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German Pages 316 Year 2013
Achim Aurnhammer Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen linguae & litterae
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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies
Edited by
Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Ekkehard König (Berlin) Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Lorenza Mondada (Basel) Pieter Muysken (Nijmegen) · Wolfgang Raible (Freiburg) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistants Aniela Knoblich Frauke Janzen
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De Gruyter
Achim Aurnhammer
Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen
De Gruyter
ISBN 978-3-11-030750-4 e-ISBN 978-3-11-031320-8 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
Vorliegende Studie konnte dank großzügiger Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Jahre 2006 in Angriff genommen werden. Abgeschlossen wurde sie während eines Forschungsaufenthalts am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) im Jahre 2011. Der Verfasser hat all denen zu danken, die sein Unternehmen mit Rat und Kritik begleiteten: Dieter Martin (Freiburg) und Manfred Pfister (Berlin) unterstützten mich in konzeptionellen Fragen, Peter Michael Braunwarth (Wien), Vivien Friedrich (Wuppertal) und Hans Peter Buohler (Berlin) halfen mir kundig und bereitwillig bei der Entzifferung von Arthur Schnitzlers handschriftlichen Entwürfen. Meinen Mitarbeiterinnen Cornelia Heinsch und Julia Ilgner verdanke ich viele anregende Gespräche über Arthur Schnitzlers Erzählungen. Iljana Weiß, Mira Fischer, Aniela Knoblich und Frauke Janzen bin ich für die Schlussredaktion herzlich verbunden. Das Register erstellte eigenständig Marius Niemann. Dem Freiburg Institute for Advanced Studies, namentlich seinem Direktor Werner Frick, danke ich dafür, dass ich dort ein Jahr lang, von den Alltagspflichten eines Hochschullehrers befreit, mein Buchprojekt präsentieren, diskutieren und fertigstellen konnte. Freiburg, im Frühjahr 2013
Achim Aurnhammer
VII
Inhalt
Inhalt
I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.
Methodologische Überlegungen zur Intertextualität: figural vs. narratorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen intertextueller Anspielungen im Werk Schnitzlers Explizite vs. implizite Intertextualität . . . . . . . . . . . Bedeutung und Geltungsreichweite eines intertextuellen Bezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand: Intertextualität bei Schnitzler . . . . . Untersuchungskorpus und Vorgehensweise . . . . . . .
1
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3 12 13
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15 17 22
›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen (1897) Eine Transposition von Emma Bovarys Kutschfahrt in die Wiener Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
1. 2. 2.1. 2.2. 3. 4. 4.1. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 5.
Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkinterner Bezug: Ein Abschied und erste Skizzen Die dritte Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur und Erzählhaltung . . . . . . . . . . . . . Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flauberts Madame Bovary . . . . . . . . . . . . . . »Die Toten schweigen« – ein Zitat? . . . . . . . . . Achim von Arnim: Die Kronenwächter . . . . . . . . Emanuel Geibel: [1.] Psalm . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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25 27 28 30 32 38 39 47 47 49 51
III.
Die Nächste (1899) und Bruges-la-Morte ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus . . . . . . . . .
53
2. 2.1. 2.2. 3. 4. II.
1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 4.
. . . . . . . . . . .
Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Textfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Textfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Typoskript-Versionen 3 und 4 . . . . . . . . . . Intertextueller Vergleich mit Georges Rodenbach: Bruges-la-Morte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektivierung des Erzählens und Psychologisierung
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53 55 56 58 60
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64 73
VIII IV. 1. 2. 3. 3.1. 3.2. 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 5.
Inhalt
Lieutenant Gustl (1900) Protokoll eines Unverbesserlichen . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Neue Psychologie: Hermann Bahrs Programm der Wiener Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung des Vorbewussten: die narrative Methode der Neuen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle des Lesers in der Neuen Psychologie . . . . . Die Bedeutung der Intertextualität . . . . . . . . . . Narratorial motivierte Intertextualität . . . . . . . . Titelallusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Édouard Dujardin: Les lauriers sont coupés (1888) . . . Figural motivierte Intertextualität . . . . . . . . . . . Gustls Kunst- und Literaturgeschmack . . . . . . . . Felix Mendelssohn-Bartholdys Paulus-Oratorium . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. 87 . 90 . 91 . 91 . 91 . 93 . 97 . 97 . 98 . 101
V.
Andreas Thameyers letzter Brief (1902) Eine intertextuelle Parodie auf das ›Versehen der Frauen‹ . . . 103
1. 2. 3. 4.
Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur und Unzuverlässiges Erzählen . . . . . . . . Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialogizität und wissenschaftsgeschichtlicher Kontext .
VI.
Der letzte Brief eines Literaten (1917) Krise und Kritik des intertextuellen Verfahrens . . . . . . . . 132
1. 2. 3. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6.
Forschungsstand . . . . . . . . . . Textgenese . . . . . . . . . . . . . Unzuverlässiges Erzählen . . . . . . Literarisierungstendenz . . . . . . . Dostojewski: Schuld und Sühne . . . . E.T.A. Hoffmann: Rat Krespel . . . . Goethe: Die Leiden des jungen Werthers Ferdinand von Saar: Marianne . . . . Charlotte und Heinrich Stieglitz . . Dialogizität . . . . . . . . . . . . .
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105 112 120 130
132 134 143 148 149 150 153 157 161 164
IX
Inhalt
VII. »Selig wer in Träumen stirbt« Das literarisierte Leben und Sterben von Fräulein Else (1924) . 166 1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3. 3.1. 3.2. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 5.
Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zweite Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . Der dritte Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . Der vierte Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . Narratoriale Intertextualität . . . . . . . . . . . . . Freuds ›Dora‹ als Prototyp? . . . . . . . . . . . . . Guy de Maupassant: Yvette . . . . . . . . . . . . . Figurale Intertextualität: Elses literarisches Erleben Shakespeares Coriolanus . . . . . . . . . . . . . . . Manon-Figurationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Guy de Maupassant: Notre Cœur . . . . . . . . . . . Alexandre Dumas d. J.: La dame aux camélias . . . . Weitere intertextuelle und intermediale Bezüge und Selbststilisierungen . . . . . . . . . . . . . . .
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166 171 171 174 175 178 180 181 184 189 192 193 195 198
. . . . . . 200
VIII. »Wer war’s der träumte?« Schnitzlers Traumnovelle (1926) – ein Wiener Ulysses? . . . . . . 215 1. 2. 2.1. 2.2. 2.2.1.
Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwürfe von 1922/23 . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit im Entwurf von 1922/23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Das Märchen von Amgiad und Assad als Prätext des Entwurfs von 1922/23 . . . . . . . . . . . . . . . 3. Literarisierungstendenzen in der Traumnovelle – Märchenbezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erzählperspektive und Realitätsstatus . . . . . . . . . . 4.1. Interne Fokalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Phantastisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Zum Realitätsstatus der Traumnovelle . . . . . . . . . . 4.2.2. Prätexte zur ›geheimen Gesellschaft‹ . . . . . . . . . . 4.3. Fridolins literarisches Erleben – figurale Allusionen . . 5. Narratorial motivierte Bezüge . . . . . . . . . . . . . 5.1. Titelmarkierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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215 217 217 221
. . . . 226 . . . . 227 . . . . . . . . .
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230 235 235 239 240 243 247 251 252
X 5.1.1. 5.1.2. 5.1.3. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 6.
Inhalt
7.
Franz Dingelstedt: Traum-Novelle (1839) . August Strindberg: Ein Traumspiel (1902) . ›Novelle‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Onomastische Markierungen . . . . . . . Fridolin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albertine . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturelle Vorbilder – Homers Odyssee und James Joyces Ulysses? Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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252 252 254 257 257 260
IX.
Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
. . . . . . . . . . . 266 . . . . . . . . . . . 269
Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1. 2.
Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Weitere Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Zur Zitierweise unveröffentlichter Texte Schnitzlers . . . . . . . . . 277 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1. 1.1. 1.2. 2.
Quellen . . . . . Werke Schnitzlers Werke Anderer . Darstellungen . .
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279 279 280 283
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
1
I.
Einleitung
Arthur Schnitzler, einer der prominentesten und innovativsten Schriftsteller der Wiener Moderne, war ein passionierter Leser, und er hat seine Lektüren vielfach produktiv verarbeitet. Beides ist der Schnitzler-Forschung erst in Umrissen bekannt. Weder wurde Schnitzlers außerordentlich breiter Lektürehorizont bislang systematisch ausgemessen, noch hat man seine intertextuelle Schreibweise konsequent analysiert. Diesem Desiderat soll eine auf Quellenstudium und Textgenese gestützte intertextuelle Analyse des Erzählwerks am Beispiel von sieben Erzählungen abhelfen. Schon die Zeitgenossen haben das Phänomen der Intertextualität in Schnitzlers Werk erkannt, aber als Symptom ästhetischer Uneigenständigkeit gewertet, das sich entweder gegen ihn ausspielen ließ oder zu relativieren war. Manche frühen Kritiker haben etwa Schnitzler gern als »österreichischen Maupassant« abgestempelt, indem sie in seinem Werk motivliche oder formale Ähnlichkeiten mit dem französischen Dichter entdeckten,1 bevor dann vor allem Tschechow als Schnitzlers Vorbild reklamiert wurde.2 Fürsprecher leugneten die Intertextualität nicht, suchten sie aber auf unterschiedliche Weise zu bagatellisieren. So gestand etwa Richard Specht zu, dass 1
2
Vgl. Hans Landsberg, Arthur Schnitzler, Berlin 1904 (Moderne Essays zur Kunst und Literatur, 33), S. 39: »In Schnitzlers Novellistik finden wir die ganze Summe der Konflikte, Motive, Stimmungen, Gestalten, die uns in seinen Dramen begegnen, wieder. Nur, daß seiner künstlerischen Wesensart das Nebeneinander der Novelle besser entspricht als das dramatische Ineinander. Schnitzler hat als Erzähler eine starke Verwandtschaft mit Maupassant, nur ist er hier nie satirisch, sondern in gutem Sinne sentimental.« Siehe auch: Viktor Klemperer, »Arthur Schnitzler«, in: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum, 6/1906, H. 5 u. 6, Sp. 371–378, hier Sp. 376. Auch Theodor Reik, Arthur Schnitzler als Psycholog, Minden [1913], S. 203, vergleicht Schnitzlers Gestaltung eines Bruderkonflikts im Weg ins Freie ausdrücklich mit Maupassants Roman Pierre et Jean, und noch 1926 wird Schnitzler von dem in Cincinnati wirkenden Philosophiehistoriker Adolph S. Oko auf sein Verhältnis zu Maupassant angesprochen (»Maupassant und ich«) (Tgb 16. 01. 1926). Vgl. Françoise Derré, L’œuvre d’Arthur Schnitzler. Imagerie viennoise et problèmes humains, Paris 1966, S. 488–498. Einen Nachhall dieser frühen Vergleiche findet man noch in Samuel Fischers Würdigung zum 60. Geburtstag: »Schnitzlers Werk, von warmer Menschlichkeit getragen, gliedert sich als Lebensbesitz seiner Ahnenreihe Turgenjew, Tschechow, Chopin an.«, in: Samuel Fischer (u. a.), »Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag«, in: Neue deutsche Rundschau, 33/1922, H. 5, S. 498–513, hier S. 502.
2
Einleitung
Schnitzler bis zum Jahre 1893, als er die Schriftstellerexistenz noch mit dem Arztberuf zu vereinbaren suchte, »Epigone gewesen sei« und »heineisiert, gegrillparzert, gehebbelt, französelt [habe]; dann erst […] konnte er der werden, der er ist«.3 In der neueren Moderne-Forschung ist die Ansicht, dass Intertextualität lediglich ein Ausweis der Epigonalität einer schriftstellerischen Präexistenz wäre, ebenso längst überholt, wie die Annahme zu revidieren ist, Schnitzlers intertextuelle Produktion beschränke sich auf die frühe Phase seines Schreibens. Auch wenn die Prätexte im Frühwerk deutlicher markiert sind und die intertextuellen Bezüge in der mittleren oder späten Schaffensphase mehrschichtiger sowie vielfältiger werden, nimmt die Dialogizität von Schnitzlers Werk keineswegs ab, im Gegenteil: Die Anspielungen auf fremde Texte werden einerseits komplexer, andererseits stärker assimiliert und in den eigenen Text integriert, wie unsere Studien zum erzählerischen Werk zeigen sollen. Schnitzler selbst bekannte sich auch im Alter ausdrücklich zur Bibliothek als maßgeblichem Inspirationsraum. So antwortete er im Jahre 1930 in einem Interview mit George Sylvester Viereck auf dessen Frage, ob er »im Freien« arbeite: »Nein […] mir kommen die Gedanken am leichtesten in meiner Bücherei«.4 Parallel zu dem Interpretationsunternehmen wurde eine Lektüreliste Arthur Schnitzlers erstmals ediert und um die Lektürenotizen im Tagebuch, in den Briefen und in der Autobiographie ergänzt, um so Schnitzlers Bibliothek virtuell zu rekonstruieren.5 Diese Aufstellung, so lückenhaft sie auch ausfallen mag, erlaubt erstmals eine annähernde Erschließung von Schnitzlers Lektüren und ermöglicht es, intertextuelle Werkinterpretationen anzuregen und empirisch zu validieren. Der forscherliche und methodologische Ansatz sei im Folgenden genauer umrissen und im Hinblick auf Schnitzlers Werk perspektiviert.
3
4
5
Richard Specht, Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk. Eine Studie, Berlin 1922, S. 19. Zit. nach George Sylvester Viereck, »Die Welt Arthur Schnitzlers (Interview)«, in: Arthur Schnitzler-Institut Wien (Hrsg.), Arthur Schnitzler (1862–1931). Materialien zur Ausstellung der Wiener Festwochen 1981, zusammengestellt von Peter Michael Braunwarth (u. a.), Wien 1981, S. 19–23, hier S. 23. Vgl. LL.
Methodologische Überlegungen zur Intertextualität: figural vs. narratorial
1.
3
Methodologische Überlegungen zur Intertextualität: figural vs. narratorial
Unter ›Intertextualität‹ versteht man allgemein den Bezug eines Textes auf einen oder mehrere ›fremde‹ Texte, der wesentlich zu Bedeutung und Sinngehalt beiträgt.6 Über die Formen und Funktionen solcher Referenzen und literarischen Dialoge gehen die Meinungen allerdings auseinander, zumal sich im Zuge der neueren Erzählforschung auch die Intertextualitätstheorie gewandelt hat. Zwar blieb das großflächige poststrukturalistische Konzept eines übergreifenden Konnexes aller Literaturen, wie es Julia Kristeva vorgeschlagen hatte, weiterhin eine unverbindliche Bezugsgröße, doch wurden die Heuristiken in den letzten Jahren deutlich differenziert und diversifiziert. So konkurrieren derzeit mehrere Konzepte und Theorien von Intertextualität miteinander, die sich auch begrifflich unterscheiden. Während Gérard Genette Intertextualität auf die »effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text« in Form von Zitat, Plagiat und Anspielung einengt und von anderen Formen der Transtextualität abgrenzt,7 versteht Renate Lachmann darunter »jene neue textuelle Qualität, die aus dem Dialog mit einem fremden Text resultiert«.8 Ulrich Broich und Manfred Pfister unterscheiden die Einzeltextreferenz, den Bezug auf einen bestimmten Prätext, von der Systemreferenz, dem Bezug auf eine Gattung oder Textsorte.9 Um die Intensität eines intertextuellen Bezugs festzustellen, hat Pfister sechs qualitative Kriterien eingeführt, die sich insgesamt als Analyseinstrumentarium bewährt haben. Dies gilt für das Kriterium der Referentialität – die metatextuelle Bezugnahme auf einen Prätext – ebenso wie für das der Selektivität – die Spezifik und Prägnanz der 6
7
8
9
Vgl. zur Intertextualität allgemein Andreas Böhn, »Intertextualitätsanalyse«, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart und Weimar 2007, S. 204–216, und das Themenheft Intertextualität, Henriette Herwig (Hrsg.), Tübingen 2002 (Zeitschrift für Semiotik, 24, H. 2–3). Wolfgang Preisendanz, »Zum Beitrag von R. Lachmann ›Dialogizität und poetische Sprache‹«, in: Renate Lachmann (Hrsg.), Dialogizität. Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, München 1982 (Reihe A, 1), S. 25–28, hier S. 26f., sieht in der ›Intertextualität‹ »ein Verfahren des Bedeutungsaufbaus literarischer Werke«. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (Palimpsestes. La littérature au second degré), Frankfurt/M. 1993, S. 10. Renate Lachmann, »Intertextualität als Sinnkonstitution. Andrej Belyjs Petersburg und die fremden Texte«, in: Poetica, 15/1983, S. 66–107, hier S. 99. Vgl. Manfred Pfister, »Konzepte der Intertextualität«, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hrsg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1–30, bes. S. 17–19.
4
Einleitung
Zitation – und das der Strukturalität – die syntagmatische Integration des Prätexts. Als heuristisch weniger geeignet erscheinen mir dagegen das Kriterium der Kommunikativität, welches nach der »Bewusstheit des intertextuellen Bezugs beim Autor wie beim Rezipienten« fragt,10 sowie das der Autoreflexivität, welches zu erfassen sucht, inwieweit »die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit« in einem Text selbst reflektiert wird:11 Beide Merkmale werden den vielfältigen Präsentationsformen des Erzählens und der Diversifizierung der Erzählinstanzen in der Moderne nicht gerecht, zudem scheint mir die implizite Intentionalität – ohnehin eine problematische Größe in Deutungen ästhetischer Phänomene – kein sinnvoller Gradmesser für Intertextualität.12 Die Dialogizität, Pfisters sechstes Kriterium, das die »semantische und ideologische Spannung« von Prä- und Posttext bezeichnet,13 unterscheidet sich insofern von den übrigen Merkmalen, als es weniger heuristisch-deskriptiv, sondern vielmehr resultativ ist: Es bündelt die diversen Aspekte intertextueller Bezüge. Die jüngere Forschung hat Pfisters autorbezogenen intentionalistischen Theorie-Ansatz zugunsten eines rezeptionsästhetischen Ansatzes modifiziert und die ›Markierung‹ des intertextuellen Bezugs problematisiert. Zu den rezeptionsästhetischen Ansätzen gehört auch Peter Stockers Theorie der intertextuellen Lektüre. Je nachdem, ob auf einen bestimmten Einzeltext oder eine Textklasse referiert wird, unterscheidet Stocker drei Formen intertextueller Bezugnahmen: Zitieren/Demonstrieren, Thematisieren und Imitieren, konzediert aber selbst die mangelnde Trennschärfe der Kategorien.14 10 11 12
13 14
Pfister, »Konzepte der Intertextualität«, S. 27. Ebd. Hans Georg Gadamer, Kunst als Aussage, Tübingen 1993, steht in einer langen hermeneutischen Tradition, wenn er zu Recht daran zweifelt, »ob die Zurückführung eines literarischen Textes auf die Meinungsäußerung ihres Urhebers nicht den Kunstsinn von Literatur überhaupt zerstört« (S. 47). An anderer Stelle bekräftigt Gadamer: »Von einem inspirierten Werk zu reden meint letztlich nichts anderes, als daß der Sinn dessen, was ein Autor schrieb, dasjenige übersteigt, was er selbst wußte oder wollte« (in: Hans-Georg Gadamer/Gottfried Boehm (Hrsg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt/M. 1978, S. 422). Pfister, »Konzepte der Intertextualität«, S. 29. Die verschiedenen Bezüge bezeichnet Peter Stocker, Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn (u. a.) 1998, bes. S. 51–72, mit folgenden Begriffen: Für das Zitieren: Palintextualität (Einzeltext) und Demotextualität (Textklasse), für das Thematisieren: Metatextualität (Einzeltext) und Thematextualität (Textklasse), für das Imitieren: Hypertextualität (Einzeltext) und Similtextualität (Textklasse). Ebd., S. 70, räumt Stocker ein, es sei »mit Fällen zu rechnen, bei denen sich die Trennschärfe zwischen den einzelnen Formen als ungenügend, die zwischen den einzelnen Feldern gezogenen Linien als durchlässig erweisen«.
Methodologische Überlegungen zur Intertextualität: figural vs. narratorial
5
Doch selbst wenn man neben Produktionsintertextualität und Rezeptionsintertextualität intertextuelles Potential dem Text selbst zuschreibt,15 kranken die bisherigen Systematisierungsversuche daran, dass sie zu wenig die Eigengesetzlichkeit der literarischen Präsentationsformen berücksichtigen. Dieses Dilemma zeigt sich in der Frage Graham Allens: »Is the centre of intertextuality in the author, the reader or the text itself ?«16 Zwar wurde das Phänomen transgenerischer Intertextualität etwa in Dramatisierungen oder Verfilmungen von Erzählungen schon häufiger untersucht und als Medienwechsel sogar in das System der Intermedialität integriert, ohne dass aber prinzipiell die Zitate und Anspielungen in Erzähltexten, Dramen oder Gedichten genauer unterschieden werden. Die Unschärfe des gattungsübergreifenden Zugriffs zeigt sich vor allem in Untersuchungen intertextueller Bezüge von Erzähltexten, da die Intertextualitätstheorie mit den Erkenntnissen der modernen Narratologie kaum mehr Schritt hält. Die narratologische Präzisierung der Erzählperspektive, der etwa Genettes Begriff der Fokalisierung entspricht, erfordert es, auch bei intertextuellen Bezügen in Erzähltexten zwischen Erzähler und Figur(en) zu unterscheiden. Gerade die zunehmende Subjektivierung des Erzählens in der Klassischen Moderne, für welche die interne Fokalisierung (Genette) oder Mitsicht (Todorov) die maßgeblichen Erzählperspektiven darstellen, erfordert es, in den intertextuellen Bezügen den Erzähler- oder Figurenanteil zu bestimmen.17 Ausgehend von Wolf Schmids narratologischem Zweistimmenmodell, demzufolge Passagen in Erzähltexten eher narratorial (Erzählertext) oder eher figural (Figurentext) geprägt sein können,18 scheint es mir hilfreich, auch intertextuelle Bezüge, Werkanspielungen und Zitate nach Figuren- und Er-
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Karlheinz Stierle, »Werk und Intertextualität«, in: Ders./Rainer Warning (Hrsg.), Das Gespräch, München 1984, S. 139–150. Vgl. Graham Allen, »Knowledge as a Commodity: Hypertextuality, Intertextuality and Postmodern Pedagogy«, in: Frame. Tijdschrift voor literatuurwetenschap, 16/2002, S. 48–60, S. 59. Peter V. Zima, »Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne«, in: Moritz Csáky/Richard Reichensperger (Hrsg.), Literatur als Text der Kultur, Wien 1999, S. 41–54, nimmt an, dass sich das Phänomen ›Intertextualität‹ im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert habe und dass Beschreibungen den Funktionswandel und die Dynamik der Intertextualität berücksichtigen müssten. Vgl. dazu die Ausführungen von Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin und New York 2005, bes. S. 151–156, und Ders., »Erzähltextanalyse«, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart und Weimar 2007, S. 98–120.
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Einleitung
zählertext zu differenzieren oder als ambivalente Textinterferenz offen zu lassen.19 Wie wichtig eine solche Unterscheidung gerade für Schnitzlers erzählerisches Werk ist, mögen einige Beispiele illustrieren, die den maßgeblichen narrativen Darbietungsweisen entsprechen. In Schnitzlers Erzählungen dominieren die personale Erzählsituation mit Erlebter Rede und die Ich-Erzählung, die über Formen wie Tagebuch und Brief bis zum Inneren Monolog hin subjektiviert ist. Immerhin 17, also etwa ein Drittel der insgesamt 53 Erzählungen in Urbachs Ausgabe, ist in Ich-Form verfasst (17), zwei Drittel (36) etwa sind Er-Erzählungen. Doch auch in den Er-Erzählungen finden sich stark personalisierte Passagen in Erlebter Rede mit einem hohen Anteil an Figurenrede. Das Literaturgespräch oder die literarische Konversation, eine maßgebliche Form narrativer Vermittlung intertextueller Bezüge in der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts, hat Schnitzler allerdings, sieht man von einigen Ausnahmen im Weg ins Freie ab, nur sparsam eingesetzt. In Ich-Erzählungen entspringt der Hinweis auf Gelesenes oder Gehörtes fraglos dem Wahrnehmungs- und Bewusstseinshorizont der Hauptperson, etwa wenn Lieutenant Gustl während Mendelssohns Paulus-Oratorium folgende Assoziationen hat: Lang’ war ich schon nicht in der Oper. In der Oper unterhalt’ ich mich immer, auch wenn’s langweilig ist. Übermorgen könnt’ ich eigentlich wieder hineingeh’n, zur »Traviata«. Ja, übermorgen bin ich vielleicht schon eine tote Leiche! (EI, 337)
Gustl kann sich in Alfredo, dem männlichen Helden von Verdis Oper La Traviata, leicht wiedererkennen. Denn wie Alfredo sich von der Edelprostituierten Violetta verraten glaubt und deren Liebhaber eifersüchtig zum Duell fordert, ist Gustl von seiner Geliebten Steffi, ebenfalls eine Dirne, zugunsten eines Klienten versetzt worden und denkt an das Duell mit einem jüdischen Rechtsanwalt, das ihm am nächsten Tag bevorsteht. So malt er sich über das tragische Ende der Traviata aus, auch er könne sterben wie Violetta. Damit liefert der figurale intertextuelle Bezug im Ich-Modus einen wichtigen Hinweis über den psychischen Zustand des Protagonisten. Da die figural motivierten Allusionen in der Homodiegese zur (Selbst)Charakterisierung des erzählenden Ichs dienen, müssen sie als Rezeptionssignale markiert und erkennbar sein. Allerdings finden sich auch in der Homodiegese narratorial motivierte intertextuelle Anspielungen, etwa wenn die Bedeutung einer ästhetischen Wahrnehmung den Bewusstseins- und Wissenshorizont des er19
Aus pragmatischen Gründen der besseren Verständlichkeit werde ich in den folgenden intertextuellen Interpretationen Pfisters Kriterien verwenden und nur gelegentlich auf die Terminologie Genettes und Stockers zurückgreifen.
Methodologische Überlegungen zur Intertextualität: figural vs. narratorial
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zählenden und erlebenden Ichs übersteigt. Ein Beispiel dafür ist der Wandel des Saulus zum Paulus in Mendelssohns Paulus-Oratorium, der sich Gustl nicht erschließt, aber dem gebildeten Leser als Kontrastmodell zu Gustls Krisenbewältigung dient und ihn die Novelle besser verstehen lässt. Auch für Arthur Schnitzlers Erzählungen in dritter Person scheint mir die Unterscheidung zwischen narratorialer und figuraler Anspielung sinnvoll, da hier die Figurenperspektive in Form einer Redewiedergabe eingespiegelt oder durch sogenannten Figurentext repräsentiert sein kann. So ist es in Frau Berta Garlan eindeutig die Titelheldin selbst, die ihre Jugendliebe, den Geigenvirtuosen Emil Lindbach, auffordert, mit ihr Beethovens Violinsonate Nr. 9, die sogenannte Kreutzersonate, zu spielen: »Aber lieber Schatz, machen wir doch lieber kein Programm.« Dabei legte er den Arm um ihren Nacken, als wollte er ihr so die Zärtlichkeit geben, die nicht im Ton seiner Worte lag. »Emil!« »Nun?« »Morgen wollen wir die Kreutzersonate zusammen spielen – das Andante wenigstens.« »Aber liebes Kind, lassen wir doch endlich die Musik.« (EII, 475)
Da durch Leo Tolstois viel beachtete Erzählung Kreutzersonate, die 1890 zuerst in deutscher Sprache veröffentlicht worden war,20 Beethovens Sonate zum Inbegriff musikalisch-erotischen Einverständnisses geworden war, verrät Bertas Bitte den Wunsch nach einer künstlerischen Partnerschaft, während Emil, wie seine adversativ (»aber«) eingeleitete Absage verdeutlicht, nur an einem sexuellen Abenteuer interessiert ist. In Er-Erzählungen können intertextuelle Anspielungen aber auch figural perspektiviert sein, ohne dass sie in zitierter oder indirekter Rede wiedergegeben sind. Eine charakteristische Stelle aus Doktor Gräsler, Badearzt, in der die intertextuelle Allusion zwar noch von wörtlicher Rede begleitet und in20
Zur Rezeption von Tolstois Kreutzersonate in Deutschland vgl. Edith Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoj als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993. Die Kreutzersonate war in Deutschland kontrovers und prominent diskutiert worden, wie etwa eine kleine Auswahl von Schriften aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts belegt: Vgl. etwa Fürst D. Galitzin, Du sollst nicht töten! Erwiderung auf Graf Leo Tolstois »Kreutzersonate«, übers. von A. Berger, Berlin 1891, Alfred Frhr. von Berger, »Tolstois Kreutzersonate«, in: Bohemia, 75/1891, S. 5–6 (Bericht über Vortrag), Georg Brandes, »Leo Tolstoi«, in: Ders., Menschen und Werke. Essays, Frankfurt/M. 1894, S. 345–360, Lou Andreas-Salomé, »Russische Dichtung und Kultur«, in: Cosmopolis, 1897/08, Bd. 7 (20), S. 571–580, und 1897/09, Bd. 7 (21), S. 872–885, H. Beck, Des Grafen Leo Tolstoi »Kreutzersonate« vom Standpunkte des Irrenarztes, Leipzig 21898.
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Einleitung
sofern als figural markiert ist, zeigt, wie eine Außensicht in eine interne Fokalisierung wechseln kann: Nun hörte er von drinnen ein Rascheln und Knittern. Er öffnete die Tür. Da lag Katharina oder saß vielmehr aufrecht in seinem Bett und sah von einem dicken Buche auf, das sie auf der Decke in beiden Händen hielt. »Du bist doch nicht böse«, sagte sie einfach. Ihre braunen, leicht gelockten Haare rannen aufgelöst über ihre blassen Schultern. Wie schön sie war! Gräsler stand noch immer in der Tür, ohne sich zu regen. Er lächelte; denn das Buch, das auf der Decke ruhte, war der anatomische Atlas. »Was hast du dir denn da ausgesucht?« fragte er, mit einiger Befangenheit nähertretend. »Es ist auf deinem Schreibtisch gelegen. Hätt’ ich nicht sollen? Verzeih! Aber sonst wär’ ich vielleicht eingeschlafen, und da bin ich nicht wach zu kriegen.« Ihre Augen lächelten, ganz ohne Spott, – hingebungsvoll beinahe. Gräsler setzte sich zu ihr aufs Bett, zog sie an sich, küßte sie auf den Hals, und das schwere Buch klappte zu (EII, 173).
Präteritum und dritte Person weisen darauf hin, dass es sich um Erzählertext handelt, doch spätestens mit dem Ausruf »Wie schön sie war!« wechselt die Fokalisierung: Die affektische Sprachfunktion, die Syntax (Ausrufesatz) und die erotische Wertung geben eindeutig den Standpunkt Gräslers wieder: Fortgeführt wird die interne Fokalisierung durch den Hinweis auf Katharinas Lektüre. Der anatomische Atlas, der vor der einfachen, jungen Geliebten Katharina »auf der Decke ruhte«, dient Gräsler nicht nur als Indiz ihrer sexuellen Unbefangenheit, sondern als Appell zum Geschlechtsverkehr. Solche Einspiegelungen personalisierter intertextueller Passagen sind vor allem für Schnitzlers Spätwerk charakteristisch. Die personale Perspektive dominiert, auch wenn sie auktorial getarnt oder durch variable Fokalisierung aufgelockert ist. Charakteristisch dafür ist folgende intertextuelle Allusion in Casanovas Heimfahrt, die Casanovas polemische Abrechnung mit Voltaire als Figurentext präsentiert, wie die affektische Wertung vom »Lästerer«, mehr noch vom »gottlosen Franzosen« zeigt: Da seine Geldmittel recht spärlich geworden waren, hatte Casanova beschlossen, in dem bescheidenen, aber anständigen Gasthof, den er schon in glücklicheren Jahren einmal bewohnt hatte, das Eintreffen der Begnadigung abzuwarten, und er vertrieb sich indes die Zeit – ungeistigerer Zerstreuungen nicht zu gedenken, auf die gänzlich zu verzichten er nicht imstande war – hauptsächlich mit Abfassung einer Streitschrift gegen den Lästerer Voltaire, durch deren Veröffentlichung er seine Stellung und sein Ansehen in Venedig gleich nach seiner Wiederkehr bei allen Gutgesinnten in unzerstörbarer Weise zu befestigen gedachte. Eines Morgens, auf einem Spaziergang außerhalb der Stadt, während er für einen vernichtenden, gegen den gottlosen Franzosen gerichteten Satz die letzte Abrundung zu finden sich mühte, befiel ihn plötzlich eine außerordentliche, fast körperlich peinvolle Unruhe; […] (EII, 231f.).
Methodologische Überlegungen zur Intertextualität: figural vs. narratorial
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In Casanovas Heimfahrt treibt Schnitzler ein narratorial-figurales Vexierspiel mit dem Leser. Denn im Widerspruch zu dieser figural gefärbten intertextuellen Anspielung steht eine narratoriale »Anmerkung« am Schluss der Erzählung. Danach hat zwar ein Besuch Casanovas bei Voltaire in Ferney […] tatsächlich stattgefunden, doch alle in der vorstehenden Novelle daran geknüpften Folgerungen, wie insbesondere die, dass Casanova sich mit einer gegen Voltaire gerichteten Streitschrift beschäftigt hätte, haben mit der geschichtlichen Wahrheit nichts zu tun (EII, 323).
Die narratoriale »Anmerkung« unterminiert allerdings nicht nur die Faktualität der Erzählung, sondern steht auch in Kontrast mit der »geschichtlichen Wahrheit«, auf die sie sich beruft. Denn im Jahre 1769 hat Casanova zwar keine Streitschrift gegen Voltaire, sondern gegen die kritische VenedigGeschichte des Nicolas Amelot d’Houssaie verfasst, aber zehn Jahre später, im Jahre 1779 hat er eine Schmähschrift gegen Voltaire publiziert, die, wie in der intertextuellen Anspielung dargelegt, gegen dessen religiöse Ansichten polemisiert.21 Dadurch, dass die Handlungszeit von Schnitzlers Novelle die Daten 1778 und 1769 überblendet, bleibt der Bezug zweideutig.22 Schnitzlers figural-narratoriales Vexierspiel in Casanovas Heimfahrt unterstreicht die methodologische Notwendigkeit, intertextuelle Allusionen möglichst genau nach Erzähler und Figur zu differenzieren. Auffällig häufig integriert Schnitzler intertextuelle Referenzen in die Figurenrede oder personalisiert sie so, dass sie, intern fokalisiert, Rückschlüsse auf das Innere der Figur zulassen. Mit der Intertextualität kompensiert Schnitzler den Rückzug des Erzählers im subjektiviertem Erzählen und erhellt so im Modus der Mitsicht Charakter und Akkulturation sowie das ›Wahrneh21
22
Giacomo Girolamo Casanova, Confutazione della Storia del Governo Veneto d’Amelot de la Houssaie, 3 Bde., Amsterdam [Lugano] 1769, sowie Ders., Scrutinio del libro »Eloges de M. de Voltaire par différents auteurs«, Venedig 1779, (wieder: Ders., Scrutinio del libro »Eloges de M. de Voltaire par differens auteurs« e altri scritti anti volterriani, Venedig 1799). Man hat Casanovas Voltaire-Kritik psychologisch als enttäuschte Verehrung erklärt, da Voltaire Casanovas Übertragung seines Schauspiels Le café ou l’Ecossaise kritisiert habe. Unbemerkt blieb lange auch, dass Casanovas utopischer Roman Icosameron ou l’histoire d’Édouard et Elisabeth (1788), der in Schnitzlers Erzählung genannt wird, nicht nur im Titel, sondern auch im poetologischen Vorwort Voltaires Erzählung Micromégas parodiert; vgl. Achim Aurnhammer, Androgynie. Studien zu einem literarischen Motiv der europäischen Literatur, Köln und Bonn 1986, S. 146f. Siehe dazu auch allgemein Erich Loos, »Casanova und Voltaire. Zum literarischen Geschmack im 18. Jahrhundert«, in: Hugo Friedrich/Fritz Schalk (Hrsg.), Europäische Aufklärung. FS Herbert Dieckmann, München 1967, S. 141–157. Vgl. Urbach, S. 129.
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Einleitung
mungs-Bewusstsein‹ seiner Figuren. Selbstverständlich finden sich – meist deutlich markierte – figurale intertextuelle Verweise auch in Schnitzlers Dramen, etwa wenn »Der junge Herr« im Reigen »der jungen Frau« sein sexuelles Versagen mit Stendhal als höhere Form der Liebe erklären will.23 Erinnerungen an Lektüren, Theater- und Kunsterlebnisse, Hinweise auf Geschmacksvorlieben sowie assoziative Kunst- und Literaturvergleiche erlauben eine intertextuelle Charakterisierung der Protagonisten, deren Veridikalität umso höher ist, je weniger ›bewusst‹ oder intentional die figurale Intertextualität der jeweiligen Figur ist. Gelesenes erinnern die Figuren häufig nur assoziativ, bisweilen auch in fragmentierter Form im Traum oder gar in verdrängt-veränderten Abwehrformen im sogenannten ›Mittelbewusstsein‹. Beispiel für einen solchen nachträglich bearbeiteten figuralen Lektürehinweis ist in der Traumnovelle das kryptische Gedenken Fridolins an eine Romanlektüre, an die er sich im Hause eines verstorbenen Patienten erinnert, als ihm dessen Tochter Marianne ihre Liebe gesteht: »Stehen Sie doch auf, Marianne«, sagte er leise, beugte sich zu ihr herab, richtete sie milde auf und dachte: natürlich ist auch Hysterie dabei. Er warf einen Seitenblick auf den toten Vater. Ob er nicht alles hört, dachte er. Vielleicht ist er scheintot? Vielleicht ist jeder Mensch in diesen ersten Stunden nach dem Verscheiden nur scheintot –? Er hielt Marianne in den Armen, aber zugleich etwas entfernt von sich, und drückte beinahe unwillkürlich einen Kuß auf ihre Stirn, was ihm selbst ein wenig lächerlich vorkam. Flüchtig erinnerte er sich eines Romans, den er vor Jahren gelesen und in dem es geschah, daß ein ganz junger Mensch, ein Knabe fast, am Totenbett der Mutter von ihrer Freundin verführt, eigentlich vergewaltigt wurde. Im selben Augenblick, er wußte nicht warum, mußte er seiner Gattin denken. (EII, 444).
Der ungenannte »Roman«, an den die Konstellation im Totenhaus Fridolin »flüchtig erinnert«, ist wohl Otfried Mylius’ »Familiengeschichte« Der »Wilde Mann« und das »Feuerzeug«.24 Dort gesteht der preußische Bataillonsarzt Doktor Ludwig Meding seiner Jugendliebe, der verwitweten Frau Beate, am Totenbett ihres sechsjährigen Sohnes seine Liebe:
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Vgl. Arthur Schnitzler, Reigen, Szene IV: Der junge Herr und die junge Frau. Der junge Herr Kennst du Stendhal? Die junge Frau Stendhal? Der junge Herr Die »Psychologie de l’amour«? Die junge Frau Nein, warum fragst du mich? Der junge Herr Da kommt eine Geschichte drin vor, die sehr bezeichnend ist (DI, S. 343). Vgl. die ausführliche Analyse im Kapitel zur Traumnovelle.
