei Stellen dieser Erzählung zeigt sich dies besonders deutlich – in beiden Fällen handelt es sich um Phasen vor einer grundwichtigen Entscheidung, sei es, dass Felix sich entschließt, notfalls Marie gewaltsam mit in den Tod zu nehmen, sei es, dass eine handlungsfördernde Ortsveränderung ansteht. Zunächst die Salzburger Szene, die gleichsam eine ästhetische Zustandsveränderung beschreibt: Ringsum war es still geworden, und Marie war an seiner Seite eingeschlummert. Längst war das Konzert zu Ende, und unter dem Fenster gingen noch die letzten Nachzügler des Festes laut redend und lachend vorbei. Und Felix dachte, wie sonderbar es sei, dass diese johlenden Menschen wohl dieselben waren, deren Gesang ihn so tief ergriffen hatte. Auch die letzten Stimmen verklangen endlich vollends, und nun hörte er nur mehr das klagende Rauschen des Flusses. (ES I, 135)

Im zweiten Beispiel erinnert sich Felix vor seiner letzten Reise (nach Meran) – er sieht sich als Sterbender bereits als ein der Heimat Entfremdeter, aber noch auf den Einklang eines gemeinsamen Sterbens mit Marie hoffend, auf deren Leben nach seinem Tod er zunehmend eifersüchtig wird: „Weißt du“, sagt er zu seinem ärztlichen Freund, aber auch Rivalen um Maries Gunst, Alfred, „mir ist, wie wenn ich Instrumente eines Orchesters stimmen hörte. Das hat auch in Wirklichkeit immer stark auf mich gewirkt. Und in einem der nächsten Momente werden sich da wohl reine Harmonien hervorbringen, und alle Instrumente fallen richtig ein.“ (ES I, 157f.) Er meint damit die Einstimmung auf den Tod, wobei der Erzähler den Bruch mit der Harmonie durch eine knappe Partizipialkonstruktion signalisiert: Felix, „plötzlich abspringend“ – von seinem musikalischen Bild nämlich, braucht den Orts- wie den raschen Themenwechsel. Zu einem Aus­komponieren und harmonischen Aussingen seines Lebens bleibt ihm keine Zeit mehr. Schnitzlers Erzählen spürt Stimmen auf, lässt sich von Stimmen leiten, seien sie dialogischer oder monologischer Natur. Dabei grundiert die Musik oft das Erzählgeschehen, so etwa zu Beginn von Leutnant Gustl. Das nach außen gerichtete Ereignis, ein Oratorienkonzert, geistliche Musik

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an welt­lichem Ort, erweist sich als Ausgangspunkt für des Leutnants inneren Mono­log oder genauer: Zwiegespräch mit sich selbst. Was ihn innerlich bewegt, verleiht sich auf diese Weise Stimme. Das bedeutet aber nicht, dass Gustl das Gehörte, die Musik verinnerlichte. Es sind Äußerlichkeiten, Belang­losigkeiten, Dinge, die sich „in einem so ernsten Konzert nicht schicken“, wie er sich selbst sagt, die er wie im Vorbeisprechen reflektiert: Lang’ war ich schon nicht in der Oper. In der Oper unterhalt’ ich mich immer, auch wenn’s langweilig ist. Übermorgen könnt’ ich eigentlich wieder hinein­geh’n, zur ‚Traviata‘. Ja, übermorgen bin ich vielleicht schon eine tote Leiche! (ES I, 337)

Dieses innere Sprechen beruht auf einem Reigen von Assoziationen. Es ist, als flackerten Worte, Eindrücke, Gedanken. Das Pleonastisch-Tautologische, die „tote Leiche“, verstärkt dabei den Eindruck des Sinnlosen. Und doch ver­fügt dieses Sinnlose über eine innere Logik, wie diese Sequenz belegt. Die Schwester seines Freundes singt im Oratorienchor mit: Mindestens hundert Jungfrauen, alle schwarz gekleidet; wie soll ich sie da herausfinden? Weil sie mitsingt, hat er auch das Billett gehabt, der Kopetzky … Warum ist er denn nicht selber gegangen? – Sie singen übrigens sehr schön. Es ist erhebend – sicher! Bravo! bravo! … Ja, applaudieren wir mit. Der neben mir klatscht wie verrückt. Ob’s ihm wirklich so gut gefällt? (ebd.)

Die Äußerlichkeiten überwiegen; Zynismus grundiert die Wahrnehmung dieses Neurotikers, zu dem auch das Spiel mit dem Suizid gehört. Oper und Kirche werden für Gustl austauschbar. Befand er im welt­ lichen Oratoriumskonzert, dass er schon lange nicht mehr die Oper besucht habe, stellt er später fest, als er wiederum Orgelklang hört, er sei schon lange nicht mehr in der Kirche gewesen („Möcht’ in die Kirche hineingeh’n … am End’ ist doch was dran…“, ES I, 360) Einerseits kann Gustls Ich nicht auf die gehörte Musik eingehen, andererseits erweist sie sich als zuviel für ihn. Sie lenkt ihn aber auch von seinen Selbstmordgedanken ab: Orgel – Gesang – hm! Was ist denn das? – Mir ist ganz schwindlig … O Gott, o Gott, o Gott! […] Woran erinnert mich denn nur die Melodie? Heiliger Himmel! gestern abend! – Fort, fort! das halt’ ich gar nicht aus! … Pst! keinen solchen Lärm, nicht mit dem Säbel scheppern – die Leut’ nicht in der Andacht stören – […]. (ES I, 360f.)

Erst die wiederkehrende, erinnerte Melodie zeigt in Gustl Wirkung, wobei von der inneren Monologdramatik her gesehen bemerkenswert ist, dass die stumme Versprachlichung der Gedanken15 mit rhythmischen und 15 Vgl. Ursula Renner: „Lassen sich Gedanken sagen? Mimesis der inneren Rede in Arthur Schnitzlers Lieutenant Gustl “. In: Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. von Sabine Schneider. Würzburg 2010, S. 31–52.

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anti-rhythmischen Sequenzen arbeitet und gleichzeitig mit kontrastierenden Tempi („Fort, fort! […] Pst!“). In der drei Jahre nach Leutnant Gustl entstandenen Erzählung Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg (1904) avancierte die Stimme, nämlich jene der Opernsängerin Kläre Hell, zu einem Hauptgegenstand; nach dem Tod ihres Geliebten und Mäzenen, des Fürsten Bedenbruck, droht Kläre psychogene Aphonie, wie eingangs erwähnt durch ein Trauma ausgelöster Stimmausfall, eine Sorge, die sich freilich als unbegründet erweist. Der „Zustand höchster Nervosität“ (ES I, 582) war Kläre nie fremd, bedingt auch durch Dirigenten, die so laut mitsangen, dass man die Sänger nicht hörte, vor allem aber angesichts ihrer zahlreichen Liebschaften. Die Er­ zählung handelt aber auch von der Stimme des norwegischen Wagner-Sängers Sigurd Ölse, dessen Stimme der Erzähler genau charakterisiert, da auch sie ein Defizit aufweist: Weil er eine „von seiner Großmutter überkommene Beschwörungsformel“ zu murmeln verabsäumt hatte, „hatte ihm plötzlich die Stimme versagt“ (ES I, 586), und zwar bei einem Auftritt im Londoner Covent Garden. Schnitzler verweist hier ironisch auf die Umkehrung seiner eigenen Behandlungs­praxis von psychogener Aphonie: Im Falle von Sigurd Ölse, der sich in Kläre Hell verliebt, wird sie nicht durch Hypnose kuriert, sondern prophylaktisch durch Zauberformeln, autogenes Kurz­ training, wenn man so will. Eigentlich aber handelt die kurze Erzählung vom langen Liebesleiden des Freiherrn von Leisenbohg, der seine Karriere opfert, um stets in der Nähe der Sängerin sein zu können; sie gewährt schließlich nach des Fürsten Tod eine einzige Liebesnacht, obgleich sie sich längst ihrem Tristan-Sänger Ölse verbunden weiß. Danach reist sie ab und das, wie Leisenbohg später aus dem Mund von Ölse erfährt, im selben Zug wie dieser. Leisenbohgs Ernüchterung spiegelt sich in seiner Wahrnehmung der Stimmen in der Stadt, die ihm nun „verschleiert“ vorkommen. (ES I, 597) Er verliert sogar die Erinnerung an „Klärens Gesang“, folgt aber einem Ruf Ölses nach Norwegen, der ihm vom Fluch des Fürsten berichtet: Wer immer nach dessen Tod Kläre als erster besitze, sei selbst des Todes. Leisenbohg bezieht dies auf sich, glaubt die Stimme des Fürsten aus des Tristan-Sängers Munde zu hören, und stirbt vom Schlage rührt. Nach dessen Tod befreit sich Ölses Stimme: [… er] erhob seine Stimme zum Gesang. Anfangs wie furchtsam und verschleiert, hellte sie sich allmählich auf und klang laut und prächtig durch die Nacht, endlich so gewaltig, als wenn sie von den Wellen widerhallte. (ebd.)

‚Und immer lockt die Stimme‘ wie auch die Musik in Schnitzlers Erzählungen, und zwar ins Verhängnis, als arbeite der Erzähler mit dem Restbestand des Mythisch-Sirenenhaften. So verursacht das Orgelspiel eines gewis-

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sen Banetti in der Protagonistin der Fantasie Die Fremde eine „Gemüts­ krankheit“, und zwar im Anschluss an einen Traum folgenden Inhalts: Banetti, dem sie, Katharina, schwärmerisch zugetan war, habe in ihrem Zimmer „auf dem Klavier eine Fuge von Bach gespielt“, sei „dann rücklings zu Boden gestürzt“ und habe „tot dagelegen, während sich die Decke öffnete und das Klavier in den Himmel schwebte.“ (ES I, 552) In Folge versagt Katharina tagsüber die Stimme, „aber nachts erhob sie sich zu­ weilen aus dem Bette und sang einfache Lieder wie in früherer Zeit.“ (ebd.) Später, als verheiratete Frau, „sang Katharina mit einer an­genehmen Stimme, aber beinahe völlig ausdruckslos, einfache, meist italienische Volks­ lieder […]“. (ES I, 554) Ein weiteres Motiv in Schnitzlers Erzählen ist das Erkennen und Verstellen von Stimmen. So spricht in Der Tod des Junggesellen (1908) ein Arzt „mit einer Stimme, die er an sich nicht kannte“ (ES I, 968); er verfügt sogar über eine „neue Stimme“ (ebd.), und zwar so lange bis die ungewöhnliche Begebenheit ihr Ende gefunden hat; erst dann kann er wieder mit seiner „alten Stimme“ sprechen (ES I, 972). Stimmliche Veränderungen deuten bei Schnitzler Ausnahmezustände an. Ähnliches trifft für bestimmte Melodien zu wie etwa in der Parodie neoklassischen Erzählens, Die Hirtenflöte (1911), in der die Frau des Kosmologen Erasmus namens Dionysia ihrem Namen erst dann gerecht werden kann, als ihr weiser, aber dominanter Ehemann sie zur ihrer Überraschung in die Freiheit entlässt. Aber es bedarf des Klanges einer Panflöte, damit sie ihre bisherige Welt verlässt. In späteren Erzählungen,16 etwa in Spiel im Morgengrauen (1925/26), die zeigt, wie das Spielerische im Leben verspielt werden kann, drücken Ver­ weise auf die Musik eher Konventionelles aus: Musik klang zu ihm herüber. Es war irgendeine italienische Ouvertüre von der halb ver­schollenen Art, wie sie überhaupt nur von Kurorchestern gespielt zu werden pflegen […]. Leise und etwas rührend klangen die Töne durch die zitternde Frühlings­luft. (ES II, 516)

Deutlich differenzierter wiederum treten die Stimme und das Stimmliche in Erscheinung. Zu Beginn des vorletzten Kapitels, das die tragische Klimax vorbereitet, spricht der sich in einer ausweglosen Situation wähnende Leutnant Willi nur noch mit „umflorter Stimme“. (ES II, 571) Als die Frau, von der er seine Rettung erhofft, ihn verlässt, „versagte seine Stimme wie unter einem Alpdruck“ (ES II, 572). Und am Ende unterstreicht „Stimmen­ gewirr“ (ES II, 581), also das nicht mehr eindeutig Wahrnehmbare, die Sinnlosigkeit der tragischen Situation.17 16 Vgl. William H. Rey: Arthur Schnitzler. Die späte Prosa als Gipfel seines Schaffens. Berlin 1968. 17 Schnitzler kannte auch die Variante einer aus Nervosität plötzlich ins Komische „umschlagen­ den Stimme“, das gleichfalls in der Erzählung Spiel im Morgengrauen. (ES II, 347)

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3.  Entblößende Musik oder „Zauberburg“-Klänge Arthur Schnitzlers Fräulein Else ist nicht Thomas Manns Ma­dame ​Chau­ chat, aber sie wirken wie entfernte Verwandte. Verwandt ist auch die Kulisse ihres Auftritts: „Wie riesig es dasteht das Hotel, wie eine ungeheuere beleuchtete Zauberburg. Alles ist so riesig. Die Berge auch. Man könnte sich fürchten.“ (ES II, 355) Zu einem entblößenden Schleiertanz wäre Ma­ dame Chauchat vermutlich fähig, zu einem inneren Monolog von solch’ verwirrender Dichte, wie ihn Fräulein Else führt, wohl nicht. Else verstünde fraglos die pikante Symbolik des Chauchatschen Crayons, aber das Türen­ schlagen stünde ihr fern. Dafür geht Claudia Chauchat der Sinn für Musik ab, über den Else im Übermaß verfügt. Nackt auf ins Meer führenden Marmorstufen zu liegen wäre Claudia kein fremder Gedanke. Else träumt davon schon zu Beginn ihres strömenden Phantasierens. Anders als im Berghof steht in Elses Hotel kein Grammophon sondern ein Klavier im Mittelpunkt. Elses Erinnerungen kreisen immer wieder um das eigene Klavierspiel,18 das Üben. Sie träumt von einer Villa am Meer, wo sich Musik und das Rauschen des Urelements vermischen. Noch zuletzt sieht sie „unter dem freien Himmel ein Klavier“ und erinnert den „Klavierstimmer“ in der Bartensteinstraße am Wiener Rathaus. (ES II, 380f.) Musik und (Selbst-)Entblößung scheinen hier zusammen zu gehören, erinnert doch Else auch eine Operettensängerin, die vormals nackt im Wörthersee geschwommen und danach sogleich abgereist sei. Bekanntlich aber ist Elses Entblößung eine erpresste, wobei sie ihre Nacktheit lustvoll in Szene zu setzen versteht, ob als weiblicher Narziß vor dem Spiegel oder wenn sie in Gedanken die Entblößung vor dem Retter der Ehre ihres Vaters in diversen Variationen durchspielt. Wendelin Schmidt-Dengler hat darauf aufmerksam gemacht, dass der späte Schnitzler verstärkt auf die Vorkriegswelt rekurrierte und – etwa im Falle von Fräulein Else – anders als Felix Dörmann in seinem Roman​ Jazz (1924) oder F. Scott Fitzgerald in Six Tales of the Jazz Age (1922) die zeitgenössische Musikszene, den Jazz zum Beispiel, ausgeblendet habe.19 Doch ver­dient die Frage, weshalb speziell Robert Schumann so prominent in dieser Erzählung zitiert wird, gerade in unserem Themenzusammenhang mehr Aufmerksamkeit. Die Erzählung zitiert expressis notis, und damit die Musik in ihrer para-narrativen Qualität beim Wort nehmend, drei Stellen aus Schumanns 18 Vgl. Karin Pfundstein: Das Motiv des Traums und des Klavierspiels in Arthur Schnitzlers ‚Fräulein Else‘. Norderstedt 2004. 19 Wendelin Schmidt-Dengler: Ohne Nostalgie: Zur österreichischen Literatur der Zwischen­kriegszeit. Wien u.a. 2002. Vgl. bes. das Kapitel „Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else“, S. 53–64, hier: S. 53.

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Car­naval op. 9 just an der Stelle, als Else, die selbst einmal diese kunstvollen Stücke studiert hatte, Dorsday erblickt, den sie im ganzen Hotel gesucht hat, um sich ihm vor aller Augen durch Selbstenthüllung zu opfern. Gespielt wird eine Sequenz aus dem sechsten Stück „Florestan“, und zwar Schumanns Selbstzitat aus Adagi-Themen der Papillons op. 2. (ES II, 371ff.) Eine „fremde Dame“ spielt, was bedeutet: das Else vertraute Stück, das sie von Ferne für Chopin hielt, eine lässliche Sünde angesichts der Chopin-Nähe des Carnaval, wird ihr entfremdet. Ihre eigentliche Entblößung im Musik­zimmer geschieht zwischen dem Schluss von „Florestan“ und der „Reconnaissance-Animato“, also in der Sequenz des Carnaval neun Stücke später. Das deutet darauf hin, dass die „fremde Dame“ nur Teile dieser Komposition spielt und keineswegs die ganze Komposition vorträgt. Unter dieser in der rechten Hand oktaviert gespielten Melodie der „Reconnaissance“ lässt Else ihren Mantel fallen: „Köstlich rieselt es durch meine Haut. Wie wundervoll ist es, nackt zu sein.“ Dann setzt die Musik jäh aus. Erzählerisch leistet Schnitzler hier ein Äußerstes, was eine subtile klaviertechnische Erfahrung voraussetzt: Oktaviertes Spielen in der rechten Hand mit der Spannung zwischen Sechzehntel-Stakkato in der unteren und Achtel in der oberen Lage erfordert höchste Kunstfertigkeit. Gleichzeitig verweist das Fallenlassen der Hüllen auf etwas Natürlich-Elementares, einen Eva-Moment, wenn man so will, lustbetont, ohne dass Schumanns Musik hier besonders ekstatisch wäre. Musikalisch dominiert ein Wiedererkennungs­motiv, was darauf hinweist, dass der Akt der Entblößung paradoxerweise auch als Elses Selbstfindung gedeutet werden kann – nur eben dass sie dafür eine sie prostituierende Situation gewählt hat, sieht sich doch durch ihre Entblößung eine ganze Gesellschaft bloßgestellt – ganz un­abhängig davon, ob Else dies beabsichtigt hat oder nicht. Allein Cissy glaubt, Elses Nacktheit zu durchschauen, wenn man so will, und zu erkennen, dass es sich hierbei nicht um einen „hysterischen Anfall“ gehandelt habe, sondern um eine kalkulierte Selbstinszenierung, wobei sie die Hintergründe nicht kennen kann. (ES II, 378) Was Else bleibt, ist Veronal, halb Traum, halb Schlaf, am Rande des Todes. Doch ihre Erinnerung versiegt ebenso wenig wie ihre innere Stimme versagt. Sie leiht sich weiter Elses innerem Monolog, der mit den „brausenden Stimmen“ draußen konkurriert. Else will tanzen, ihren Körper weiter erproben, doch ihr letzter funktionstüchtiger Sinn ist – wie bei Sterbenden – der Gehörsinn: Wo seid ihr denn? Ich höre euch, aber ich sehe euch nicht […] Was ist denn das? Ein ganzer Chor? Und Orgel auch? Ich singe mit. Was ist denn das für ein Lied. Alle singen mit. Die Wälder auch und die Berge und die Sterne. Nie habe ich etwas so Schönes ge­hört. (ES II, 381)

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Rüdiger Görner

Der Erzähler lässt sprachlich Elses Leben gleichsam verklingen: „Ich fliege … ich träume … ich schlafe … ich träu… träu – ich flie… .“ (ebd.) Es ist eine Skale als Wortfolge, wobei es genau jene Fingerübung war, die Else, wie sie zuletzt noch erinnert, schon als Mädchen hätte mehr üben sollen: Skalen, Läufigkeit auf der Tastatur. Die Schumann-Zitate lese ich daher weniger als Katalysatoren des Zusammenbruchs von Else, sondern als komplexe Kunstverweise, die weniger auslösen als einlösen, nämlich Elses Bedürfnis, sich selbst noch in der Demütigung zu finden und zu behaupten. Wichtig ist, dass Else sich nicht in Schumanns Musik einstimmte; sie tanzte sie nicht, betrieb ihre Selbst­ entschleierung oder genauer: Entmantelung nicht zu diesen Takten. In einer Hinsicht aber stellt sie eine Entsprechung zu Schumanns Komposition dar: Carnaval ist eine Komposition über „quatre notes“, wie ihr Unter­titel sagt, den vier Buchstaben des böhmischen Herkunftsortes seiner Ver­ lobten, Asch. Auch Elses Name besteht aus vier Buchstaben, wobei sich nur das E in einen Notenwert umsetzen ließe; der Name selbst verfügt jedoch über einen anziehenden Lautwert, vor allem wenn das Anfangs-E langsam und das S entsprechend stimmhaft gesprochen wird. Zudem scheint sich Arthur Schnitzler mit den Anfangsbuchstaben seines Namens gleichfalls in dieses ‚Asch‘ eingewoben zu haben. Elses ganz nach innen verlagertes Sprechen, dem auch ihre kon­sequente Internalisierung selbst banaler Äußerlichkeiten entspricht, ist nicht das Innere einer Frau, die an psychogener Aphonie leidet, da sie ja bereits vor dem traumatischen Schockerlebnis, nämlich der von ihr geforderten Selbst­ entblößung, nur in und mit ihrem Inneren gesprochen hat. Bedenkt man die erzählkompositorische Finesse des späten Schnitzler in Fräulein Else, dann kommt man eher zu dem Ergebnis, dass er hier eine Frau zeigte, die sich noch in der scheinbar schamlosen Selbstoffenbarung ihr Geheimnis als innere Stimme bewahrt – ganz wie der frühe Schumann in seiner vielleicht verschlüsseltsten Komposition.

Wolfgang Lukas und Ursula von Keitz

‚Stimme‘ und ‚Partitur‘: Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else von 1924 gehört zu den berühmten Texten der experimentellen Avantgarde in der deutschsprachigen Klassischen Moderne. Nach Lieutenant Gustl (1900), dem ersten konsequent im Modus des Inneren Monologs gestalteten Text der deutschsprachigen Literatur, ist es der zweite seiner Art, den Schnitzler vorlegt; allerdings hat er mit Fräulein Else zugleich ein neues Modell geschaffen, das sich vom ersten signi­fikant unterscheidet. Denn die sprachliche Darstellungsebene, der discours, steht hier nicht nur in einer markanten Relation zur Geschichts­ebene, der histoire. Beide stehen vielmehr in ihrer Gesamtheit in einer spezi­fischen Beziehung zur ‚Materialität‘ des Textes, die – u.a. auch in ihrer typo­graphischen Gestalt – ihrerseits zu einem integralen und bedeutungs­tragenden Teil des ‚Inhalts‘ avanciert. In den folgenden Ausführungen nähern wir uns diesem Thema aus einer literatur- und einer medien­semiotischen Perspektive, die jeweils theoretische mit historischen Aspekten verbindet.

1.  Der Innere Monolog. Zur Semantisierung einer literarischen ‚Form‘ 1.1  Die epochale Sehnsucht nach ‚Unmittelbarkeit‘ In discours-geschichtlicher Hinsicht lassen sich mit der Form des Inneren Monologs zwei – scheinbar gegenläufige – Aspekte namhaft machen. Zum einen stellt sich der Innere Monolog als Radikalisierung jener zunehmenden Subjektivierung dar, wie sie sich bereits im figurenperspektivischen, fokalisierenden Erzählen in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts manifestiert. So lässt sich vom Verfahren der sog. ‚erlebten Rede‘ bzw. dem – üblicherweise im Präteritum – verfassten ‚style indirecte libre‘ über Experimente mit präsentischer erlebter Rede eine direkte Linie zum

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Inneren Monolog ziehen. Gerade das frühe, mit diesen Formen experimentierende Erzählwerk Schnitzlers der 1890er Jahre ist hierfür ex­emplarisch.1 Die Tendenz zur perspektivierten Realitätsabbildung führt in der zwei­ten Hälfte des 19. Jahrhunderts indes auch zum Phänomen der Rahmung, vor allem (wenngleich nicht ausschließlich) in der Novellistik. Die Rahmennovelle tritt dabei nicht nur mit einfacher, sondern oft auch mit doppelter Rahmung (vgl. u.a. Storms Der Schimmelreiter und Zur Chronik von Gries­huus) und in aufwendigen, expandierten und komplexen Aus­ prägungen (vgl. u.a. C.F. Meyers Die Hochzeit des Mönchs, Raabes Zum Wilden Mann) auf. Beleg für die beinahe obsessive Vorliebe für Verfahren der Rahmung sind aber just auch jene ‚minimalisierten‘ Rahmen, die kaum mehr als einen Satz umfassen und keine weitere Funktion erfüllen als eben die, die erzählte – i.d.R. vergangene – Geschichte einzubetten und das Erzählen an eine figurale Perspektive zu delegieren. Als einschlägige Beispiele seien u.a. C.F. Meyers Das Amulett (1874), Flauberts La légende de saint Julien L’Hospitalier aus den Trois Contes (1877) oder Ferdinand von Saars Die Troglo­ dytin (1887) genannt; als extreme Schwundstufe einer gleichwohl intendierten Rahmung ließe sich etwa auch der Untertitel von Fontanes Ellernklipp: „Nach einem Harzer Kirchenbuch“ (1881) auffassen. Diese Beispiele, die sich beliebig mehren ließen, belegen eine epochale Tendenz zur Verdopplung bzw. Vervielfachung der Erzählinstanz, mithin zu einer ‚Metadiegetisierung‘, welche die Vermitteltheit der dargestellten Realität unterstreicht. Berühmt ist in diesem Zusammenhang C.F. Meyers Antwort auf die kritische Frage Paul Heyses nach dem Zweck der (extrem elaborierten) Rahmung in der Hochzeit des Mönchs : „Die Neigung zum Rahmen ist bei mir ganz instinctiv. Ich halte mir den Gegenstand gerne vom Leibe oder richtiger gerne so weit als möglich vom Auge […].“2 Insofern die Binnengeschichten ausschließlich in der Vergangenheit situiert sind, verknüpft sich die Metadiegetisierung mit einer Historisierung – das historische Erzählen und speziell die Rahmennovelle erleben bekanntlich im letzten Drittel des Jahrhunderts eine ausgesprochene Blütezeit.3 Das Erzählen aus einer doppelten, sowohl temporalen als auch diegetischen Distanz geht meist auch mit Formen seiner Selbstthematisierung einher und stiftet jene eminent 1 2 3

Siehe hierzu Michael Scheffel: Arthur Schnitzler. Erzählungen und Romane. Berlin 2015, Kap. II, S. 26–48; ders.: „Narrative Modernität: Schnitzler als Erzähler“. In: Schnitzler-Handbuch, S. 299–305, ferner den Beitrag von Stefan Scherer im vorliegenden Band. Brief vom 12.11.1884 an P. Heyse. Abgedruckt in: C.F. Meyer: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 12, 2. Aufl. Bern 1998, S. 251f. (Hervorh. der Verf.). Vgl. etwa Andreas Jäggi: Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage. Bern u.a. 1994, sowie Wolfgang Lu­kas: „‚Fremde‘ vs. ‚eigene‘ Geschichte. Anthropologie und Poetologie in der (Rahmen)Er­ zäh­lung des späten Realismus“. In: Realismus-Studien. Festschrift für Hartmut Laufhütte. Hg. von Hans-Peter Ecker und Michael Titzmann. Würzburg 2003, S. 251–293.

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selbstreferentielle, metapoetische und metasemiotische Dimension, die für die spätrealistische Novellistik so außerordentlich charakteristisch ist.4 Auf diesem Hintergrund bzw. dieser Negativfolie stellt der (autonome)5 Innere Monolog mit den Merkmalen des absoluten Gegenwarts- respektive Präsenzbezugs und der Unvermitteltheit einen strikten Bruch mit der (spät) realistischen Erzähltradition dar und führt einen Paradigmenwechsel herbei. Innerer Monolog, als Strategie der radikalen ‚Ent-Meta­diegetisierung‘, und Rahmung besetzen auf einer Skala der erzählerischen Vermitteltheit bzw. Mittelbarkeit zwei Extrempole und repräsentieren mithin zwei kontrasti­ve literarische Formen, in denen sich neues und altes Literatur­ system gegenüberstehen. Manifestiert sich in der Rahmung ein – realismustypisches – Streben nach Distanzierung und Vermitteltheit, so lässt sich der Innere Monolog umgekehrt als Ausdruck jener kollektiven Sehnsucht nach ‚Unmittel­barkeit‘ deuten, welche dem um 1890 einsetzenden Epochenwandel ein zentrales Schlagwort liefert. Discoursgeschichte (sensu Genette) und Diskursgeschichte (sensu Fou­ cault) erweisen sich in dieser Hinsicht als eng miteinander korreliert: Der histo­rische Wandel der literarischen ‚Formen‘ (i.e. des Erzähldiscours) geht mit einem epistemologischen Wandel einher. So bildet sich in den 1890er Jahren bekanntlich ein sog. ‚lebensideologischer‘ Diskurs heraus, der u.a. in der Nachfolge Nietzsches radikale Kulturkritik im Zeichen einer epochalen Krise übt. Gegenüber einer für sämtliche Erscheinungen der menschlichen Kultur6 diagnostizierten ‚Lebensferne‘ werden auf verschiedensten Ebenen und Abstraktionsstufen Formen eines gesteigerten, ‚unmittel­baren Lebens‘ postuliert. Eine Krise der Erkenntnis, der traditio­ nellen, historisch-philologischen Wissenschaften und, damit korreliert, eine Krise der Sprache in ihrer realitätsabbildenden wie kommunikativen Funktion sowie, davon wie­derum ableitbar, eine Krise der Kunst, und nicht zuletzt eine umfassende Krise der (bürgerlichen) Werte und Normen sind konstitutiver Bestandteil dieses sog. ‚lebensideologischen Meta-Diskurses‘.7 Die literarästhetische Suche nach Unmittelbarkeit lässt sich nicht 4 5 6

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Siehe Claus-Michael Ort: Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus. Tübingen 1998, bes. S. 1–19 sowie Lukas 2003 (Anm. 3). Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 10., überarb. Aufl. München 2016, S. 64f. Georg Simmel fasst Kultur in weitester Bedeutung als „die sozialen Verfassungen und die Kunst­werke, die Religionen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Techniken und die bür­gerlichen Gesetze und unzähliges andere“. Vgl. seinen einschlägigen programmatischen Vortrag Der Konflikt der Kultur. München u.a. 1918, S. 5. Siehe hierzu Manfred Diersch: Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. 2. Aufl. Berlin 1977; Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intel­lek­tuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart 1994 sowie Wolfgang Lukas: Das Selbst und das

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zuletzt auch mediengeschichtlich als Effekt einer Positionsbestimmung gegenüber dem neuen visuellen Medium Film begreifen, dessen primäres Dispositiv der technischen Bewegungsaufzeichnung und -wiedergabe zeitgenössisch mit ‚dokumentarischer‘ Unmittelbarkeit schlechthin verknüpft wird. Dies gilt gleichermaßen für die Aufzeichnung von Stimmen mittels Phonographie. Zu den zahllosen Versuchen, diese Grundkrise im Zeichen eines em­ phatischen ‚Lebensbegriffs‘ zu lösen, gehören im Bereich der Literatur des ausgehenden Jahrhunderts u.a. die gattungsgeschichtliche Aufwertung des Dramas als ‚lebendiger‘ Kunstform gegenüber der Prosa8 ebenso wie innerhalb der letzteren Entwürfe einer neuen Poetik, der zufolge erzählen­ de Literatur die Realität bzw. das Leben unmittelbar(er) abbilden solle: Hierher gehören u.a. die Forderungen der frühen naturalistischen Bewegung nach einer „Überwindung der Papiersprache“ (Arno Holz) durch eine ‚natura­listische‘ Wiedergabe der Figurenrede, die nicht nur das Gesprochene als verbalen Inhalt, sondern auch Paraverbales wie dialektale Färbung, Stockungen, Pausen, Stammeln, Seufzen, Stöhnen, mithin die physische Ma­terialität des Sprechens und der Stimme9 darstellen soll. Arno Holz und Johannes Schlaf haben hierfür u.a. in Papa Hamlet ein bekanntes Beispiel geliefert. Was der naturalistische Sekundenstil für die Wieder­gabe geäußerter mündlicher Rede erprobt, das versucht die Technik des autonomen Inneren Monologs für die Wiedergabe innerer gedachter Rede einzulösen: Realität in ihrer spontanen, durch keine Reflexion gebrochenen Unmittel­barkeit abzubilden.10 Die Rezension, die Felix Salten für die Neue Freie Presse zu Fräulein Else verfasst hat, bringt diese historische Semantik des Inneren Monologs in geradezu exemplarischen Formulierungen auf den Punkt: Was hier geschieht, wird erlebt. […] Immer ist nur Elses Stimme zu hören [sic!], nur ihre unhörbare, lautlose Gedankenstimme. […] gerade deshalb wird alles so unmittelbar lebendig in dem Buch. Die ganze Existenz des jungen Mädchens Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996, zur Sprachkrise bei Schnitzler bes. S. 258–263. 8 Vgl. etwa: Heinrich Hart und Julius Hart: „Der Zweck des Dramas“ (1882). In: Theorie des Na­tu­ra­lismus. Hg. von Theo Meyer. Stuttgart 1984, S. 265–267; Max Halbe: „Berlin Brief  “ (1889). In: ebd., S. 269–273. 9 Vgl. hierzu auch Roland Barthes’ wegweisenden Aufsatz „Die Rauheit der Stimme“ [1972]. In: R.B.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a.M. 1990, S.  269–278. 10 Zum denkgeschichtlichen Kontext s. ausführlich: Mario Gomes: Gedankenlesemaschinen. Model­ le für eine Poetologie des Inneren Monologs. Freiburg i.Br. 2008 sowie Ursula Renner: Kommentar, Kap. 3: „In Gustls Kopf  “. In: Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Hg. u. kommentiert von U.R. unter Mitarbeit von Heinrich Bosse. 2., verb. Aufl. Frankfurt a.M. 2010, S.  97–119 (= Renner 2010a) und dies.: „Lassen sich Gedanken sagen? Mimesis der inneren Rede in Arthur Schnitzlers Lieutenant Gustl.“ In: Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahr­ hunderts. Hg. von Sabine Schneider. Würzburg 2010, S. 31–52 (= Renner 2010b).

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nimmt man viel intensiver in sich auf, weil, scheinbar, niemand zwischen ihr und uns steht. […] Dieses Denken, Fühlen und Sprechen genau in der Sekunde des Erlebens. […].11

Wenn man die Sprachkrise der Jahrhundertwende als Leiden an der „He­ ge­monie des digitalen Modus“ begreift, der sich gemäß Angelika Linke im historischen Wandel von der adligen Ständegesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt hat, dann streben die literarischen Monolog-Experimente auch insofern nach einer Lösung, als sie die herrschende „Repräsentations­kultur der Sprache“, die primär auf abstrakter Diskursi­vi­ tät und diskreter Zeichenmodalität gründet, in Richtung einer nicht-diskreten, analogen und quasi mimetischen Zeichenhaftigkeit zu trans­formieren suchen. Der Innere Monolog erzählt demzufolge (wie der Film) gleichsam nicht im Modus des ‚Sagens‘, sondern des ‚Zeigens‘.12 Der Innere Monolog scheint schließlich auch jenes Problem zu lösen, das sich prinzipiell für die Erkennbarkeit des Fremdpsychischen stellt, ein um die Jahrhundertwende vielfach diskutiertes Problem: Das psychische Phänomen bietet sich als unmittelbarer Gegenstand der Erkenntnis nur der inneren Wahrnehmung dar. Innerlich wahrnehmen aber kann jeder Mensch nur jene psychischen Phänomene, die sich in ihm selbst ereignen. Diese Eigenthümlichkeit ist ein wesentliches und unterscheidendes Merkmal des psychischen Phänomens.13

Freilich handelt sich die Literatur mit dieser erzähltechnischen Lösung zugleich eine irreduzible strukturelle Ambivalenz ein: Die gesteigerte Authen­ tizität ist nämlich nur um den Preis einer gesteigerten Artifizialität zu haben, beide repräsentieren nur die einander bedingenden Seiten desselben Prozesses. Denn die radikale Eliminierung einer Erzählinstanz wirft die Frage nach der Herkunft dieses – subjektiven, innerpsychischen – Wissens nur um so deutlicher auf und führt zumindest implizit zu einer quasi ‚fantastischen‘ Erzählsituation mit Effekten paradoxen Sprechens.14 Nicht zufällig häufen 11 Felix Salten: „Fräulein Else“. In: Neue Freie Presse, 23.11.1924, Morgenblatt (Hervorh. d. Verf.). 12 Angelika Linke: „Mit schöner Stimme – von schöner Hand. Zur Sozialsemiotik von Sprech­ stimme und Handschrift im 19. Jahrhundert“. In: Stimme und Schrift. Zur Geschichte und Syste­ ma­­tik sekundärer Oralität. Hg. von Waltraud Wiethölter, Hans-Georg Pott und Alfred Messerli. München 2008, S. 75–90. Zur Definition von ‚Digitalität‘ s. Christian Stettner: „Stimme und Schrift“. In: ebd., S. 115–131, hier S. 123, Anm. 40. 13 Alfred von Berger: „Ueber dramatische Darstellung psychischer Phänomene“ (1900). Zit. in: Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887–1902. Hg. von Gotthart Wunberg. Bd. II 1897–1902. Tübingen 1976, S. 1116–1123, hier S. 1116. 14 Vgl. hierzu Käte Friedemann: „In der epischen Kunst besteht die Möglichkeit, den Leser durch den Erzähler direkt von dem Innern der geschilderten Menschen zu unterrichten. Die Aufgabe des Erzählers besteht bloß darin, es irgendwie wahrscheinlich zu machen, daß ihm die Kenntnis von dem zuteil geworden, was sich unseren Blicken entzieht.“ (Die Rolle des Erzählers in der Epik [1910], zit. bei Gomes 2008 [Anm. 10], S. 66). Siehe auch Gomes

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sich um 1900 dergleichen Erzählexperimente,15 berühmt ist etwa Max Kretzers Roman Die Sphinx in Trauer (1903), der mit den Worten einsetzt: „Seit zehn Minuten war ich gestorben. Trotzdem sah und hörte ich alles, was um mich vorging.“16 Der völlig unrealistische und artifizielle Sprechakt eines scheintoten Kataleptikers, der das, was er registriert, sprachlich nicht äußern kann (ganz analog zu Fräulein Else nach deren hysterischem Zusammenbruch), muss sich notwendig einer Textinstanz verdanken, die das Ganze arrangiert, ihrerseits jedoch abstrakt, unsichtbar und ungreifbar bleibt – kurz die als Instanz unpersönlicher Enunziation (sensu Metz) figuriert. Die Tatsache, dass sich der Innere Monolog also weniger über seinen Darstellungsgegenstand und seinen medialen Status – Gedachtes, eine subjektive psychische Innenwelt17 – als vielmehr über das Darstellungsmittel – als „discours immédiat“18 und als scheinbar erzählerloser Text – definiert, bedingt auch dessen strukturelle Nähe zum Drama.19 Nicht zufällig, vielmehr ganz konsequent, hat man immer wieder, vom Anfang des 20. Jahr­hunderts bis auf den heutigen Tag, versucht, die beiden Monolog-Novellen Schnitzlers auf der Bühne zu inszenieren. Im Folgenden soll der besondere Einsatz dieser Erzähltechnik bei Schnitzler gegenüber dem historischen Vorbild Dujardin herausgearbeitet werden, um schließlich entscheidende Differenzqualitäten von Schnitzlers später Novelle zu Lieutenant Gustl in den Blick zu nehmen. 1.2   Die Neufunktionalisierung des Inneren Monologs bei Schnitzler Bereits 1887 hat Edouard Dujardin mit dem kleinen Roman Les lauriers sont coupés bekanntlich den ersten konsequent im autonomen Inneren Monolog verfassten Erzähltext überhaupt vorgelegt, der auch Schnitzler wohlbe­

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zur „Aporie, daß die Darstellung der Innerlichkeit von Innenwelten grundsätzlich durch das Darstellungsmedium gestört wird“ (ebd., S. 15), ferner Renner 2010b (Anm. 10), S. 36, 51. Vorläufer finden sich speziell in der russischen Literatur, vgl. Gomes 2008 (Anm.  10), S. 63–71, zu Dostojewskijs „phantastischer Erzählung“ Die Sanfte (1876), deren ‚Fantastik‘ allein im discours-Arrangement besteht. Max Kretzer: Die Sphinx in Trauer. Berlin u.a. 1908, S. 11. Dieses kann auch auktorial vermittelt werden, vgl. zur ‚psycho-narration‘ Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978 sowie zur Problematik der ambigen Definition des Inneren Monologs Gomes 2008 (Anm.  10), S. 89–107. Gérard Genette: „Discours du récit“. In: G.G.: Figures III. Paris 1972, S. 67–273, hier S. 193: „l’essentiel […] n’est pas qu’il soit intérieur, mais qu’il soit d’emblée (‚dès les premières lignes‘ ) émancipé de tout patronage narratif […].“ Vgl. Gomes 2008 (Anm. 10), S. 11–22, und den dort zitierten Kommentar von Dujardin zu Les lauriers sont coupés: „Drame d’un seul personnage dont est uniqement évoquée la suite des idées pendant quelques heures, ce roman devant être joué, c’est-à-dire mentalement joué par le lecteur.“ (ebd., S. 11).

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kannt war.20 Auf dieser Negativfolie lässt sich Schnitzlers eigener Einsatz des Inneren Monologs als mehrfache Radikalisierung fassen. Dujardins Roman repräsentiert noch insofern einen Übergang zwischen einem kon­ven­­ tio­nellen und dem modernen Erzählmodell, als die vom Protagonisten in der 1. Person artikulierte Gedankenrede nicht nur Protokoll des Bewusstseins­ stroms ist, sondern sichtlich noch partiell die Rolle eines Erzählers einnimmt; das Ich changiert in seinem Status noch zwischen narratorialem und figuralem Erzählen, greifbar über rudimentäre inquit-Formeln.21 Während Schnitzlers Novellen unvermittelt, medias in res einsetzen und damit ihre Ausschnitt­ haftig­keit aus einem ‚Lebenskontinuum‘ betonen,22 hebt Les lauriers sont coupés mit einer einführenden Rede an, in der die neuartige Sprech­situation erst umständlich eingeführt und gleichsam gerecht­fer­tigt wird: Un soir de soleil couchant, d’air lointain, de cieux profonds; et des foules confuses; des bruits, des ombres, des multitudes; des espaces infiniment étendus; un vague soir… Car sous le chaos des apparences, parmi les durées et les sites, dans l’illusion des choses qui s’engendrent et qui s’enfantent, un parmi les autres, un comme les autres, distinct des autres, semblable aux autres, un le même et un de plus, de l’infini des possibles existences, je surgis; et voici que le temps et le lieu se précisent; c’est l’aujourd’hui; c’est l’ici ; […].23

Das Zitat macht ferner deutlich, wie weit der Dujardin’sche Innere Monolog noch entfernt ist von einer sprunghaft assoziativen, sich in inkohärenten und unvollständigen Satzkonstruktionen, Wortabbrüchen etc. manifestierenden Gedankenrede. Die gewählte, rhetorisch durch ternäre Syntax und tropische Rede extrem stilisierte und literarisierte Schrift-Sprache verweist eher auf einen in Distanz zum Erlebten stehenden Erzähler als auf die unmittelbar aus der Situation heraus sprechende Figur. Das zentrale Unterscheidungsmerkmal ist allerdings ideologischer Natur. Schnitzler selbst nennt in einem vielzitierten Brief an den dänischen Literaturkritiker Georg Brandes sein Vorbild Dujardin und kritisiert es zugleich: Mir […] wurde der erste Anlaß für die Form durch eine Geschichte von Dujar­din gegeben, betitelt les lauriers sont coupés. Nur daß dieser Autor für diese Form nicht den rechten Stoff zu finden wußte.– 24 20 Siehe hierzu Renner 2010a (Anm. 10), S. 101f. 21 Wie z.B. „dis-je“ oder dramenähnliche Voranstellung der Sprecher („Lui: […]“, „Le garçon: […]“ etc.). 22 Siehe Wolfdietrich Rasch: „Das Problem des Anfangs erzählender Dichtung. Eine Be­ obachtung zur Form der Erzählung um 1900“. In: W.R.: Zur deutschen Literatur seit der Jahr­hun­ dertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1967, S. 59–77. 23 Édouard Dujardin: Les lauriers sont coupés. Présentation, notes, dossier documentaire, chrono­ logie et bibliographie par Jean-Pierre Bertrand. Paris 2001, S. 39 (Hervorh. der Verf.) 24 Brief an Georg Brandes, 6.1.1901. Georg Brandes und Arthur Schnitzler. Ein Briefwechsel. Hg. von Kurt Bergel. Bern 1956, S. 88.

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Was meint Schnitzler genau mit der Relation von „Stoff “ und „Form“? Dujardin funktionalisiert die literarische Form für die enthüllende Darstellung einer nur dem Individuum zugänglichen, mit tabuisierten Inhalten in Gestalt sexueller Wünsche korrelierten inneren Welt, die mit der äußeren Welt der wahrnehmbaren sozialen Interaktion maximal konstrastiert. Der Protagonist, der junge Student der Rechte Daniel Prince, ist verliebt in die Schauspielerin Léa d’Arsay, die sich von ihm aushalten lässt, sich ihm bislang aber sexuell verweigert. Der dargestellte Zeitausschnitt, ein April­abend von ca. 6 Uhr bis nach Mitternacht, zeigt eine Zuspitzung dieses Kontrastes zwischen den beiden Welten: der äußeren Welt, in der eine letztlich normale Konversation abläuft, und der inneren Welt, in der es ausschließlich darum geht, ob Daniel die Geliebte am Ende des Abends in den Armen halten wird – oder ob er doch unverrichteter Dinge ab­ziehen muss, was schließlich der Fall sein wird. Auch bei Schnitzler wird der Innere Mono­log für letzte dramatisch gesteigerte Stunden vor einer Entscheidung eingesetzt; doch hier handelt es sich jeweils um eine existen­zielle Ent­scheidung über Leben und Tod, die die Protagonisten, Gustl wie Else, selbst zu treffen haben. Die existenzielle Dimension resultiert aus einer ganz anderen gesellschaftlichen Relevanz, in je geschlechts­spezifischer Ausprägung: der Zwang zum Selbstmord durch den militärischen Ehren­kodex zum einen, der Zwang zur Quasi-Prostitution durch die Eltern zum anderen. Während Dujardin trotz Tabu­bruchs letztlich einen sozialen ‚Normalfall‘ darstellt, entwirft Schnitzler in seinen experimentellen Studien höchst ungewöhnliche und abweichende Situationen, für die es kein vor­geschriebenes soziales Skript gibt. Schnitzler lässt den Leser nicht nur am Ambivalenz­konflikt der Figur teilhaben, sondern funktionalisiert ins­besondere auch das Merkmal des Darstellungsmittels. Nicht nur um die Innenschau und die Enthüllung eines sehr privaten Inneren geht es ihm, sondern auch um die Absenz eines wertenden Erzählers. Die eigentliche Provokation in Lieutenant Gustl besteht ja nicht nur in den wenig er­hebenden bzw. tabuverletzenden Gedanken des jungen Leutnants in den letzten Stunden vor seinem potentiellen Tod, sondern in der Verweigerung jeglicher wertenden Stellung­nahme durch eine Erzähl­instanz. Die Figur ist gleichsam vor dem Text und vor dem impliziten Leser allein. Die durch die Form gegebene Leerstelle muss vom Leser selbst aufgefüllt werden: Je nach ideologischer Präferenz kann er Gustl verurteilen oder entschuldigen. Eine Vereindeutigung, sei es in die eine oder die andere Richtung, wird dem Text indes nicht gerecht. Indem Schnitzler seinen Helden sich selbst entlarven und das von ihm beschworene militärische Wertsystem selbst demontieren lässt, schafft er eine ironische, ja maliziöse Distanz, die allenfalls einer abstrakten Textinstanz, aber keiner konkreten Erzählinstanz mehr zuordenbar ist. Nur nebenbei sei bemerkt, dass Schnitzler zeitgleich im Reigen eine ganz homologe und gattungs­spezifisch komplementäre Konstruktion erfindet,

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die nicht minder innovativ und experimentell ist wie der in Lieutenant Gustl praktizierte Innere Monolog: nämlich die Struktur des ‚Reigens‘, die ein und dieselbe Person unmittelbar nacheinander in zwei verschiedenen Kontexten mit zwei verschiedenen Sexualpartnern vorführt. Die Figuren strafen sich in ihren eigenen Reden selbst Lügen – ebenfalls indirekt, gleichsam unwill­ kürlich und von niemandem kommentiert, aber umso wirksamer.25 Der mehr als zwei Dekaden später erschienene Text Fräulein Else, mit dem Schnitzlers bedeutendes Spätwerk einsetzt, unterscheidet sich nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in formaler Hinsicht von Lieutenant Gustl. Dies zeigt bereits ein erster Blick auf die beiden Anfangssequenzen, die sich typographisch erheblich unterscheiden. In Else fällt der Wechsel zwischen kursiver und recte-Schrift zum einen, zwischen Rede mit und ohne Anführung zum anderen auf. Nichts davon finden wir in Lieutenant Gustl. Abgesehen vom kurzen Wortwechsel mit dem Bäckermeister zu Anfang, die die Situa­tion des Ehrverlustes schafft, und der Mitteilung des Kellners vom Tod des Bäckermeisters am Ende, mit der das Problem ironisch aus der Welt geschafft wird, gibt es keine gesprochene mündliche Rede. Der Protago­nist ist weitgehend mit sich allein. Ganz anders nun hier: Die Protago­nistin wird in den sozialen Kontext eines großbürgerlichen Hotels in einem mondänen Ferienort des habsburgischen Trentin gestellt und in Interaktion mit verschiedensten Gesprächspartnern vorgeführt. Elses eigene gedachte Rede wird dabei funktionalisiert für eine Kommentierung, Deutung und Bewertung der jeweiligen Interaktion, ihre Innenwelt wird zur reflexiven ‚Echokammer‘ in Bezug auf die Außenwelt. Bereits der Texteingang, wo sie ihren „Abgang“ vom Tennisplatz bewertet, bietet ein Beispiel hierfür. In den zentralen Szenen finden wir dies gesteigert: so z.B. in der Dialogszene mit Dorsday, wo sie ihn um finanzielle Rettung des von Verhaftung und damit sozialer Vernichtung bedrohten Vaters angeht, und in der finalen Enthüllungsszene. Die dargestellte Welt ist dergestalt in zwei Teilwelten gespalten: eine ‚Oberfläche‘: die offizielle, so­ zial wahrnehmbare äußere Welt der Konversation – und eine ‚dahinter‘ bzw. ‚darunter‘ liegende Ebene: die inoffizielle, subjektive Innenwelt Elses. In dieser Innenwelt wird nun auch jene zweite Kommunika­tionsebene explizit, die in der äußeren Welt durchaus existiert, indes implizit bleibt: nämlich der stumme Dialog, der zwischen den Gesprächspartnern para- und nonverbal geführt wird, über Blicke, Gesten, Berührungen und den Klang der Stimme: „Denken Sie, Herr von Dorsday, gerade heute habe ich einen Brief von zu Hause bekommen.“ Das war nicht sehr geschickt. Er macht ein etwas verblüfftes Gesicht. […] Was macht er denn für Kalbsaugen? O weh, er merkt was. Weiter, weiter. […] Wie er mich ansieht! Wie konntest Du das von mir verlangen, Papa? […] „Und 25 Siehe Wolfgang Lukas: „Arthur Schnitzlers Reigen : Eine ‚Kulturgeschichte‘ der Geschlechter“. In: ‚Reigen‘ von Arthur Schnitzler. Sexuelle Szene und Verfehlung in Michael Thalheimers Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Hg. von Ortrud Gutjahr. Würzburg 2009, S. 123–144.

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es wird Sie wahrscheinlich nicht wundern, wenn ich Ihnen erzähle, daß Papa sich wieder einmal in einer recht fatalen Situation befindet.“ Wie merkwürdig meine Stimme klingt. Bin das ich, die da redet? Träume ich vielleicht? Ich habe gewiß jetzt auch ein ganz anderes Gesicht als sonst. - „Es wundert mich allerdings nicht übermäßig. Da haben Sie schon recht, liebes Fräulein Else, - wenn ich es auch lebhaft bedauere.“ - Warum sehe ich denn so flehend zu ihm auf ? Lächeln, lächeln. Geht schon. - „Ich empfinde für Ihren Papa eine so aufrichtige Freundschaft, für Sie alle.“ - Er soll mich nicht so ansehen, es ist unanständig. […] - Warum drückt er seine Knie an meine, während er da vor mir steht. Ach, ich lasse es mir gefallen. Was tut’s! Wenn man einmal so tief gesunken ist. (44–48)26

Die Funktion des Inneren Monologs hier ist es nicht zuletzt, genau diese stumme Sprache der Körper zu repräsentieren und sie als solche überhaupt bewusst zu machen. Unter den verschiedenen non- bzw. paraverbalen ‚Sprachen‘, die hier eine Rolle spielen – visuellen, akustischen, kinetischen, taktilen –, nimmt die Blicksprache eine privilegierte Position ein.27 Dies liegt nicht zuletzt an der topischen, um 1900 wieder sehr relevanten Korrelation von Erotik mit dem Gesichtssinn (visus).28 Die Bedeutung dieses Blick­ kodes wächst im Laufe der Novelle an und erreicht ihr Maximum unmittelbar vor der zentralen Entblößungsszene, wo die Kommunikation nun nicht mehr verbal, sondern ausschließlich nonverbal geführt wird: Ha, er schaut auf. Da bin ich, Herr von Dorsday. Was für Augen er macht. Seine Lippen zittern. Er bohrt seine Augen in meine Stirn. Er ahnt nicht, daß ich nackt bin unter dem Mantel. Lassen Sie mich fort, lassen Sie mich fort! Seine Augen glühen. Seine Augen drohen. Was wollen Sie von mir? Sie sind ein Schuft. […] Ich bin bereit. Da bin ich. Ich bin ganz ruhig. Ich lächle. Verstehen Sie meinen Blick? Sein Auge spricht zu mir: komm! Sein Auge spricht: ich will dich nackt sehen. Nun, du Schuft, ich bin ja nackt. Was willst du denn noch? (116f.)

In diesem Zusammenhang ist der erste überlieferte Entwurf vom Anfang der 1920er Jahre von Interesse: Ein junges Mädchen tritt nackt in den Speisesaal des Berghotels. Sie erzählt, dass sie be26 Zitiert wird nach der Erstausgabe: Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Novelle. Wien, Berlin, Leipzig: Zsolnay 1924. Die Ausgabe ist in Faksimile und Neusatz derzeit online verfügbar im Rahmen des Projekts ‚Fräulein Else‘ multimedial  : www.else.uni-wuppertal.de. Eine Neuedi­ tion innerhalb der Digitalen historisch-kritischen Werkedition: Arthur Schnitzler digital. Werke 1905–1931 (Hg. von Wolfgang Lukas, Michael Scheffel, Andrew Webber, Judith Beniston und Robert Vilain) wird im Laufe des Jahres 2017 erfolgen. 27 Zur Bedeutung nonverbaler Kommunikation über Blicke im Werk Schnitzlers vgl. die Studie von Sibylle Saxer: Die Sprache der Blicke verstehen. Arthur Schnitzlers Poetik des Augen-Blicks als Poetik der Scham. Freiburg i.Br. 2010. 28 Vgl. etwa Michael Titzmann: „Un regard modifié par le temps. Une histoire culturelle du regard“. In: Dialogue dans le noir. Hg. von Andreas Heinicke und Uschi Hollerbach. Frank­ furt a.M. 1994, S. 54–65.

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raubt wurde. Motiv: Sie tut es, um die Männer zu prüfen, die sich um sie bewerben. Besser, [Komma handschriftlich hinzugefügt] stilisiert. (Sie will die Blicke sehen…) […]29

Hier ist lediglich die Enthüllungsszene gegeben, die Geschichte des verschuldeten und durch das sexuelle Selbstopfer der Tochter zu rettenden Vaters wird erst in den handschriftlichen Zusätzen darunter skizziert, deren erster Satz (in Parenthese) den Nucleus der Novelle formuliert, eine spezifische Blickkonstellation: Else will sehen, wie die anderen Männer sie sehen. Damit konstituiert sie sich als Subjekt und Objekt des Sehens zugleich und wird als Frau modelliert, die den männlichen Blick auf sie selbst maximal internalisiert hat. Wie vor allem Elisabeth Bronfen herausgearbeitet hat, konstruiert der Text damit eine gendertheoretische Ebene: Else ist eine Figur, die den männlichen Blick auf die Frau immer schon internalisiert hat – und letztlich daran zugrunde geht.30

2.  Leseanweisungen. Die Semantisierung des ‚material text‘ Die durch den discours hergestellte und für die histoire handlungskonstitutive Dissoziation der beiden Teilwelten manifestiert sich ganz unmittelbar materiell im Drucktext. Der ‚Textkörper‘ trägt die Spuren dieser Spaltung sichtbar, indem er über den typographischen Gegensatz von recte vs. kursiv (bzw. normale Laufweite vs. Sperrung im Journaldruck), der den gesamten Text strukturiert, semiotisiert wird. Ein Blick auf die Druckgeschichte zeigt, dass Schnitzler zusammen mit dem Verlag ein neues typographisches Auszeichnungssystem zum Zwecke der Leserorientierung erst schaffen musste; vom Erstdruck in der Neuen Rundschau zum noch im gleichen Jahr erfolgenden ersten Buchdruck bei Zsolnay findet ein bezeichnender Wandel statt. Im Journaldruck kommen zwei typographische Parameter, Laufweite der Schrift und Anführung, zum Einsatz. Mit deren Hilfe wird zum einen zwischen der eigenen (Elses) Stimme (= normale Laufweite) und der fremden Stimme (= Sperrung) unterschieden; zum anderen wird Elses gedachte Rede (= ohne Anführung) typographisch unterschieden sowohl von aktuell 29 CUL, A141,1. Masch. (hier recte) mit handschriftl. Zusätzen (hier kursiv wiedergegeben). 30 Siehe Elisabeth Bronfen: „Weibliches Sterben an der Kultur. Arthur Schnitzlers Fräulein El­ se“. In: Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen. Hg. von Jürgen Nautz und Richard Vahrenkamp. 2. Aufl. Wien 1996, S. 464–480.

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gesprochener (Eigen-/Fremd-)Rede (= doppelte Anführung) als auch von in der Vergangenheit gesprochener, jetzt von Else indes erinnerter Fremd­ rede (= einfache Anführung). In der Buchausgabe wird das Auszeichnungs­ system differenzierter und komplexer. So wird im Journal­druck nämlich weder zwischen Eigen- und Fremdrede noch zwischen der aktuellen, mündlichen Gesprächssituation und Formen von situations­abstrakter Kommunikation konsequent unterschieden. Zu letzteren zählen etwa die Lektüre des Briefs, Elses Erinnerung an einstige Gespräche oder deren Imagination als potentielle, zukünftige Rede. In der Neuen Rundschau werden Elses gesprochene mündliche Rede, die von ihr gelesene schriftliche Rede der Mutter und die von ihr imaginierte, zukünftige mündliche Rede Dorsdays jeweils typographisch identisch, mit doppelter Anführung und normaler Laufweite, wiedergegeben.31 Der Buchdruck hingegen setzt die letztgenannten beiden Arten von Fremdrede in einfache Anführung. Sperrung wird zudem durch Kursivierung ersetzt. Dieses Auszeichnungssystem erlaubt eine feinere Differenzierung der Redetypen. Drei Parameter werden insgesamt relevant: 1. Die Frage nach der Urheberschaft: eigene vs. fremde Rede? 2. Die Frage nach dem medialen Status: gedachte vs. gesprochene/ gehörte vs. geschriebene/gelesene Rede (Expressbrief und Telegramm der Mutter; Elses Brief an Dorsday) ? 3. Die raumzeitliche Relation zwischen Produktions- und Rezeptionssituation im Falle von dialogischer und materialisierter, also schriftlicher oder mündlicher Kommunikation: Handelt es sich um unmittelbar in der erlebten/dargestellten Gegenwart (mündlich) geäußerte Rede oder um Reden in situationsabstrakten Kommunikationen, in der beide Dialogpartner raumzeitlich getrennt sind? Letzteres betrifft generell schriftliche Reden (Briefe, Telegramm) und solche mündliche (Fremd-)Reden, die an einem anderen Ort in der Vergangenheit geäußert wurden und jetzt von Else erinnert werden oder von ihr als zukünftige, an einem anderen Ort poten­ ­tiell gesprochene imaginiert werden. Die im Buchdruck neugeschaffene Semantik der Typographie lässt sich umgekehrt folgendermaßen rekonstruieren. Der Normalfall der nicht markierten Rede – recte, ohne Anführung – wird der inneren gedachten Eigenrede reserviert; alles, was davon abweicht – sei es fremde oder in Schrift bzw. Ton materialisierte Rede –, wird eigens markiert. D.h.: 31 Fräulein Else. Novelle von Arthur Schnitzler. In: Neue Rundschau 35, 1924, H. 10, S. 993–1051, hier z.B. S. 998f., 1004.

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−− Über die Wahl des Schriftschnitts wird der Vermittlungsstatus der Rede signifiziert. Recte bedeutet grundsätzlich die von Else vermittelte Rede, unabhängig von deren medialem Status. Dies umfasst ihre eigene (gedachte, geschriebene oder gesprochene) Rede ebenso wie fremde Rede, die nicht unmittelbar in der je aktualen Situation geäußert wird: die von Else gelesene, erinnerte oder imaginierte Fremdrede. Kursiv ist diejenige Fremdrede, die in der Situation unmittelbar geäußert und von Else gehört wird. −− Anführung hingegen ist doppelt funktionalisiert. Sie steuert den medialen Status der Rede. Dabei steht die doppelte Anführung für die in der unmittelbaren Gegenwart mündlich geäußerte Rede – gleich, von welcher Stimme hervorgebracht; einfache Anführung hingegen steht für alle jene Kommunikationssituationen, wo die beiden Kommunikationspartner nicht in einer face-to-face-Situation ko­präsent sind: in der schriftliche Rede des Briefs der Mutter; in Elses eigenem, von Dorsday zu einem späteren Zeitpunkt zu lesenden Brief; und schließlich in der mündlichen Fremdrede, die nicht in der Gegenwart stattfindet und von Else erinnert oder imaginiert wird. Die Tabelle auf der folgenden Seite fasst diese typographische Semantik zusammen. Darüber hinaus führt der Buchdruck auch ein eigenes Zeichensystem der horizontalen Striche ein. In beiden Druckausgaben wird der Wechsel zwischen Eigenrede (Else) und Fremdrede zusätzlich durch einen horizontalen Strich markiert. Kennt der Journaldruck nur einen normalen Gedanken­ strich (in der üblichen Länge eines Halbgeviertstrichs), so differen­ziert der Buchdruck zwischen Divis ( Viertelgeviertstrich, von gleicher Länge wie der Silbentrennstrich) und einem Horizontalstrich, der deutlich länger ist als ein üblicher Gedankenstrich (Geviertstrich). Ersterer besitzt hier doppelte Funktion und markiert zum einen den Wechsel der Stimmen, zum anderen eine inhaltliche Segmentierung innerhalb der (gedachten bzw. gesprochenen) Rede einer Stimme; letzterer steht für ein Innehalten in der Produktion der (gedachten, gesprochenen oder geschriebenen) Rede, bzw. für Redeabbrüche.32 Vgl. die folgenden Beispiele: 32 Alternativ kommen hier doppelter (66) und dreifacher Divis (102) sowie das Aus­las­sungs­ zeichen zum Einsatz, vgl. etwa S. 136: „träu…“ vs. „träu —“ (in aller Regel drei Punkte, am Text­ende gedoppelt auf 6 Punkte, mit denen der Text schließt). Zur ‚autonome[n] Zei­ chen­­­­­­funktion“ des Gedankenstrichs in der Druckkultur der Klassischen Moderne s. auch Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000, S. 100f.







V1

x

Z

„recte“ recte2

„recte“ recte

x

G

gesprochen







V

‚recte‘3

„recte“ –



x

Z







V

recte

recte

x

G

gedacht







Z x

G x

Z

‚recte‘4 „kursiv“

‚recte‘5

„recte“ „ g es per r t “ „recte“

x

V

gesprochen







V

x

Z

‚recte‘6 recte7

„recte“ recte

x

G

geschrieben

Fremde Rede (≠ Else)







V







G

recte8

recte

x

Z

gedacht

1 V = Vergangenheit (erinnert), G = Gegenwart, Z = Zukunft (imaginiert), J = Journaldruck, D = Bucherstdruck. 2 Z.B. S. 26, 31 (imaginierte Reden an Dorsday). 3 Z.B. S. 102 (Brief an Dorsday). 4 Z.B. S. 13, 15, 21, 32 (erinnerte Reden des Hotelgastes Waldberg, Pauls, Dorsdays, Freds). Nicht durchgehend konsequent umgesetzt: vgl. S. 66 (erinnerte Rede von Doktor Froriep). 5 Z.B. 26f., 31 (imaginierte Reden Dorsdays). Nicht durchgehend konsequent umgesetzt: vgl. S. 62, 69 (imaginierte Rede Fialas, des Vaters). 6 Brief und Telegramm der Mutter. 7 Z.B. S. 17 (imaginierter Zeitungsbericht über ihren tödlichen Sturz vom Fenster). 8 Z.B. S. 70 (imaginierte Gedanken der beiden männlichen Hotelgäste).

Erläuterungen

x

G

geschrieben

Eigene Rede ( = Else)

Die typographische Auszeichnung der Redetypen

 in D

 Wiedergabe

 in J

 Wiedergabe

 Kombinationen

 Realisierte

 Zeit

 Medium / Kanal

 (Urheber)

 Subjekt

198 Wolfgang Lukas und Ursula von Keitz

‚Stimme‘ und ‚Partitur‘: Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else

199

Warum sagt Cissy ‚Dinner‘? Dumme Affektation. Passen zusammen, Cissy und Paul. - Ach, wär der Brief lieber schon da. Am Ende kommt er während des ‚Dinner‘. […] Brandel hat mich eingeladen, mit ihm Haschisch zu trinken oder — zu rauchen — Frecher Kerl. Aber hübsch. - „Bitte sehr, Fräulein, ein Brief.“ - Der Portier! Also doch! - Ich wende mich ganz unbefangen um. […] Was für einen herrlichen Gang sie hat. Ist sie geschieden? Mein Gang ist auch schön. Aber — ich weiß es. Ja, das ist der Unterschied. - Ein Italiener könnte mir gefährlich werden (14f.) ‚Mein liebes Kind, du kannst mir glauben, wie leid es mir tut, daß ich dir in deine schönen Ferialwochen‘ - Als wenn ich nicht immer Ferien hätt’, leider - ‚mit einer so unangenehmen Nachricht hineinplatze. […] Denk’ dir, ein Advokat, ein berühmter Advokat, — der, — nein, ich kann es gar nicht niederschreiben. Ich kämpfe immer mit den Tränen. […]‘ (18f.) „Hm, das ist ja — schlimm, das ist ja wirklich sehr — dieser hochbegabte, geniale Mensch. - Und um welchen Betrag handelt es sich denn eigentlich, Fräulein Else?“ (48)

Mehrmalige Besprechungen Schnitzlers mit dem Verlag sind bestens bezeugt,33 so dass wir nicht daran zweifeln dürfen, hier eine intendierte und sorgfältig komponierte Gestaltung vor uns zu haben. Umso erstaunlicher ist es, dass sämtliche spätere Ausgaben z.B. das typographische System der zwei Strich­arten völlig ignorieren. Es mag daran liegen, dass dieses in der Erstausgabe nicht konsequent umgesetzt worden ist.

3.  Zur Medialität der Vermittlungsposition in Fräulein Else 3.1  Die Membran – zur Performativität des Gehörten, Gesagten und innerlich Gesprochenen Als Sprecherin ist Else sowohl Teil der Erzählung als auch einziges Subjekt ihrer Vermittlung. Eine solche Doppelrolle des Protagonisten bzw. der Protagonistin als Figur der Erzählung und Textfunktion der Vermittlung eignet zunächst jeder autodiegetischen Erzählsituation. Der für den Inneren Monolog spezifische Modus der Mimesis bedingt darüber hinaus den bereits genannten paradoxen Sprechakt. Zum einen herrscht eine über weite Passagen hinweg naturalistische Zeitdeckung vor: In der Mitteilung der Gedanken, Gefühle und Empfindungen läuft die Zeit des Lesens paral­ lel zur inneren, psychologischen Zeit des Kommentierens, Reflektierens über die je aktualen, von der Figur wahrgenommenen äußeren und inneren Ereignisse. Damit leugnet der Text aber auch jegliche Differenz zwischen unmittelbarer Erfahrung und sprachlicher Einkleidung durch die innere 33 Evelyne Polt-Heinzl: Erläuterungen und Dokumente. Arthur Schnitzler: ‚Fräulein Else‘. Stuttgart 2002, S. 39f.

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Stimme. Dieser scheinbar ‚naturalistischen‘ Synchronisierung stellt der Text eine Ebene an die Seite, die als Zugeständnis an die Orientierung des Lesers im diegetischen Raum zu werten ist. Sie verleiht Elses innerer Rede eine Mitteilungsebene, die je schon mehr ist als nur ein Zu-sich-selbst-Sprechen. So etwa kommentiert die Figur wider jegliche psychologische Wahrscheinlichkeit banale Raumbewegungen: Nun ist er offen, der Brief, und ich hab’ gar nicht gemerkt, daß ich ihn aufgemacht habe. Ich setze mich aufs Fensterbrett und lese ihn. Achtgeben, daß ich nicht hinun­terstürze. (17)

Die räumliche Positionierung beim Lesen respektive die Absicht, sich an einen bestimmten Punkt des Zimmers hin zu begeben, verweist auf den schillernden Status einer Pluri-Direktionalität der monologischen Rede.34 Einerseits vermittelt sich dieses Ich zu einem impliziten Leser oder Hörer hin, andererseits bleibt es gleichsam in einem bis zum letzten Satz reichenden (inneren) Redestrom in Kontakt mit dem eigenen Bewusstsein („Ich fliege, ich träume…“). Vergangene Erlebnisse in Elses Biographie erfährt der Leser im vergleichsweise konventionellen Modus des Sich-in-Erinnerung-Rufens: Vorgestern im Wald […] hätt’ er schon etwas unternehmender sein dürfen. Aber dann wäre es ihm übel ergangen. Wirklich unternehmend war eigentlich mir gegenüber noch niemand. Höchstens am Wörthersee vor drei Jahren im Bad. Unternehmend? Nein, unanständig war er ganz einfach. Aber schön. (16)

Durch die monologische Form nimmt der Leser nicht nur teil an Elses Gedankenprozessen und Urteilen über ihre soziale Umwelt, ihren Assoziationen zu den je präsentischen Erlebnissen, Wünschen und Ängsten; durch die Transparenz der Figur nach innen wird er auch Zeuge der Diskrepanz zwischen Elses äußerem Verhalten und ihren verbalen Äußerungen einerseits und ihrem inneren Response auf das Handeln und Sprechhandeln ihrer sozialen Umgebung sowie ihren erotischen Wünschen andererseits. Die Transparenz der Textoberfläche macht die Spannungen sichtbar, denen ihr Bewusstsein ausgesetzt ist. Für die innerdiegetische mediale Position Elses ist charakteristisch, dass es einen durchgestalteten, die Redeanteile der Figuren gleichgewichtig verteilenden Dialog nur im Verhandlungsgespräch mit dem Kunsthändler Dorsday gibt, in dessen Verlauf er Else sein unmoralisches Angebot unterbreitet. Elses Präsenz im Text artikuliert sich weniger über ein Sprechhandeln mit der sozialen Umwelt als vielmehr über das Beobachten und instantane Kommentieren des Gesehenen und Gehörten; mit dem ständigen Aushandeln des Wahrgenommenen für sich konstituiert sich ihre Personalität. 34 Vgl. auch Gomes 2008 (Anm. 10), S. 122–125, zu den „narrativen Ersatzfunktionen im In­ neren Monolog“.

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201

Wesentlich hierbei ist, dass Elses Stimme, wie die aller anderen, in mehrfacher Hinsicht ‚körperlos‘ bleibt. Zum einen lassen sich die druckgraphisch als Zitat hervorgehobenen Äußerungen der Interaktionspartner in Relation zum Bewusstsein Elses als gehörte, vernommene Stimmen auffassen. Präsenz gewinnen diese Partner ihrerseits nicht etwa wie im konventionellen Erzähltext als beschriebene Körper, die im Leser eine bestimmte gestalthafte Imagination evozieren, sondern dadurch, dass Else die Körper abtastet und sie in ihren monologischen Reflektionen stets ex post bewertet. Von den Figuren bleiben somit ausschließlich über Elses Bewusstsein gebrochene Impressionen: „Adieu, Herr von Dorsday. Wie tief er sich verbeugt und was für Augen er macht. Kalbsaugen.“ (12). Analoges gilt auch für den Raum. Das grundsätzlich Passagere von Elses Bewusstseinshaltung – wo die in einem Assoziationsstrom mit Wünschen, Phantasien und Ängsten verknüpften Ereignisse der nahen und ferneren Vergangenheit in einem steten Wechsel von Erinnern und wieder Vergessen zu fluiden Bewusstseins­partikeln werden – entspricht ihren Passagen durch die Außen­räume der Hotelanlage und die verschiedenen öffentlichen und privaten Innenräume des Hotels. Hotel und Park bilden ein Raumkontinuum, das durch Elses innere Stimme überhaupt erst gestiftet wird und das sie in ihren Gängen durchmisst ebenso wie ermisst. Else ist also pures Medium, durch das wir Zeuge ihrer Psyche werden und über das sich eine Realität zuallererst konstituiert. Sie spricht nicht, sondern wird gesprochen, funktioniert gleichsam als ‚Aufnahmegerät‘. Mario Gomes und Ursula Renner haben in diesem Zusammenhang auf die zeitgenössischen wissenschaftlichen – bzw. okkultistischen – Experimente mit „Gedankenlesemaschinen“ aufmerksam gemacht, mit denen das Immaterielle materiell fixiert werden sollte.35 Nicht zufällig nimmt die zeit­ genössische Literaturkritik denn auch Anleihen bei der modernen Medien­ technik, indem sie den Inneren Monolog als ‚Gedanken-Phonographie‘, ‚-Photographie‘ oder Röntgenradiographie der Seele metaphorisch zu fassen sucht.36 Die Monolognovelle ist den Zeitgenossen „Wortfilm und Seelenphonograph zugleich“,37 und in einem Zeitungsartikel über Lieutenant Gustl heißt es: Diese Novelle ist eine unmerklich beschriebene Wachswalze. Die intimsten Einzeichnungen eines imaginären Seelenstifts trägt sie in wirrverschlungenen Runen und Arabesken auf ihrem körperlosen Mantel.38 35 Hierzu Gomes 2008 (Anm. 10), S. 25–43, 71–76; Renner 2010a und 2010b (Anm. 10). 36 Siehe Renner 2010a (Anm. 10), S. 88–90. 37 So Richard Specht: Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk. Eine Studie. Berlin 1922, S. 213, zit. bei Renner 2010a (Anm. 10), S. 90. 38 Anton Lindner: „Arthur Schnitzler“. In: Neue Hamburger Zeitung, 14.12.1909, zit. bei: Renner 2010a (Anm. 10), S. 90.

202

Wolfgang Lukas und Ursula von Keitz

Diese auditive oder visuelle Metaphorik für sprachliche Prozesse ist insofern bemerkenswert, als in ihr ein veristischer Charakter, eine Genauigkeit aufscheint, die von der technischen Reproduktionsfähigkeit des Apparats her gedacht ist – in der Frühen Moderne die Authentizitätsgarantie schlechthin. Würde man Fräulein Else mit filmästhetischem Vokabular fassen wollen, so wäre der Text das literarische Korrelat einer ‚Plansequenz in der Subjektiven‘. Als Redekontinuum steht der Text gerade, weil er strikt monoperspektivisch aus einer einzigen Bewusstseinslage heraus konzipiert ist, in Kontrast zu einer Form, die zeitgenössisch als „filmisches Schreiben“ klassifiziert wird.39 Mit diesem Begriff verbindet sich aber auch die dominierende Haltung der Beobachtung äußerer Sachverhalte nach Maß­ gabe eines Sehens, welches sich vom technischen ‚Blick‘ der Filmkamera als Registrierungs- und Dokumentierungsapparat ableitet.40 Alle Reproduktionen äußerer Rede sind Effekte von Hörakten Elses (auch der eigenen Stimme), die unvermittelt – lediglich typographisch ausgewiesen – wiedergegeben werden. Somit bildet der Textkörper als Ganzes die sinnlich-mediale Setzung Elses als einer ‚Membran‘ ab. Für die implizite Medialität des Textes als ganzem, fassbar als Niederschrift der Bewusstseinsprozesse und Wahrnehmungen der Vermittlungsfigur, gilt, dass seine Schriftlichkeit als Sprech-Partitur denkbar ist. Als ‚Präskript‘ steht er, wie die musikalische Partitur oder das Drehbuch, nicht für sich, sondern ist angelegt auf die Performanz einer oder mehrerer Stimmen als seine – lautliche – Reali­sierung. Schnitzlers Novelle eignet ein Aspekt der Medialität der Moderne, der sie über den Status eines integralen Lese­ textes hinaushebt. Damit situiert sie sich auch im Kontext der epocha­len Strebungen nach Re-Oralisierung und Phonetisierung der Literatur, womit die im historischen Prozess ‚verdrängte Stimme‘ wieder eingeholt werden soll.41 Als Produkt eines Autors, der zumal in seiner späteren Schaffens­ periode die plurimediale Schreibpraxis schlechthin verkörpert42 – der als 39 Gemeint sind damit dem Film entlehnte, vor allem in der expressionistischen Lyrik und im neusachlichen Großstadroman praktizierte Montagemuster und Verfahren der Po­ly­ perspektivität, womit Erfahrungen von Simultaneität diskursiv abgebildet werden, vgl. Harro Segeberg: „Literarische Kino-Ästhetik. Ansichten der Kino-Debatte“. In: Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm (1905/6– 1918). Hg. von Corinna Müller und Harro Segeberg. München 1998 (Mediengeschichte des Films, Bd. 2), S. 193–219; Stephan Brössel: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin u.a. 2014. 40 Vgl. hierzu auch den wichtigen Beitrag von Gustav Frank zu Fräulein Else im Kontext der ‚visuellen Kultur‘ der 1920er Jahre: http://litkult1920er.aau.at/?q=themes/literaturfilmgeschichte-populäre-kultur-fräulein-else-der-visuellen-kultur (Abruf Febr. 2017). 41 Zum „Übergang von einer in erster Linie leiblichen Repräsentationskultur zu einer Re­prä­ sentationskultur der Sprache“ s. Linke 2008 (Anm.  12), S. 88f. Zur Re-Oralisierung und Phonetisierung in der Avantgarde-Literatur s. Wehde 2000 (Anm. 32), Kap. 7.2, S. 350–376. 42 Vgl. Ursula von Keitz und Wolfgang Lukas: „Plurimediale Autorschaft und Adap­tions­ problema­tik: Spiel im Morgengrauen (1927) und Daybreak (1931)“. In: Arthur Schnitzler und

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Romancier, Dramatiker, Treatment- und Drehbuchautor hervortritt und sich souverän zwischen Literatur, Theater und Film bewegt – kann die Sprech-Partitur Fräulein Else ebenso als Nieder-Schrift einer Stimme wie als Vor-Schrift für eine solche gelten. Bezeichnenderweise hat der Autor selbst für Fräulein Else – noch vor deren Fertigstellung und Veröffentlichung und vor allen weiteren Plänen zur medialen Adaption dieses Textes – Überlegungen zu einer Aufführung angestellt.43 So notiert er im Juli 1924 im Tagebuch anlässlich eines Besuchs von Clara Pollaczek, der er den (fast fertigen) Text vorliest: Abds. C. P.; las ihr „Else“ vor; (eigentlich mir);– ein merkwürdiges Product,– noch einige Längen. Über die Darstellung dieser Nov. als Monodram (die Idee kam C. P. unabhängig von mir).–44

Und zehn Tage später – mittlerweile ist der Text an den Zsolnay-Verlag abgesandt – teilt er seinem Sohn Heinrich mit: Meine Novelle hat im Verlag Zs. große Begeisterung erregt; sie wird wahrscheinlich „Fräulein Else“ heißen. Im übrigen ist sie, so sonderbar das klingt, „aufführbar“, – und wäre ein merkwürdiges Regieproblem.45

Gerade als ‚inhomogene‘, auch andere Stimmen in sich aufnehmende Monolognovelle stellt Fräulein Else somit gattungstheoretisch einen Grenzfall dar; ihr ist ein transgressives, auf Überschreitung der Gattungsgrenzen zielendes Moment inhärent. Dies spielt bei der Adaption für andere Kunst­ formen und Medien eine elementare Rolle und dürfte nicht zuletzt ein Grund dafür sein, dass gerade dieses Werk Schnitzlers wie wenige andere zu vielfacher Adaption angeregt hat: für Stumm- und Tonfilm, Rundfunk, Hörbuch, Bühne und graphische Kunst.46 3.2  Der Wechsel der Zeichensysteme: histoire-Ereignis als discours-Ereignis Die Buchfassung weist gegenüber dem Journaldruck noch ein weiteres, nämlich das wohl auffälligste Element der materiellen Textgestaltung auf: das Notenzitat aus Schumanns Carnaval. Ein vergleichender Blick auf Les lauriers sont coupés hilft, um Schnitzlers kompositorische Leistung zu ermes-

43 44 45 46

der Film. Hg. von Achim Aurnhammer, Rudolf Denk und Barbara Beßlich. Würzburg 2010, S. 209–241. Siehe hierzu auch die Website ‚Fräulein Else‘ multimedial (Anm. 26), Rubrik ‚Media­li­sie­r ungs­ geschichte‘, die der Dokumentation und Materialerschließung zur Geschichte der Adap­tion dieses Werks gewidmet ist. Eintrag vom 9.7.1924 (Tb 1923–1926, S. 162). Brief vom 19.7.1924 (Br II, 354). Siehe die Dokumentation auf: ‚Fräulein Else‘ multimedial (Anm. 26).

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sen. Denn bereits Dujardin experimentiert damit, wenn er die Klänge eines Leierkastens, an dem der Held bei seinem abendlichen Spaziergang durch Paris vorübergeht, als Notenschrift in den Text montiert:47

Zwischen Innerem Monolog und Notenmontage besteht offenkundig ein logischer Zusammenhang. Letztere erscheint gegenüber Ersterem lediglich als Steigerung jenes Strebens nach totaler Unmittelbarkeit der Realität und als radikalisierte Einlösung der naturalistischen Forderung nach „Über­windung der Papiersprache“. Das akustische Ereignis wird nicht nur erzählt (vgl.: „Schön spielt sie. […] Ich habe nicht gewußt, daß sie so schön Klavier spielt. […] Die Dame spielt weiter.“ 114f., 117), sondern zugleich mit nicht-sprachlichen Mitteln gleichsam ‚unmittelbar‘ abgebildet. Oder anders formuliert: ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘, Diskursivität und Ikonizität verbinden sich hier auf explizite Weise.48 Die Leistung Schnitzlers gegenüber Dujardin liegt wie­derum in dem außerordentlich gezielten Einsatz dieses Gestaltungs­elements. Bei Dujardin ist die Position relativ kontingent; das Notenbeispiel könnte letztlich irgendwo stehen, d.h. die Begegnung mit dem Leierkastenmann könnte auch an anderer Stelle stattfinden. In Fräulein Else hingegen werden nicht nur histoire und discours, sondern auch linguistic text und material text 49 in eine 47 Dujardin 2001 (Anm. 23), S. 83. Der Herausgeber, J.-P. Bertrand, hebt die Originalität des Verfahrens hervor (Anm. 24 d. Ausg.). 48 Zur Begrifflichkeit s. Sibylle Krämer: „Sprache, Stimme, Schrift. Zur impliziten Bildlichkeit sprachlicher Medien“. In: Sprache intermedial: Stimme und Schrift, Bild und Ton. Hg. von Arnulf Deppermann und Angelika Linke. Berlin u.a. 2010, S. 13–28. Krämers These von einer der Schrift immer schon inhärenten impliziten „Schriftbildlichkeit“ („notationalen Ikonizität“), in der Diskursivität (‚Sagen‘) und Ikonizität (‚Zeigen‘) eine notwendige Verbindung eingehen, wäre in diesem Kontext also dahingegehend zu reformulieren, dass dem Selbstverständnis dieser Literatur zufolge die konventionelle ‚Papiersprache‘ ausschließlich eine diskursive Dimension besitzt und sie deshalb danach strebt, explizite Formen des ‚Zeigens‘ auszubilden. 49 Gemäß Peter L. Shillingsburg: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor 1997, S. 101.