Methodologische Überlegungen zur Intertextualität: figural vs. narratorial
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Und in ihrer Verzweiflung legte sie Hände und Haupt unbewußt auf Meding’s Schulter. »Herr, hilf! Herr, gib mir die Fassung und Kraft! Es ist das Liebste, was Du mir vollends entziehst!« Und die Kraft schien die arme Mutter zu verlassen – ihre Kniee wankten und ohne Ludwigs schützende Arme wäre sie zu Boden gesunken. Er aber trug sie zum Lehnstuhle, bettete sie hinein und verschwendete alle Liebe und Sorge an sie, deren er nur fähig war. Sie kam wieder zu sich, und sah, daß er vor ihr kniete und ihre Hand an seinen Mund drückte und mit Küssen bedeckte und mit Thränen. »Ludwig,« flüsterte sie, »was soll das seyn?« »Verzeihung, Beate! ich konnte nicht anders,« entgegnete er. »Ich habe Ihnen unbewußt oft wehe gethan und in meiner Bitterkeit Ihnen gegrollt; darum legt mir die Vorsehung jetzt die Pflicht auf, in dieser schweren Stunde als Freund zu Ihrer Seite zu stehen; allein ehe ich dieß kann, muß ich mein Unrecht abbüßen! O lassen Sie mich so knieen, Beate!« »Nein, stehen Sie auf, Ludwig! an mir wäre es, so vor Ihnen zu knieen […]. Glauben Sie meinem ernsten Geständniß in dieser ernsten Stunde, angesichts dieses sterbenden Kindes […]: ich habe Sie inniger geliebt, da ich Sie verloren hatte, als ich Sie je in glücklichem Besitze geliebt haben würde!« »Und ich, Beate, auch ich habe nie aufgehört, Dich zu lieben!« entgegnete Meding. »Hier, an diesem Sterbebette, wo alles Irdische so werthlos erscheint, darf ich es ja wohl gestehen, ohne einen Frevel zu begehen oder eine Sünde wider den Geist: ich liebe Dich jetzt inniger als je, obschon hoffnungsloser!« Und er senkte von neuem sein Haupt auf ihre Hände und küßte diese.25
Der assoziative Zusammenhang des Prätexts in Fridolins Erinnerungsbild resultiert aus einer spezifischen Verdrängung: Ist es im Prätext der Arzt, der die Hinterbliebene küsst und vor ihr niederkniet, so ist es in der Traumnovelle die Frau, die vor dem Arzt kniet, ihn unter Tränen umarmt und küsst, bis Fridolin die Kniende auffordert, aufzustehen: »Stehen Sie doch auf, Marianne« (EII, 444). Bezeichnenderweise ereignet sich das Liebesgeständnis in dem Mylius-Roman »an dem Totenbett des einzigen Kindes«,26 und nicht, wie sich Fridolin zu erinnern meint, »am Totenbett der Mutter«. Die Verdrängung, welche die figural motivierte Leseerinnerung Fridolins modifiziert, verkehrt die Geschlechterrollen des Prätexts. Indem Fridolin sich in seinem Erinnerungsbild in der Rolle des unschuldigen Knaben und Marianne als mütterliche Freundin sieht, entschuldigt und entsexualisiert er sein Verhalten und lädt alle Schuld des Ehebruchs schon im Vorhinein auf Marianne und mittelbar auf seine Ehefrau Albertine. 25
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Otfried Mylius, »Der ›Wilde Mann‹ und das ›Feuerzeug‹. Eine Familiengeschichte«, in: Erheiterungen, 35/1863, S. 1–20, 68–79, 81–97, 146–152, 179–192, hier S. 191. Erste Buchausgabe unter dem Titel: Der Wilde-Mann und das Feuerzeug. Eine bürgerliche Familiengeschichte, Stuttgart 1868 (Familien-Geschichten, 2), hier S. 216f. mit minimalen orthographischen Abweichungen. Mylius, »Der ›Wilde Mann‹ und das ›Feuerzeug‹«, S. 191.
12
Einleitung
Schnitzlers dezidiert psychologischer Einsatz intertextueller Bezüge zeigt sich darin, dass literarische Subtexte fast immer die Figuren und ihr Handeln mitbestimmen und sich teilweise sogar in Struktur und Erzählstil niederschlagen.
2.
Formen intertextueller Anspielungen im Werk Schnitzlers
Die intertextuellen Bezüge in Schnitzlers Werk lassen sich nach dem Grad ihrer Explizitheit und ihrer Geltungsreichweite ordnen. Das Thema der Erkennbarkeit intertextueller Bezüge hat die literaturtheoretische Diskussion lange bestimmt, und tatsächlich sind die Fragen der Markierung, Plausibilität und hermeneutischen Relevanz strittig. Diese Streitfrage betrifft auch unsere bisher unübliche Unterscheidung figuraler und narratorialer Intertextualität, die hinsichtlich ihrer Explizitheit, Komplexität, Markierung und Latenz prinzipiell variieren. Da figurale Intertextualität in stark personalisierten Texten wie im Inneren Monolog im Dienste einer – ohne eigene Erzählerstimme auskommenden – Figurencharakterisierung für den Leser steht, darf sie grundsätzlich nicht zu esoterisch sein, um überhaupt funktionieren zu können. Dass etwa Fräulein Else sich nach diversen trivialisierten Mustern theatralisch stilisiert, soll der Leser erkennen und kritisch sehen, und wird es auch kritisch sehen, wenn er die jeweils von der Figur beanspruchten Muster (Operntod, Manon-Lescaut-Figurationen, Trivialroman) wiedererkennt. Fraglich ist, inwieweit verdeckte Zitate und Allusionen, wie sie gerade für Fräulein Else typisch sind, als Charakterisierungsmittel dienen, wenn sie erst voraussetzungsreicher Dechiffrierarbeit bedürfen. Zwar sind sie jeweils für sich genommen nicht notwendig, sondern ersetzbar, doch eröffnen die zahlreichen vagen Bezüge, die Else selbst mehr oder weniger bewusst sind, den Lesern ein weites Feld möglicher Anschlüsse an eigene Lektüren und zusätzliche Erkenntnisse über Elses ›Wahrnehmungsbesetzung‹. Bei der narratorialen Intertextualität kann der Autor freilich die ganze Skala von stärkster bis verschwindender Markierung ausschöpfen, je nachdem, wie sehr er sein Werk als produktive Auseinandersetzung mit einem Vorbild ausweisen oder seine Entlehnungen camouflieren möchte. Unabhängig von dieser Unterscheidung scheinen mir einige heuristische Leitlinien sinnvoll, die es erlauben, die Formen intertextueller Bezüge pragmatisch zu differenzieren.
Formen intertextueller Anspielungen im Werk Schnitzlers
2.1.
13
Explizite vs. implizite Intertextualität
Die jüngere Forschung untersucht vor allem das Problem der Markierung eines Textbezugs oder eines ›Referenzsignals‹ (Lachmann). Dass ein intertextueller Bezug mehr oder weniger deutlich markiert und erkennbar sein kann, steht außer Frage, unklar ist aber, wie und woran sich die Stärke eines Referenzsignals messen lässt. Auch wenn unstrittig ist, dass es sich um graduelle Unterschiede handelt, hat sich die Taxonomie explizite vs. implizite Intertextualität bewährt, während sich differenziertere Beschreibungen und Skalierungen nicht durchsetzen konnten.27 Allerdings leuchtet Grimanns Modifikation nicht ein, unter expliziter Intertextualität nur »intendierte Verweise auf ein anderes Werk« zu verstehen,28 da die Intentionalität einem produktionsästhetischen Intertextualitätskonzept entstammt. Zu den expliziten Formen intertextueller Bezüge gehören vorrangig die onomastischen Markierungen, in denen Namen, Titel oder Zitate die Textreferenz deutlich anzeigen. So hat Schnitzlers Erzählung Wohltaten, still und rein gegeben einen Vers von Matthias Claudius zum Titel und unterstreicht auf diese Weise, dass sie dessen Gebot zur Armenfürsorge zynisch widerlegt. Auch verweisen literarisch vorbelastete Namen von Protagonisten prinzipiell auf mögliche Vorbilder, wie etwa Emma in Die Toten schweigen auf Gustave Flauberts Romanfigur Emma Bovary oder Cleophas, der in der Parabel Die grüne Krawatte zum Objekt allgemeinen Gespötts wird, entweder auf den biblischen Emmaus-Jünger, der nicht weiß, wie ihm geschieht, oder auf den gleichnamigen Studenten und satirischen Betrachter in Lesages Hinkendem Teufel (Le Diable boiteux).29 Zu onomastischen Markierungen zählen etwa auch Literaturreflexionen, wie in dem nachgelassenen Gespräch, welches in der Kaffeehausecke nach Vorlesung der ›Elixiere‹ geführt wird (1890). In dem metapoetischen Gespräch über Schnitzlers eigene Erzählung Die drei Elixiere (1894) empfiehlt Anatol seinen Kaffeehausfreunden »die Novelle von Mendès […], ›Le troisième oreillier‹ [!]« zur Lektüre, um sie selbst so zusammenzufassen: »Das ist die Geschichte von dem dritten Polster, der unsichtbar neben den zwei Polstern liegt,
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So unterscheidet Jörg Helbig, Intertextualität und Markierung, Heidelberg 1996, bes. S. 83–138, die unmarkierte Intertextualität (›Nullstufe‹) von der implizit (›Reduktionsstufe‹) und explizit markierten (›Vollstufe‹) bis hin zur thematisierten Intertextualität (›Potenzierungsstufe‹). Vgl. Thomas Grimann, Text und Prätext. Intertextuelle Bezüge in Fontanes ›Stine‹, Würzburg 2001, S. 255. Cleophas/Kleophas ist Josephs, des Pflegevaters Jesu, Bruder, der die Schwester der Maria zur Ehefrau hatte (Joh 19, 25). Er gilt mit dem Emmaus-Jünger Cleophas (Luc 24, 18) und mit dem Alphäus für eine Person.
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Einleitung
auf welchen die zwei Häupter der Liebenden ruhen.«30 Anatols Fazit resümiert den Schluss der kleinen Erzählung Le troisième oreiller, die sich unter den Prosaminiaturen in Jupe courte findet.31 Meist genügt aber auch die Nennung eines Werktitels wie etwa in Fräulein Elses Reflexion: »Das Buch aufs Nachtkastel, ich lese heut’ Nacht noch weiter in ›Notre Cœur‹, unbedingt, was immer geschieht« (EII, 337). Obgleich der Name des Autors Maupassant ungenannt bleibt, erlaubt der Titel des Romans, Elses Nachttischlektüre eindeutig zu identifizieren. Allerdings erfordern auch explizite Markierungen rezeptionsästhetische Kompetenz und Belesenheit, da die Informationen über den Prätext in der Regel eher fragmentarisch sind, indem sie ein Werk nur über eine Rolle oder Figur (z. B. »Kläre Hell als ›Königin der Nacht‹« in Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg (EI, 580)) oder in Form eines Motivs andeuten können. Neben solchen expliziten Markierungen finden sich auch implizite oder verdeckte Bezugnahmen auf literarische Muster. Versteht man mit Renate Lachmann darunter nicht versprachlichte »Überschneidungen von präsentem und absentem Text«,32 die erst eine »plurale Sinnkonstitution« entstehen lassen, so schließt dies neben dem weiten Feld der Interdiskursivität punktuelle situative, konstellative und strukturelle Similaritätsrelationen ein. Diese Ähnlichkeiten können mehr oder weniger plausibel sein. So sieht Gesa Dane allein in der »Altersangabe des Protagonisten [›In seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahre‹ (EII, 231)] gleich zu Beginn der Erzählung« Casanovas Heimfahrt »einen engen intertextuellen Bezug zu Goethes Der Mann von funfzig Jahren und Thomas Manns Der Tod in Venedig«.33 Dagegen lassen es Theodor und 30
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Arthur Schnitzler, »Gespräch, welches in der Kaffeehausecke nach Vorlesung der ›Elixiere‹ geführt wird«, in: EuV, S. 38–39, hier S. 39. Die Episode stimmt mit einer autobiographischen Aufzeichnung aus der Jugend in Wien (7. Kapitel) überein: »Ein kleines Geschichtchen von Catulle Mendès fiel mir ein, ›Le troisième oreiller‹, – eine sentimentale Plauderei von dem dritten Polster, der unsichtbar neben den zwei Polstern jedes Liebespaares liegt […]« (JW, S. 318). Vgl. Catulle Mendès, »Le troisième oreiller«, in: Jupe courte, Paris 1884, S. 119–131, hier S. 131: »[…] aucune femme ne se donne, qui ne se partage, en rêve du moins, et dans le lit de toutes les épouses et toutes les maitresses, triomphe, invisible, le troisième oreiller!«. Die Erzählung wurde auch separat abgedruckt, etwa in: Le Mousquetaire, 3/1887, Nr. 81 (05. 05. 1887), S. 1. Jupe courte findet sich auch auf Schnitzlers Leseliste (LL F108). Renate Lachmann, »Ebenen des Intertextualitätsbegriffs«, in: Karl-Heinz Stierle/ Rainer Warning (Hrsg.), Das Gespräch, München 1984, S. 133–138, bes. S. 136f. Vgl. Gesa Dane, »›Im Spiegel der Luft‹. Trugbilder und Verjüngungsstrategien in Arthur Schnitzlers Erzählung ›Casanovas Heimfahrt‹«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Arthur Schnitzler, München 1998 (Edition Text + Kritik, 138/139), S. 61–75, hier S. 62. Allerdings erhärtet Dane im Folgenden die These des intertextuellen Bezugs mit guten Gründen.
Formen intertextueller Anspielungen im Werk Schnitzlers
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Beatrice Alexander offen, ob Schnitzlers Fräulein Else von Maupassants Novelle Yvette beeinflusst wurde, obgleich sie zahlreiche schlagende Analogien vom Figurenkonzept (›deklassierte Fräuleins‹) über die Konstellation bis zur Handlung (Suizid als Ausweg) und zu einzelnen Motiven nachweisen können.34 Gelegentlich akzentuiert Schnitzler Bezugnahmen durch stilistische Nachbildung. So ist die Erzählung Der Mörder in Kleists hypotaktisch verschachtelt-uneindeutiger Manier erzählt, und im Letzten Brief eines Literaten beleiht der Briefschreiber für seine Lebensbeichte mehrere literarische Muster von Goethe bis Ferdinand von Saar. Die stilistische Nachahmung kann aber auch, wenn eine Textstelle stilistisch erkennbar vom Kontext abweicht, klar begrenzt und markiert sein. So alludiert am Ende der Traumnovelle eine rhythmisierte Passage im hohen pathetischen Stil Penelopes Klage in der Odyssee und beleuchtet damit Albertines Rede in besonderer Weise. 2.2.
Bedeutung und Geltungsreichweite eines intertextuellen Bezugs
Unabhängig von dem Grad der Explizitheit eines Referenzsignals kann die ›Geltungsreichweite‹ eines intertextuellen Bezugs variieren. Es kann sich um einen punktuellen situativen Konnex handeln, welcher eine bestimmte Figur, Situation oder Handlung durch eine prätextuelle Homologierelation erhellt, etwa wenn Mathilde in der Erzählung Die griechische Tänzerin sich an ihre libertinistische Zeit in Paris erinnert und zur Illustration ihres damaligen Lebensgefühls ein »›klassisches‹ Montmartre-Lied« zitiert:35 »Also denken Sie, eines schönen Abends habe ich mir Männerkleider angezogen und bin so mit Gregor auf Abenteuer aus. […] Es war wunderschön … Mai … ganz warm … und ich war frech, davon machen Sie sich keinen Begriff. […] In einem kleinen Restaurant auf dem äußeren Boulevard haben wir diniert, dann sind wir in die Roulotte gegangen, wo damals Legay sang und Montoya … ›Tu t’en iras les pieds devant‹ … Sie haben es ja neulich hier gehört im Wiedener Theater – nicht wahr?« Jetzt warf Mathilde einen raschen Blick zu ihrem Mann hinüber, der nicht darauf achtete. Es war, als wenn sie nun auf längere Zeit von ihm Abschied nähme (EI, 574f).
Der bitter-fatalistische Totentanz-Chanson war auch in deutschen Kabaretts und ihrem Wiener Zuhörer bekannt. Doch entgeht dem Ich-Erzähler in sei34
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Vgl. Theodor W. Alexander/Beatrice W. Alexander, »Maupassant’s ›Yvette‹ und Schnitzler’s ›Fräulein Else‹«, in: Modern Austrian Literature, 4/1971, H. 3, S. 44–55, hier S. 53: »Whether Schnitzler was influenced by Maupassant is a question that we cannot and should not decide with great certainty.« Zit. nach Urbach, S. 116.
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Einleitung
ner stark projektiv überformten Schilderung der Bezug des Lied-Zitats auf ihn selbst, wie ihn vor allem die dritte Strophe nahelegt.36 Darin droht ein verlassener Liebhaber, eifersüchtig auf seinen Rivalen, der untreuen Geliebten mit dem unvermeidlichen Tod (»Mit den Füßen voran wirst du dich davonmachen«). Ein kundiger Leser konnte somit im Zitat die verhüllte Kritik am eifersüchtigen Liebhaber erkennen, welcher der ehemaligen Geliebten den Tod wünscht. Überdies datiert und aktualisiert das Zitat indirekt das Geschehen der Novelle, denn die seinerzeit berühmte Pariser Schauspielerin Yvette Guilbert präsentierte im Februar 1902 in Wien ihr Programm Montmartre en ballade, zu dessen darstellenden Künstlern auch die bei Schnitzler erwähnten Gabriel Montoya und Marcel Legay gehörten, die Hermann Bahr in seiner Rezension – möglicherweise der Prätext dieser Stelle – ausdrücklich nennt.37 Weiter als diese Episode reicht der intertextuelle Bezug zwischen der Kutschfahrt Emmas und Franzens in Die Toten schweigen und der Kutschfahrt, die Emma Bovary mit ihrem Geliebten Léon unternimmt, obgleich er klar abgegrenzt ist und die Erzählung deutlich über ihn hinausweist. Die Geltungsreichweite eines intertextuellen Bezugs kann sich aber auch auf einen kompletten Text erstrecken. So bleibt das Märchenfragment, das zu Beginn der Traumnovelle die kleine Tochter ihren Eltern vorliest, ein Referenztext für die gesamte Handlung, und zwar sowohl für Albertines Traum wie für Fridolins nächtliche Abenteuer:
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Die dritte Strophe lautet: Tu t’en iras les pieds devant, Oh toi qui mens quand tu te signes, Maîtresse qui liras ces lignes, En buvant le vin de mes vignes, A la santé d’un autre amant, Brune ou blonde, être dont la grâce, Sourit comme un masque grimace, Voici la camarde qui passe. Tu t’en iras les pieds devant. Vgl. Maurice Boukay, Nouvelles chansons, rêves, joies, regrets, Paris 1895, S. 244f. Vgl. Hermann Bahr, »17. Jänner 1902 [Yvette Guilbert]«, in: Ders., Rezensionen. Wiener Theater 1901 bis 1903, Berlin 1903, S. 196, und Karl Kraus’ titellose Notiz in: Die Fackel, 3/1902, Nr. 93, S. 24. Zur Bedeutung von Yvette Guilbert vgl. Roger Stein, Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht, Köln, Weimar und Wien 22007, S. 92–106, bes. S. 102. Das Lied zitieren zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch Alfred Kerr, Gesammelte Schriften. Eintagsfliegen, Berlin 1917, S. 331f., und Heinrich Mann in seinem letzten Roman Atem [1949], Peter-Paul Schneider (Hrsg.), Frankfurt/M. 32007, S. 338.
Forschungsstand: Intertextualität bei Schnitzler
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»Vierundzwanzig braune Sklaven ruderten die prächtige Galeere, die den Prinzen Amgiad zu dem Palast des Kalifen bringen sollte. Der Prinz aber, in seinen Purpurmantel gehüllt, lag allein auf dem Verdeck unter dem dunkelblauen, sternbesäten Nachthimmel, und sein Blick –« Bis hierher hatte die Kleine laut gelesen; jetzt, beinahe plötzlich, fielen ihr die Augen zu. Die Eltern sahen einander lächelnd an, Fridolin beugte sich zu ihr nieder, küßte sie auf das blonde Haar und klappte das Buch zu, das auf dem noch nicht abgeräumten Tische lag. Das Kind sah auf wie ertappt. (EI, 434).
Auch konstellative und strukturelle intertextuelle Bezüge, die über selektive Einzelstellenreferenzen hinausgehen, können einen Posttext in seiner Gänze strukturieren. So prägt Maupassants Erzählung Yvette Schnitzlers Fräulein Else in konstellativer, thematischer und struktureller Hinsicht, wie Theodor und Beatrice Alexander vorgeschlagen haben. Ein solcher hypertextueller Bezug – um Genettes Terminologie zu beleihen – erfordert allerdings wie die implizite Markierung einen belesenen Leser, der anhand der Figurenkonstellation, einer charakteristischen Handlung oder motivlicher Entsprechungen einen Hypotext identifizieren kann. Bei Systemreferentialität lässt sich ein einzelner Text oft gar nicht erkennen, hier kann ein spezifischer zeitgenössischer Diskurs oder ein Thema oder Stoff den Bezug liefern, ohne dass damit auf eine bestimmte literarische Bearbeitung Bezug genommen worden sein muss. So lässt sich etwa im Letzten Brief eines Literaten ein Bezug zum Charlotte-Stieglitz-Komplex erkennen, ohne dass eine bestimmte Aktualisierung als klar erkennbarer Prätext ausgemacht werden könnte. Die tragische Geschichte der Charlotte Stieglitz, die durch Selbstmord ihrem Mann, dem Schriftsteller Heinrich Stieglitz, aus einer Schaffenskrise helfen wollte, war bis ins 20. Jahrhundert häufig kritisch behandelt worden.
3.
Forschungsstand: Intertextualität bei Schnitzler
Arthur Schnitzlers intertextuelle Verfahrensweisen sind bislang noch nicht systematisch erforscht worden, weder für das erzählerische noch für das dramatische Werk. Reinhard Urbach hat in seinem Kommentar zwar zahlreiche literarische Anspielungen und intertextuelle Bezüge aufgelöst, doch ist Arthur Schnitzlers Werk so ›hochgradig‹ intertextuell angelegt, dass hier noch große Defizite bestehen und weitere Entdeckungen möglich sind. Einige Überblicksvergleiche zum Verhältnis Schnitzlers zu diversen Nationalliteraturen38 38
Von den komparatistischen Schnitzler-Studien, die auch auf Schnitzlers Rezeption der jeweiligen Nationalliteraturen eingehen, seien exemplarisch angeführt: Derré, L’œuvre d’Arthur Schnitzler, Elisabeth Heresch, Schnitzler und Russland, Wien 1982,
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Einleitung
oder zu anderen motiv- oder formähnlichen Werken können das Manko intertextueller Studien nicht ausgleichen.39 Für das dramatische Werk wurde eine produktive Dialogizität mit dem bürgerlichen Trauerspiel konstatiert, wie sich aus der Textgenese der Liebelei noch bekräftigen lässt.40 Zugleich sind die Anfänge des französischen Theaters wohl stärker als bisher angenommen. So hat Reinhard Urbach überzeugend nachgewiesen, wie sehr der Anatol-Zyklus vom Theater Victorien Sardous beeinflusst ist.41 Nur ansatzweise sind die Bildungsdramen Paracelsus und Die Schwestern oder Casanova in Spa auf ihre intertextuellen Bezüge hin erforscht,42 für die historischen Dramen Der junge Medardus oder Der Schleier der
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Hans Roelofs, »›Man weiß eigentlich wenig von einander‹. Arthur Schnitzler und die Niederlande. 1895–1940«, in: Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 84/1989, Yukio Ozawa, Japanisches bei Arthur Schnitzler. Japanische Einflüsse auf Schnitzler und die Rezeption Schnitzlers in Japan, Bern und Frankfurt/M. 1995, Leopold R. G. Decloedt, »Eine mühsame Reise ins Unbekannte. Arthur Schnitzler und Belgien«, in: Ian Foster/Florian Krobb (Hrsg.), Arthur Schnitzler: Zeitgenossenschaften / Contemporaneities, Bern 2002 (Wechselwirkungen, 4), S. 55–70, Mariana Virginia L˘az˘arescu, »Zur Rezeption Schnitzlers in Rumänien – Schnitzlers Beziehungen zur rumänischen Literatur«, in: Ian Foster/Florian Krobb (Hrsg.), Arthur Schnitzler: Zeitgenossenschaften / Contemporaneities, Bern 2002 (Wechselwirkungen, 4), S. 43–53, Konstanze Fliedl, »Arthur Schnitzler und Italien«, in: Eduard Beutner/ Karlheinz Rossbacher (Hrsg.), Ferne Heimat – Nahe Fremde. Bei Dichtern und Nachdenkern, Würzburg 2008, S. 132–147, Karl Zieger, Arthur Schnitzler et la France (1894–1938). Enquête sur une réception, Villeneuve d’Ascq 2012. Vgl. etwa Julia Bertschik, »Zwischen männlichem Tauschobjekt und lebendigem Gastgeschenk: die Figur der ›Gästin‹ bei Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Vicki Baum«, in: Peter Friedrich/Rolf Parr (Hrsg.), Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation, Heidelberg 2009, S. 317–332. Vgl. Axel Fritz, »Vor den Vätern sterben die Töchter. Arthur Schnitzlers Schauspiel ›Liebelei‹ und die Tradition des bürgerlichen Trauerspiels«, in: Christiane Pankow (Hrsg.), Österreich. Beiträge über Sprache und Literatur, Stockholm 1992, S. 63–80, und Dieter Martin, »›Liebelei‹. Das Scheitern des arrangierten Lebens«, in: Hee-Ju Kim/Günter Saße (Hrsg.), Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen, Stuttgart 2007, S. 46–55, sowie die textgenetische Dissertation zur Liebelei von Vivien Friedrich, deren Abschluss bald bevorsteht. Reinhard Urbach, »Schnitzlers Anfänge. Was Anatol wollen soll«, in: IASL, 33/2008, S. 113–154. Auch den Namen des Protagonisten verdankt Schnitzler wohl Victorien Sardou. Vgl. G. J. Weinberger, »Arthur Schnitzler’s ›The Sisters, or Casanova in Spa‹ as Bildungskomödie«, in: Jeffrey B. Berlin [u. a.], Turn-of-the-Century Vienna and its Legacy. Essays in Honour of Donald G. Daviau, Wien 1993, S. 89–102, Carina Lehnen, »Casanova bei Arthur Schnitzler«, in: Dies., Das Lob des Verführers. Über die Mythisierung der Casanova-Figur in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1899 und 1933, Paderborn 1995, S. 179–232.
Forschungsstand: Intertextualität bei Schnitzler
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Beatrice fehlen bis heute die nötigen quellengeschichtlichen Vorarbeiten. Abgesehen von vereinzelten Vergleichsstudien zu Schnitzlers Dramen sowohl in einzeltext- als auch in systemreferentieller Hinsicht, stehen für das Gros von Schnitzlers Dramen intertextuelle Analysen noch aus.43 Etwas besser, aber keineswegs gründlich erforscht sind die intertextuellen Bezüge im erzählerischen Werk. Die meisten Untersuchungen erschließen die Textbezüge im Frühwerk. Die Pionierstudie stammt von Barbara Surowska.44 Sie wies überzeugend nach, dass Schnitzlers Erzählung Die Toten schweigen (1897) mit der Protagonistin Emma als maßgeblicher Prätext die Kutschfahrt Emma Bovarys mit ihrem Geliebten Léon aus Gustav Flauberts Roman zugrunde liegt. Der Hinweis von Richard Maria Werner, Arthur Schnitzler habe das zentrale Motiv des Liebestods in Sterben Jakob Julius Davids Roman Das Höferecht abgeborgt, blieb folgenlos.45 Wie in der nachgelassenen Erzählung Die Nächste (1899) Georges Rodenbachs Roman Das tote Brügge als Prätext nach Maßgabe der ›Neuen Psychologie‹ Hermann Bahrs produktiv verarbeitet wird,46 erhellt Schnitzlers intertextuelles Erzählen ebenso wie Barbara Beßlichs Analyse der Kleinen Komödie (1895).47 Sie 43
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Vgl. etwa Karin Wolgast, »Arthur Schnitzler: ›Die Verwandlungen des Pierrot‹, ›Der Schleier der Pierrette‹«, in: Dies., Die Comedia dell’arte im Wiener Drama um 1900, Frankfurt/M. 1993 (Analysen und Dokumente, 31), S. 117–126, und Françoise Derré, »Une curieuse interférence: Les journalistes et Les deux canards«, in: Jacques Le Rider (Hrsg.), Les journalistes de Arthur Schnitzler: satire de la presse et des journalistes dans le théâtre allemand et autrichien contemporain, Tusson 1995, S. 250–262. Barbara Surowska, »Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle ›Die Toten schweigen‹«, in: Orbis Litterarum, 40/1985, S. 372–379. Zusammenfassung ihrer Ausführungen in Dies., Die Bewußtseinsstromtechnik im Erzählwerk Arthur Schnitzlers, Warschau 1990, S. 143–156. Vgl. Richard Maria Werner, »Tod und Sterben«, in: Vollendete und Ringende. Dichter und Dichtungen der Neuzeit, Minden 1900, S. 263–280, hier S. 271. Die intertextuelle Anleihe würde auch erklären, warum Schnitzler seinerseits die Bedenken des jungen Autors Franz Nabl zerstreute, der fürchtete, seine Erzählung Der Schwur des Martin Krist gleiche zu sehr Sterben: »Nennenswerte Ähnlichkeiten«, so Schnitzler in einem Brief an Nabl vom 06. 02. 1907, würden »nur unverbesserliche Reminiszenzenjäger finden« (»Arthur Schnitzler – Franz Nabl: Briefwechsel«, mitgeteilt und erläutert von Reinhard Urbach, in: Studium Generale, 24/1971, S. 1256–1270, hier S. 1256f.). Achim Aurnhammer, »Schnitzlers ›Die Nächste‹ (1899). Intertextualität und Psychologisierung des Erzählens im Jungen Wien«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 44/1994, S. 37–51. Barbara Beßlich, »Intertextueller Mummenschanz. Schnitzlers Brieferzählung ›Die kleine Komödie‹«, in: Wirkendes Wort, 53/2003, S. 223–240. Den intertextuellen Bezug zu Körners Reise nach Schandau hatte bereits Otto P. Schinnerer im Nachwort der postumen Ausgabe von Arthur Schnitzler, Die kleine Komödie. Frühe Novellen, Berlin 1932, S. 322–330, hier S. 328, festgestellt.
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Einleitung
weist überzeugend nach, wie Schnitzler in seiner doppelten Brieferzählung Theodor Körners romantische Erzählung Die Reise nach Schandau modernisiert, indem er die romantische Erzählung einer glücklichen Partnerwahl durch das Rollenspiel eines süßen Mädels und eines Künstlers auf der Suche nach naiver Einfachheit ersetzt. Dass der Titel der nachgelassenen, wohl um 1900 entstandenen Erzählung Wohltaten, still und rein gegeben ein MatthiasClaudius-Zitat ist, hat Hans-Albrecht Koch bemerkt.48 Es leitet den zweiten Teil des sozialkritischen Gedichts Die Armen in Wandsbeck (1793) ein und preist den anonymen Wohltäter: »Gib, und vergiß, was Du gethan«.49 Schnitzlers stark auf die Sicht des beschenkten Bettelstudenten Franz fokalisierte Parabel widerlegt diese Devise: Nachdem Franz ein Goldstück in einer Nacht sinnlos durchgebracht hat, versetzt er seinem Wohltäter, einem »jungen Mann im Pelz«, eine so »mächtige Ohrfeige«, dass dieser die Polizei ruft. Den intertextuellen und intermedialen Bezügen in Schnitzlers Mono48
49
Hans-Albrecht Koch, »Ein Matthias-Claudius-Zitat bei Arthur Schnitzler«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 22/1972, S. 435–436. Das Incipit und Claudius’ »Wohlthun«-Strophe wurden bald nach ihrer Veröffentlichung aus dem Kontext gelöst, oft auch ohne Angabe des Verfassers abgedruckt; so dient es Franz Sartori, Wien’s Tage der Gefahr und die Retter aus der Noth. Eine Beschreibung der unerhörten Überschwemmung des flachen an der Donau gelegenen Landes in Österreich unter der Enns. Zweiter Theil, Wien 1832, als Motto unter der Überschrift »Den Wohlthätern in den Tagen der Noth«. Außerdem war es durch Lesebücher und Sammlungen geflügelter Worte im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Vgl. etwa Deutsches Lesebuch, K[arl] E[rnst] P[hilipp] Wackernagel (Hrsg.), Stuttgart 41844, S. 60, Nr. 66 (ohne Verf.), L. Kellner, Die Poesie in der Volksschule, Essen 1852, S. 273, Nr. 198 (ohne Verf.), und Luise Kugler, Spruch-Buch, Bremen 21869, S. 268. Der zweite Teil lautet vollständig: Wohlthaten, still und rein gegeben, Sind Todte, die im Grabe leben; Sind Blumen, die im Sturm bestehn, Sind Sternlein, die nicht untergehn. Der dritte Teil des Gedichts ermuntert die Mitmenschen, sich so sozial zu verhalten, wie es Schnitzlers junger Herr tut und wie es ihm schlecht gelohnt wird: Wir Menschen sind mit Geld und Ehr’ Hier nicht in gleichem Falle, Und mancher hat des Geldes mehr, Ob er vielleicht so edel wär’ Und sich zum Mangel freundlich kehr’, Und aufs Geschrey der Armen hör’ – Allein sie thuns nicht alle, Daß Du so Christlich bist, Daß lohn Dir Jesus Christ! (Matthias Claudius, Werke, Bd. 3, Hamburg 1819 (Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen. Siebenter Theil, 1802), S. 71f.).
Forschungsstand: Intertextualität bei Schnitzler
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lognovellen Lieutenant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924), die Édouard Dujardins Les lauriers sont coupés ästhetisch überbieten, aber auch Musikzitate einspiegeln, bin ich selbst nachgegangen.50 Auf diese Weise ließ sich zeigen, dass Fräulein Elses abschließende Traumvision Schlaflieder verarbeitet, welche die regressiven Wünsche der Protagonistin erkennen lassen. Schnitzlers mittleres und späteres Werk ist in seinen vielfältigen intertextuellen Bezügen insgesamt deutlich weniger erschlossen. Die Darstellung des ›gefährlichen Alters‹ in Frau Beate und ihr Sohn (1913) hat Thorsten Fitzon überzeugend auf Karin Michaëlis’ fiktiven Tagebuch- und Briefroman Das gefährliche Alter (Den farlige alder) (1910) zurückgeführt.51 Schnitzler kannte die dänische Autorin persönlich und hatte deren Bekenntnisroman aus dem Blickwinkel einer kinderlosen vierzigjährigen Frau eigens vor einer Begegnung in Wien im Oktober 1912 gelesen. Schnitzler folgt dem Prätext, indem er den Zusammenhang von Alterskrise und sexuellem Begehren übernimmt, aber die Ich-Erzählung in ein personales Erzählen verwandelt und die Figurenkonstellation ändert – Frau Beate ist Witwe und hat ein sexuelles Abenteuer mit dem Freund ihres Sohnes. Für Schnitzlers Spätwerk scheint – fasst man die Tendenzen der Forschungsbeiträge zusammen – eine Vervielfältigung der intertextuellen Bezüge charakteristisch. In Casanovas Heimfahrt wurden etwa von Gert Sautermeister und Hartmut Scheible vielfältige Analogien von Mozarts Don Giovanni bis hin zu einer charakteristischen Inversion der Solothurn-Epsiode in Casanovas Memoiren entdeckt.52 Dem fingierten Zitat aus Tausendundeiner Nacht, das die Traumnovelle (1925/26) einleitet, und seiner Funktion für die phantastische Faktur der erzählten Welt sind Michael Scheffel und Hee-Ju 50
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Achim Aurnhammer, »›Selig wer in Träumen stirbt‹. Das literarisierte Leben und Sterben von ›Fräulein Else‹«, in: Euphorion, 77/1983, S. 500–510, und Ders., »›Lieutenant Gustl‹. Protokoll eines Unverbesserlichen«, in: Kim/Saße (Hrsg.), Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen, S. 69–88. Thorsten Fitzon, »Schwellenjahre – Zeitreflexion im Alternsnarrativ. Arthur Schnitzlers Erzählung ›Frau Beate und ihr Sohn‹«, in: Ders. (u. a.) (Hrsg.), Alterszäsuren, Berlin und New York 2011, S. 406–432. Schnitzler notiert im Tagebuch (Tgb 24. 10. 1912) die Lektüre des Gefährlichen Alters von Karin Michaëlis, die Autorin besucht ihn am darauffolgenden Tag in Wien. Gert Sautermeister, »Glanz und Elend eines Mythos. Zur Ästhetik und Intertextualität von Arthur Schnitzlers ›Casanovas Heimfahrt‹«, in: Ingrid Haag (Hrsg.), L’amour autour de 1900, Aix-en-Provence 2006 (Cahiers d’études germaniques, 50), S. 145–174. Wieder in: Karl Heinz Götze (u. a.) (Hrsg.), Zur Literaturgeschichte der Liebe, Würzburg 2009, S. 273–302, sowie Hartmut Scheible, »Hofmannsthal, Schnitzler und der Mythos Casanova«, in: Konstanze Fliedl (Hrsg.), Arthur Schnitzler im 20. Jahrhundert, Wien 2003, S. 305–329.
22
Einleitung
Kim nachgegangen.53 Zahlreiche weitere Anspielungen auf weitere Prätexte wurden in der Forschung unsystematisch vorgeschlagen. Fast unübersichtlich ist die Vielfalt möglicher Prätexte, die für Fräulein Else, Schnitzlers am meisten untersuchte Erzählung, diskutiert wurden. Die Bandbreite reicht von psychoanalytischen Fallstudien über Maupassant, den die Protagonistin selbst ebenso nennt wie Trivialautoren und Opern des 19. Jahrhunderts, bis hin zu klassischen Schlafliedern für Kinder, die Else in ihrem Todestraum zitiert.54 Vor allem die Notenzitate aus Robert Schumanns Carnaval hat die jüngere Forschung intermedial perspektiviert. Vielleicht ist es die Vervielfältigung und Diversifikation der intertextuellen Bezüge in Schnitzlers Spätwerk, welche deren systematische Erforschung bisher erschwerte. So wurde etwa für Schnitzlers letzte Novelle Flucht in die Finsternis, welche die Genese eines Verfolgungswahns darstellt, zwar schon mehrfach Guy de Maupassants Le Horla, eine Wahnsinnsnovelle in Tagebuchform, vorgeschlagen, ohne dass aber dieser Bezug systematisch geprüft wurde.55 Wenig erforscht sind die intertextuellen Bezüge in Schnitzlers Romanen. Auf die ›negative‹ Systemreferenz der chronikalisch erzählten Therese hat Konstanze Fliedl hingewiesen, während Der Weg ins Freie nur auf einzelne Motive hin, etwa die Wagner-Rezeption, und auf Gottfried Kellers Grünen Heinrich gemustert wurde.56
4.
Untersuchungskorpus und Vorgehensweise
Meiner Studie liegen sieben Erzähltexte zugrunde. Es handelt sich um Erzählungen aus allen Schaffensphasen Arthur Schnitzlers. Das Frühwerk repräsentieren die Erzählungen Die Toten schweigen (1897) (mit Rekurs auf Ein Abschied [1895]), Die Nächste (1899), Andreas Thameyers letzter Brief (1900) und 53
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55 56
Vgl. Michael Scheffel, »›Ich will dir alles erzählen‹. Von der ›Märchenhaftigkeit des Alltäglichen‹ in Arthur Schnitzlers ›Traumnovelle‹«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Arthur Schnitzler, München 1998 (Edition Text + Kritik, 138/139), S. 123–137, und Hee-Ju Kim, »›Traumnovelle‹. Maskeraden der Lust«, in: Dies./ Saße (Hrsg.), Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen, S. 209–229. Vgl. das Kapitel »›Selig wer in Träumen stirbt‹. Das literarisierte Leben und Sterben von ›Fräulein Else‹« in dem vorliegenden Band. Derré, L’œuvre d’Arthur Schnitzler, S. 488. Schnitzler selbst sah seinen Roman »Der Weg ins Freie« in der Tradition des Bildungsromans, des »Wilhelm Meister« und Kellers »Grünem Heinrich« (vgl. Tgb 06. 01. 1906). Von gelegentlichen Hinweisen abgesehen (vgl. etwa Nikolaj Beier, »Vor allem bin ich ich«: Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk, Göttingen 2008, S. 163) sind allerdings die gattungsgeschichtlichen Bezüge noch weitgehend unerforscht.