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notwendige Beziehung zu einander gebracht und bilden ein kompositorisches systemhaftes Ganzes. Denn hier erfolgt die Notenmontage exakt auf dem Höhepunkt der Geschichte: Dem zentralen Ereignis auf der Ebene der dargestellten Handlung korrespondiert somit ein – nicht minder zentra­ les – Ereignis auf der Ebene der sprach­lichen Darstellung. Beiden Ereignissen liegt die identische Logik zugrunde, nämlich die einer radikalisierten ‚Authenti­zität‘ und ‚Unmittelbarkeit‘. Else erlebt bereits ihre Selbstenthüllung ja höchst ambivalent, nicht nur als Zwang und Unterwerfung, sondern auch als Selbstbefreiung, als gesteigertes erotisch-sinnliches Erlebnis sowie als Überwindung der gesellschaftlich aufgezwungenen Maskenhaftigkeit. Ich nehme die schwarzen Lackschuhe, dann denkt man, es sind fleischfarbene Strümpfe. So werde ich durch die Halle gehen, und kein Mensch wird ahnen, daß unter dem Mantel nichts ist, als ich, ich selber. (105)

Die von uns hervorgehobene auffällige Formulierung ist in doppelter Hinsicht mehrdeutig. Eine erste metaphorische Lesart bezieht sich auf das authentische Selbst der Person: Mit dem Abwurf der Hülle präsentiert Else der Hotelöffentlichkeit also mehr als nur ihren Körper, sondern zeichenhaft zugleich ihr wahres Selbst, das unter den sozialen Hüllen der Konvention stets verborgen war und nun, auf dem Höhepunkt der Krise, gleichsam zum Durchbruch gelangt. Diese Transformation der Person wird von der Protagonistin wiederholt auch im metaphorischen Modell von ‚Tod‘ und ‚Wiedergeburt‘ als „neue Else“ beschrieben (101), wobei Else hierbei auf eine epochentypische Metaphorik rekurriert.50 Dass zum Entblößungsakt ausgerechnet Schumanns Carnaval erklingt, verweist auf eine paradoxe Koppelung von Maske und Demaskierung.51 In einer zweiten metaphorischen Lesart erscheint die Formulierung „Nichts […] als ich, ich selber“ darüber hinaus als mise en abyme des discours : Im erzählerlosen Inneren Mono­log erleben wir die unmittelbare und pure, sozusagen die authentische und masken­ lose, durch keine Erzählerstimme vermittelte und potentiell verfälschte Else. Und zugleich, mit der Transformation der Figur, transformiert sich der Text als solcher gemäß einer strukturellen Homologie: Der radikalisierten Unmittelbarkeit der Person auf der Geschichts­ebene korrespondiert eine radikalisierte Unmittelbarkeit auf der Textebene, indem das akustische Erlebnis nicht mehr nur verbal beschrieben, sondern qua Noten­montage gleichsam unmittelbar erlebbar gemacht wird. Der Durchbruch einer ver50 Siehe Marianne Wünsch: „Das Modell der ‚Wiedergeburt‘ zu ‚neuem Leben‘ in erzählender Literatur 1890–1930“. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Heraus­forderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Festschrift f. W. Müller-Seidel zum 65. Geburts­tag. Hg. von Karl Richter und Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 379–407; Lindner 1994 (Anm. 7) sowie, am Beispiel von Schnitzler, Lukas 1996 (Anm. 7). 51 Zur näheren Interpretation der ausgewählten Musikpassagen s. den Beitrag von Rüdiger Gör­­ner in diesem Band.

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mittlungsinstanzlosen Unmittelbarkeit und die Überführung des Textes in ein Jenseits der Sprache wird in der diegetischen Zeit parallelisiert mit dem Moment, an dem der Körper selbst in die Nacktheit überführt wird: Die auffälligste (zwei Systeme umfassende) der insgesamt drei Noten­montagen erfolgt just an der Stelle, da Else ihre autoerotische Ekstase erlebt (117):

Die Trennung des Redeflusses durch das Bild52 erfolgt allerdings nur auf der materiellen, topographisch-typographischen Ebene der Buchseite, diegetisch bleibt Else mit sich während des Hörens der Musik im Gespräch. Stärkstes Indiz für den Partiturcharakter ist somit nicht zuletzt die druckgraphische Codifizierung von Mehrstimmigkeit und Simultaneität.53 Visualisierung – die Semantisierung der materiellen und bildlichen Textgestalt durch Typographie und Notenmontage, wie sie z.B. in den futuristi52 Im Erstdruck gehen die erste und dritte Notenmontage konform mit der Satzgrenze, während die zweite den Satz durchschneidet. Dieser Aspekt gehört zweifellos zu den kontingenten (in anderen Drucken notgedrungen anders realisierten) typographischen Merkmalen, im Sinne von Roland Reuß: „Spielfälle des Zufälligen. Zum Verhältnis von Edition und Typographie“. In: Text. Kritische Beiträge 11, 2006, S. 55–100. 53 Diese wird später als Spaltendruck realisiert. Die frühen Hörspieldrucke kennen sie allerdings noch nicht, vgl etwa: Hans Flesch: Zauberei auf dem Sender. Versuch einer Rundfunkgroteske. In: Funk, H. 35, 1924, S. 543–546. Vgl. hingegen F. Walter Bischoff: „Die Hörfolge, eine Funkform – Worauf es bei ihr ankommt“. In: Rundfunk Jahrbuch 1930. Hg. von der ReichsRund­funk Gesellschaft Berlin, S. 169–176 (Wir danken Andreja Andrisevic für diesen Hinweis).

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schen Figurengedichten exemplarisch realisiert ist – und Phonetisierung – wie sie exemplarisch in der typographischen Lautdichtung des Dada auftritt – bezeichnen zwei einander bedingende Tendenzen der Avant­gardeliteratur des frühen 20. Jahrhunderts. Beide sind gleichermaßen Resultat der epocha­len Sprachkrise und des Strebens nach „Abkehr von dominant sprachlich-begrifflichen Zeichenordnungen zugunsten nichtsprachlicher Kommunikation und deren Fundierung auf expressiven, appellativen und ästhetisch-autoreflexiven Zeichenaspekten“.54 Mit der Buchdruckfassung von Fräulein Else reiht Schnitzler sich – diskret, gleichwohl unzweideutig – in diese Strömung ein. Just der Versuch, reine Lautlichkeit, die die Ebene der Sprache eskamotiert, abzubilden, führt notwendig zu einer sichtbaren Transformation der materiell-typographischen Ebene des Textes und ist somit Beleg dafür, dass, in den Worten von Susanne Wehde, „gerade die Bemühungen um eine (Re)Oralisierung von Literatur – so paradox dies zunächst erscheinen mag – vielfältige Innovationen literarisch-künstlerischer Druck-Schriftlichkeit motiviert haben.“55

4.  Die Aporie von ‚Authentizität‘ und Artifizialität Die Tat der Protagonistin lässt sich als Kompromissbildung zwischen Heteronomie und Autonomie fassen: Einerseits überschreitet sie, indem sie sich allen zeigt und den ultimativen Blick-Test vollzieht, ihre Objekthaftigkeit („Ich bin nicht Ihre Sklavin“, 116), andererseits mündet dieser Akt in den definitiven Selbstverlust, der bereits vor der Veronaleinname in suizidaler Absicht als psychischer ‚Tod‘ zeichenhaft antizipiert wird. Das prekäre Gleichgewicht, das die oben beschriebene grundsätzliche Dissoziation des bürgerlichen Subjekts in zwei antagonistische ‚Teilpersonen‘ bzw. Identitäten – die normkonforme sozial wahrnehmbare vs. die normverletzende unsichtbare – darstellt, zerbricht. Mit dem Wegfall der Kleiderhülle wird zeichenhaft Elses offizielle Identität eliminiert, was auch physiologisch im kataleptischen Zusammenbruch markiert wird, der Else auf die reine Hörfunktion reduziert und ihr die äußere Stimme nimmt. Folgt man der Lesart des Auftritts als „hysterischer Anfall“ (128), werden wir hier Zeuge der 54 Wehde 2000 (Anm. 32), S. 347. Vgl. auch am Beispiel der typographischen Gestaltung von Zwischentiteln im Stummfilm Ursula von Keitz: „Schriftspur der Emotion. Zur Per­for­ mativität der Zwischentitel in Hans Tintners Zyankali (1930)“. In: Scriptura cinematografica. Texttheorie der Schrift in audiovisuellen Medien. Hg. von Hans-Edwin Friedrich und Hans Jürgen Wulff. Trier 2013, S. 75–96. 55 Wehde 2000 (Anm. 32), S. 347. Die typographische Gestaltung, so auch Raoul Hausmann in seinem programmatischen Aufsatz „Typographie“ von 1932, ist das „Endergebnis eines optisch-akustischen Gestaltungsvorgangs“, mit dem Ziel des „Hervorrufens gedanklicher Laut­bilder“ beim Leser (zit. ebd., S. 359).

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Manifestation der sog. ‚condition seconde‘ der Hysterika.56 Der Zustand der latenten Dissoziation des Subjekts in eine in sozialer Interaktion agierende und eine sich und die anderen beobachtende und kommentierende Person ist damit radikalisiert bis zur manifesten pathologischen Selbstentfremdung: „Ha, ha, ha!“ Wer lacht denn da? Ich selber? „Ha, ha, ha!“ Was sind denn das für Gesichter um mich? „Ha, ha, ha!“ Zu dumm, daß ich lache. Ich will nicht lachen, ich will nicht. „Haha!“ - (117f.)

Bestehen bleibt indes die systematische Korrelierung und Engführung von Figur und Text, die hier von allem Anfang an angelegt und gegenüber Lieutenant Gustl deutlich radikalisiert ist. Mit ihrem Tod muss der Text notwendig enden – und er tut dies ebenso allmählich und progressiv wie das Bewusstsein der Heldin schwindet, was in den letzten Zeilen sowohl durch eine abweichende Absatzbildung, die das bisher herrschende Kontinuum der Rede höchst augenfällig zerstört, als auch durch das allmähliche Aus­ setzen der Sprache selbst dargestellt wird: „Else!“ … „Else!“ … Wo seid Ihr denn? Ich höre Euch, aber ich sehe Euch nicht. „Else! “ … „Else!“ … „Else!“ … […] „El …“ Ich fliege … ich träume … ich schlafe … ich träu … träu – ich flie …… (135f.)

Erneut bestätigt sich, dass in dem Maße, wie Literatur im Streben nach unvermittelter Realitätsabbildung versucht, die verbalsprachliche Textualität zu überwinden, sie die Tendenz hat, ihren material text, die materiale, physisch-visuelle Textur des Textes semantisch zu funktionalisieren und als solche überhaupt bewusst zu machen. In diesem Fall übernehmen in Ermangelung eines Erzählers Layout und Typographie gleichsam narratoriale Funktionen. Mit Nelson Goodman könnte man formulieren, dass der material text dergestalt zum – zeichenhaften – Ausdruck und zur metaphorischen „Exemplifikation“ dessen wird, was er signifiziert/denotiert.57 Der Versuch der Überwindung der ‚Papiersprache‘ in der experimentellen Monolog­novelle führt also keineswegs in ein außersemiotisches ‚Jenseits 56 Zur Hysteriediskussion s. Bronfen 1996 (Anm. 30). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die epochalen Theorien zum sog. ‚Doppel-Ich‘: Lukas 1996 (Anm. 7), S. 45–52. 57 Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt a.M. 1997, Kap. II.

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der sozialen Konvention‘,58 sondern lediglich in ein anderes, zum Teil innova­tives (so die typographische Gestaltung), zum Teil aber nicht minder konventionelles und zudem hochabstraktes Zeichensystem (wie die Notenschrift). Die unhintergehbare Kodiertheit des ‚Authentischen‘ wird damit letztlich nur umso bewusster.

58 Die von Krämer 2010 (Anm. 48) vorgenommene Homologisierung von ‚diskursiv vs. iko­ nisch‘ mit ‚semiotisch vs. mimetisch‘ ist in diesem Zusammenhang etwas missverständlich: selbstverständlich geht es hier um eine innersemiotische Opposition, also um einen mime­ tischen Zeichen modus.

Hans Peter Buohler

Arthur Schnitzlers ‚anmutiges Monstrum‘: Der junge Medardus als Historiendrama (1910) und Filmprojekt (1920) Eine sehr große, mit historischen Bildchen bunt bemalte äußerste Hülle. In ihr fest eingewickelt: ein Theaterstück, eine starke Komödie voll Spannung, Konflikt, Überspannung. In dieses Theaterstück gebettet: eine balladeske Dichtung von Helden, Tod und Liebe. Und im Innersten dieser Dichtung: ein kleines, schüchtern-modernes psychologisches Drama von den Edelmenschen, die an ihrem ethischen Temperament, an ihren fanatischen Herzens-Reinlichkeiten zugrunde gehen.1

Als Alfred Polgar Schnitzlers „dramatische Historie“ Der junge Medar­ dus anlässlich der Uraufführung 1910 rezensierte, sezierte er matrjoschkahaft vier Ebenen, welche auch den nahezu ein Jahrzehnt währenden Entstehungs­prozess zu reflektieren scheinen. So stand für Schnitzler am Anfang des im Dezember 1901 begonnenen „Alt Wiener Stücks“ kein histori­sierendes Kostümspektakel, sondern die Idee des „Doppelselbstmords“.2 In einem variantenreichen ersten Entwurf erwägt Schnitzler, das 1 Alfred Polgar: [Rez.] „Der junge Medardus, eine dramatische Historie von Artur Schnitzler“. In: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung Nr. 48 vom 28. November 1910, S. 1–3, hier S. 1 [leicht verändert wieder in: Die Schaubühne 6,2, H. 49 (8.  Dezember 1910), S.  1263–1268, sowie wiederum leicht verändert in: A.P: Kleine Schriften. Bd. 5, Theater 1. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek 1985, S. 44–50. Zuletzt in: Hans Peter Buohler: „Arthur Schnitzlers ‚Medardus Affairen‘. Teil 2: Materialien“. In: Hofmanns­thalJahrbuch 21, 2013, S. 7–73]. – Vgl. zu Alfred Polgar (1873–1955) u.a. Ulrich Weinzierl: Alfred Polgar. Poetische Kritik und die Prosa der Verhältnisse. Wien 2007 sowie Der Untertreiber schlechthin: Studien zu Alfred Polgar. Hg. von Evelyne Polt-Heinzl. Wien 2007. 2 „Stück begonnen (Doppelselbstmord) – ins blaue, wie in meiner Jugend.“ Tagebucheintrag vom 22.12.1901 (Tb 1893–1902, S. 361). – Der vorläufige Titel verweist auch auf Ludwig Anzengruber: Doppelselbstmord. Bauernposse mit Gesang in drei Akten. Wien 1876. – Vgl. hierzu auch Holger Bachmann: Arthur Schnitzler und Michael Curtiz. ‚Der junge Medardus‘ auf der Bühne und im Kino. Essen 2003 (Theater, Film und Fernsehen in der Blauen Eule 7), S.  30. Bei Bachmanns Arbeit handelt es sich um die deutschsprachige und bibliographisch ergänzte Fassung der Dissertation: Arthur Schnitzler’s ‚Der junge Medardus‘ as drama, screenplay and film. Cambridge (Diss.) 1997. Ein Abstract hierzu findet sich in: Index to theses 47, 1998, N.  2, S. 466. Vgl. auch ders.: „Der junge Medardus im Kontext des zeitgenössischen Historienfilms

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Drama „[a]uch satirisch“ oder „[a]ls burleskes Stück“3 zu gestalten, wobei sich possenhaf­te Züge bis in Polgars zweite Hülle erhalten haben. Gegen­ über der hu­moristischen Grundierung war die historische Situierung, das „bunt bemalte“ Gemälde aus der Zeit des fünften Koalitionskrieges zunächst weniger wichtig, und Schnitzler zweifelte an der geschichtlichen Rahmung noch im Frühjahr 1908: „[D]ann den „Medardus“ gelesen; unschlüssig geworden; insbesondre hinsichtlich der napoleonischen Umrahmung. Dann abgespannt, verdüstert.“4 Doch wichtiger als Historie und Humor waren die „Dichtung von Helden, Tod und Liebe“ und der psychologische Kern des Dramas.5 Im Blick auf die Verfilmung des Jungen Medardus, die sich erstmals um 1920 konkretisierte, jedoch erst 1923 abgeschlossen wurde, scheinen sich die vier Ebenen gleichwohl zu invertieren. Die psychologische Fein­ zeichnung wird marginalisiert, die Historie zur Hauptsache: Ein großer historischer Hintergrund, eine überaus spannende Handlung, die sich auch im Original gleichsam von selbst in einzelne Bühnenbilder auflöst und dabei den Schauspielern Gelegenheit gibt, sämtliche Register ihres Könnens aufzuziehen; dazu die Möglichkeit, die historischen Stätten der Handlung zum Teil wenigstens in ihrer wirklichen, noch existierenden Gestalt vorzuführen, Schönbrunn, die Gegend von Aspern usw. Freilich, die psychologischen Feinheiten, die Uebergänge, die komplizierten Motivierungen gehen auf diesem Wege verloren. Aber

und als Teil des Werks von Michael Curtiz“. In: Arthur Schnitzler und der Film. Hg. von Achim Aurnhammer, Barbara Beßlich und Rudolf Denk. Würzburg 2010 (Klassische Moderne 15/ Akten des Arthur-Schnitzler-Archivs 1), S. 55–77. 3 Vgl. hierzu das Material im Arthur-Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg, Signatur A XXIV, Nr. 2 (Mappe 94), Bl. 6–12, hier 6f. (CUL, A94,01. Typoskript, fol. 1–7; wieder in Buohler 2013 [Anm. 1], S. 11–14). Zum Freiburger Archivbestand vgl. Gerhard Neumann und Jutta Müller: Der Nachlaß Arthur Schnitzlers. Verzeichnis des im Schnitzler-Archiv der Universi­ tät Freiburg i. Br. befindlichen Materials. Mit einem Vorwort von Gerhart Baumann und einem Anhang von Heinrich Schnitzler: Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlaßmaterials. München 1969. Dieses Findbuch des Freiburger Bestands wird im Folgenden mit der Sigle „FF“ versehen. Teile des zitierten Entwurfs sowie weiterer Skizzen stellte Heinrich Schnitzler in seinen Notizen „Zur Entstehungsgeschichte von Arthur Schnitzlers Historie Der junge Medardus“ zusammen, die sich ebenfalls im Nachlass befinden; vgl. FF S XIV (Mappe 240) bzw. CUL, A240,10; DLA, A:Schnitzler, HS.NZ85.1.5118 [Mappe 1496]). 4 Tagebucheintrag vom 15.3.1908 (Tb 1903–1908, S. 323). 5 Dies registrierte im Vorfeld der Premiere etwa auch der Burgtheaterintendant Paul Schlenther, der bezüglich der „Psychologie der Wiener“ Bedenken äußerte; vgl. Arthur Schnitzler an Paul Schlenther, 22. August 1909 (FF N XI. CUL, B0091b). Vgl. auch den Tagebucheintrag vom 22. August 1909 (Tb 1909–1912, S. 85). Brief vollständig in: Hans Peter Buohler: „Arthur Schnitzlers ‚Medardus Affairen‘. Teil 1: Korrespondenzen“. In: Hofmannsthal-Jahr­ buch 19, 2011, S. 79–215, hier S. 103–105. – Nach der Uraufführung konstatierte etwa der Kritiker Hugo Wittmann: „Eine Hauptrolle in dem Stück spielt das Volk, die Wiener Bürgerschaft. Sie teilt sich in vielerlei Abarten, Schafe und Böcke, brave Leute und gemeine Kerle. Der Dichter schmeichelt den Wienern nicht, und das sei ihm besonders hoch angerechnet.“ (Neue Freie Presse Nr. 16617 [Morgenblatt] vom 25. November 1910, S. 1–3, hier S. 1).

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es ist uns gerade bei diesem Anlaß klar geworden, daß daran – der Dichter möge verzeihen! – eigentlich nicht viel liegt.6

Diese Inversion der inhaltlichen Akzente soll im Folgenden genauer untersucht werden. Dem Jungen Medardus kommt hierbei innerhalb des Œuvres Schnitzlers ein Sonderstatus zu. So bietet das seinerzeit außerordentlich erfolgreiche Werk Gelegenheit, eine plurimediale „Mehrfachverwertung“ par excellence beobachten zu können, da sich neben dem Lesedrama die Strichfassung der Uraufführung, ein Drehbuchentwurf Schnitzlers und eine unter der Regie von Mihály Kertész/Michael Curtiz (1888–1962) ausgeführte Verfilmung vollständig erhalten haben.7 Lediglich eine 1931 – indes ohne Schnitzlers Wissen erstellte – Rundfunkbearbeitung muss als verloren gelten. Dabei ermöglichen das Tagebuch Schnitzlers sowie das bislang nur ansatzweise bekannte nachgelassene Material eine lückenlose Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte und Einblicke in die Arbeitsweise Schnitzlers.8 Diese Ausführungen stützen sich insbesondere auf Schnitzlers Drehbuchentwurf, der exemplarisch mit dem Lesedrama sowie der 1923 fertig gestellten Verfilmung verglichen wird, während die gekürzte Bühnenfassung demgegenüber zurücksteht. Im kontrastierenden Blick auf filmische Umarbeitung wie Verfilmung werden in insgesamt sieben Punkten zunächst die ästhetische Nähe des Filmskripts zum Lesedrama, zu frühen Dramen­ entwürfen sowie historischen Quellen analysiert. Das Filmskript ist ferner einerseits durch Tendenzen der Verknappung und Ausweitung charakterisiert, andererseits durch die Umkehrung der ‚Polgarschen Ebenen‘, wobei die Psychologie reduziert wird. In den beiden abschließenden Punkten wird sodann die Berücksichtigung filmtechnischer Fragen untersucht sowie ein exemplarischer Blick auf deren eventuelle Realisation geworfen. Erste Entwürfe Schnitzlers reichen bis in das Jahr 1901 zurück, doch verfolgte er die Arbeit bis 1908 eher sporadisch und mit vielfachen Unterbrechungen. Die Zweifel an seinem Werk führten dazu, dass er im Herbst 1908 von neuem begann, wobei die einhundertjährige Wiederkehr der Er6 A[dalbert] F[ranz] S[eligmann]: „Der junge Medardus im Film. Ein[e] Pressevorführung“. In: Neue Freie Presse Nr. 21219 vom 6.10.1923 (Morgenblatt), S. 7. 7 Vgl. neben der Burgtheater-Kopie mit Streichungen und Korrekturen Arthur Schnitzlers im Nachlass (FF A XXIV, Nr. 13 [Mappe 236]) auch das von dem Projekt „Austrian Literature Online“ in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek digital verfügbar gemachte Exemplar unter http://www.literature.at/alo?objid=12116 (8.1.2017). – Zu Schnitzlers Filmskripten s. Arthur Schnitzler: Filmarbeiten. Drehbücher, Entwürfe, Skizzen. Hg. von Achim Aurnhammer, Hans Peter Buohler, Philipp Gresser, Julia Ilgner, Carolin Maikler und Lea Marquart. Würzburg 2015. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle „SF“ ver­ sehen. 8 Das nachgelassene Material übertrifft mit ungefähr 1700 Blatt quantitativ bei weitem die Entwurffassungen und Skizzen der übrigen Dramen, ermöglicht weitere Einblicke in die Arbeitsweise Schnitzlers, aber etwa auch die theaterpraktischen Probleme, die mit einer Bühnenumsetzung verbunden waren. Vgl. SF 270–301.

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eignisse rund um den fünften Koalitionskrieg einer der äußeren Anlässe war, sich mit dem historischen Stoff auseinanderzusetzen. Dafür begab sich Schnitzler ad fontes und las „allerlei für den Medardus“,9 darunter die Memoiren des Generals Marbot, diejenigen der Caroline von Pichler, Joseph von Hormayrs Wiener Geschichte, Karl August Schimmers Abhandlung über Die französischen Invasionen in Österreich sowie das Tagebuch Rosenbaums, das der Wiener Literatur- und Theaterhistoriker Karl Glossy herausgab.10 Aus Moriz Bermanns Darstellung Alt- und Neu-Wien könnte Schnitzler die Anek­dote mit dem Schrämbl-Atlas gekannt haben; Notizen machte er sich zu Friedrich Anton von Schönholz’ Traditionen zur Charakteristik Österreichs.11 Auch die Wiener Tagespresse lieferte feuilletonistische Arbeiten, die sich in Schnitzlers Nachlass erhalten haben;12 überdies besuchte er Schönbrunn. 9 Tagebucheintrag vom 21.10.1908 (Tb 1903–1908, S. 361). 10 „Nm. allerlei zum Medardus gelesen. (Marbot wieder.)“ (20.11.1908: Tb 1903–1908, S. 368). Die Mémoires du général Baron de Marbot des Jean-Baptiste-Antoine-Marcelin de Marbot (1782–1854) erschienen in ungezählten Auflagen; 1899 erschien eine deutsche Übersetzung, die sich an der 40.  Auflage des französischen Originals orientierte (Stuttgart 1899, 2 1907; Reprint Bergkamen 1994). – „las (wieder) in den Pichler’schen Memoiren (für den Medardus).–“ (20.12.1908: Tb 1903–1908, S. 375). – Der zweite Band der vierbändigen, 1844 in Wien erschienenen Denkwürdigkeiten aus meinem Leben Caroline Pichlers (1769–1843) beinhaltet die Jahre 1798 bis 1813. – Vgl. auch die Erwähnungen Pichlers in FF AXXIV, Nr. 6 (Mappe 94), Bl. 2, 14 und 15. – FF A XXIV, Nr. 6 (Mappe 94), Bl. 1: „Hormayer, Geschichte Wiens. Fünfter Band, zweites Heft.“ In: Joseph von Hormayr: Wien, seine Geschicke und Denkwürdigkeiten. Bd. 5, H. 2. Wien 1823. – FF A XXIV, Nr. 6 (Mappe 94), Bl. 1: „Schimmer: die Franzosen in Wien.“ In: Karl August Schimmer: Die französischen Invasionen in Öster­ reich und die Franzosen in Wien in den Jahren 1805 und 1809. Wien 1846 [21854]. – FF A XXIV, Nr. 6 (Mappe 94), Bl. 2: „Wiener Neujahrsalmanach 1900, Tagebuch Rosenbaums“ In: Wien im Jahre 1809. Aus dem Tagebuche eines Wieners, mitgetheilt und eingeleitet von Karl Glossy. Wien 1900 (Wiener Neujahrs-Almanach 1900). – Weitere Exzerpte zu Rosenbaum unter FF A XXIV, Nr. 6 (Mappe 94), Bl. 13, 14 und 16–18. – Vgl. auch die Korrespondenz zwischen Glossy und Schnitzler im DLA sowie SF 272–276. 11 Moriz Bermann: Alt- und Neu-Wien. Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Umgebungen. Wien u.a. 1880. – FF A XXIV, Nr. 6 (Mappe 94), Bl. 3: „Traditionen zur Charakteristik Oesterreichs“. Vgl. zudem die Notizen in FF A XXIV, Nr. 3 (Mappe 94), Bl. 4–6, die ebenfalls aus dem Werk Schönholz’ stammen. – Friedrich Anton von Schönholz: Traditionen zur Charakteristik Österreichs, seines Staats- und Volkslebens unter Franz I. 2 Bde. Leipzig 1844 [wieder München 1914 (Denkwürdigkeiten aus Alt-Österreich 3)]. Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 28, Anm. 20, ordnet Schönholz’ Werk versehentlich Karl Glossy zu. – Anhaltspunkte zu dem französischen Königshaus der Valois kannte Schnitzler aus dem Lehrbuch der Weltgeschichte von Georg Weber; unklar bleibt indes, worauf sich die unter dem Schlagwort „Emigranten“ gesammelten Notizen beziehen; vgl. FF A XXIV, Nr. 6 (Mappe 94), Bl. 14: „Der Marquis ist ein Abkömmling des Heinrich von Huyse, den der III. Heinrich morden liess (Abkömmlinge der Karolinger) Weber, II. S. 119.“ – Georg Weber: Lehrbuch der Weltgeschichte mit Rücksicht auf Cultur, Literatur und Religionswesen […]. Bd. 2. Leipzig 121867. – FF A XXIV, Nr. 6 (Mappe 94), Bl. 5–7. – Vermutlich bezieht sich Schnitzler auf den Briefwechsel des Grafen Jean Joseph Casimir de Montvallat oder Erinnerungen an die französische Emigration von 1792 bis 1797. Hg. von Wilhelm Meyer. Zürich 1868. 12 FF A XXIV, Nr. 7 (Mappe 94).

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Dennoch liefert Schnitzler kein „historisierende[s] Kostümstück“;13 nicht die Befreiungskriege stehen im Mittelpunkt seines schriftstellerischen Interesses, sondern „die Desillusion von heldischen Lebensentwürfen“.14 Dies registriert auch der Burgtheaterintendant Paul Schlenther, der in einem Brief an Schnitzler „völlig ungeschminkt […] die Lust und auch den Schmerz an Ihrem anmutigen Monstrum“ ausdrückt: Die Gräte im Fisch, das was man auch den roten Faden zu nennen pflegt[,] ist der Trieb des Medardus[,] den Napoleon zu ermorden. Dieser Gedanke, der unter andern auch in Heinrich von Kleist lebte, ist der Mühe eines grossen Dramas wert, weil aus edelsten Motiven etwas entsteht, was die landläufige Moral und Gerechtig­ keit ein Verbrechen nennt.15

1809 belagern die napoleonischen Truppen Wien, und Medardus Klähr, der Sohn einer Buchhändlerswitwe, meldet sich freiwillig zu ihrer Verteidigung. Die Figur wurde inspiriert von dem historisch verbürgten Friedrich Staps, der ein Attentat auf Napoleon verübte. Währenddessen scheint François, ein französischer Adeliger im Wiener Exil, in das seine Familie vor Napoleon flüchtete, um die Hand von Medardus’ Schwester Agathe anzuhalten. Da aber François’ Vater in die Ehe nicht einwilligen würde, begeht das junge Paar Selbstmord in der Donau. Medardus sucht daraufhin – einer merkwürdigen Logik folgend – seine Schwester zu rächen, indem er seinerseits Helene, die Schwester von François, zu seiner Geliebten macht und dadurch erniedrigt; seine militärische Pflicht stellt er dabei hintan. Helene und Medardus verbindet neben einer temporären Liaison das Ziel, Napo­leon zu töten: Helene, da ihre Familie einen Anspruch auf den französischen Thron zu haben glaubt, Medardus, da er den Tod seines Vaters, der 1805 im Krieg gegen Napoleon fiel, und später auch den seines Onkels Eschen­ bacher rächen will. Aufgrund eines Missverständnisses scheitern sie in ihrem Vorhaben: Helene, die sich zum Schein mit Napoleon einließ, wird von 13 Hartmut Scheible: „Arthur Schnitzler“. In: Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Hg. von Hartmut Steinecke. Berlin 1994, S.  11–30, hier S. 20. – Gleichwohl orientierte sich Schnitzler an der Historie, und so diente etwa für die Figur des Medardus Friedrich Staps als Vorbild, der am 12.  Oktober 1809 einen Attentatsversuch auf Napoleon verübte. Vgl.  zu Staps’ (1792–1809) Biographie u.a. Friedrich Staps: […] Eine Biographie aus den hinterlassenen Papieren seines Vaters […]. Berlin 1843, sowie Bernhard von Poten: [Art.] „Stapß, Friedrich“. In: Allgemeine Deutsche Biographie 35 (1893), S. 461f. – FF A XXIV, Nr. 3 (Mappe 94), Bl. 20: „am 11. Oktober Attentat auf Napoleon durch Friedrich Stapfer“. Vgl. hierzu Hormayr 1823 (Anm. 10), S. 61f.; Marbot 1994 (Anm. 10), S. 229; Schimmer 1854 (Anm. 10), S. 135f. – Dieses Sujet dramatisierte später Walter von Molo: Friedrich Staps. Ein Volksstück in vier Auf­ zügen. München 1918; Korrespondenz zwischen Molo und Schnitzler im DLA (A:Schnitzler, HS.NZ85.1.1444 und HS.NZ85.1.2324). 14 Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 bis 1945. Darm­ stadt 2007, S. 314, Anm. 17. 15 Paul Schlenther am 18.8.1909 an Arthur Schnitzler, FF N XI (Mappe Pp 91b), Bl. 172. CUL, B91b. Vollständiger Brief in Buohler 2011 (Anm. 5), S. 99–103, hier S. 99 und 102.

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Medardus erstochen, der sie für die Geliebte des Kaisers hielt. Nach seiner Verhaftung wird Medardus als unfreiwilliger Retter des Korsen wie­derum begnadigt, verweigert die ihm zugedachte Gnade jedoch und wird füsiliert. So versucht Medardus, die vielleicht „eigenartigste Heldenfigur Schnitzlers“,16 eine Tat zu begehen, „für die er zu klein ist“17 – und scheitert. Etzelt, Geschäftsleiter der Buchhandlung, welche Medardus’ Mutter führt, kommentiert das Schicksal des Freundes kurz vor dessen Füsilierung im Gespräch mit dem französischen General Rapp: Rapp (zu Etzelt): Der Kaiser hat es nicht anders erwartet. Mich dünkt, dieser junge Mensch hätte an anderer Stelle stehn sollen. Etzelt: Sehr wahr, Herr General. Gott wollte ihn zum Helden schaffen, der Lauf der Dinge machte einen Narren aus ihm. (ED 28918/DW II, 215)

Erweist sich Medardus als zu klein, so wird die Anlage des Stücks umso breiter gefasst: Es tendiert zur „episch-chronikalische[n] Form des Histo­ riendramas“,19 wie sie auch Shakespeare in seinen ‚histories‘ verwandte: Der Medardus umfasst neben dem Vorspiel fünf weitere Akte mit insgesamt siebzehn Szenen, welche in ihrem dramatischen Zeithorizont den fünften Koalitionskrieg umfassen. Die umfangreiche Liste der dramatis personae zeigt ebenfalls das zeitliche Kolorit; insgesamt 79 Personen und Personen­ gruppen20 werden genannt, wobei, wie Karl Kraus spöttisch bemerkt, „auch ein Blinder und ein Buckliger im Stücke vor[kommen]“.21 Die parvitas des Medardus, die auch zeitgenössisch registriert wurde, verweist indes auf das Problem der ‚historischen Größe‘. Denn diese gestattet es nicht, dass die „überlebensgrosse Gestalt des Kaisers“22 auf der Bühne gezeigt wird. Diese Leerstelle wiederum verbindet die Dramatisierung Schnitzlers mit den „meisten Befreiungskriegsdramen des 20.  Jahrhunderts“, die ebenfalls „keine Napoleon-Dramen [sind]“.23 16 Erhard Friedrichsmeyer: „Bemerkungen zum Heldischen bei Schnitzler“. In: Modern Aus­trian Literature 2, 1969, H. 4, S. 38–41, hier S. 38. 17 Walther Lutz: „Der junge Medardus“. In: Der Brenner 1, 1911, H. 16, S. 456–461, hier S. 459 (wieder in: Buohler 2013 [Anm. 1], S. 51–56). 18 Erstdruck (ED): Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen. Berlin: S. Fischer, 1910. 19 Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 26. 20 Richard H. Allen: „79 Personen: Character Relationships in Schnitzler’s Der junge Medar­ dus“. In: Studies in German literature of the nineteenth and twentieth centuries. Festschrift for Frederic E. Coenen. Hg. von Siegfried Mews. Chapel Hill 1970 (University of North Carolina studies in the Germanic languages and literatures 67), S. 149–156. 21 Karl Kraus: „Gabor Steiners Hamburgische Dramaturgie“. In: Die Fackel 12, 1910, H. 313– 314, S. 6f., hier S. 7 (wieder in Buohler 2013 [Anm. 1], S. 50f.). 22 FF N IV. Beiläufiges zu den eigenen Werken (Mappe 20), Bl.  51. – Vgl.  hierzu Richard Specht: Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk. Eine Studie. Berlin 1922, S. 304f. 23 Beßlich 2007 (Anm. 14), S. 314.

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Die korsische Leerstelle wird indes in dem von Schnitzler im Frühjahr 1920 erarbeiteten Filmskript gefüllt.24 Dieses ist in einer vollständigen Fassung undatiert überliefert, und umfasst insgesamt 152 maschinenschrift­ liche Seiten, die teilweise mit handschriftlichen Korrekturen versehen sind. Schnitzler, der zunehmend als „Dichter einer untergegangenen Welt“25 wahrgenommen wurde, vertrat insbesondere nach Beendigung des Ersten Weltkriegs die Ansicht, „weder Autoren noch Schauspieler könnten unter den jetzigen Verhältnissen ohne Filmverdienst leben“.26 Während des Kriegs hatte er noch zurückhaltend auf die Idee reagiert, den Medardus zu verfilmen; nach dessen Ende jedoch mehrten sich Anfragen und pekuniäre Bedrängnis. Neben der Wiener Sascha, die sich im März 1919 als erste an Schnitzler wandte, bekundeten auch die Oesterreichische Kinofilm Industrie Gesellschaft sowie die Projectograph ihr Interesse.27 Nach einem ermutigenden Treffen im Februar 1920 bemühte sich Schnitzler sogleich um Unterstützung für das Filmprojekt – etwa um die Dreherlaubnis an historischen Schauplätzen.28 Die ästhetische Nähe des Filmskripts zum Lesedrama lässt sich hierbei nicht zuletzt aus textgenetischer Sicht erklären. Um ein Filmszenario zu erstellen, sah Schnitzler ein Exemplar der Buchausgabe durch und markierte, auf welchen Szenen und Begebenheiten er es aufbauen wollte.29 Dabei unterschied er zwischen Szenen, welche er visualisiert dargestellt sehen wollte, und möglichen Zwischentiteln, wobei er erstere durch kleine Randmarkierungen, letztere durch Unterstreichung kennzeichnete. Gleichwohl setzte er zumeist auf die Nähe des Drehbuchentwurfs zum Drama. So zeigt etwa eine handschriftliche Notiz das „Ende der ersten Abtheilung (Aktes)?“30

24 FF A XXIV, Nr. 15, Bl. 1516–1667 [fol. (3)–153]. CUL, A056,02. SF 173–344. 25 Edmund Wengraf: „Der Dichter einer untergegangenen Welt. Zu Arthur Schnitzlers sechzigstem Geburtstag“. In: Neue Freie Presse Nr. 26728 vom 15.5.1922 (Morgenblatt), S. 6. 26 Tagebucheintrag vom 20.10.1920 (Tb 1920–1922, S. 99). 27 Vgl. die Tagebucheinträge: „Nm. Hr. Perger, vom Sascha Film, wegen Medardus.“ (14.3.1919: Tb 1917–1919, S. 238). –„Nm.  Frl.  Jenbach, von der Oest.  Kinofilm Ind.  Ges.:– wegen Verfilmung Medardus.“ (26.6.1919: ebd., S. 266f.). –: „Nm. Hr. Porges (Saschafilm) in Angelegenheit des Medardus.–“ (28.6.1919: ebd., S. 267). – „Hr.  Stern, Praes. der Verb.  der Film Ind., und ein Fabriksdirector Deutsch;– wegen Verfilmung des Medardus. Dilatorisch, wegen Amerika. Aber die Summen, die durch die Luft fliegen! Bedeuteten sie nur noch was!“ (26.1.1920: Tb 1920–1922, S. 16). 28 „Vorm. die Herrn Dir. Stern und Deutsch bei mir; in Filmsache Medardus. Vertragsbesprechung, der ich Michel beizog. Günstige Aussichten.–“ (4.2.1920: Tb 1920–1922, S. 18). – „Bei der Hofrätin, die bettlägerig. Frage, ob man durch die Staatsämter für den Medardus Film Unterstützung finden könnte (Schönbrunn etc.)“ (5.2.1920: ebd.). 29 Dieses Exemplar befindet sich im DLA, A:Schnitzler, 85.1.29. 30 Zitiert wird im Folgenden nach der Edition des Drehbuchs in SF (Anm. 7), wobei arabische Ziffern zwischen senkrechten Strichen auf die Foliierung des Filmskripts verweisen; hier SF 192.

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an, und die meisten Zwischentitel stellen nahezu wörtliche Übernahmen aus dem Drama dar: Anna: Nun heisst es doch wieder, dass wir die Franzosen in vier Wochen vor den Toren haben werden. Agathe: Wenn es dem Medardus nicht gelingt sie aufzuhalten. (M.12). * |17| Eschenbacher tritt ein. Begrüssung Agathe – Anna. Anna weist auf das Spinett. Eschenbacher setzt sich an das Spinett, schlägt Tasten an, schüttelt den Kopf. * Eschenbacher: Es ist verstimmt, hat wohl schon lang kein junger Prinz darauf gespielt? (SF 181f.)

Anna: […] Nun heißt es doch wieder, daß wir die Franzosen in vier Wochen vor den Toren haben werden. Agathe (in der Absicht zu scherzen): … Wenn es dem Medardus nicht gelingt, sie aufzuhalten … […] Jakob Eschenbacher tritt ein von rechts […]. Agathe. Anna. […] Eschenbacher: […] (Er hat sich ans Spinett ge­ setzt und schlägt beiläufig einige Tasten an.) […] Eschenbacher: […] Übrigens ist es auch ein wenig verstimmt. Hat wohl schon lange kein junger Prinz darauf gespielt. (ED 12/DW II, 30 und ED 16–18/DW II, 33f.)

Die „deutliche Dominanz der rein mimetischen Zwischentitel, die unverändert Bühnendialog wiedergeben“, zeigt, „dass Schnitzler im Drehbuch einen Großteil der dramatischen Substanz nicht in filmische Darstellungsweise überführt“.31 Ob Schnitzler für die Verfertigung des Drehbuchs überdies auch auf ältere Entwürfe zurückgriff, ist nicht bekannt.32 Dennoch weist das Filmskript in seiner ästhetischen Faktur eine erstaunliche Affinität zu frühen Dramenskizzen auf, wie das folgende Beispiel belegt; der Dramenentwurf, welcher sich ebenfalls im Nachlass findet, stammt vom 26. April 1903 und ist in der rechten Spalte wiedergegeben: Frühlingstag im Prater. Spaziergänger aller Art. Frau Claire Klähr mit ihrer Tochter Agathe. Begegnung mit Herrn Berger, Frau Berger und Anna. Medardus kommt erst etwas später hinzu. Zuerst vielleicht in Gesellschaft von Studenten. Jetzt noch nicht in Uniform. […]

Im Prater oder auf dem Wasserglacis. Ein Frühlingsabend. Spaziergänger. Frau Berger, ihre Tochter Agathe, Thoman. Der Sattler Eschenbach. Ueber den beginnenden Krieg. […] Französische Blätter werden verlesen,

31 Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 102. 32 Bisweilen sah Schnitzler Entwurffassungen oder ältere Tagebücher durch: „Dr. Reik; […] Zeige ihm alte Pläne des Medardus u. ä.–“ (9.11.1914: Tb 1913–1916, S. 148). – „Nehme dann 1910 vor, Zeit der Med. Première –; amüsirte mich; es war eine verhältnismäßig gute Zeit.“ (31.10.1919: Tb 1917–1919, S. 303).

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Wagen, Begrüssungen. Wachsende Bewegung. Die Proklamation Napoleons. Leute mit Zeitungsblättern, Bildung von Gruppen.

Pro­klamationen Napoleons, die verhöhnt werden. […] Dann erscheint Medardus und sein Freund, ein buckliger Mann, philosophischer Jude. […] Auch Anna und ihre Mutter treten auf.

(SF 174)

(FF A XXIV, Nr. 4, Bl. 35f. CUL, A094,5)

Die Familie Klähr trägt im Dramenentwurf den später auf zwei Rand­ figuren übergegangenen Namen Berger, und auch die Namen der übrigen Figuren erfahren noch mancherlei Wandlung: Helene heißt zunächst Isabella, später Julia, und der Herzog von Valois ist ein Herzog von Berry. Die ästhetische Kongruenz des Drehbuchs mit dem nahezu zwei Jahrzehnte zuvor entstandenen Entwurf rührt indes aus der Reduktion auf Handlungs­ elemente, welche das Gerüst für Drama wie Film bildeten – trotz der eigengesetzlichen Bedingungen der jeweiligen Darstellungsweise. Bislang nicht berücksichtigt wurde die Nähe des Drehbuchs zu historischen Werken, welche Schnitzler teils erneut, teils erstmals durchsah. Augenfällig wird dies an der „Proklamation Napoleons“, welche Schnitzler in seinem Drama in die erste Szene des Vorspiels integriert, im Drehbuch jedoch als Zwischentitel realisiert sehen wollte: Soldaten! Ihr habt meiner Erwartung gänzlich entsprochen, durch Eure Tapferkeit die nötige Anzahl ersetzt. Ihr habt glorreich den Unterschied gezeigt, der zwischen den Soldaten des Cäsars und zwischen den bewaffneten Horden des Xerxes stattfindet. In wenig Tagen haben wir in drei Bataillen gesiegt, bey Than, Abendsberg und Ekmühl und in den Gefechten bei Peising, Landshut und Regensburg. Hundert Kanonen, 40 Fahnen, 50.000 Gefangene, 3 Schiffbrücken, der ganze Artilleriepark des Feindes, 3000 bespannte Bagagewagen, alle Regimentskassen, dies ist der Erfolg von der Schnelligkeit Eures Marsches und Eueres Mutes. […] (SF 174)

Soldaten! Ihr habt meine Erwartungen gerechtfertigt. Ihr habt die Zahl durch Eure Tapferkeit ersetzt. Ihr habt den Unterschied zwischen den Soldaten Cäsars und den bewaffneten Schwärmen des Xerxes glorreich gezeigt. In wenigen Tagen haben wir in den drei Schlachten bei Thann, Abensberg und Eckmühl und in den Gefechten bei Peising, Landshut und Regensburg gesiegt. Hundert Kanonen, vierzig Fahnen, 50.000 Gefangene, drei Brückenequipagen, alle Parke des Feindes, die auf sechshundert bespannten Munitionswagen geladen waren, dreitausend bespannte Wagen mit seinem Gepäck, alle Regimentskassen: das ist das Ergebniß der Schnelligkeit Eurer Märsche und Eures Muths. […] (Ausgewählte Correspondenz Napole­ons I. Aus dem Franz. übers. von Heinrich Kurz. Bd. 3. Hildburghausen 1870, S. 210.)

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Neben der ästhetischen Nähe des Filmskripts zu frühen Dramenentwürfen, zum Lesedrama und zu den historischen Quellen finden sich gleichwohl gewichtige Unterschiede. Diese äußern sich in Tendenzen der Verknappung und Ausweitung sowie der Umkehrung der ‚Polgarschen Ebenen‘, bei der die Psychologie reduziert wird. Als gewohnheitsmäßiger Kinogänger33 war sich Schnitzler der besonderen filmästhetischen An­forderungen bewusst, wenngleich er beim Medardus eher auf Dramennähe setzte. Für die Fertig­stellung des eigentlichen Filmskripts hatte Schnitzler ziemlich genau einen Monat benötigt: Mit dem am 6. Februar be­gonnenen Szenario war er am 8. März 1920 „vorläufig zu Ende“ (8.3.1920).34 Während­dessen hielt er „engen Kontakt zur Produktionsgesellschaft“, die „aus­giebig Gelegenheit [hatte], Schnitzler gegenüber ihre Vorstellungen von einer kommerziell aussichts­reichen Adaption des Dramas zu verdeutlichen und auch durchzusetzen“.35 Die ästhetischen wie kommerziellen Ansprüche zeitigen für das Filmskript einerseits Tendenzen der Verknappung. Obgleich Schnitzler knapp 200 ausformulierte Zwischentitel einfügte,36 reduziert der weitgehende Verzicht auf das gesprochene Wort die feingezeichnete Psychologie der Charaktere; demgegenüber tritt die Handlung stärker in den bebilderten Vordergrund. Was im Drama lediglich atmosphärischer Grundierung dient, wird im Filmskript inhaltstragend akzentuiert. So stellt das Filmskript anderer­seits in örtlicher wie zeitlicher Hinsicht eine Ausweitung dar: „die 13 Schauplätze des Dramas werden durch insgesamt 70 Film-locations ersetzt, die zeitliche Abfolge des Geschehens ist in eine eng verknüpfte Sequenz gebracht“.37 Schnitzler führt im Skript aus, was im Drama lediglich teichoskopisch oder berichtend dargestellt werden kann. Und während das große Personal für den Medardus auf der Bühne eher hinderlich war, waren spektakuläre Massen­szenen im Film einer Popularisierung umso förder­licher. Das zwischen Ausweitung und Reduktion changierende Filmskript nimmt somit im Hinblick auf die Publikumswirksamkeit einige tief­greifende Änderungen 33 Vgl. Peter Michael Braunwarth: „Dr. Schnitzler geht ins Kino. Eine Skizze seines Rezep­ tionsverhaltens auf Basis der Tagebuch-Notate“. In: Tatsachen der Seele. Arthur Schnitzler und der Film. Hg. von Thomas Ballhausen u.a. Wien 2006, S. 9–27. 34 Vgl. auch die weiteren Tagebucheinträge vom 6., 7., 9., 13., 15., 16., 18., 20., 21., 23., 25. und 28.2.1920 sowie vom 3., 4., 6. und 9.3.1920 (Tb 1920–1922, S. 19, 21–26). – Sein Entwurf wurde jedoch als „[v]orläufig zu lang“ befunden, „(für sechs Abende sagten die Filmdirectoren); Michel übernimmt die dramaturgische Bearbeitung.–“ (20.3.1920: ebd., S. 35). – Am 15. März 1920 schloss Schnitzler schließlich einen Filmvertrag über den „Medardus“ – und las abends „Urban Gads Filmbuch zu Ende“ (15.3.1920: ebd., S. 33). 35 Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 97. – Vgl. etwa den Hinweis auf eine Konferenz: „Im Projectograph. Med.  Film Conferenz mit Stern, Deutsch, Michel, Reichter, Dr.  Geiringer.–“ (19.2.1920: Tb 1920–1922, S. 21). 36 Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 100, zählt 179 Zwischentitel, doch kommen handschriftliche Ergänzungen hinzu, die eventuell ebenfalls als Zwischentitel zu werten sind. 37 Ebd., S. 99.

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vor. Die gewichtigste ist, dass die ‚Leerstelle Napoleon‘ gefüllt wird. Schnitzler selbst konstatiert, „[d]ass der Film auf Napoleon nicht verzichten konnte und durfte“,38 nicht zuletzt aus Gründen der Popularität, die von den Historienfilmen, die zugleich Ausstattungs- und Kostümfilme waren, ausging. Dadurch verändern sich jedoch „Struktur und Blickwinkel“, denn Schnitzler war teilweise gezwungen, „jenes historische Spektakel [zu] glorifizieren, welches das Bühnenstück distanzierte und persiflierte“. So „musste Bonaparte eine zentrale Rolle in den erotischen Verwicklungen spielen und in all seiner mythischen Größe erscheinen“.39 Glänzt Napoleon im Drama durch Abwesenheit und kann gerade dadurch zu einer übergroßen Figur stilisiert werden,40 so leistet seine filmische Anwesenheit einen Beitrag zur Popularisierung der mythisch gewordenen Kaiserfigur.41 Damit jedoch verkehrte Schnitzler „den subversiven Geschichts-Pessimismus seines Anti-Helden-Dramas hin“ zu einer stärker „affirmativen Historiensicht, die im Massenfilm durch die Darstellung bedeutsamer Taten und faszinierender Individuen vorherrschte“.42 Schnitzler suchte im Filmskript dennoch, der Glorifizierung des Korsen keinen allzu großen Vorschub zu leisten: Betonte er bereits im Drama die Greueltaten des französischen Kaisers,43 so taucht 38 Das „Med Film Gespräch“, so der handschriftliche Vermerk Schnitzlers, findet sich in FF N IV (Mappe 20), Bl. 49–53 [fol. (1)–9]. CUL, A20,13. Das autorisierte Interview wurde abgedruckt in der Neuen Freien Presse Nr. 21218 vom 5.10.1923 (Morgenblatt), S. 15, wieder in SF 316–319. – Teiledition der autorisierten Fassung auch in: Hätte ich das Kino! Die Schrift­ steller und der Stummfilm. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. Hg. von Ludwig Greve u.a. München 1976 (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums 27), S. 198; vollständig wieder in: Arthur Schnitzler (1862–1931). Ma­ terialien zur Ausstellung der Wiener Festwochen 1981. Hg. vom Arthur-Schnitzler-Institut. Wien 1981, S. 17f. sowie in Hans-Ulrich Lindken: Arthur Schnitzler: Aspekte und Akzente. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt a.M. u.a. 21987, S. 119–122. 39 Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 98f. 40 Die zweite Szene des fünften Akts bricht just in demselben Moment ab, in dem Napoleon auf der Treppe des Schönbrunner Schlosses erscheint (vgl. ED 278/DW II, 207). 41 Vgl. die zahlreichen, dem Medardus vorausgehenden und nachfolgenden Napoleon-Adaptionen der Stummfilmzeit, von denen Schnitzler die meisten kannte: Adolf Gärtner, Napoleon und die kleine Wäscherin (1920); Joseph Delmont, M adame R écamier/D es grossen Talma letzte L iebe (1920); Hans Otto, Der H erzog von R eichstadt (1920); Otto Rippert, Gräfin Walewska (1920); Reinhold Schünzel, Der Graf von C agliostro (1921); Erich Schönfelder, Der Stier von Olivera (1921); Hans Otto, Die Schauspieler des K aisers (1921); Abel Gance, Napoleon (1927); Paul Czinner, L iebe/Die H erzogin von L angeais (1927); Lupu Pick, Napoleon auf St. H elena (1929), Hans Behrendt, Danton (1931). Siehe hierzu Ursula von Keitz: „Der Idealheld des Monumentalfilms. Napoleon in der Kinematographie“. In: Mythen der Nationen. Hg. von Rainer Rother. Bd. 2: Film. Berlin 1998, S. 250–267 sowie dies.: „Napoléon von Abel Gance“. In: Historien- und Kostümfilm. Hg. von Fabienne Liptay und Matthias Bauer. Stuttgart 2013, S. 39–50. 42 Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 104. 43 Vgl. ED 202/DW II, 157: „Man erzählt, daß Ihr Kaiser schon während der Schlacht den Befehl gegeben habe, alle tödlich Verwundeten, auch die eigenen, in die Donau zu werfen.“ – Vgl. auch Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 53f.

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dieser im Drehbuch als unbarmherziger Kriegsherr auf, für den das Bombardement Wiens und die brennende Stadt nicht mehr als ein „interessantes Schauspiel“ darstellt, das er seiner Geliebten zum „Empfang“ (SF 217) bietet. Doch werden diese Tendenzen gleichzeitig wiederum unterwandert, da Napoleon nicht als Reinkarnation eines gnadenlosen Kriegsgotts dar­gestellt wird, sondern als Feldherr, der selbst im Schlachtengetümmel noch „Trostworte“ für den sterbenden Marschall Lannes findet, „ihm die Hand [drückt]“ (SF 233). Diese humane Geste verbindet ihn gar mit Medardus, der zuvor dem verwundeten Bargetti, einem Hauptmann der Bürger­miliz, ebenfalls die Hand drückt.44 Ferner wird Napoleon auch der Rolle des Liebhabers gerecht, der im Duett der Blicke zwischen Helene und ihm zu be­stehen weiß,45 während Medardus „Aug in Aug“ mit der Prinzessin von Valois „[u]nter ihrem Blick […] seine Willenskraft [verliert]“ (SF 221). Mit der Einführung einer weiteren Figur, der Gräfin Maria Walewska, nimmt Schnitzler eine zusätzliche Änderung seiner dramatischen Historie vor. Zum einen hoffte er vielleicht, zeitgenössische Popularisierungen dieser Gestalt zu nutzen,46 zum anderen werden durch sie Napoleons ob­sessive Liebschaften, die im Drama nur angedeutet werden,47 weiter ausgemalt; der Gräfin kommt der Part einer eifersüchtigen, da entthronten Mätressenkönigin zu: Natürlich ist sie „durch Helenens Anwesenheit sofort be­­un­ ruhigt“ (SF 231), dem Blick Napoleons auf Helene folgt ein „Blick zwischen den beiden Frauen“ (ebd.) und schließlich wird der „Eifersucht der Gräfin Walewska“ (SF 248) viel Raum während einer Konzert­vorführung in Schönbrunn gewidmet, die damit endet, dass sich Walewska „ostentativ aus dem Saal [entfernt]“ (SF 249). Gezeigt wird aber nicht nur eine erboste Eifersüchtlerin, sondern der Einfluss des Erotischen auf die Politik, wenn Helene in einer Zwischenpause der Darbietung „für meine Eltern die Bewilligung zur Rückkehr nach Frankreich“ (ebd.) von Napoleon zu erwirken sucht. Schnitzler sucht somit Schnittpunkte zwischen dem persönlichen Schicksal des Medardus bzw. der Helene und der Weltgeschichte zu konstruieren,48 wobei es ihm nicht um historische Akkuratesse ging, sondern um 44 Vgl. SF 218. 45 Vgl. SF 231: „Erster Blick zwischen ihnen. Kurzes Gespräch. […] Blicke Napoleons auf sie.” – Ebd.: „Wir werden uns wiedersehen, Frau Marquise.“ 46 Vgl. neben der Tragödie Herbert Eulenbergs: Anna Walewska. Berlin 1899, die Schnitzler kannte, etwa die trivialisierenden Romane von Robert Heymann: Ein Liebestraum: Napoleon I. Die Gräfin Walewska. Historischer Roman. Leipzig 1913 (Aus dem Liebesgarten gekrönter und ungekrönter Häupter 1), Willy Rath: Gräfin Walewska: Ein Roman aus Napoleons Liebesleben. Berlin 1921 oder Frank Attmannsbacher: Gräfin Walewska, die Geliebte Napoleons I. Roman. Heidenau-Nord [1921] (Frauen der Liebe 1) sowie die Verfilmung Gräfin Walewska von 1920 unter der Regie Otto Ripperts. 47 „Nun, die Marquise gilt als die Geliebte oder als eine der Geliebten Napoleons.“ (ED 272/ DW II, 203). 48 Vgl. Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 105f.

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eine melodramatische, filmisch wirksame ménage à quatre zwischen Gräfin Wa­lewska, Helene, Medardus und Napoleon, doch geht dieses „Zusammen­ treffen zwischen historischer und fiktiver Welt“49 nicht spannungsfrei auf.50 Schnitzler berücksichtigt dabei ansatzweise filmtechnische Fragen und impliziert etwa bestimmte Einstellungsgrößen und Kameraperspektiven, ohne dies jedoch explizit mit filmtechnischem Vokabular zu belegen. Doch wäre etwa der „Blick gegen die Vorstädte zu“51 als extreme Totale zu denken, und Ähnliches gilt für Massenszenen, in denen die Volks- oder Menschen­ menge gezeigt wird.52 Wird die „Wirkung der Proklamation auf die Menge und auf die Einzelnen“ (SF 175) dargestellt, so könnte Schnitzler hierbei an sich nähernde Einzeleinstellungen gedacht haben, die sich von einem panorama­tischen Überblick dem Einzelnen im allgemeinen, sodann dem Sattlermeister Eschenbacher im besonderen nähern, somit in einer Supertotalen beginnen und in einer Halbtotalen enden. Einen noch detaillierteren und damit subjektiven und emotionalen Kamerablick – Naheinstellung oder gar Großaufnahme – fordert Schnitzler, wenn Agathe im Bild erscheint, „deren Gesicht Ungewissheit, Freude, Angst verrät“ (SF 185), sich „[i]n den Mienen Assalagnys“ (SF 198) Zweifel lesen lassen oder Eschenbacher etwas ahnt (SF 208). Vielleicht gelangt in einer Briefstelle Schnitzlers Bewusst­sein für filmtechnische Fragen am deutlichsten zum Ausdruck: „Die hochmütig-mörderischen Hände müssen einmal in Grossaufnahme zu sehen sein“.53 Zu den Einstellungsgrößen treten Angaben Schnitzlers, die Rückschlüsse auf den visuellen Standpunkt der Kamera und damit des Zuschauers erlauben. Ob indes Schnitzler die Ansicht des Filmtheoretikers Béla Balázs, dass „[j]eder visuelle Standpunkt […] einen seelischen Standpunkt [bedeutet]“,54 teilte, lässt sich der Korrespondenz zwischen Balázs und Schnitzler nicht entnehmen.55 Als etwa der von den Franzosen gesuch49 Ebd., S. 107. 50 Vgl. etwa die Schlussszene, in der anstatt des napoleonischen Stellvertreters, General Rapp, der Kaiser selbst den narrhaft in seiner vermeintlich schicksalshaften Fügung verharrenden Medardus aufsucht, „eine Weile regungslos“ verharrt, dem „Medardus ins Auge [sieht]“ und schließlich „die Achseln [zuckt]“ (SF 260). – Neben Zwischentiteln, die sich am Drama orientieren, und der Tendenz zur historischen Kostümierung ist für das Filmskript ferner die Sprache der Blicke bestimmend: So erblicken François und Agathe einander sich verliebend zum ersten Mal, während Agathes angstvoll fragender Blick bald darauf die Wahrheit errät; Eschenbacher und Frau Klähr blicken den Kindern nach, die Fischer auf den Fluss – die Aufreihung ließe sich fortsetzen; vgl. auch Sibylle Saxer: ‚Die Sprache der Blicke verstehen‘. Arthur Schnitzlers Poetik des Augen-Blicks als Poetik der Scham. Freiburg 2010. 51 SF 212. Vgl. auch 213 und 216. 52 Vgl. etwa SF 175–177, 180, 215–219, 235f., 241, 243–245 oder S. 254–257. 53 Greve 1976 (Anm. 38), S. 200. 54 Béla Balázs: Der Film: Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien 21961 [ED 1949], S. 87. 55 Arthur Schnitzler (2 Br., 2 Bl.) an Béla Balázs, DLA, A:Schnitzler, HS.1985.1.301,1–2, Mappe 282; Béla Balázs an Arthur Schnitzler (4 Br., 5 Bl.), DLA, A:Schnitzler, HS.1985.1.2401,1–4, Mappe 613.

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te Schrämbl-Atlas versteckt werden soll, entwirft Schnitzler eine Szenerie in „Nacht“ und „Mondschein“: „Ein Brunnen. Eschenbacher mit einem Gehilfen zum Brunnen hin. Sie blicken in den Schacht hinab. Der Gehilfe klettert hinein. Er nickt“ (SF 229). Die Kamera muss – will sie das Nicken des Gesellen auf dem Brunnengrund einfangen – eine Vogelperspektive einnehmen und in den Schacht hinabsehen. Weitere Anweisungen lassen auf Schnittvorstellungen Schnitzlers schließen. So spielt die Szene, in der sich Medardus von seiner Familie verabschiedet, zunächst „[i]m Hause Klähr“ (SF 183), sodann „[v]or dem Haustor. Eine Kutsche. Medardus winkt zum Fenster hinauf. Er steigt mit Etzelt ein. […] Der Wagen fährt davon. Wieder im Zimmer“ (SF 185). In einer weiteren Schnittfolge, einer Parallel- bzw. sogar dreifachen Montage kontrastiert Schnitzler den Freitod von Agathe und François mit den Feierlich­keiten in der Donauschenke und den mütterlichen Sorgen; der Zuschauer hat in diesem Fall sogar einen Wissensvorsprung gegenüber den agierenden Personen. Die Anweisungen für die einzelnen Settings lauten: „In der Donauschenke“, „Die Donauauen“, „Vor der Schenke“, „In der Schenke“, „Wieder in den Auen an der Donau“, „Wieder die Schenke“, „Im Hause Klähr“, „Wieder am Fluss“, „Schenke“, „Am Ufer des Flusses“, „Schenke“, „In der Schenke“, „Vor der Schenke“, „Im Hause Klähr“ und „Vor der Schenke“ (SF 187–191). Immer atemloser werden die Wechsel zwischen den drei Handlungsorten, womit neben dem Selbstmord der Liebenden die intuitive Besorgnis Franziska Klährs und das Entsetzen ihres Sohns Medardus abgebildet wird, immer unausweichlicher jagt das tragische Geschehen dem „Ende der ersten Abtheilung (Aktes)“ (SF 192) entgegen. Auch Fragen der Beleuchtung werden ansatzweise berücksichtigt. Vor dem nächtlichen Himmel soll sich das brennende Wien umso deut­ licher abheben, andere Szenen spielen völlig im Zwielicht von „Nacht“ und „Mondschein“ (SF 229f.) oder werden abgedunkelt.56 Statt psychologischer Feinzeichnung sind im Filmskript somit optische Höhepunkte angelegt. Schnitzler machte zwar keine exakten Angaben etwa zu Kostümen, doch ist bisweilen von der Kleidung der Figuren die Rede.57 Überdies sollte der Wagen des Herzogs von Valois „sehr prächtig“ (SF 176) ausfallen, und die Räumlichkeiten, in denen der Film situiert werden sollte – etwa im Konzertsaal, den Gemächern der Gräfin Walewska, 56 Vgl. SF 217. – Nacht herrscht auch, wenn Frau Klähr sich über das Schicksal ihres Bruders erkundigen will (SF 242), beim Begräbnis Eschenbachers (SF 246) und während der Wache an Helenes Leiche (SF 257). – Zur Abdunkelung etwa die Konzertszene in Schönbrunn: „Napoleon tritt ein, setzt sich in einen Armsessel, alle Lichter verlöschen, nur die an den Musikpulten brennen weiter.“ (SF 248). 57 „Einige Studenten als freiwillige Landwehr eingekleidet“ (SF 179); „Dienstmädchen kommt heim, weist auf ihre zerrissenen Kleider, bringt eine Semmel mit“ (SF 237); „Napoleon in Verkleidung durch die Strassen Wiens“ (SF 245).

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dem Arbeitszimmer Napoleons, einem Schlosshof oder auch nur einem Schlöss­chen – erlauben ebenfalls eine prunkvolle Darstellung. Szenen, die im Drama fehlen, werden im Drehbuch ausgeführt – etwa die Hochzeit Helenes, das Duell zwischen Medardus und dem Marquis oder die Schlacht bei Aspern –, um dem Zuschauer ein Spektakel zu bieten. Schnitzler unter­ nahm somit „den Versuch, seine Werke für ein breites Filmpublikum zu popularisieren, indem er kritische Ansätze abschwächte oder gänzlich eliminierte“.58 Diese Tendenz kennzeichnet auch die Kertész-Verfilmung: In ihr blieb nicht viel von der subtilen Anti-Heroisierung übrig; doch finden sich diese „Modifikationen, die das psychologische Drama zum reißerischen Historienspektakel machen, in Schnitzlers Skript […] bereits im Detail angelegt“.59 Im Blick auf Napoleon bedient sich auch der Film zunächst des Mittels der Abwesenheit; erst nach rund der Hälfte der Zwischentitel erscheint der französische Kaiser auf der Leinwand. Im Zwischentitel wird er angekündigt als „Der, vor welchem die ganze Welt zitterte“, sein Name indes elliptisch ausgespart, um den gloriosen Nimbus zu erhalten. In der folgenden Einstellung betrachtet der Zuschauer aus der aufblickenden Frosch­perspektive den Kaiser, der Überlegenheit auf allen Gebieten ausstrahlen soll. Im gleichen Maße, in dem Napoleon als zentrale Figur inthronisiert wird, verlieren andere Figuren an Bedeutung – am deutlichsten Eschenbacher, der zwanzig Minuten vor Filmschluss zum ersten Mal gezeigt wird, um nur wenig später zum Tode verurteilt zu werden. Ein weiteres Charakteristikum sind die zahlreichen Massenszenen, die Kertész inszenierte. So zeigt bereits die erste Einstellung des Films eine marschierende Armee, die von einem Lorbeerkranz gerahmt wird, in der schließlich das „N“ als kaiserliches Initial erscheint; nachdem kurz das Konterfei des österreichischen Kaisers aufblitzt, folgt mit der Fahnenweihe im Stephansdom sogleich eine weitere üppig ausstaffierte Szenerie. Ihren Höhepunkt finden die Massenszenen in der Darstellung der Schlacht bei Aspern: Das Getümmel von Mensch, Pferd, Kanonenrauch und Feuerqualm währt – von keinem Zwischentitel unterbrochen – sieben Minuten lang. Damit traf Kertész den Zeitgeschmack: Die „wirklich grandiose Darstellung der Schlacht von Aspern“ könne sich „wohl mit dem Besten messen […], was bis jetzt auf diesem Gebiet geleistet worden ist“.60 Effektvoll setzte der Regisseur auch die Wirkungen von Licht und Schatten ein, was ebenfalls von der zeitgenössischen Kritik honoriert wurde: Die Bilder „wirken alle wie schöne Reproduktionen von unbekann-

58 Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 86. 59 Ebd., S. 173. 60 Neue Freie Presse Nr. 21219 vom 6.10.1923 (Morgenblatt), S. 7.

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ten Meister­ werken der historischen Malerei“.61 Dabei emanzipiert sich Kertész von den Vorgaben Schnitzlers. Letzterer hatte etwa vorgesehen, das Duell zwischen Medardus und dem Marquis „um die Mittagszeit in der Penzingerau bei dem Forsthaus“ (SF 195) stattfinden zu lassen. Doch statt einer Begegnung um ‚Zwölf Uhr mittags‘ lässt Kertész das Duell „im Wäldchen bei der Post“ – so verkündet der Zwischentitel – zu mitternächtlicher Stunde stattfinden, um so ein „Kabinettstück“62 der filmischen Inszenierung zu schaffen: „Man sieht zuerst in Fernaufnahmen am Waldessaum bei Fackelbeleuchtung die Kämpfenden und eingeschoben die Großaufnahmen der beiden“.63 Um­gekehrt wird beispielsweise die – zudem deutlich ver­knappte – Schrämbl-Episode nicht zu nächtlicher Stunde präsentiert, sondern am helllichten Tag; der Brunnen, in dem die Atlanten versteckt werden, erscheint lediglich einmal in horizontaler Perspektive, als die französischen Soldaten das Kartenwerk bereits gefunden haben. Auch die „hochmütig-mörderischen Hände“, die Schnitzler „einmal in Grossaufnahme“64 sehen wollte, finden nur mit einer deutlichen Akzentverschiebung Eingang in den Film. Ursprünglich rahmte im Lesedrama das Motiv der hochmütigen Hand die Beziehung von Helene und Medardus: Bei ihrer ersten Begegnung auf dem Friedhof fiel die Bemerkung im Zorn und regte Helene dazu an, den Marquis um Vergeltung zu bitten; auch beim ersten, liebezärtelnden Rendezvous erinnert sich die Prinzessin dieses Ausspruchs; und schließlich beschließt das Motiv den vierten Akt, wobei Helene die Gewissheit erlangt, dass sie bei ihrem Plan, Napoleon zu ermorden, wohl auf sich allein gestellt sei.65 Nur vor dem Hintergrund dieser strukturellen Bedeutung wird Schnitzlers Insistieren im Hinblick auf die Ver­ filmung Kertész’ verständlich. Die „stolzen, mörderischen Finger“, so der verwandte Zwischentitel, kehren jedoch lediglich in der Rendezvous-Szene wieder: In einer Naheinstellung liegt der Fokus auf Medardus, der Helene die Hand küsst, die am unteren Bildrand indes nahezu verschwindet. Dies macht ein weiteres Mal deutlich, dass es weniger um psychologische Durchdringung des Geschehens, sondern um melodramatische Inszenierung eines Liebesgeschehens vor populär wirksamer, historischer Kulisse ging. Für diese Kulisse war mit akribischer Genauigkeit Alt-Wien in Szene gesetzt worden; es wurde „wieder lebendig, mit seiner wundervollen abendlichen Silhouette, seinen Basteien und stimmungsvollen Gassen, den 61 Béla Balázs: Schriften zum Film. Bd. 1: ‚Der sichtbare Mensch‘. Kritiken und Aufsätze 1922–1926. Hg.  von Helmut H.  Diederichs, Wolfgang Gersch und Magda Nagy. München u.a. 1982, S. 226 (zuerst in: Der Tag vom 9.10.1923). 62 Die Neue Zeitung Nr. 280 vom 12.10.1923, S. 4. 63 Neues 8 Uhr-Blatt Nr. 2695 vom 9.10.1923, S. 8. 64 Greve 1976 (Anm. 38), S. 200. 65 ED 77f./DW II, 74f. – ED 121/DW II, 103f. – ED 243/DW II, 184.

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stilvollen Bürgerhäusern und arbeiterfüllten Werkstätten“.66 Neben den Kostümen der Schauspieler, welche das beginnende 19. Jahrhundert wider­ spiegelten, sollten insbesondere Architektur und Dekor das historische Kolorit der Epoche visualisieren. Hinzutritt ein lokalpatriotisches Element, indem die „Psychologie der Wiener“, die im Drama noch satirisch karikiert, nunmehr jedoch von kritischen Zwischentönen bereinigt wurde.67 Dies betrifft auch den namengebenden Protagonisten des Films, wobei „alle Elemente des Narren aus seiner Charakterisierung entfernt“68 werden und er stattdessen als patriotischer Held gezeichnet wird – obgleich nicht einmal ein Jahrzehnt zuvor, zu Beginn des Ersten Weltkriegs „die Zeit für diese schwankenden Helden“69 vorbei zu sein schien. Trotz der Erfahrungen der Urkatastrophe konnte der Krieg wieder als ästhetisiertes Schauspiel Einzug auf der Leinwand halten; Béla Balázs begeisterten die „Leichen, die ins Wasser fallen“, und er resümierte: „Dieser Film enthält wahrscheinlich das größte und schönste Kriegsgemälde, das bisher die Kinematographie hergestellt hat“.70 Trotz der gekonnten Inszenierung von Massenszenen, der Beherrschung von filmtechnischen Möglichkeiten, Schnittfolgen oder der Licht­regie zählt der Medardus letztlich nicht zu den Meisterwerken der Stummfilm­zeit, wenngleich Kertész manches erprobte, wovon er in späteren Filmen Gebrauch machen konnte. War bereits die Vorlage sperrig, so auch deren Umsetzung, und dennoch liefert der Medardus an der Nahtstelle der unterschiedlichen Kunstformen Literatur und Kino ein beeindruckendes Muster­beispiel des plurimedialen Austausches.

66 Reichspost Nr. 275 vom 7.10.1923, S. 8. – Vgl. zur Architektur auch den Beitrag von Gerhard Vana: „Burghof und Hofburg. Wien als Bricolage in Der junge Medardus“. In: Wien im Film – Stadtbilder aus 100 Jahren. Hg. von Christian Dewald, Michael Loebenstein und Werner Michael Schwarz. Wien 2010, S. 44–53. 67 Vgl. Anm. 5. – Besonders greifbar wird etwa die Kritik am opportunistischen Verhalten der Wiener in der Figur des uralten Herrn: „Schlagts ihn tot! … Was hat er denn angestellt? … Schlagts ihn tot –!–“ (ED 276/DW II, 206). 68 Bachmann 2003 (Anm. 2), S. 190. 69 Tagebucheintrag vom 5.11.1911 (Tb 1913–1916, S. 148). 70 Balázs 1982 (Anm. 61), S. 226.

IV  Inner- und aussereuropäische Rezeption

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Warum Professor Bernhardi von der Wiener Zensur verboten wurde1 Arthur Schnitzler geriet häufig mit der Theaterzensur in Konflikt. Sein 1896/97 verfasstes Drama Reigen galt als Pornographie und unterlag vor dem Ersten Weltkrieg einem strengen Aufführungsverbot.2 (Die ersten Aufführungen des Stückes Ende 1920/Anfang 1921 in Berlin und Wien lösten dort solche Skandale aus, dass es wegen Erregung öffentlichen Ärger­nisses erneut zu Verboten und Gerichtsprozessen kam.) Als 1899 unter der Direktion Paul Schlenthers am Burgtheater die Uraufführung von Der grüne Kakadu erfolgte – der Einakter mit seiner am 14. Juli 1789 in einer Pariser Spelunke spielenden Handlung stellt eine bissige Satire auf die Ausschweifungen der Aristokratie dar –, führte dies zu empörten Reak­tionen am Wiener Kaiserhof und das Stück musste auf Befehl des damaligen Oberhofmeisters Fürst Montenuovo vom Spielplan genommen werden.3 Es verwundert somit kaum, dass Schnitzler im Verlauf der 1896/97 in Wien pro und contra Theaterzensur geführten Debatte einer der wenigen war, die schlicht und einfach deren Abschaffung forderten. Die Regularien der Theaterzensur im österreichischen Kaiserreich, die 1850 – im Zeitalter des Neoabsolutismus – von Alexander von Bach festgelegt worden waren, hatten 1868 zwar eine leichte Abmilderung erfahren. Doch in ihrer seit 1881 praktizierten Form wurde die Zensurpraxis von den zeitgenössischen Dramatikern und verantwortlichen Beteiligten der Unterhaltungs­ 1 Bei diesem Aufsatz handelt es sich um die leicht überarbeitete Version eines Kapitels aus Jacques Le Rider: La Censure à l’œuvre. Freud, Kraus, Schnitzler. Paris 2015. 2 1903 ließ der Münchner Akademisch-Dramatische Verein als geschlossene Vorstellung drei Szenen aus Schnitzlers Reigen aufführen – und wurde kurz darauf vom Senat der Münchner Universität aufgelöst. Am 13. Oktober 1912 fand eine Aufführung im Kleinen Theater in Budapest statt, die folgenden Vorstellungen wurden jedoch von der Polizei verboten. 3 Das Wiener Burgtheater und die Oper – beides Hoftheater – waren nicht den üblichen Mecha​nis­men der Theaterzensur unterworfen. Die beiden Häuser unterstanden der Kontrol­ le eines dem Oberstkämmeramt zugehörigen Beamten, der jedes Mal dann eingriff, wenn die Selbstzensur der Direktoren ein Stück passieren ließ, das die an das k.k. Hofburgtheater und die k.k. Hofoper in moralischer, ästhetischer und politischer Hinsicht gestellten Anforderungen verletzte.

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industrie weniger und weniger bereitwillig hingenommen. Sie mussten sich bis 1903 gedulden, bevor unter der Regierung Ernest von Koerbers die Theaterzensur umstrukturiert wurde und eine vorsichtige Liberalisierung einsetzte. Das Verbot einer Aufführung von Gerhart Hauptmanns Die Weber – das Drama wurde nach 1894 insgesamt zehn Mal in Wien von der Zensur abgelehnt, bis es schließlich 1904, unmittelbar nach Koerbers Reform, im Carltheater gezeigt wurde – und von Max Halbes Jugend – 1894 von der Wiener Zensur abgewiesen und erst 1901 fürs Volkstheater zugelassen – trieb diesbezüglich die Verzweiflung der Wiener Intellektuellenkreise auf die Spitze.4 1896 bildete sich, angestoßen von sozialdemokratischen Kultur­vereinen, eine „Bewegung gegen die Zensur“.5 Die Theaterzensurpraxis stieß im übrigen nicht nur bei Liberalen und Sozialdemokraten auf wenig Gegenliebe. Sie wurde auch von den Klerikalkonservativen kritisiert sowie den Christlich-Sozialen und Antisemiten, die ihr zu große Laschheit vorwarfen und ihr vorhielten, nichts zu unternehmen, um der Entchristlichung der österreichischen Gesellschaft Einhalt zu gebieten und gegen den „jüdischen Einfluss“ anzukämpfen, der ihrer Meinung nach die Wiener Kultur bedrohte. Im Herbst 1896 schließlich wurde die Kritik an der Theaterzensur in Wien zum großen öffentlichen Diskussionsthema. Ab Januar 1897 veranstaltete eine Gruppe Studenten der Wiener Universität – unterstützt von der sozialdemokratischen Partei – eine Reihe von Vorträgen und Streit­ gesprächen, zu denen Dramatiker, Theaterkritiker und Theaterdirektoren eingeladen wurden. Der erste Vortrag wurde von Edmund Wengraf gehalten – Chefredakteur des Illustrirten Wiener Extrablatts und Mitheraus­ geber der (als Nachfolgerin der Wiener Literatur-Zeitung von 1893 bis 1898 in Wien erscheinenden) Literaturzeitschrift Neue Revue –, in dem dieser klar und deutlich Stellung bezog. Der Theaterzuschauer, so verkündete 4 Trotz dieser Aufführungsverbote für die Theaterstücke der naturalistischen Avantgarde zeigt ein Blick auf die Statistik, dass die niederösterreichische Theaterzensur zwischen 1894 und 1901 keine besonders große Strenge walten ließ: Von den in diesem Zeitraum eingereichten rund 7200 Stücken wurde bei 1 Prozent eine Aufführung verboten, bei 1,5 Prozent wurde sie nur unter der Bedingung erlaubt, dass daran gewichtige Streichungen und Änderungen vorgenommen wurden, bei 14,5 Prozent wurde sie mit der Auflage unbedeutender Korrekturen und Streichungen erlaubt und bei 83 Prozent der Stücke wurde einer Aufführung uneingeschränkt zugestimmt. Vgl. Gertrude Langer-Ostrawsky: „Der Strich des Zensors: die Theaterzensur-Abteilung im Niederösterreichischen Landesarchiv“. In: Sichtungen. Archiv-Bibli­othek-Literaturwissenschaft 6/7, 2003/2004 [Wien 2005], S. 223–251, hier S. 236. 5 Djawid Carl Borower: Theater und Politik. Die Wiener Theaterzensur im politischen und sozialen Kontext der Jahre 1893 bis 1914. Wien 1988, S. 26ff. Vgl. Oskar Friedmann: Der Kampf gegen die Censur. Ein Beitrag zu den freiheitlichen Bestrebungen des österreichischen Volkes, mit einem Brief von Hermann Bahr. Leipzig 1897 (In der 50-seitigen Broschüre findet sich auch ein Nachdruck des Artikels „Die Censur“ von Hermann Bahr, erstmals veröffentlicht in: Die Zeit 10, 9. Januar 1897, S. 27).

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er, habe es nicht nötig, unter die Vormundschaft der Zensur gestellt zu werden, die ihn vor den Meinungen oder Zumutungen eines Schriftstellers „schützen“ wolle. Denn anders als der Leser eines Buchs, der seiner Missbilligung keinen Ausdruck zu verleihen vermöge, habe der Zuschauer eines Theaterstücks durchaus die Möglichkeit, seinen Unmut zu äußern, was zuweilen sogar äußerst geräuschvoll geschehe. „Wir können es nicht hinnehmen“, forderte Wengraf abschließend, „dass in Österreich jene allmächtigen adeligen Herren, die auf allen einflussreichen Posten sitzen, als Theater­censoren zwar die ihren Lebensgewohnheiten entsprechenden Lascivitäten, nicht aber den unseren Volksbedürfnissen angemessenen sozial­kritischen Ernst für theaterfähig erklären. Das mag altösterreichisch sein, aber wir wollen eben nicht mehr altösterreichisch regiert werden … Also fort mit der Censur!“6 Das Neue Wiener Journal berichtete in einer Artikelserie mit dem Titel Die Zensur in Österreich von den weiteren Veranstaltungen zu diesem Thema. Am 5. Januar 1897 legte der Wiener Polizeipräsident Franz von Stejskal den Standpunkt der staatlichen Behörden dar. Am 6. Januar 1897 lösten sich mehrere Redner am Rednerpult ab, darunter Emanuel Engel (Abgeordneter des Reichsrats und Vorsitzender des Jungböhmischen Parlamentarischen Klubs), Ferdinand Kronawetter, ebenfalls Abgeordneter des Reichsrates, Emerich von Bukovics, der Direktor des Volkstheaters, Franz von Jauner, der Direktor des Carltheaters, Friedrich Mitterwurzer, Schauspieler am Burgtheater, und Arthur Schnitzler. Allesamt sprachen sie sich gegen die Theaterzensur aus. Erwähnenswert sind auch noch die Beiträge von Hermann Bahr, veröffentlicht am 9. Januar in Die Zeit, sowie von Erich von Kielmansegg, Statthalter von Niederösterreich, und Adolf von Sonnenthal, Schauspieler am Burgtheater, am 12. Januar 1897. Arthur Schnitzler bezog am radikalsten Stellung gegen die Theaterzensur, deren vollständige Abschaffung er verlangte. Sein Redebeitrag verdient es, hier in Gänze zitiert zu werden, da er unseres Wissens seither nirgendwo mehr veröffentlicht wurde: Dr. Arthur Schnitzler, Schriftsteller. Wie jeder Autor, bin auch ich selbstredend f ü r die Abschaffung der Bühnencensur und zwar schon deshalb, weil die Censur bei uns in die Hände von Personen gelegt ist, die für die Kunst kein Verständniss besitzen. Es ist ein offenes Geheimniss: der Censor lässt sich bei uns bei der Beurtheilung des ihm vorgelegten Stückes von allen anderen Rücksichten eher leiten, als von künstlerischen. Er ist a priori gar nicht dazu befähigt, ein Stück künstlerisch zu beurtheilen. Wer sind unsere Censoren? Da werden aufs Gerathewohl Beamte herausgegriffen, die sonst alle 6 Der Vortrag, zunächst unter dem Pseudonym „Vivus“ in der Neuen Revue veröffentlicht, findet sich nachgedruckt in: Friedmann 1897 (Anm. 5), S. 45–49.

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möglichen guten Qualitäten besitzen mögen, nur keine literarischen. Danach wird eben nicht gefragt. In der heutigen Nummer des ‚Neuen Wiener Journal‘ erzählt der Polizeipräsident, dass er Ibsen’s ‚Gespenster‘ seinerzeit in Prag verboten habe. Er verhehlt uns auch die Gründe nicht, von denen er sich hiebei hatte leiten lassen. K ü n s t l e r i s c h e waren es n i c h t . Herr v. Stejskal hielt die ‚Gespenster‘ für ein unsittliches Stück; nun, ich bin in diesem Punkt anderer Meinung, ich halte die ‚Gespenster‘ nicht für unsittlich, aber man mag darüber nun denken, wie man will, Kunst und Sittlichkeit sind verschiedene Begriffe, man darf sie nicht miteinander verwechseln, wie Herr v. Stejskal es in diesem Falle gethan. Freilich, der Staat hat die Meinung und auch die Machtmittel, Alles zu unterdrücken, was ihm nicht in den Kram passt, und ich muss gestehen, solange der Staat von der Voraussetzung ausgeht, dass die Einrichtungen, die er schützen will, durch das freie Wort auf der Bühne gefährdet sind, solange werde ich begreifen, dass er sich des Rothstifts nicht begeben mag, der ihm die Handhabe bietet, das seiner Meinung nach Gefährliche im Keime zu ersticken. Ob das, was dem Stifte des Censors zum Opfer fällt, wirklich danach angethan ist, den Staat in seiner Ruhe zu bedrohen, ist eine andere Frage. Kein Stück der Weltliteratur ist dem Staate gefährlich geworden, auch Beaumarchais’ ‚Figaro’s Hochzeit‘ möchte ich kaum als Ausnahme gelten lassen. Der Figaro hat die französische Revolution nicht erzeugt, er war bloß der zündende Funke. Und ich bin überzeugt, wenn wieder einmal ein Wort geschrieben werden sollte, das ‚trifft und zündet‘, der C e n s o r wird es gewiss n i c h t h e r a u s f i n d e n . D a s ist vor seinem Stifte sicher. Erst wenn es hinausgeflattert sein wird, wird der Censor sich fragen, ‚wo stand denn das Wort. Ich habe es ja gar nicht gelesen.‘.7

Warum aber erfolgte am 24. Oktober 1912 durch die Theaterzensurstelle des Statthalters von Niederösterreich ein Aufführungsverbot für Schnitzlers Professor Bernhardi ? Die literarische Qualität des Stückes, das auf den deutschen Bühnen großen Erfolg haben sollte, die Berühmtheit des Autors sowie die Tatsache, dass seit der Aufführung von Theodor Herzls Das neue Ghetto im Jahr 18988 die Wiener Theaterzensur regelmäßig Dramen genehmigt hatte, die aktuelle Aspekte der sogenannten Judenfrage behandelten, hätten die Zensoren ja viel eher zu einer Erlaubnis bewegen können, möglicher­weise verbunden mit der Auflage, einige Stellen des Textes zu ändern. Auch die Verurteilung des Antisemitismus dürfte der Zensurbehörde durchaus nicht missfallen haben: Seit Ende der 1890er Jahre war sie streng gegen antisemitische Stücke vorgegangen, hatte auf anti-antisemitische Stücke jedoch mit Wohlwollen reagiert. Ein Blick auf die Geschichte des 1898 gegründeten und 1903 in Konkurs gegangenen Kaiserjubiläums-Stadttheaters mit seinem radikal antisemitischen Programm (vom Repertoire antisemitischer Stücke bis hin zu den 7 Arthur Schnitzler: „Die Censur in Österreich. Eine Zeitfrage. II“. In: Neues Wiener Journal, 6. Januar 1897, S. 4 (Hervorh. i.O.). 8 Vgl. Jacques Le Rider: Wien als ‚Das neue Ghetto‘? Arthur Schnitzler und Theodor Herzl im Dialog. Wien 2014.