Untersuchungskorpus und Vorgehensweise
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Lieutenant Gustl (1900). Das mittlere Schaffen kommt im Letzten Brief eines Literaten (1917) zur Sprache. Das Spätwerk repräsentieren die Erzählungen Fräulein Else (1924) und Traumnovelle (1926). Das Frühwerk ist zwar quantitativ stärker berücksichtigt, doch handelt es sich im Unterschied zu den längeren späten Novellen um kürzere Texte. Die Auswahl zieht auch die formale Vielfalt von Schnitzlers Erzählwerk in Betracht: Die beiden Monolognovellen ergänzen zwei homodiegetische Brieferzählungen sowie drei heterodiegetische Prosatexte. Die Analysen berücksichtigen die jeweiligen Textgenesen. Die häufig langwierigen und bisher ganz unterbelichteten Entstehungsprozesse von Schnitzlers Werken werden zum einen hier erstmals aus den Quellen präsentiert. Auch wenn sich, wie gleich vorausgeschickt sei, der intertextuelle Ertrag der Entstehungsgeschichten in engerem Rahmen hält, erlauben sie doch deutliche Rückschlüsse auf die konstellative, strukturelle und narrative Dynamik. Gerade langwierige Textgenesen wie Der letzte Brief eines Literaten, für den acht verschiedene Textfassungen aus den Jahren 1910 bis 1917 überliefert sind, zeigen, wie Schnitzler konstellative Arrangements durchspielt, die Handlungsstruktur modifiziert und die Erzählsituation verändert. Vor allem spielen in den Textgenesen systemreferentielle Bezüge eine größere Rolle: So ergibt sich aus der Wahl der Briefform auch eine gattungsspezifische Affinität zur Brieferzählung, die sich in intertextuellen Bezügen zu Ferdinand von Saars Marianne und zu Goethes Leiden des jungen Werthers zeigt. Andererseits zeigt sich im Verlauf der Entstehungsgeschichten, wie Schnitzler unterschiedliche Erzählsituationen erprobt. So ist etwa der zweite Entwurf zu Fräulein Else noch in dritter Person erzählt, schwankt aber bereits zwischen Hetero- und Homodiegese, bevor sich Schnitzler schließlich für den Inneren Monolog entscheidet. Da sich solche kompositorischen Wechsel auf die Funktion der intertextuellen Bezüge auswirken, sind sie integraler Bestandteil unserer Analysen. Wegen der Unterscheidung narratorial und figural motivierter Intertextualität werden die Erzählungen jeweils auch narratologisch analysiert. Denn nur auf der Grundlage einer genauen Erörterung der narrativen Struktur lassen sich intertextuelle Bezüge dem Wahrnehmungs- und Bewusstseinsrepertoire einer dargestellten Figur oder dem Erzähler zuordnen; selbstverständlich werden auch Interferenzen zu veranschlagen sein. Schnitzlers Vorliebe für interne Fokalisierungen und homodiegetische Ich-Erzähler, wie etwa im Inneren Monolog oder im fiktiven Brief, führt zu einer prinzipiellen Relativierung der Erzählinstanz. Durch die Subjektivierung wird der Wahrheitsanspruch, der dem Erzähler ›üblicherweise‹ zukommt, fragwürdig. Schnitzlers Erzähler sind häufig unzuverlässige Erzähler, deren Aussagen über die er-
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Einleitung
zählte Welt, zumindest teilweise, als falsch bewertet werden. Die Personalisierung des Erzählens und die mangelnde Glaubwürdigkeit der Erzählinstanzen zeigt sich auch in einer starken Literarisierung und gezielten Camouflage, ja die Intertextualität wird geradezu zu einem Merkmal dieser mehr oder weniger bewussten Verstellungstendenz der Erzählfiguren. Schnitzler selbst hat in einer narratologischen Deutung von Buffons berühmtem Diktum diese Erzählpoetik bündig charakterisiert: »›Le style c’est l’homme‹: dieses Wort ist so wahr, dass der Schreibende sich am sichersten dort zu verraten pflegt, wo er sich am ängstlichsten zu verstellen trachtete«.57 In den intertextuellen Analysen wird auch jeweils versucht, Schnitzlers Lektüre der möglichen Prätexte, soweit sie nicht klar markiert sind, empirisch zu validieren. Zu diesem Zweck wird die aus Lektüreliste und Tagebucheinträgen erstellte ›virtuelle Bibliothek‹ des Dichters herangezogen. Damit steht erstmals ein Instrument zur Verfügung, das intertextuelle Interpretationen absichern kann. Auch wenn die Lektüre eines mutmaßlichen Prätexts nicht mit Sicherheit nachzuweisen ist, lässt sich in manchen Fällen zumindest die Kenntnis des Autors feststellen und so mittelbar auch die Kenntnis eines nicht verzeichneten Werks plausibilisieren. Da Schnitzler fast ausschließlich die Lektüren fiktionaler Literatur verzeichnet hat und seine Kenntnis von Fach- und Sachbüchern, etwa geistesgeschichtlicher oder historiographischer Werke, weitgehend unerforscht ist, bleiben die Lektürenachweise ohnehin lückenhaft. Dass die faktuale Literatur auch für die Intertextualität in fiktionalen Texten eine wichtige Rolle spielen kann, zeigt sich etwa in Andreas Thameyers letztem Brief, in dem Spezialliteratur zur Theorie des Versehens – freilich in ironischer Absicht – zitiert wird. Auch wenn sich der Umkehrschluss verbietet – Schnitzler kann einen mutmaßlichen Prätext auch dann gekannt haben, wenn dessen Lektüre nicht verzeichnet ist, – ist die ›virtuelle Bibliothek‹ ein wichtiges Arbeitsinstrument, das intertextuelle Bezüge zu vergewissern hilft.
57
AuB, S. 114.
Forschungsstand
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II. ›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen (1897) Eine Transposition von Emma Bovarys Kutschfahrt in die Wiener Moderne
1.
Forschungsstand
Die 1897 erschienene Erzählung Die Toten schweigen gilt als einer der bedeutendsten Prosatexte der Klassischen Moderne – schon Richard Specht rühmte sie als »Glanzpunkt der deutschen Novellistik«.1 Doch beruht solche Hochschätzung so gut wie nie auf einer textgenetisch wie intertextuell abgestützten narratologischen Analyse. Benno von Wiese richtet zwar sein Augenmerk ausdrücklich auf »das Wie des Erzählens« und relativiert »das Was [zum] zufälligen Anlaß«, löst aber in seiner nacherzählenden Beschreibung diesen Anspruch kaum ein und zielt letztlich auf eine existentielle Deutung von Emmas Titel gebendem Versprecher.2 Insofern kritisiert William K. Cook zu Recht von Wieses teleologisch-deskriptive Deutung, doch auch Cooks tiefenpsychologische Lesart von Emmas angeblich gespaltenem Unterbewusstsein ermangelt der narratologischen Fundierung.3 Den inhaltlichpsychologischen Deutungsstrang setzt Rolf Allerdissen mit ideologiekritischen Akzenten fort, indem er das »Scheinhafte, Unauthentische« von Emmas ›Rollenspiel‹ bemängelt, während Norbert Micke in der Erzählung gar Sigmund Freuds Konzept von Todes- und Lebenstrieb wiedererkennt.4 1
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Vgl. Richard Specht, Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk. Eine Studie, Berlin 1922, S. 123. Specht rühmt zwar Schnitzlers Erzählung als »Prunkstück deutscher Prosa« und »Muster und Meisterstück der Erzählkunst, der Gestaltung und der deutschen Sprache«, begründet diese Wertschätzung aber nicht näher. Benno von Wiese, »Arthur Schnitzler: ›Die Toten schweigen‹«, in: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen, Bd. 2, Düsseldorf 21986, S. 261–279. Vgl. William K. Cook, »Isolation, Flight and Resolution in Arthur Schnitzler’s ›Die Toten schweigen‹«, in: The Germanic Review, 50/1975, S. 213–226. Dieses Manko trifft auch zu auf die Internet-Publikation von Claudia Lieb, »Die Hysterie der treulosen Gattin. Pathologische Intimität um 1900«, in: Tà katoptrizómena. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik, 10/2008, H. 53, http://www.theomag.de/ 53/cl1.htm, (Stand: 27. 05. 2012), das die Erzählung als bloße Fiktionalisierung von Freuds Hysterie-Theorie deutet. Vgl. Rolf Allerdissen, »Das Erlöschen des Eros: ›Die Toten schweigen‹«, in: Ders., Arthur Schnitzler. Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in seinen Erzählungen, Bonn 1985, S. 240–248, hier S. 245, und Norbert Micke, »›Der Tote auf
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
Auch die formalästhetischen Würdigungen werden Schnitzlers innovativer Erzähltechnik nur ansatzweise gerecht. Rolf Geißler und Herbert Knorr konturieren immerhin die Experimentalstruktur der Erzählung,5 und Ralf Marzinek beleuchtet das Verhältnis zwischen Figurenbewusstsein und äußerer Handlung exemplarisch an Emmas Unfallflucht.6 Dagegen blendet Karin Tebbens avancierte Lesart, derzufolge die »sonderbar konstruierte Geschichte […] – Treffen, Unglück, Flucht – […] als Gedanken- und Traumspiel zu deuten« sei, die Textgenese aus. Tebben überfordert den Text,7 auch wenn sie den Blick zu Recht auf Schnitzlers neuartige Bewusstseinsdarstellung lenkt. Relativ folgenlos blieb in der Forschung erstaunlicherweise Barbara Surowskas innovativer intertextueller Beitrag. Surowska wies nach, dass sich die Erzählung »aus Motiven zusammensetzt, die der Madame Bovary entnommen sind«.8 Leider berücksichtigt ihr Vergleich die Erzählhaltungen des
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meinem Schoß‹ – zur dramatisch-analytischen Darstellung des Eros/ThanatosMotivs in Arthur Schnitzlers Erzählung ›Die Toten schweigen‹«, in: Klaus Lindemann/Norbert Micke, Eros und Thanatos. Erzählungen zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg, Paderborn 1996, S. 33–52. Rolf Geißler, »Experiment und Erkenntnis. Überlegungen zum geistesgeschichtlichen Ort des Schnitzlerschen Erzählens«, in: Modern Austrian Literature, 19/1986, S. 49–62, bes. S. 57f., und Herbert Knorr, Experiment und Spiel. Subjektivitätsstrukturen im Erzählen Arthur Schnitzlers, Frankfurt/M. (u. a.) 1988, S. 83–92. Ralf Marzinek, »Das Problem der Sprache in Arthur Schnitzlers Novelle ›Die Toten schweigen‹: zur erzählerischen Vermittlung des Figurenbewußtseins«, in: Hans-Ulrich Lindken (Hrsg.), Das Magische Dreieck. Polnisch-deutsche Aspekte zur österreichischen und deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. (u. a.) 1992, S. 29–48. Vgl. Micke, »›Der Tote auf meinem Schoß‹« und Karin Tebben, »›Traum wird Leben, Leben Traum‹. Arthur Schnitzlers ›Die Toten schweigen‹«, in: Musil-Forum, 27/2001/02, S. 103–113. Eine Schwäche von Tebbens kühner These ist, dass sie sich nicht mit möglichen Einwänden auseinandersetzt. So übergeht sie den Umstand, dass Emma selbst meint, sie träume, und ebnet Traum und Wachen am Schluss der Erzählung unzulässig ein. Zudem sind zwei entscheidende Stellen ihrer Traumdeutung falsch zitiert bzw. vereindeutigt. So sagt der Kutscher nicht, wie Tebben, S. 112: »Wir müssen halt weg, bis wer kommt«, sondern: »Wir müssen halt warten, bis wer kommt« (EI, 303); auch die Vokabel ›wohl‹ in dem Satz: »[Emma] wirft eilig ihre Kleider ab und verbirgt sie wohl im Schrank« (EI, 309, [Hervorh. von mir]) ist m. E. nicht als Spekulationsvokabel im Sinne von ›vielleicht, vermutlich‹ zu verstehen (Tebben, S. 114), sondern vielmehr als Bekräftigung im Sinne von ›sicher, sehr gut‹ zu deuten. Vgl. Barbara Surowska, Die Bewußtseinsstromtechnik im Erzählwerk Arthur Schnitzlers, Warschau 1990, S. 143, sowie Dies., »Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle ›Die Toten schweigen‹«, in: Orbis litterarum, 40/1985, S. 373–379.
Textgenese
27
Texts nur summarisch. Im Folgenden sollen Surowskas Nachweis methodisch präzisiert sowie Schnitzlers intertextuelle Bezugnahmen ergänzt und mit einer erzähltheoretischen Analyse kombiniert werden.
2.
Textgenese
Zuerst veröffentlicht wurde die Erzählung Die Toten schweigen im Jahre 1897 in der »Internationalen Revue« Cosmopolis, einer polyglotten Zeitschrift.9 In Cosmopolis kamen neben deutschsprachigen Beiträgen englische und französische Autoren in der Originalsprache zu Wort, darunter namhafte Vertreter der ästhetischen Avantgarde wie Paul Bourget, Vernon Lee oder Henry James.10 Im Verhältnis zu den fremdsprachigen Beiträgen wirken die deutschen Dichtungen von Paul Heyse, Hermann Sudermann, Marie Ebner von Eschenbach oder Ferdinand von Saar eher konventionell. Insofern kommt dem polyglotten Erscheinungsort eine gewisse Bedeutung zu, da Schnitzler dort in einer internationalen Konkurrenz stand und zugleich seine Modernität unter den deutschsprachigen Autoren unter Beweis stellen konnte. Schnitzler arbeitete seit 1896 an der Erzählung, von der einige Entwürfe überliefert sind.11 Der ursprüngliche Arbeitstitel: »Abschied, ein andrer« verweist auf die 1896 in der Neuen Deutschen Rundschau veröffentlichte Erzählung Ein Abschied.12 Denn diese Erzählung variiert Schnitzler – die werkinterne 9
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Vgl. Arthur Schnitzler, »Die Toten schweigen«, in: Cosmopolis, 8/Oktober– Dezember 1897, S. 193–211; im Folgenden zitiert als ED. Zum Programm von Cosmopolis vgl. Julia Schrader, »›Cosmopolis‹ – drei Jahre ›Internationale Revue‹ im Dienste der europäischen Verständigung (1896–1898)«, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hrsg.), Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im Wilhelminischen Reich, Bern 2010, S. 419–437. Schrader geht allerdings kaum auf die literarästhetische Orientierung der Zeitschrift ein. Vgl. FF, S. 86 (C XVII, 1 [dat. 1896 und 1897]). Surowska, Die Bewußtseinsstromtechnik, S. 243, nennt III 1897 als Entstehungsdatum und übersieht die beiden vorgängigen Entwürfe. Arthur Schnitzler, »Ein Abschied«, in: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne), 7/1896, S. 115–124 (wieder in: Arthur Schnitzler, Gesammelte Werke, Die erzählenden Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M. 1961, S. 238–254 [EI]). Diesen Hinweis verdanke ich meiner Mitarbeiterin Anna Sennefelder. Die correctio in der anfänglichen Form des Titels »Abschied, ein andrer«, aber auch in der adjektivischen Form »Ein anderer Abschied« signalisiert überdies eine überraschende, tendenziell tragische Wendung, wie der Gebrauch dieser Formel in der Literatur des 19. Jahrhunderts zeigt. Mit dieser correctio stellt in einer Biographie Heinrich Wilhelm J. Thiersch, Über Johannes von Müller den Geschichtschreiber und seinen handschriftlichen Nachlass, Augsburg 1881, S. 37, den überraschenden Tod Johannes von Müllers dar.
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
Intertextualität ist in der Forschung bisher unbemerkt geblieben – in dem »Anderen Abschied«, wie er das Projekt im März 1897 nennt: »Begann den ›andern Abschied‹«.13 2.1.
Werkinterner Bezug: Ein Abschied und erste Skizzen
Auch Ein Abschied schildert das tragische Ende einer ehebrecherischen Liebesbeziehung. Der Liebhaber Albert forscht nach, warum seine verheiratete Geliebte Anna ihn nicht mehr zur verabredeten Zeit aufsucht, und erfährt, dass sie tödlich erkrankt ist. Als Anna nach einer Woche stirbt, verschafft sich Albert Zutritt zu ihrer Wohnung und kondoliert dem weinenden Ehemann unerkannt am Totenbett. Der Aufforderung, sich dem Witwer als Rivale zu offenbaren, die Albert im Lächeln der Toten zu erkennen meint, folgt er nicht: Jetzt wollte er gehen, aber nun war es ihm, als hielte sie ihn mit diesem Lächeln fest. Und es wurde mit einemmal ein verächtliches, fremdes Lächeln, das zu ihm zu reden schien, und er konnte es verstehen. Und das Lächeln sagte: Ich habe dich geliebt, und nun stehst du da wie ein Fremder und verleugnest mich. Sag’ ihm doch, daß ich die Deine war, daß es dein Recht ist, vor diesem Bette niederzuknien und meine Hände zu küssen. – Sag’ es ihm! Warum sagst du’s ihm denn nicht? Aber er wagte es nicht (EI, 253f.).
Die ganz aus der Perspektive des Liebhabers erzählte, stark projektiv überformte Geschichte hat Schnitzler in dem »Anderen Abschied« invertiert: Hier lässt er den Liebhaber sterben, fokussiert die Erzählung auf die hinterbliebene Geliebte, verdichtet die Erzählzeit von einer Woche auf drei Stunden und perspektiviert eine Aussprache des Ehepaars: Dass der Erzählung Die Toten schweigen als Prätext Ein Abschied zugrunde liegt, zeigt auch das Eingangswort ›Abschied‹ in dem ersten Entwurf aus dem Jahre 1896 (Abb. 1):14 Abschied. Er mit ihr; Wagen, Prater, Reichsbrücke, ewig mit dir. – Unglücksfall. Er aus dem Wagen geschleudert; bleibt hier todt liegen. Später Abend. Kutscher ins nächste Wirtshaus, Arzt, keine Rett[ungs]gesellschaft avisiren. Sie Todesangst, flieht, kommt nach Hause. – Zu rechter Zeit, 5 Minuten darauf der Mann. –15
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Tgb 22. 03. 1897. Die Todten schweigen [Abschied, ein andrer] [I] (FF C XVII, 1, Bl. 2 – Cambridge Schnitzler A 148, 1). Die Todten schweigen [Abschied, ein andrer] [II] (FF C XVII, 1, Bl. 3–7 – Cambridge Schnitzler A 148, 2).
Textgenese
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Abb. 1: Die Todten schweigen [Abschied, ein andrer]. Erster Entwurf aus dem Jahr 1896 (FF C XVII, 1, Bl. 3).
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
Diesem ersten Entwurf schließt sich eine rohe Handlungsskizze, ein Manuskript von fünf Blättern, an, bevor Schnitzler die Novelle im März 1897 komplett niederschrieb. Die Handlungsskizze invertiert die Schlussszene der Erzählung Ein Abschied. Dort eilt der Liebhaber Albert, nachdem er angesichts der toten Geliebten keinen »Schmerz« empfindet, »tief beschämt durch die Straßen; denn ihm war, als dürfe er nicht trauern wie die anderen, als hätte ihn seine tote Geliebte davongejagt, weil er sie verleugnet« (EI, 254). Im »Anderen Abschied« verkehrt Schnitzler die Konstellation, doch bleibt die Desillusion der Hinterbliebenen angesichts des toten Liebhabers gleich: »Ja – sie wach – er so todt … Was soll sie da machen? – Schmerz? Nein.«16 Indem Schnitzler einzig das Schlüsselwort ›Schmerz‹ in der frühen Skizze durch Unterstreichung hervorhebt, markiert er den Bezug zur Erzählung Ein Abschied deutlich. Der sukzessive Übergang von der Handlung zum personalisierten Psychogramm in der Skizze deutet aber schon eine ästhetische Umorientierung an, die vor allem auf die rasche Entfremdung der Protagonistin vom toten Geliebten und auf den Willen zum Leben abhebt. Die Skizze konzentriert sich ganz auf diese psychische Krise, die Heimkehr und die Begegnung mit dem Gatten bleiben ausgespart. 2.2.
Die dritte Fassung
Erst in der dritten Textfassung, einem umfänglichen Manuskript vom 22. März 1897, das 107 Blätter umfasst, löst sich Schnitzler von seiner eigenen Erzählung und gestaltet die invertierte Variation von Ein Abschied erzählerisch neu aus: So erhalten die Protagonisten eigene Namen: Franz und Emma. Allerdings bleiben konstellative und situative Analogien erhalten: So wartet Franz auf Emma ebenso abends um »Sieben« (EI, 296) wie Albert, der seine verheiratete Geliebte immer »bis punkt sieben« (EI, 239) erwartet. Auch die Jahreszeit ist gleichgeblieben: »Also der Herbst ist da, dachte Albert … Dann erhob er sich und schaute auf die Uhr« (EI, 249), heißt es im Abschied. Die Parallelstelle in Die Toten schweigen lautet: »Er sah auf die Uhr … Sieben – und schon völlige Nacht. Der Herbst ist diesmal früh da« (EI, 296). Bei der dritten Fassung handelt es sich um ein Arbeitsmanuskript, das zahlreiche Durchstreichungen, Wiederholungen und Neuansätze aufweist. Auch wenn sich daraus keine Hinweise auf Prätexte ergeben, ist der Kontrast zwischen Emmas außerehelicher Liebe und ihrem Familienglück noch viel stär-
16
Die Todten schweigen [Abschied, ein andrer] [II] (FF C XVII, 1, Bl. 5 – Cambridge Schnitzler A 148, 2).
Textgenese
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ker hervorgehoben. So hat Schnitzler Passagen gestrichen, die Emmas liebevolle Zuwendung zu ihrem Sohn schildern: Der Kleine sitzt zschonu bei Tisch; er hat lang warten müssen, ist eingeschlafen. Auf dem Teller legte das Buch; sein auf dem Buch xxx Auf dem Teller hat er sein Buch liegen, auf dem offenen Buch ruht sein Gesicht. Sie will ihn wecken. streicht ihm über die Haare; xxx ihn sie wecken der Papa wa zer wacht nicht auf.u Sie setzt sich neben ihn. Auch der Gatte auf der anderen Seite, gegenüber, nimmt eine Zeitung ließt …17
Weggefallen im Druck ist eine zärtliche Geste Emmas, die im Manuskript noch nicht gestrichen ist: »Sie streicht ihm über die Haare; er wacht nicht auf. Sie setzt sich neben ihn.« Auch die familiäre Harmonie überzeichnet das Manuskript noch stärker, wie ein Vergleich mit dem Druck zeigt: […] sie fühlt nichts als: Ich bin gerettet, ich bin daheim. Und während ihr Mann immer weiter erzählt, rückt sie ihren Sessel näher zu ihrem Jungen, nimmt seinen Kopf und drückt ihn an die Brust. Eine unsägliche Müdigkeit überkommt sie – […] (EI, 310).
Diesem Passus entspricht im Manuskript zwar die analoge Schlusswendung: »Eine unbeschreibliche Müdigkeit überkam sie«, doch gestrichen ist die Glücksillusion ebenso wie die Fokalisierung auf den Vater: »Der Vater lächelt … So solltest du dich photographiren la[Abbruch] Er empfindet tief, dass es glücklich nur ein Glück gibt: im Kreise der Familie«.18 Schnitzler wollte im Manuskript wohl das Familienglück noch stärker betonen, um es dann umso mehr zu desillusionieren, ähnlich wie im ersten Teil das außereheliche Liebesglück nach dem plötzlichen Unfall verfliegt. Das Manuskript gibt aber auch über den Schluss keine eindeutige Auskunft, sondern lässt ihn offen. Von dem Cosmopolis-Erstdruck unterscheiden sich die erste Buchausgabe und die späteren Werkausgaben kaum.19 Neben orthographischen Differenzen, die sich nicht auf die Lautgestalt auswirken,20 finden sich nur sehr we17
18
19
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Die Todten schweigen [III] (FF C XVII, 2, Bl. 8–115, hier Bl. 110–111 – Cambridge Schnitzler A 148, 3, Bl. 1–107, hier Bl. 102–103). Die Todten schweigen [III] (FF C XVII, 2, Bl. 113 – Cambridge Schnitzler A 148, 3, Bl. 105). Die zweite Veröffentlichung der Erzählung findet sich in dem Sammelband: Arthur Schnitzler, Die Frau des Weisen. Novelletten, Berlin 1898, S. 135–170; im Folgenden zitiert als DFdW. Zu weiteren Buchveröffentlichungen vgl. Urbach, S. 101f. So hat der ED durchweg Doppel-›s‹ statt ›ß‹, also etwa ›dass‹ statt ›daß‹, vermeidet bisweilen das Dehnungs-›H‹, also ›wol‹ statt ›wohl‹, schreibt Verben, die aus dem Lateinischen abgeleitet sind, mit einfachem ›i‹ statt ›ie‹, also etwa ›fixirte‹ statt ›fixierte‹ und schreibt das Personalpronomen ›Euch‹ und das Possessivpronomen ›Euer‹ groß statt klein. Manche Veränderung mag auch mit dem Wechsel der Type von Antiqua zu Fraktur zusammenhängen, etwa der Ersatz der Kursive durch Sperrdruck. So reduzierte die Buchausgabe die Kursivierungen, die in den Dialog-
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
nige inhaltliche Varianten. So fällt in der Buchausgabe Franzens Erklärung für die unruhige Fahrt weg: »Die Scheiben klirren nur so stark, weil der Sturm –« (ED, 196). Die einvernehmliche Pluralform in Emmas erster Rekonstruktion des Unfalls: »und sie waren herausgestürzt« (ED, 199) ersetzt Schnitzler durch die egoistische Sicht: »und sie war herausgestürzt« (DFdW, 149). Der Text der Gesammelten Werke folgt seinerseits nicht genau der ersten Buchausgabe, doch semantisch sind nur wenige Differenzen von Belang. Wenn im Erstdruck etwa in unfreiwilliger Vorausdeutung Franz das Rendezvous mit Emma als letztes Wiedersehen versteht: »Also das letzte Mal« (ED, 198), wird in der Werkausgabe daraus eine unbestimmte Erinnerung: »Also das letztemal …« (EI, 301). Auch die Gliederung und graphische Präsentation des Textes in der Buchausgabe weicht von dem Erstdruck leicht ab, der vor allem anfangs weniger Absätze aufweist und somit weniger diskontinuierlich ist.
3.
Struktur und Erzählhaltung
Ungeachtet der Textgenese und druckgeschichtlicher Varianten ist der Aufbau der Erzählung unstrittig: Franz, dessen Alter und Beruf unklar bleiben,21 unternimmt mit seiner verheirateten Geliebten Emma eine Kutschfahrt durch das abendliche Wien. Als die Kutsche verunglückt, stirbt Franz, während Emma den Unfall unverletzt überlebt. Sie verlässt den Unfallort und erwartet zuhause, als wäre nichts geschehen, mit ihrem kleinen Sohn den Ehemann, einen Universitätsprofessor. Eine unbewusste Äußerung der innerlich aufgewühlten Emma – »Die Toten schweigen« – eröffnet eine Aussprache der Eheleute. Die Erzählung ist strikt chronologisch. Die erzählte Zeit lässt sich genau bestimmen: ein stürmischer, frühherbstlicher Freitagabend von sieben Uhr bis zehn Uhr. Die drei Stunden der erzählten Zeit sind relativ gleichgewichtig, ohne größere Ellipsen erzählt. Das Geschehen spielt in der Erzählgegenwart: Das im Jahre 1886 am Praterstern für den österreichischen Admiral errichtete »Tegetthoff-Monument« wird ebenso selbstverständlich erwähnt
21
partien wichtige Distinktionsmerkmale sind. Was Franz meint, wenn er sagt: »Wir sollten fort« (ED, 197), oder Emma, die von Franz bis dahin nur als ›Kind‹ angesprochen wird, wenn sie an ihr Kind als Scheidungshindernis erinnert: »Und mein Kind« (ebd.), ist durch die Kursivierungen im ED klarer. Der Umstand, dass Franz und Emma sich wiederholt bei gesellschaftlichen Anlässen begegnen, spricht allerdings dafür, dass er wie seine Geliebte dem Großbürgertum angehört.
Struktur und Erzählhaltung
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wie die 1888 begründete Rettungsgesellschaft.22 Auch die Ortsbezeichnungen – Praterstraße, Nepomukkirche, Karlstheater, Reichsbrücke, Donau, Franz Josefsland – lokalisieren die hauptsächlich in der Wiener Leopoldstadt spielende Handlung präzise. Nach Handlungsverlauf und Ortsveränderung gliedert sich die Erzählung in vier Teile. Der erste Teil umfasst Franzens Warten und die Begegnung mit Emma, der zweite Teil schildert, unterbrochen durch einen Spaziergang, die gemeinsame Kutschfahrt mit Unfall, der dritte Teil beschreibt Emmas Flucht vom Unfallort, der vierte Teil ist Emmas Aussprache mit dem Ehemann gewidmet. Wechsel der Erzählperspektiven markieren die Übergänge, wobei die erste Hälfte in Imperfekt, die zweite Hälfte vorrangig in Präsens erzählt wird. Mit ›personalem Erzählen‹ wird Schnitzlers innovative Bewusstseinsdarstellung in Die Toten schweigen nur unzureichend erfasst. Denn Schnitzler wechselt die Erzählperspektiven und Redeformen, den Fokus der erlebenden Personen gleich mehrfach. Der erste Abschnitt wird überwiegend aus Franzens Perspektive in erlebter Rede geschildert. Der zweite Abschnitt inszeniert über das Mittel der direkten Rede, des Dialogs, eine gemeinsame Perspektive. Der dritte Teil konzentriert sich zunehmend auf Emmas Sicht, der vierte Teil ebenfalls. Mit der variablen Fokalisierung gehen unterschiedliche Perspektiven einher, die oft figural bestimmt sind.23 Der Eingang der Erzählung führt Franz mit einem ›non-sequential sequence-signal‹, einem referentiellen Zeichen ohne Referenz, dem Pronomen ›er‹ ein. Deiktische Merkmale (»schon«, »dieser«) verweisen auf Franzens Wahrnehmung: Er ertrug es nicht länger, ruhig im Wagen zu sitzen; er stieg aus und ging auf und ab. Es war schon dunkel; die wenigen Laternenlichter in dieser stillen, abseits liegenden Straße flackerten, vom Winde bewegt, hin und her (EI, 296).
Gerade im ersten Teil, der die Ungeduld des wartenden Franz schildert, interferieren Erzähler- und Personentext auf unmerkliche Weise, wie folgende Stelle exemplarisch zeigt: Er stellte den Kragen in die Höhe und ging rascher auf und ab. Die Laternenfenster klirrten. »Noch eine halbe Stunde,« sagte er zu sich, »dann kann ich gehen. Ah – ich wollte beinahe, es wäre so weit.« Er blieb an der Ecke stehen; hier hatte er einen Ausblick auf beide Straßen, von denen aus sie kommen könnte (EI, 296).
22 23
Urbach, S. 100. Ich kontaminiere hier Genettes Fokalisierungskonzepte mit Wolf Schmids Perspektivenmodell.
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
So setzt ein Personentext in Anführungszeichen eine Beschreibung im Erzählertext fort, der durch die Inquit-Formel (»sagte er zu sich«) erhalten bleibt. Doch durch den Irrealis des zweiten zitierten Satzes schafft Schnitzler einen gleitenden Übergang vom Personentext zum Erzählerbericht. Der anschließende Erzählertext wirkt durch das deiktische ›hier‹ und das ebenfalls referenzlose ›non-sequential sequence-signal‹, das Personalpronomen ›sie‹ wie ›erlebte Wahrnehmung‹. Nach der Begegnung zwischen Franz und Emma bestimmt eine neutrale Außensicht das Erzählte. Referiert werden nur das äußere Geschehen und der Dialog der beiden. Dabei nennt der Text die Personen nicht namentlich, sondern nur mit allgemeinen Bezeichnungen wie »die Dame«, »die junge Frau« oder »der junge Mann«. Externe Fokalisierung bestimmt auch den zweiten Teil der Erzählung, der lange Passagen in wörtlicher Rede ohne Inquit-Formel enthält.24 Umso deutlicher unterscheiden sich von dem dramatischen Modus der Außensicht zwei Passagen, welche die Figurenperspektive übernehmen: nämlich der Blick von der Reichsbrücke auf die Donau sowie vom Ende der Brücke zurück ans andere Ufer. In beiden Passagen werden Objekte in Bewegung wahrgenommen: vom Auftauchen, durch akustische und optische Signale angezeigt, bis zum Verschwinden. Sie spazierten vorwärts. So lang die Brücke allmählich anstieg, sprachen sie nichts; und als sie beide das Wasser unter sich rauschen hörten, blieben sie eine Weile stehen. Tiefes Dunkel war um sie. Der breite Strom dehnte sich grau und in unbestimmten Grenzen hin, in der Ferne sahen sie rote Lichter, die über dem Wasser zu schweben schienen und sich darin spiegelten. Von dem Ufer her, das die beiden eben verlassen hatten, senkten sich zitternde Lichtstreifen ins Wasser; jenseits war es, als verlöre sich der Strom in die schwarzen Auen. Jetzt schien ein ferneres Donnern zu ertönen, das immer näher kam; unwillkürlich sahen sie beide nach der Stelle, wo die roten Lichter schimmerten; Bahnzüge mit hellen Fenstern rollten zwischen eisernen Bogen hin, die plötzlich aus der Nacht hervorzuwachsen und gleich wieder zu versinken schienen. Der Donner verlor sich allmählich, es wurde still; nur der Wind kam in plötzlichen Stößen. Nach langem Schweigen sagte Franz: »Wir sollten fort« (EI, 299f.).
24
Ein Gedankenbericht (psycho-narration) von Franz erklärt eine Dissonanz von beruhigender Äußerung und innerer Unruhe. Möglicherweise ist er auch der Erstfassung geschuldet, wo Franzens Antwort im Satz abbricht und der Anakoluth eine neutrale Erklärung verlangt: »›Es scheint dir so. Die Scheiben klirren nur so stark, weil der Sturm –‹ Aber er fand selbst, daß der Wagen sie heftiger als nötig hin und her warf. Er wollte nichts davon sagen, um sie nicht noch ängstlicher zu machen« (EI, 299; ED, 196).
Struktur und Erzählhaltung
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Hier wird kein Spaziergang beschrieben, sondern die subjektive Wahrnehmung der Landschaft durch die Liebenden. Die interne Fokalisierung signalisiert vordergründig die Häufung von Wahrnehmungsverben (»sehen«, »hören«). Deiktika (»eben«, »jetzt«), und Richtungsadverbien (»vorwärts«, »jenseits«, »rechts«, »links«) geben die gemeinsame Perspektive von Emma und Franz wieder. Vergleiche und Wahrnehmungen, die durch das Verb ›scheinen‹ sowie im ›Als ob‹-Modus subjektiviert sind, übermitteln eine ›erlebte Welt‹, und zwar aus der Sicht beider Personen. Die impressionistische Intensivierung einer kollektiven internen Fokalisierung mag Schnitzler Heinz Tovote abgeborgt haben, der in seinem »Berliner Roman« Im Liebesrausch ganz ähnlich beschrieben hat, wie ein Liebespaar eine Eisenbahnbrücke überquert.25 Die kollektiv-interne Fokalisierung illustriert das wortlose Zusammengehörigkeitsgefühl von Emma und Franz ebenso wie ihre gemeinsamen Fluchtphantasien. Die zweite Passage vermittelt Emmas und Franzens projektive Überformung sogar ohne das Verbum ›scheinen‹ und spiegelt die persönliche Perspektive mit dem Schlussvergleich des ›Abgrunds‹ mit ein: Langsam rasselte es aus dem Dunkel hervor; ein kleines rotes Licht schwebte ihnen entgegen; bald sahen sie, daß es von einer kleinen Laterne kam, die an der vorderen Deichsel eines Landwagens befestigt war; aber sie konnten nicht sehen, ob der Wagen beladen war und ob Menschen mitfuhren. Gleich dahinter kamen noch zwei gleiche Wagen. Auf dem letzten konnten sie einen Mann in Bauerntracht gewahren, der eben seine Pfeife anzündete. Die Wagen fuhren vorbei. Dann hörten sie wieder nichts als das dumpfe Geräusch des Fiakers, der zwanzig Schritte hinter ihnen langsam weiter rollte. Jetzt senkte sich die Brücke leicht gegen das andere Ufer. Sie sahen, wie die Straße vor ihnen zwischen Bäumen ins Finstere weiter lief. Rechts und links von ihnen lagen in der Tiefe die Auen; sie sahen wie in Abgründe hinein (EI, 300).
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Vgl. Heinz Tovote, Im Liebesrausch. Berliner Roman, zweite, durchgearbeitete und mit Vorwort vers. Aufl. Berlin 1891, S. 78f.: »Sie [Lucie und Herbert] schritten über die Eisenbahnbrücke der Lehrter Bahn. Drunten rangierte eine Lokomotive mit ödem Geklingel die Güterwagen; ein Zug kam angebraust, wie aus der Unendlichkeit, mit lautem Pfeifen jagte er heran, vor der Brücke stieß der Schornstein dichten gelben Rauch aus, der sie umhüllte, dann fuhr er in die große Halle des Lehrter Bahnhofs ein, und im gleichen Augenblick donnerte ein Stadtbahnzug über die Eisenbrücke durch den Humboldthafen und lief in die Station ein.« Der Anfang von Tovotes Romans enthält mit dem Warten des Liebhabers auf die Geliebte und einer Droschkenfahrt in erotischer Absicht überdies konstellative und situative Analogien. Tovotes Roman findet sich in Schnitzlers Leseliste (LL, D440), und im Jahr 1894 träumt Schnitzler gar, er lese seinem Vater »etwas vor, etwa Tovote, oder was französ.« (Tgb 06. 11. 1894).
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
Das Ende des zweiten Teils markiert der Erzähler durch eine ungewöhnlich kontrastive Kombination von Distanz und Nahperspektive: Emma stieg ein; nach ihr Franz. Der Kutscher hieb mit der Peitsche drein; wie rasend flogen die Pferde über die aufgeweichte Straße hin. Aber die beiden im Wagen hielten einander fest umarmt, während der Wagen sie hin- und herwarf (EI, 301).
Mit dieser Engführung von äußerem und innerem Geschehen scheint die traditionelle Funktion der Außenbeschreibung bei erotischen Szenen zu ihrem Recht zu kommen, der manche Interpreten erlegen sind.26 Doch Schnitzler enttäuscht diese Erwartung, da die ›rasende‹ Fahrt im nächsten Moment zur Katastrophe führt. Er stellt nicht nur inhaltlich, sondern auch erzähltechnisch die entscheidende Zäsur in der Erzählung dar. Der Unfall und Emmas Flucht nach Hause im dritten Teil sind fast ausschließlich intern fokalisiert. Emmas Innensicht, die – sieht man von den beiden Passagen in kollektiv-interner Projektion ab – bis dahin nicht vorkam, bestimmt nun die Erzählung bis zum Schluss. Doch verfährt Schnitzler im dritten Teil keineswegs einheitlich, sondern differenziert und dynamisiert die interne Fokalisierung auf Emma. Drei Phasen lassen sich unterscheiden, die den dritten Teil gliedern. Die erste Phase des dritten Teils schildert Emmas desorientierte Rekonstruktion des Unfalls. Verben des Denkens und Fühlens sowie kurze parataktische Sätze signalisieren die sukzessive und langsame Selbstvergewisserung. Ein diskontinuierlicher Stil in interner Fokalisierung drückt Emmas Aufregung aus: Ihr Atem stockte. Blut …? Was war da geschehen? Franz war verwundet und bewußtlos. Und der Kutscher – wo war er denn? Sie rief nach ihm. Keine Antwort. Noch immer saß sie auf dem Boden. Mir ist nichts geschehen, dachte sie, obwohl sie Schmerzen in allen Gliedern fühlte. Was tu’ ich nur, was tu’ ich nur … es ist doch nicht möglich, daß mir gar nichts geschehen ist (EI, 302).
Der Dialog zwischen Emma und dem Kutscher bestimmt die zweite Phase des dritten Teils. Doch handelt es sich nicht, wie man annehmen könnte, um eine externe Fokalisierung, sondern der Dialog interferiert in eigenartiger Weise mit Emmas Perspektive. So werden die Äußerungen des Kutschers nur so lange wiedergegeben, wie sie Emma aufnimmt:
26
Von Wiese, »Arthur Schnitzler: ›Die Toten schweigen‹«, S. 270, mutmaßt gar »geschlechtliche Vereinigung« in der Kutsche. Karin Tebben, »›Traum wird Leben, Leben Traum‹«, S. 114, geht gar noch weiter, indem sie den Unfall, den »Sturz ins Bodenlose« als »Metapher für den Geschlechtsakt« deutet.
Struktur und Erzählhaltung
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»Ja, Fräul’n wenn der Wagen net brochen wär’ … aber so, wie er jetzt zu’gricht ist … Wir müssen halt warten, bis wer kommt.« Er redete noch weiter, ohne daß Emma seine Worte auffaßte; aber während dem war es ihr, als käme sie zur Besinnung, und sie wußte, was zu tun war (EI, 303).27
Die dritte Phase schildert Emmas Alleinsein bei dem Toten und ihre aufgeregte Flucht vom Unfallort nach Hause. Hier gewinnt die interne Fokalisierung Aspekte einer neuen Unmittelbarkeit, indem sie sich fast einer Monologerzählung annähert. Diese Passage, die etwa ein Drittel des Umfangs des Gesamttexts ausmacht, kennzeichnet ein zeitdeckendes Erzählen. Außerdem wechselt das Tempus ins Präsens, das bis zum Ende die maßgebliche Erzählzeit bleibt. Mit dem gleichzeitigen Erzählen und dem fast hypnoiden Wahrnehmungshorizont Emmas prägt die zweite Hälfte der Erzählung Die Toten schweigen eine Subjektivierung, die weit über traditionelle Formen interner Fokalisierung – etwa wie in der ersten Hälfte – hinausgeht. Raum-zeitliche Deiktika, das Tempus, die diskontinuierliche Syntax, Wertungen, ja sogar projektive Überformungen der Wirklichkeit übermitteln ausschließlich die Wahrnehmung der Reflektorfigur. Immerhin wird die Projektion, der Tote hielte sie fest, von Emma selbst nachträglich rationalisiert und mit dem nassen Erdreich erklärt: … der Tote ist es, der sie hier behalten will, und es graut sie vor seiner Macht … Aber gewaltsam macht sie sich frei, und jetzt merkt sie: der Boden ist zu feucht; sie steht auf der glitschigen Straße, und der nasse Staub hat sie nicht fortgelassen. Nun aber geht sie … geht rascher … läuft … und fort von da … zurück … in das Licht, in den Lärm, zu den Menschen! (EI, 306).
In dieser extrem subjektivierten Fokalisierung liegt die narratologisch innovative Bedeutung der Erzählung. Schnitzler hat hier eine psychische Ausnahmesituation konstruiert und mit einer Verinnerlichung des Erzählens gemeistert, die weit über den uneigentlichen Monolog hinausgeht. Im vierten Teil der Erzählung, der Emmas Ankunft zu Hause und das Wechseln der Kleidung stark gerafft schildert, mäßigt sich die projektive Überformung nur unwesentlich. Denn gerade die scheinbar intakte Familienidylle mit gemeinsamem Abendessen wirkt wie ein Kontrast zu den Erlebnissen, die halluzinatorisch Emmas Wahrnehmung weiter so sehr beschäftigen, dass sie den Erzählungen ihres Mannes kaum zuhören kann. Diesen Konflikt bringt eine eigenartige Mischung von interner und externer Fokalisierung zum Ausdruck. Die Blickwechsel im Schlussteil zeigen sich in einem unvermittelten Tempuswechsel: Der neutrale Erzähler berichtet in Imper27
Eine parallele Stelle eines ›erlebten Dialogs‹ findet sich später im vierten Teil, während Emma ihrem Ehemann zuhört.