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ausschließlich nicht-jüdischen Schauspielern und Regisseuren) belegt, dass die Wiener Theaterzensur dem dortigen Direktor Adam Müller-Guttenbrunn die Aufführung zahlreicher Stücke verboten hatte, welche im Verdacht standen, zum Hass auf die Juden anzustacheln und die öffentliche Ordnung zu stören. Das Verbot von Schnitzlers Drama lässt sich zunächst einmal durch die Verschärfung der Zensur aufgrund internationaler Spannungen erklären. Im Oktober 1912 brach der Erste Balkankrieg aus, in dem sich der von Russland unterstützte Balkanbund (Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro) und das Osmanische Reich gegenüberstanden. Zu Recht machte sich Österreich-Ungarn Sorgen wegen seines verlorenen strategischen Einflusses in Südosteuropa sowie der Stärkung des russisch-serbischen Bündnisses. Die Verschärfung der Theaterzensur in Wien ab 1912 war eine unbestreitbare Tatsache: So wurde in den Jahren 1909 und 1911 jeweils nur ein einziges Aufführungsverbot ausgesprochen; 1910 wurde sogar kein einziges Drama verboten. 1912 jedoch wurde sieben Mal die Entscheidung gefällt, ein Stück nicht zu genehmigen.9 Was jedenfalls die Theaterzensur betrifft, so bestätigen die Vorkriegsjahre 1912/13 das Karl Kraus’sche Diktum von 1915, „daß dieser Krieg von heute nichts ist als ein Ausbruch des Friedens“.10 Arthur Schnitzler hatte aus vielerlei Gründen wegen der Zensur seine Bedenken. Als er am 17. Juni 1912 das Manuskript von Professor Bernhardi an Alfred von Berger, den Direktor des Burgtheaters, schickte, merkte er in seinem Begleitbrief an, er müsse selbst zugeben, dass das in seinem Stück behandelte Thema dessen Aufführung auf einer k.k. Bühne absolut unmöglich mache. (Br I, 698) Am 23. September teilte er Otto Brahm, dem Direktor des Berliner Lessingtheaters, eine gute Nachricht mit: Sein Profes­ sor Bernhardi sei vom Wiener Volkstheater begeistert aufgenommen worden und für Dezember sei die Premiere geplant. „Wie die Zensur sich zu der Angelegenheit stellen dürfte“, fügte er hinzu, „ist freilich noch nicht abzusehen. Auch eine Verschleppung könnte von dieser Seite drohen, da es ja ohne Zensurarbeit diesmal nicht abgehen dürfte.“ (Br I, 700) Doch konnte sich zu diesem Zeitpunkt keiner der Beteiligten vorstellen, dass die Wiener Theaterzensur eine Inszenierung des Stücks ganz verbieten würde. Schnitzler rechnete vielmehr damit, das Manuskript noch einmal überarbeiten zu 9 Werner Wilhelm Schnabel: „Professor Bernhardi und die Wiener Zensur. Zur Rezeptionsgeschichte der Schnitzlerschen Komödie“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 28, 1984, S. 349–383; S. 353, Anm. 17. 10   Karl Kraus: Die Fackel, 406–412, 5. Oktober 1915, S. 168; Die letzten Tage der Menschheit, Schrif­ ten. Bd. 10. Hg. von Christian Wagenknecht. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 224 (1. Akt, 29. Sze­ne); Aphorismen, Nachts, ‚1915‘, Schriften, Bd. 8. Hg. von Christian Wagenknecht. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1994, S. 425.

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müssen, um den von den Zensoren geforderten Streichungen und Korrekturen Rechnung zu tragen. Eine Verschleppung der Angelegenheit lässt sich der Wiener Zensur jedenfalls nicht nachsagen. Adolf Weisse, der Direktor des Volkstheaters, reichte das Stück am 25. September 1912 beim Preß-Bureau der Wiener Polizei­direktion zur Zensur ein. Es handelte sich dabei um die korrigierten Druckfahnen des Buchs, das im Dezember 1912 im Frankfurter S. Fischer Verlag erscheinen sollte. Der daraufhin an das Zensurbüro des Statthalters von Niederösterreich übermittelte Bericht der Polizeidirektion trägt als Datum den 29. September. In dem Bericht wurde das Verbot einer Aufführung des Stücks am Volkstheater empfohlen, mit der Begründung, dass „die Handlung tief in den Widerstreit der kirchlich-politischen Anschauungen der Gegenwart eingreife, und die Vermutung nicht unbegründet sei, dass die öffentliche Aufführung auch im Zuschauerraum Gegensätze auslösen würde, die mit der öffentlichen Ordnung nicht zu vereinbaren wären.“11 Wie in Koerbers Reform aus dem Jahr 1903 für den Fall, dass der erste Bericht der Polizeidirektion ein Verbot empfahl, vorgesehen, wurde anschließend von der beim Statthalter angesiedelten Zensurstelle eine beratende Kommission hinzugezogen, deren Auftrag es war, die Möglichkeiten eines Kompromisses auszuloten. Dazu zählten insbesondere Änderungs­ vorschläge und Streichungen, die den Text des geprüften Stückes aus Sicht der Zensoren doch noch annehmbar machten. Zu dem Zeitpunkt, als Schnitzlers Professor Bernhardi bei der Wiener Theaterzensur eingereicht wurde, setzte sich dieser Zensurbeirat aus dem Bibliothekar und Kenner der Theatergeschichte Karl Glossy,12 Generalstaatsanwalt Franz Josef von Cischini und dem Statthalterei-Vizepräsident Ludwig Tils zusammen. Karl Glossy empfahl, die Aufführung des Stückes von Schnitzler zu erlauben. Er hob die misslichen Folgen eines Verbots hervor, auf das in Österreich wie auch im Ausland unweigerlich eine Pressekampagne folgen würde. Damit werde nur Werbung für das im Verlagsprogramm des Frankfurter S. Fischer Verlags angekündigte Drama betrieben. Er sollte Recht behalten: Professor Bernhardi wurde im S. Fischer Verlag – gemeinsam mit der Erzählung Casanovas Heimfahrt (erschienen im November 1918) – zum meistverkauften Titel Schnitzlers. Glossy wies auf die Bedeutung des in dem Stück behandelten „ethischen Konflikts“ hin, kritisierte jedoch, dass die Handlung „von der theologisch-philosophischen Seite […] in die Poli11   Zitiert in: Djawid Carl Borower: Theater und Politik. Die Wiener Theaterzensur im politischen und sozialen Kontext der Jahre 1893 bis 1914. Wien 1988, S. 252. 12   Carl Glossy war vor allem als Verfasser einer Geschichte der Wiener Theaterzensur hervorgetreten: Carl Glossy: „Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur“. In: Jahrbuch der Grillpar­ zer-Gesellschaft 7, 1897, S. 238–340.

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tik“ übergreife. Seine Argumentation überrascht, denn er bedauerte mithin, dass das Drama nicht nach dem ersten Akt endet… Darüber hinaus missfielen Karl Glossy die zahlreichen negativen aktuellen Anspielungen sowie die Tatsache, dass in den Formulierungen immer wieder explizit auf die k.k. Monarchie oder „Seine Majestät“ Bezug genommen werde. Am Schluss seines Berichts führte er fünfundsechzig Textstellen an, deren Abmilderung bzw. Streichung er vorschlug.13 Franz Josef von Cischini versicherte, dass er gegen den „Gedanken“ des Stückes grundsätzlich nichts einzuwenden habe, äußerte jedoch seine Vorbehalte hinsichtlich der „übertriebenen“ Schilderung der gegenwärtigen Situation. Wie die Wiener Polizei fürchtete er, dass eine Aufführung des Dramas erregte öffentliche Diskussionen nach sich ziehen würde. Einzelne Streichungen, so lauteten seine Bedenken, könnten die „erwarteten stürmischen Szenen“14 nicht verhindern. Der stellvertretende niederösterreichische Statthalter Ludwig Tils beurteilte das Stück am strengsten. Sein Gutachten ermöglicht es, nachzuvollziehen, warum Schnitzlers Professor Bernhardi eine nicht hinnehmbare Verun­ glimpfung Österreichs vorgeworfen wurde. Das Stück vermittle nämlich ein tendenziöses Bild von der österreichischen Gesellschaft, die dessen Schilderungen zufolge von „Streberei“ und „Prinzipienlosigkeit“ beherrscht sei. Dennoch, so Tils, handle es sich bei der Komödie um kein gewöhnliches Tendenzstück im landläufigen Sinne dieses Wortes; es wird darin nicht etwa eine bestimmte, gegen ganz spezielle Verhältnisse gerichtete animose Absicht verfolgt, sondern in sozusagen umfassender Art und Weise nahezu Alles, was in Österreich für das öffentliche Leben als wichtiger Faktor in Betracht kommen kann, einer überaus scharfen, herben Kritik unterzogen und als durch und durch korrupt und verlogen hingestellt. […] Alles, alles erscheint in dem Stücke entweder von erschreckender innerer Fäulnis zerfressen oder von alberner Rückständigkeit, Feigheit und Intoleranz durchseucht. […] Ein ehemaliger klinischer Professor [Flint] verleugnet seine wissenschaftliche Vergangenheit und weicht in Opportunität schwimmend beständig vor den Klerikalen zurück.15

Führt man sich sämtliche Argumente der Gutachten vor Augen, die schließlich zu einem Aufführungsverbot von Schnitzlers Drama führten, lässt sich feststellen, dass die Verurteilung des Antisemitismus durch das Stück keineswegs der Grund für die Ablehnung durch die Zensoren war. Seit Ende der 1890er-Jahre war die Theaterzensur in Wien ganz offenkundig bemüht, der Aufführung antisemitischer Bühnenwerke einen Riegel vorzuschieben, wohingegen anti-antisemitische Stücke wohlwollend beurteilt wurden. Die 13   Borower 1988 (Anm. 11), S. 253. 14   Zitiert nach: Nikolaj Beier: „Vor allem bin ich ich“. Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk. Göttingen 2008, S. 451. 15   Zitiert nach: Borower 1988 (Anm. 11), S. 254.

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„Religionsfrage“ war genausowenig Anlass für das Verbot: Der „ethische Konflikt“ (um die Formulierung Karl Grossys aufzugreifen) zwischen Professor Bernhardi und Pfarrer Reder im Ersten Akt wurde von den Mitgliedern des Zensurbeirats keineswegs ins Feld geführt, wohl aber schien ihnen der weitere Fortgang der Handlung im Vierten und Fünften Akt missfallen zu haben, in denen man erfährt, dass der Wiener Erzbischof den Pfarrer „irgendwohin an die polnische Grenze“ (DW II, 237) versetzt habe, weil Reder während des Gerichtsprozesses zugunsten von Bernhardi aussagte. Diese Kritik an der katholischen Kirche und ihrer Bereitwilligkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit zu opfern, um klerikalen Politikern einen Gefallen zu erweisen, vervollständigt das von Schnitzler in seinem Drama entworfene finstere Tableau von der Wiener Gesellschaft, in der sämtliche Führungspersönlichkeiten bereit sind, vor den Antisemiten zurückzuweichen. In den Augen der Zensoren kam dies einer nicht hinnehmbaren Verunglimpfung der höchsten österreichischen Institutionen gleich. Das Aufführungsverbot für Professor Bernhardi bestätigte gleichsam ganz offiziell die kritische Sprengkraft des Werks. Als der Berliner Polizeipräsident Anfang November 1912 die österreichischen Behörden um Auskunft darüber erbat, was der Grund für die Entscheidung der Zensurbehörde gewesen sei, gab ihm der niederösterreichische Statthalter zur Antwort, es sei dafür nicht die in der Komödie angeschnittene Religionsfrage entscheidend gewesen, sondern „die tendenziöse und entstellende Schilderung hierländischer öffentlicher Verhältnisse“.16 In Berlin stimmte die Zensur einer Inszenierung des Schnitzler’schen Dramas zu. Die Uraufführung fand dort am 28. November 1912 im Kleinen Theater statt. Bis zum letzten Augenblick glaubte Schnitzler daran, dass Professor Bern­ hardi doch noch, wie geplant, am Volkstheater in Wien gezeigt werden könne. So notiert er am 16. Oktober 1912 in seinem Tagebuch: „Hubert Reusch, vom Volkstheater, der Regie Bernhardi führen soll. Besetzungs­­­fra­ gen, Cen­sur­­­schwierigkeiten, resp. Verzögerungen. (Reusch hat vor 14 Jahren den Karinski im Carltheater gespielt.) […] Reigen, ungarisch in Bu­dapest gespielt, ordinär wie es scheint, polizeilich verboten. –“17 Und einen Tag später findet sich der Eintrag: „V[or]m[ittags] In die Statthalterei, zum Grafen Castell,18 dem Censor. Versprach mir rascheste Erledigung – bis 27. 10. War besonders liebenswürdig. Hatte selbst noch nicht gelesen, doch las er mir aus dem Referat ein paar Stellen vor, die auf die Möglichkeit einer Störung der Ordnung hinwiesen. – N[ach]m[ittags] Ins Volkstheater. Im Bureau mit

16   Zitiert nach: Beier 2008 (Anm. 14), S. 470. 17 Tb 1909–1912, S. 361. 18 Graf Friedrich Bruno zu Castell-Rüdenhausen, Chef der Zensurbehörde.

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Glücksmann,19 Reusch, Weisse (Censur, Besetzung, Termine).“20 Am 18. Oktober erwähnt Schnitzler weitere vorbereitende Treffen im Volks­theater. Am 21. Oktober teilt Glücksmann ihm mit, der Statthalter sei höchstpersönlich im Theater erschienen und habe versprochen, Profes­sor Bernhardi sobald wie möglich selber zu lesen, erwähnt jedoch auch, Cischini habe sich gegen eine Aufführungserlaubnis ausgesprochen.21 Am 23. Oktober, weiterhin davon überzeugt, dass die Zensur höchstens einige Streichungen verlangen würde, sitzt Schnitzler an der Über­arbeitung seines Manuskripts, als ihm durch Glücksmann die Nachricht vom Aufführungs­verbot überbracht wird.22 Wohl in der Hoffnung, die Entscheidung sei noch nicht endgültig, fährt Schnitzler mit der Überarbeitung fort: „Nm. Bernhardi – Striche“,23 notiert er am 26. Oktober. Wenige Tage später, am 30. Oktober, erhält er Kenntnis von einer wegen des Aufführungsverbots ergangenen parlamentarischen Anfrage – „ziemlich scharf“,24 so schreibt er – durch die ihm persönlich unbekannten sozialdemokratischen Abgeordneten Max Winter und Fer­dinand Hanusch. Am 29. Oktober 1912 hatten Hanusch, Winter sowie weitere fünfzehn sozialdemokratische Abgeordnete im Reichsrat eine Verlautbarung unterzeichnet, in der gegen das Aufführungsverbot von Schnitzlers Drama protestiert wurde. Sie forderten darin die Aufhebung des Verbots, eine Reform des Zensurbeirats nach bayerischem Vorbild sowie die Einführung der Möglichkeit, vor dem Oberverwaltungsgericht gegen Entscheidungen der Zensur Einspruch zu erheben, wie dies in Preußen der Fall war.25 19 Heinrich Glücksmann, Regieassistent und Journalist. 20 Tb 1909–1912, S. 361. 21 Ebd., S. 362. 22 Ebd., S. 363. 23 Ebd., S. 364. 24 Ebd. 25 Der vollständige Wortlaut der parlamentarischen Anfrage findet sich abgedruckt in der so­ zialdemokratischen Arbeiter-Zeitung, Jg. 24, Nr. 298, 30. Oktober 1912, S. 8f. In München wurde 1908 ein mit Schriftstellern besetztes Gremium geschaffen, das den Polizeipräsidenten in Fragen der Theaterzensur beriet. 1910 wurde die öffentliche Aufführung von Wedekinds Drama Die Büchse der Pandora verboten (lediglich eine geschlossene Vorführung wurde genehmigt). Wedekind, der eine sehr kritische Einstellung gegenüber dem Zensurbeirat hatte, warf daraufhin den darin vertretenen Schriftstellern vor, ihre Position zu benutzen, um alte Rechnungen mit ihren Konkurrenten zu begleichen oder ihnen missliebige literarische Strömungen auszuschalten. Er versuchte deshalb Michael Georg Conrad, Max Halbe, Thomas Mann sowie weitere Mitglieder zum Austritt aus der Kommission zu bewegen. Conrad und Halbe folgten seiner Aufforderung. Thomas Mann weigerte sich im Dezember 1912 zunächst. Als Wedekind Ende Mai 1913 – nach einem erneuten Aufführungsverbot der Büchse der Pandora – das Gremium erneut angriff, gab Mann schließlich nach. In Preußen war es möglich, gegen eine Zensurmaßnahme vor dem Oberverwaltungsgericht Beschwerde einzulegen. Gerhart Hauptmann erreichte auf diesem Wege am 2. Oktober 1893 die Annullierung des durch den Berliner Polizeipräsidenten ausgesprochenen Aufführungsverbots für Die Weber, die daraufhin ab dem 15. September 1894 am Deutschen Theater gespielt wurden

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Andere Kreise der öffentlichen Meinung begrüßten die Entscheidung der Zensurbehörde, eine Aufführung des Stückes zu verbieten. Die antisemitische Satirezeitschrift Kikeriki, für die Professor Bernhardi eine „Komödie zum Schutze des Judentums“ war, applaudierte mit einem an Schnitzler adres­sierten spöttischen Vierzeiler: „Scheint dir die Wissenschaft das Wahre, / Du bist Arzt, so praktiziere! / Doch uns Christen, Jud, erspare / Jedenfalls dein letzt’ Geschmiere!“26 Und auch die der christlichsozialen Partei nahestehende Zeitung Reichspost veröffentlichte am 3. Dezember 1912 unter der Überschrift „Ein tendenziös-gehässiger Feldzug“27 einen Artikel, der die Zensoren zu ihrem Verbot von Professor Bernhardi beglückwünschte: Gewisse Leute mögen ja in dem Verbote der Zensur eine zu scharfe Maßregel erblicken. Das christliche Volk aber – dies hat die Behörde richtig erkannt – würde dieses Stück nicht ruhig hingenommen haben. Jedermann hätte es als das erkannt, was es ist: eine gehässige, verleumderische Abrechnung mit einem Gegner. Von derartigen Auswüchsen muss die Bühne rein gehalten werden. Man werfe uns nicht Feindseligkeit vor. Für das, was uns von Schnitzler trennt und wahrscheinlich für alle Zeiten trennen muss, ist, um mit Schnitzler selbst zu reden, ‚Feindseligkeit ein zu armes und kleines Wort‘. Es ist von höherer Art und von hoffnungsloserer.

Die deutschnationale, christlichsoziale und antisemitische Presse, dies wird daraus ersichtlich, interessierte an Schnitzlers Stück allein die angebliche „Beleidigung der katholischen Religion“ sowie die Verurteilung des Antisemitismus – zwei Themen, die für die Zensur bei dem Verbot nur eine sekundäre Rolle gespielt hatten. Ist das Bühnenwerk Professor Bernhardi von universeller Bedeutung oder lediglich für das österreichische Publikum interessant? Diese Frage stellte sich Otto Brahm, Direktor des Lessingtheaters in Berlin, als er im September 1912 das ihm von Schnitzler zugesandte Stück las: Ich erkannte die vortreffliche Menschenschilderung, den guten Bau, den famosen Dialog, aber leider auch das uns Fremdartige des Milieus von neuem, das für eine norddeutsche Hörerschaft schwer Eingängige der Voraussetzungen. Die Berliner jüdischen Ärzte sind nicht verfolgt, sie dominieren; wir sind nicht katholisch – ich auch nicht – und so wird der Ausgangspunkt des Stückes und sein Verlauf bei uns weniger fesseln als im Lande des Eucharisten-Kongresses.28 – sehr zum Verdruss von Kaiser Wilhelm II. Vgl. Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982. 26   Kikeriki, 3. November 1912, S. 9. 27   Reichspost, 19. Jg., Nr. 560, 3. Dezember 1912, S. 10f. 28 Zitiert in: Peter Sprengel und Gregor Streim: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Wien u.a. 1998, S. 482. Vom 12. bis 15. September 1912 hatte in Wien der 23. Eucharistische Weltkongress stattgefunden. (Der erste Weltkongress wurde 1881 in Lille abgehalten, auf Anregung von Mgr de Ségur aus dem

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Otto Brahm täuschte sich, wenn er Zweifel daran hatte, ob Professor Bernhardi in Berlin Erfolg haben würde. Schnitzlers Komödie, die dort am 28. November 1912 – aufgrund einer makabren Koinzidenz zugleich Brahms Todestag – im Kleinen Theater ihre Uraufführung erlebte, fand beim Publikum großen Zuspruch. Allerdings hatten mehrere Kritiker Schwierigkeiten mit der Figur des Bernhardi – einem Misanthropen und ‚schwierigen Menschen‘, der die Intrigen, deren Opfer er wird, aufs Schärfste verurteilt, zugleich aber in Passivität und Resignation versinkt und sich weigert, sich dem Kampf der Liberalen gegen die Klerikalen und Antisemiten anzuschließen. In der Schaubühne glaubte Siegfried Jacobsohn bemerkt zu haben, dass das Publikum von der Auflösung im letzten Akt des Dramas enttäuscht gewesen sei. Es habe sich die Figur des Bernhardi nach dem Vorbild von Gutzkows Uriel Acosta oder Ibsens Thomas Stockmann gewünscht,29 einem anitklerikalen Freidenker und Wahrheitsverfechter, und sich in seinen Hoffnungen betrogen gefühlt, als es feststellen musste, dass Bernhardi sich zu kämpfen weigerte. Es ist ganz oesterreichisch und gar nicht jüdisch, aber vielleicht die Tragik des oesterreichischen Juden, daß das Erbteil seines Stammes, ein alttestamentarischer Trotz, schließlich doch immer aufgeweicht wird; daß er merkt, wie es geschieht, wie Gewissen ihn feige, überlegend und scheinbar überlegen macht; daß er sich dessen schämt und seine Scham entweder gar nicht oder nur durch künstlerische Gestaltung überwinden kann.

Jacobsohn beendet seinen Artikel mit einem Seitenhieb gegen die Wiener Zensur, der er eine ans Lächerliche grenzende Ängstlichkeit vorwirft: O du mein Österreich! Du hast das Glück (oder das Unglück), dass deine Ankläger deine Opfer sind. Dass deine Satiriker, statt grimmig zu lachen, ironisch lächeln. Dass sie witzig flackern, statt verzehrend zu flammen. Dass sie statt aufschreckender Streitschriften beruhigende Theaterstücke verfassen, deren Gefährlichkeit du überschätzest, wenn du sie verbietest.30 Umkreis des Comte de Chambord, Verfechter des Sozialkatholizismus und bekannt durch seine gegen das Freimaurertum und den Protestantismus gerichteten Schriften.). 29 Uriel Acosta ist die – dem historischen Uriel da Costa (1585–1640) nachempfundene – Hauptfigur des gleichnamigen Trauerspiels von Karl Gutzkow, das am 13. Dezember 1846 in Dresden uraufgeführt wurde. Aus Liebe zu seiner Schülerin Judith kehrt darin der Philosoph zur Religion seiner jüdischen Vorfahren zurück. In Henrik Ibsens Drama Ein Volksfeind aus dem Jahr 1882 setzt sich der Badearzt Thomas Stockmann bewusst öffentlicher Diffamierung aus, weil er sich weigert, zu vertuschen, dass das Heilwasser des Kurortes verseucht ist. In ihrem Artikel „Professor Bernhardi“ in der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 2. Dezember 1912 rückte auch Berta Zuckerkandl Schnitzlers Stück in die Nähe von Ibsens Drama. 30 Bericht über die Uraufführung der Premiere von Professor Bernhardi im Berliner Kleinen Theater von Siegfried Jacobsohn in: Die Schaubühne, Jg. 8, Bd. 2, H. 49 (3. Dezember 1912), S. 601–608; zitiert nach: Sprengel/Streim 1998 (Anm. 28), S. 484.

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Die Besprechung der Uraufführung durch Fritz Engel im Berliner Tage­ blatt weist in ganz ähnliche Richtung: „Arthur Schnitzler […] predigt, im Wien vom Jahre 1900, die alte Nathansweisheit von der Gleichberechtigung aller Menschen, hat aber nicht die Lust, gegen die Intoleranten etwas intolerant zu werden.“31 Für die Berliner Theaterkritiker war Professor Bern­ hardi so wenig provokant, dass sie über das von der Wiener Theaterzensur ausgesprochene Aufführungsverbot nur staunen konnten. In Wirklichkeit jedoch hatten die österreichischen Zensoren mit dem Verbot weniger Einwände gegen Schnitzlers Antiklerikalismus und Anti-Antisemitismus erhoben als gegen seine ausnahmslos negative Darstellung der österreichischen Gesellschaft und politischen Kultur. Die Berliner Kritiker hätten es lieber gesehen, wenn sich in Professor Bernhardi ein Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit an die Spitze eines Feldzugs gegen die Intrigen der Klerikalen, der Antisemiten sowie sämtlicher Mitläufer gestellt hätte. Stattdessen zeigte Schnitzler in seinem Drama einen Einzelgänger, der sich von allen unverstanden und verraten fühlt, ein Opfer von Niedertracht, Scheinheiligkeit und moralischer Indifferenz, wie sie in sämtlichen Schichten der Wiener Gesellschaften anzutreffen sei. Genau dieser radikale Pessimismus aber war es, den die Wiener Zensoren verurteilten. Schnitzlers Feinde warfen ihm später vor, sein Stück als Nestbeschmutzer in Berlin zur Uraufführung gebracht zu haben. So polemisierte etwa die christlichsoziale Österreichische Volkspresse, herausgegeben von Hermann Bielohlawek, am 8. Januar 1915 gegen das erbärmlichste, allergemeinste, das Österreichertum am tiefsten verletzende Theaterstück ‚Professor Bernhardi‘, [das] zwar nicht in Wien, aber zum Gaudium der Berliner Freiheitlichen aufgeführt wurde. […] Nun weiß aber die ganze Welt, dass der Aufbau des Stückes ‚Professor Bernhardi‘ auf gar keiner Basis beruhen kann, weil sich derlei durch den Freimaurerautor niedergelegte Anschauungen in Öster­reich nie ereignet haben und nie ereignen konnten, sondern bloß der Phantasie des .·. Bruders Arthur Schnitzler entsprungen sind.32

Doch auch in Wien hatten Schnitzler und die Leitung des Volkstheaters die Hoffnung nicht aufgeben, das Aufführungsverbot von Professor Bernhardi doch noch zu Fall zu bringen. Am 28. November 1912, demselben Tag, an dem in Berlin die Uraufführung erfolgte, fand im Festsaal des Öster­ 31 „Der unpolitische Politiker“, Besprechung der Uraufführung von Professor Bernhardi im Kleinen Theater durch Eduard Engel in: Berliner Tageblatt, 29. November 1912; zitiert nach: W. E. Yates: „The Tendencious Reception of Professor Bernhardi. Documentation in Schnitzler’s Collection of Press Cuttings“. In: Vienna 1900, from Altenberg to Wittgenstein. Hg. von Edward Timms und Ritchie Robertson. Edinburgh 1990, S. 108–125; S. 119 (Dokument Nr. 2). 32 Von Schnitzler in seinem Privatarchiv gesammelter Zeitungsausschnitt (wie auch der oben zitierte Artikel aus dem Berliner Tageblatt), aufbewahrt in der Universitätsbibliothek von Exeter; veröffentlicht in: Yates 1990 (Anm. 31), S. 121 (Dokument Nr. 11).

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reichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins eine mit Unterstützung des Verlegers und Buchhändlers Hugo Heller organisierte öffentliche Lesung des Stückes durch den Schauspieler Ferdinand Onno33 statt. Die Be­sprechung dieser Lesung in der Neuen Freien Presse vom 29. November 1912 setzt mit dem Hinweis auf das Aufführungsverbot ein, über dessen Gründe zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur spekuliert werden könne, da die Zensurbehörde ihre Beschlüsse nie öffentlich rechtfertige. Man gehe jedoch davon aus, dass die Gegenüberstellung von Professor Bernhardi und Pfarrer Reder im Ersten Akt sowie die satirisch angelegte Schilderung des Unterrichtsministers Flint zu dem Verbot geführt hätten.34 Da die Koerbersche Reform der Theaterzensur von 1903 die Möglichkeit eingeräumt hatte, gegen eine Entscheidung Beschwerde einzulegen, schrieb Adolf Weisse, der Direktor des Volkstheaters, am 17. Januar 1913 einen Brief an den österreichischen Innenminister, in dem er um Aufhebung des Verbotes öffentlicher Aufführungen von Schnitzlers Drama bat. Wie Schnitzler in einem Tagebucheintrag vom 20. Januar 1913 festhält, liefen vom Verleger und Buchhändler Hugo Heller, der mit dem Grafen Castell gesprochen habe, gestreute Gerüchte, dass man sich auf einen glücklichen Ausgang der Affäre gefasst machen könne. Doch Schnitzler war zu optimistisch: Der Innenminister sprach sich ebenfalls für ein Verbot aus und gab dem Statthalter von Niederösterreich in einem Schreiben vom 25. Januar 1913 die Formulierungen vor, die dieser in seiner Mitteilung an die Direktion des Volkstheaters zu gebrauchen habe. Selbst zahlreiche Streichungen könnten gegen die allgemeine Tendenz des Stücks, die öffentlichen und staatlichen Zustände in Österreich auf herab­setzende und entstellende Weise zu schildern, wenig ausrichten. „Dem gegen­über kann für die Frage der Aufführung des Bühnenwerks dessen litera­rische Bedeutung nicht als entscheidend ins Gewicht fallen.“35 Auf eine Anfrage des – in Böhmen liegenden – Stadttheaters von Reichenberg, das um die Erlaubnis einer Inszenierung von Professor Bernhardi gebeten hatte, verschickte das Innenministerium am 30. Januar 1913 einen Rundbrief an alle cisleithanischen Landespräsidenten und Statthalter, dass das Verbot auf das gesamte Territorium ausgeweitet sei. Auch die Strategie, mit einer „geschlossenen Aufführung“ das Auffüh­ rungsverbot durch die Theaterzensur zu umgehen, scheiterte: Am 10. April 33 Ferdinand Onowotschek, bekannt unter seinem Künstlernamen F. Onno, war 1881 in Czerno­­witz in der Bukowina geboren, begann seine Karriere als Schauspieler in Berlin und Prag und war ab 1910 Ensemblemitglied des Volkstheaters in Wien. 34 „Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi (Vorlesung durch Ferdinand Onno im Ingenieurvereinssaale)“. In: Neue Freie Presse, 29. November 1912, S. 13f., signiert mit „St-g“. Auf den Artikel folgt eine zwar kurze, jedoch begeisterte Kritik der Uraufführung des Stückes am Berliner Kleinen Theater. 35 Zitiert nach Beier 2008 (Anm. 14), S. 458.

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1913 wurde der Neuen Wiener Bühne auch dieser Ausweg untersagt. Der letzte Versuch, die Zensur doch noch umzustimmen, erfolgte Ende November 1913, als der Direktor des Volkstheaters sich in der Angelegenheit an die ehemalige Burgtheaterschauspielerin Katharina Schratt, die Geliebte des Kaisers Franz Joseph I., wandte. Diese habe daraufhin beim Kaiser ein gutes Wort für Schnitzler eingelegt und Franz Joseph habe durch­blicken lassen, dass er durchaus bereit sei, in der Sache einzugreifen. „Der Kaiser hat der Schratt gesagt, die mit ihm (wieso warum mir total unbekannt) über Bernhardi sprach, – er könne was tun, wenn sich nur die Beamten verletzt fühlten“, schreibt Schnitzler am 14. November 1914 in sein Tagebuch, „– wenn es aber wegen der Clericalen verboten sei, müsse es verboten bleiben. […] Kostbar. Echt österreichisch. Wahrscheinlich will der Kaiser F. F. ärgern – anders ist das ‚Interesse‘ nicht zu erklären.“36 Warum sollte sich ausgerechnet der Kaiser für Schnitzlers Drama einsetzen? Schnitzler konnte sich dies, wie er in seinem Tagebuch festhielt, nur dadurch erklären, dass Franz Joseph I. damit Erzherzog Franz Fer­ dinand entgegentreten wollte, der für seinen Antisemitismus, seine Nähe zur klerikal-konservativen Partei, seinen überzogenen Patriotismus und seine feindselige Haltung gegenüber der Moderne in Kunst und Literatur bekannt war. Doch musste ganz offensichtlich den Klerikalen Genüge geleistet werden: Der Standpunkt der Zensur änderte sich jedenfalls nicht. Am 16. April 1913 fand anlässlich einer Tournee des Berliner Kleinen Theaters eine Aufführung von Professor Bernhardi in Budapest statt. Dass dies überhaupt möglich war, ist Beweis für die mangelnde Reichweite der Wiener Zensur auch über die Ufer der Leitha hinaus. Als jedoch kurz darauf eine Aufführung derselben Inszenierung in Preßburg-Bratislvava stattfinden sollte, war die Absicht der Organisatoren (der Leitung des Wiener Volkstheaters sowie des Verlegers Hugo Heller), damit der Wiener Zensur ein Schnippchen zu schlagen, zu überdeutlich zu erkennen, um die ungarischen Behörden nicht in Unruhe zu versetzen: Für das Wiener Publikum sollten bei der Vorstellung zwei Drittel der Karten reserviert werden sowie eine entsprechende Anzahl von Plätzen auf einem Separatdampfer, um per Schiff von Wien nach Preßburg zu fahren. Die Rückfahrt am Abend sollte mit dem Zug erfolgen. Das Aufführungsverbot durch das Theaterkomitee des Preßburger Stadtrats erfolgte am 29. April. Auf Bitten der Veranstalter trat das Theaterkomitee noch ein zweites Mal zusammen und bekräftigte das Verbot. Als offizieller Grund wurde hierfür angegeben, dass ein Stück, das die Religion herabwürdige und deshalb in ganz Cisleithanien verboten sei, nicht in Preßburg aufgeführt werden dürfe. 36 Tb 1913–1916, S. 74. Mit „F. F.“ ist der Thronerbe Erzherzog Franz Ferdinand gemeint.

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Berta Zuckerkandl, die für die Wiener Allgemeine Zeitung unter der Überschrift „Die Zeit des ‚Professor Bernhardi‘ ist 1913“ über den Vorfall berichtete,37 sah in dem Verbot der in Preßburg geplanten Aufführung die Aktualität von Schnitzlers Schauspiel bestätigt. Die Wochenzeitung Der Morgen. Wiener Montagblatt versah ihren Artikel zu der Preßburger Affäre mit der ironischen Überschrift: „Österreich und Ungarn so einig wie noch nie!“38 In der liberalen Tageszeitung Neues Wiener Tagblatt schlug Robert Hirschfeld in seinem „Innere Zensur“39 überschriebenen Kommentar kritische Töne an, indem er darauf hinwies, dass das Verbot die beste nur denkbare Werbung für das bei S. Fischer erschienene Stück sei; die Wiener Theaterzensur habe dem Verlag damit einen großen Gefallen erwiesen. Mit einer „inneren Zensur“, die mächtiger sei als diejenige durch die Behörden, solle das Publikum sich jedoch von diesem Bühnenwerk abkehren. Denn Professor Bernhardi, so Robert Hirschfeld, beleidige den guten Geschmack, da der Autor darin in Form einer Komödie das Sakrament der Letzten Ölung behandle. Schnitzlers Mitstreiter würden sich über die Intoleranz der Zensur empören; die wahre Toleranz bestehe laut Robert Hirschfeld jedoch darin, die religiösen Auffassungen zu respektieren und sich davor zu hüten, solche Themen an einem Ort zu diskutieren, der dafür überhaupt nicht geeignet sei, nämlich auf dem Theater. Auszüge dieses Artikels wurden am 1. Mai 1913 unter der Überschrift „Ein Jude über ‚Professor Bernhardi‘“ auch im Preßburger Tagblatt abgedruckt. Für die antisemitische Presse war das erneute Scheitern Schnitzlers und seiner Mitstreiter ein gefundenes Fressen. Unter der Überschrift „Schnitzlers ‚Professor Bernhardi‘ in Preßburg verboten.“40 veröffentlichte Kikeriki am 11. Mai 1913 eine Karikatur von Schnitzler – versehen mit den antisemitischen Stereotypen einer Hakennase und tückisch funkelnden Augen –, wie er auf den Befehl eines Gendarmen hin Preßburg verlässt, während mit Kaftan und dem schwarzen Hut der orthodoxen Juden bekleidete Gestalten ihm von der Burg der Stadt aus abschiednehmend nachwinken. Als Bildunterschrift finden sich die Worte „Muss i denn, muss i denn zum Städtele ’naus, / Und du mein Schatz bleibst hier“,41 die ersten beiden Verse des 1827 von Friedrich Silcher komponierten Volkslieds. Erst nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie konnte Schnitzlers Drama schließlich in Wien aufgeführt werden. Die Erstaufführung fand am 21. Dezember 1918 im Volkstheater statt. Zwar war die „Welt von ges37 Berta Zuckerkandl: „Die Zeit des Professor Bernhardi ist 1913“. In: Wiener Allgemeine Zeitung, 30. April 1913. 38 „Österreich und Ungarn so einig wie noch nie!“. In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, 5. Mai 1913. 39 Robert Hirschfeld: „Innere Zensur“. In: Neues Wiener Tagblatt, 30. April 1913. 40 „Schnitzlers Professor Bernhardi in Preßburg verboten.“. In: Kikeriki, 11. Mai 1913, S. 3. 41 Karikatur abgebildet in: Yates 1990 (Anm. 31), S. 112.

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tern“ verschwunden, doch die Theaterzensur bestand unverändert fort und das Räderwerk der Behörden funkionierte unbeirrt weiter. Am 9. November 1918 hatte die Wiener Polizeidirektion einen Bericht an das Präsidium der niederösterreichischen Landesregierung übermittelt, in dem darauf hingewiesen wurde, dass das Aufführungsverbot des Stückes am 25. Januar 1913 vom Innerministerium zwar erneuert worden war, es unter den gegen­ wärtigen Verhältnissen jedoch nicht mehr geboten sei, Aufführungen von Professor Bernhardi zu unterbinden. Nach wie vor wurden jedoch am Text signifi­kante Streichungen und Umarbeitungen verlangt. Anfang Dezember leitete die Landesregierung dann, dem üblichen Pro­zedere folgend, die Akte an den Zensurbeirat weiter, der sich weiterhin aus Karl Glossy, Franz Josef von Cischini und Ludwig Tils zusammensetzte. Die Zensoren erstellten gewissenhaft ihre Gutachten. Cischini war der Meinung, Professor Bernhardi habe an Aktualität verloren, was in seinen Augen für eine Aufführungs­ erlaubnis sprach. Tils machte keinen Hehl aus seinem fortbestehenden negativen Urteil über das Stück, das eine bis in die höchsten Kreise durch Skrupellosigkeit, Korruption, Heuchelei und Dummheit gekennzeichnete Gesellschaft schildere. Doch sprach auch er sich aufgrund der gegebenen Umstände schließlich für eine Erlaubnis aus. Wien, Österreich und Europa durchlebten nach dem Ersten Weltkrieg eine der schwierigsten Epochen ihrer Geschichte, aber die Theaterzensur funktionierte immer noch wie in der Belle Epoque. Doch wurde nicht mehr abgewartet, bis die Zensoren grünes Licht gegeben hatten, sondern das Stück war im Spielplan bereits angekündigt und fest eingeplant – Zeichen, dass die Zeiten sich geändert hatten. Die offzielle Erlaubnis traf am 21. Dezember 1918 ein, wenige Stunden bevor im Volkstheater der Vorhang hochging. Die Theaterzensur hatte ihren seit Herbst 1912 gegen Schnitzlers Professor Bernhardi geführten Kampf verloren. Im Dezember 1918 jagte dieses Relikt des alten Kakaniens niemandem mehr Angst ein, und auch das erzwungene öffentliche Einlenken der Behörden überraschte nicht. Wem war damals noch in Erinnerung, dass die Zensoren sich lange Zeit darum bemüht hatten, den Antisemitismus von den österreichischen Bühnen zu verbannen? Als ihnen jedoch eines der besten zeitgenössischen anti-antisemitischen Theaterstücke auf den Tisch kam, hatten sie in Schnitzlers Werk nichts als einen Angriff auf die Ehre und den guten Ruf der herrschenden Eliten sowie der katholischen Kirche erkennen können. Die Wiener Theaterzensur war nicht nur vor den Klerikalen und Antisemiten eingeknickt, sondern hatte dabei auch auf andere Weise ihre Ohnmacht erfahren müssen, denn durch die wiederholten Aufführungsverbote wurde Schnitzlers Drama erst recht zu einem Groß­ ereignis des damaligen österreichischen, deutschen und mitteleuropäischen literarischen Lebens.