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
fekt, die Sichtweise Emmas wird in Präsens wiedergegeben. Der Schluss der Erzählung zeigt paradigmatisch dieses charakteristische Changieren: »Bring’ den Buben zu Bett,« sagte er dann zu ihr; »ich glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen …« »Ja«, sagte sie. Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird. Und während sie mit ihrem Jungen langsam durch die Tür schreitet, immer die Augen ihres Gatten auf sich gerichtet fühlend, kommt eine große Ruhe über sie, als würde vieles wieder gut … (EI, 311f.).
Die Verarbeitung des Unfalls im vierten Teil kehrt in drei Schüben wieder. Sie motiviert Emmas Fehlleistung, als sie den zur Selbstberuhigung gedachten Gedanken laut ausspricht: »Die Toten schweigen«. Diese Fehlleistung ist textintern plausibel vorbereitet, weil Emma sich bereits im dritten Teil auf ihrer Flucht laut Worte vorspricht, um sich zu beruhigen: »Es hat sich erwiesen, ja es hat sich erwiesen. Sie hört, wie sie diese Worte laut spricht.« (EI, 307), und kurz zuvor unbewusst »aufgeschrien« hat (EI, 311). Die Analyse hat gezeigt, dass Schnitzler zur erzählerischen Vermittlung der Bewusstseinszustände zwar den Fokalisierungstypus wechselt, aber auf Nullfokalisierung ganz verzichtet. Dominieren in der ersten Hälfte von Die Toten schweigen eher traditionelle Formen personalen Erzählens, neben den neutralen Dialogpartien vor allem die Wiedergabe der Perspektive von Franz, so bestimmt den zweiten Teil Emmas Perspektive, freilich in Form einer radikalen Verinnerlichung, die im Schlussteil mit einem neutralen Erzähler konfligiert. Mehr noch als die variable interne Fokalisierung macht die strikte Begrenzung auf den Wahrnehmungshorizont einer Person die narratologisch innovative Leistung der Erzählung Die Toten schweigen aus.
4.
Intertextualität
Die variable interne Fokalisierung – in der Vorgänger-Erzählung Ein Abschied noch nicht so ausgeprägt – verdankt Schnitzler nicht zuletzt Gustave Flauberts Roman Madame Bovary.28 Wie Flaubert erzählt Schnitzler nicht nur aus Emmas Perspektive, sondern übermittelt auch den Wahrnehmungshorizont des Liebhabers. In beiden Erzähltexten ist die Erzählinstanz wesentlich 28
Zur Erzähltechnik der Madame Bovary vgl. Claudia Jünke, Die Polyphonie der Diskurse. Formen narrativer Sprach- und Bewußtseinskritik in Gustave Flauberts ›Madame Bovary‹ und ›L’Éducation sentimentale‹, Würzburg 2003, und Matias Martinez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 72007, S. 66.
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an die Figurenperspektiven gebunden: Die erzählte Welt ist subjektiv überformt und daher durchaus fragmentarisch. Die ausgeprägte Mehrstimmigkeit von Schnitzlers Erzählung wurde allerdings zu Unrecht noch nicht als intertextuelle Anleihe gewürdigt. 4.1.
Flauberts Madame Bovary
Barbara Surowska hat zuerst erkannt, dass die Erzählung Die Toten schweigen Flauberts Madame Bovary nachgebildet ist. Ohne dass Schnitzler seine Quelle explizit benannt hätte, besteht an seiner genauen Kenntnis von Flauberts Roman kein Zweifel. Bereits am 14. Mai 1880 verzeichnet Arthur Schnitzler im Tagebuch die Lektüre der Madame Bovary.29 Die Erzählung Die Toten schweigen nimmt selektiv auf den Romantext Bezug: Im Vordergrund steht die berüchtigte Kutschfahrt, während deren Emma Léons Geliebte wird. Dass die Kutschfahrt, die im Erstdruck der Madame Bovary in der Revue de Paris von 1856 zu Flauberts großem Ärger gestrichen worden war, allgemein als Skandalon galt,30 war Arthur Schnitzler sicherlich bekannt. Daher stellt allein die Wahl dieser Episode als Prätext schon eine Markierung dar. Surowska zählt Ähnlichkeiten beider Texte auf, ohne sie jedoch systematisch zu ordnen und zu bewerten. Doch es sind, wie zu zeigen sein wird, nicht einzelne Motive, 29
30
Tgb. Schnitzler hat die Lektüre auch in der Lektüreliste festgehalten (LL F50) und sich auch späterhin immer wieder auf Flauberts Roman bezogen; so in Briefen an Marie Reinhard (BI, 19. 08. 1896, S. 297–299, hier S. 299: »Wie gefällt dir die Bovary?«) und an Gustav Schwarzkopf (Wiesbaden, 29. 09. 1899, in: BI, S. 378–380, hier S. 379: »Gelesen hab ich die Madame Bovary«) oder im Gespräch mit Josef Popper am 11. 01. 1916 (Tgb). Schnitzlers große Wertschätzung von Flauberts Roman zeigt sich auch darin, dass die Eheleute im Reigen Emma und Karl heißen, allerdings hier nicht nur »die junge Frau« mit einem »jungen Herrn«, sondern auch »der Gatte« (mit einem »süßen Mädel«) die Ehe bricht. Vgl. Konstanze Fliedl, Poetik der Erinnerung, Wien (u. a.) 1997, S. 203. – Schon die Zeitgenossen haben Schnitzler auf Flaubert bezogen. So bezeichnet etwa Richard Specht, Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk, S. 250 und 286, Schnitzlers Frau Berta Garlan als »die österreichische ›Madame Bovary‹«. – Da Schnitzler den Roman wohl eher im französischen Original als in einer frühen deutschen Übersetzung gelesen hat, wird im Folgenden nach einer modernisierten Version von Ernst Sanders ›klassischer‹ Übersetzung (1924) zitiert: Gustave Flaubert, Madame Bovary. Sittenbild aus der Provinz [Madame Bovary. Mœurs de province], übertr. von Ilse Perker und Ernst Sander, Nachwort von Manfred Hardt, Stuttgart 1972. Vgl. den Kommentar in Gustave Flaubert, Madame Bovary, Jacques Neefs (Hrsg.), Paris 1999, S. 371, Anm. 1, sowie Thomas Degering, Gustave Flaubert: Madame Bovary. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2007, S. 78, s. v. »›Wohin Sie wollen!‹ sagte Leon«.
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die Schnitzler übernimmt,31 sondern er legt klar isolierbare Episoden von Flauberts Roman planmäßig seiner Erzählung zugrunde. Deutlich markiert hat Schnitzler seinen intertextuellen Bezug auf Madame Bovary durch den Namen der Protagonistin: Emma. Auch die Konstellation stimmt mit dem Prätext überein: Emma, verheiratete Mutter eines Kindes – bei Schnitzler ein namentlich nicht genannter Junge, bei Flaubert das Mädchen Berthe –, trifft sich heimlich mit ihrem jugendlichen Liebhaber, bei Schnitzler ein nicht näher charakterisierter Akademiker Franz, bei Flaubert der Jurastudent Léon. Der Ehemann von Schnitzlers Emma, ein Universitätsprofessor, entspricht Flauberts Landarzt Charles Bovary. Doch konzentriert Schnitzler die Konstellation des Prätexts ganz auf die Dreiecksbeziehung: Liebhaber – Ehefrau – Ehemann, und verzichtet auf Nebenpersonen, die bei Flaubert bedeutsam für die plausible Darstellung der provinziellen Enge sind. Überdies spart Schnitzler systematisch biographische Informationen aus, orientierende Analepsen fehlen völlig. Mit der zeitlichen Konzentration der Handlung auf eine einzige Nacht geht eine konzentrierte Psychologisierung der weiblichen Hauptperson einher. Alles ist auf Emmas doppelten Sinneswandel im Verlauf der Nacht ausgerichtet: Loslösung vom Geliebten und Hinwendung zum Ehemann. Im Zuge dieser ›Verinnerung‹ des Erzählens verliert das soziale Milieu des Prätexts an Bedeutung, das Schnitzler überdies abwandelt. Das Geschehen spielt nicht in der französischen Provinz, sondern in der Metropole Wien, und das Personal ist aus dem kleinstädtischen Honoratiorenmilieu in das großstädtische Bildungsbürgertum gehoben. Mit dem Studenten Léon hat Flaubert zwar das akademische Milieu vorgegeben, das Schnitzlers Emma als Professorengattin vertraut ist und dem wohl auch ihr Liebhaber Franz angehört, ob er aber jünger ist als die Geliebte, wie Léon im Verhältnis zu Madame Bovary, bleibt unklar. Auch wenn in Schnitzlers zeitdeckender Erzählung die Personen biographisch blass bleiben, ist doch der christliche Glaube der Protagonistin akzentuiert, der sie wie Emma Bovary in einen Gewissenskonflikt mit ihrer ehebrecherischen Liebe bringt.32 31
32
Vgl. Surowska, »Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle ›Die Toten schweigen‹«, S. 373. Auch wenn sich kaum entscheiden lässt, inwieweit Emmas religiöse Orientierung einem echten Glauben oder nur einer oberflächlichen Frömmigkeit entspringt, fallen die zahlreichen religiös getönten Ausrufe auf wie »um Gotteswillen« (EI, 297, 304), »Gott, was ist denn das?« (EI, 299), »um Himmelswillen« (EI, 304f.) und »o Gott!« (EI, 308). Sie kulminieren in ihrer schuldbewusst-ängstlichen Reaktion auf Franzens Unfalltod: »Nur hier nicht entdeckt werden. Um Himmelswillen, das ist ja das einzige Wichtige […] … Sie faltet die Hände krampfhaft. Sie betet, daß die
Intertextualität
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Nicht nur die Konstellation, auch die Handlung von Schnitzlers »Novellette« ist Flauberts Roman nachgebildet. Den ersten beiden Teilen von Die Toten schweigen liegen augenfällig zwei Schlüsselszenen aus Flauberts Roman als selektive Prätexte zugrunde. Vor allem der erste Teil, das Rendezvous von Franz und Emma, lässt zwar noch den Eingang der Erzählung Ein Abschied erkennen, stimmt aber in vielen Merkmalen deutlich mit dem Treffen Emma Bovarys mit Léon überein. Wie Léon, der mit Emma Bovary in der Kathedrale Notre-Dame verabredet ist, wartet Franz an der Nepomukkirche ungeduldig auf seine Emma. Während Léon die Ladenauslagen auffallen, blicken »ein paar Ladenmädel« – nach Geschäftsschluss – »mit leichter Neugier zu [Franz] auf« (EI, 296). Emmas Angst, sie könne bei ihrem Rendezvous mit Franz beobachtet oder erkannt werden, erinnert allerdings eher an Emma Bovarys Reaktion bei ihrem ersten Ehebruch mit Rodolphe Boulanger.33 Franz sorgt wie Léon für eine Droschke, in beiden Fällen fragt der Kutscher in direkter Rede nach dem Fahrziel: »Wohin fahr’n mer denn, Euer Gnaden?« (EI, 297) bzw. »Wohin, Monsieur?«.34 Bei Schnitzler holt Franz den Kutscher aus einem Wirtshause, wo er Wein getrunken hat, während Flauberts Kutscher auf der langen Kutschfahrt »verzweifelte Blicke nach den Kneipen hin« wirft.35 Die unruhige Fahrt, die Schnitzler sowohl mit der Trunkenheit des Kutschers als auch mit einem heftigen Sturm motiviert, ist ebenfalls bei Flaubert vorgeprägt: »Dann trieb er [der Kutscher] seine beiden schweißtriefenden Schindmähren mit knallenden Peitschenhieben an, unbekümmert um die Wagenstöße an holprigen Stellen; hier und dort rannte er an, er gab auf nichts mehr acht […]«.36 In beiden Texten kündigt der Liebhaber der verheirateten Geliebten ein entscheidendes Gespräch an. Und mit fast den gleichen Worten, mit denen Léon Emma das Geständnis seiner Liebe ankündigt: »Ich hatte Ihnen noch etwas sagen wollen …« – »Was denn?« – »Etwas … etwas Wich-
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34 35 36
Leute auf der anderen Seite der Straße vorüber gehen mögen, ohne sie zu bemerken. […] Sie gehen weiter … sie sind vorüber … Gott sei Dank!« (EI, 305 [Hervorh. von mir]). Vgl. Flaubert, Madame Bovary, II 10, S. 204: »Wenn sie von ihm [Rodolphe] heimging, ließ sie beunruhigte Blicke überallhin schweifen, spähte nach jeder Gestalt, die sich am Horizont zeigte, und nach jeder Dachluke des Dorfs, von der aus sie hätte beobachtet werden können. Sie lauschte auf Schritte, auf Rufe, auf das Holpern der Karrenwagen; und dann blieb sie stehen, bleicher und zitternder als die Pappelblätter, die über ihrem Kopf schaukelten.« Ebd, III 1, S. 301. Ebd., S. 302. Ebd., S. 302f.
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
tiges, Ernstes«,37 fordert Franz Emma auf, sich endlich zu ihrer Liebe zu bekennen: »Ich habe heute viel und ernst mit dir zu reden, Emma« (EI, 299). Indem hier der Name der Protagonistin genannt wird, ist das Zitat überdies onomastisch markiert. Die Fahrt mit dem Fiaker durch das nächtliche Wien ist augenfällig Madame Bovarys Kutschfahrt aus III 1 nachgebildet, wie Surowska gezeigt hat. Allerdings hat Schnitzler die Episode subjektiviert und den intertextuellen Bezug insofern verkompliziert, als er die erotische Kutschfahrt Madame Bovarys sowohl mit dem Ende ihrer außerehelichen Liebschaft zu Léon in III 6 kombiniert als auch mit den Fluchtplänen, die Emma Bovary mit Rodolphe, ihrem ersten Geliebten, in II 12 schmiedet. Durch die ausgeprägte Doppelund Wiederholungsstruktur der Madame Bovary ist eine solche zweifache Bezugnahme motiviert. Bei Flaubert bildet die Kutschfahrt Anfang und Höhepunkt der sexuellen Leidenschaft Emma Bovarys für Léon. Dagegen verdeutlicht die Kutschfahrt von Schnitzlers Emma und ihrem Liebhaber Franz die Krise ihrer Beziehung und referiert damit zusätzlich auf Flauberts Kapitel III 6, in dem Emma Bovary und Léon allmählich ihr erotisches Interesse aneinander verlieren: »Sie war seiner so überdrüssig wie er ihrer müde war«.38 Emma Bovary »schrieb die Schuld an ihren getäuschten Hoffnungen Léon zu, als ob er sie hintergangen habe; und sie wünschte sogar eine Katastrophe herbei, die ihrer beider Trennung zur Folge hätte, da sie nicht den Mut aufbrachte, sich dazu zu entschließen.«39 Auch wenn Schnitzlers Emma einen solchen Wunsch nicht äußert, lässt er sich als unbewusster Wunsch durchaus auf das Unglück beziehen, das sie aus dem Dilemma ihres Doppellebens befreit. Auch die sentimentalische Leidenschaft für Rodolphe in II 12 hat Schnitzler in der Kutschfahrt verarbeitet. Markiert ist der bislang unbemerkt gebliebene intertextuelle Bezug auf Emma Bovarys erste Liebschaft durch den analogen Fluchtplan der Liebenden, allerdings mit vertauschten Rollen. Während bei Flaubert Madame Bovary eine gemeinsame Zukunft anderswo wünscht: »›Bring mich von hier weg!‹ rief sie. ›Entführe mich …! Oh, ich flehe dich an!‹«,40 ist es bei Schnitzler der Liebhaber, der zur gemeinsamen Flucht drängt: »›Wir sollten fort,‹ sagte Franz lebhaft, ›ganz fort, mein’ ich‹« (EI, 300). Dem Tausch der prätextuellen Rollen entsprechend, verweist 37 38 39 40
Ebd., S. 293. Ebd., III 6, S. 358. Ebd. Flaubert, Madame Bovary, II 12, S. 239.
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Schnitzlers Emma wie Rodolphe bei Flaubert auf ihr Kind als Hindernis, während Franz wie Flauberts Emma dieses Argument bagatellisiert.41 Auch wenn die Fiakerfahrt vorrangig die Kuschfahrt mit Léon zitiert, mag ihr doch als sekundärer Prätext zugleich Madame Bovarys Fluchttraum mit Rodolphe zugrunde liegen, in dem sie sich »[i]m Galopp von vier Pferden […] einem neuen Land entgegengetragen« sieht.42 Vor allem gleicht die Verzweiflung, in die der plötzliche Unfalltod des Geliebten Schnitzlers Emma stürzt, der psychischen Not, in die Flauberts Emma gerät, als ihr am Tag vor der geplanten Flucht Rodolphe mit einem schnöden Brief die Liebe aufkündigt. In ihrer Not sieht Emma Bovary den Selbstmord als einzigen Ausweg: »Warum nicht Schluß machen? Wer hielt sie denn zurück? Sie war frei. Und sie trat vor, sie starrte auf das Straßenpflaster und sagte sich: ›Los! Los!‹«.43 Doch bevor Madame Bovary die Tat ausführen kann, wird sie zum Abendessen gerufen und muss sich kleinmütig ihrem Ehemann stellen: »Sie war feige geworden; sie hatte Angst vor Charles; er wußte alles, das stand fest!«44 Ähnlich verhält sich Schnitzlers Emma, auch wenn ihr Wille zum Leben stärker betont ist.45 Den Umschlag vom außerehelichen Liebesglück zur Konfrontation mit dem Ehemann hat Schnitzler im dritten und vierten Teil seiner Erzählung nachgebildet, aber die psychische Krise der Protagonistin durch den plötzlichen Tod des Geliebten zum einen dramatisch verschärft und zum andern durch die lange Schilderung der Unfallflucht erzählerisch gedehnt. 41
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Eine Synopse mag die Entsprechung verdeutlichen: Bei Flaubert erinnert Rodolphe an Emmas Tochter als Hindernis einer gemeinsamen Flucht: »›Aber …‹, entgegnete Rodolphe. ›Was denn?‹ ›Und deine Tochter?‹ ›Die nehmen wir mit; hilft nichts‹« (Flaubert, Madame Bovary, II 12, S. 240). Bei Schnitzler ist es Emma, die mit Hinweis auf ihr Kind vor dem Verlassen ihres Mannes zurückschreckt: »›Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.‹ ›Und mein Kind?‹ ›Er würde es dir lassen, ich bin fest überzeugt‹« (EI, 300). Flaubert, Madame Bovary, II 12, S. 242. – Dieser Bezug ist freilich vor allem auch eine geschickte Korrespondenz bei Flaubert selbst. Ebd., II 13, S. 254. Ebd., S. 255. Der Wille zum Leben bestimmt bald das Handeln von Schnitzlers Emma, das sie nachträglich als Pflichtgefühl aufwertet: »Und sie denkt: ich bin lebendig, gesund … sogar meine Uhr geht … und er … er … tot … Schicksal … […] Sie ist ein Weib – und sie hat ein Kind und einen Gatten. – Sie hat Recht gehabt, – es ist ihre Pflicht – ja ihre Pflicht« (EI, 307f.).
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
Der dritte Teil von Schnitzlers Erzählung, Emmas Flucht vom Unfallort nach Hause, findet allenfalls mittelbar ein Pendant in Flauberts Roman. Er entspricht am ehesten der Episode des Maskenballs, als Madame Bovary erkennt, wie tief sie gesunken ist, und reuig am frühen Morgen heimkehrt (III 6). Ungeachtet der funktionalen Analogie hat Schnitzler diese Passage im Vergleich zum Roman deutlich amplifiziert und subjektiviert. Doch enthält die Passage, vielleicht um die narrative Differenz zum Prätext zu verdeutlichen, ein Flaubert-Zitat, das nicht nur Franzens Unfalltod mit Rodolphes Abschiedsbrief, sondern auch Emmas Reaktion mit Madame Bovarys Abschiedsbrief vor ihrem Selbstmord parallelisiert. Denn auf dem Heimweg spricht Schnitzlers Emma die zwei Schlüsselworte aus beiden Abschiedsbriefen aus, ›Schicksal‹ und ›Schuld‹:46 Und sie denkt: ich bin lebendig, gesund … sogar meine Uhr geht … und er … er … tot … Schicksal … Es ist ihr, als wäre ihr alles verziehen … als wäre nie irgendeine Schuld auf ihrer Seite gewesen. Es hat sich erwiesen, ja es hat sich erwiesen. Sie hört, wie sie diese Worte laut spricht. Und wenn es das Schicksal anders bestimmt hätte? (EI, 307f. [Hervorh. von mir]).
Die Zentralworte aus Flauberts Roman sind durch Wiederholung und durch den Umstand hervorgehoben, dass Emma sie ›laut‹ spricht. Leuchtet diese intertextuelle Bezugnahme ein, würde das implizieren, Schnitzlers Emma habe Flauberts Madame Bovary gelesen und beziehe dieses Muster auf sich. Auch diese in die Figurenperspektive verlegte Intertextualität wäre ein weiteres Argument dafür, dass Schnitzlers Emma ebenso suizidgefährdet ist wie ihr literarisches Vorbild.47 46
47
Mit dem ›Schicksal‹ rechtfertigt Rodolphe in seinem Abschiedsbrief sein schnödes Verhalten: »Ist es meine Schuld? O mein Gott, nein, nein, nur das Schicksal dürfen Sie anklagen!« (Flaubert, Madame Bovary, II 13, S. 250), und ähnlich schreibt Emma selbst in ihrem Abschiedsbrief: »Es soll niemand beschuldigt werden …« (ebd., III 8, S. 391). Eine intertextuelle Bezugnahme im Figurentext läge insofern durchaus nahe, als auch Madame Bovary intensiv in literarischen Mustern lebt. Vor allem ihr Liebesideal ist von ihren Lektüren geprägt: Die außereheliche Beziehung zu Rodolphe macht Emma anfangs unter anderem deshalb so glücklich, weil sie einen Traum verwirklicht sieht, den romantische Bücher mit ehebrecherischen Heldinnen schon in ihr geweckt haben, als sie noch auf eine Klosterschule ging. Schon damals hatte sie die heimlichen Liebespaare um ihre leidenschaftlichen Abenteuer beneidet (ebd., II 9, S. 201–202). – Als gegen Ende des Romans Emmas Gefühle für ihren zweiten Liebhaber Léon abgekühlt sind, schreibt sie ihm weiterhin Liebesbriefe und hat dabei ein »Phantom« vor Augen, »das sich aus ihren glühendsten Erinnerungen, aus dem Schönsten unter allem, was sie gelesen, aus ihrem stärksten Begehren zusammensetzte« (ebd., III 6, S. 359).
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Auch die Aussprache der Eheleute, die der Schluss von Schnitzlers Erzählung perspektiviert, hat einen Rückhalt in Flauberts Roman. Während bei Schnitzler Emmas Fehlleistung, nämlich die unbewusst ausgesprochenen Worte »Die Toten schweigen«, das klärende Gespräch mit dem Ehemann veranlasst, kommen zwei Stellen aus Flauberts Roman als prätextuelle Muster in Frage. Vorrangig ist es Rodolphes Abschiedsbrief, an den sich Emma Bovary, als sie ihre Selbstmordanwandlung überwunden hat, beim Mittagstisch als verräterisches corpus delicti erinnert: Sie versuchte zu essen. Jeder Bissen blieb ihr im Hals stecken. […] Plötzlich fiel ihr der Brief wieder ein. Hatte sie ihn verloren? Wo ihn wiederfinden? Aber sie empfand eine solche geistige Mattigkeit, daß sie sich keinesfalls einen Vorwand zum Aufstehen vom Tisch hätte ausdenken können. Sie war feige geworden; sie hatte Angst vor Charles; er wusste alles, das stand fest!48
Der Abschiedsbrief Rodolphes, an den sich Flauberts Emma erinnert, entspricht dem »Anderen Abschied«, bei dem Schnitzlers Emma ihren Geliebten verloren hat. Und auch die Reaktionen beider Frauen ähneln sich. Wie Flauberts Emma, die aus ihrer einmal kurz unterbrochenen Ohnmacht mit der angstvollen Frage erwacht: »›Und der Brief ? Und der Brief ?‹«,49 malt sich Schnitzlers Emma in einem ebenfalls kurz unterbrochenen Tagtraum aus, »wenn er nicht tot wäre!«, um dann sich in unbewusst lautem Sprechen selbst zu beruhigen: »er ist tot … er ist tot … er ist ganz gewiß tot … und die Toten schweigen« (EI, 307). Die Anadiplose, der Fragemodus und die temporäre Absenz der psychisch überforderten Protagonistin, die fürchtet, ihre abrupt beendete Affäre könne ruchbar werden, unterstreichen die formale wie inhaltliche Analogie der Textstellen. Vor dem Hintergrund dieser Analogie wird allerdings auch die entscheidende Differenz deutlich: Anders als bei Flaubert, bei dem das Ehepaar zu keiner Aussprache findet, fordert bei Schnitzler der ahnungsvolle Ehemann Aufklärung. Vergleichsweise entfernt wirkt dagegen der intertextuelle Bezug zum Romanschluss, für den neben der strukturellen Analogie freilich noch weitere Gründe sprechen: Emma Bovarys Freitod und ihr Abschiedsbrief mit dem fragmentarischen Satz »Es soll niemand beschuldigt werden …«, der Charles Bovary die Augen öffnet.50 Aber auch in diesem Fall heben mögliche Ent48
49 50
Ebd., II 13, S. 255. Vgl. dazu die abschließende Konfrontation von Schnitzlers Protagonistin und ihrem Ehemann im Spiegel: »Und in seinen Augen liest sie, dass sie ihm nichts mehr verbergen kann, und lange seh’n die beiden einander an« (EI, 311). Flaubert, Madame Bovary, II 13, S. 259. Ebd., III 8, S. 391.
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sprechungen der beiden Schlüsse vor allem die unterschiedlichen Wendungen hervor, welche die beiden Ehebruchsgeschichten nehmen. Wie Charles Bovary die verängstigte Tochter Berthe vom Sterbebett Emmas wegschickt (»›Genug! Bringt sie weg!‹ rief Charles«51), wünscht bei Schnitzler Emmas Ehemann, dass der Knabe ins Bett gebracht werde: »›Bring den Buben zu Bette‹, sagte er dann zu ihr« (EI, 310f.). Doch während Charles Bovary mit seiner Geste der Tochter nur den Abschied von der sterbenden Mutter erleichtert, verlangt bei Schnitzler der Gatte damit eine Aussprache unter vier Augen. Auf der Folie der selektiven Anleihen Schnitzlers bei Flaubert und der strukturalen Ähnlichkeiten der Erzähltexte gewinnt die Differenz des Posttexts umso klarere Kontur. So zitiert Schnitzler zwar Flauberts Kutschfahrt, invertiert sie aber systematisch: Während bei Flaubert die Fahrt glücklich endet, ja die ehebrecherische Liebe zwischen Emma Bovary und Léon überhaupt erst stiftet, führt sie bei Schnitzler zur Katastrophe und zum Tod des Liebhabers. Diese Umdeutung nimmt Schnitzler mittels Überblendungstechnik vor. Er überblendet die Affäre, die Emma Bovary mit Léon hat, mit ihrer Leidenschaft für Rodolphe, ihrem ersten Verhältnis. Indem Schnitzler den Unfalltod des Liebhabers Franz mit Rodolphes Abschiedsbrief verknüpft und damit den abrupten Wechsel von Liebesglück und -leid zuspitzt, wird auch die psychische Ausnahmesituation der Protagonistin gesteigert. Emmas panische Reaktion auf den Unfalltod und ihre ängstlich-verwirrte Heimkehr, die immerhin die Hälfte der Erzählung ausmachen, lösen sich von dem Prätext und intensivieren gezielt Flauberts personales Erzählen. Eine radikale Subjektivierung und Psychologisierung zeigt sich auch im Schluss, der die Konfrontation Emmas mit ihrem Ehemann in eine Aussprache überführt. Augenfällige Parallelen zu zwei Stellen in Flauberts Roman, zum einen Emma Bovarys verzweifelte Reaktion auf Rodolphes Abschiedsbrief, zum andern ihr eigener Abschiedsbrief an ihren Ehemann Charles, verdeutlichen erneut Schnitzlers narrative und psychologische Modernität. Er ersetzt Flauberts traditionelle Briefrequisiten durch einen psychologisch plausiblen Tagtraum, der Emma verrät, indem sie unwillentlich laut vor sich hin spricht. Das unwillentliche Sprechen ist überdies textimmanent motiviert, indem Emma bereits auf ihrer fluchtartigen Heimkehr unabsichtlich »laut spricht« (EI, 307) und möglicherweise den Liebes- und Lebensabschied Emma Bovarys zitiert.
51
Ebd., S. 394.
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4.2.
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»Die Toten schweigen« – ein Zitat?
Ein anderer intertextueller Bezug im Figurentext ist wohl auch der Titel der Erzählung, der das entscheidende Wort Emmas aufgreift: »Die Toten schweigen!« Weil Emmas Ehemann diese Wendung wiederholt, ist sie zusätzlich als Zitat markiert: »er ist tot … ganz gewiß tot … und die Toten schweigen« (EI, 311). Obwohl die ungewöhnliche Wendung somit insgesamt drei Mal in der Erzählung vorkommt und damit eine zentrale Bedeutung gewinnt, überdies intratextuell auf das mutmaßliche, ebenfalls unwillentlich laut gesprochene Flaubert-Zitat im dritten Teil referiert (»ich bin lebendig […] und er … er … tot … Schicksal … Es ist ihr, als wäre ihr alles verziehen … als wäre nie irgendeine Schuld auf ihrer Seite gewesen« [EI, 307]), wurde sie bisher nicht näher untersucht. Wahrscheinlich handelt es sich um ein literarisches Zitat,52 für das meines Wissens zwei Vorbilder in Frage kommen: Zum einen Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter (1817), zum andern Emanuel Geibels [Erster] Psalm (1883). 4.2.1. Achim von Arnim: Die Kronenwächter In Arnims Roman Die Kronenwächter, den Schnitzler vermutlich kannte, zumal er im Jahre 1881 in Reclams-Universal-Bibliothek aufgenommen worden war,53 kommt die Wendung zwei Mal an prominenter Stelle vor. In der »achten Geschichte« des zweiten Buches (»Hausmärchen«) wird die Chronik der Stadt Waiblingen in legendarisch überhöhten Tableaus vorgestellt. Das »dreizehnte Bild« zeigt den Hunnenkönig Attila, wie er nach der Eroberung Waiblingens einen Geistlichen erschlägt, weil dieser ihm aus dem Manuskript eines alten Sängers einen prophetischen Text vorgelesen hat, den Attila als 52
53
Ein intertextueller Bezug im Figurentext findet sich bereits in Schnitzlers Erzählung Ein Abschied (1896). In einer subjektivierten dissoziativen Angststörung bekennt sich der Liebhaber Albert zu seiner ehebrecherischen Liebe, indem er in einem imaginären Dialog die Rolle des zärtlichen Liebhabers Seladon einnimmt, der auf Honoré d’Urfés Schäferroman L’Astrée zurückgeht: »Wenn ich ihm geantwortet hätte: Nein, ich bin ihr Geliebter, oder: Ich bin ihr Seladon. Ich bin ihr erschütterter Seladon …« (Arthur Schnitzler, Ein Abschied, EI, 248). In Arthur Schnitzlers Lektüreliste findet sich s. v. »Armin [scil. Arnim]« der Eintrag: »K. Romane« (LL D16). Dies könnte den Roman Die Kronenwächter durchaus einschließen, zumal er in Reclams-Universal-Bibliothek vorlag (vgl. Paul Michael Lützeler, »Achim von Arnim: ›Die Kronenwächter‹«, in: Ders. (Hrsg.), Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1983, S. 38–71), deren Klassiker-Bände Schnitzler schon in jungen Jahren las; vgl. JW, S. 18f.
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
Kritik an seiner Person auffasst. Diese Prophetie beginnt mit der Zeile: »Wer lebendig blieb, schreit Sieg aus, doch die Toten schweigen still!«54 Die Szene dürfte sich freilich nur schwer als Prätext von Schnitzlers ehelichem Konflikt plausibilisieren lassen.55 Allerdings begegnet die charakteristische Wendung »Die Toten schweigen« noch an anderer Stelle in Die Kronenwächter, nämlich in der »neunten Geschichte« des dritten Buches. Die dortige Episode nach der Zerstörung Waiblingens ließe sich als inverse Situation durchaus auf das Verhältnis von Emma und Franz beziehen. Denn während Emma sich vom Unfallort und von ihrem toten Geliebten entfernt, küsst und liebkost in Arnims Roman die Protagonistin Anna ihren Geliebten Anton, der tödlich verwundet zu sein scheint: Endlich kniete sie nieder, als ihre Kraft, ihre Einsicht erschöpft waren, flehte zu allen Heiligen, denen sie sich je empfohlen, und heftete ihre Lippen auf die Wunde, ohne zu wissen, was sie tat. So still betend hoffte sie zu vergehen, und zugleich mit dem, dessen Tod sie in falscher Klugheit verschuldet, vor dem Richter der Welt zu stehen. Wird sich die Wunde nicht schließen bei dem Gebete, bei dem Drucke so schöner Lippen! Der Lärmen des Kampfs stillt sich, die Reisigen drängen sich fliehend zum Tore hinaus, die Bürger ihnen nach: die Verwundeten sind heimgetragen, die Toten schweigen und die Nacht wird still, daß Anna die Mühlenräder in der Rems und die Räder der Turmuhr in ihrem festen, gleichen Gange zusammen hören kann mit ihrem heftig schlagenden Herzen. Ein Glaube dringt mit dem Glanz der Sterne in ihr Herz, sie werde vergehen, oder Anton werde mit der Sonne erstehen, die Augen aufschlagen, sie von der Schuld seines Todes befreien und ihre Unschuld bezeugen, wie der glühende Stahl in der Hand angeklagter Frauen ihre Unschuld im Gottesgerichte beweist. Ihrer Unschuld sich bewußt, drückt sie ihn so fester an sich, schließt die Todeswunde um so fester mit ihren Lippen, ihre Lippen mit ihrem Gebete, ihren Gram mit ihrem Glauben und wird nicht müde dieses angestrengten, heilenden Willens.56
Was Anna nicht weiß: Das Blut Antons, das sie mit ihren Küssen erfolgreich zu stillen versucht, ist mit dem Blut ihres zeitgleich sterbenden Ehemanns Berthold vermischt. Während bei Arnim somit diese Szene das Dreiecksverhältnis Anna-Anton-Berthold als Blutgemeinschaft besiegelt, denn der scheintote Anton erwacht unter Annas Küssen wieder zum Leben, stirbt bei 54
55
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Vgl. Achim von Arnim, Sämtliche Romane und Erzählungen, 3 Bde., Walther Migge (Hrsg.), München 1962–1965, hier Bd. 1, S. 706–708. Arnims komplementärer Halbvers »Wer lebendig blieb, schreit Sieg aus«, ließe sich zwar durchaus als Kommentar zu Emmas Willen zum Leben lesen, der die Distanzierung vom ›still schweigenden Toten‹ Franz kontrastiv verdeutlichen würde. Doch eine typologische Beziehung von Emmas Ehemann zu dem Hunnenkönig Attila überzeugt kaum. Achim von Arnim, Sämtliche Romane und Erzählungen, S. 797 (Hervorh. von mir).
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49
Schnitzler der Liebhaber zugunsten des Ehemanns.57 Die Analogie des zitathaft markierten Prätexts beschränkt sich nicht auf die Struktur, sondern zeigt sich auch in der narrativen Faktur. Die empathische dubitatio des Erzählers, der Wechsel ins Präsens als Erzähltempus und die Fokalisierung auf die Protagonistin hin passen durchaus zu Schnitzlers Erzählung. Während bei Arnim aber mit der Wendung »Die Toten schweigen« die Liebenden von den übrigen Personen getrennt und stärker aufeinander bezogen werden, wird bei Schnitzler damit die Differenz zwischen den Liebenden markiert. 4.2.2. Emanuel Geibel: [1.] Psalm Da die Titel-Wendung in Schnitzlers Erzählung sich nicht im Erzählertext, sondern im Figurentext findet und somit dem Wahrnehmungs- und Bewusstseinshorizont Emmas entspringt, dürfte der alternative Prätext als Quelle wahrscheinlicher sein: ein Psalm des seinerzeit populären Dichters Emanuel Geibel:58 1. Aus diesem Tal des Kummers Vernimm, o Herr, mein Flehen! Voll Angst, beraubt des Schlummers Lieg’ ich die Nacht hindurch in heißen Wehen; Durch mein Gebein rinnt irr ein fiebernd Grausen, Die wilden Wasser gehen Hoch über meine Seele hin mit Brausen. Nicht weiß ich, wo ich bleibe, Von Tränen strömt mein Bette; Es ist an meinem Leibe Gesundes nichts und nichts, was Frieden hätte.
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58
Vgl. dazu die avancierte Deutung von Rolf Simon, »Konstruierte und destruierte Medien des Erinnerns in Achim von Arnims Romanfragment ›Die Kronenwächter‹«, in: Günter Oesterle (Hrsg.) in Verb. mit Alexander von Bormann [u. a.], Erinnern und Vergessen, Würzburg 2001, S. 117–143, bes. S. 122. Als »absurde Pietà« deutet Helga Halbfass, »Ironie und Geschichte. Achim von Arnim und die Krise der romantischen Ästhetik«, in: Michael Andermatt (Hrsg.), Grenzgänge. Studien zu Ludwig Achim von Arnim, Bonn 1994, S. 57–77, hier S. 73, das »groteske Schlusstableau«. Zur Popularität Emanuel Geibels vgl. Elisabeth Katharina Paefgen, »Uhland – Goethe – Geibel. Anmerkungen zur lyrischen Kanonentwicklung im ›Echtermeyer‹ des 19. Jahrhunderts: Volkstümlichkeit – Klassik – Nationales«, in: Detlef C. Kochan (Hrsg.), Literaturdidaktik – Lektürekanon – Literaturunterricht, Amsterdam 1990 (Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik, 30), S. 250–287.
50
›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen Von Stöhnen heiser denk’ ich meiner Fehle; O rette, rette, rette Aus dieses Jammers Abgrund meine Seele! Wohl fühl’ ich, ich bin schuldig, Ich selbst an meinem Schaden: Doch du bist, Herr, geduldig, Ein Heiland und ein Arzt von großen Gnaden. Und wäre Sünde, rot wie Blut, die meine, Du kannst mich lauter baden, Daß ich wie frischgefallner Schnee erscheine. Du kannst auch lösen wieder Dies Leid, das mir geschehen, Kannst die zerschlagnen Glieder Aufrichten, daß sie fest wie Säulen stehen. O birg dein Antlitz nicht zu dieser Stunde! Für Recht laß Gnad’ ergehen, Daß ich am Geist, daß ich am Leib gesunde! Sieh an mein qualvoll Schwanken Gleich der verdorrten Blume; Wie soll mein Staub dir danken, So du der Gruft mich gibst zum Eigentume? Die Toten schweigen deiner Herrlichkeiten; Doch hell zu deinem Ruhme Will ich mein klingend Harfenspiel besaiten. O hilf, daß ich den Zagen Dein gnädig Walten deute, Und wie du Not und Klagen In Reigen kehrst und nimmst dem Tod die Beute. Denn sanft im Säuseln kommst du nach dem Wetter; O komm, o hilf auch heute, Mein Fels und meine Burg, mein Hort und Retter!59
Dieser erste der Zwei Psalmen »ist eine echt künstlerische Bearbeitung mehrerer Davidischer Bußpsalmen«.60 Geibel hat das sechsstrophige geistliche Lied einem reuigen Sünder oder einer reuigen Sünderin in den Mund gelegt. Zwar lässt der Bittgesang die Art des »Fehls« unklar, doch bekunden die hyperbolisch ausgemalten körperlichen Symptome des schlechten Gewissens – 59
60
Emanuel Geibel, »Zwei Psalmen. 1. [Psalm]. [Aus der Sammlung: Vermischte Gedichte. Zweites Buch]«, in: Gesammelte Werke, Neue Gedichte – Gedichte und Gedenkblätter, Bd. 3, Stuttgart 1883, S. 106–108, bes. S. 107, V. 33 (»Die Todten schweigen deiner Herrlichkeiten« [Hervorh. von mir]). Vgl. Carl Leimbach, Emanuel Geibels Leben, Werke und Bedeutung für das deutsche Volk, zweite sehr verm. und neubearb. Ausgabe von Max Trippenbach, Wolfenbüttel 1894, S. 212.