Warum Professor Bernhardi von der Wiener Zensur verboten wurde

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Epilog Karl Kraus, sarkastischer Beobachter von Schnitzlers Problemen mit der Zensur Karl Kraus schätzte Arthur Schnitzler nicht, das war seit Die demolirte Lite­ ratur allgemein bekannt. Seinen Artikel „Schnitzler-Feier“42 veröffentlichte er im Juni 1912 in derselben Nummer der Fackel, die mit einer Hommage an den am 14. Mai 1912 verstorbenen, von Kraus zutiefst verehrten August Strindberg einsetzte und in der auch sein berühmter Aufsatz „Nestroy-Feier“ zu finden war. Nestroy zählte für Kraus zu den großen literarischen Vorbildern. Er wurde nicht müde, ihn zu zitieren, zu kommentieren oder aus seinen Werken vorzulesen. Schnitzler dagegen war – anders als Strindberg und Nestroy – für Kraus ein überbewerteter Schriftsteller ganz nach dem Geschmack der eleganten Wiener Gesellschaft, ein Liebling des Feuilletons und der liberalen Zeitungen, die sich – wie die Journalisten der Neuen Freien Presse – deswegen für ihn begeisterten, weil er die großen Themen seiner Zeit so behandelte, dass daran keiner Anstoß nehmen musste. „Er steht zwischen jenen, die der Zeit einen Spiegel, und jenen, die ihr einen Paravent vorhalten: irgendwie gehört er in ihr Boudoir.“43 In Bezug auf Professor Bernhardi klingt die Kraussche Argumentation nicht anders: Wenn Schnitzler von der liberalen Presse bejubelt werde – was allein ihn schon Karl Kraus zum Feind macht –, dann deshalb, weil er wichtige gesellschaftliche Fragen anschneide (‚Judenfrage‘ und Antisemitismus, Ethik des Arztes vs. religiöse Sitten und Gebräuche), ohne die Provokation jemals zu weit zu treiben. Interessanterweise teilte die Wiener Zensur diese Meinung keineswegs und sah durch das Stück Thron und Altar, ja ganz Österreich beleidigt, wohingegen mehrere Berliner Kritiker wie Kraus argumentierten – so brachten etwa Siegfried Jacobsohn und Eduard Engel ihre Enttäuschung zum Ausdruck, dass Schnitzler nicht, wie erwartet, in seinem Stück klar Stellung bezogen habe, sondern einen verbitterten und resignierten Helden zeige. Im Dezember 1912 widmete Karl Kraus unter der Überschrift „Aus dem Tagebuch einer Verlorenen“44 das erste Mal einen Artikel der Affäre um Professor Bernhardi. „Tagebuch einer Verlorenen“ lautete der Titel eines 1905 veröffentlichten Romans von Margarete Böhme, der Georg Wilhelm Pabst als Vorlage für seinen 1929 fertiggestellten, gleichamigen Film mit Louise Brooks in der Hauptrolle diente. Die „Verlorene“ ist in dem Artikel von Karl Kraus die liberale Presse, allen voran die Wiener Neue Freie Presse, 42 Karl Kraus: „Schnitzler-Feier“. F 351–353, Juni 1912, S. 77–88. 43 Ebd., S. 77f. 44 Karl Kraus: „Aus dem Tagebuch einer Verlorenen“. F 363–365, 12. Dezember 1912, S. 55f.

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deren Feuilleton sich seiner Auffassung nach allen „schmutzigen Kerlen“ hingibt, die als Anzeigenkunden für sie Geld bezahlen. Zugleich jedoch suche sie den äußeren Schein zu wahren, indem sie mit ehrbaren Männerbekanntschaften den Umgang pflegt – in diesem Fall Arthur Schnitzler, der in der Vergangenheit den Mythos des süßen Wiener Mädels erschaffen habe und nun sein Talent zum Moralisten in den Dienst einer Verurteilung von Antisemitismus und Klerikalismus stelle. Wenn die Wiener liberale Presse Schnitzlers Mut lobte, so vergaß sie dabei laut Kraus nur allzugerne, dass sie selbst es war, die „in ihren Personalnachrichten und überhaupt“ unablässig der konservativ-klerikalen Aristokratie schmeichelte und dem Antisemitismus in Wien Vorschub leistete, indem sie tagtäglich mit ihrem Blatt die Korruptheit ihrer (jüdischen) Journalisten und ihres (jüdischen) Herausgebers vor Augen führte. Der letzte Satz des Artikels zielte gegen Hugo Heller, wichtige Persönlichkeit des jüdischen Wiener Bildungs­ bürgertums und Repräsentant jenes liberalen Kultur- und Gesellschafts­ lebens, das Kraus mit beißender Häme überzog. „Aber auch dem Buchhändler Hugo Heller gebührt Dank für das geschickte Arrangement der Vor­lesung.“ Im Februar 1913 setzte Karl Kraus seinen Feldzug gegen Schnitzlers Professor Bernhardi fort. „Fern sei es von mir, den ‚Professor Bernhardi‘ zu lesen“ lautet die Überschrift seiner Glosse, die er mit den Sätzen einleitet: Denn läse ich ihn, ich fühlte mich hingerissen, ihn zu zitieren, und zitierte ich ihn, man läse ihn richtig. Denn ihr alle wisset doch schon, daß die Dinge, die ihr anderorts mit Wohlgefallen betrachtet, hier plötzlich ein anderes Gesicht annehmen, indem sie das werden, was sie sind. Denn mir ist ein Engel erschienen, der mir sagte: Gehe hin und zitiere sie. So ging ich hin und zitierte sie.45

Mit Humor, aber auch einer gehörigen Portion Narzissmus beschreibt Kraus hier sein Verfahren als Schriftsteller und Satiriker, das darin bestand, mit unfehlbarem Instinkt in einem Text den Satz zu finden, der alle Mühen des Autors zunichte machte, die Textstelle, an der sich seine stilistische oder gedankliche Schwäche offenbarte, an der sich die Oberflächlichkeit des journalistischen Geredes, die Dummheit und Verlogenheit eines Politikers aufzeigen ließen. Karl Kraus erwies deshalb Schnitzler einen großen Gefallen, indem er Professor Bernhardi nicht las, da er ihm dadurch die Peinlichkeit ersparte, mit Beweissätzen in der Fackel zitiert zu werden. Er beendet seine Ausführungen mit den Worten: Ich stehe ganz auf dem Standpunkt des humanen Arztes und bin dagegen, daß man dort, wo die Kunst stirbt, es ihr auch noch sage. Und als Priester würde ich ihr nicht einmal Trost spenden und keine Absolution gewähren. Wie die Schnitz45 Karl Kraus: „Fern sei es von mir, den Professor Bernhardi zu lesen“. F 368–369, 5. Februar 1913, S. 1–4.

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lersche Patientin hinter der Szene ist sie verloren, ‚aber glaubt sich genesen.‘ Über­ lassen wir alles Weitere den Freidenkern und bleiben wir im Vorraum.

Karl Kraus hatte demnach Professor Bernhardi nicht gelesen – was ihn jedoch nicht davon abhielt, über das Stück zu reden, so wie ganz Wien offensichtlich über nichts anderes mehr redete und sich über das Aufführungsverbot beklagte. Was Kraus interessierte, war nicht das Stück selbst – das er, wäre es in Wien aufgeführt worden, gar nicht hätte sehen wollen –, sondern der „soziale Tatbestand“, zu dem Professor Bernhardi geworden war. Im März 1913 – am 8. Februar 1913 feierte das Stück erfolgreich Premiere im Münchner Schauspielhaus – forderte Kraus in der Fackel die Wiener Theaterzensur auf, doch endlich eine Aufführung in Wien zuzulassen, damit er, Karl Kraus, im Theater die Möglichkeit zu einer anthropo­logischen Studie habe: Er habe nämlich vor, dabei nicht zur Bühne zu blicken, sondern das Publikum zu beobachten. Nach dem Lob einer Münchner Zeitung – „Wie er Weltanschauungen aufeinanderplatzen läßt, Schnitzler, das sollen sie in München bewundert haben: ‚Das macht ihm unter den lebenden Autoren Deutschlands keiner nach.‘“ – brenne er vor Ungeduld, zu beobachten, wie das Wiener Publikum auf das Schauspiel reagieren werde: Wenn aber der ‚Professor Bernhardi‘ gegeben wird, nehme ich mir einen Sitz, von dem man das Publikum gut sehen und hören kann. Ich werde mir keinen Dialog im Zwischenakt entgehen lassen und die Gesichter der Volkstheaterpremierenleute mir genau bei der Stelle ansehen, wo man deutlich sehen kann wie sie sehen wie die Weltanschauungen aufeinanderplatzen. Mer wird doch da sehn.46

In der Fackel vom 1. April 1913 mokierte sich Karl Kraus über Engelbert Pernerstorfer, sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichsrat sowie Feuilletonist und Theaterkritiker in der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung. Pernerstorfer hatte es Schnitzler hoch angerechnet, dass er in Professor Bern­ hardi „recht deutlich“ gegen „gewisse Wiener Zeitungen“ Partei bezogen habe. Da Pernerstorfer in seinem Artikel aus dem Stück zitierte, übernahm auch Karl Kraus das Zitat. Die Passage, in welcher der Journalist Kulka sich darin nach dem Gerichtsprozess an Bernhardi wendet, lautet wie folgt: KULKA […] Mein Chef würde sich nun eine besondere Ehre daraus machen, Herr Professor, Ihnen die Spalten unseres Blattes zur Verfügung zu stellen. […] Es ist Ihnen gewiss nicht unbekannt, Herr Professor, daß unser Blatt […] sich neuerdings genötigt sah, gegen gewisse überraschende fortschrittsfeindliche, ja geradezu reaktionäre Maßnahmen des Ministers in energischer Weise Front zu machen, wobei stets jene maßvolle Form gewahrt wurde, die uns seit jeher als die Vorbedingung eines gedeihlichen Wirkens auch auf politischem Gebiete erschienen ist. (DW II, 439) 46 Karl Kraus: „Wie er Weltanschauungen aufeinanderplatzen läßt“. F 370–371, 3. März 1913, S. 15f.

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Welche Kühnheit, in der Tat!, lautete hierzu der Kommentar von Karl Kraus. Besonders wenn das Blatt, das sich dies in dem Stück zur besonderen Ehre machte, auch in Wirklichkeit Schnitzler gerne Raum zur Verfügung stellte. „Er braucht nicht zu fürchten, totgeschwiegen zu werden, er arbeitet gleich selber mit. Und der Kritiker braucht die Blätter nicht zu nennen: der Kämpfer hat sie auch nicht genannt.“47 Pernerstorfer hatte es offensichtlich nicht gewagt, die Neue Freie Presse oder irgendeine andere liberale Wiener Zeitung namentlich zu nennen, die sich fortschrittlich gaben, jedoch ängstlich darauf bedacht waren, es sich mit keinem Minister zu verderben, selbst dem reaktionärsten nicht. Und auch Schnitzler schien die Neue Freie Presse nicht verprellen zu wollen, die er als Verbündete zur Festigung seines schriftstellerischen Ruhms brauchte. Das war es, was Karl Kraus den Lesern der Fackel zu verstehen gab, nicht ohne dabei mitschwingen zu lassen, dass er selbst stets jeden mit Namen nenne, während die Neue Freie Presse ihn an die Spitze der schwarzen Liste von Personen gesetzt habe, die von der Zeitung systematisch totgeschwiegen wurden. Eine weitere Erwähnung von Schnitzlers Drama fand in der Fackel vom 8. Mai 1913 statt. Karl Kraus widmet sich darin in einer seiner Glossen den Aufführungen von Professor Bernhardi in Budapest und Preßburg, von denen die eine am 16. April stattgefunden hatte, die andere – für Anfang Mai angekündigte – jedoch vom Preßburger Stadtrat nicht gemehmigt worden war. Kraus zitiert die beiden Anzeigen aus der Neuen Freien Presse, die dort als Vorankündigung am selben Tag – im Morgenblatt und im Abendblatt – geschaltet worden waren: „‚Professor Bernhardi‘. Im Extrazug nach Buda­ pest.“ sowie „‚Professor Bernhardi‘. Im Separatdampfer nach Preßburg.“ Der satirische Kommentar von Kraus machte daraus eine Operetten­ szene, der Darstellung des Aufbruchs nach Kythera in Jacques Offenbachs Die schöne Helena würdig. Sein Spott gilt dabei insbesondere dem umtriebigen Veran­stalter Hugo Heller, der aus dem Kampf für die gute Sache und gegen die Zensur geschickt ein Geschäft zu machen versteht. Letztlich, so Kraus, werde dabei die Zensur ausgenutzt. „Es ist eine Flotten­demonstration der Kultur, für die ein Heller einen Kreuzer ausrüstet, um einen Gulden zu verdienen. Man wird ein Komitee zum Schutze der Zensur gegen Ausbeutung ins Leben rufen müssen.“48 Damit wird die Zensur für Karl Kraus zur eigentlichen „Verlorenen“ und zum Opfer all derer – der Autoren, Verleger, Buchhändler, Theaterdirektoren, Journalisten –, die sich an ihr bereichern. Schlimmer könnte der tiefe Fall dieser altehrwürdigen Instanz kaum sein! Aus dem Französischen übersetzt von Bernadette Ott 47 Karl Kraus: „Schnitzler ist kühn“. F 372–373, 1. April 1913, S. 13. 48 Karl Kraus: „Das Schiff der Kultur“. F 374–375, 8. Mai 1913, S. 41–43; S. 42.

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Schnitzler und die „Uebersetzungs-Miseren“ 1.  Einleitung Der größte Teil von Schnitzlers veröffentlichten Werken wurde zu Lebzeiten des Autors in zahlreiche Sprachen und oft mehrfach übersetzt. Obwohl Schnitzler selber keine Übersetzungsarbeiten unternahm, waren mehrere Personen in seinem Freundes- und Bekanntenkreis als Übersetzer und Literatur­vermittler tätig, und er interessierte sich intensiv für das aus­ ländische Schicksal seines Werkes. Er korrespondierte mit Interessenten aus vielen Ländern, eignete sich gute Kenntnisse zum Thema internationales Urheberrecht an und kontrollierte sorgfältig die künstlerischen und wirtschaftlichen Resultate. Über Aspekte der frühen Schnitzler-Rezeption in Amerika, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, den Niederlanden, Osteuropa und Skandinavien liegen Studien vor.1 Solche lokalen Untersuchungen, die sich in erster Linie damit beschäftigen, den Text in der jeweiligen Zielkultur zu positionieren, gehen aber nicht vergleichend vor und geben daher nur einen fragmentarischen Einblick, wie sich Schnitzler an der internationalen Verbreitung seines Werks beteiligte. Welche Rolle spielten für ihn künstlerische und wirtschaftliche sowie ethische und rechtliche Überlegungen? Inwieweit dachte er prinzipiell oder theoretisch über die Übersetzung nach? Wie be1 Einen Überblick bietet das Kapitel „Internationale Wirkung und Rezeption“. In: Schnitz­ ler-Handbuch, S. 358–379. Sonst hervorzuheben sind: Beatrice M. Schrumpf: The Perception of Arthur Schnitzler in the United States. M.A. thesis, Columbia University 1931; Donald G. Daviau: „The Reception of Arthur Schnitzler in the United States“. In: The Fortunes of Ger­ man Writers in America. Studies in Literary Reception. Hg. von Wolfgang Elfe, James Hardin und Gunther Holst. Columbia, SC 1992, S. 145–165; Karl Zieger: Arthur Schnitzler et la France 1894–1938. Enquête sur une réception. Villeneuve d’Ascq 2012; Katja Krebs: Cultural Dissemina­ tion and Transnational Communities. German Drama in English Translation, 1900–1914. Manchester u.a. 2007, S. 102–123; Yukio Ozawa: Japanisches bei Arthur Schnitzler. Japanische Einflüsse auf Schnitzler und die Rezeption Schnitzlers in Japan. Frankfurt a.M. 1995; Hans Roelofs: „Man weiß eigentlich wenig von einander“. Arthur Schnitzler und die Niederlande, 1895–1940. Amsterdam 1989; Elisabeth Heresch: Schnitzler und Russland. Aufnahme, Wirkung, Kritik. Wien 1982; Margot Elfving Vogel: Schnitzler in Schweden. Zur Rezeption seiner Werke. Uppsala 1979.

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wertete er als Verfasser des Ausgangstexts die Leistung des Übersetzers neben der eigenen – als minderwertige handwerkliche Fähigkeit oder eher als gleichwertige künstlerische Tätigkeit, die ein neues Werk hervorbringt? Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht sind neben Schnitzlers Tagebüchern erstens die hauptsächlich im Deutschen Literaturarchiv (DLA) Marbach a.N. aufbewahrten und nach Ländern geordneten Mappen, die seine Geschäftskorrespondenz enthalten, und zweitens der Briefwechsel mit dem Verleger Samuel Fischer und dessen Mitarbeitern, der in der Cambridge University Library (CUL) liegt. Anhand von diesem Material wird in der folgenden Analyse den oben aufgeworfenen Fragen nachgegangen. Sollte man das fremdsprachliche Schicksal von Schnitzlers Œuvre zu seinen Lebzeiten einleitend umreißen, so könnte als Auftakt die französische Übersetzung der Novelle Sterben stehen, die 1895 in der Genfer Zeitschrift La Semaine littéraire und 1896 in Buchform erschien. Die allerersten Anatol-Übertragungen fielen in diese Zeit, und die Burgtheater­aufführung von Liebelei im Oktober 1895, die Schnitzler zum Durchbruch im deutschsprachigen Raum verhalf, wurde auch im Ausland rezensiert, was im darauf­ folgenden Jahr fremdsprachliche Inszenierungen in Kopenhagen, Mailand, Prag, Stockholm und Verona anregte. Trotz lebhaften Interesses unter inter­national gesinnten Intellektuellen und deutschsprachigen Exilanten setzte sich Schnitzlers Werk nur langsam und zögernd in Frankreich und im englischsprachigen Raum durch – z.B. wurde Liebelei zu Schnitzlers Lebzeiten in der jeweiligen Landessprache nie in Paris gespielt, erst 1905 in New York und 1907 in London. Es war von Land zu Land unterschiedlich, ob Schnitzler vorwiegend als Dramatiker oder als Erzähler rezipiert wurde, aber überall überwog lange das Frühwerk, was das ausländische Schnitzler-Bild verzerren musste. Im Jahre 1911 zieht er realistisch Bilanz: Über meine Stellung im Ausland; daß ich in Rußland und den nordischen Ländern sehr stark, in den romanischen Ländern noch kaum durchgedrungen bin, obwohl oberflächliche Beurtheiler das Gegentheil für wahrscheinlich halten müßten.2

Laut Fischer schien sich Schnitzlers Ruf kurz vor dem Ersten Weltkrieg „in Amerika und in Frankreich zu konsolidieren“,3 aber in allen am Krieg beteiligten Ländern führte der Konflikt eine Zäsur oder mindestens eine Drosselung des kulturellen Transfers herbei, die bis in die frühen zwanziger Jahre dauerte. Während das in der Zarenzeit sehr starke Interesse im bolschewistischen Russland etwas nachließ, stieg sein Ansehen in anderen Ländern, insbesondere in den USA, Frankreich und Japan. Tagebücher und Korrespondenz vermitteln den Eindruck, dass Schnitzler stets danach trach2 Eintrag vom 24.12.1911: Tb 1909–1912, S. 291; vgl. auch den Eintrag vom 30.12.1917: Tb 1917–1919, S. 103. 3 Samuel Fischer an Arthur Schnitzler, 20.12.1912, CUL, B121c.

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tete, die Eingliederung seines Werkes in einen zunehmend inter­national ge­stalteten und multimedialen Kulturmarkt zu fördern. Ein­ladungen nach Amerika lehnte er immer wieder ab, aber er unternahm mehrere Vortragsreisen innerhalb des europäischen Festlands. Schon im Mai 1923 wurde er in Schweden und Dänemark als berühmter Autor gefeiert, wobei seine Ankunft in Stockholm für die Wochenschau gefilmt wurde.4 Zu Hause in Wien empfing er immer mehr ausländische Gäste – Übersetzer, Verleger, Film- und Theaterleute – und hatte öfters Gelegenheit, die eigenen (französischen, englischen und italienischen) Sprach­kenntnisse anzuwenden.5 Obwohl wirtschaftliche sowie rechtliche Aspekte des Übersetzungs­gewerbes Schnitzler von der Jahrhundertwende an viel Ärger bereiteten, bewies er in den letzten Lebensjahren einen gewissen Stolz auf seinen inter­nationalen Ruhm und stellte fremdsprachliche Werkausgaben neben den deutsch­ sprachigen Luxus­exemplaren in seinem Studierzimmer auf, um sie Gästen vorzuzeigen.6

2.  Vermittler-Persönlichkeiten und Übersetzungsalltag In Schnitzlers Freundes- und Bekanntenkreis existierten mehrere Figuren, bei denen die Übersetzer- und Vermittlertätigkeit Bestandteil ihrer künst­ lerischen Identität oder auch eine bedeutende Einnahmequelle war. Als Fallbeispiele bieten sie Einsicht in Modalitäten des Kulturtransfers, mit denen Schnitzler vertraut war und die auch für sein Werk von Belang sind. Als Erster sei der seit 1907 mit Schnitzler befreundete Stefan Zweig erwähnt. Besonders als junger Dichter übersetzte der europäisch gesinnte Zweig intensiv aus dem Englischen und Französischen. Wie er in Die Welt von Gestern erklärt, ging es ihm darum, „den Geist der eigenen Sprache tiefer und schöpferischer zu begreifen. […] Gerade dadurch, daß jede fremde Sprache in ihren persönlichsten Wendungen zunächst Widerstände für die Nachdichtung schafft, fordert sie Kräfte des Ausdrucks heraus, die un­ 4 Zur Vortragsreise siehe „Nachwort“. In: Arthur Schnitzler – Gustaf Linden: Ein Briefwechsel 1907–1929. Hg. von Karin Bang und Ernst-Ulrich Pinkert. Wien 2005, S. 157–160. 5 George Middleton, Präsident der Dramatists Guild of America 1927–1929, der Schnitzler im Mai 1928 besuchte, schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „He spoke three languages, intermingling words and phrases – his French, as I recall, being better than his English“. George Middleton: These Things are Mine. The Autobiography of a Journeyman Playwright. New York 1947, S. 368f. Italienisch sprach Schnitzler vor allem mit dem Schwiegersohn Arnoldo Cappellini, obwohl er gelegentlich auch italienische Übersetzungen seiner Werke las und kommentierte. Schon am 21.10.1908 machte er Cesare Levi auf eine Missdeutung des Wortes ‚Auskommen‘ in seiner Übersetzung des Einakters Die letzten Masken aufmerksam. Arthur Schnitzler an Cesare Levi, DLA, HS.NZ85.0001.01289. 6 Vgl. die Tagebucheinträge vom 4.12.1929, 13.8.1930 und 17.10.1930: Tb 1927–1930, S. 295, 359, 375.

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gesucht sonst nicht zum Einsatz gelangen“.7 Ein solcher Übersetzer unter­ nimmt die Arbeit nicht vorwiegend als sekundäre Dienstleistung für den Autor des Ausgangstextes, sondern gibt sie auf, sobald sie ihm nichts mehr bringt, und neigt dazu, eher eine freie Nachdichtung als eine wortgetreue Übertragung anzufertigen. Ein Übersetzer dieses Zuschnitts war der englische Schauspieler, Dramatiker und Theaterleiter Harley Granville Barker, dessen Anatol (1911) die seinerzeit erfolgreichste Schnitzler-Übertragung war. Barkers Text, seine einzige Übersetzungsarbeit, kündigt sich nicht als „faithful translation“ an, sondern als bühnengerechte „Paraphrase“; auf dem Buchdeckel steht sogar „schnitzler-barker“, was die Nachdichtung ausdrücklich zum Kind zweier Väter macht.8 Schnitzler äußerte sich immer sehr anerkennend über diesen Text, der in den darauffolgenden Jahren ein künstlerisches Eigenleben entwickelte. Ein eher langfristiges Engagement für die fremdsprachliche Literatur beweist der erfolgreiche Bühnenautor Ludwig Fulda, der sich gleichzeitig als Molière-Übersetzer profilierte und sich auch theoretisch mit dem Übersetzen befasste. Jahrzehntelang mit Schnitzler befreundet, veröffentlichte Fulda im Januar 1904 in der Neuen Freien Presse ein zweiteiliges Feuilleton mit dem Titel „Die Kunst des Uebersetzers“.9 Schnitzler gratulierte ihm dazu und nannte die Artikel „glänzend“.10 Bei Fulda findet man vieles, was auch in der heutigen Übersetzungswissenschaft gang und gäbe ist. Er bekämpft den Äquivalenz-Begriff als grob vereinfachend und konzipiert die Übersetzung als Vermittlungsarbeit zwischen nicht austauschbaren kulturellen Systemen. Wohl auf Schleiermachers berühmte Rede „Ueber die ver­ schiedenen Methoden des Uebersetzens“ (1813) zurückgreifend, bespricht er u.a. den Unterschied zwischen einer domestizierenden und einer fremdlassenden Übersetzung: [Das] Ziel kann nämlich entweder sein, eine fremde Welt für uns zu kolonisieren oder diese fremde Welt bei uns zu akklimatisieren; entweder uns in die Heimat des Dichters zu entrücken oder den Dichter an unserem Herde anzusiedeln.11

Dass Bühnenwerke manchmal den Bedingungen der Zielkultur angepasst werden müssen, gibt Schnitzler 1911 in seinem Dankschreiben an Gran­ville 7 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Gesammelte Werke in Einzelbän­ den. Frankfurt a.M. 1981, S. 144. 8 Anatol. A Sequence of Dialogues by Arthur Schnitzler. Paraphrased for the English Stage by Granville Barker. London 1911. 9 Ludwig Fulda: „Die Kunst des Uebersetzers“. In: Neue Freie Presse, 28.1.1904, S. 1–4 und 29.1.1904, S. 1–3. 10 Arthur Schnitzler an Ludwig Fulda, 23.7.1904, Br I, 483. Um diese Zeit veröffentlichte Fulda auch „Tantièmen“. In: Neue Freie Presse, 17.7.1904, S. 1–3. Schnitzler fand diesen Text „in jedem Sinne vorzüglich“ (Br I, 483). 11 Fulda, 29.1.1904 (Anm. 9), S. 2.

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Barker zu,12 und mit Fuldas Behauptung, nur ein Dichter sollte sich an Versübersetzungen wagen, hätte er sicherlich übereingestimmt, denn er reagierte misstrauisch bis direkt ablehnend, wenn ein literarisch unerfahrener Übersetzer für seine Versdramen Interesse zeigte. Des Weiteren unterscheidet Fulda zwischen ‚Dolmetschen‘ als mechanischer, wissenschaftlicher Arbeit und ‚Übersetzen‘ als dichterischem Schaffen: Die Arbeit des Uebersetzers […] beginnt erst da, wo die des Dolmetsch aufhört. Sind beide in einer Person verbunden, um so besser; aber es ist auch sehr wohl denkbar, daß sie zwei verschiedene Personen sind, daß der Uebersetzer das Dolmetschen von einer Hilfskraft sich abnehmen oder wenigstens vereinfachen läßt.13

Obwohl Schnitzlers damaliger französischer Agent Stéphane Epstein ihn vor denjenigen Übersetzern warnte, die wegen mangelnder Sprachkenntnisse auf einen „traducteur assermenté“ angewiesen waren,14 leistete diese bei Dramenübersetzungen immer noch sehr gängige Vorgehensweise Schnitzler gute Dienste, denn Granville Barker konnte kaum Deutsch: „Not ten words of German do I know!“.15 Um Anatol zu übertragen, brauchte er einen ‚Dolmetsch‘, der ihm eine wörtliche Übersetzung zur Verfügung stellte. Diese undankbare Rolle spielte Charles Wheeler, der gut Deutsch konnte, aber von Beruf Homöopath war und weder ein Theater noch einen prominenten Schauspieler für die eigenen Schnitzler-Übertragungen hatte interessieren können.16 Seine Mitarbeiterschaft erfährt man aber nur aus zeitgenössischen Berichten, denn in der Buchausgabe findet sie keinerlei Anerkennung. Fulda vertritt nachdrücklich die Meinung, dass man nur in die Mutter­ sprache übersetzen sollte, da es bei der literarischen Übersetzung vor allem wichtig sei, ein Formulierungskünstler in der Zielsprache zu sein. Wer einzelne Ausdrücke in der Ausgangssprache nicht versteht, darf zum Wörter­ buch greifen, während Schwächen in der Beherrschung der Zielsprache kaum wiedergutzumachen sind und den Ruf des Autors beim Zielpublikum auf lange Sicht beschädigen können. Die vollkommene Doppelsprachigkeit betrachtet Fulda als höchst seltene Ausnahmeerscheinung: „Nicht einmal 12 Arthur Schnitzler an Harley Granville Barker, 9.2.1911, DLA, HS.NZ85.0001.00881. Siehe auch Krebs 2007 (Anm. 1), S. 115–123. 13 Fulda, 28.1.1904 (Anm. 9), S. 4. 14 Stéphane Epstein an Arthur Schnitzler, 25.3.1902, DLA, HS.NZ85.0001.02896. Trotz Nachforschungen war es der Verfasserin in diesem Falle nicht möglich, die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Mögliche Ansprüche eines Rechteinhabers können nachträglich abgegolten werden. 15 Zitiert nach Dennis Kennedy: Granville Barker and the Dream of Theatre. Cambridge 1985, S. 117. 16 C.E. Wheeler an Arthur Schnitzler, 5.1.1903, 13.1.[1903] und 12.7.[1903], CUL, B550.

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polyglotte Erziehung von Kindheit an, nicht einmal langjähriger Aufenthalt im Auslande verbürgen sie“.17 Diese Aufwertung der Muttersprache ist eher für einsprachige Gebiete typisch, während man in mehrsprachigen Ge­bieten dazu neigt, die Spracherwerbsmodalitäten für weniger wichtig zu halten als das erreichte Sprachniveau.18 Es sollte daher kaum überraschen, dass vor allem Schnitzlers britische Briefpartner auf ihr Sprachgefühl als englische Muttersprachler pochten. Beispielsweise stellte Wheeler die sprach­liche Urteils­fähigkeit von Schnitzlers britischem Agenten J.T. (Jack Thomas) Grein in Frage, weil dieser ein gebürtiger Niederländer war: He has done good work in bringing before English audiences masterpieces of Continental writers, but if I may say so – it has always seemed to me that the actual translations he has used have been very bad. You see, as he is not an Englishman he is naturally less sensitive on the point.19

Dagegen scheint Schnitzler, der Grein sogar als englischsprachigen Begutachter einsetzte, die Übersetzer seiner Werke vor allem nach ihrer Sprachkompetenz beurteilt zu haben. Als seine Lebensgefährtin Clara Katharina Pollaczek Fräulein Else ins Französische übersetzte, bestand er darauf, dass ihre Arbeit ohne Namensnennung beim Verlag Stock eingereicht werden sollte, damit sie ohne Vorurteil begutachtet werde. Einige Germanismen wurden vor der Veröffentlichung von der „sozusagen doppelsprachige[n] Gattin“ des Verlegers ausgebessert,20 aber Schnitzler äußerte sich immer sehr positiv zu Pollaczeks Übersetzung, und es ist vielsagend, dass er nach Lektüre einer Arbeit von Suzanne Clauser, die seine alleinberechtigte französische Übersetzerin werden sollte, im Tagebuch notierte: „Die Clausersche Übersetzung Leisenbohg (mit Anmerkungen von C.P.,– die glaub ich eine bessere Französin).–“21 Es ist viel leichter, das Publikum für fremdsprachige Literatur zu interessieren, wenn der Verfasser längst als Klassiker gilt, so wie Molière, als wenn er sogar in der Heimat kaum arriviert ist. Damit die Werke eines solchen zur Aufführung gelangen, bedarf es des Übersetzers, der mit dem ausländischen kulturellen System vertraut ist und als geschäftstüchtiger Agent fungiert. Eine derartige Verbindungsperson in Schnitzlers Freundeskreis war Siegfried Trebitsch, ein Literat zweiten Ranges, der nicht perfekt Englisch konnte und sich gleichwohl ab 1902 als Stammübersetzer George Bernard Shaws etablierte. Zu einem Zeitpunkt, da der Ire dem Londoner Theater17 Fulda, 29.1.1904 (Anm. 9), S. 1. 18 Zu diesem Thema siehe Nike K. Pokorn: „In defence of fuzziness“. In: Target 19, 2007, H. 2, S. 327–336. 19 Wheeler an Schnitzler, 20.7.[1903], CUL, B550. J.T. Grein war Schnitzlers Vertreter für Großbritannien und die Kolonien, 1909–1914. 20 Arthur Schnitzler an Berta Zuckerkandl, 20.11.1926, DLA, HS.NZ85.0001.02282. 21 Eintrag vom 4.12.1928: Tb 1927–1930, S. 209.

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publikum noch fast unbekannt war, setzte er sich im deutschen Sprachgebiet für Shaw ein und schaffte es innerhalb von zwölf Monaten drei Stücke ins Deutsche zu übersetzen, sie 1903 beim Cotta-Verlag zu platzieren und eins davon, Ein Teufelskerl (The Devil’s Disciple), im Wiener Raimund-Theater aufführen zu lassen. Obwohl seine Übersetzungen sogleich auf heftige Kritik stießen, hielt Shaw ihm die Treue, vor allem weil Trebitsch bei seinem internationalen Durchbruch eine so entscheidende Rolle gespielt hatte.22 Wohl der einzige ausländische Vermittler, dessen Leistungen und dauerndes Engagement für Schnitzler mit der Arbeit von Siegfried Trebitsch vergleichbar sind, war Gustaf Linden, der eine Reihe von Schnitzlers Werken ins Schwedische übersetzte, sie auf die Bühne brachte und über zwanzig Jahre lang mit ihm befreundet war. Während Zweig sich in den Vorkriegsjahren mit wenig Erfolg bemüht hatte, seine französischen Kontakte zu Schnitzlers Gunsten zu nutzen, und Trebitsch gelegentlich zwischen Schnitzler und dem Kreis um Shaw und Granville Barker vermittelte, verdient in den zwanziger Jahren die Vermittler­ tätigkeit der Hofrätin Berta Zuckerkandl besondere Hervor­ hebung, insofern sie zahlreiche zeitgenössische französische Stücke für die Reinhardt-Bühne übersetzte und es sich gleichzeitig als Salonnière zur Aufgabe machte, „die geistige Annäherung der sich feindlich gegenüberstehenden Völker energisch [zu] fördern“.23 Als Habitué ihres Salons lernte Schnitzler französische Künstler, Verleger und Theaterdirektoren kennen, und dank dort geknüpfter Verbindungen erschien Pollaczeks Über­setzung von Fräulein Else 1926 beim Pariser Verlag Stock.24 In der Hofrätin ver­ körpert sich die Idee der Übersetzung als ethisch fundierte Tätigkeit. Schnitzlers Ideal war wohl der Dichter-Übersetzer, der Arbeiten von dauerndem Wert wie Barkers Anatol schuf, aber in der Praxis war er zufrieden, wenn er einen tüchtigen, in der Zielkultur stark vernetzten Vermittler fand, der die Übersetzung als Handwerk kompetent betrieb. Denn in fast allen Ländern waren seine ersten Möchtegern-Übersetzer Fans, Privatpersonen, öfters Frauen, mit wenig fachmännischer Erfahrung und noch weniger Kontakten zur Theaterwelt. Mindestens zu Anfang fühlte Schnitzler sich geschmeichelt durch das Interesse an seinem Werk, reagierte naiv-enthu22 Zu den Beziehungen zwischen Shaw und Trebitsch siehe „Introduction“. In: Bernard Shaw’s Letters to Siegfried Trebitsch. Hg. von Samuel A. Weiss. Stanford, CA 1986; Elisabeth Knoll: Produktive Missverständnisse. George Bernard Shaw und sein deutscher Übersetzer Siegfried Trebitsch. Heidelberg 1992. 23 Berta Szeps-Zuckerkandl: Ich erlebte fünfzig Jahre Weltgeschichte. Stockholm 1939, S. 238. Siehe auch Gesa von Essen: „‚Hier ist noch Europa!‘. Berta Zuckerkandls Wiener Salon“. In: Eu­ ropa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons. Hg. von Roberto Simanowski, Horst Turk und Thomas Schmidt. Göttingen 1999, S. 190–213. 24 Karl Zieger: „Arthur Schnitzler und der Verlag Stock“. In: Internationales Archiv für Sozialge­ schichte der deutschen Literatur (IASL) 33, 2008, S. 155–170.

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siastisch auf un­erwartete Angebote, setzte den Übersetzern keine Frist, erkundigte sich kaum über ihre Befähigungen, bat nur um Teilung des eventuellen Gewinns und machte sich keine verlässlichen Aufzeichnungen über getroffene Vereinbarungen. Im Nachlass findet man eine große Menge solcher Korrespondenz, die nur selten zu einer tatsächlich ab­ geschlossenen und auch veröffentlichten Übersetzung führten. Manchmal kam es sogar zu Unannehmlichkeiten – so z.B. zwischen Schnitzler und ‚Christopher St. John‘, dem er ca. 1900 die Übersetzungsrechte für einige Anatol-Einakter gegeben hatte. Nachdem die geplante Veröffentlichung in der Anglo-Saxon Review nicht zustande kam, bemühte sich der Übersetzer, den Schauspieler und Impresario Sir Charles Hawtry für Abschiedssouper zu interessieren; in­zwischen hatte Schnitzler aber die Übersetzungsrechte an den Literaten und Diplomaten Robert Gilbert Vansittart weitergegeben. Christopher St. John bestand aber auf seinen Rechten: I think it would only be fair to tell Mr. Vansittart that if he is in negotiation with managers, he ought to call on me for my translations. I should be quite willing to share the profits of any such negotiations with him, but I will not let my work of the last few years be set aside for his.25

Schnitzler musste sich bei beiden entschuldigen. Merkwürdigerweise stand hinter dem so kämpferischen ‚Christopher St. John‘ eine Frau: die Frauen­ rechtlerin Christabel Marshall, die 1909 das kulturhistorisch interessante Stück How the Vote was Won mitverfassen sollte. Nach und nach entwickelte Schnitzler eine konsequentere Vorgehensweise, was ihn einigermaßen gegen peinliche Vorfälle absicherte. Die Richtlinien formulierte er im Dialog mit seinem Verleger, der ihm bei solchen Angelegenheiten beratend beistand. Im Jahr 1911 tröstete ihn Fischer: „Es gibt wohl kaum einen Autor, der mit Uebersetzungs-Miseren nicht zu kämpfen hat; es kommt eben darauf an, bei den Vereinbarungen mit den Uebersetzern vorsichtig zu Werke zu gehen.“26 Der Verleger vertrat den Standpunkt, dass Übersetzungsrechte zwar ausschließlich, aber befristet sein sollten – wenn die Frist ohne Aufführung oder Veröffentlichung des fremdsprachlichen Textes abgelaufen war, durfte der Autor wieder frei verfügen. Für Schnitzler war die Ausschließlichkeit nicht so selbstverständlich: Sie sagen: Wenn meine Auffassung richtig wäre (dass das Uebersetzungsrecht a priori nicht als ausschliessliches zu gelten habe) so würde sie zu unmöglichen Konsequenzen führen, es würden dann 2 oder mehrere Uebersetzungen existieren, die 25 Christopher St. John an Arthur Schnitzler, 4.11.1903, DLA, HS.NZ85.0001.02694. Trotz Nachforschungen war es der Verfasserin in diesem Falle nicht möglich, die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Mögliche Ansprüche eines Rechteinhabers können nachträglich abgegolten werden. 26 Samuel Fischer an Arthur Schnitzler, 31.3.1911, CUL, B121c.

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miteinander konkurrieren. Ich kann diese Konsequenz nicht so unmöglich finden. Entweder würde die bessere siegen oder der eventuelle Ertrag würde sich eventuell zu gleichen Teilen auf die Uebersetzer verteilen, wenn eben beide Uebersetzungen sich als verwendbar erweisen. 27

Hinter dieser eher ‚darwinistischen‘ Auffassung steht die Angst vor der Entmachtung und dem Einkommensverlust: „Es kann da passieren, dass die Existenz einer miserablen Uebersetzung dem [sic! ] Verfasser des Urtextes ein für allemal von der Möglichkeit ausschliesst in dem betreffenden Land die Früchte seiner Arbeit zu geniessen.“28 Genau dieses Problem – dass für das Zielpublikum die Schwächen der Übersetzung auch diejenigen des Ursprungstexts sein müssen – hatte Fulda identifiziert: Man fragt sich, ob es erlaubt ist, einem fremden Geistesfürsten sein legitimes Gewand auszuziehen, um ihn in armselige, geflickte Lumpen zu hüllen; ob der erste beste Stotterer sich erdreisten darf, uns vormachen zu wollen, wie ein Rede­ gewaltiger zu seinem Volke spricht.29

Trotz seiner Vorbehalte passte sich Schnitzler der gängigen Praxis an und schützte sich so gut er konnte durch aktive Beteiligung. In den Vorkriegsjahren verhandelte Schnitzler immer weniger mit unerfahrenen Privatleuten: „man erhält ja auch meistens nach einer solchen Anfrage kein weiteres Lebenszeichen von ihnen“.30 Wo keine Erfolgs­bilanz vorhanden war, ließ er eine Probearbeit anfertigen und be­gutachten. Im Vertrag zwischen Schnitzler und Fischers amerikanischer Vertreterin Alice Kauser heißt es, seine Werke sollten „von einer literarischen Kraft an­ erkannten Rangs“31 übersetzt werden, und im Vertragsentwurf mit Grein beanstandet er die Formulierung „flüchtige Uebersetzungen“: „Was heisst das, flüchtige Uebersetzungen?“. Mit der Erklärung, gemeint sei eine „oberflächliche Übersetzung, die aber nur eine Idee vom Inhalt eines Stückes o. Romanes geben soll, wenn eine vollkommene Übersetzung nicht existiert“,32 gab er sich nur halbwegs zufrieden. Neben seinen Bedenken gegenüber dem literarischen Niveau von Übersetzungen bemühte sich Schnitzler, die Vollständigkeit und künstlerische Integrität seiner Texte zu verteidigen. Zu seinem Bedauern existierten sowohl Professor Bernhardi als auch Der Weg ins Freie jahrelang nur in stark gekürzten englischsprachigen Ausgaben, und 1908 beschwerte er sich beim dänischen Verleger Peter Nansen, als dessen Übersetzerin 50–100 Seiten aus dem Weg ins Freie streichen wollte: „Das 27 Arthur Schnitzler an Samuel Fischer, 28.3.1911, CUL, B121g. 28 Ebd. 29 Fulda (Anm. 9), 28.1.1904, S. 1. 30 Arthur Schnitzler an Samuel Fischer, 19.10.1912, CUL, B121g. 31 Arthur Schnitzler an Samuel Fischer, 30.12.1909, CUL, B121g. 32 Arthur Schnitzler an Julie Markbreiter, 1.2.1909, DLA, HS.NZ85.0001.01377; Julie Markbreiter an Arthur Schnitzler, 5.2.1909, DLA, HS.NZ85.0001.04000.

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wäre ja dann ein ganz andres Buch als ich geschrieben habe“.33 Das willkür­ liche Ändern von Werktiteln bildete einen weiteren Streitpunkt. Dass z.B. Leutnant Gustl lange unter dem englischen Titel None but the Brave bekannt war, bezeichnete Schnitzler als „zum mindesten überflüssig“.34 Solche Beispiele, die sich leicht häufen lassen, vermitteln eine Vorstellung davon, wie intensiv und wie praktisch sich Schnitzler an der internationalen Ver­ breitung seines Werkes beteiligte. Obwohl er keine theoretischen Überlegungen zur Übersetzungskunst hinterließ, setzte er sich von Fall zu Fall geistig damit auseinander und war stets ein bereitwilliger Gesprächspartner für seine Übersetzer. In manchen Fällen entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen daraus, in anderen war er von der Leistung oder aber von der Unredlichkeit des ausländischen Partners enttäuscht.

3.  Wirtschaftliche und rechtliche Aspekte der Übersetzungsfrage Wie Konstanze Fliedl bemerkt hat,35 kann es als richtungsweisend gelten, dass Schnitzler nach eigenen Angaben um den besten Preis feilschte, als er 1897 Sterben in französischer Übersetzung bei einem Pariser Straßen-Händler fand.36 Jahrzehntelang sollte er auch hart verhandeln, um sein ausländisches Einkommen zu maximieren. Vom Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit an betrachtete sich Schnitzler pragmatisch als geistiger Arbeiter innerhalb des kapitalistischen Wertesystems. Nachdem er die medizinische Privatpraxis aufgegeben und das väterliche Erbe weitgehend aufgezehrt hatte, war er für sein Lebenseinkommen auf seine literarischen Arbeiten angewiesen. Aus dem Briefwechsel mit Fischer ist ersichtlich, dass Schnitzler ein nachhaltiges Interesse an der Vermarktung seines Werkes hatte, an Verkaufs­zahlen und Aufführungsdaten, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch im Ausland. Er führte nach Ländern und Jahren geordnete Listen über die Tantiemen und Honorare, die ihm von fremd­sprachigen Aufführungen sowie Veröffentlichungen in Buchform, in Zeitungen und sonstigen Periodika zugeflossen waren, und gab sich Mühe, seine Buchhaltung auf dem Laufenden zu halten.37 Üblicher­33 „Peter Nansen und Arthur Schnitzler: Der ‚Briefwechsel‘. Editiert und kommentiert von Peter Michael Braunwarth“. In: Literatur und Kritik 38, 2003, H. 375/376, S. 28–34, hier S. 33, Arthur Schnitzler an Peter Nansen, 16.12.1908 (Hervorh. i.O.). 34 Arthur Schnitzler an Anna Eisenmenger, 11.11.1926, DLA, HS.NZ85.0001.00652. 35 Konstanze Fliedl: „Love’s Labour’s Lost: Translations of Schnitzler’s Reigen“. In: Theatre and Performance in Austria. From Mozart to Jelinek. Hg. von Ritchie Robertson und Edward Timms. Edinburgh 1993 (Austrian Studies, 4), S. 61–72, hier S. 61. 36 Vgl. Br I, 322f. und den Tagebucheintrag vom 17.5.1897 (Tb 1893–1902, S. 247). 37 Vgl. CUL, A237, 5, „Verzeichnis der Einnahmen aus fremdsprachigen Drucken”.

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weise teilte er das Honorar zu gleichen Hälften mit dem Übersetzer; Übersetzungs- bzw. Aufführungsrechte waren befristet und wurden nur gegen Kaution verliehen; und bei Theateraufführungen verlangte er einen Prozentsatz der Einnahmen. Sollte der angebotene Prozentsatz zu gering sein, so war er bereit, auf die Aufführung zu verzichten.38 Genauso sympto­matisch wie die Pariser Anekdote scheint der Bericht des japanischen Übersetzers Toyokichi Hata, den Schnitzler im Jahre 1922 persönlich kennenlernte. Laut Hata waren praktisch die ersten Worte des Dichters „Bekomme ich kein Honorar, obwohl in Japan viele meiner Werke übersetzt worden sind?“.39 Nur in den letzten Vorkriegsjahren, in denen er dichterisch sehr produktiv war und seine Dramen viel gespielt wurden, war Schnitzler von Geldsorgen relativ frei; während der ersten Nachkriegsjahre wurde er wie viele Österreicher von der finanziellen Krise stark getroffen. An Heinrich Mann schreibt Schnitzler am 18.10.1920: Ueber die Zustände hier sind Sie ja ziemlich informiert. Zu haben wäre alles, die Preise steigen aber ins Ungeheuerliche. Durch gelegentliche Auslandseinnahmen erhalte ich mich vorläufig ganz leidlich über Wasser.40

Dass er nunmehr auf die ausländischen Einkünfte besonders angewiesen war, betont er im selben Jahr Georg Brandes gegenüber: in Holland, Schweden und auch bei Ihnen [d.h. in Dänemark, JB] wurde einiges von mir gespielt; auch Amerika fängt an, sich zu melden; – und Beträge in nordischen Kronen oder holl. Gulden, die früher gar nicht in Betracht gekommen wären, bedeuten für uns heruntergekommene Oesterreicher schon etwas. (Br II, 214; 16.8.1920)

Wie u.a. aus dem Briefwechsel mit Scofield Thayer, dem Herausgeber der amerikanischen Zeitschrift The Dial, ersichtlich ist, besaß Schnitzler den finanziellen Scharfsinn, darauf zu bestehen, dass Honorare stets in der Fremdwährung bezahlt werden sollten, was ihn einigermaßen gegen den Wertverlust durch die Hyperinflation sicherte.41 Um diese Zeit ver­ suchte er, sich auch neue ausländische Ertragsquellen zu erschließen. Als z.B. Fräulein Else 1924 druckfertig war, erkundigte er sich bei mehreren ausländischen Ansprechpartnern – darunter Thayer in Amerika, Linden in Schweden und Marc Kalckar in Dänemark –, ob eine dortige Zeitschrift oder Zeitung daran Interesse hätte, eine Übersetzung gleichzeitig mit dem 38 Vgl. Roelofs 1989 (Anm. 1), S. 110. 39 Ozawa 1995 (Anm. 1), S. 83. Während Hata 1922 die Frage für berechtigt hält, deutet er sie in seinem Nachruf auf Schnitzler mit der Bemerkung aus, dass „Schnitzler von Kopf bis Fuß Jude“ sei. Ebd., S. 89. 40 Arthur Schnitzler an Heinrich Mann, 18.10.1920, DLA, HS.NZ85.0001.01370. 41 Scofield Thayer an Arthur Schnitzler, 4.12.1921, CUL, B336.

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Erstdruck in der Deutschen Rundschau zu veröffentlichen – was einen Aufschlag auf das übliche Honorar mit sich gebracht hätte. Anders als Stefan Zweig, der ihm 1928 eingestand, er habe beschlossen „zumindest die materiellen kleinen Angelegenheiten wie Uebersetzun­gen selbst laufen zu lassen“, da sonst „auf eine Seite Produktion 15 Seiten Briefe kommen“,42 übergab Schnitzler einem Agenten nur äußerst widerwillig die Vollmacht, Übersetzungs- und Aufführungsrechte zu vergeben. Er verhandelte persönlich mit vielen Übersetzern und Direktoren und ins­besondere mit denen, die er für verlässlich hielt. Wie er am 17.9.1923 Linden erklärte: „Es besteht ja wirklich kein Anlass, dass ich an den Verlag in diesem Falle stets eine Art Steuer abführe, da doch eine Vermittlung absolut nicht notwendig ist“.43 Darüber hinaus forderte Schnitzler auch nach Jahren noch ausstehende Beträge ein. Beispielsweise hatte eine Frau Beatrice Marshall zwei Erzählungen ins Englische übersetzt, die im Januar und Juli 1914 in der angesehenen Fortnightly Review erschienen. Wegen des Kriegsausbruchs bekam Schnitzler das Honorar aber nicht. Als acht Jahre später wieder Gelder zwischen Österreich und Großbritannien hin und her fließen durften, nahm er mit dem Herausgeber W.L. Courtney Kontakt auf. Da sich herausstellte, dass Frau Marshall tatsächlich 42 guineas (£44.20) als Honorar erhalten hatte, verlangte Schnitzler von ihr trotz der Verjährung mit Klageandrohungen die Hälfte der Summe.44 1920 kursierten unter seinen amerikanischen Bekannten sogar Gerüchte, Schnitzler befände sich „in sehr bedauernswerten Umständen“, weil er genau wie bei Frau Marshall energisch versuchte „Honorare, die [ihm] das sogenannte feindliche Ausland schuldig geblieben“ war, einzutreiben. Wie er weh­mütig hinzu­ fügte, hätten die Resultate, wenn er sich „tatsächlich in schlechten Verhältnissen befände, zu deren Verbesserung nicht viel beigetragen“.45 Dass Schnitzler Wachsamkeit und manchmal auch Streitbarkeit aufbringen musste, um bei Übersetzungen und fremdsprachigen Aufführungen seiner Werke am finanziellen Gewinn beteiligt zu sein, erklärt sich in hohem Maße aus dem mangelhaften Zustand des internationalen Urheberrechts. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts existierte noch kein einheitlicher inter­nationaler Schutz des geistigen Eigentums, obwohl die Notwendigkeit eines Abkommens jahrzehntelang diskutiert worden war. Als erster Schritt in diese Richtung gilt die von zehn Staaten (unter ihnen Deutschland und Großbritannien) unterschriebene Berner Konvention von 1886. Bei Über­ 42 Stefan Zweig: Briefwechsel mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitz­ ler. Hg. von Jeffrey B. Berlin, Hans-Ulrich Lindken und Donald A. Prater. Frankfurt a.M. 1987, S. 437, Zweig an Schnitzler, 18.1.1928. 43 Schnitzler/Linden 2005 (Anm. 4), S. 115. 44 Arthur Schnitzler an Beatrice Marshall, 16.10.1922, DLA, HS.NZ85.0001.01380. 45 Arthur Schnitzler an Pierre Loving, 8.5.1920, DLA, HS.NZ85.0001.01345.

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setzungen garantierte sie dem Verfasser des Ursprungs­texts ausschließ­ liches Übersetzungsrecht für die ersten zehn Jahre nach dessen Veröffentlichung. Eine gedruckte Übersetzung war gleichfalls zehn Jahre lang geschützt. In vielen Ländern – darunter in Russland, den Vereinigten Staaten, den Niederlanden (bis 1912) und Österreich-Ungarn – wurde die Berner Kon­vention, die 1896 und 1908 revidiert wurde, nicht anerkannt. Für Russland und die USA als Nettoimporteure von Literatur, die vor allem ihrem Lesepublikum billige Partizipation am Literatur­konsum sichern wollten, wäre die Berner Konvention eher nachteilig gewesen, während der Nicht-Beitritt Österreich-Ungarns auf den Widerstand der nicht-deutschsprachigen Bevölkerungs­ g ruppen zurückzuführen ist.46 Die Re­ publik Öster­reich trat der Berner Konvention im Jahre 1920 als Bedingung des Vertrags von Saint-Germain bei. Deutschland war der Konven­tion schon im Jahre 1886 beigetreten und hatte ab 1902 einen Sonder­vertrag mit Öster­reich-Ungarn. Da der Ort der Veröffentlichung und nicht die Staats­ angehörigkeit des Verfassers ausschlaggebend war, galt für Schnitzlers beim Fischer-Verlag ver­öffentlichte Werke die deutsche Regelung. Die Revisionen von 1896 und 1908 erweiterten den Schutz für Autoren: Ab 1908 galten die Übersetzungsrechte ebenso lange wie die Urheberrechte im Ursprungsland, was für Schnitzlers in Deutschland veröffentlichte Werke bedeutete, dass sie bis fünfzig Jahre nach Ableben des Autors geschützt sein sollten. Der Burgtheaterdirektor Paul Schlenther soll im Jahre 1899, nachdem Schnitzler die Rechtmäßigkeit der Absetzung seines Einakters Der grüne Kakadu resolut bestritten hatte, bemerkt haben, er hätte Jurist werden sollen,47 und tatsächlich gab sich der Schriftsteller erhebliche Mühe, genaue Kenntnisse über die Rechtslage in puncto geistiges Eigentum zu gewinnen. Besonders in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts enthält die Korrespondenz mit dem Fischer-Verlag langwierige Auseinandersetzungen zum Thema Urheber­schutz. Für Schnitzler waren Russland und Amerika ‚Raubstaaten‘, in denen seine Werke für ein ‚Piratenvolk‘ ‚vogelfrei‘ waren. Im Jahre 1906 notiert er wehmütig: „Wenn man hätte, um was man in Rußland, Amerika bestohlen wurde.“48 Dem in Amerika wohnenden Jugendfreund Eugen Deimel schreibt er drei Jahre später: „Ja, wenn ich von Euch in Amerika was bekäm – und wenn ich gar in Rußland bezahlt würde, wo ich mehr gespielt und gedruckt werde als in deutschen Lan46 Sybille Gerhartl: ‚Vogelfrei‘ – Die österreichische Lösung der Urheberrechtsfrage in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts oder Warum es Österreich unterließ, seine Autoren zu schützen. Diplomarbeit. Univ. Wien 1995. 47 Zitiert nach Irène Lindgren: ‚Seh’n Sie, das Berühmtwerden ist doch nicht so leicht!‘ Arthur Schnitzler über sein literarisches Schaffen. Frankfurt a.M. 2002, S. 180. 48 Tagebucheintrag vom 26.11.1906 (Tb 1903–1908, S. 235).

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den, da ließe sich was machen.“49 In Russland, wo er als deutscher Čechov rezipiert wurde, hatte Schnitzler zwar autorisierte Übersetzer (besonders hervorzuheben sind Zinaida Vengerova und Ossip Dymow), aber bei jeder neuen Ver­ öffentlichung konkurrierten mit ihren Arbeiten mehrere un­autorisierte Übersetzungen, die honorarfrei gespielt bzw. gedruckt wurden, und im Jahr 1903 erschienen sogar zwei konkurrierende Gesamt­ ausgaben.50 Stefan Zweig gegenüber beklagte sich Schnitzler noch 1928, er „werde vorläufig von den bolschewistischen Verlegern (auf legalem Wege) genau so bestohlen, wie früher von den zaristischen“.51 In Amerika war die Situation womöglich noch kom­plizierter, denn die Interessen der ausländischen Autoren waren effektiv nicht nur denen des Lesepublikums, sondern auch denen der US-amerikanischen Drucker und Verleger untergeordnet. Gemäß dem International Copyright Act von 1891 (auch Chace Act genannt) wurden bilaterale Vereinbarungen mit Deutschland (1892) und Öster­reich-Un­garn (1907) abgeschlossen. Für Autoren wie Schnitzler waren diese praktisch wertlos, weil eine heiß um­strittene ‚manufacturing clause‘ (Herstellungs­klausel) im Chace Act alle nicht in den Vereinigten Staaten gedruckten Werke von einem ent­sprechenden Rechtsschutz ausschloss. Erst im Jahre 1909 wurden fremdsprachige Werke von der ‚manufacturing clause‘ befreit – eine Revision, die 28 Jahre Schutz vor skrupel­ losen Übersetzern und Direktoren bieten sollte.52 Was die Urheber- und Übersetzungsrechte betraf, erwies sich Schnitzler als pedantisch und zur Prinzipienreiterei neigend, misstrauisch den Mit­ arbeitern des Fischer-Verlags gegenüber und öfters naiv oder unrealistisch in seinen Erwartungen.53 Sowohl in den USA als auch in Unterzeichnerstaaten der Berner Konvention konnte es bei spät rezipierten Frühwerken vorkommen, dass der Autor bzw. seine Agenten keinen Rechtsanspruch, sondern nur einen moralischen Anspruch auf Honorierung geltend machen konnten. In solchen Fällen bestand Schnitzler darauf, dass man das 49 In die Neue Welt… Arthur Schnitzler – Eugen Deimel. Briefwechsel. Hg. von Heinz P. Adamek. Wien 2003, S. 149, Schnitzler an Deimel, 21.9.1909. 50 Angesichts dieser Sachlage scheint es etwas fraglich, wenn Heresch die größere Beliebtheit Schnitzlers in Russland dadurch belegen will, dass bestimmte Werke öfters dort als in Frankreich und Großbritannien übersetzt wurden. Vgl. Heresch 1982 (Anm. 1), S. 49. 51 Arthur Schnitzler an Stefan Zweig, 16.1.1928. Zweig 1987 (Anm. 42), S. 435. 52 Für eine Kurzdarstellung der US-amerikanischen Urheberrechtsgesetze siehe Janice T. Pilch: „U.S. Copyright Relations with Central, East European, and Eurasian Nations in Historical Perspective“. In: Slavic Review 65, 2006, S. 325–348 (insb. S. 328–332). Eine ausführliche Schilderung der Sachlage aus amerikanischer Sicht bietet Robert Spoo: Without Copyrights. Pi­ racy, Publishing, and the Public Domain. New York u.a. 2013. Jeffrey B. Berlin: „Arthur Schnitz­ ler’s views on intellectual property, illustrated by the trials and tribulations of Casanova’s Homecoming“. In: Arthur Schnitzler: Zeitgenossenschaften/Contemporaneities. Hg. von Ian Foster und Florian Krobb. Bern 2002, S. 89–111. 53 Wie insbesondere Roelofs im niederländischen Fall darlegt. Roelofs 1989 (Anm. 1), S. 83– 116.

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Geld dennoch verlangen sollte, und entrüstete sich, wenn Übersetzer und Direktoren sich nicht anständig – d.h. im englischsprachigen Kontext ‚als Gentlemen‘ – benahmen. Über Granville Barker schrieb er nach der Erstaufführung von dessen Anatol-Nachdichtung: Ich weiss es zu würdigen, dass uns Granville Barker, ohne gesetzlich dazu verpflichtet zu sein, Perzente zahlt, andererseits halte ich ein solches Vorgehen bei einem Gentleman für so selbstverständlich, dass es besonderer Anerkennung eigent­ lich nicht bedürfte. 54

Wohl typischer war der amerikanische Impresario Robert Hunter, der 1907 Liebelei unter dem Titel The Reckoning in New York aufführte und an Fischers Agentin geschrieben haben soll, er „wäre ein Don Quichote, wenn er zahlen wolle, ohne gesetzlich dazu verpflichtet zu sein“.55 Über dieses Bonmot sollte Schnitzler sich lange ärgern. In den zwanziger Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt vom Übersetzen auf die Verbreitung von Schnitzlers Werken durch die neuen Medien – Radio, Stumm- und später Tonfilm –, wahrscheinlich weil hier die Rechtslage besonders unsicher war und weil nicht nur Prinzipien, sondern auch erhebliche Summen auf dem Spiel standen. Im Jahre 1927 pro­ zessierte Schnitzler sogar in einem Präzedenzfall gegen die österreichische Rundfunk­gesellschaft (RAVAG), die drei Novellen ohne Erlaubnis und ohne Honorierung übertragen hatte.56 Um diese Zeit interessierten ihn individuelle Beschwerden immer weniger, und im selben Jahr weigerte er sich, einen Aufruf zur Unterstützung von James Joyce zu unterschreiben, dessen in Paris veröffentlichter Roman Ulysses unautorisiert und zensiert von einem amerikanischen Magazin nachgedruckt worden war: der Protest scheine ihm „sehr geeignet den Eindruck zu erwecken, als wenn die Verletzung des Urheberrechtes, die an Mr. Joyce begangen wurde, ein Unikum vorstellte, während solche Willkürlichkeiten seitens von Verlegern, Über­ setzern, Herausgebern nach [s]einen Erfahrungen, und nicht nur in Amerika, leider durchaus nicht zu den Seltenheiten gehören“. Einer Kundgebung würde er sich gern anschließen, die „ganz im Allgemeinen […] die ganze Frage des geistigen Eigentums und des Urheberrechts in ihrer Komplexität der Öffentlichkeit und den Regierungen zu Bewußtsein zu bringen geeignet sein sollte“ (Br II, 469f.). Mit dem prominenten Aktivisten Ezra Pound, den er im Juni 1928 persönlich kennenlernte,57 machte er auch nicht gemeinsame Sache. Während Pound in den Kriegsjahren ein sehr ausgetüfteltes 54 Arthur Schnitzler an Jack Thomas Grein, 23.3.1911, DLA, HS.NZ85.0001.00889. 55 Arthur Schnitzler an Samuel Fischer, 6.11.1912, CUL, B121g. 56 Siehe Richard M. Sheirich: „Arthur Schnitzler’s Challenge to the Government Radio Mono­ poly, September 1927 – February 1928“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 33, 2008, S. 199–226. 57 Siehe den Tagebucheintrag vom 6.6.1928 (Tb 1927–1930, S. 161).

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Alternativ-Urheberrechtsgesetz entworfen und öffentlich ausgelegt hatte, das eine faire Vergütung der Autoren mit der weiten Verbreitung ihrer Arbeiten zu erschwinglichen Preisen verbinden sollte,58 befürwortete der alternde Schnitzler ein permanentes Urheberrecht. In einem spätestens im März 1928 geführten Interview mit dem deutsch-amerikanischen Journalisten George Sylvester Viereck erklärt er: The man who writes a novel and the man who invents a new process of manufacturing is entitled to the same measure of protection as the man who creates new values in railroads or in stone, or the man who invests the fruit of his labour in a corporation. With certain safeguards for the public, intellectual property should be perpetual.59

Dass dieser Vorschlag nie umgesetzt werden würde – und dass er riskierte, sich mit seiner Kompromisslosigkeit ein wenig lächerlich zu machen –, wusste Schnitzler sehr wohl. 1927 schrieb er dem Sohn Heinrich, seine umfang­ reiche Korrespondenz zum Thema Urheberschutz bestehe „großen­theils aus Kohlhaseleien (oder eseleien) […] – aber abreagiren gehört auch zur Hygiene“ (Br II, 500). Als Abreaktion der von dem Gefühl der Ohnmacht hervorgerufenen Aggressionen lassen sich auch die stets aufs Neue beanstandeten „Uebersetzungs-Miseren“ deuten. Die verschiedenen Probleme des Übersetzungsgewerbes, mit denen Schnitzler als Schriftsteller mit wachsender internationaler Bekanntheit konfrontiert wurde, waren mit der sozio-kulturellen und wirtschaftlichen Dynamik der Moderne eng verbunden. Prinzipiell und instinktiv befürwortete er einen individualistischen Autorschaftsbegriff. Er respektierte die künstlerische Nachdichtung als hochwertige Leistung, passte sich aber nur ungern dem „Treiben der vereinigten Agenten, Übersetzer, Be­arbeiter, Manager und wie sich die Leute in ihren Nebenberufen, sonst nennen mögen“ (Br II, 741) an. So verspottete Schnitzler im letzten Lebensjahr die vielfältigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte, die in der Moderne zusammenwirken müssen, damit ein ausländisches Werk den Weg in die Zielkultur findet. Als geistiger Arbeiter zeigte er dagegen ein aus­gesprochen modernes Selbstverständnis. Für ihn war der Erfolg im Ausland wie im deutschsprachigen Bereich primär in Geld zu messen; von Ruhm ohne finanziellen Gewinn konnte er nicht leben. Und aus diesem Grund sowie aus Gründen der Fairness wurde er zum streitbaren Anwalt für die Rechte und Interessen der Urheberrechtsbesitzer sowohl in der Zusammenarbeit mit den Vertretern der neuen Medien als auch beim transnationalen kulturellen Austausch.

58 Spoo 2013 (Anm. 52), S. 116–152. 59 George Sylvester Viereck: Glimpses of the Great. London 1930, S. 338f.

Xiaoqiao Wu

Die Rezeption Arthur Schnitzlers in China1 1.  Die Rezeption der Dramen Arthur Schnitzlers in der Bürgerlichen Republik Arthur Schnitzler war uns Chinesen erst nach der Vierten-Mai-Bewegung 1919 nach und nach bekannt geworden. Die Chinesen, deren Sprech­ theatertradition damals erst auf weniger als 15 Jahre zurückblicken konnte, haben zunächst großes Interesse an seinen Theaterstücken gezeigt. Der Hauptrepräsentant des Jungen Wien machte sich in China als Autor des Einakter-Zyklus Anatol einen Namen. Eine Reihe namhafter chinesischer Schriftsteller haben zur Rezeption Arthur Schnitzlers in der Zeit der Bürger­ lichen Republik beigetragen. So haben sich Mao Dun, Guo Shaoyu und Zheng Zhenduo, alle Mitglied der 1919 ins Leben gerufenen Gesellschaft für die Erforschung der Literatur, für Arthur Schnitzlers Anatol interessiert. Mao Dun veröffentlichte am 28. August 1919 unter dem Pseudonym ‚Bing‘, also einer Abkürzung seines eigentlichen Namens Shen Yanbing, im Feuilleton Studien­ lampe (Xuedeng), einer Beilage der Shanghaier Zeitung Das Neue Blatt für Nach­ richten (Shishi xinbao), die erste chinesische Übersetzung des Einakters Denk­ steine. Sie gilt bislang als die erste chinesische Übersetzung eines Werkes von Arthur Schnitzler. Am 5. Februar 1920 erschien eine weitere Übersetzung von Mao Dun, die des Einakters Anatols Hochzeitsmorgen, in der Shanghaier Zeitschrift für Frauen (Funü zazhi ). In seiner kurzen Einleitung war dem jungen chinesischen Schriftsteller, der es später zum Hauptvertreter der modernen chinesischen Literatur brachte, allerdings ein Fehler unterlaufen, wenn er, sich auf den englischen Forscher und Übersetzer Ash­ley Dukes stützend, den Einakter-Zyklus mit den zehn Dialogen im Reigen verwechselte. Mao Dun war nicht der einzige Chinese, der sich während der Bewegung der ‚Neuen Kultur‘ für Arthur Schnitzler interessierte. Anatol fand 1 Der Aufsatz entstand im Rahmen eines vom National Social Science Fund of China geförderten Projekts (Grant No.: 15BWW057) zur Erschließung von entlegenen chinesischen Übersetzungs- und Rezeptionszeugnissen der deutschsprachigen Literatur im Zeitraum von der späten Qing-Dynastie bis zu den ersten Jahrzehnten der Bürgerlichen Republik.

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auch bei Guo Shaoyu Beachtung, einem jungen Studenten an der Peking Universität, der später zu einem renommierten Experten auf dem Gebiet der klassischen chinesischen Literaturtheorie wurde. Unter dem Pseudonym ‚Shaoyu‘ publizierte Guo vom 5. November bis zum 31. Dezember 1919 in der Beilage der Pekinger Morgenzeitung (Beiping chengbao fukan) in Fortsetzungen seine Übersetzungen des Einakter-Zyklus Anatol. Irrtümlicherweise wurde Schnitzler als Autor französischer Herkunft bezeichnet. Aufgenommen in die „Buchreihe der Gesellschaft für die Erforschung der Literatur“ (Wenxue yanjiu hui congshu) erschien Anatol im Mai 1922 in Buchform in Shanghai im Verlag The Commercial Press (Shangwu yinshuguan). Die Übersetzung gilt als eines der am frühesten vollständig ins Chinesische übertragenen deutschen Theaterstücke überhaupt. Zwei Jahre später erlebte das Buch die zweite Auflage, im März 1933 wurde es erneut wieder aufgelegt. Der Schriftsteller Zheng Zhenduo, ein Freund von Guo Shaoyu, versah das Buch mit einem Vorwort, das er im August 1922 auch in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Literatur (Wenxue xunkan) veröffent­ lichte. Die von dem Amerikaner Grace Isbale Colbron besorgte, in der Reihe Modern Library publizierte englische Übersetzung diente sowohl Mao Dun als auch Guo Shaoyu als Vorlage. Anatol war damals in China so populär, dass noch eine weitere chinesische Übersetzung des Einakters Weihnachtseinkäufe publiziert wurde. Es handelt sich um die von Er Song übersetzte Fassung, die am 1. Januar 1922 in der Zeitschrift Das südliche Meer (Nanyang) erschien. Die Übersetzungstätigkeit, die die Mitglieder der Gesellschaft für die Er­ forschung der Literatur ausübten, stieß allerdings bei einem anderen Lager, dem Literatenkreis Neumond (Xinyue), der hauptsächlich aus von Übersee zurückgekehrten Professoren bestand, auf heftige Kritik. Chen Xiying, ein in England ausgebildeter renommierter Professor für Anglistik, der in der Geschichte der modernen chinesischen Literatur vor allem durch die Auseinandersetzungen mit dem Schriftsteller Lu Xun berühmt ist, publizierte 1924 in der einflussreichen Shanghaier Zeitschrift Pazifischer Ozean (Taipingyang) eine umfangreiche Rezension zu der chinesischen Übersetzung von Guo Shaoyu, sowie zu der englischen Ausgabe von Anatol. Diese Rezension ist meines Erachtens der erste wichtige wissenschaftliche Beitrag zum Werk Arthur Schnitzlers in China. Chen, der mit der zeitgenössischen englischen Rezeption Arthur Schnitzlers vertraut war, behandelte in seiner Arbeit drei Texte Schnitzlers (Anatol, Liebelei und Reigen) ausführlich. Schließlich zeigte er am Beispiel des Einakters Weihnachtseinkäufe die Übersetzungsfehler, die Guo Shaoyu unterlaufen waren. Unzufrieden mit der Qualität der Übersetzung von Guo veröffentlichte sein Dichterfreund Ding Xilin, der ebenfalls in England studiert hatte und zugleich als Physiker und Dramatiker fungierte, eine Übersetzung des berühmten Einakters

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Weihnachtseinkäufe in der Zeitschrift Pazifischer Ozean (Taipingyang ), um Chen Xiying zu unterstützen. Während der Bewegung der ‚Neuen Kultur‘ haben auch einzelne, in der europäischen Literatur bewanderte, Leser Arthur Schnitzler wahrgenommen. So machte Zhao Yingruo in einem Beitrag aus dem Jahr 1919 auf Schnitzlers Anatol und Liebelei aufmerksam. Seiner Meinung nach sei Anatol eine Figur, die sich in den Genuss des Augenblicks vertiefe. Aus dem, was Schnitzler im Anatol dargestellt habe, könne man gut die Hauptmerkmale seiner gesamten dramatischen Dichtung erschließen. Darüber hinaus schlug der Theaterwissenschaftler Song Chunfang, der sich während seines Studienaufenthaltes in Europa mit dem westlichen Theater vertraut gemacht hatte, in seiner in der führenden Zeitschrift Die neue Jugend (Xin qingnian) veröffentlichten Bibliographie Hundert Meister­ stücke in der neueren Literatur ( Jinshi mingju baizhong ) vor, Arthur Schnitzlers Theaterstücke ins Chinesische zu übertragen. Song hat auch als Erster Schnitzlers Skandalstück Reigen in China vorgestellt. Seine Übertragung der ersten Szene, des Dialogs zwischen Dirne und Soldat, erschien 1922 in der Shanghaier Zeitschrift Die Welt des Spiels (Youxi shijie). Die Übersetzung blieb leider Fragment und wurde nicht fortgesetzt. In einem ein Jahr zuvor in der renommierten Shanghaier Zeitschrift The Eastern Miscellany (Dongfang zazhi ) publizierten Beitrag mit dem Titel „Das expressionistische Drama in Deutschland“ („Deguo zhi biaoxian pai xiju“), verglich er Arthur Schnitzler mit Frank Wedekind. Song bewunderte, dass der gerade der Zensur enthobene Reigen auf den deutschen und österreichischen Bühnen große Beliebtheit gefunden hatte. Er beklagte aber, dass sich die Figuren, trotz des gehobenen und zugleich unterhaltsamen Konversationsstils, nur mäßig voneinander unterscheiden könnten. Wie Marionetten seien die Figuren gelenkt, könnten sich nicht mehr über ihr Schicksal erheben und seien von Dekadenz und Entsagung geprägt.2 Im China der 1920er Jahre erfreuten sich Schnitzlers Einakter einer großen Beliebtheit. Auch Jiao Juyin, damals noch ein junger Student in Tianjin, unternahm den Versuch, den namhaften Einakter Der grüne Kaka­ du ins Chinesische zu übertragen. Seine Übersetzung erschien im Oktober 1923 in der Zeitschrift Die grünen Wellen (Lübo xunkan) und ist heute schwer zugänglich. Jiao, der Mitte der 1930er Jahre in Paris mit einer Arbeit über die chinesische Theatertradition promovierte, avancierte später zu einem der bedeutendsten chinesischen Regisseure im 20. Jahrhundert auf dem Gebiet des Sprechtheaters. 1925 wurden noch zwei Einakter Schnitzlers (Lebendige Stunden und Die letz­ten Masken) ins Chinesische übersetzt. Die Übersetzungen stammen von 2 Song Chunfang: „Deguo zhi biaoxian pai xiju“. In: Zhongwai wenxue guanxi shiliao huibian 1898–1937. Hg. von Jia Zhifang und Chen Sihe. Bd. 1. Guilin 2004, S. 374–377, hier S. 374.

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der in England ausgebildeten Schriftstellerin Yuan Changying und erschienen ebenfalls in der Shanghaier Zeitschrift The Eastern Miscellany (Dongfang zazhi ). Eine zweite Übersetzung des Einakters Lebendige Stunden erschien im Juni 1929 in der Shanghaier Zeitschrift Das Neue aus dem Norden (Beixin).3 Auch das Puppenspiel Der tapfere Cassian lag bereits in diesem Jahr in chinesischer Übersetzung vor.4 In dem Schnitzler-Fieber der 1920er Jahre trat noch eine wichtige Persönlichkeit hervor. Es war Zhao Boyan. Zhao, ebenfalls Mitglied der Ge­ sellschaft für die Erforschung der Literatur, der in den 1920er Jahren in Tokyo, Berlin und Wien Literatur und Dramaturgie studierte und selbst Theaterstücke und Romane schrieb, hat insgesamt drei Stücke Schnitzlers aus dem Deutschen ins Chinesische übersetzt. In Buchform erschien seine Übersetzung von Liebelei zusammen mit der Übersetzung des Einakters Der grüne Kakadu im August 1929 in Shanghai im Verlag Yuequn shudian. Ein Jahr später erschien seine vollständige Übersetzung von Reigen ebenfalls in Shanghai im Verlag Shuimo shudian. In seinem Vorwort, das Zhao im November 1929 auch in der Shanghaier Zeitschrift Die Neue Literatur und Kunst (Xin wenyi ) veröffentlichte, stellte er Schnitzlers Leben und Werk detailliert vor. Er bewunderte insbesondere den Glanz der Konversationen in Schnitzlers Dramen. Als Zhao in Wien studierte, besuchte er Arthur Schnitzler in der Sternwartegasse und soll dabei den mündlichen Auftrag bekommen haben, dessen Werke ins Chinesische zu übertragen. Zhaos Vorhaben, einen Bericht über seinen Besuch bei Arthur Schnitzler für die Zeitschrift Die neue Literatur und Kunst (Xin wenyi ) zu verfassen, kam wegen seines plötzlichen Todes im Jahre 1930 allerdings nicht zustande. Während die Schriftsteller, die sich für die Bewegung der ‚Neuen Literatur‘ einsetzten, mit Begeisterung Arthur Schnitzler als Vorbild auf den Schild hoben, hatte die chinesische Germanistik, ein erst im Jahr 1918 gegründetes Fach, wenig Interesse daran, seine Werke zu übersetzen. Eine Ausnahme war der junge Germanistik-Student Liu Shaocang. Ende der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre hat Liu die Einakter Die Frau mit dem Dolche, Die letzten Masken und Die Gefährtin übersetzt. Er plante, im Jahr 1929 noch eine Sammlung von Theaterstücken unter dem Titel Lebendige Stunden im Pekinger Verlag Morgen (Mingtian she) zu publizieren. Seine Übersetzungen erschienen auch in den Pekinger Zeitschriften Morgen (Mingtian)5 3 Vgl. Sinizhile’er: Sheng de shike. Übersetzt von Lin Huiyuan. In: Beixin Bd. 3, Juni 1929, H. 10, S. 59–75. 4 Vgl. Xiannizhile: Yong shaonian Kaxi’an. Übersetzt von Lin Yijin. In: Xin wenyi Bd. 1, 1929, H. 4, S. 729–751. 5 Vgl. Xiannizhilao: Chi bishou de nüzi. Übersetzt von Liu Shaocang. In: Mingtian Bd. 1, 1928, H. 1, S. 17–24; Bd. 1, 1928, H. 2, S. 17–23; Bd. 1, 1928, H. 3, S. 19–24. Arthur Schnitzler: Banlü. Übersetzt von Shao Cang. In: Mingtian Bd. 3, 1930, H. 3, S. 23–31.

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und Huayuan (Huayan yuekan).6 Eine weitere chinesische Übersetzung des Einakters Lebendige Stunden stammt von Lu Di, der ebenfalls die englische Ausgabe Anatol and other plays als Vorlage benutzte. Neben Liu befasste sich auch der in Kiel promovierte Germanist Chen Quan ausnahmsweise mit den Dramen Schnitzlers. Während der Kriegszeit gelang es Chen, den Lustspiel-Einakter Literatur unter dem chinesischen Titel Die unschuldigste Frau (Yige zui chunjie de nüren) umzuarbeiten.7 Trotz einer Vielzahl von Übersetzungen und Bearbeitungen wurden Schnitzlers Dramen in China überraschenderweise nicht so oft aufgeführt. Eine Ausnahme war der Einakter Die letzten Masken. Der namhafte chinesische Dramatiker Tian Han brachte im Dezember 1928 anhand seiner eigenen chinesischen Version dieses in kurzer Zeit wiederholt übersetzte Stück auf die Bühne.8 Am 10. Dezember 1928 veröffentlichte Mingyi (d.i. Zhao Mingyi) in der Shanghaier Tageszeitung Shenbao eine Rezension zu der öffentlichen Aufführung des Einakters, bei der die von Tian Han gegründete Theatergruppe Der Südstaat das Stück spielte. Tian Hans Übersetzung fand sich auch in der Textsammlung Chantaiqi’er zhi si, die im Juni 1929 in Shanghai im Verlag Xiandai shuju erschien. 1931 brachte die Nabo-Schauspiel­ gruppe der Arbeitsuniversität eine weitere Aufführung von Die letzten Mas­ ken in Shanghai auf die chinesische Bühne. Besonders erwähnenswert ist, dass man im Laufe der Rezeption der Theaterstücke Arthur Schnitzlers in China auch den Versuch unternahm, Schnitzlers dramatische Texte nach chinesischem Geschmack umzuarbeiten. Im August 1932 veröffentlichte der junge chinesische Theater­wissenschaftler Du Yingtao in der Pekinger Monatsschrift für Theaterwissenschaft ( Juxue yue­ kan), einer von der Zweigstelle Beiping des Instituts für Theater und Musik Nanking herausgegebenen, renommierten Fach­zeitschrift, unter dem Pseudonym Yintao eine Nachdichtung des Einakters Sylvesternacht. Durch die Bearbeitung entstand ein typisch chinesisches Schauspiel. Die Namen der Figuren wurden auf chinesische Art verändert. So trug der Protagonist Emil, der Sohn des Hauses, den chinesischen Namen Meng Zhuang, wörtlich also ‚der träumende Zhuang‘, eine Anspielung auf den berühmten chinesischen Philosophen Zhang Zi, dem im Traum ein Schmetterling begegnet ist. Die Protagonistin Agathe hatte den typisch chinesischen Namen Wan Yun, Fritz Bo Ming, der Ehegatte von Agathe hieß Yu Sheng. Während die im Dramentext erwähnten europäischen Arien, etwa aus Tristan und 6 Vgl. Schnitzler: Zuihou de jia mianju. Übersetzt von Liu Shaocang. In: Huayan yuekan Bd. 1, Juni 1929, H. 6, S. 453–468; Bd. 1, Juli 1929, H. 7. Die Übersetzung fand sich noch in der Nankinger Zeitschrift Wenyi yuekan (Bd. 2, September 1935, H. 2, S. 43–58). 7 Vgl. Chen Quan (umgearb. und hg.): Xiyang dumu xiaoju gaibian. Changsha 1940. 8 Die Shanghaier Zeitung Shen bao machte auf der Seite 31 vom 8. Dezember 1928 in dem Artikel „Theaternachrichten“ (Jutan xiaoxi) bekannt, dass Tian Han Schnitzlers Theaterstück Die letzten Masken neu übersetze und bald auf die Bühne bringen werde.

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Isolde und der Fledermaus, stillschweigend weggelassen wurden, wurden chinesische Elemente aufgenommen. Der romantische Ort des Ren­dezvous war nicht „bei den Sternen“, sondern „in der Milchstraße“. Es wurde auch die chinesische Legende von dem Liebespaar Niu Lang (Kuhhirt) und Zhi Nü ( Webmädchen), also die berühmte romantische Liebesgeschichte zwischen einem verwaisten Bauernsohn und der bildschönen Tochter aus dem Himmelreich erzählt. An die Stelle des Großen Bären trat der Stern des Webmädchens. Trotz dieses Schnitzler-‚Fiebers‘ fanden die großen Dramen wie Das weite Land, Der einsame Weg, Professor Bernhardi und Der Gang zum Weiher kaum Beachtung. Während der Zeit der Bürgerlichen Republik spielte auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Schnitzlers Dramen keine Rolle. Stattdessen fanden sich nur eine Reihe kurzer literarischer Nachrichtenmeldungen in den populären Zeitschriften wie Monatsschrift für erzählende Werke (Xiaoshuo yuebao), The Eastern Miscellany (Dongfang zazhi ) und Das Wahre, das Schöne und das Gute (Zhen mei shan). So berichtete Zhao Jingshen 1930 vom Erscheinen von Little Novels, einer Sammlung von ins Englische übersetzten Novellen Arthur Schnitzlers, wobei die Inhalte von vier Novellen, nämlich Die Fremde (The Stranger), Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg (The Fate oft the Freiherr von Leisenbohg ), Die griechische Tänzerin (The Greek Dancing-Girl ) und Der Tod des Junggesellen (The Death of a Bachelor) kurz wiedergegeben werden.9 Zhao Jingshen stellte noch in einem kleinen Beitrag unter dem Titel „Das neue Drama von Arthur Schnitzler“ das letzte Stück Der Gang zum Weiher vor und sprach von einem Rückgang der Wirkung Schnitzlers in der deutschsprachigen Literatur. Der Tod Arthur Schnitzlers fand in China große Resonanz.10 Am 13. Juni 1932 veröffentlichte der in den USA ausgebildete renommierte Literaturwissenschaftler Wu Mi in der Literaturbeilage der in Tianjin erschienenen angesehenen Zeitung Ta-Kung-Pao einen umfangreichen Beitrag zu Leben und Werk Arthur Schnitzlers.11 Kurz nach dem Tod Schnitzlers erwähnte ein unter dem Pseudonym ‚Ruo‘ veröffentlichter Kurzbeitrag, betitelt „Das letzte Werk von Arthur Schnitzler“, das Erscheinen der Novelle Flucht in die Finsternis und eine eventuelle Publikation von Schnitzlers Tagebüchern.12

9 Zhao Jingshen: „Xiannizhilao de duanpian xiaoshuo ji“. In: Xiaoshuo yuebao Bd. 21, Februar 1930, H. 2, S. 476. 10 So Lu Luo: „Xiannizhilao shishi“. In: Xiaoshuo yuebao Bd. 22, 1931, H. 12, S. 1600. 11 Vgl. Anonym (d.i. Wu Mi): „Aoguo xijujia jian xiaoshuojia Xinnizhilao shishi“. In: Donggongbao wenxue fukan Nr. 232, 13. Juni 1932. 12  Ruo: „Xiannizhilao zuihou de zhuzuo“. In: Dongfang zazhi Bd. 29, 1932, H. 2, S. 70.