Zusammenfassung
51
»heiße Wehen« (V. 4), »fiebernd Grausen« (V. 5), »[strömende] Tränen« (V. 9) und »zerschlagne Glieder« (V. 24) – die Schwere des Schuldbewusstseins. Geibels Vers 33, »Die Toten schweigen deiner Herrlichkeiten«, den sowohl der Titel der Erzählung wie Emmas Versprecher zitieren, variiert seinerseits Wendungen biblischer Bußpsalmen.61 Er illustriert die innere Not des Sünders, der Gott um Verzeihung bittet mit dem Hinweis darauf, dass er besser lebendig dessen Lob singe, als tot »[s]einer Herrlichkeiten [zu] schweigen«. Indem das Gebet verknüpft ist mit dem Hinweis, nach dem Tode Gott nicht mehr preisen zu können, lässt sich die Formel als mittelbare Rettung vor dem Selbstmord deuten. Damit wäre Emmas Fehlleistung über den Kontext von Geibels Psalm als Wunsch nach göttlichem Beistand zu verstehen, wie ihn auch Emma Bovary sowohl im Betstuhl unmittelbar vor der Kutschfahrt mit Léon als auch kurz vor ihrem Tod im Sakrament der letzten Ölung erbittet. Die Vergebung (»Indulgentiam«), die der Priester Madame Bovary gewährt, erhofft sich auch Schnitzlers Emma. Ihre Hoffnung auf »gnädig Walten« drückt das offene Ende der Erzählung aus, ist aber insofern verdiesseitigt, als der Ehemann in die Rolle des gnädigen Gottes rückt: »Für Recht laß’ Gnad ergehen« (V. 27). Die Reaktion des Ehemannes unterstützt die Lesart, die Fehlleistung der unwillentlich laut gesprochenen Worte als unfreiwilliges Geständnis zu verstehen: »[…] und noch einmal fragt sie, während sie vor seinem entsetzten Blick zusammenbricht: ›Was hab’ ich denn gesagt?‹ ›Die Toten schweigen‹, wiederholt ihr Mann sehr langsam« (EI, 311). Auch wenn der »entsetzte Blick« und die »sehr langsame« Art des Wiederholens Emmas Projektion entsprechen, wie das Präsens signalisiert, deuten sie doch darauf hin, dass Emmas Mann ihr Zitat als Schuldeingeständnis versteht.
5.
Zusammenfassung
Die intertextuelle Analyse hat gezeigt: Schnitzler greift in Die Toten schweigen die Konstellation seiner eigenen Erzählung Ein Abschied (1896) auf, invertiert sie aber, indem er statt der Ehefrau den Liebhaber sterben lässt und anstelle der ausbleibenden Beichte des Rivalen gegenüber dem Witwer eine Aussprache der Eheleute perspektiviert. Auch in narratologischer Hinsicht löst sich Schnitzler von seiner eigenen Vorlage, indem er das Geschehen zwar amplifiziert, aber zugleich in Form eines fast zeitdeckenden Erzählens 61
Vgl. Ps 6,6: »Denn im Tode gedenkt man deiner nicht; / wer wird dir bei den Toten danken?« und Ps 115,17: »Die Toten werden dich, Herr, nicht loben, / keiner, der hinunterfährt in die Stille.« Vgl. auch Jes 38,18.
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›Ein andrer Abschied‹ oder Die Toten schweigen
verdichtet, die Subjektivierung noch intensiviert und das Geschehen stärker psychologisiert. Durch dieses Verfahren wird das Ausbleiben des Schmerzes in einer psychischen Krisensituation – ein Phänomen, das Schnitzler wohl in beiden Erzählungen wichtig war – besser nachvollziehbar. Bei dieser ästhetischen Neukonzeption orientierte sich Schnitzler an Gustave Flauberts Roman Madame Bovary. Er greift neben der Kutschfahrt auf weitere Episoden aus Flauberts Roman zurück, verändert sie jedoch eigenständig. So entlarvt sein verinnertes Erzählen den Willen zum Leben der Protagonistin Emma stärker, als dies bei Flaubert der Fall ist, auch wenn der automatische Versprecher und Titel der Erzählung – »Die Toten schweigen« – als literarisches Zitat aus der Figurenperspektive die verzweifelte Reue der Protagonistin illustriert. Doch treibt der Wille zum Leben Schnitzlers Emma weg vom toten Geliebten zurück zum Ehemann, während Flauberts Emma Bovary nur noch den Freitod als Ausweg sieht. Damit gewinnt die Dialogizität neben der formalästhetischen Überbietung auch einen neuen inhaltlichen Aspekt. Auf der Folie der großen inhaltlichen Gemeinsamkeiten tritt umso deutlicher hervor, wie unterschiedlich Emma Bovary und Schnitzlers Emma die außereheliche Liebe und deren Bedeutung für ihr Leben bewerten. Während Emma Bovary romantische Ideale verfolgt, für die sie sogar ihr Leben hingibt, ist der Professorengattin Emma ihre soziale Stellung in geordneten Verhältnissen wichtiger. Ihr Drang, »in das Licht … in den Lärm …« zu gehen und zur Gesellschaft zu gehören, ist stärker als ihre Liebesleidenschaft. Die Desillusion der Liebe Emmas zu Franz wird durch die indirekte Präsenz ihrer Vorgängerin konträr verstärkt. Die Erzählung Die Toten schweigen verlegt die Intertextualität von der narratorialen auf die figurale Perspektive. So interferiert schon die Emma-BovaryAllusion zwischen Erzähler- und Figurentext, und das Titelzitat »Die Toten schweigen«, mit dem Emma ihre Beichte ankündigt, bleibt ganz in der Figurenperspektive. Es dient der Charakterisierung Emmas, weil man aus ihrer Kenntnis des Geibel-Psalms schließen kann, dass sie religiös oder zumindest religiös erzogen ist. Dass Emma ihre Beichte nur indirekt über ein Zitat ankündigt, der Ehemann dies aber versteht, könnte andererseits eine poetologische Aussage Schnitzlers sein: Die Kommunikation gelingt über einen Text, den beide kennen, der aber durch seine Situierung neuen Sinn gewinnt.
Forschungsstand
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III. Die Nächste (1899) und Bruges-la-Morte ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus
1.
Forschungsstand
Arthur Schnitzlers nachgelassener Erzählung Die Nächste, 1899 entstanden und 1932 in der Osterbeilage der Neuen Freien Presse erstmals gedruckt,1 liegt Georges Rodenbachs symbolistischer Schlüsselroman Bruges-la-Morte als Prätext zugrunde.2 In meinem intertextuellen Nachweis aus dem Jahre 1994 habe ich die Dialogizität von Schnitzlers Bearbeitung nach den erzähltheoretischen Vorgaben von Hermann Bahrs Neuer Psychologie (1890) erläutert. War zuvor Die Nächste in der Forschung übergangen worden – lediglich Michaela Perlmann hatte den Traum des Protagonisten sozialpsychologisch zu deuten versucht –,3 sind seitdem drei weitere Studien erschienen. Diese werde ich in einem Forschungsüberblick kritisch mustern, um daran eine gründlich überarbeitete Version meiner damaligen Untersuchung anzuschließen. Im Jahre 2000 hat Katrin Schumacher in einer schmalen motivgeschichtlichen Studie über die Funktion des »weiblichen Phantoms« »in exemplarischen Texten um 1900« auch Schnitzlers Die Nächste untersucht.4 Eigenständig konstruiert Schumacher einen entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem Tod Marie Reinhards am 18. März 1899, während sie im intertextuellen Nachweis ebenso meiner Studie folgt wie in ihrer erzähltheoretischen Analyse, welche die zunehmende Fokalisierung auf den angeblich ›kernlosen‹ Protagonisten Gustav nachzeichnet. Allerdings relativiert sie Schnitzlers 1
2
3
4
Arthur Schnitzler, »Die Nächste [1899]« (aus dem unveröffentlichten Nachlasse), in: Neue Freie Presse vom 27. 03. 1932, S. 33–39. Der Copyright-Angabe: »1932 bei Heinrich Schnitzler, Wien« ist zu entnehmen, dass der Sohn des Schriftstellers die Druckvorlage bereitgestellt hat. Achim Aurnhammer, »Schnitzlers ›Die Nächste [1899]‹. Intertextualität und Psychologisierung des Erzählens im Jungen Wien«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F., 44/1994, S. 37–51. Vgl. Michaela L. Perlmann, Der Traum der literarischen Moderne. Untersuchungen zum Werk Arthur Schnitzlers, München 1987 (Münchner Germanistische Beiträge, 37), S. 95–99. Katrin Schumacher, Das weibliche Phantom: Motiv und Funktion in exemplarischen Texten um 1900, Wetzlar 2004, bes. S. 51–74. Es handelt sich um die Magisterarbeit der Verfasserin an der Universität Hamburg aus dem Jahr 2000.
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Die Nächste – ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus
Orientierung an Hermann Bahrs Neuer Psychologie, mit deren Programm ich die Dialogizität von Schnitzlers Erzählung zu Rodenbachs Vorlage erklärte, bestreitet die Analogie des Schlusses zugunsten einer Inversion des Prätexts und stellt eine ironische Erzähldistanz fest.5 Schnitzlers Ironie, so Schumachers Fazit, banalisiere den Prätext, da die Romantik der Wiedergängerin in Frage gestellt und das Erlebnis des Protagonisten auf Triebe zurückgeführt würden. Auf das entscheidende, »bereits im Titel Die Nächste angedeutete Wiederholungsmoment in Gustavs Liebesbeziehungen, demzufolge bereits die Ehefrau die ›Nächste‹ in einer Reihe ist, die bis zur Mutter zurückreicht«,6 geht Schumacher nicht ein. In einer diachron wie kulturhistorisch erweiterten Studie hat Katrin Schumacher im Jahre 2007 die Erzählung noch einmal untersucht,7 um erstmals textgenetisch fundiert auf die Wiederholungsstruktur des Textes abzuheben und ihn stärker psychoanalytisch einzubetten. Einerseits konstatiert sie die kontingente Wahrnehmung des Protagonisten, welche die Wiederholungen plausibilisiere, andererseits sieht sie den Text als unvollständige Krankengeschichte eines schizophrenen »Wahrnehmungs- und Ich-Verlusts«, wie ihn die zentrale Spiegelszene darstelle.8 Die Mordszene wird in dieser psychologischen Argumentation nunmehr zum »Kulminationspunkt, an dem die pathologische Dimension der Handlung mit ihren vorangegangenen Krisen gewissermaßen als verdeckte Analepse offensichtlich« werde.9 Während aber in Freuds Psychoanalyse die Wiederholung dazu diene, die Vergangenheit aufzuarbeiten, stelle Schnitzlers Erzählexperiment dieses Konzept ebenso in Frage wie Rodenbachs neuromantisches Konzept von der Wieder5
6 7
8 9
Nach Schumacher, Das weibliche Phantom, S. 72, führe der Schluss Rodenbachs Brügge-Handlung ad absurdum, indem die Doppelgängerin nicht ›stilgerecht‹ mit dem Zopf der Toten, sondern mit einer Hutnadel ermordet werde. Um ihre These zu erhärten, der Schluss repräsentiere die ironische Inversion auf ihrem Höhepunkt, führt Schumacher die Ermordung der Kaiserin Elisabeth 1898 »durch eben solch eine […] Waffe« an. Die Analogie ist freilich grundlos. Die selbstgebastelte Dreikantfeile aus Stahl, mit der Lucheni zustieß, wurde in der Sisi-Literatur zwar gelegentlich zum ›Dolch‹ überhöht (so etwa bei George), nicht aber zur Hutnadel. Zur Literarisierung des Mordes vgl. die vorzügliche Studie von Carolin Maikler, Kaiserin Elisabeth von Österreich. Die Entstehung eines literarischen Mythos 1854–1918, Würzburg 2011. Vgl. hierzu die Ausführungen in Aurnhammer, »Schnitzlers ›Die Nächste‹«, S. 45f. Katrin Schumacher, Femme fantôme. Poetologien und Szenen der Wiedergängerin um 1800/1900, Tübingen 2007 (Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur, 6), bes. S. 158–203. Ebd., S. 184. Ebd., S. 171.
Textgenese
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gängerin mit seiner »Poetologie der derangierten Zeitstrukturen und Wiederholungen«.10 In ihrer Studie verarbeitet Schumacher neben meiner narratologisch-intertextuellen Analyse auch Ergebnisse von Astrid Lange-Kirchheim.11 LangeKirchheim deutet die Wiederholungsstruktur in Gustavs Liebesbeziehungen nach Freud aus. Sie stellt fest, dass Gustav in seinen »pseudoödipalen« Dreiecks-Beziehungen die Rolle eines unschuldigen Kindes annimmt und seine Ich-Störung in der Kindheit wurzelt. Damit folgt Lange-Kirchheim – unausgesprochen – meiner These, die repetitiven Liebesbeziehungen ließen sich auf ein kindliches Trauma zurückführen. Allerdings sucht sie dieses Trauma zu präzisieren. Ihr zufolge hat Gustav ein gespaltenes Bild seiner Mutter: Er will sie gleichzeitig ersetzen und sich von ihr freimachen – deshalb bringe er Therese 2 unter dem Vorwand, Therese 1 zu rächen, um. Das gleiche Problem diagnostiziert Lange-Kirchheim bei »Scottie« Ferguson, dem Protagonisten in Alfred Hitchcocks Vertigo (1958):12 Hitchcock gehe aber – so LangeKirchheim – insofern über Schnitzler hinaus, als er eine weibliche Genealogie entwickle.
2.
Textgenese
Aus der Nichtveröffentlichung der Nächsten zu Lebzeiten ist keinesfalls zu schließen, Schnitzler habe seine Erzählung als unwichtiges Nebenprodukt erachtet oder gar geringgeschätzt. Vielmehr erweisen die Daten der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte sein großes künstlerisches Interesse an dem Projekt. Die Entstehungsgeschichte ist durch das Tagebuch und mehrere Überlieferungsträger (1 vollständiges Manuskript, 2 Typoskripte) gut bezeugt.13 Arthur Schnitzler begann seinen eigenen Aufzeichnungen zu10 11
12
13
Ebd., S. 194. Astrid Lange-Kirchheim, »Erinnerte Liebe? Zu Arthur Schnitzlers ›Die Nächste‹ und Alfred Hitchcocks ›Vertigo‹«, in: Wolfram Mauser [u. a.] (Hrsg.), Erinnern, Würzburg 2004 (Freiburger Literaturpsychologische Gespräche, 23), S. 93–110. Hitchcocks Film basiert auf dem Roman D’entre les morts von Pierre Boileau und Thomas Narcejac (1954). Die Mappen 165, 168 und 169 in Schnitzlers Nachlass enthalten einen handschriftlichen Entwurf (FF C XVIII, 1, Bl. 2f. – Cambridge Schnitzler A 169, 1, künftig I) und drei vollständige Fassungen der Erzählung: eine ManuskriptFassung mit vielen Korrekturen, datiert 15. 03. 1899–06. 07. 1899 (FF C XVIII, 1, Bl. 4–166 – Cambridge Schnitzler A 169, künftig II) und zwei Typoskript-Fassungen: die eine maschinenschriftliche Version, datiert 1899 (FF C XVIII, 2, Bl. 167–224 – Cambridge Schnitzler A 165, künftig III), die wenig Korrekturen auf-
56
Die Nächste – ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus
folge am 12. März 1899 mit der Arbeit (»Schreibe eine Novelle«); am 12. Juni 1899 begann er »an jener Novelle weiterzuschreiben, die am 15/3 [infolge des Todes seiner Freundin Marie Reinhard] unterbrochen wurde«, und am 6. Juli 1899 notiert er: »Nachm[ittag] die Novelle ›Die Nächste‹ vorläufig beendet«.14 Die Textgeschichte der Nächsten hat Katrin Schumacher aus den Quellen aufgearbeitet und Auszüge der von ihr identifizierten Fassungen in einem Anhang synoptisch präsentiert.15 Da ihre knapp erläuterte Rekonstruktion aber einige Lücken aufweist, sei im Folgenden die Textgeschichte noch einmal zusammenhängend dargelegt. Insgesamt lassen sich fünf Fassungen unterscheiden. 2.1.
Erste Textfassung
Eine undatierte einseitige Skizze, mit Tinte geschrieben und mit Bleistift ergänzt, repräsentiert die erste Textfassung. Diese Skizze, von Schumacher unvollständig wiedergegeben,16 bietet einen zusammenhängenden Entwurf und zwei nachgetragene Absätze. Sie enthält bereits den Plot von der doppelgängerischen Geliebten, die als minderwertiger Ersatz (»Dirne«) des ursprünglichen Liebesobjekts erkannt und – im zweiten Nachtrag – von dem »wahnsinnigen« Liebhaber umgebracht wird (Abb. 2): (Arztbuch Wieder einmal – die erste Liebesnacht nach dem Tod der Geliebten – Sie eine Dirne. Wie ihm vorkommt, als würde diese Dirne absichtlich die Verstorbene carrikieren – wie er alles wiederfindet, dieselben Küsse, dieselben Seufzer – Wie, oder sind es immer dieselben? – Wie auf ewig das Bild seiner Geliebten in seinem Gedächtnis
14 15 16
weist, ist deutlich umfangreicher als die andere Typoskript-Version, datiert 1899 (FF C XVIII, 3, Bl. 225–259 – Cambridge Schnitzler A 168, künftig IV), die zahlreiche handschriftliche Korrekturen aufweist. Die Fassung IV ist wohl – trotz mancher Abweichungen – die Vorlage für den postumen Erstdruck in der Osterbeilage der Neue[n] Freie[n] Presse vom 27. März 1932, S. 33–39; auf ihr wiederum fußen die erste Buchveröffentlichung (in: Arthur Schnitzler, Die kleine Komödie. Frühe Novellen, Otto P[aul] Schinnerer (Hrsg.), Berlin 1932, S. 249–275) und die Veröffentlichung: Arthur Schnitzler, »Die Nächste«, in: Ders., Gesammelte Werke, Die Erzählenden Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M. 1961, S. 319–336. Vgl. Tgb 12. 03. 1899, 12. 06. 1899 und 06. 07. 1899. Schumacher, Femme fantôme, S. 301–308. Ebd., S. 162.
Textgenese
Abb. 2: Die Nächste. Erster Entwurf; undatierte Skizze (Cambridge Schnitzler A 169, 1).
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58
Die Nächste – ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus geschändet ist – wie er nach und nach der Geliebte der Dirne wird. Im Winter war sie gestorben … Und nun war wieder der Frühling da! … Er sah zum Fenster hinaus. Wie einer wahnsinnig wird – N Glaubt M die copire absichtlich – und er sie umbringt.17
Im Paradoxon von Einmaligkeit und Wiederholung in der Liebe (»Wieder einmal – die erste Liebesnacht«) deutet die Skizze bereits ein zentrales Motiv der Novelle an. Zugleich wird der Ähnlichkeitswahn, der diesen Wiederholungszwang hervorruft und projektiv auf die Doppelgängerin überträgt (»die copire absichtlich«), explizit als ›Wahn‹ benannt (»wie einer wahnsinnig wird«). Aber noch entscheidender scheint mir die erzähltechnische Vorentscheidung, die sich in dem Entwurf bereits abzeichnet: die starke Personalisierung, die sich in der Erlebten Rede zeigt, im ersten Absatz sogar präsentisch aktualisiert. 2.2.
Zweite Textfassung
Diesem Entwurf, dem ein Blatt mit Notizen folgt,18 schließt sich als zweite Textfassung ein ausführliches Manuskript an. Es umfasst 160 Blätter mit zahlreichen Verbesserungen.19 Die eingestreuten Zeitangaben, die mit dem 9. März 1899 beginnen und mit dem 6. Juli 1899 enden, lassen, wie Schumacher zutreffend feststellt,20 eine deutliche Zäsur erkennen, die ein auf den »12. 6.« datiertes Blatt auch klar markiert. Dieses Blatt enthält eine eingeklammerte persönliche Mitteilung Schnitzlers, welche die Bedeutung des Todes von Marie Reinhard für sein Schreiben festhält:
17 18
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Die Nächste [I] (FF C XVIII, 1, Bl. 2 – Cambridge Schnitzler A 169, 1). Dieses Blatt (Die Nächste [I] (FF C XVIII, 1, Bl. 3 – Cambridge Schnitzler A 169, 1) enthält fragmentarische Notizen, die ich abweichend von Schumacher, Femme fantôme, S. 309, folgendermaßen entziffere: Jene (Lippen ans Ohr Aug f so ungeheuer Lieb dass er die ga[nze] Zeit nichts begreift – Ob bei ihr Beschämung, dass sie todt für immer. Die Nächste [II] (FF C XVIII, 2, Bl. 4–166 – Cambridge Schnitzler A 169, 2). A 169, Bl. 1–166. Die Kopie im Schnitzler-Archiv weist allerdings mehrere Dubletten auf (Bl. 5–7 doppelt!). Schumacher, Femme fantôme, S. 160–162.
Textgenese
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(Bis hieher hatte ich geschrieben, da kam Mizi – und fand mich sehr erregt, so dass sie besorgt lächelte –. Es war Mittwoch den 15. März – Nachmittags, etwa fünf Uhr. Am 18. Abends war sie todt. – – Seither schrieb ich nichts; versuchte wohl, aber es ist, wie wenn ich hier weiter müsste, wo ich aufgehört. Dieses Blatt soll hier liegen bleiben.)21
Auch im Manuskript selbst spiegelt sich der dreimonatige Einschnitt im Schaffensprozess. Auf dem Blatt danach, das vom »12. 6.[1899]« datiert, nimmt Schnitzler die Spiegelszene vom vorigen Blatt, welches mit dem Datum »15. 3.[18]99« schließt, erst zitierend auf, bevor er die Passage fortführt: Da sah zerblickteu er sich im Spiegel und erkannte sich nicht. Er trat näher hin zso nah Nwars Mu, so dass sein Hauch den Spiegel trübte. In der einen Hand hielt er die Kerze und die Hölzer in der andern.22
Diese Stelle greift Schnitzler nach dreimonatiger Pause auf, um sie variierend die Arbeit an der Nächsten folgendermaßen fortzusetzen: In der einen Hand hielt er den Leuchter mit der Kerze; er stellte ihn auf die Kommode, über der der Spiegel hing. Dann wich er zurück, setzte sich aufs Bett, entkleidete sich rasch, in dem Gefühl, dass er sich ins Bett flüchten müßte.23
Neben den vielen Durchstreichungen und der markierten Zweiteiligkeit zeigen einige Unstimmigkeiten, dass das Manuskript nur einen vorläufigen Textstatus repräsentiert. So heißt etwa die tote Geliebte noch uneinheitlich »Agathe« und »Therese«.
21 22 23
Die Nächste [II] (FF C XVIII, 2, Bl. 65 – Cambridge Schnitzler A 169, 2). Die Nächste [II] (FF C XVIII, 2, Bl. 64 – Cambridge Schnitzler A 169, 2). Die Nächste [II] (FF C XVIII, 2, Bl. 66 – Cambridge Schnitzler A 169, 2).
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Die Nächste – ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus
2.3.
Die Typoskript-Versionen 3 und 4
Zwei vollständige Typoskript-Fassungen lassen sich nur schwer in die Textgeschichte einordnen. Die eine maschinenschriftliche Version, datiert 1899 und 1904,24 weist nur ganz wenige Korrekturen auf und ist mit einem unbezeichneten Blatt und 56 foliierten Blättern deutlich umfangreicher als die andere Typoskript-Version, die lediglich 35 foliierte Blätter umfasst.25 Diese, auf dem Deckblatt als »Abschrift« bezeichnet und ebenfalls auf 1899 datiert, enthält zahlreiche handschriftliche Korrekturen von Arthur und Olga Schnitzlers Hand. Sicherlich steht IV der Manuskriptversion viel näher als III. Schumacher zufolge ist III »deutlich auf 1904 datiert«, doch betrifft dieses Datum nur die kritische Vorbemerkung vom 3. November 1904, die nicht zum Text selbst gehört, auch nicht in dessen Foliierung integriert ist, sondern vielmehr eine deutliche ästhetische wie zeitliche Distanz zum Text voraussetzt: Die Sache wäre zu retten: es muss das G r a u e n vor dem Totsein seiner Frau schon früher geschildert sein. Seine Wut über die Lebendigen … Seine Gier, sein Ekel … Seine Verzweiflung. F Versuch, sich zu retten …26
Ich vermag nicht zu entscheiden, ob diese Version III, deren Protagonist »Eduard«, und nicht »Gustav« wie im Manuskript und in IV heißt, vor, nach oder neben IV entstanden ist. Tatsächlich sind, vom Namen abgesehen, die sprachlich-stilistischen Unterschiede doch so gravierend, dass es sich möglicherweise um eine Fassung handelt, die gar nicht von Schnitzler selbst, sondern von seiner Frau Olga stammt. Olga Schnitzler hatte nämlich, was Schumacher wie mir seinerzeit entgangen ist, wesentlichen Anteil an der Entstehung der Nächsten. Denn die 35 Blätter des Typoskripts IV enthalten vor allem handschriftliche Bleistiftkorrekturen von Olga Schnitzler, mehr noch: auf der Rückseite des letzten Blattes findet sich eine kritische »Bemerkung Olgas«:
24
25 26
Die Nächste [III] (FF C XVIII, 2, Bl. 167–224 – Cambridge Schnitzler A 165, 5–6). Die Nächste [IV] (FF C XVIII, 3, Bl. 225–259 – Cambridge Schnitzler A 168). Die Nächste [III] (FF C XVIII, 2, Bl. 168 – Cambridge Schnitzler A 165, 6). Vgl. den Tagebucheintrag vom 03. 11. 1904: »Nm. las ich älteres von mir, das noch nicht ganz durchcorrigirt ist, wie ›Nächste‹ […]« (Tgb).
Textgenese
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Noch zu wenig Glut und Farbe; vor dem Schluss viel grössere Steigerung. Übrigens sehr schön; das Problem (»Sterben«), »… irgend so ein süsses Mädel an der Seite …« und ein Satz, den ich wo gelesen habe: »Liebe? … Liebe ist die eigne Lust wenn man ein junges Weib küsst.« – Das muss aber noch heraus. 3. October 1900.27
Die ›Entdeckung‹ der Doppelgängerin und die Mordszene zeigen exemplarisch den Unterschied der beiden Typoskripte. In III wird die Begegnung eher knapp geschildert: Er [Eduard] blickte ihr eine Weile nach und dann stand er jäh von der Bank auf. Jetzt, wie er dieses Weib von rückwärts sah, hatte sie in der Gestalt eine so ausserordentliche Aehnlichkeit mit der Toten, dass er erschrak. Er folgte ihr. Was mochte sie sein? Er hatte nicht genug Erfahrung, um das genau abzuschätzen. Immer wenn sie an einer Laterne vorüberging, konnte er die Umrisse ihrer Gestalt deutlich wahrnehmen. Immer wieder glaubte er, seine verstorbene Frau vor sich hinschweben zu sehen, und mit einer Lust an diesem Wahnsinn versuchte er, sich zu überreden, dass sie es wirklich wäre. Er sagte sich: Jetzt in dieser Entfernung ist sie es, denn es ist ihre Gestalt, ihr Gang, ihre Haartracht, und ich sehe nichts Anderes.28
Dagegen ist der Ähnlichkeitswahn in IV breiter, etwa doppelt so lang und zeitlich gedehnter ausgeführt: Vor allem das autosuggestive Moment im ersten Teil wird stärker betont und sprachlich abgebildet. Lässt die Antiklimax (Gestalt, Frisur, Hut), welche die angebliche Übereinstimmung mit immer weniger klaren Merkmalen begründet, das Wahnhafte der Projektion erkennen,29 so verdeutlicht die anschließende »je weiter – umso eher«-Relation, dass erst eine größere Wahrnehmungsdistanz die Illusion von Ähnlichkeit ermöglicht. Der Schluss des ersten Teils, der die Unähnlichkeit der Physiognomie ausdrücklich benennt, widerlegt schließlich die Ähnlichkeitsrelation als pure Einbildung. Auch im zweiten Teil wird das genetisch-prozessuale Moment des Ähnlichkeitswahns sprachlich stärker abgebildet als in der vergleichsweise stärker resultativen Darstellung von III:
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Die Nächste [IV] (Nicht verzeichnet in FF – Cambridge Schnitzler A 165, 6, Bl. [35b] [handschriftliche Bemerkung Olgas]). Die Nächste [III] (FF C XVIII, 2, Bl. 195f. – Cambridge Schnitzler A 165, 5, Bl. 27f. Das Thema des Wahnsinns in beiden Entwürfen ist allerdings durch den Prätext vorgegeben, dem auch die Begegnung mit der Doppelgängerin nachgebildet ist: »la femme de tantôt qu’il avait, comme dans un coup de folie et pour le baume de sa ressemblance, suivie jusqu’en cette salle, ne s’y trouvait pas, il en était sûr« (Georges Rodenbach, Bruges-la-Morte, Christian Berg (Hrsg.), Brüssel 1986, S. 36 [Hervorh. von mir]).
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Die Nächste – ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus Er [Gustav] stand auf, aber nicht, weil sie gelächelt, – nein zsondernu, weil sie in der Gestalt und insbesondere jetzt, wie er sie von rückwärts sah, eine so ausserordentliche Aehnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau hatte, dass er beinahe erschrak zocken waru. Ja, selbst die Frisur zwar gleichu – Und auch solch einen Hut musste seine Frau irgend einmal getragen haben. Und je weiter sie sich von ihm entfernte, umso eher hätte er sich einbilden können, dass sie es zdie Gestorbneu war; Er fürchtete sich davor, dass sie sich wieder umwenden könnte, denn die Züge selbst hatten keine Spur von Aehnlichkeit: nur der Gang, die Gestalt, die Haartracht, der Hut … Er folgte ihr znachu. Was konnte sie sein? Er hatte nicht genug Erfahrung, um das genau abzuschätzen. In ihrem Lächeln war nichts Gemeines gewesen zgelegenu, kaum dass es sehr ermuthigend gewesen wäre. Sie war etwa zehn Schritte vor ihm; er hielt sich immer in der gleichen Entfernung. Immer wenn sie an einer Laterne vorübergieng, konnte er die Umrisse ihrer Gestalt am deutlichsten wahrnehmen, immer wieder von neuem glaubte er da den Gang seiner verstorbenen Frau vor sich hinschweben zu sehen, und wie mit einer Lust am Wahnsinn versuchte er sich zu überreden, dass sie es wirklich wäre. Er sagte sich: jetzt, in dieser Entfernung, wenn ich diese Gestalt … diesen Gang … diese Haartracht sehe – ist sie es; Wenn es Wunder gäbe und ich bekäme irgend etwas von ihr wieder, nur ihre Gestalt, nur ihren Gang – wäre ich da nicht glücklich? …30
Auch in den Schlusspassagen unterscheiden sich beide Typoskript-Versionen, allerdings ist das Verhältnis von szenischer Schilderung und Bericht hier eher umgekehrt. So ist die Innenperspektive Gustavs in IV – wie im fast textidentischen Erstdruck – zugunsten der äußeren Handlung relativ zurückgenommen: Gustav stand neben ihr, sah sie zucken, die Augen verdrehen, nochmals den Kopf heben, wieder zurücksinken … sterben … Dann erst zog er die Nadel aus der Wunde … es war gar kein Blut daran. Er verstand eigentlich gar nicht, was geschehen war. Plötzlich aber wusste er es. Er lief zum Fenster ins Nebenzimmer, hielt den Vorhang hoch, steckte den Kopf hinaus und schrie hinunter, so laut er konnte: »Mörder! Mörder!« Er sah noch, wie die Leute zusammenliefen, sah, wie man heraufdeutete, dann entfernte er sich vom Fenster, setzte sich ruhig auf den Sessel und wartete. Ihm war, als wäre das sehr gut, was er gethan. Er dachte an seine Frau, die schon lang im Sarge lag und der zdieu Würmer in die Augenhöhlen krie zöuchen, und zum ersten Mal seit ihrem Tod fühlte er irgend etwas wie Frieden in seiner Seele. Jetzt wurde heftig geklingelt, Gustav stand rasch auf und öffnete. – – –31
Die Schlussszene des Typoskripts III unterscheidet sich davon zum einen durch eine stärkere nachträgliche Reflexion (»Aber warum? … warum?«), die im Modus der Erlebten Rede präsentiert wird. Zum andern bietet III eine 30
31
Die Nächste [IV] (FF C XVIII, 3, Bl. 242f. – Cambridge Schnitzler A 168, Bl. 17f.). Die Nächste [IV] (FF C XVIII, 3, Bl. 259 – Cambridge Schnitzler A 168, Bl. 35).
Textgenese
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stärkere Detaillierung der Außenwelt (»zwei Männer«, »eine dicke Weibsperson«, der »Tisch mit der grünen Decke«), auch wenn der nochmalige Blick auf das Mordopfer gestrichen ist: Eduard stand regungslos neben ihr, sah sie zucken, die Augen verdrehen, wieder zurücksinken und sterben. Dann erst zog er die Nadel aus der Wunde. Es war kein Blut daran. Er verstand noch nicht recht, was geschehen war. Er hatte es tun müssen – gewiss. Aber warum? … warum? … Und er lief ins Nebenzimmer zum Fenster, hob den Vorhang hoch und sah auf die Strasse herunter, die geradeso aussah wie früher, was ihn wunderte. Dann aber schrie er hinaus, so laut er konnte: »Mörder! Mörder!« Er sah, wie zwei Männer, die eben vorübergingen, zu ihm heraufblickten, am Fenster gegenüber erschien eine Frau, er merkte, dass man von der Strasse aus nach oben deutete und Leute zusammenliefen, nund er sah aus dem Tor des Hauses eine dicke Weibsperson treten, die heraufschaute. Dann entfernte er sich vom Fenster, setzte sich ruhig auf einen Sessel an dem Tisch mit der grünen Decke und blickte in das Zimmer hinein. Wie sonderbar, er konnte sie nun gar nicht sehen, das Bettgestell verbarg sie ihm. Da stand er auf, trat näher und blickte den Leichnam an. Es musste doch ganz gut sein, was er getan. Denn wie er jetzt an seine Frau dachte, die schon so lange im Grabe lag und in deren Augenhöhlen Würmer krochen, fühlte er zum ersten Mal etwas wie Frieden in seiner Seele. Jetzt wurde heftig an der Klingel gezogen. Eduard ging zur Türe und öffnete. –32
So bleibt als Fazit, dass sich keine eindeutigen Bearbeitungsprinzipien erkennen lassen, die helfen können, die beiden Typoskripte aufeinander zu beziehen und in die Textgeschichte einzuordnen. In den spärlichen intertextuellen und intermedialen Hinweisen gleichen sich beide Fassungen. Die figural motivierten Bezugnahmen bleiben zudem unspezifisch: Wie im Manuskript wird zwar erwähnt, dass Gustav liest, die Lektüre wird aber nicht spezifiziert.33 Ebenso vage bleiben Gustavs regelmäßige Theaterbesuche.34 Nur wenig deutlicher sind die intermedialen Hinweise. So bat Gustav »manchmal nachts« seine Frau, »leise ein Schubert’sches Lied zu singen«.35 Doch die32
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Die Nächste [III] (FF C XVIII, 2, Bl. 222–224 – Cambridge Schnitzler A 165, 5, Bl. 54–56). »Er […] nahm ein Buch zur Hand und versuchte zu lesen. Aber immer ließ er das Buch bald auf den Schoß sinken und sah ins Freie« (Die Nächste [IV] [FF C XVIII, 3, Bl. 226 – Cambridge Schnitzler A 168, Bl. (1)]). In III endet der unspezifische Lektüreversuch entsprechend: »[…] und seine Blicke versanken in den [ ! ] blassen Himmel vor ihm« (Die Nächste [III] [FF C XVIII, 2, Bl. 169 – Cambridge Schnitzler A 165, 5, Bl. 1]). »Er gieng in jedem Monat einmal ins Theater« (Die Nächste [IV] [FF C XVIII, 3, Bl. 227 – Cambridge Schnitzler A 168, Bl. 2]) bzw. in III: »Einmal jeden Monat besuchte er das Theater« (Die Nächste [III] [FF C XVIII, 2, Bl. 171 – Cambridge Schnitzler A 165, 5, Bl. 3). Die Nächste [III] (FF C XVIII, 2, Bl. 176 – Cambridge Schnitzler A 165, 5, Bl. 8).
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Die Nächste – ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus
nen die Hinweise auf Literatur, Musik und bildende Kunst mehr der MilieuSchilderung als einem ästhetischen Dialog. Auf Gustavs durchschnittlichen Kunstgeschmack weist die Abbildung eines Ballettmädchens »in einer illustrierten Zeitung« ebenso hin wie sein Blick auf ein »schlechtes Oelbild, die Madonna mit dem Jesuskinde vorstellend, über dem Bette« der Doppelgängerin, neben weiteren Nippes-Dingen.36 Allenfalls das religiöse Bildthema der Muttergottes, nicht dessen ästhetische Gestaltung ist für Gustav bedeutsam. Der maßgebliche intertextuelle Bezug zu Georges Rodenbachs Roman Bruges-la-Morte ist Gustav selbst nicht bewusst, vielmehr handelt es sich um einen narratorial vermittelten Subtext.
3.
Intertextueller Vergleich mit Georges Rodenbach: Bruges-la-Morte
Der Prätext von Schnitzlers Erzählung Die Nächste, der Roman Bruges-laMorte [Das tote Brügge] des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach aus dem Jahre 1892, war seinerzeit auch in Deutschland weithin bekannt.37 Le 36
37
Die Nächste [III] (FF C XVIII, 2, Bl. 215f. – Cambridge Schnitzler A 165, 5, Bl. 47f). Dazu gehören »ein Rauchzeug aus Neusilber […], das einen alten Mann mit einem Schubkarren vorstellte« (Bl. 48), ein »grosser japanischer Fächer mit Photographien« (Bl. 49) und eine venezianische »Filigrandose« (ebd.). Der Erstdruck des Romans, der den Ruhm der stillen Stadt Brügge als Venedig des Nordens entscheidend förderte (vgl. Hans Hinterhäuser, Fin de Siècle. Gestalten und Mythen, München 1977, bes. S. 45–76), erfolgte in Fortsetzungen in Le Figaro. In der ersten Buchveröffentlichung (Paris 1892) illustrieren 35 Heliogravüren, die Ansichten von Brügge zeigen, die melancholische Stimmung des Romans. Die schöne weibliche Wasserleiche vor einem Brügger Kanal, die das von Fernand Khnopff gestaltete Titelblatt ziert, spielt auf die Ophelia-Visionen im Text an. – Rodenbachs Roman war in Deutschland und Österreich um 1900, jedenfalls in der literarischen Welt, weithin bekannt. Einige Belege dafür gibt Manfred Gsteiger, Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869–1914), Bern und München 1971, S. 117f. Da es bisher aber keine Studie zur RodenbachRezeption in Deutschland gibt (auch ist die Bibliographie der noch immer maßgeblichen Monographie von Pierre Maes, Georges Rodenbach (1855–1898), Paris 1926, hinsichtlich der deutschen Rezeption ergänzungsbedürftig), seien zusätzlich einige Daten angeführt. Friedrich v. Oppeln-Bronikowski hatte 1903 (Berlin; Druck bereits 1902) eine »autorisierte Übersetzung« mit dem Titel Das tote Brügge veröffentlicht, von der bis 1918 insgesamt sechs Ausgaben bzw. Auflagen erschienen; vgl. Hans Fromm, Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700–1948, Bd. 5, Baden-Baden 1952, s. v. »Rodenbach, Georges«. – Rodenbachs Brügge-Roman war im ersten Viertel des Jahrhunderts in Deutschland allgemein
Intertextueller Vergleich mit Georges Rodenbach: Bruges-la-Morte
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Mirage, eine dramatisierte Fassung von Bruges-la-Morte, die sich im Nachlass des 1898 verstorbenen Dichters fand, wurde sogar am Deutschen Theater in Berlin am 12. September 1903 unter dem Titel Das Trugbild in der Übersetzung von Siegfried Trebitsch uraufgeführt.38 Die Aufführung fiel allerdings durch und kühlte die deutsche Rodenbach-Verehrung ab.39 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie des Schicksals, dass der Misserfolg von Rodenbachs Drama ausgerechnet Arthur Schnitzler in Mitleidenschaft zog. Denn dessen Einakter Der Puppenspieler aus dem Marionetten-Zyklus war mit dem Trugbild zusammen in einer Doppelinszenierung aufgeführt worden. Den Puppenspieler als »lever de rideau« zu Rodenbachs Le Mirage zu geben, hatte Otto Brahm Schnitzler brieflich am 26. Juli 1903 vorgeschlagen.40 Nach dem Misserfolg verlieh Schnitzler in einem Brief an Otto Brahm vom 17. September 1903 seinem Ärger über das unglückliche Bündnis mit Rodenbach Ausdruck: »[…] und ich bedauere es nur einigermaßen, daß ich durch den bösen [Rodenbach?] in einen tieferen Abgrund gerissen worden
38
39
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bekannt. So gilt ihm der Titelessay von Arthur Roessler, Vom Dichter der toten Stadt und andere Essays, Leipzig 1906, S. 1–8, und Alfred Döblin lässt in einer frühen Erzählung den Protagonisten »gebeugt durch das tote Brügge« schleichen (»Die Segelfahrt«, in: Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen, Berlin 21913, S. 1–19, hier S. 4). Schließlich beruht auch die Oper Die tote Stadt (1920) von Erich Wolfgang Korngold, Libretto von Paul Schott [d.i. Julius Korngold], auf Rodenbachs Brügge-Roman und -Drama; vgl. Francis Claudon, »Die tote Stadt: Quelques questions comparatistes à propos d’un opéra«, Revue de Littérature comparée, 61/1987, S. 377–387. Erstdruck unter dem Titel: Georges Rodenbach, Die stille Stadt, Wien 1902; erst in 2. Aufl. (München 1913) wurde der Titel in »Das Trugbild« geändert. Hatte etwa Rainer Maria Rilke noch am 11. April 1900 »Georges Rodenbachs Drama ›Le Mirage‹ gelesen mit tiefer Bewegung, wie in atemlosem Lauschen« (vgl. Ingeborg Schnack, Rilke-Chronik, Bd. 1, [Frankfurt/M.] 1975, S. 99), so dämpfte die Inszenierung die deutsche Rodenbach-Begeisterung empfindlich. Beließ es der Premierenbesucher Gerhart Hauptmann, Tagebücher 1897–1905, Martin Machatzke (Hrsg.), Frankfurt/M. und Berlin 1987, S. 375, bei einem kommentarlosen Vermerk (»Die tote Stadt. Rodenbach«), so machte Julius Hart in Der Tag vom 16. September 1903 aus seiner Ablehnung keinen Hehl und kritisierte die »barbarische Geschmacklosigkeit« Rodenbachs als »Verfall der ästhetischen Kultur« (zit. nach ebd., S. 625). Vgl. Oskar Seidlin (Hrsg.), Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm, Tübingen 1975 (Deutsche Texte, 35), S. 143f., hier S. 143. Immerhin würdigte Felix Poppenberg, »Puppen- und Menschenspieler« (Sudermann: Der Sturmgeselle Sokrates – Rodenbach: Trugbild – Schnitzler: Die Puppenspieler), in: Der Türmer, 6/1903/04, S. 188–193, Schnitzlers »kleine Menschendichtung« als einen »ausgezeichnete[n] positive[n] Gegensatz zu diesen Puppenspielen [von Sudermann wie Rodenbach], die Menschendichtungen sein wollen« (ebd., S. 192).