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2.  Shi Zhecun und die Verbreitung der Novellen Arthur Schnitzlers im China der Bürgerlichen Republik Während sich eine Reihe chinesischer Schriftsteller mit der Übersetzung und Aufführung der Dramen Arthur Schnitzlers beschäftigten, wandte sich eine Gruppe moderner Autoren, an deren Spitze der junge Shanghaier Schriftsteller Shi Zhecun stand, den Novellen des Wiener Autors zu. Schnitzlers Erzählwerk fand in China erst Ende der 1920er Jahre Beachtung. Shi Zhecun galt als einer der größten Bewunderer von Schnitzlers Novellen. Er war auch der Erste, der Schnitzlers Novellen aus dem Englischen bzw. dem Französischen ins Chinesische zu übersetzen begann. Ein Dutzend Übersetzungen stammen von ihm. 1929 erschien seine Über­setzung Die Hirtenflöte in der Shanghaier Zeitschrift Moderne Erzählung (Xiandai xiaoshuo) in einer Fortsetzungsfolge.13 In diesem Jahr konnte er die Über­setzung von Frau Berta Garlan in Shanghai im Verlag Fudan (Fudan shuju) publi­zieren, und zwar unter dem etwas trivial klingenden Titel Die leidenschaftliche Witwe (Duoqing de guafu). Seine Übersetzungen von Frau Berta Galan, Frau Beate und ihr Sohn (englisch: Beatrice) und Fräulein Else wurden in einem Buch, betitelt mit Fuxin sanbuqu, also Trilogie der weiblichen Seele, zusammen­gestellt und im Juni 1931 im Verlag Shenzhou guoguang she in Shanghai publi­ziert. Die Shanghaier Zeitschrift The Eastern Miscellany (Dongfang zazhi ) veröffentlichte im April des gleichen Jahres in Fortsetzungen seine Übersetzung der Novelle Leutnant Gustl, die er aus der engli­schen Version None but the Brave angefertigt hatte. Die erste und bisher einzige chine­sische Übersetzung von Schnitzlers Roman Therese ist auch Shi Zhecun zu verdanken. Die Übersetzung, der auch eine englische Version als Vorlage diente, erschien im April 1937 in Shanghai in dem angesehenen Verlag Chung Hwa Book Co. (Zhonghua shuju), aufgenommen in die Buchreihe der Vollständigen Sammlung der Weltliteratur (Shijie wenxue quanji ). Im Februar 1940 konnte das Buch eine zweite Auflage erleben. Shi Zhecun soll noch drei weitere Novellen, nämlich Casanovas Heimfahrt (Kasangnuowa zhi guijia), Traum­novelle (Kuangxiang qu) und Wei­yena muge (wörtliche Über­ setzung: Das Wiener Hirten­lied – möglicherweise Die Hirtenflöte) übersetzt haben. Diese konnten allerdings nicht mehr publiziert werden, wohl weil die Manuskripte in den Unruhen des Kriegsausbruchs verschollen sind.14 13 Shi Zhecuns Vorhaben, die chinesische Übersetzung der Hirtenflöte noch in Buchform in der Reihe Kleine Schriften von modernen Schriftstellern (Xiandai zuojia xiaoji ) in seinem eigenen Verlag, der Buchhandlung Shuimo (Shuimo shuidian), wo Zhao Boyans Übersetzung von Reigen erschien, unterzubringen, kam allerdings nicht zustande. Vgl. Shi Zhecun: „Women jingying guo sange shudian“. In: S.Z.: Beishan sanwen ji. Bd. 1. Shanghai 2001, S. 307–320, hier S. 311. 14 Vgl. Shi Zhecun: „Yizhe tiji“. In: Ders.: Lao gudong julebu. Shi Zhecun yiwen ji. Hg. von Chen Zishan. Guilin 2005, S. 3-5, hier S. 4.

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Während der Zeit des Kriegs mit Japan wurden die Texte der Trilogie der weiblichen Seele (Fuxin sanbu qu) 1941 in Shanghai im Verlag Wort und Tat (Yan xing she) getrennt in Buchform veröffentlicht: Frau Berta Galan erschien unter dem chinesischen Titel Guling (Die Einsamkeit), Frau Beate und ihr Sohn unter dem Titel Si lian (Geheime Liebe), Fräulein Else unter dem Titel Nü nan (Weibliche Katastrophe). Fräulein Else erschien auch 1945 in Nanping im Verlag Fuxing unter dem Titel Ai’ersai zhi si, wörtlich: Der Tod Elses. Auch die überarbeitete Fassung von Leutnant Gustl wurde 1945 in Yong’an im Verlag Decamerone (Shiri tan she) unter dem chinesischen Titel Zisha yi qian15 (Vor dem Selbstmord ) in Buchform publiziert. Neben Shi Zhecun gab es noch eine Reihe junger Schriftsteller, die sich für Schnitzlers Novellen interessiert haben. Duan Keqing, der in Berlin und Göttingen studiert hatte und in der modernen chinesischen Literatur als Mitglied der Schöpfungsgesellschaft16 wirkte, veröffentlichte beispiels­weise seine bereits im 1929 fertiggestellte Übersetzung der Novelle Sterben in Shanghai im Verlag Moderne (Xiandai shuju) im November 1930 (zweite Auflage im April 1933). In seinem auf den 10. Juni 1929 datierten Nachwort bezeichnete Duan die Novelle Sterben einerseits als einen in der Bibliothek der Weltliteratur aufbewahrten „schönen Edelstein“. Anderer­seits kriti­sierte er den Inhalt der Novelle, charakterisierte sie als „eine Novelle der Krankheit, einen unvollkommenen literarischen Text“ und warnte die Leserschaft vor den melancholischen, krankhaften Gedanken des Fin de siècle.17 Der in Japan ausgebildete Literaturwissenschaftler Liu Dajie, der es später zu einem namhaften Literaturhistoriker brachte, fertigte eine weitere chinesische Version von Frau Berta Garlan, betitelt Ku lian (Die bittere Liebe), an. Seine Übersetzung erschien im Juli 1932 in Shanghai in dem renommierten Verlag Zhonghua shuju in der Buchreihe Moderne Literatur (Xiandai wenxue congkan). Im November 1940 konnte die Übersetzung die dritte Auflage erleben. Liu Dajie war auch der Übersetzer von zwei weiteren Novellen Schnitzlers: Der Tod des Junggesellen und Der blinde Geronimo und sein Bruder. Die Übersetzungen erschienen 1932 jeweils in der vielgelesenen Nankinger Monatsschrift für Literatur und Kunst (Wenyi yuekan) und in der Zeitschrift Gegenwärtige Studenten (Xiandai xuesheng ) (in Fortsetzungen: Bd. 2 Heft 2 und 3). Fast zur gleichen Zeit präsentierte der ebenfalls in Japan ausgebildete Schriftsteller Tao Jingsun, seinerseits 15 Die Übersetzung von Leutnant Gustl wurde 2005 in einer Sammlung von Übersetzungstexten wieder abgedruckt. Vgl. Xiannizhile: „Zisha yi qian“. In: Lao gudong julebu. Übersetzt von Shi Zhecun. Hg. von Chen Zishan. Guilin 2005, S. 3–33. 16   Vgl. dazu Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Die 3000jährige Entwick­ lung der poetischen, erzählenden und philosophisch-religiösen Literatur Chinas von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bern u.a. 1990, S. 531f. 17   Duan Keqing: „Nachwort“. In: Xiannizhilao: Si. Shanghai 1933, S. 163.

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Mitglied der Schöpfungsgesellschaft, eine neue chinesische Übersetzung der Novelle Der blinde Geronimo und sein Bruder.18 Noch weitere chinesische Übersetzungen der Novellen Arthur Schnitzlers waren während der Bürgerlichen Republik zerstreut in verschiedenen Zeitschriften zu finden. So erschien die Übersetzung der Erzählung Die Frau des Weisen 1931 in der Zeitschrift für Lesen (Dushu zazhi ) (Bd. 1 Heft 2, übersetzt von Fang Dagong), wobei die Nationalität Schnitzlers fälschlicher­ weise als die eines Deutschen angegeben wurde. Die Novelle Die dreifa­ che Warnung fand sich in der Zeitschrift Die Gelbe Glocke (Huangzhong ) (Bd. 4 Nr. 7, übersetzt von Qianqian). Die Erzählung Das neue Lied (Xin’ge) erschien im Februar 1940 in der Neujahrsausgabe der Shanghaier Literatur­ monatsschrift Der südliche Wind (Nanfeng ) (Bd. 2 Heft 4, übersetzt von Xi Ya). Die Novelle Das Tagebuch der Redegonda erschien 1944 in einer Über­ setzungs­­­sonderausgabe der Pekinger Zeitschrift für Bürger (Guomin zazhi ) (Bd. 4 Heft 4) mit einer kurzen Biographie von Arthur Schnitzler und Informa­tionen über sein Werk als Anhang. Die Schreibweise Arthur Schnitzlers hat moderne chinesische Autoren beeinflusst. So hat Shi Zhecun unter seinem Einfluss mit psychoanalytischen Methoden mehrere Novellen geschaffen.19 Neben den psychoanalytischen Elementen hob Shi noch die realistischen Elemente bei Arthur Schnitzler hervor. Schnitzler beschreibe nicht nur die Beziehungen zwischen Mann und Frau, sondern zeige auch deren ökonomische, historische und soziale Hintergründe auf. Wie im Falle der dramatischen Texte waren auch bei den Erzähltexten Mehrfachübersetzungen üblich. So ist die Novelle Blumen innerhalb von weniger als 20 Jahren mindestens sechsmal übersetzt worden: Die Übersetzungen stammten jeweils von Zhou Shoujuan (1928 in der Shanghaier Zeitschrift Zi Luolan. Bd. 3 Heft 11), Ye Linfeng (1929 ebenfalls in einer Shanghaier Zeitschrift, Xiandai xiaoshuo. Bd. 2 Heft 1), Li Guowei (1930 in der Wochenschrift Guowen zhoubao. Bd. 7 Heft 22), Zhong Xianming (übersetzt aus dem Esperanto, am 25. Januar 1931 in der Zeitschrift Dongfang zazhi ), Cai cixue (1935 in der Zeitschrift Guoming wenxue. Bd. 2 Heft 3) und nicht zuletzt Liu Houchun (im Oktober 1945 in der Chongqinger Zeitschrift Wenyi xianfeng ). Auch die als Meisterwerk gewürdigte Novelle Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg wurde mindestens zweimal übersetzt: Die erste Version, die am 1. Juni 1934 in der Shanghaier avantgardistischen Zeitschrift Xiandai erschien, stammte von dem modernen Autor Lin Weiyin. Die andere wurde 1941 in eine in Shanghai erschienene Novellensammlung, betitelt mit Lian ge, aufgenommen. Die mehrfache Publikation der verschiedenen 18 Vgl. Wu Xiaoqiao: „Shinicile yu zhongguo jieyuan“. In: Zhonghua dushu bao 7. Juni 2000, S. 23. 19 Vgl. z.B. Zhang Dongshu und Chen Huizhong: „Shi Zhecun yu Xiannizhile“. In: Zhongguo bijiao wenxue. Bd. 4. Hangzhou 1987, S. 219–233.

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Übersetzungen eines einzigen Texts belegt zum einen die Popularität und Beliebtheit, der sich Arthur Schnitzler in China erfreute. Zum anderen war sie auch ein Ausdruck der Ohnmacht gegenüber der defizitären urheberrechtlichen Lage und zugleich eines Mangels an Information in Bezug auf erfolgte Veröffentlichungen. Es lässt sich festhalten, dass die meisten Novellen und ein großer Teil der dramatischen Texte Arthur Schnitzlers während der Zeit der Bürgerlichen Republik bereits in chinesischer Sprache vorlagen. Während des Bürgerkriegs von 1946 bis 1949 wurde Arthur Schnitzler in China nur selten übersetzt. Eine Ausnahme bildete eine neue Version von Fräulein Else, die Anfang des Jahres 1949 in Shanghai erschien.20 Mit der Gründung der Volksrepublik China war das chinesische Schnitzler-‚Fieber‘ auf einmal abgekühlt und das ‚Schicksal‘ von Schnitzlers Texten gestaltete sich ganz anders.

3.  Die Rezeption Arthur Schnitzlers in der Volksrepublik China (Anfang der 1980er Jahre bis 2011) Abgestempelt als reaktionärer und dekadenter Repräsentant der kapitalisti­ schen Kultur war Arthur Schnitzler in den ersten drei Jahrzehnten der Volksrepublik China fast völlig aus dem Horizont der Literaturlandschaft verschwunden. Erst Anfang der 1980er Jahre begann eine neue Generation chinesischer Germanisten im Zeichen der Reform- und Öffnungspolitik Arthur Schnitzler wieder zu entdecken und seine Werke neu zu übersetzen. Auch die alten Übersetzungen wurden wieder entdeckt und in verschiedene Sammlungen aufgenommen. So wurden die früheren zwei Übersetzungen aus dem Einakter-Zyklus Anatol von Mao Dun wiederholt abgedruckt.21 Die von Shi Zhecun angefertigte Übersetzung von Fräulein Else wurde in den 1980er und 1990er Jahren mindestens in drei verschiedene Sammlungen aufgenommen.22 Auch seine Übersetzung von Leutnant Gustl tauchte 20 Vgl. Xiannizhilao: Ai’ersai xiaojie. Übersetzt von He Wenji. Shanghai 1949. 21 So fand sich die Übersetzung von Denksteine zunächst in Mao Dun: Mao Dun yiwen xuanji. Bd. 2. Shanghai 1981, S. 636–642. Die Übersetzungen von Denksteine und Anatols Hochzeits­ morgen wurden abgedruckt in: Mao Dun: Shen Yanbing yiwen ji. Bd. 2. Hg. von Ye Ziming und Yu Bin. Nanjing 1999, S. 6–12 und 34–53; Mao Dun (Übersetzer): Mao Dun yiwen quanji. Bd. 6: Juben 1. Beijing 2005, S. 16–22 und 113–132. 22 Vgl. Xiannizhile: Ai’ersai. Übersetzt von Shi Zhecun. In: Tianyuan jiaoxiangqu. Waiguo shuqing xiaaoshuo xuanji zhi si. Hg. von Bai Sihong. Hefei 1984, S. 116–188. Auch in: Mutong yu muyu. Hg. von Bai Sihong. Hefei 1992 (waiguo shuqing xiaoshuo baoku), S.  395–466. Auch in: Nishang. Waiguo zhuming zuojia jingdian zhongpian xiaoshuo xuan. Hg. von Lü Tongliu. Jinan 1996, S. 182–256.

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kürzlich wiederholt in Textsammlungen auf.23 1988 konnte eine weitere, aus dem Englischen übertragene, chinesische Version von Frau Berta Garlan in Changchun erscheinen, was die wiederkehrende Popularität Arthur Schnitzlers im China der Reform- und Öffnungspolitik belegt.24 Anders als fünfzig Jahre zuvor, wo, wie wir bereits gezeigt haben, auch die Theaterstücke Arthur Schnitzlers beim chinesischen Publikum große Resonanz gefunden hatten, nahm ihn das Lesepublikum nun zunächst lediglich als Novellenschreiber wahr. Mit großem Interesse wandten sich auch die chinesischen Germanisten Schnitzlers erzählenden Texten zu. Die Novellen wurden nun meistens direkt aus dem Deutschen ins Chinesische übersetzt. So übertrug Qian Hongjia 1981 Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg.25 Dieses Ereignis stellte gewissermaßen den Auftakt der neuen Rezeption in den 1980er Jahren dar. Zhao Dengrong, Germanistik-Professor an der Peking University, übersetzte ebenfalls im Jahr 1981 die Novelle Der blinde Geronimo und sein Bruder26 und zwei Jahre später die Novelle Die Toten schweigen,27 Wu Xiufang, ebenfalls Absolventin der Peking University, die Novelle Fräulein Else,28 Gao Zhongfu Fräulein Else 29 und Zhang Yushu Der letzte Brief eines Literaten, Cai Hongjun Leutnant Gustl,30 Die Toten schweigen 31 und Spiel im Morgengrauen,32 Hui Juan 1986 die Novelle Das Tagebuch der Redegonda,33 um nur einige markante Beispiele zu nennen.

23 Xiannizhile: Zisha yiqian. Übersetzt von Shi Zhecun. In: Lao gudong julebu. Shi Zhecun yiwen ji. Übersetzt von Shi Zhecun. Hg. von Chen Zishan. Guilin 2005, S. 3–33. 24 Vgl. Shinicile: Xiangsi de kujiu. Übersetzt von Yang Yuan. Changchun 1988. 25 Vgl. Shinicile: Laisenbo nanjue de mingyun. Übersetzt von Qian Hongjia. In: Yuyuejie de qiuai. Xiandai waiguo duanpian xiaoshuo ji. Übersetzt von Qian Hongjia u.a. Fuzhou 1981, S. 45–68. 26 Vgl. Shinicile: Xiazi Jiluonimo he ta de gege. Übersetzt von Zhao Dengrong. In: Deyu guojia duanpian xiaoshuo xuan. Hg. von Yang Wuneng. Beijing 1981, S. 482–510. Auch in: Liulanghan xiaoshuo. Hg. von Zhang Minquan. Beijing 1996, S. 277–301. 27 Vgl. A’ertu’er Shinicile: Siren bu shuohua. Übersetzt von Zhao Dengrong. In: Deyu guojia zhong duanpian xiaoshuo xuan. Hg. von Zhang Yushu. Beijing 1983, S. 277–296. Wiederabgedruckt in: Shijie duanpian xiaoshuo jinpin. Deyu guojia juan. Hg. von Zhang Yushu. Beijing 1995, S. 277–296. 28 Vgl. Shinicile: Ai’ersi xiaojie. Übersetzt von Wu Xiufang. In: Shinicile u.a.: Ai’ersi xiaojie. Übersetzt von Wu Xiufang u.a. Shanghai 1992, S. 228–295. 29 Shinicile: Aierse xiaojie. Übersetzt von Gao Zhongfu. In: Shijie zhongpian xiaoshuo jingdian wenku. De Ao juan. Hg. von Gao Zhongfu. Beijing 1996, S. 414–476. 30 Vgl. Shinicile: Gusite shaowei. Übersetzt von Cai Hongjun. In: Shijie xinli xiaoshuo mingzhu xuan. De Ao bufen. Bd. 1. Hg. von Liu Mingjiu. Bearbeitet von Han Yaochen. Guiyang 1992, S. 201–238. 31 Shinicile : Sizhe wuyan. Übersetzt von Cai Hongjun. In: 20 shiji waiguo xiaoshuo duben. Hg. von Song Zhaolin. Hangzhou 2002, S. 122–136. 32 In: Waiguo xiaoshuo, 1988, Nr. 10. 33 Shinicile: Leidegongda de riji. Übersetzt von Hui Juan. In: Guoji bihui zuopin ji 1986. Hg. von Zhongguo Shanghai bihui zhongxin. Shanghai 1985, S. 272–280.

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Wie in der Bürgerlichen Republik wurden einige Novellen aufgrund von Unkenntnis über die Urheberrechte zwei- bzw. mehrfach übersetzt.34 Eine neue Übersetzung des Romans Therese, die Zhao Rongheng, der mittlerweile emeritierte Germanistik-Professor an der Peking University, bereits in den 1990er Jahren plante, wurde allerdings bisher nicht zustande gebracht. Neben den Textsammlungen veröffentlichten auch die zahlreichen Kernfachzeitschriften für ausländische Literatur die Übersetzungen von Schnitzlers Novellen und Erzählungen. Fast alle Übersetzungen stammen von Germanisten. Hier ein kurzer Überblick über die Vielzahl der Einzelübersetzungen: So Dangdai waiguo wenxue (in Nanking) (Fräulein Else 1985, Der letzte Brief eines Literaten 1986, Leutnant Gustl 1989, Die Frau des Weisen 1990) Waiguo wenxue (in Beijing) (Die Toten schweigen 1983, Die Frau des Weisen 1985, Der Witwe, Die Fremde und Der Ehrentag 1998), Guowai wenxue (herausgegeben von der Peking University) (Der Sohn, Fräulein Else 1988), Shijie wenxue (herausgegeben von der Akademie der Sozialwissenschaften) (Der Sohn 1983), Waiguo wenyi (in Shanghai) (Leutnant Gustl 1989) und Yilin (in Nanking) (Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg 1994, Der Ab­ schied und Die Toten schweigen 1996, Der Sohn 1997, 2001). Hier wird erneut ersichtlich, dass wiederholte Übersetzungen keine Ausnahme sind. Die Novellen Leutnant Gustl, Fräulein Else und Der Sohn erfreuen sich einer großen Beliebtheit und wurden mehrfach übersetzt und wiederholt publiziert. Außer den Einzelveröffentlichungen in Fachzeitschriften und Textsammlungen wurde auch eine Reihe von Novellensammlungen in verschiedenen Verlagen publiziert. 1991 erschien die von Zhang Yushu herausgegebene Sammlung Der letzte Brief eines Literaten und andere ausgewählte Novellen von Arthur Schnitzler (Yiwei zuojia de yishu. Shinicile xiaoshuo xuan) in Shanghai. Sie enthält u.a. die von Zhang Penggao, Germanistik-Professor aus Kanton, neu angefertigten Übersetzungen von den Novellen Der Sohn und Flucht in die Finsternis. Im gleichen Jahr erschien die von Cai Hongjun herausgegebene Novellensammlung Leutnant Gustl und andere ausgewählte Novellen von Arthur Schnitzler (Gusite shaowei. Shinicile zhongpian xiaoshuo xuan) in Hefei. 40 Jahre nach der Befreiung konnte sich das chinesische Lesepublikum hier zum ersten Mal mit Übersetzungen von Novellen wie etwa Sterben, Casano­ vas Heimfahrt, Die kleine Komödie, Traumnovelle, Der Andere u.a. befassen. Diese Novellensammlung konnte 2004 eine zweite Auflage erleben. 1992 erschien eine weitere von Cai Hongjun herausgegebene Novellensammlung, betitelt Die Fremde und andere Novellen von Arthur Schnitzler (Mosheng de nüren. Shinicile xiaoshuo ji ), in Hangzhou. Hierfür wurden u.a. die Novellen Die drei Exiliere, Die griechische Tänzerin, Um eine Stunde, Wohltaten, still und rein gegeben, sowie Der 34 So übersetzte auch die Germanistin Wu Lingshou die Novelle Fräulein Else. Vgl. Shinicile: Aierze xiaojie. Übersetzt von Wu Lingshou. In: Qiaoyisi u.a.: Sizhe. Hg. von Yang Wuneng. Guiyang 1997, S. 1–62.

Die Rezeption Arthur Schnitzlers in China

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Sekundant zum ersten Mal ins Chinesische übersetzt. Zwei neue Textsammlungen, herausgegeben jeweils von Han Ruixiang, Germanist an der Fremdsprachenuniversität Beijing, und Gao Zhongfu, Germanist von der Akademie der Sozialwissenschaften, erschienen vor kurzem jeweils im Verlag für Volksliteratur Beijing und im Verlag der University Chongqing.35 Bemerkenswert ist, dass der Herausgeber Han Ruixiang neben neuen Übersetzungen von Anatol und Reigen vor allem eine neue Version von Leutnant Gustl präsentierte. Neuerdings erhält auch die Traumnovelle gesteigerte Aufmerksamkeit. Eine weitere Übersetzung erschien 2010 in Buchform in Beijing.36 Wir können feststellen, dass die meisten Prosatexte Arthur Schnitzlers bereits in chinesischer Sprache vorliegen. Der umfangreiche Roman Der Weg ins Freie bildet immer noch eine Ausnahme. Wie Der Weg ins Freie haben auch die Novellen Doktor Gräsler, Badearzt und Andreas Thameyers letzter Brief noch gar keine chinesische Übersetzung erfahren. Auch macht bislang niemand den Versuch, die dereinst von Shi Zhecun aus dem Englischen übertragenen Novellen Die Hirtenflöte, Frau Berta Galan sowie Frau Beate und ihr Sohn unmittelbar aus dem Deutschen zu übersetzen. Erst vor kurzem hat man, nach einer langen Unterbrechung von etwa 70 Jahren, wieder damit begonnen, Schnitzlers Theaterstücke ins Chinesische zu übertragen.37 Man richtet das Augenmerk insbesondere auf das weltweit gut aufgenommene Skandalstück Reigen. Im chinesischen Sprachraum wurde das Stück zunächst 2001 in Hongkong gespielt. Im Jahr 2008 wurde es in einen avantgardistischen Text unter dem Titel Shui ai shui, ai shuishui (Wer liebt wen, liebt wer wen) umgearbeitet. Die chinesische Version, die zunächst in Beijing und Shenzhen gespielt wurde, wurde vom Publikum auf dem Festland mit großem Interesse aufgenommen. Am 24. Februar 2009 wurde sie auch im Theatersalon des Zentrums für Sprechtheater Shanghai auf die Bühne gebracht. Die Inszenierung, die zwanzigmal in Shanghai und dann auch wieder in Beijing aufgeführt wurde, fand große Resonanz insbesondere bei den jungen Zuschauern. Das ist verständlich, da ein Teil der Intellektuellen im Reigen charakteristische Eigenheiten modernen europäischen Lebens wiedererkennt, die inzwischen im heutigen China auf vergleichbare Weise anzutreffen sind. In einer Rezension hieß es sogar zugespitzt: Im Leben findet ein solcher „Reigen“ überall statt.38 Die Rezeption von Schnitzlers Dramen befindet sich in China im Aufbruch, was in den zwei weiteren, ebenfalls von Germanisten bearbeiteten, neuen Versionen vom Reigen Bestätigung findet. Die drei neuen Übersetzungen vom 35 Vgl. Shinicile: Shinicile duben. Hg. von Han Ruixiang. Beijing 2011. Shinicile: Lunwu. Übersetzt und hg. von Gao Zhongfu. Chongqing 2010. 36 Vgl. Shinicile: Menghuan gushi. Übersetzt von Lin Yuan. Beijing 2010. 37 Vgl. Shinicile: Shinicile duben. Hg. von Han Ruixiang. Beijing 2011. 38 Vgl. eine anonyme Nachrichtenmeldung in: Liaoshen wanbao vom 26. Februar 2009.

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Reigen stammen von Zhang Yushu, Han Ruixiang und Gao Zhongfu. Die Übersetzung von Zhang erschien 2004 in einem zweisprachigen Bändchen, das den deutschen Text und die chinesische Übersetzung von Reigen mit der Novelle Der letzte Brief eines Literaten zusammenstellte. Die Übersetzung von Han erschien 2011 in dem von ihm herausgegebenen Buch Schnitzler. Ein Lesebuch. Beim Vergleich der drei Übersetzungen muss man leider feststellen, dass es noch immer nicht gelungen ist, eine bessere, fehlerfreie und originalgetreue Übersetzung auf Basis der Historisch-kritischen Ausgabe39 anzufertigen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das chinesische Lesepublikum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl die dramatischen als auch die erzählerischen Texte Arthur Schnitzlers mit großem Interesse aufgenommen hat. Vor allem die modernen chinesischen Schriftsteller haben mit ihren Übersetzungen, die in sehr populären chinesischen Zeitschriften und Verlagen erschienen, zur gesteigerten Rezeption Arthur Schnitzlers in China beigetragen. Nach der sogenannten Befreiung wurde Arthur Schnitzler im sozialistischen China aus politischen Gründen lange Zeit vernachlässigt. Erst mit der Politik der Reform und Öffnung seit Anfang der 1980er Jahre setzte eine Renaissance ein. Die chinesische Germanistik, die sich für die Rezeption Schnitzlers in der neuen Epoche massiv engagiert, entdeckte ihn zunächst als Erzähler neu. Mit der Übersetzung und Aufführung vor allem des Reigens fanden Schnitzlers Dramen allerdings erst im 21.  Jahrhundert wieder Aufmerksamkeit. Wir könnten am Ende einen markanten Unterschied feststellen: Während Arthur Schnitzler in der Bürgerlichen Republik überwiegend von den Schriftstellern und Künstlern auf einem Umweg über England, Frankreich, die USA oder sogar über Japan aufgenommen wurde, ist die Rezeption in der neuen Phase, die erst Anfang der 1980er Jahre begann, von der chinesischen Germanistik geprägt. Dabei wurde Schnitzlers Werk direkt von den deutschen Originalquellen ausgehend erforscht. In der Zeit der Bürgerlichen Republik hat das neugegründete Fach der chinesischen Germanistik kein besonderes Interesse an Schnitzlers Werk bekundet. Dagegen haben die modernen chinesischen Schriftsteller, die eine neue Literatur anstrebten und sich auf der Suche nach modernen Schreibweisen befanden, Arthur Schnitzler als ein Vorbild aus der modernen Literatur einzuführen versucht. In der neuen Epoche nach 1980 entwickelten Germanisten hauptsächlich aus fachlichen Gründen ein Interesse an Schnitzler. Ansatzweise ist dieses disziplinäre Interesse aber auf ein jugendliches Publikum übergesprungen. Die eigentliche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk Arthur Schnitzlers in China hat allerdings auch erst in dieser neuen Epoche begonnen. 39 Arthur Schnitzler: Ein Liebesreigen. Die Urfassung des ‚Reigen‘. Hg. von Gabriella Rovagnati. Frankfurt a.M. 2004.

Siglen Zur Entlastung des Anmerkungsapparats werden bandeinheitlich die folgenden Siglen und Kurzzitierweisen verwendet: ES I/II

Die Erzählenden Schriften. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1962.

DW I/II

Die Dramatischen Werke. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1962.

Br I

Briefe 1875–1912. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a.M. 1981.

Br II

Briefe 1913–1931. Hg. von Peter M. Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a.M. 1984.



Tagebuch 1879–1931. Hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Obmann: Werner Welzig. 10 Bde. Wien 1981–2000.



Die einzelnen Bände:

Tb 1879–1892

Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Susanne Pertilik und Reinhard Urbach. Wien 1987.

Tb 1893–1902

Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Konstanze Fliedl, Susanne Pertilik und Reinhard Urbach. Wien 1989.

Tb 1903–1908

Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach. Wien 1991.

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Siglen

Tb 1909–1912

Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Richard Miklin, Maria Neyses, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach. Wien 1981.

Tb 1913–1916

Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Richard Miklin, Maria Neyses, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach. Wien 1983.

Tb 1917–1919

Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Richard Miklin, Maria Neyses, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach. Wien 1985.

Tb 1920–1922

Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach. Wien 1993.

Tb 1923–1926

Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach. Wien 1995.

Tb 1927–1930

Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach. Wien 1997.

Tb 1931

Incl. Gesamtverzeichnisse 1879–1931. Bearbeitet von Peter M. Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach. Wien 2000.

Schnitzler-Handbuch

Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel. Stuttgart u.a. 2014.

CUL

Cambridge University Library, Nachlass Arthur Schnitzler

DLA

Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Arthur Schnitzler

Die Autoren Judith Beniston: Studium der Germanistik und Romanistik in Oxford, 1993 Promotion, seit 2004 Senior Lecturer in German am University College London. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur und Theatergeschichte 18.–20. Jahrhundert; Übersetzungswissenschaft. Publikationen (Auswahl): „Welttheater“: Hofmannsthal, Richard von Kralik, and the Revival of Catholic Drama in Austria, 1890–1934 (1998); „Drama in Austria, 1918–45“, in A History of Austrian Literature 1918–2000, Hg. Katrin Kohl und Ritchie Robertson (2006); Mitherausgeberin des Jahrbuchs Austrian Studies (2003–2010, 2013). Edition: Arthur Schnitzler: Digitale histor.-krit. Edition. Werke 1904–1914 (Mitherausgeberin, 2017 ff. [Arts and Humanities Research Council]). H ans P eter Buohler: Deutsch- und Geschichtsstudium in Freiburg i.Br. und Halifax/Nova Scotia, 2009–2012 Kustos des Arthur-Schnitzler-Archivs, seit 2011 Dissertationsprojekt über das Sonett im literarischen Expressionismus, seit 2014 Verlagslektor. Forschungsschwerpunkte: Klassische Moderne; Lyrik und Lyrikrezeption; Editionsphilologie. Publikationen: über 30 Artikel im Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums (2008ff.) und zahlreiche Aufsätze. Editionen: Romain Rolland: Über den Gräben. Aus den Tagebüchern 1914–1919 (2015); Arthur Schnitzler: Filmarbeiten. Drehbücher, Entwürfe, Skizzen (hg. mit Achim Aurnhammer u.a., 2015); Es riecht bereits nach Veilchen. Gedichte zum Vorfrühling (2014). Rüdiger Görner: Studium der Anglistik, Germanistik, Geschichte, Musikwissenschaft und Philosophie in Tübingen und London, 1988 Promotion; Professuren in Birmingham und London, seit 2004 an der Queen Mary University of London; zahlreiche Gastprofessuren. Forschungsschwerpunkte: Ästhetische Theorie in der Romantik und um 1900; Wiener Mo­ derne; Geschichte der deutsch-britischen Kulturbeziehungen nach 1800. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2012 Deutscher Sprachpreis der Henning Kaufmann-Stiftung; 2015/16 Reimar Lüst-Preis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Publikationen zuletzt (Auswahl): Das Parfümierte Wort. Die fünf Sinne in literarischer Theorie und Praxis. Die Salzburger Vorlesungen Bd. I (2014); Stimmenzauber. Über eine literaturästhetische Vokalistik. Die Salzburger Vorlesungen Bd. II (2014); Georg

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Die Autoren

Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme (2014); Hadesfahrten. Untersuchungen zu einem literaturästhetischen Motiv (2015); Wortspuren ins Offene. Lyrische Selbst­ bestimmungen (2016); ‚Höher hinaus‘. Türme als literarisches Motiv (2016); ‚Hat man mich verstanden?‘ Denk­ästhetische Untersuchungen zu Nietzsches (Selbst-)Wahr­ nehmungen (2017). M ax H aberich: Studium der Neueren deutschen Literatur, Neueren Geschichte und Kunstgeschichte in York, Aix-en-Provence und Tübingen. 2013 Promotion an der Universität Cambridge. Forschungsschwerpunkte: Nationenkonzepte im 18. Jahrhundert, deutsch-jüdische Identität in der Wiener Moderne, Nietzsches Philosophie und Rezeption. Monographie: Arthur Schnitzler: Anatom des Fin-de-Siècle (2017). Ursula von K eitz: Dr. phil., Professorin für Filmforschung und Filmbildung an der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf  “ und Direktorin des Filmmuseums Potsdam. Co-Leiterin des DFG Langzeitvorhabens zur Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945–2005. Forschungsschwerpunkte: Geschichte, Ästhetik und Theorie des Films, Literatur- und Filmnarratologie sowie Kuratorische Praktiken im Umgang mit dem Filmkulturerbe (Edition, Ausstellung, Medienbildung, kulturelles Gedächtnis des Films). Zahlreiche Publikationen zum Film in Geschichte und Gegenwart, u.a.: Im Schatten des Gesetzes (2005); (Mhg.) Mediale Transformatio­ nen des Holocausts ( 22014); ( Mhg.) Alles dreht sich…und bewegt sich. Der Tanz und das Kino (2017). M arie Kolkenbrock: Studium der Germanistik und Philosophie an der FU Berlin, 2014 Promotion an der University of Cambridge. Nach der Promotion wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Salzburg. Seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der University of Cambridge und dem Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Bio­ graphie in Wien. Monographie: Stereotype and Destiny. Arthur Schnitzler’s Nar­ rative Fiction (2018) (in Vorbereitung). Jacques L e R ider: Professor an der Pariser École pratique des hautes études, Section des Sciences historiques et philologiques. Buchpublikatio­ nen zum Thema Wiener Moderne und Arthur Schnitzler: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und des Antisemitismus (1985); Das Ende der Illusion. Zur Kritik der Moderne. Die Wiener Moderne und die Krisen der Iden­ tität (1990); Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundert­wende (1997); Kein Tag ohne Schreiben. Tagebuchliteratur der Wie­ ner Moderne (2002); Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne (2004); Arthur Schnitzler oder Die Wiener Belle

Die Autoren

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Époque (2006); Les Juifs viennois à la Belle Époque (2013); La Censure à l’œuvre. Freud, Kraus, Schnitzler (2015). Wolfgang Lukas: Studium der Germanistik und Romanistik in München, 1994 Promotion, 2000 Habilitation; seit 2006 Professor für Germanistik/Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wupper­tal, seit 2012 Vorstand des Interdisziplinären Zentrums f. Editionsu. Dokumentwissenschaft (IZED). Forschungsschwerpunkte: Literarische Anthropologie 18.–20. Jahrhundert; Literatur und Diskursgeschichte; Editionsphilologie. Publikatio­nen (Auswahl): Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers (1996); Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moral­diskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730–1770) (2005); (Mhg.) Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2014). Editio­nen: Arthur Schnitzler: Digitale histor.-krit. Edition. Werke 1914– 1931 (Hg. mit Michael Scheffel, 2017ff.); C. F. Meyers Briefwechsel. Histor.-krit. Ausgabe. Bd. 4: Verlagskorrespondenz: Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Her­ mann Haessel mit zugehörigen Briefwechseln und Verlagsdokumenten. (2014ff.). Barbara Neymeyr: Studium der Germanistik, Philosophie, Latinistik und Pädagogik in Münster. 1993 philosophische Promotion, 2000 germanistische Habilitation; seit 2013 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem der Klassischen Moderne. Literatur, Ästhetik, Philosophie. Intertextualität. Publikationen (Auswahl): Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik (1996); Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identi­ tät in Kafkas ‚Beschreibung eines Kampfes‘ (2004); Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ (2005); Utopie und Experi­ ment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays (2009); Inter­textuelle Transformationen: Goethes ‚Werther‘, Büchners ‚Lenz‘ und Hauptmanns ‚Apostel‘ als produktives Spannungsfeld (2012); (Mhg.) Nietzsche als Philosoph der Moderne (2012); (Hg.) Georg Büchner (2013); E.T.A. Hoffmann: ‚Der Sandmann‘ (2014); Kommentar zu Nietzsches ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘ (2017). M ichael Scheffel: Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Tübingen, Tours und Göttingen, 1988 Promotion, 1995 Habilitation; Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft und Gründungsmitglied des Zentrums für Erzähl­ forschung (ZEF) an der Bergischen Universität Wuppertal; Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des Erzählens, Fiktionalitäts­ theorie, Literatur des Realismus und der Jahrhundertwende. Publikationen (Auswahl): Magischer Realismus (1990); Formen selbstreflexiven Erzählens (1997);

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Die Autoren

(Hg.) Erschriebene Natur. Internationale Perspektiven auf Texte des 18. Jahr­hunderts (2001); zus. mit Matías Martínez: Einführung in die Erzähltheorie (1999ff.); (Mhg.) Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen (2006); (Mhg.) Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung (2009); (Mhg.) Klassiker der modernen Literaturtheorie (2010); (Mhg.) Schnitzler-Hand­ buch. Leben – Werk – Wirkung (2014); Arthur Schnitzler. Erzählungen und Ro­ mane (2015). Edition: Arthur Schnitzler: Digitale histor.-krit. Edition. Werke 1914–1931 (Hg. mit Wolfgang Lukas, 2017ff.). Stefan Scherer: Studium Lehramt für Gymnasien Deutsch und Sport in Würzburg, 1992 Promotion, 2001 Habilitation; Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT); Teilprojektleiter der DFG-Forschergruppe Ästhetik und Praxis populärer Se­rialität (2010–2016). Forschungsschwerpunkte: Mediensozialgeschichte der literarischen Form 18.–21.  Jahrhundert; Literatur- und Kultur­zeit­ schriften; Epochenkonstruktion ‚Synthetische Moderne‘ (1925–1955), Tat­ ort-Forschung. Publikationen (Auswahl): Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne (1993); Witzige Spielgemälde: Tieck und das Drama der Romantik (2003); Einführung in die Dramen-Analyse (2. Aufl. 2013); zus. mit Christian Hißnauer und Claudia Stockinger: Föderalismus in Serie (zur ARD-Reihe Tatort, 2014); zus. mit Andreas Hirsch-Weber: Wissenschaftliches Schreiben und Abschluss­arbeit in Natur- und Ingenieurwissenschaften (2016). Giovanni Tateo: Studium der Germanistik und Italianistik in Bari; 2000 Habilitation, seit 2004 Professur für Germanistik/Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Università del Salento (Lecce). Seit 2008 Direktor des „Dipartimento di Studi Umanistici“. Publikationen zum Realismus und Naturalismus sowie zur Literatur der Jahrhundertwende, u.a.: Le voci del rac­ conto. Itinerari narrativi di Gerhart Hauptmann (2002). Italienische Ausgaben von Werken Hermann Bahrs (Die Überwindung des Naturalismus), Richard Beer Hofmanns (Camelias / Das Kind), Conrad Ferdinand Meyers (Das Amu­ lett ), Gerhart Hauptmanns (Phantom, Das Meerwunder), Ferdinand von Saars (Herbstreigen). M ichael Titzmann: Studium der Germanistik und Romanistik in München; Promotion und Habilitation ebd.; Prof. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Passau; 2009 pensioniert. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Methodologie der Textanalyse, Narratologie, Literaturgeschichtsschreibung; Literatur- und Denkgeschichte vom 16. Jahrhundert. bis zur Gegenwart. Publikationen (Auswahl): Strukturale Textanalyse (1977); Struktur­ wandel der philosophischen Ästhetik 1800–1880 (1978); (Hg.) Modelle des literari­ schen Strukturwandels (1991); (Mhg.) Die Literatur und die Wissenschaften 1770–

Die Autoren

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1930 (1997); (Mhg.) Literatur und Wissen(schaften) 1890–1930 (2002); (Hg.) Zwischen Goethezeit und Realismus (2002); (Mhg.) Realismus-Studien (2002); (Mhg.) Heterodoxie in der Frühen Neuzeit (2006); (Mhg.) Galileo Galilei: Lettera a Cristina di Lorena / Brief an Christine von Lothringen (2008); Realismus und Frühe Moderne (2009); (Mhg.) Medien und Kommunikation (32013). A ndrew Webber: Studium der Germanistik und Romanistik in Cambridge, 1996 Promotion, seit 2010 Professur für Moderne Deutsche und Komparatistische Kultur an der Universität Cambridge. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche und europäische Literatur und Film; Psychoanalyse; Kulturtheorie. Publikationen (Auswahl): Sexuality and the Sense of Self in the Works of Georg Trakl and Robert Musil (1990); The Doppelgänger: Double Visions in German Literature (1996); The European Avant-garde, 1900–1940 (2004); Ber­ lin in the Twentieth Century: A Cultural Topography (2008); Cambridge Companion to the Literature of Berlin (2017). Edition: Arthur Schnitzler: Digitale histor.-krit. Edition. Werke 1904–1914 (Mitherausgeber, 2017 ff. (Arts and Humanities Research Council)). X iaoqiao Wu: Studium der Germanistik in Peking und Göttingen, 2005 Promotion; zweijähriger, von der Humboldt-Stiftung geförderter Forschungsaufenthalt in Freiburg i.Br. und Berlin; seit 2011 Professur für Germanistik an der Beihang Universität Peking. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche Literaturgeschichte; Deutsch-chinesische Literaturbeziehungen; Komparatistik. Publikationen (Auswahl): Mesalliancen bei Theodor Fontane und Arthur Schnitzler. Eine Untersuchung zu Fontanes ‚Irrungen, Wirrungen‘ und ‚Stine‘ sowie Schnitzlers ‚Liebelei‘ und ‚Der Weg ins Freie‘ (2005); Komik, Pantomime und Spiel im kuturellen Kontext. Clemens Brentanos Lustspiel ‚Ponce de Leon‘ im Lichte chinesischer Theatertraditionen (2012). M arianne Wünsch: Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in München und Dublin. Promotion 1972, Habilitation 1984. Ab 1989 Professorin am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, seit 2007 Prof. em. Forschungsschwerpunkte: Realismus, Literatur der Frühen Moderne und Theorie und Methodologie der Literatur- und Medienwissenschaft. Publikationen (Auswahl): Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes (1972); Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930) (1984); Realismus (1850–1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche (2007); Moderne und Gegenwart. Erzählstrukturen in Film und Literatur (2012). K arl Zieger: Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Germanistik und Romanistik in Innsbruck und Nantes, 1983 Promotion, 2005

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Die Autoren

Habilitation; seit 2006 Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft, von 2006 bis 2012 an der Universität Valenciennes, seit 2012 an der Universität Lille3. Forschungsschwerpunkte: Naturalismus (Prosa und Theater), Rezeptions­geschichte, österreichisch-französische Kulturbeziehungen. Publi­kationen (Auswahl): Arthur Schnitzler et la France 1894–1938. Enquête sur une réception (2012); (Mhg.) Zola en Europe centrale (2011); (Mhg.) Öster­­reichischfranzösische Kulturbeziehungen 1867–1938 / France-Autriche: leurs relations cultu­ relles de 1867 à 1938 (2012).