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Die Nächste – ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus
bin, als ich verdient habe«.41 Als Brahm am 22. Oktober 1908 Schnitzler erneut eine Doppelinszenierung vorschlug (Schnitzlers Komtesse Mizzi und Otto Hinnerks Närrische Welt), nahm er ironisch auf den Misserfolg Bezug, den Schnitzler im Windschatten Rodenbachs erlitten hatte: »Den Hinnerk [scil. dessen Lustspiel Die Närrische Welt] schicke ich Ihnen, Sie werden sich überzeugen, daß er nichts Rodenbachisches hat; und ich hoffe mich zu überzeugen, daß er kein ›Trugbild‹ ist«.42 Schnitzler, der sich ästhetisch vorrangig an der französischen Literatur orientierte, hat Rodenbachs Roman vermutlich im Original gelesen.43 Vielleicht gab der Tod des an Weihnachten 1898 nur vierunddreißigjährig verstorbenen belgischen Dichters den Anlass zu Schnitzlers intertextuellem
41 42 43
Ebd., S. 148f., hier S. 149. Ebd., S. 245. Einen positiven Nachweis für Schnitzlers Lektüre von Rodenbachs Roman Bruges-la-Morte konnte ich allerdings weder in den Tagebüchern noch in der Korrespondenz oder in der Leseliste finden. Da diese Liste jedoch, wie Schnitzler selbst ausdrücklich bemerkt, keineswegs sämtliche Lektüren verzeichnet, widerspricht die Fehlanzeige dem Quellenfund nicht. Immerhin notiert Schnitzler im Jahre 1903 die misslungene Doppelinszenierung: »[…] durch Rodenbach – Trebitsch ›Todte Stadt‹ ziemlich mitgerissen« (Tgb 14. 09. 1903). Wann Schnitzler Rodenbachs Erfolgsroman kennenlernte, ist freilich nicht zu entscheiden. Ihm wird aber Bertha Zuckerkandls Besprechung von Rodenbachs anderem Brügge-Roman, Le Carillonneur, die am 11. Dezember 1897 in der Wiener Zeit, S. 171, erschien, ebenso wenig entgangen sein wie der Tod Rodenbachs an Weihnachten 1898. – Überdies war die Lektüre französischsprachiger Literatur im Bildungsbürgertum des Wiener Fin-de-siècle verbreitet; vgl. dazu neuerdings Stefanie Arend, Innere Form. Wiener Moderne im Dialog mit Frankreich, Heidelberg 2010. Sogar die öffentlichen Ausleihbibliotheken besaßen Werke im französischen Original; vgl. Alberto Martino, »Lektüre in Wien um die Jahrhundertwende (1889–1914)«, in: Reinhard Wittmann/Bertold Hack (Hrsg.), Buchhandel und Literatur. FS H. G. Göpfert, Wiesbaden 1982 (Beitr. zum Buch und Bibliothekswesen, 20), S. 314–394. Der Einfluss der französischen Literatur auf die Wiener Moderne ist kaum zu überschätzen, wie folgende autorenspezifische Studien exemplarisch bezeugen: Hilde Vaniczek, Einfluß der französischen Lyrik auf Anton Wildgans, Stefan Zweig und Felix Dörmann, Phil. Diss., Wien 1949, Friedrich-Wilhelm Hellmann, Hofmannsthal und Frankreich, Phil. Diss., Freiburg/Br. 1959, Bernhard Böschenstein, »Hofmannsthal, George und die französischen Symbolisten«, in: Arcadia, 10/1975, S. 158–170, Steven Sondrup, Hofmannsthal and the French Symbolist tradition, Bern und Frankfurt/M. 1976, Gert Mattenklott, »Hofmannsthals Lektüre französischer Realisten: Stendhal, Balzac, Flaubert«, in: Hofmannsthal-Blätter, 34/1986, S. 58–73, Rolf E. Windhorst, »Richard von Schaukals Begegnung mit der französischen Literatur«, in: Sprachkunst, 5/1974, S. 244–267.
Intertextueller Vergleich mit Georges Rodenbach: Bruges-la-Morte
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Dialog.44 Den engen Zusammenhang beider Texte mag ein inhaltlicher Vergleich zwischen Rodenbachs Bruges-la-Morte und Schnitzlers Die Nächste verdeutlichen. Rodenbachs Romanheld ist ein verwitweter Rentier namens Hugues Viane. Seit dem Tod seiner Frau, mit der er zehn Jahre lang glücklich verheiratet war, lebt er in Brügge. Die religiöse und traurige Atmosphäre dieser stillen Stadt liefert ihm den passenden Rahmen für sein Andenken an die Verstorbene, das er zum Kult steigert. Erinnerungsstücke der Toten, darunter eine Haarflechte, verehrt er wie Reliquien in einem Gedächtnisraum. Nach fünfjährigem Witwerstand begegnet Hugues an einem Herbsttag der jungen Schauspielerin Jane Scott, die in Aussehen und Stimme der Toten zum Verwechseln ähnelt. Daher empfindet Hugues die Liebe zu dem Ebenbild seiner Gattin als gesteigerte Verehrung. Und die von ihm ausgehaltene Doppelgängerin richtet sich zunächst fraglos auch in Kleidung und Frisur nach Hugues’ Wünschen, so dass sie, ohne selbst diesen Zusammenhang zu ahnen, der Toten immer ähnlicher wird. Doch mit dem Frühling kommt eine Veränderung in dieses lebende Bild. Hugues’ Versuch, die beiden Frauen zu verschmelzen, schlägt in die Erkenntnis ihrer Verschiedenheit um. Die immer deutlicher werdende Vulgarität des Ebenbildes, auf die Hugues mit Ekel und Scham reagiert, kulminiert in einem dramatischen Schlusspunkt: Als Jane angesichts der Heiligblutprozession die Tote und Hugues’ Totenkult verspottet, wird sie von Hugues mit dem Haar der Toten erdrosselt. Protagonist von Schnitzlers Erzählung Die Nächste ist ein verwitweter Wiener Büroangestellter namens Gustav. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau Therese, mit der er sieben Jahre lang glücklich verheiratet war, verlebt er einen einsamen Winter. Mit dem Frühling erwacht in dem Witwer die Sehnsucht nach dem Leben, sie wird jedoch immer wieder von Erinnerungen an die Tote durchkreuzt. An einem Frühsommertag erblickt Gustav eine Frau, die seiner verstorbenen Gattin ähnlich sieht und wie sie Therese heißt.45 Am nächsten Tag verabredet er sich mit der Doppelgängerin in ihrer Wohnung, und dort kommt es alsbald zu einer ersten Liebesbegegnung. Danach von Ekel und Scham der Toten gegenüber erfüllt, ersticht Gustav die »zweite« Therese mit einer Hutnadel.
44
45
Der Tod Rodenbachs wurde auch in deutschen Zeitungen und Zeitschriften gewürdigt; vgl. etwa Victor Klarwill, »Georges Rodenbach«, in: Die Wage, 2/1899, Nr. 37. Schumacher, Femme fantôme, S. 67, vermutet, dass die »Nächste« als Dirne nur Gustav zuliebe auf den Namen Therese hört.
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Unverkennbar ist die Übereinstimmung der Handlungsmuster.46 Dass die Ähnlichkeit über strukturelle und situative Parallelen hinaus bis ins motivische Detail reicht, erweist der Schluss der beiden Erzählungen. Hugues reagiert auf seine eigene Tat, die Ermordung der Doppelgängerin, zunächst mit Unverständnis: »Quant à Hugues, il regardait sans comprendre, sans plus savoir …«.47 Da sich die Vulgarität im Tod verliert, gewinnt Hugues bei Betrachtung ihres Leichnams das reine Bild der verstorbenen Gattin zurück. Solchermaßen beruhigt, setzt er sich in einen Sessel: »Très tranquille, il avait été s’asseoir dans un fauteuil. Les fenêtres étaient restées ouvertes …«.48 Auch Schnitzlers Gustav verhält sich nach dem Mord zunächst verständnislos. Sein Nicht-Begreifen der eigenen Tat ist mit ganz ähnlichen Verben beschrieben wie bei Rodenbach: »Er [Gustav] verstand eigentlich gar nicht, was geschehen war. Plötzlich aber wußte er es« (EI, 336). Nachdem Gustav sich selbst vom offenen Fenster aus des Mordes bezichtigt hat, gewinnt auch er seine Ruhe wieder. Diese Textstelle liest sich wie eine Übersetzung Rodenbachs: »dann entfernte er sich vom Fenster, setzte sich ruhig auf den Sessel und wartete«.49 Erst danach kommt Gustav die tote Gattin ins Gedächtnis. Die Gegenüberstellung der Schlusspassagen bezeugt, in welch starkem Maß sich Schnitzler an Rodenbach orientiert hat, sie lässt aber auch Abweichungen in Anordnung, Einbettung und Deutung prätextueller Elemente erkennen. 46
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Für das Motiv, dass ein Mann zwischen einer toten und einer lebenden Geliebten steht, welche zudem in doppelgängerischer Weise aufeinander bezogen sind, lassen sich weitere literarische Beispiele finden: man denke nur an Edgar Allan Poes Erzählungen Ligeia und Morella, oder – wie Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur, Stuttgart 1976, S. 511f. – an Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1892). Vgl. auch die Studie von Schumacher, Femme fantôme. Tatsächlich hängt die Beliebtheit dieser dämonischen Doppelgängervariante wohl mit dem ästhetischen Reiz zusammen, den die Spätromantik an der Vermischung von Liebe und Tod schätzte; vgl. dazu Mario Praz, La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica, Florenz 31948. Doch unterscheidet sich allein die Grundstruktur der Handlung bei Rodenbach und Schnitzler (ein Witwer macht eine Doppelgängerin der toten Gattin zu seiner Geliebten, bringt sie aber um, als ihre Vulgarität das Andenken der Toten beschmutzt) grundlegend von den vampirischen Versionen Poes. – In späteren Aktualisierungen gerät das Motiv deutlich unter den Einfluss von Freuds Psychoanalyse; vgl. etwa die Erzählung von Edith Wharton, Pomegranate Seed [1931], und die Interpretation von Bettina Friedl, »Edith Wharton: ›Pomegranate Seed‹ – The Verge of Being«, in: Die englische und amerikanische Kurzgeschichte, Darmstadt 1990, S. 120–133. Georges Rodenbach, Bruges-la-Morte. Roman, Christian Berg (Hrsg.), Brüssel 1986, S. 105. Ebd. Ebd.
Intertextueller Vergleich mit Georges Rodenbach: Bruges-la-Morte
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Ein Vergleich der Erzählanfänge von Rodenbachs Bruges-la-Morte und Schnitzlers Die Nächste fördert ähnliche Bezüge zutage, die in ihrer Mischung von Übernahme, Referenz und Abweichung Schnitzlers produktive Verarbeitung von Rodenbachs Roman erweisen. Die Skizze eines Tages, wie er repräsentativ für das Witwerdasein ist, eröffnet beide Texte. Die Anfangspassagen decken sich nicht nur in der iterativ-durativen Erzählweise, sondern auch in der gehaltlichen Funktion: Wohnung und Intérieur vermitteln räumlich die Isolation des Witwers von der Außenwelt. Bis in thematische und motivische Entsprechungen – wie das nachmittägliche Lesen bei offenem Fenster, das Hinausschauen aus dem Fenster – ahmt Schnitzler Rodenbach nach. Doch während die luxuriöse Abgeschiedenheit des Rentiers Hugues mit der stillen Tristesse des toten Brügge korrespondiert, irritieren die Verlockungen des Wiener Lebens – Straßenlärm und Blütenduft – das Witwerdasein des Büroangestellten Gustav in seiner kleinen Dachwohnung. Gerade die Konsistenz der Abweichungen weist auf Schnitzlers produktionsästhetisches Kalkül hin. Symptomatisch dafür ist die Umkehrung bestimmter prätextueller Elemente. Beispiel einer solchen Zitatinversion ist das Element der Stimme. Bei Rodenbach trägt insbesondere die Stimme zur Ähnlichkeit der Doppelgängerin mit der Toten bei. Schnitzler hat dagegen die Ähnlichkeitsrelation zwischen der Toten und der Nächsten systematisch abgeschwächt. Aus dem Erkennungszeichen der Stimme ist ein Unterscheidungsmerkmal geworden. Eine kryptische, aber gehaltlich bedeutsame Bezugnahme Schnitzlers auf Das tote Brügge findet sich im Traum von der toten Gattin, den Gustav nach seiner ersten Begegnung mit der Doppelgängerin hat. Träumend verliert Gustav die Tote aus dem Blick, bevor er sie wiedersieht: Plötzlich war sie fort, und er sah sie am Ende der Wiese längs des Waldrandes hinlaufen, die Arme in die Luft gestreckt, so wie er in einer illustrierten Zeitung tags vorher ein Ballettmädchen gesehen, das sich vor den Flammen retten wollte (EI, 329).
Sowohl der unvermutete Verlust der Toten als auch deren Wiederkehr ist durch Rodenbachs Roman motiviert. Gustavs Traum, seine Frau sei verschwunden, bis sie in der Ferne als »Ballettmädchen« wiederaufersteht, gibt in komprimierter Form die Romanpassage wieder, in der Hugues Viane auf Jane Scott stößt. Gustavs Traum bezeugt, wie sehr der Wunsch nach einer Wiederkehr der Toten der Angst entspringt, sie endgültig zu verlieren. Auch in Rodenbachs Roman entdeckt Hugues Viane die Doppelgängerin an ebendem Abend, an dem es ihm nicht mehr gelingt, sich die Züge der Toten zu vergegenwärtigen:
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Die Nächste – ›Verwienerung‹ des europäischen Symbolismus Il cherchait en lui le souvenir de la morte […]. Mais la figure des morts, que la mémoire nous conserve un temps, s’y altère peu à peu, y dépérit, comme d’un pastel sans verre dont la poussière s’évapore. Et, dans nous, nos morts meurent une seconde fois!50
Auch die Gestalt des Ballettmädchens, in der Gustav seine Frau wiedererkennt, geht auf Rodenbachs Roman zurück. Dort folgt der Protagonist Hugues der Doppelgängerin ins Theater, wo Meyerbeers Oper Robert le Diable aufgeführt wird. Als Hugues die Doppelgängerin schon verloren zu haben meint, sieht er sie schließlich auf der Opernbühne in dem Auferweckungsrezitativ: Mais tout à coup, au récitatif d’évocation, quand les ballerines, figurant des Sœurs du cloître réveillées de la mort, processionnent en longue file, quand Helena s’anime sur son tombeau et, rejetant linceul et froc, ressuscite, Hugues éprouva une commotion […]. Qui! c’était elle! Elle était danseuse! Mais il n’y songea même pas une minute. C’était vraiment la morte descendue de la pierre de son sépulcre, c’était sa morte qui maintenant souriait là-bas, s’avançait, tendait les bras.51
Dieses Opernerlebnis zitiert Schnitzler in der Zeitungsillustration, an die Gustav sich träumend erinnert. Gustavs Traumbild wiederholt, freilich in trivialisierter Abbreviatur, thematisch (»Ballettmädchen«) und gestisch (»ausgestreckte Arme«) die Opernszene.52 Schnitzlers Vergleich der Toten mit einem Ballettmädchen bliebe für sich genommen ein vordergründiges, erotisch besetztes Erinnerungsfragment; seine zentrale Bedeutung ergibt sich erst aus der Korrelation mit Hugues’ Opernerlebnis in Rodenbachs Roman. Dementsprechend bringen der geträumte Verlust der Toten und ihr Gestaltwandel Gustavs Entschluss zum Ausdruck, Therese in einer Doppelgängerin wiederaufleben zu lassen. Der intertextuelle Zusammenhang ist insofern sogar dreischichtig, als die Textstelle bei Rodenbach, auf die Schnitzler Bezug nimmt, ihrerseits auf eine musikalisch-literarische Vorlage rekurriert: Meyerbeers Oper Robert le Diable (1831). Die dämonische Auferweckungsszene im dritten Akt bestärkt Hu-
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Rodenbach, Bruges-la-Morte, S. 28. Ebd., S. 37. Schnitzlers Bezugnahme auf die Theater-Episode in Rodenbachs Roman ist in dem Typoskript III noch deutlicher, da hier das Ballettmädchen noch ausdrücklich einem ›Theater‹ zugeordnet ist: »Plötzlich war Therese fort, und er sah sie am Ende der Wiese, den Waldrand entlang hinlaufen, die Arme in die Luft gestreckt, geradeso wie er tagsvorher in einer illustrierten Zeitung ein Ballettmädchen gesehen, das sich aus einem brennenden Theater retten wollte« (FF C XVIII, 2, Bl. 199 – Cambridge Schnitzler A 165, Bl. 31).
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gues in seinem Entschluss, die Liebe zu der toten Gattin auf die Doppelgängerin zu übertragen. In seinen intertextuellen Rekurs auf Rodenbach bezieht Schnitzler thematisch auch Meyerbeers Oper ein, indem er die Sünde, die der Opernheld Robert infolge der frevelhaften Auferweckung auf sich lädt, auf seinen Protagonisten überschreibt.53 Denn Gustav stürzt das Verlangen nach einer lebendigen Doppelgängerin der Toten in einen schweren Gewissenskonflikt. So arbeitet er nach seinem Entschlusstraum »im Büro so fleißig, als gelte es, durch redliches Betragen eine Sünde wieder gutzumachen« (EI, 329). In Rodenbachs Brügge-Roman bereiten die leitmotivischen ›Spiegelungen‹ und ›Ähnlichkeiten‹ die Begegnung mit der Doppelgängerin vor.54 Dieses Spiegel-Motiv greift Schnitzler an markanter Stelle auf, fundiert es aber psychologisch, indem er Gustavs Verlassenheitsangst mit der Nacht korreliert.55 So bilden Gustavs misslingende Heautoskopie und die anschließende Dopplung des Leuchters vor dem Spiegel, die ihn beruhigt einschlafen lässt, einen Wendepunkt im Geschehen, der die Doppelgängerin antizipiert und motiviert: Da erblickte er sich im Spiegel und erkannte sich nicht. Er trat näher hin – so nah, daß sein Hauch den Spiegel trübte. In der einen Hand hielt er den Leuchter mit der Kerze, er stellte ihn auf die Kommode, über der der Spiegel hing, dann wich er zurück, setzte sich aufs Bett und entkleidete sich rasch mit dem Gefühl, daß er sich ins Bett flüchten müßte. Als er ausgestreckt dalag, zog er die Decke übers Gesicht. […] Langsam entfernte er die Decke von den Augen, da stand das Licht, und im Spiegel sah er es noch einmal. Er starrte hin und war nach wenigen Sekunden eingeschlafen (EI, 324f.).
Schnitzlers gehaltliche Änderungen zielen insgesamt darauf, die symbolische Vorlage nach Maßgabe einer psychologischen Experimentalsituation umzu-
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Obwohl der Name des Komponisten Giacomo Meyerbeer erstmals im Jahre 1903 in Schnitzlers Tagebuch vorkommt, ist es sehr wahrscheinlich, dass Schnitzler dessen Opern kannte. Denn Meyerbeer war nicht zuletzt deshalb im Kreis der »Jung-Wiener« bekannt, weil Leopold v. Andrian sein Enkel war. So bemerkt Schnitzler über »Poldi« Andrian: »er wird immer feudaler, wie es sich für Meyerbeers Enkel ziemt« (Tgb 26. 03. 1912). Der Begriff ›ressemblance‹ kommt 27 Mal, der Begriff ›miroir‹ 11 Mal bei Rodenbach vor, die jeweiligen Verbformen und Synonyma nicht mitgerechnet. Diesen Zusammenhang bezeugt der figural motivierte Vergleich des Winters mit der Nacht im Anschluss an die Analepse von Thereses Tod zur Nachtzeit: »Gustav saß an Theresens Bett und sah sie sterben. Es war um die Stunde, da die Nacht hereinbrach. Dann war der fürchterliche Winter gekommen, der ihm jetzt beim Wehen der ersten Frühlingswinde erschien wie eine lange schwere, dumpfe Nacht« (EI, 321).
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gestalten.56 Die Dialogizität der Nächsten lässt sich mit Hilfe von Hermann Bahrs drei Axiomen der neuen Psychologie erklären: Determinismus, Dialektik und Dekomposition.57 Rückbindung an ein soziales Milieu (der Determinismus) und Interdependenz der Gefühle (die Dialektik) sollen als Rahmenbedingungen die Dekomposition, nämlich die Analyse von Sensationen und Empfindungen im vorbewussten Stadium, experimentell absichern. Dem Determinismus, das heißt der Berücksichtigung sozialer Gegebenheiten, entspricht Schnitzler durch zwei Änderungen des Prätexts. Erstens durch Trivialisierung des Milieus: Das Großstadtleben Wiens ersetzt die erlesene Melancholie Brügges. Zweitens durch eine soziale Absenkung des Personals: Rodenbachs kosmopolitischen Rentier ersetzt ein kleiner Beamter, und die Doppelgängerin ist keine halbseidene Schauspielerin, sondern nur eine arme Gelegenheitsdirne, die Wiener Mundart spricht. Der Dialektik der neuen Psychologie, nämlich der wechselseitigen Abhängigkeit von Empfindungen, kommen im Posttext drei Änderungen zugute: Erstens reduziert Schnitzler das äußere Dekor zugunsten der Innenwelt seines Protagonisten. Zweitens verdichtet und sexualisiert Schnitzler die Handlung: 56
57
Schnitzler erprobt die Methode der Psychologisierung an Motiven des Prätextes. Charakteristisches Beispiel dafür ist die Muttergottes über dem Bett, das Gustav mit der Doppelgängerin teilt. Wenn Rodenbach Madonnenbildnisse zum Vergleich heranzieht (»Les Vierges des Primitifs ont des toisons pareilles«), so dient dies der künstlerischen Stilisierung der Geliebten. Bei Schnitzler besitzt das Madonnenbild keinen ästhetischen Wert (»Er sah ein schlechtes Ölbild, die Madonna mit dem Jesukind vorstellend, das über dem Bette hing«, EI, 334), damit es ausschließlich als Sinnbild unbefleckter Empfängnis und reiner Mutterliebe fungieren kann (EI, 335). In dieser Konfiguration entsexualisiert Gustav sein Verhältnis zur Toten, das, solchermaßen überhöht, den Beischlaf mit der Nächsten kontrastiv als Sündenfall erscheinen lässt. Hermann Bahr, der Wortführer der »Jung-Wiener«, hatte 1890 in der Modernen Dichtung die neue Psychologie zum literarischen Programm erklärt. Unter diesem Schlagwort postulierte er, orientiert an der französischen Naturalismus-Kritik, neue Themen und neue Methoden in der Erzählkunst, welche der Subjektivität der Wahrnehmung und ihrer zeitgemäßen Analyse gerecht werden sollten. Vgl. Hermann Bahr, »Die neue Psychologie«, in: Zur Überwindung des Naturalismus, Gotthard Wunberg (Hrsg.), Stuttgart (u. a.) 1968 (Sprache und Literatur, 46), S. 53–64. Die epochale Bedeutung, die in erzähltheoretischer Hinsicht Bahrs Die neue Psychologie für die Wiener Moderne zukommt, ist mittlerweile anerkannt; vgl. dazu Hartmut Scheible, Literarischer Jugendstil in Wien, München und Zürich 1984, S. 93f., Jens Rieckmann, »Hermann Bahr: Sprachskepsis und neue Erzählformen«, in: Orbis Litterarum, 40/1985, S. 78–87, Horst Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993 (Hermaea, 70), Iris Paetzke, Erzählen in der Wiener Moderne, Tübingen 1992, bes. S. 13–26, sowie Verf., s. Anm. 2.
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Während Hugues erst nach fünfjährigem Witwerdasein der Doppelgängerin begegnet, findet Gustav nach nur fünf Monaten die Nächste; der Zeitraum zwischen Entdeckung und Ermordung der Doppelgängerin, der bei Rodenbach sechs Monate beträgt, ist bei Schnitzler auf drei Tage verkürzt. Mit der Komprimierung des äußeren Geschehens geht eine Konzentration auf Gustavs Triebleben einher: Im Mittelpunkt stehen seine abrupten Stimmungswechsel, insbesondere der Umschlag von Lust in Scham. Drittens fundiert Schnitzler die Erzählung biographisch: Ohne Pendant bei Rodenbach ist die voreheliche Lebensgeschichte des Witwers, mit der Schnitzler der Wechselbeziehung zwischen Wahrnehmung und Erinnerung Rechnung trägt. Auch das wichtigste Postulat der neuen Psychologie, die Dekomposition, also die Analyse der Empfindungen im vorbewussten Stadium, suchte Schnitzler in der Nächsten zu verwirklichen: Durch Einfügung von Träumen, Tagträumen, unreflektierten Empfindungen und Triebregungen kommt die Sphäre des Vorbewussten viel stärker zur Sprache als bei Rodenbach. Statt in elegischen Gefühlen zu schwelgen, belässt es Schnitzler meist dabei, Gustavs psycho-physische Empfindungen kommentarlos zu registrieren. Diese analytische Darbietung intensiviert und kompliziert den Triebkonflikt Gustavs.
4.
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Inhaltlich entspricht somit Schnitzlers Bearbeitung des symbolistischen Prätexts dem Programm der neuen Psychologie. Auch formal lässt sie sich als ein Versuch werten, das erzähltechnische Dilemma der neuen Psychologie zu lösen, indem die »Dazwischenkunft des Erzählers« zugunsten der Figurenperspektive abgeschwächt wird. Die Nächste ist wie Das tote Brügge eine Er-Erzählung. Durch die personalisierte Darbietung unterscheidet sie sich aber grundlegend von Rodenbachs Roman. Zwar enthält auch Das tote Brügge lange Passagen in Erlebter Rede; doch diese sind durch Rhetorisierung und Rhythmisierung zum Unpersönlichen hin stilisiert und deutlich abgesetzt vom Erzählertext, der das Geschehen aus auktorialer Distanz kommentiert. Im Gegensatz dazu ist für Schnitzlers Erzählung die Interferenz von Personentext und Erzählertext charakteristisch.58 So finden sich im Erzählerbericht Worte, die nicht »dem Erzählertext angehören, sondern dem Bewußtseinshorizont 58
Die Terminologie verdanke ich Wolf Schmid, Der Textaufbau in den Erzählungen Dostojevskijs, München 1973, und weitergeführt in Ders., Elemente der Narratologie, Berlin und New York 2005, der die Interferenz von Erzählertext und Personentext systematisch analysiert.
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und Sprachrepertoire der dargestellten Person entstammen«.59 Häufig signalisieren Bewertungen oder lexikalische Merkmale den Personentext im Erzählerbericht. So entspringt die emphatische Wendung im Anfangssatz »Der fürchterliche Winter war vorbei« (EI, 319), die die Vorgeschichte zyklisch rahmt,60 dem Standpunkt Gustavs. Und in der hyperbolischen Charakterisierung von Theresens Todestag durch das Adjektiv »endlos« kommt Gustavs Ungeduld zum Ausdruck: »Diese Nacht verging, dann kam noch ein endloser Tag, an dem es regnete« (EI, 321). Überwiegend sind es freilich deiktische Merkmale, die den Personentext in den Erzählerbericht einspiegeln. Demonstrativpronomina – »in diesen letzten Märztagen« (EI, 319) – oder Temporaladverbien – »heute […] fühlte er zum ersten Mal wieder« (EI, 323), »jetzt besann er sich« (EI, 326) – präsentieren die Handlungsgegenwart Gustavs. Die Einschaltung von Personentext in den Erzählertext verstärkt sich im Verlauf der Erzählung deutlich. Diese zunehmende Personalisierung korreliert mit einer Abnahme der Raffungsintensität. Von Gustavs Vorgeschichte über drei Einzelepisoden bis zu der dreitägigen Zeitkette zwischen Entdeckung und Ermordung der Doppelgängerin verlangsamt sich das Erzähltempo sukzessive. Dass die erste Begegnung mit der Doppelgängerin genau die Mitte der Erzählung bildet, unterstreicht ihre Funktion eines Höhe- und Wendepunkts. Damit geht eine Fokussierung auf Gustavs Perspektive einher. So beschränkt sich der Gebrauch der Direkten Rede auf die zweite Hälfte. Auch die Innensicht kommt stärker zur Sprache. Die anfangs dominierende Form der Indirekten Rede, die Gustavs Gedanken durch einen Einleitungsteil (wie »er glaubte …«, »er fühlte …«, »es schien ihm«) relativiert, tritt zugunsten eines unvermittelten Personentexts zurück, der – mindestens im letzten Drittel der Erzählung – vorherrschend wird. Die subjektive Perspektivierung des Erzählens erreicht in der Doppelgängerin-Episode ihren Höhepunkt. Hier erprobt Schnitzler über ganze Passagen die Tauglichkeit der Erlebten Rede als erzähltechnisches Korrelat einer Analyse der Empfindungen. So decouvriert die Erlebte Rede etwa Gustavs Angst vor dem Ansprechen der Doppelgängerin als getarnte Triebregung:
59 60
Schmid, Der Textaufbau in den Erzählungen Dostojevskijs, S. 60. Folgender Satz vermittelt zwischen der Vorgeschichte und der Handlungsgegenwart: »Dann war der fürchterliche Winter gekommen, der ihm jetzt beim Wehen der ersten Frühlingswinde erschien wie eine lange schwere, dumpfe Nacht« (EI, 321).
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Plötzlich fiel ihm ein: Wenn sie nicht vorüberkommt? Nun, wenn auch nicht, er wusste ja, wo sie wohnte, könnte vor dem Tore warten, in das Haus treten, die Stiege hinaufgehen … nein, das würde er keineswegs; wer weiß, ob sie allein wohnte … Aber keinesfalls kann sie ihm entgehen (EI, 330).
Der Tempuswechsel am Ende des Zitats bezeugt eine große Nähe zum Inneren Monolog. Zudem sorgen Ellipsen, Aposiopesen (graphisch durch Punkte ausgedrückt) und Redeansätze für eine Diskontinuität, wie sie für den Inneren Monolog charakteristisch ist. Durch Ersparung von Verben steigert sich die Erlebte Rede gar zum uneigentlichen Inneren Monolog, wie etwa in Gustavs Reaktion auf das Erwachen der Nächsten kurz vor dem Mord: Jetzt regte sie sich wieder, geradeso wie Therese sich im Schlummer gestreckt und gedehnt. Sie öffnete die Augen … ja, wie sie. Es zuckte um ihre Lippen – ja, ganz so … Ah, und jetzt auch noch das? … Sie öffnete die Arme, als wollte sie ihn an sich ziehen … »Sprich!« rief er (EI, 336).
Erst in den Schlusssätzen der Erzählung tritt die subjektive Perspektive wieder zugunsten des Erzählerberichts zurück. Die Nächste löst somit inhaltlich und insbesondere erzähltechnisch das Programm der neuen Psychologie nicht nur ein, sondern überbietet es.61 Doch die Beschränkung des Erzählers auf die Rolle eines, wie Bahr sagt, »Protokollführers«,62 der nur mehr die Empfindungen des Protagonisten registriert, bringt gravierende rezeptionsästhetische Folgen mit sich. Schnitzlers Nächste stellt viel höhere kognitive Anforderungen an den Leser als Rodenbachs Roman. Während bei Rodenbach die Mordtat eine einfache Erklärung findet, sind es bei Schnitzler gerade die erzähltechnischen Auswirkungen der neuen Psychologie, des personalisierten Erzählens, die es dem Leser erschweren, Gustavs Verhalten zu verstehen. Erklärt in Rodenbachs Roman der Erzählerbericht das Verhalten des Protagonisten aus auktorialer Ferne, so zeichnet sich der Erzählerbericht in der Nächsten durch geringe Erzähldistanz und Zurückhaltung im Kommentieren aus. Der Leser ist allein auf sich selbst gestellt, will er die präsentierten Einzelmomente begrifflich deuten und in eine Kausalität bringen. Dass die rezeptionsästhetische Erschwernis in Schnitzlers Absicht lag, geht auch aus der Entstehungsgeschichte hervor. Denn für die Typoskript61
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Die Nächste soll also nicht als ein »programmatisches Produkt« auf die Umsetzung von Bahrs Anforderungen reduziert werden, wie Schumacher, Femme fantôme, S. 60, kritisiert. Vielmehr eilt Schnitzler mit seiner Erzählung ja, wie hier dargestellt wird, der zeitgenössischen Theoriebildung voraus. Bahr, »Die neue Psychologie«, S. 62.
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Fassungen hat er manche erklärende Passagen, wie sie im ausführlicheren Manuskript durchaus noch häufig vorkommen, gestrichen. Allerdings enthält III noch mehr solche deutende Kommentare als IV, wie etwa die Textpassage zeigt, in der Gustav die Doppelgängerin anspricht: Viele Leute kamen vorüber, auch Frauen und Mädchen; sie hatten nicht mehr Bedeutung für ihn als Bilder, die er zufällig im Durchblättern eines Buchs gefunden hätte, während er ein ganz bestimmtes suchte. zEr wartete auf seine Frau. Anfangs wehrte er sich gegen das, was er selbst wol [ ! ] als Einbildung erkannteu (EI, 330).63
Im Toten Brügge sind die Passagen in Erlebter Rede deutlich vom Erzählerbericht geschieden. In Schnitzlers Erzählung dagegen ist der Erzählerbericht vom Personentext angesteckt. Einer eindeutigen Zuordnung der Erzählanteile wirkt die gute Tarnung der Personenperspektive entgegen. Der Leser ist somit aufgefordert, der objektiven Er-Form zu misstrauen und sie beständig auf ihre Verlässlichkeit hin zu prüfen. Da die Subjektivierung im Verlauf der Erzählung zunimmt, ist der Leser zudem gezwungen, den subjektiven Faktor jeweils neu zu bestimmen, um aus der subjektiven Wahrnehmung des Protagonisten die objektiven Gegebenheiten zu erschließen. Die ungedeutete, pseudoobjektive und perspektivische Darstellung macht Die Nächste hinsichtlich ihrer »Mitteilungskonstruktion« zu einer »analytischen Erzählung«.64 Die Aufgabe des Lesers ist mit der eines Psychoanalytikers nach Freud vergleichbar: Ihm wird eine diagnostische Deutung abverlangt; das Material für eine Ätiologie liefert der Text. Doch im Unterschied zum Psychoanalytiker, der seine Deutungshypothesen im Gespräch erproben kann, ist dem Leser dieses Korrektiv versagt. Da er zur Rückversicherung auf den begrenzten Text angewiesen ist, muss er die Leerstellen im Material eigenständig rekonstruieren. Um das chiffrierte Material der Nächsten in eine psychologische Kausalität zu bringen, kommt den Strukturmerkmalen der sprachlichen Rekurrenz und der Handlungsiteration entscheidende Bedeutung zu.65 Erst die Aufdeckung 63
64 65
Gleichlautend die drei Versionen im Schnitzler-Archiv, Nachlassmappe 168, Bl. 113 (H1), sowie Bl. 33f. [201f.] (III) und Bl. 23 [248] (IV). Nur in Typoskript III findet sich die hier als ›addierter Text‹ ( z u ) wiedergegebene Erklärung. Vgl. Dietrich Weber, Theorie der analytischen Erzählung, München 1975. Vgl. Karl-Heinz Hartmann, Wiederholungen im Erzählen. Zur Literarität narrativer Texte, Stuttgart 1979, der Formen und Funktionen von Wiederholungen in Erzähltexten systematisch ordnet. Gerade aufgrund der analytischen Anlage der Erzählung verdienen sprachliche Rekurrenzen besondere Beachtung. Denn scheinbar disparate Handlungselemente werden durch Zitate aufeinander bezogen. So pa-
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ihrer Querverbindungen lässt den Leser-Analytiker den inneren Konnex der Handlung erschließen. Um exemplarisch zu zeigen, welches ätiologische Deutungspotential solche mehr oder weniger latenten Wiederholungen bergen können, sei nochmals Das tote Brügge zum Vergleich herangezogen. Die unverhüllte Erklärung, die der Prätext für die Mordtat gibt – der Witwer ermordet die Doppelgängerin, als sie das Andenken an die tote Gattin beschmutzt –, eignet sich auf den ersten Blick auch als Deutungsmuster für Schnitzlers Nächste. Erst bei genauerem Hinsehen stößt der Leser auf eine Reihe sich reziprok erhellender Merkmale, die dieser Deutung widersprechen und sie in Frage stellen. Erstens: Anders als bei Rodenbach ist bei Schnitzler die Ähnlichkeit zwischen der toten Gattin und der Doppelgängerin nur schwach. Dies lässt sich den beiden Begegnungen Gustavs mit der zweiten Therese im Stadtpark entnehmen. In ihrem wechselseitigen Bezug entlarven sie die Ähnlichkeitsrelation als Projektion Gustavs. »An der außerordentliche[n] Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau« (EI, 327), die Gustav an der Nächsten bemerkt, kommen zwar schon Zweifel auf, wenn er gleichzeitig fürchtet, »dass sie sich wieder umwenden könnte, denn die Züge selbst hatten keine Spur von Ähnlichkeit« (EI, 327); doch erst die zweite Begegnung macht deutlich, dass die Ebenbildlichkeit der Nächsten nur eine Projektion Gustavs ist: »Die Erwartete […] war an ihm vorbeigeschritten, ohne dass er sie erkannt hatte« (EI, 330). Vor allem ist die Stimme, die bei Rodenbach die Ähnlichkeit der Doppelgängerin vervollkommnet, bei Schnitzler ein entscheidendes Differenzkriterium. Zweitens: Im Unterschied zu Rodenbach macht sich bei Schnitzler nicht die Doppelgängerin, sondern der Witwer selbst vor der Toten schuldig. Bei den wiederholten Ausflügen, die der Witwer unternimmt, tritt ein durchgängiges Verhaltensmuster zutage: Gustav verspürt sexuelle Begierden, versagt sie sich aber. In zwiespältigen Gefühlen, wie »Schrecken und Freude«, welche weibliche Blicke bei ihm auslösen, kommt der Konflikt zwischen erotischem Wunsch und moralischer Zensur zum Ausdruck. In der Reihe der Konfliktsituationen wird das halluzinierte Bild der toten Gattin zunehmend zur wirksamen Gegenbesetzung sexueller Phantasien. Das Gedächtnis an die Tote dient so der Abwehr von Triebregungen. Dass in diesem Abwehrmechanismus Gustavs Schuldgefühle zum Ausdruck kommen und zu einem rallelisiert die Wiederaufnahme der Formulierung »sah sie sterben«, die Gustavs Passivität am Sterbebett seiner Gattin Therese ausdrückt, beim Tod der Nächsten beide Ereignisse: »Gustav saß an Theresens Bett und sah sie sterben« (EI, 321) bzw. »Gustav stand neben ihr, sah sie […] sterben« (EI, 336).
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Strafbedürfnis führen, bezeugen Reaktionen wie: »Es war ihm, als müsste er sich kasteien« (EI, 323), oder der mehrfach geäußerte Wunsch, »in ein Kloster zu treten« (EI, 333f.).66 Drittens: Im Gegensatz zu Rodenbach wiederholt die eheliche Beziehung des Helden bei Schnitzler bereits eine vorgängige Liebeserfahrung. Von entscheidender Bedeutung ist die serielle Einbettung der Ehe Gustavs zum einen durch die nachfolgende Doppelgängerin-Episode und zum andern durch die vorgängige Liebesgeschichte mit einer verheirateten Frau: In seinem dreiundzwanzigsten Jahre verwirrte sich die Ruhe seines Lebens auf kurze Zeit. Eine junge Frau, die er auf einem Vergnügungsabend des Gesangvereins kennengelernt, wurde seine Geliebte. Er durchlebte manche Leiden der Eifersucht und einen heftigen Schmerz, als sie mit ihrem Gatten Wien verließ. Bald aber war er froh, dass jene Zeit der Aufregung vorüber war, und aufatmend kehrte er zu seiner früheren Lebensweise zurück (EI, 320).
Gustavs Gattin stimmt in so vielen Merkmalen mit der ersten Geliebten überein, dass die Ehe als Ersatzbildung der früheren Liebesbeziehung erscheint. Therese ist zwar nicht verheiratet, »aber durch ein ganzes Jahr verlobt gewesen« (EI, 320). Seine Geliebte hatte Gustav im Gesangverein kennengelernt, über Therese erfährt er, »dass sie schöner singe als manche berühmte Sängerin« (EI, 320). Dass die Ehe mit Therese eine camouflierte Wiederholungshandlung ist, bekundet folgende Äußerung, die sich durch Deixis und Werturteil als persönliches Bekenntnis Gustavs zu erkennen gibt: Es wurde ein Ehrgeiz für Gustav, die Lippen dieses jungen Mädchens wieder lächeln zu machen, und er dachte jetzt gern an jenes Abenteuer aus seiner ersten Jugend, um in dieser Erinnerung zu fühlen, dass er doch auch die Fähigkeit besäße, edlen Frauen etwas zu bedeuten (EI, 320).67
Dass auch in der Doppelgängerin-Episode die voreheliche Liebesbeziehung wiederholt wird, geht aus einer Assoziation Gustavs hervor, als er die Doppelgängerin aufsucht: Er trat durch das Haustor, schritt die Stiege hinauf. Währenddem erinnerte er sich jenes Abenteuers aus der Jugendzeit. Auch damals pflegte er um diese Stunde zu seiner Geliebten zu gehen (EI, 334).
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Die Option eines asketischen Lebens, die in III noch stärker ausgeführt ist, ist auch eine ironische Hommage an Rodenbachs Prätext, der die fromme und entsagungsvolle Atmosphäre des katholischen Brügge feiert. Anders als das Manuskript (H1, Bl. [22]) und das Typoskript IV (Bl. 4) verdeutlicht III (Bl. 6) diesen Rückbezug sprachlich insofern, als es statt des Positivs ›edlen‹ den Komparativ ›edleren‹ gebraucht: »[…], dass er auch edleren weiblichen Wesen gefallen könnte«.
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Schnitzler geht in der Vorgeschichte Gustavs sogar noch weiter zurück. Denn vage deutet er an, dass die Episode mit der ersten Geliebten ihrerseits eine Bezugsfolie in Gustavs frühkindlichem Verlust der geliebten Mutter hat. Auf das Wiederholungsmoment in Gustavs Liebesbeziehungen verweist bündig der Titel der Erzählung: Die Nächste. Es handelt sich bei der Nächsten also nicht um eine einfache Spiegelung von Gattin und Doppelgängerin, sondern um eine ganze Reihe ähnlicher Liebesbeziehungen. Sie alle haben die Struktur eines Dreiecksverhältnisses, das für Gustav jeweils mit dem Verlust des Liebesobjekts endet. Somit ist auch Gustav jeweils der ›Nächste‹ in seinen Liebesbeziehungen,68 auch wenn er das Wiederholungsmoment bei seiner toten Frau verdrängt und sie im Kontrast zur Doppelgängerin idealisiert: »Wo war er da hingeraten! Er, der noch vor wenigen Monaten der Gatte einer tugendhaften Frau gewesen war, die ihm allein gehört und keinem vor ihm …« (EI, 334). Als die Doppelgängerin aber in der körperlichen Intimität der Toten immer ähnlicher wird, fordert Gustav sie wegen ihrer unterschiedlichen Stimme auf zu sprechen (»›Sprich!‹ rief er. Er wollte die Stimme hören. Das hätte ihm die entweichende Besinnung wiedergegeben. Aber sie sprach nicht. ›Sprich!‹ rief er noch einmal […]« [336]), um so – freilich vergeblich – die Differenz zur idealisierten Toten wiederherzustellen. Da Gustav selbst nachträglich seine Rolle als Ehemann zu der eines unschuldigen Kindes stilisiert hat, bringt die sexuelle Beziehung mit der Doppelgängerin auch sein Selbstbild ins Wanken und erfüllt ihn mit Scham.69 Das Ölbild der Muttergottes, das über dem Bett der Doppelgängerin hängt, repräsentiert somit Anfang wie Gegenbild zu der Reihe repetitiver Liebesbeziehungen, die von der zweiten Therese über die tote Ehefrau, die voreheliche Geliebte bis zur Mutter zurückreichen. Von dem traumatischen Verlassenheitsmuster sucht sich Gustav durch den 68
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Auch für ›Therese 2‹ ist Gustav nur der letzte in einer Reihe mehrerer Liebhaber: »Sie fing wieder zu plaudern an, erzählte von ihrer früheren Wohnung, die ›ihm‹ nicht gefallen hätte, weshalb er ihr diese hier gemietet; dann redete sie von einer Schwester, die in Prag verheiratet sei, dann von ihrem ›Ersten‹, einem Hausbesitzersohn, der sie hatte sitzen lassen, dann von einer Reise nach Venedig, die sie mit einem ›Ausländer‹ unternommen« (EI, 334). In seiner Erinnerung neutralisiert Gustav seine Ehefrau zu einem »reine[n] Geschöpf« (EI, 320), das ihn wie eine Mutter ihr Kind in den Schlaf singt (EI, 321). In der Rolle eines Kindes, die sein sexuelles Verlangen zu einem passiven Verführtwerden verharmlost, sieht sich Gustav aber auch in der Begegnung mit der Nächsten. Ein Wechsel der Erzählgegenwart bekundet diese projektive Überformung: »Wenn er sich später dieses Moments erinnerte, sah er sich selbst immer um viele Jahre jünger, bartlos, fast wie ein Kind, denn sie schaute ihn an, wie man Kinder ansieht, die einem gefallen« (EI, 330).
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Mord, der die ›Nächste‹ zur ›Letzten‹ macht, zu befreien. Auf dieses Motiv lassen seine Selbstanklage wie sein gefasst-ruhiges Verhalten nach dem Mord schließen. Der Leser der Nächsten ist somit gezwungen, das einfache Erklärungsmuster für den Mord, wie es in Rodenbachs Prätext bruchlos aufgeht, den genannten Widersprüchen gemäß zu korrigieren und in eine komplexere psychologische Deutungshypothese zu überführen. Dabei muss er berücksichtigen, dass Gustav den Mord in einem wahnhaft gesteigerten Wiederholungszwang begeht und aus einem Strafbedürfnis heraus handelt, welches einem gestörten Verhältnis zur Sexualität entspringt. Dass dieses frühkindliche Ursachen hat, legt Gustavs Vorgeschichte nahe. Da die Vorgeschichte freilich nur fragmentarisch angedeutet ist und der Text eine Reihe von widerständigen Merkmalen aufweist, bleibt dem Leser der bloß hypothetische Charakter dieser Deutung ständig bewusst. In diesem Wechselspiel von Bestätigung und Widerspruch gründet der rezeptionsästhetische Reiz der Nächsten. Schnitzlers Die Nächste bietet aufgrund ihrer literarischen Psychologie im Modus des subjektiven Erlebens die verhüllte Ätiologie eines Phänomens, dessen begriffliche Deutung Freud erst mehrere Jahre später gelang: zum einen in den Beiträgen zur Psychologie des Liebeslebens, in denen die Wiederholungsstruktur von Liebesverhältnissen herausgearbeitet und Liebesobjekte als »Muttersurrogate« bezeichnet werden,70 und zum andern in der Theorie des Strafbedürfnisses. Zu dieser Psychologisierung gelangt Schnitzler im Dialog mit dem prominenten symbolistischen Brügge-Roman des 1898 gestorbenen Georges Rodenbach. Allerdings wird der Prätext nicht ebenmäßig in den Posttext überführt. Ein Grund dafür ist dessen zweiteilige narrative Faktur, die auch entstehungsgeschichtlich – durch die dreimonatige Schaffenspause nach dem Tode Marie Reinhards – bedingt ist. Im ersten Teil der Nächsten, in dem die Erzählerstimme noch dominiert, werden die entscheidenden Informationen geliefert, die der Leser zum Verständnis des stark personalisierten letzten Teiles benötigt: die Vorgeschichte Gustavs, die seinen Wiederholungszwang begründet. Erst im zweiten Teil nutzt Arthur Schnitzler die intertextuellen Bezüge so, wie er es in späteren personalisierten Erzähltexten, etwa in Fräulein Else, praktizierte: als Ersatz für die Erzählinstanz im personalisierten Erzählen oder im Inneren Monolog. In der Nächsten beschränken sich die intertextuellen Bezüge noch auf die Gestaltung der fiktiven Welt, ohne ins Bewusstsein der Figuren vorgerückt zu sein. 70
Vgl. Sigmund Freud, »Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. I und II [1910 und 1912]«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 8: Werke aus den Jahren 1909–1913, Anna Freud [u. a.] (Hrsg.), Frankfurt/M. 51969, S. 65–91, bes. S. 69–72.
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IV. Lieutenant Gustl (1900) Protokoll eines Unverbesserlichen
Mit dem Lieutenant Gustl gelang Arthur Schnitzler eine epochale erzähltechnische Neuerung: Als erste Erzählung in deutscher Sprache ist Lieutenant Gustl vollständig in Innerem Monolog verfasst. Sie erschien am 25. Dezember 1900 in der Weihnachtsbeilage der Neuen Freien Presse. Von der Journalfassung weicht die illustrierte Buchausgabe aus dem Jahre 1901 nur geringfügig ab: Kürzungen von Neben- und Blindmotiven sowie der zusätzliche Untertitel Novelle fördern die Literarizität des Lieutenant Gustl.1 Die neue unvermittelte Form der Erzählung sorgte für einen ebenso großen Erfolg wie Skandal. Das österreichische Militär entrüstete sich über die schonungslose Selbstaussprache des Lieutenant Gustl so sehr, dass ein »ehrenrätlicher Ausschuß« Schnitzler des »Offizierscharakters für verlustig« erklärte.2
1
2
Zitiert wird im Folgenden die Buchfassung nach der neuen Kritischen Ausgabe: Arthur Schnitzler, Lieutenant Gustl. Historisch-kritische Ausgabe, Konstanze Fliedl (Hrsg.), Berlin und New York 2011 (im Folgenden sigliert als: LG-HKA und Sigle des jeweiligen Überlieferungsträgers). Dem Nachweis der LG-HKA folgen der Beleg nach dem Freiburger Findbuch und die entsprechende Signatur im Nachlass in Cambridge. Die Historisch-kritische Ausgabe enthält die Faksimilia und Transkriptionen der handschriftlichen Vorstufen, präsentiert den Erstdruck und verzeichnet die Varianten der Buchausgabe und bietet überdies einen Stellenkommentar. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte werden allerdings nicht näher erläutert, auch Schnitzlers Selbstparodie wird nicht abgedruckt. Die Ausgabe ist deswegen auf Kritik gestoßen (vgl. Hans-Albrecht Koch, »Die rechte Form zum rechten Stoff«, in: Neue Zürcher Zeitung, 10./11. 12. 2011, sowie die Verteidigung von Konstanze Fliedl, »Schnitzler richtig lesen. Eine Entgegnung zu einer Kritik«, in: Neue Zürcher Zeitung, 17. 12. 2011). Eine verlässliche Ausgabe des Erstdrucks sowie der Parodie bietet die von Ursula Renner unter Mitarbeit von Heinrich Bosse kommentierte Ausgabe: Arthur Schnitzler, Lieutenant Gustl, Frankfurt/M. 2007. Arthur Schnitzlers Notizen zur Entstehung und Nachgeschichte des Lieutenant Gustl wurden unter dem Titel Die Wahrheit über ›Leutnant Gustl‹ von seinem Sohn Heinrich Schnitzler postum veröffentlicht in: Die Presse, Nr. 3454, 25. 12. 1959. Wiederabgedruckt in der Edition von Renner, S. 56–64. Siehe auch die Dokumente zum Skandal um den Lieutenant Gustl bei Evelyne Polt-Heinzl, Erläuterungen und Dokumente [zu] Arthur Schnitzler: ›Leutnant Gustl‹, Stuttgart 2000.
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1.
Lieutenant Gustl – Protokoll eines Unverbesserlichen
Forschungsstand
Die innovative Form des Lieutenant Gustl wurde mehrfach analysiert und mit Freuds Technik der freien Assoziation verglichen.3 Vorrangig setzte sich die Forschung jedoch mit dem sozialpolitischen und zeitkritischen Gehalt des Lieutenant Gustl auseinander: Die Erzählung diente als Kronzeuge für den überlebten militärischen Ehrenkodex, Misogynie und Antisemitismus, kurz für die Schattenseite der Wiener Moderne. Eine störende Variable im politisch korrekten Konsens der Kritik blieb der Protagonist, über den die Wertungen auseinandergehen: Schnitzlers eigenem Urteil, Gustl sei »ein ganz netter, nur durch Standesvorurteile verwirrter Bursch […], der mit den Jahren gewiß ein tüchtiger und anständiger Offizier werden dürfte«, folgten nur wenige Kritiker.4 Mehrheitlich sah man im Lieutenant Gustl eine »Sozialpathographie« und verurteilte den Protagonisten als »autoritären Charakter« sowie als fatale »Leitfigur der Epoche«.5 In letzter Zeit hat eine undatierte, fragmentarische Selbstparodie Schnitzlers allerdings Zweifel an der Eindeutigkeit der Figur geweckt.6 Hier wird die Titelgestalt als »hyperkorrektes Muster« eines k.u.k.-Offiziers »gleichzeitig aufgebaut und verhöhnt«.7 Denn der Gustl der Selbstparodie bekennt sich so demonstrativ als Musikliebhaber, Philosemit (»ich liebe die Israeliten sehr«) und Menschenfreund, dass er unglaubwürdig wird. Ins Lächerliche gezogen wird die Beleidigung durch den Bäckermeister, indem sie zur Projektion Gustls verharmlost wird. Umso stärker wird die Disproportion zwischen der bloß imaginierten Beleidigung und dem Entschluss zum Freitod: »O, was für ein Blick! … Ich hab’ in diesem Blick gelesen, dass er sich denkt: ›Dummer Bub!‹ … Jetzt müsste ich eigentlich den 3
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7
Vgl. Michael Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1988, bes. S. 237–242, und Craig Morris, »Der vollständige innere Monolog: eine erzählerlose Erzählung? Eine Untersuchung am Beispiel von ›Leutnant Gustl‹ und ›Fräulein Else‹«, in: Modern Austrian Literature, 31/1998, H. 2, S. 30–51. Brief an Theodor von Sosnoky vom 26. Mai 1901, zit. nach Theodor von Sosnoky, »Unveröffentlichte Schnitzler-Briefe über die ›Leutnant-Gustl-Affäre‹«, in: Neues Wiener Journal, 26. 10. 1931, S. 4. Vgl. Manfred Jäger, »Schnitzlers ›Leutnant Gustl‹«, in: Wirkendes Wort, 15/1965. S. 308–316, hier S. 315, und Klaus Laermann, »›Leutnant Gustl‹«, in: Rolf-Peter Janz/Klaus Laermann, Arthur Schnitzler: Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle, Stuttgart 1977, S. 110–130, hier S. 111. Arthur Schnitzler, »Leutnant Gustl. Parodie. Undatiertes Typoskript aus dem Nachlass«, in: Novellenpläne (FF D III, 17, Bl. 111–115 – Cambridge Schnitzler A 252, 3). Abgedruckt in der Ausgabe des Erstdrucks von Renner, S. 50–53. Vgl. Renner, Lieutenant Gustl, S. 77.
Textgenese
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Säbel ziehn und ihn totschlagen … Aber nein, ich schenk ihm das Leben und werde lieber selbst sterben«.8 In der parodistischen Idealisierung der Titelfigur wird aber das Prinzip der Ehre noch fragwürdiger als in der Novelle. Das außerliterarische Interesse und die Stilisierung zum epochalen Werk rückten den literarhistorischen Kontext aus dem Blick. Kaum erörtert wurden die intertextuellen Bezüge, welche die eigentliche Modernität der Monolognovelle erweisen. Ob eine tatsächliche Begebenheit die Novelle angeregt hat, wie man einer Notiz Schnitzlers entnehmen wollte, ist für den literarischen Wert des Textes jedenfalls weniger von Belang als seine ›Dialogizität‹. Bevor die intertextuellen Bezüge des Lieutenant Gustl untersucht werden, sei aber die Textgeschichte resümiert sowie die Novelle programmatisch mit der literarischen Moderne verknüpft und erzähltechnisch charakterisiert.
2.
Textgenese
Die Entstehungsgeschichte des Lieutenant Gustl ist gut erforscht.9 Sie umfasst neben der merkwürdigen Selbstparodie eine Entwurfsnotiz von 1896, eine Handlungsskizze und eine umfängliche Handschrift. Als Vorstufe gilt folgende Notiz Schnitzlers von [18]96, welche die glückliche Auflösung einer Ehrverletzung skizziert: Einer bekommt irgendwie eine Ohrfeige; – niemand erfährts. Der sie ihm gegeben, stirbt und er ist beruhigt, kommt darauf, dass er nicht an verletzter Ehre – sondern an der Angst litt, es könnte bekannt werden. –10
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Arthur Schnitzler, Leutnant Gustl. Parodie (FF D III, 17, Bl. 113 – Cambridge Schnitzler A 252, 3, Bl. 3). Vgl. Renner, Lieutenant Gustl, S. 71–77. Die beiden wichtigsten Textfassungen sind in LG-HKA faksimiliert und präzise transkribiert, ohne allerdings genauer kontextualisiert oder editionsphilologisch gewürdigt zu sein. LG-HKA, N [1]: Lieutenant Gustl [I] (FF C XIX, 1, Bl. 1 – Cambridge Schnitzler A 152, 1). In dieser Entwurfsnotiz aus dem Jahre 1896 sieht Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse, S. 238f., einen Beweis für die literarische Unabhängigkeit Schnitzlers und die Nähe zum psychoanalytischen Diskurs. Wieder in PoltHeinzl, Erläuterungen und Dokumente, S. 36. Schnitzler selbst schreibt in seinem Rückblick auf die Wirkungsgeschichte: »Zum Teil nach einer tatsächlich vorgefallenen Geschichte, die einem Bekannten von Felix Salten passiert ist, einem Herrn Laska, im Foyer des Musikvereinssaals«, in: Entstehungsgeschichte der Werke (FF M III, Bl. 102–117, hier Bl. 104 – Cambridge Schnitzler A 177).
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Lieutenant Gustl – Protokoll eines Unverbesserlichen
Ob eine bestimmte Lektüre zu diesem Einfall beigetragen hat, ist nicht bekannt, zumal das Duell-Thema im Frühwerk Schnitzlers allgegenwärtig ist und die Forschung bislang ausschließlich nach biographischen Entsprechungen gesucht hat. Eine handschriftliche Handlungsskizze vom 27. Mai 1900 mit dem Titel »Ehre«, die acht Blätter umfasst, entspricht in Ort (Singverein), Zeit (eine Nacht) und Handlung (Konfrontation an Garderobe, Nachtgedanken, Nachricht vom Tod des Beleidigers, Vorfreude auf das Duell mit Advokaten) bereits der Novelle. Die Skizze tendiert auch schon zum Inneren Monolog: Sie ist, von den ersten Zeilen abgesehen, aus Figurensicht und im Präsens verfasst. Allerdings weicht der einzige markante intermediale Bezug dieser Fassung vom Druck ab: Der Protagonist sitzt zu Beginn »im Concert« und hört ausdrücklich ein »Orat[orium] von Haydn!«11 Als Korrektur gewinnt das erst im Druck dafür eingesetzte Paulus-Oratorium von Felix MendelssohnBartholdy somit noch mehr Bedeutung. Das umfängliche, 240 Blätter umfassende und schwer lesbare Manuskript vom Juli 1900 stellt die dritte Fassung dar, die als Faksimile und Transkription mittlerweile allgemein zugänglich ist.12 Diese ›Texthandschrift‹ ist allerdings nicht mit der nicht überlieferten Druckvorlage identisch, zeigt sie doch einige charakteristische Unterschiede zum Erstdruck: So hat die Offiziersmütze, die Gustl beim Schlafen auf der Bank im Prater abgelegt (LG-HKA, D 532) und vergessen hat, im Manuskript noch leitmotivische Bedeutung, während das »Kappl« im Druck keine entscheidende Rolle mehr spielt.13 Überdies finden sich in der Handschrift noch manche Digressionen
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LG-HKA, S. 1: Lieutenant Gustl [II] (FF C XIX, 1, Bl. 2 – Cambridge Schnitzler A 152, 2). Beide Oratorien Haydns, Die Schöpfung und die Jahreszeiten, bieten keine inhaltlichen, strukturalen oder konstellativen Analogien zum Geschehen der Novelle. Allenfalls das auch als Oratorium bezeichnete Werk Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers (1785), die Vertonung der sieben Worte Christi zwischen Kreuzigung und Tod, ließen sich auf Gustls Leidensgeschichte beziehen. Schnitzlers Lieutenant Gustl wäre dann allerdings eine Parodie auf Haydns Oratorium bzw. die biblischen Worte Christi. So entspräche etwa Christi sechstem Wort »Es ist vollbracht« Gustls Verzicht auf den Freitod (»Sonst hätt ich mich am End ganz umsonst erschossen«, LG-HKA, H 235). LG-HKA, H 1–240: Lieutenant Gustl [III] (FF C XIX, 2, Bl. 10–252 – Cambridge Schnitzler A 152, 3). In der Texthandschrift macht der Kellner im Kaffeehaus Gustl darauf aufmerksam, dass er »das Kappel vergessen« hat, was Gustl zu der Reflexion veranlasst: »Um Gotteswillen … Richtig … er hat recht … Unglaublich […]. Jetzt bin ich durch die ganze Stadt ohne Kappel gegangen! … Ja Himmelsakrament … wo ist denn das Kappel? […] Ohne
Textgenese
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aus dem Soldatenleben, die im Druck wegfallen.14 Auch die fast blasphemische Symbolik, dass Gustl zum Frühstück, seiner vermeintlichen Henkersmahlzeit, »Semmeln« isst, die der Bäckermeister persönlich gebacken hat, hat Schnitzler getilgt.15 In der großen Handschrift ist das Konzert, in dem Gustl zu Beginn sitzt, zwar als »Oratorium, ja – Oratorium« bestimmt, ohne dass aber der Titel genannt würde.16 Aussagen über die Besetzung (»Mindestens hundert Jungfrauen stehen da oben«)17 und die Instrumentierung lassen kaum eine eindeutige musikalische Identifikation zu. Davon abgesehen enthält die Handschrift bereits sämtliche intertextuelle und intermediale Bezüge des Erstdrucks. Genannt werden etwa die »Traviata« (LG-HKA, H 6) und die »Madam St Gêne« (LG-HKA, H 20). Gustl bekennt bereits: »Und die schönsten Operetten kenn ich auch … und beim Lohengrin bin ich 12 mal … drin gewesen« (LG-HKA, H 151), und nennt seine gegenwärtige Lektüre: »Durch Nacht und Eis … ja … ich hab’s noch immer nicht ausgelesen … bin wenig zum lesen gekommen in der letzten Zeit« (LG-HKA, H 190). Struktural aufschlussreich ist das Manuskript aber vor allem, weil es den Schlaf des Lieutenant Gustl, der im Inneren Monolog ausgespart ist, deutlich als Zäsur markiert. Die Passage, in der Gustl einschläft, stellt insofern einen Einschnitt dar, als die Seite nur halb beschrieben ist, und das Aufwachen auf einer neuen Seite einsetzt.18
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das Kapel hab ich salutirt! ohne das Kappel bin ich durch die Burg gegangen«. Und rückblickend zweifelt Gustl deswegen sogar an seiner Zurechnungsfähigkeit: »ohne Kappel …, und da hab ich mir noch immer eingebildet, ich bin bei Besinnung – Verrückt bin ich« (LG-HKA, H 225–227 und passim, etwa 229 und 238: Lieutenant Gustl [III] (FF C XIX, 2, Bl. 237–239, sowie 241 und 250 – Cambridge Schnitzler A 152, 3)). So die Bordell-Erinnerung (LG-HKA, H 123). LG-HKA, H 231f. und 236f.: Lieutenant Gustl [III] (FF C XIX, 2, Bl. 243f. und 248f. – Cambridge Schnitzler A 152, 3). LG-HKA, H 1: Lieutenant Gustl [III] (FF C XIX, 2, Bl. 11 – Cambridge Schnitzler A 152, 3). LG-HKA, H 3 Lieutenant Gustl [III] (FF C XIX, 2, Bl. 13 – Cambridge Schnitzler A 152, 3). Dies ist vermutlich eine unpassende Anspielung Gustls auf die im Frühjahr 1900 im Jantsch-Theater gespielte Opern-Burleske Hundert Jungfrauen von Charles Lecocq. Vgl. LG-HKA, H 153f.: Lieutenant Gustl [III] (FF C XIX, 2, Bl. 164–165 – Cambridge Schnitzler A 152, 3).
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3.
Lieutenant Gustl – Protokoll eines Unverbesserlichen
Die Neue Psychologie: Hermann Bahrs Programm der Wiener Moderne
Lange blieb der enge Bezug von Schnitzlers Lieutenant Gustl zu der Neuen Psychologie verborgen, die Hermann Bahr schon 1890 zum Programm des ›Jungen Wien‹ erhoben hatte: eine »literarische Nervenerforschung«, die statt traditioneller Abstraktionen und statischer Gefühlsresultate die vorbewusste Genese der Empfindungen »deterministisch, dialektisch und dekompositiv« darstellen sollte.19 Soziales Milieu (Determinismus) und Interdependenz der gemischten Gefühle (Dialektik) dienen als experimentelle Rahmenbedingungen für die Dekomposition, die »Analyse von Sensationen und Empfindungen im vorbewußten Stadium«. Hermann Bahr gab zwar das Thema vor, nicht aber die erzähltechnische Realisation. Indem er die auktoriale »Dazwischenkunft des Künstlers« ebenso ausschloss wie die nachzeitige Ich-Form, erhob er die Neue Psychologie zu einer allgemeinen Aufgabe des Jungen Wien. Dies zeigt der prophetisch-programmatische Schlusssatz der Neuen Psychologie: »Wenn wir diese neue Methode […] einmal haben, dann wollen wir eine ganz einfache, alltägliche und gemeine Geschichte mit ihr schreiben, die viele erleben«.20 Schnitzlers Lieutenant Gustl entspricht Bahrs Forderung nach einer »gemeinen Geschichte« zur Erprobung der Neuen Psychologie. Gustl, ein junger, wohl 23-jähriger Offizier aus einer steirischen Kleinbürgerfamilie, erlebt eine existentielle Krise, die sich aber glücklich löst: Am Vorabend vor einem Duell, zu dem er einen militärkritischen Juristen herausgefordert hat, sucht sich Gustl in einem Konzert abzulenken. Danach gerät er im Gedränge an der Garderobe mit einem Bäckermeister aneinander. Von dem satisfaktionsunfähigen »Zivilisten« »dummer Bub« geheißen, fühlt sich Gustl schwer beleidigt und beschließt, sich zu erschießen. Er irrt durch Wien, übernachtet auf einer Bank im Prater, um am Morgen sein ›Henkersfrühstück‹ in seinem Stammcafé einzunehmen. Dort erfährt er, dass den Bäckermeister in derselben Nacht der Schlag getroffen hat. Durch diesen Zufall sieht Gustl seine Ehre wiederhergestellt und erwartet lustvoll-aggressiv das Duell. 19
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Hermann Bahr, »Die neue Psychologie« (1890), in: Ders., Zur Überwindung des Naturalismus, Gotthard Wunberg (Hrsg.), Stuttgart (u. a.) 1968 (Sprache und Literatur, 46), S. 53–64. Zur programmatischen Bedeutung vgl. Jens Rieckmann, »Hermann Bahr: Sprachskepsis und neue Erzählformen«, in: Orbis Litterarum, 40/1985, S. 78–87, und Achim Aurnhammer, »Schnitzlers ›Die Nächste‹ [1899]. Intertextualität und Psychologisierung des Erzählens im Jungen Wien«, in: GRM, N.F., 44/1994, S. 37–51. Bahr, »Die neue Psychologie«, S. 64.
Die Neue Psychologie: Hermann Bahrs Programm der Wiener Moderne
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Zeitlich wie räumlich gliedert sich der Lieutenant Gustl in fünf Sequenzen: (1) Konzertbesuch im Musikverein mit Streit an der Garderobe, (2) Gang durch das nächtliche Wien über Ringstraße und Aspernbrücke zum Prater, (3) Prater, (4) Rückweg durch das morgendliche Wien mit Kirchenbesuch (Frühmesse) durch die Hofburg in die Josefsstadt, (5) Kaffeehaus. Da Gustl kurz nach Mitternacht (LG-HKA, D 538) auf einer Bank im Prater einschläft und erst um 3 Uhr wieder erwacht, stellt dieses Intervall, das im Inneren Monolog ausgespart ist, eine Zäsur dar, die nicht nur als deutlicher Absatz in der Handschrift äußerlich markiert ist. Sie bestimmt die zyklische, fast spiegelsymmetrische Struktur der Novelle mit dem Schlaf im Prater als Zentrum. Die zwei einsamen Gänge durch Wien vermitteln die Rahmenepisoden in öffentlichen Räumen mit dialogischen Passagen (Theater und Kaffeehaus). 3.1.
Darstellung des Vorbewussten: die narrative Methode der Neuen Psychologie
So ›gemein‹ die Handlung, so modern ist Schnitzlers ›neue Methode‹: Um die ›Genese des Bewußtseins‹ darzustellen, wählt Schnitzler die Form des ›autonomen zitierten Inneren Monologs‹. Diese Subjektivierung des Erzählens geht weit über die Interferenz von Erzähler- und Personentext hinaus, wie sie Schnitzler bereits in der Erlebten Rede erreicht hatte. Denn der Innere Monolog subjektiviert neben der grammatischen Form (Ich-Erzählung) das Tempus (Präsens), so dass nur noch Personentext zitiert wird. Die Erlebnisgegenwart des Inneren Monologs unterscheidet sich auf diese Weise sprachlich von der traditionellen Ich-Form, deren Nachzeitigkeit Bahr bemängelt hatte. Dem Vorbewusstsein, in dem Wahrnehmungen Erinnerungen und Assoziationen auslösen, sucht Schnitzler mit einer diskontinuierlichen, elliptischen wie parataktischen Syntax zu entsprechen. Zahlreiche Pausensignale, Gedankenstriche und Auslassungspunkte rhythmisieren den Inneren Monolog. Neben Nominalsätzen illustrieren reihende Satzanschlüsse (»und«, »auch«) den vorbewussten Status der Syntax. Zugleich ist die Syntax des Inneren Monologs psychologisch variiert. Das wechselnde Verhältnis der Satzarten, von Fragen und Ausrufen, spiegelt Gustls unterschiedliche Erregungszustände wider,21 die eine zyklische Struktur ergeben: Das Konzert stellt eine relativ ausgeglichene ›Introduktionsphase‹ dar, die sich über den Streit mit dem Bäckermeister zur ›Erregungsphase‹ mit Ausrufen und Fragen steigert; der Gang durch die Stadt repräsentiert eine ›Bewältigungsphase‹, in 21
Vgl. die Analyse von Jürgen Zenke, Die deutsche Monologerzählung im 20. Jahrhundert, Köln und Wien 1976 (Kölner germanistische Studien, 12), S. 69–84, hier S. 71–73.
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Lieutenant Gustl – Protokoll eines Unverbesserlichen
der Gustl zur Ruhe kommt. Nach dem Schlaf im Prater kommt es in der Schlussphase zu neuerlicher, schließlich euphorischer Erregung. Wie in Sigmund Freuds Traumdeutung (1900) das ›Vorbewusstsein‹ vom Unterbewusstsein dadurch unterschieden wird, dass es an die gesprochene Sprache, die sogenannte ›Wortvorstellung‹ gebunden ist, so charakterisieren assoziative Wiederholungen und Correctio-Figuren Gustls Monolog: »Meiner Seel’, mir ist g’rad so, als wenn ich einen Rausch hätt’! Haha! Ein schöner Rausch! Ein Mordsrausch! Ein Selbstmordsrausch – Ha!« (LG-HKA, D 530). Schnitzler hat später Freuds dreischichtiges Konzept des »psychischen Apparats« in »Ich, Überich und Es […] als künstlich« kritisiert und durch seine »Einteilung in Bewußtsein, Mittelbewußtsein und Unterbewußtsein« ersetzt.22 Doch wurde bislang zu wenig beachtet, dass Schnitzlers spätere Auffassung des »Mittelbewußtseins [als dem] ungeheuerste[n] Gebiet des Seelen- und Geisteslebens«, von dem aus »die Elemente ununterbrochen ins Bewusste auf[steigen] oder […] ins Unbewußte hinab[sinken]«,23 durchaus Freuds frühem Konzept des ›Vorbewusstseins‹ entspricht. Nur ansatzweise erkundet ist bislang auch, wie psychologisch genau Schnitzler Gustls Wahrnehmungsund Assoziationsstrom konzipiert hat, der zwischen Vorbewusstsein und Bewusstsein changiert. Typisch für das Vorbewusste sind ›vergessene Erinnerungen‹, die sich der Protagonist unwillkürlich vergegenwärtigt. So kommt Gustl eine vergessene Geliebte in den Sinn, als er sich ausmalt, wer sein Grab besuchen wird: Ob die Steffi mir Blumen bringen wird? – Aber fallt ihr ja gar nicht ein! Die wird grad hinausfahren … Ja wenn’s noch die Adel’ wär’ … nein, die Adel’! – Mir scheint, seit zwei Jahren hab’ ich an die nicht mehr gedacht (LG-HKA, D 539).
In Gustls Assoziationsfluss finden sich charakteristische ›Knotenpunkte‹ (Freud), an denen sich Wahrnehmungen und Erinnerungen sprachlich durchkreuzen und mittels Wiederholung von ›Reizworten‹ zuvor ›gebahnte Wege‹ wiederaufnehmen. So erzeugt die Dunkelheit in Gustl »Angst«, die als Reizwort sukzessive eine verdrängte und in die Kindheit verschobene Jugenderinnerung hervorruft: … und dunkel ist es, hu! man könnt’ schier Angst kriegen … Das ist eigentlich das einzigemal in meinem Leben, daß ich Furcht gehabt hab’, als kleiner Bub, damals im Wald … aber ich war ja gar nicht so klein … vierzehn oder fünfzehn … wie lang’ ist das jetzt her? – Neun’ Jahr … (LG-HKA, D 531f.).
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Vgl. Arthur Schnitzler, »Über Psychoanalyse [1926]«, in: Reinhard Urbach (Hrsg.), Protokolle, 11/1976, H. 2, S. 277–284, hier S. 283. Ebd.
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Die Neue Psychologie erfasst überdies die Lexik. Gustls Vorbewusstsein prägen dialektale Eigenheiten und umgangssprachlich übliche Elisionen – fast immer fällt das ›e‹ im Auslaut einer Verbform weg (z. B. »als wenn gar nichts gescheh’n wär’ …« [LG-HKA, D 531]) – ebenso wie zahlreiche Austriazismen (z. B. »gegiftet« [LG-HKA, D 516], »Veigerln« [LG-HKA, D 539], »Semmeln« [LG-HKA, D 550]). Zudem hat Gustl den Ehrenkodex der Offiziersgesellschaft gedanklich wie sprachlich verinnerlicht. Wie sehr der militärische Soziolekt seine Weltsicht bestimmt, zeigen sogar erotische Digressionen: So meint Gustl, durch ein Verhältnis mit der vornehmen Frau Mannheimer »hätt’ man doch noch einen andern Schliff gekriegt« (LG-HKA, D 533), und findet es einerlei, »[o]b man zu einem Rendezvous geht oder auf Posten oder in die Schlacht« (LG-HKA, D 540). Noch als er sich am Ende für das Leben entscheidet, beschließt Gustl militärisch-triumphal: »[U]nd der Steffi schreib’ ich, sie muß sich für heut’ Abends frei machen und wenn’s Graz gilt!« (LGHKA, D 552). Weder ›Unterbewusstsein‹ – bezeichnenderweise ist Gustls Traum ausgespart – noch einen reinen ›Bewusstseinsstrom‹, sondern vorrangig ›Sensationen und Empfindungen im vorbewußten Stadium‹ (Bahr), in die sich auch Bewusstes mischt, präsentiert Schnitzlers Innerer Monolog. Seine narrative Technik des Vorbewussten stellt ein spezifisches Ausdruckssystem dar, das sich von der Sprache des Bewusstseins syntaktisch-stilistisch, aber auch semantisch unterscheidet. Allerdings ist in Gustls freier Assoziation die ›zweite Zensur‹, wie Freud die absichtliche Selektion von Gedanken zwischen Bewusstsein und Vorbewusstem nennt, nicht durchgängig ausgeschaltet. Die zweite Zensur manifestiert sich in komischen hochsprachlich-umgangssprachlichen Mischungen, etwa wenn in Gustls Selbstanreden das Über-Ich, das den Ehrenkodex des Offiziersstands vertritt, Ansätze der Selbstkritik denunziert: »Herr Lieutenant, Sie sind jetzt ganz allein, brauchen Niemandem einen Pflanz vorzumachen …« (LG-HKA, D 532). Gemindert, aber nicht ausgeschaltet sind auch die zensierenden Kontrollmechanismen: Sie werden nachträglich wirksam. So wechseln sexuelle und aggressive Affektregungen unverwehrt ab, bevor sie in Angst umgewandelt oder rationalisiert werden: Da geh’n zwei Artilleristen … die denken gewiß, ich steig’ der Person da nach … muß sie mir übrigens anseh’n … O schrecklich! – Ich möcht’ nur wissen, wie sich so Eine ihr Brot verdient … da möcht’ ich doch eher … (LG-HKA, D 529).
Vorbewusste Fehlleistungen, etwa wenn Gustl am »Krempel« der Offiziersehre zweifelt und eine Auswanderung nach Amerika erwägt, fallen gleich wieder der Zensur zum Opfer. Stattdessen beschönigt Gustl den Selbstmord zur freien Willensentscheidung:
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Lieutenant Gustl – Protokoll eines Unverbesserlichen wenn ich wollt’, könnt’ ich noch immer den ganzen Krempel hinschmeißen … Amerika – Was ist das: »Krempel«? Mir scheint, ich hab’ den Sonnenstich! … Was, bin ich vielleicht deßhalb so ruhig, weil ich mir noch immer einbild’, ich muß nicht? … Ich muß! ich muß! Nein; ich will! – (LG-HKA, D 545f.).
So weckt der Augenblick in Lieutenant Gustl ebenso drastische wie direkte Gefühle und Stimmungen, die erst nachträglich rationalisiert werden. Die freien Assoziationen unterliegen eben nicht der Kontrolle des ordnenden Verstands und folgen keiner vernünftig strukturierten Rede. Eine politischkorrekte Kritik verkennt diese momentanen Impulse und verfehlt den vorbewussten Status von Gustls Monolog. 3.2.
Die Rolle des Lesers in der Neuen Psychologie
Die ›fixierte interne Fokalisierung‹ als narrative Realisation der Neuen Psychologie stellt nicht nur eine produktions-, sondern auch eine rezeptionsästhetische Innovation dar. Da der Leser ausschließlich auf Gustls Wahrnehmung angewiesen ist, muss er aus dessen subjektiven Projektionen, Assoziationen und Erinnerungen die objektiven Gegebenheiten selbst erschließen. Die wahrgenommene Welt, welche der Leser des Inneren Monologs erfährt, wird durch interpersonale Situationen und Dialoge (Garderobe, Café) zwar verlässlicher, vermittelt aber dennoch eine beunruhigende Einseitigkeit. Daher sind impulsive Bewertungen, Reaktionen und Assoziationen, welche den Wahrnehmungen folgen oder sich mit ihnen vermischen, rezeptionsästhetisch bedeutsam: Sie erst ermöglichen es dem Leser, das Verzerrungsmoment und den subjektiven Faktor der Projektionen zu kalkulieren, um eine Brücke von der Innenwelt zur Außenwelt zu schlagen. Da es keine Erzähldistanz gibt, wenn Erzähler und wahrnehmende Person zusammenfallen, und die Abfolge der Inhalte desorganisiert wirkt, gewinnt die formale Organisation des Textes an Bedeutung. Sprachlich-stilistische Variation und äußere Gliederung, aber auch leitmotivische Reizwörter und intertextuelle Bezüge helfen dem Leser, sich zu orientieren. Rekurrenzen strukturieren den Fluss von Gustls Monolog. Vor allem Wiederholungen bestimmter Wörter, die eine Fixierung des Protagonisten verraten, spielen für die Rezeption des Vorbewussten eine wesentliche Rolle. So bekundet die siebenmalige Wiederholung, wie sehr Gustl die Beleidigung »dummer Bub« verfolgt. Auch die rekurrenten Begriffe »Säbel« und »Billet« weisen auf die nachhaltige Wirkung der Provokation hin. Aus stereotypen sexuellen Wünschen und Gewaltphantasien lässt sich die Stimmungskurve des Protagonisten ablesen. So reagiert Gustl sein Minderwertigkeitsgefühl immer wieder in aggressiven Ausfällen gegen Akademiker, Sozialisten und
Die Bedeutung der Intertextualität
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vermögende Juden ab. Doch Widersprüche, Selbstkritik (»du bist ja viel zu dumm, um was Anderes anzufangen« [LG-HKA, D 537]) und Fehlleistungen (»da pfeif ’ ich auf ’n ganzen Antisemitismus« [LG-HKA, D 515]) entlarven diese Ressentiments als Kompensation. Sie sind eng mit Gustls Einsicht in seine ›Stellvertreter‹-Existenz kombiniert. Denn in gelegentlichen Reflexionsintervallen erkennt Gustl, dass er nur zweite Wahl ist: gesellschaftlich (im Salon Mannheimer wie im Publikum des Oratoriums: »der merkt, daß ich […] nicht herg’hör’« [LG-HKA, D 514]), kulturell (der Hass auf Akademiker und auf das Bildungsbürgertum), finanziell (Spielschulden) und vor allem in der Liebe (seine Geliebte Steffi versetzt ihn zugunsten eines reichen Liebhabers, auf den Gustl seine Ressentiments projiziert24). Die mangelnde Konsistenz von Gustls außengeleiteten Ressentiments erschwert seine ideologiekritische Verurteilung, zumal die rekonstruktive Leistung, welche die Lektüre des Lieutenant Gustl erfordert, zu einem gewissen Verständnis des Protagonisten nötigt. Zwar werden die kleinbürgerlichen Ressentiments und der überlebte Ehrenkodex in Wien um 1900 entlarvt, doch viel entscheidender ist das Psychogramm einer ›gemeinen‹ Person, eines Jedermann, das sich lesend erschließen lässt. Dieses Psychogramm erhellen wesentlich intertextuelle Anspielungen, die bisher in der Forschung zu kurz kamen.
4.
Die Bedeutung der Intertextualität
In der Forschung wurde bisher noch nicht zwischen ›narratorial‹ und ›figural‹ motivierter Intertextualität unterschieden; die intertextuellen Parallelen des Lieutenant Gustl, die man bisher diskutierte, beschränken sich auf form- und strukturanaloge Texte. Das Spektrum der narratorial wie figural motivierten Intertextualität blieb daher fast ausschließlich auf Édouard Dujardins vorgängige Monolognovelle Les lauriers sont coupés als mutmaßliches formales Vorbild beschränkt. 4.1.
Narratorial motivierte Intertextualität
4.1.1. Titelallusionen Kaum erörtert wurde der Titel, der ja den militärischen Rang des Protagonisten mit der individualisierten Koseform seines Vornamens kombiniert. 24
»Muß übrigens ein Jud’ sein. Freilich! In einer Bank ist er, und der schwarze Schnurrbart … Reserve-Lieutenant soll er auch sein« (LG-HKA, D 515).
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Lieutenant Gustl – Protokoll eines Unverbesserlichen
Bei vorgängigen Titeln fiktionaler Texte, die einen Namen mit einem militärischen Rang kombinieren, wird nur der Nachname genannt wie in Eduard Breiers General Roßwurm (1861) oder in Wolf Graf von Baudissins Leutnant Krafft (1901), allenfalls der Herkunftsname wie in Heinrich Hansjakobs Leutnant von Hasle (1895).25 Schnitzlers ungewöhnliche Titelbildung mit dem Vornamen erinnert daher an Carl Spittelers Erzählung Conrad der Leutnant (1898), die weniger wegen ihres Inhalts, einer tragischen Vater-SohnGeschichte, als wegen ihrer subjektivierten »Darstellung […] mit eigentümlichem Ziel und mit besondern Stilgesetzen«, ein Muster abgegeben haben könnte: Das Ziel heißt: denkbar innigstes Miterleben der Handlung. Die Mittel dazu lauten: Einheit der Person, Einheit der Perspektive, Stetigkeit des zeitlichen Fortschrittes […]. Mit erläuternden Worten: Die Hauptperson wird gleich mit dem ersten Satz eingeführt und hinfort nie mehr verlassen. Es wird ferner nur mitgeteilt, was jene wahrnimmt, und das so mitgeteilt, wie es sich in ihrer Wahrnehmung spiegelt. Endlich wird die Handlung lebensgetreu Stunde für Stunde begleitet, so dass der Erzähler sich nicht gestattet, irgendeinen Zeitabschnitt als angeblich unwichtig zu überspringen. Aus dem letzten Gesetz ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, die Handlung binnen wenigen Stunden verlaufen zu lassen.26
Auch wenn Spitteler in seiner Erzählung noch nicht das Mittel des Inneren Monologs verwendet, ist der Text ganz auf den Protagonisten fokalisiert, durch Figurentext personalisiert und zeitdeckend erzählt, so dass eine Vorläuferschaft zum Lieutenant Gustl nicht unwahrscheinlich ist. Schnitzler selbst kannte Spittelers Erzählung, er nennt sie sowohl in seiner Leseliste wie im Tagebuch. Auch wenn seine Lektüre erst vom 26. März 1908 datiert,27 ist es durchaus möglich, dass ihm Spittelers ›unmittelbare Darstellung‹ schon vorher bekannt war. Zum andern spielt der Titel des Lieutenant Gustl wohl auf die Novelle Leutnant Burda (1887) von Ferdinand von Saar an, den Schnitzler wie die übrigen Jung-Wiener als transitorisches Vorbild verehrte. Doch kann diese Allusion auf Saars Novelle, die den fortschreitenden Liebes- und Adelswahn eines Durchschnittsoffiziers bis zu dessen Tod infolge eines Duells aus der Sicht eines intradiegetischen Erzählers schildert, allenfalls als ironische Hom25
26
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Vgl. Eduard Breier, General Roßwurm. Historischer Roman, 3 Bde., Berlin 1861, Frhr. von Schlicht [d.i. Wolf Graf von Baudissin], Leutnant Krafft. Humoristische Erzählung aus dem Offiziersleben, Berlin 1901. Carl Spitteler, »Conrad der Leutnant«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, Gottfried Bohnenblust/Wilhelm Altwegg/Robert Faesi (Hrsg.), Zürich 1945, S. 109–264, hier S. 109 [»Vorbemerkung des Verfassers«]. Vgl. Tgb 26. 03. 1908: »Nm. Spittelers ›Conrad der Ltnt.‹ ausgelesen«. Vgl. LL D411.
Die Bedeutung der Intertextualität
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mage verstanden werden:28 Das Titelzitat mag den ästhetischen Abstand von Schnitzlers moderner Monolognovelle zu Saars intradiegetischer Erzählung bekunden. Auch Hector Henri Malots Lieutenant Bonnet (1885), ein Gesellschaftsroman, der bereits 1886 in einer zweibändigen deutschen Übersetzung in »Engelhorns Romanbibliothek« erschien, kommt allenfalls wegen der Titelanalogie als Prätext in Frage.29 Schnitzler, der mehrere Werke Malots gelesen hat, hat den Roman nicht unter seinen Lektüren verzeichnet.30 Zudem weisen beide Texte nur geringe strukturelle und konstellative Parallelen auf. Zwar ist auch der Lieutenant Bonnet stark personalisiert erzählt und kulminiert in einem Säbelduell des Titelhelden mit seinem zynischen Offizierskollegen Derodes, doch lassen sich weitergehende Analogien kaum ausmachen.31 4.1.2. Édouard Dujardin: Les lauriers sont coupés (1888) Dass sein Lieutenant Gustl ein französisches Vorbild hat, bekannte Schnitzler 1901 gegenüber dem dänischen Literaturkritiker Georg Brandes: »Mir aber wurde der erste Anlaß zu der Form durch eine Geschichte von Dujardin gegeben, betitelt les lauriers sont coupés. Nur daß dieser Autor für seine Form nicht den rechten Stoff zu finden wußte. –«32 Schnitzlers spätere Behaup28
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Für die Beziehungsmanie von Saars Leutnant spielen Dichtung und Theater eine viel größere Rolle als für Leutnant Gustl, der nur gelegentlich Theater und Oper besucht. Analogien zwischen beiden Texten nennt Maria Pospischil Alter, »Ferdinand von Saars ›Leutnant Burda‹ und Arthur Schnitzlers ›Leutnant Gustl‹. Entwurzelung und Desintegration der Persönlichkeit«, in: Eijiro Iwasaki (Hrsg.), Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche: Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, München 1991, S. 133–139. Vgl. Hector Malot, Lieutenant Bonnet. Roman in zwei Bänden [Le Lieutenant Bonnet], übers. von J. van Muylen, Stuttgart 1886 (Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek, III 5 und 6). In seiner Leseliste hat Schnitzler folgende Werke Hector Henri Malots verzeichnet: Cara, Baccara, Les amours de Jacques und Madame Obernin (vgl. LL F98). Allerdings ließe sich das Wortspiel mit dem sprechenden Namen des Titelhelden (›bonnet‹ heißt auf Deutsch ›Mütze‹), »der zuerst Priester werden wollte, [und somit bildlich] seine Priestermütze gegen eine Dienstmütze vertauscht[e]« (Malot, Lieutenant Bonnet, Bd. 1, S. 21) auf das Leitmotiv der Offiziersmütze (»Kappl«) beziehen, das Schnitzlers Manuskript vom Juli 1900 bestimmt, im Druck aber wegfällt. Arthur Schnitzler aus Wien am 11. 06. 1901 an Georg Brandes, in: Kurt Bergel (Hrsg.), Georg Brandes und Arthur Schnitzler. Ein Briefwechsel, Bern 1956, S. 88. – Zitiert wird im Folgenden die deutsche Übertragung von Édouard Dujardin, Die Lorbeerbäume sind geschnitten [Les lauriers sont coupés], übers. von Irene Riesen mit Nachwort von Fritz Senn, Zürich 1984.
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tung, er wäre auf Dujardins Roman erst nach Erscheinen des Lieutenant Gustl von Brandes hingewiesen worden, widerlegt sein Brief vom Herbst 1898, in dem er seiner Freundin Marie Reinhard von der Lektüre berichtet: »Gelesen […] eine sehr eigenartige Geschichte (Roman) von Dujardin, ›les lauriers sont coupés‹«.33 Édouard Dujardins Roman Les lauriers sont coupés (1888) schildert eine Pariser Nacht des dandyhaften Studenten Daniel Prince, der von seiner Geliebten, der launischen Schauspielerin Léa d’Arsay, platonisch hingehalten wird. Doch Schnitzler verdankt Dujardin keineswegs nur die Form der Monolognovelle, wie behauptet wird. Vielmehr sind die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen beiden Texten so groß, dass sie erst manche Modifikationen Schnitzlers zutage fördern.34 Unverkennbar gleichen sich die Handlungsabläufe: Beide Protagonisten durchwandern in einer Lebenskrise nachts eine Metropole – dort Paris, hier Wien – und denken über ihr Leben nach. Schnitzler folgt in der Erzählzeit wie in der erzählten Zeit Dujardin, ist aber präziser als der Prätext. Während Les lauriers sont coupés an einem unbestimmten Aprilabend, von 6 Uhr bis Mitternacht, spielt, ist Schnitzlers Geschehen genau datiert: Lieutenant Gustl spielt in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1900, dem Mittwoch vor der Karwoche; er setzt um 21.45 Uhr ein und dauert bis zum nächsten Morgen um 6 Uhr. Die längere Dauer der erzählten Zeit kompensiert Schnitzler in der Erzählzeit, indem er Gustls dreistündigen Schlaf als Intervall ausspart. Beide Novellen schildern somit übereinstimmend jeweils etwa sechs Stunden einer Aprilnacht aus der Perspektive des Protagonisten. 33
34
Vgl. BI, S. 354. Zu Schnitzlers Erinnerungsfälschung passt auch der Umstand, dass der Roman Dujardins in der Lektüreliste nicht aufgeführt ist. Die Studie von Theodor W. Alexander und Beatrice W. Alexander, »Schnitzler’s ›Leutnant Gustl‹ und Dujardin’s ›Les Lauriers sont coupés‹«, in: Modern Austrian Literature, 6/1969, Nr. 2, S. 7–15, ist keineswegs erschöpfend und blieb weitgehend folgenlos. Auch Barbara Surowska, »Schnitzlers innerer Monolog im Verhältnis zu Dujardin und Dostojewski«, in: Theatrum Europaeum. FS Elida Maria Szarota, Richard Brinkmann (u. a.) (Hrsg.), München 1982, S. 549–558, dient Dujardin vorrangig als Kontrastfolie, um Schnitzlers erzähltechnische Überlegenheit zu erweisen. Jörg Pottbeckers, »Hatte Leutnant Gustl Hunger? Einige späte Bemerkungen zur Entstehung des inneren Monologs bei Arthur Schnitzler und Knut Hamsun«, in: Studia austriaca, 20/2012, S. 85–105, geht außer auf Dostojewskis Sanfte auf Dujardins Les lauriers sont coupés als formales Vorbild von Schnitzlers innerem Monolog ein, ohne aber die entscheidende Differenz des »Vorbewusstseins« zu bemerken, die sich im Auslassen des Traums zeigt. Doch bringt er zusätzlich Knut Hamsuns Roman Hunger als mögliches Vorbild an, dessen Analogien sich aber im Wesentlichen in den Selbstanreden, der »Ich-Du-Kommunikation«, in beiden Texten erschöpfen.
Die Bedeutung der Intertextualität
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Während die soziale Herkunft des Studenten Daniel Prince unscharf bleibt, ist die kleinbürgerliche Herkunft und militärische Akkulturation von Lieutenant Gustl klar umrissen. Unterwirft sich der Dandy Daniel dem Pariser Modediktat, so hat Gustl den Ehrenkodex des Militärs verinnerlicht. Sogar die dekadente Liebesbeziehung in Dujardins Les lauriers sont coupés greift Schnitzler auf. So haben beide Protagonisten eine affektive Kränkung durch ›Absagebriefe‹ ihrer Freundinnen zu verarbeiten: Während Léa ihren sentimentalen Liebhaber Daniel zugunsten des Theaterdirektors auf später vertröstet,35 besucht Gustl das Oratorium, da ihm seine Geliebte Steffi wegen eines vermögenden Liebhabers abgeschrieben hat: Ah, diese ewige Abschreiberei von der Steffi geht mir wirklich schon auf die Nerven! Wie schön hätt’ der heutige Abend sein können. Ich hätt’ große Lust, das Brieferl von der Steffi zu lesen. […] Ich weiß ja, was drinsteht … sie kann nicht kommen, weil sie mit »ihm« nachtmalen gehen muß (LG-HKA, D 515).
Die erotische Konstellation stimmt weitgehend überein, auch wenn Schnitzler das Niveau des Prätexts realistisch absenkt: Beide Protagonisten kennen ihre Geliebte etwa seit vier Monaten; während Daniel dies unumwunden feststellt,36 dämmert Gustl die Erinnerung langsam herauf: Wie lang hat denn die ganze G’schicht’ gedauert? … Seit’n Januar … ah nein, es muß doch schon vor Weihnachten gewesen sein … ich hab’ ihr ja aus Graz Zuckerln g’schickt – und zu Neujahr hat sie mir ein Brieferl g’schickt … (LG-HKA, D 543–544).
Gustl beschenkt Steffi in bescheidenem Maße, wie Daniel Léa unterhält, und Gustl wie Daniel verwahren die Liebesbriefe, mit denen sich die Frauen, beide käufliche Mädchen, symbolisch revanchieren. Während aber Gustl sein Verhältnis mit Steffi durchschaut und sich damit abgefunden hat, temporärer Liebhaber einer Dirne zu sein, hat Daniel wider besseres Wissen Léa so lange idealisiert, dass er kaum noch die ihm zugedachte Rolle eines platonischen Verehrers aufzugeben vermag. Wie sehr Dujardins Liebesnovelle Schnitzlers Lieutenant Gustl beeinflusst hat, zeigen erstaunlich prägnante Details. So ist Gustls erotische Erinnerung 35
36
Dujardin, Die Lorbeerbäume sind geschnitten, S. 50 (»Ja, ein Brief von Léa; rasch. ›Mein lieber Freund, holen Sie mich heute abend nicht vom Theater ab. Kommen Sie direkt zu mir nach Hause gegen zehn Uhr. Ich erwarte Sie. Léa.‹ Unerträglich; immer diese Änderungen; man weiß nie, was man machen wird […] ewig dieselbe Komödie.«) Zur Konstellation vgl. Stefan Buck, Edouard Dujardin als Repräsentant des Fin de siècle, Würzburg 1987, bes. S. 44ff. Dujardin, Die Lorbeerbäume sind geschnitten, S. 64 (»Hier ihr erstes Billett, vor vier Monaten.«).
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Lieutenant Gustl – Protokoll eines Unverbesserlichen
an »das kleine Badezimmer mit der roten Latern’« seiner Freundin Steffi »in dem grünseidenen Schlafrock« (LG-HKA, D 531) der Schlussszene in Léas Salon nachgebildet, die sich ihrem Liebhaber im »langen fließenden Frisiermantel« präsentiert.37 Gerade Parallelepisoden, etwa wenn der Protagonist ein Streichholz entzündet, bezeugen aber, dass Schnitzler den Prätext durch größere psychologische Subtilität in der Darstellung des Vorbewusstseins übertrifft. Dujardin zerlegt die Situation des nächtlichen Heimkommens in Handlungselemente oder äußere Stationen, die durch elliptische Nominalsätze wie reguläre Ich-Aussagen ausgedrückt werden.38 Dagegen konzentriert Schnitzler diese Episode durch größere Auslassungen, variiert durch Fragesätze die Skala der Satzarten und subjektiviert die Sprache durch Auslassungen und dialektale Formen zu einem knappen Bewusstseinsprotokoll: Wie lang’ hab’ ich denn geschlafen? – Muß auf die Uhr schau’n … Ich seh’ nichts … Wo sind denn meine Zündhölzeln? … No, brennt eins an? … Drei … (LG-HKA, D 538).
Wie Schnitzler den Prätext modifiziert, erhellt paradoxerweise aus einer Auslassung, der Ellipse von Gustls Schlaf. Auch Dujardins Held Daniel schläft im duftgeschwängerten Salon der Geliebten ein. Doch anders als Schnitzler übergeht Dujardin den Schlaf nicht, sondern gibt ihn als Traum bis zum Aufwachen wieder. Der erotische Wunschtraum des Daniel Prince unterscheidet sich von dem übrigen Monolog durch größere Diskontinuität und die Mischung von Erinnerung, Gegenwart und Vorbewusstsein. Damit ähnelt Dujardins Traumpassage sprachlich-stilistisch der Faktur von Schnitzlers Novelle. Während die lyrischen Liebesreflexionen durch mehrere dramatische Dialoge zu konventionellen Gedankenpassagen relativiert sind, deutet Dujardin im kurzen Traum Daniels die psychographischen Möglichkeiten des neuen Erzählverfahrens an. Schnitzler nimmt die Anregung auf und konstruiert seine Novelle ganz im Stile von Daniels Traum. Dabei gibt er durchgängig den vorbewussten Zustand seines Protagonisten wieder: Wahrnehmungen und Assoziationen, ›Sach- und Wortvorstellungen‹, wechseln sich ab und durchkreuzen sich in Gustls Projektion. Die ›Psychologik‹ des Lieutenant Gustl ist viel konsequenter als bei dem französischen Prototyp des Inneren Monologs. Denn Schnitzlers Innerer Monolog spiegelt nur den vorbewusst-bewussten Wachzustand, nicht aber das Unterbewusstsein: Von 37 38
Ebd., S. 136. Ebd., S. 51: »Meine Tür; öffnen wir; die Dunkelheit; die Streichhölzer sind an ihrem Platz; ich zünde eins an … Vorsicht … die Tür zum Salon; ich trete ein; der Kamin; der Kerzenleuchter ist dort; ich zünde die Kerze an; in den Aschenbecher das Streichholz.«
Die Bedeutung der Intertextualität
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Gustls Traumleben erfahren wir daher nichts – in der letzten handschriftlichen Fassung beschreibt Schnitzler ostentativ die Seite nicht weiter, auf der Gustl einschläft.39 4.2.
Figural motivierte Intertextualität
4.2.1. Gustls Kunst- und Literaturgeschmack Die im Text markierten Prätexte, die Theater- und Lektüreerlebnisse, die Gustl selbst ausdrücklich nennt, dienen als Identifikationsmuster und Wunschbilder. So stellt Madame-Sans-Gêne, das erfolgreiche Lustspiel von Victorien Sardou und Émile Moreau, an das sich Gustl gerne erinnert (LGHKA, D 516), gerade einem ›Lieutenant‹ einen gesellschaftlichen Aufstieg vor Augen. Denn Höhepunkt des Stücks ist das Wiedersehen der Titelheldin, der zur Marschallin aufgestiegenen ehemaligen Regimentswäscherin Cathérine Hubscher, mit dem Kaiser der Franzosen, der als armer Leutnant Napoleon ihr Schuldner blieb. Ähnlich dürfte Gustls Vorliebe für Giuseppe Verdis Oper La Traviata (LG-HKA, D 514) auf der identifikatorischen Verklärung der Liebe einer ›Sünderin‹ beruhen. Ein stilisiertes Selbstbild enthält schließlich auch Richard Wagners Oper Lohengrin, in der Gustl »zwölfmal d’rin gewesen« ist (LG-HKA, D 538). Denn der tugendhafte Schwanenritter, der als namenloser »Schützer von Brabant« im zum Gottesgericht ausgerufenen Zweikampf gegen Graf Friedrich von Telramund siegreich bleibt, ließ sich leicht zum Prototyp des ehrenvollen »Schützers« und »göttlichen Streiters« stilisieren und wurde bekanntlich auch für militärisch-nationalistische Zwecke missbraucht.40 Allerdings entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Lieutenant Gustl die Oper Lohengrin unter dem Dirigat Gustav Mahlers gesehen haben muss, der damit 1897 seine Leitung der Wiener Hofoper antrat.41 Gustls letzte Lektüre »Durch Nacht und Eis« (LG-HKA, D 544), verballhornt ist hier Fridtjof Nansens Bericht von seiner Polarexpedition (In Nacht und Eis [1897]), kann ebenfalls als Projektionsmuster eines moder39
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Vgl. Faksimile LG-HKA, H 153: Lieutenant Gustl [III] (FF C XIX, 2, Bl. 164 – Cambridge Schnitzler A 152, 3). Zur politischen Rezeption von Wagners Lohengrin-Oper, die wesentlich den europäischen Wagnerismus begründete, vgl. Jürgen Hotz (Hrsg.), Harenberg-Kulturführer Oper, Mannheim 2007, »Richard Wagner«, S. 698–749, s. v. »Lohengrin«, S. 714–718, hier S. 717f. Vgl. Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, Personenteil, Bd. 11 (Les–Men), Kassel und Basel 2004, s. v. »Gustav Mahler«, Sp. 813–855, hier Sp. 818.
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Lieutenant Gustl – Protokoll eines Unverbesserlichen
nen Helden gelten. Die kleinbürgerliche Redimensionierung heroischer Figuren und Konfigurationen, die in Gustls intertextuellen Bezügen zum Ausdruck kommt, bezeugt – wie zur Probe aufs Exempel – schließlich das Zitat aus Schillers Bürgschaft: »Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn –«. Dieses Treue-Bekenntnis des geläuterten Tyrannen banalisiert Gustl zum kreatürlichen Wohlbehagen: »Ah, gut schmeckt der Kaffee – doch kein leerer Wahn, das Frühstücken!« (LG-HKA, D 549f.). 4.2.2. Felix Mendelssohn-Bartholdys Paulus-Oratorium Wenig beachtet blieb bislang der Hinweis auf Paulus, ein Oratorium nach Worten der heiligen Schrift (1836), von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Das PaulusOratorium wurde zwar am 4. April 1900 im Wiener Musikverein aufgeführt,42 stellt aber weit mehr als ein bloßes Realitätsmerkmal dar. Es bestimmt den Eingang der Novelle, ist – erst in der Druckfassung – deutlich markiert (»Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschau’n … Ja richtig: Oratorium!« [LG-HKA, D 513]) und gibt mit der heiligen Handlung ein bezeichnendes Thema vor: die Wandlung des gemeinen Saulus zum Apostel Paulus und dessen Bereitschaft zum gottgefälligen Sterben. Der erste Teil des Oratoriums schildert die Steinigung des Heiligen Stephanus, bei der Saulus mitwirkt, und endet mit der Konversion des Sünders Saulus nach dem Lichtmysterium von Damaskus; der zweite Teil verklärt das Sterben des Paulus als Martyrium. Die letzten Worte des Schlusschors zitiert Gustl zustimmend: »›Ihr, seine Engel – lobet den Herrn …‹ – Freilich, das ist der Schlußchor. Wunderschön, da kann man gar nichts sagen. Wunderschön!« (LG-HKA, D 519). Das Damaskus-Thema, also Schuld, Krise und Wandlung, durchzieht leitmotivisch die gesamte Novelle. So ist die Episode der
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Vgl. Urbach, S. 105f., und William Collins Donahue, »Role of the Oratorium in Schnitzler’s ›Leutnant Gustl‹: Divine and Decadent«, in: New German Review, 5/6/1989/90, S. 29–42. In der Handschrift war das Geschehen noch auf den 17. April 1900 (LG-HKA, H 109) datiert, den Dienstag nach Ostern. Damit kollidiert allerdings eine andere Zeitangabe in der Handschrift: »Ja … Morgen ist Samstag …« (LG-HKA, H 118). Vermutlich hat Schnitzler erst in der nachträglichen Präzisierung des in der Handschrift nur andeutungsweise bezeichneten Oratoriums, das in der Handlungsskizze noch als Haydn-Oratorium spezifiziert war (»Orat. von Haydn!«, LG-HKA, S 1), die Daten korrigiert: Dem Passus: »Freilich … das ist der Schlusschor – « geht in der Handschrift ein eingeklammerter Hinweis »(Worte …)« voraus (LG-HKA, H 34), den Schnitzler wohl durch das wörtliche Zitat »Ihr, seine Engel, lobet den Herrn« ersetzen wollte.
Die Bedeutung der Intertextualität
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Frühmesse ebenfalls mit dem Oratorium verknüpft.43 Tatsächlich betritt Gustl eine Kirche, weil ihn die Orgelklänge anziehen. Zwar bleibt der Name der Kirche ungenannt, doch fügte sich meines Erachtens der Stephansdom noch besser in Gustls morgendliches Itinerar als die an der Praterstraße gelegene Emporenkirche St. Johann Nepomuk44 – werden doch gleich darauf der »Burghof« und der »Volksgarten« im Ersten Bezirk genannt. Für den Stephansdom als Ort von Gustls Kirchenbesuch spricht vor allem das bislang unbekannte genetische Argument, dass in der Texthandschrift der Klang der »Orgel […] aus der Kirche« Gustl so sehr zur »Frühmesse« lockt, dass er »jetzt in die Stephanskirche hineingehn« möchte.45 Auch wenn Schnitzler die präzise Bestimmung der Kirche wieder gestrichen hat, konstruiert bereits die Handschrift einen ursächlichen Zusammenhang der musikalischen Reminiszenz, die Gustl dann wieder aus der Kirche hinaustreibt, mit dem Oratorium.46 Da das Martyrium des Kirchenpatrons Stephanus Teil von Mendelssohn-Bartholdys Oratorium ist und implizit die Konversion des Saulus zu Paulus alludiert, bildet diese Reminiszenz ein weiteres Argument für den Stephansdom. Gustl scheint zudem ein gläubiger Katholik zu sein, obgleich seine zahlreichen, insgesamt 24 Nennungen Gottes in Wendungen wie »Herrgott« (LG-HKA, D 522), »Um Gotteswillen« (LG-HKA, D 522), »Gott sei Dank« (LG-HKA, D 520) und »Gott« (LG-HKA, D 534) fast ausschließlich floskelhaft sind. Auch wenn Reue und Zerknirschung durch die Zensur des Bewusstseins – kenntlich an der ›man‹-Form – zurückgedrängt werden, entschließt sich Gustl – im Pluralis maiestatis – Platz zu nehmen: Am liebsten läg’ ich da auf dem Steinboden und thät’ heulen … Ah nein, das darf man nicht thun! Aber Weinen thut manchmal so gut … Setzen wir uns einen Moment – (LG-HKA, D 544f.).
Als Gustl seine sentimentale religiöse Anwandlung im militärischen Befehlston bekämpft, assoziiert seine vorbewusste Erinnerung die Melodie des Orgelspiels mit dem Oratorium: 43
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Oratorium und Frühmesse sind durch Rückbezug wie Vorausdeutung verknüpft; so antizipiert Gustl während des Oratoriums den Kirchenbesuch: »Oratorium! Ich hab’ gemeint: Messe. Solch Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann« (LG-HKA, D 513). So der Vorschlag von Renner im Stellenkommentar. LG-HKA, H 191: Lieutenant Gustl [III] (FF C XIX, 2, Bl. 203 – Cambridge Schnitzler A 152, 3). LG-HKA, H 196–197: Lieutenant Gustl [III] (FF C XIX, 2, Bl. 208f. – Cambridge Schnitzler A 152, 3): »woran erinnert mich die Musik denn – heiliger Himel … gestern Abend … fort … fort … das halt ich gar nicht aus … der Gesang … –«.
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Aufsteh’n! – Woran erinnert mich die Melodie? – Heiliger Himmel! Gestern Abends – fort! fort! das halt’ ich gar nicht aus! … Pst! keinen solchen Lärm, nicht mit dem Säbel scheppern – die Leut’ nicht in der Andacht stören – so! – doch besser im Freien … licht … Ah! es kommt immer näher – wenn es lieber schon vorbei wär’ (LG-HKA, D 545).
Gustl erinnert sich wohl an den ersten Choral aus dem Paulus-Oratorium (Nr. 3). Denn ihm liegt als Text das Kirchenlied »Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’« zugrunde, die deutsche Version des »Gloria in excelsis«, das Bestandteil der heiligen Messe ist. Das »Gloria« »beginnt mit den Worten, mit denen die Engelscharen den neugeborenen Welterlöser feierten«.47 Es hängt somit eng zusammen mit dem Lobpreis Gottes im Schlusschor des Oratoriums, der das Martyrium des Paulus verklärt. Doch in der Frühmesse assoziiert Gustl nur die Melodie, nicht aber die Wandlung des gemeinen Saulus zum Apostel Paulus. Vielmehr wird das Damaskus-Erlebnis invertiert, wenn Gustl das Hinaustreten aus der Kirche zwar als Lichterscheinung erlebt, aber jeglicher Bekehrung widerstrebt. Das Paulus-Oratorium liefert somit einen semantisch bedeutungsvollen Subtext, den der Protagonist zwar registriert, aber in seiner Bedeutung, geschweige denn in seiner situativen Analogie verkennt. Vielmehr verfehlt und säkularisiert Gustl systematisch den heilsgeschichtlichen Sinn der Paulus-Legende: So ersetzt die aufgehende Morgensonne das göttliche Lichtmysterium, und wenn Gustl schließlich seine glückliche Rettung auf den Besuch der Kirche zurückführt, wirkt sein deplacierter Jubel über den unverhofften Tod des Bäckermeisters wie eine zynische Parodie auf das Dankgebet des Paulus, nachdem er wieder sehend geworden ist (Paulus-Oratorium, Nr. 20): »O, herrlich, herrlich! – Am End’ ist das Alles, weil ich in der Kirchen g’wesen bin …« (LG-HKA, D 551). Zur bedeutsamen Dialogizität trägt maßgeblich ein sekundärer Prätext von Kirchenszene und Morgenspaziergang im Lieutenant Gustl bei: Goethes Faust. Als Faust sich am frühen Morgen verzweifelt das Leben nehmen will, wird er durch tröstlichen »Glockenklang und Chorgesang« des Osterfests bekehrt und bekennt gerührt: »O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder! | Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!« (V. 783f.). Faust unternimmt seinen Osterspaziergang und trifft Mephistopheles in Pudelgestalt.48 Die Handlungszeit, die Macht der Kirchenmusik, aber auch die Inversion der religiösen Bekehrung markiert in verdeckter – narratorialer – Ironie den sekundären Prätext: »Was, geht schon die Sonne auf ? – Das wird heut’ ein schöner 47 48
Vgl. das Römische Meßbuch, Freiburg 1957, S. 449f. (s. v. »Ordo Missae«). Bereits Urbach, S. 104, regte an, den Lieutenant Gustl als »travestierten ›Osterspaziergang‹« zu betrachten.
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Fazit
Tag – so ein rechter Frühlingstag … ist doch eigentlich zum Teufelholen! –« (LG-HKA, D 543). Das intertextuell gestützte Thema der Wandlung und ihrer Negierung durchzieht thematisch die Novelle. So behauptet Gustl: »Ich spüre, daß ich jetzt wer Anderer bin als vor einer Stunde –« (LG-HKA, D 525), und meint rückblickend in einem anaphorischen Irrealis, eine nicht sexuell bestimmte Liebesbeziehung »hätt’ Einen beinah’ zu einem andern Menschen gemacht – da hätt’ man doch noch einen andern Schliff gekriegt – da hätt’ man einen Respect vor sich selber haben dürfen« (LG-HKA, D 533–534). In dem FaustBezug interferieren freilich die narratorial und figural motivierte Intertextualität. Möglicherweise ließ sich Schnitzler von der bedeutsamen Rolle der Musik in Schopenhauers Ästhetik leiten, das für die Novelle maßgebliche Wandlungsthema intermedial zu vermitteln. Denn nach Schopenhauer, mit dem sich Schnitzler eingehend beschäftigte, unterscheidet sich die Musik rezeptionsästhetisch dadurch von den übrigen Künsten, »daß sie auf den Willen, d.i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht, oder auch umstimmt«.49 Indem Schnitzler seinen Helden einer existentiellen Krise aussetzt, erprobt er die Validität von Schopenhauers Metaphysik der Musik. Tatsächlich scheint Gustl den »Willen zum Leben« heroisch überwunden zu haben, wenn er sich aus Selbstachtung zum Freitod selbst für den Fall entschließt, dass sein Beleidiger stürbe: »[u]nd wenn ihn heute Nacht der Schlag trifft, so weiß ich’s … ich weiß es … Ich bin nicht der Mensch, der weiter den Rock trägt und den Säbel, wenn ein solcher Schimpf auf ihm sitzt!« (LG-HKA, D 527). Die ironische Vorausdeutung, mit der Gustl eben genau das glückliche Ende negiert, das ihn später als »Mordsglück« begeistert, markiert fast überdeutlich, wie stark der Wille zum Leben ist und wie schwach die Wirkung von Kunst und Musik: »Die Hauptsach’ ist: er ist todt und ich darf leben und Alles g’hört wieder mein!« (LG-HKA, D 552).
5.
Fazit
Schnitzlers Erzählexperiment protokolliert das Vorbewusstsein eines ›gemeinen Mannes‹. Intertextuelle Assoziationen, die Lektüren und Theatervorlieben evozieren, bezeugen seine Neigung zur romantisch-sentimentalen 49
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II (Ergänzungen zur Metaphysik der Musik), Ludger Lütkehaus (Hrsg.), Zürich 1988, S. 521.
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Lieutenant Gustl – Protokoll eines Unverbesserlichen
Selbststilisierung. Zentraler Prätext in Schnitzlers erzählerischer Versuchsanordnung ist allerdings Felix Mendelssohn-Bartholdys Paulus-Oratorium. Allerdings interferieren in diesem Prätext narratorial und figural motivierte Intertextualität, denn die Bedeutung dieses Prätexts erschließt sich dem gebildeten Leser mehr als dem Protagonisten. Wie sich Paulus, der Titelheld von Mendelssohn-Bartholdys Oratorium, nach seinem Damaskus-Erlebnis vom Christenverfolger Saulus zum Apostel wandelt, so scheint sich auch Schnitzlers außengeleiteter Protagonist aus einer existentiellen Krise heraus zu läutern. Doch das glückliche Ende zeigt ihn – ästhetisch und ethisch immun – trotz der Krise unverändert: Aus Gustl wird kein Paulus, der einmal Saulus war, sondern Gustl bleibt am glücklichen Ende derselbe, der er zu Beginn war: ein unverbesserlicher Jedermann.
103
V.
Andreas Thameyers letzter Brief (1902) Eine intertextuelle Parodie auf das ›Versehen der Frauen‹
Andreas Thameyers letzter Brief ist eine der merkwürdigsten Brieferzählungen Arthur Schnitzlers. Sie entstand in wenigen Tagen Anfang Februar 1900 und erschien erstmals in der Zeit vom 26. Juli 1902. Schnitzler schätzte diese Erzählung so sehr, dass er sie in seine Novellensammlungen Die griechische Tänzerin (1905) und Dämmerseelen (1907) aufnahm.1 Lange wurde der fiktive Abschiedsbrief, in dem ein Wiener Ehemann seinen Freitod rechtfertigt, nachdem seine Frau ein dunkelhäutiges Kind zur Welt gebracht hat, in der Forschung kaum beachtet.2 Erst in jüngerer Zeit ist die Novellette aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ›wiederentdeckt‹ worden, vor allem wegen ihrer extratextuellen Referenz auf das ›NegerDorf‹, das anlässlich der Weltausstellung 1896 im Wiener Tiergarten im Prater gezeigt wurde. Darin lebten knapp 70 Angehörige des westafrikanischen Aschanti-Stammes und befriedigten drei Monate lang die Schaulust von knapp einer halben Million Zuschauer.3 Die Schönheit der afrikanischen Kindfrauen begeisterte vor allem Schnitzlers Zeitgenossen Peter Altenberg. Altenberg schlug selbst im ›Eingeborenendorf‹ sein Lager auf und verherrlichte die Afrikanerinnen in impressionistischen Prosaskizzen unter dem Titel Ashantee (1897). Eine Photographie, die zwei barbusige afrikanische Mädchen zeigt, ziert den Bucheinband und weist damit ebenso auf die Gegenwelt freier Liebe hin, zu der Altenberg das Afrikanerdorf stilisiert, wie die gedruckte Widmung: »Meinen schwarzen Freundinnen, den unvergesslichen ›Paradies-Menschen‹ Akolé, Akóshia, Tioko, Djôjô, N¯ah-Badûh«. In rhythmisierten Prosa-Miniaturen und fragmentarischen 1
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Der Erstdruck in: Die Zeit, 8, Bd. 32, Nr. 408 vom 26. Juli 1902. Ihm folgen, von geringfügigen Differenzen in der Zeichensetzung abgesehen, die Wiederabdrucke: In: Arthur Schnitzler, Die griechische Tänzerin. Novellen, Wien 1905, S. 63–79, in: Arthur Schnitzler, Dämmerseelen. Novellen, Berlin 1907, S. 121–132 [Schlusserzählung], und in: Die Quelle. Monatsschrift für Literatur, Kunst und Theater, 4/1911, Heft 9/10, S. 9–13. Aus der älteren Forschung angeführt sei lediglich die knappe Würdigung bei Richard Specht, Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk. Eine Studie, Berlin 1922, S. 220–222. Vgl. die Angaben bei Werner Michler, Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859–1914, Wien (u. a.) 1999, S. 351–354.
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Andreas Thameyers letzter Brief
erotischen Dialogen verklärt Altenberg die natürliche Freizügigkeit der Ashantee-Mädchen, selbst in der Zurückweisung käuflicher Liebe.4 Indirekt deutet er auch sexuelle Kontakte der männlichen Afrikaner an, wenn er »die Hütte der ›jungen Herren‹« beschreibt: »Die Hütte ist leer. Die jungen Herren sind Abends in die Stadt gegangen. Wann kehren sie zurück?! Was werden sie erleben?! Niemand weiss es. Die Hütte der jungen Herren ist leer«.5 Ein zeitgenössischer Rezensent lobte Altenbergs Kulturkritik in seiner Idealisierung der Aschanti als »›Paradiesmenschen‹«.6 Auf eben dieses ›Neger-Dorf‹ im Prater bezieht sich Andreas Thameyers letzter Brief. Arthur Schnitzler selbst zählte auch zu den Schaulustigen. Er besuchte die »Aschantis« mindestens einmal gemeinsam mit Felix Salten und sah dort Peter Altenberg.7 Die jüngere Forschung erachtet Schnitzlers Brieferzählung wie Altenbergs Ashantee-Skizzen für paradigmatische Belegstücke des Exotismus in der Moderne, der Faszination wie Abwehr des ›Fremden‹ in Wien um 1900. Mit Andreas Thameyers letztem Brief eröffnet Stephan Dietrich seine Beispielreihe literarischer Exotismen zu Beginn des 20. Jahrhunderts,8 als Paradigma der Alteritätsproblematik ordnet sie Peter Schnyder in das »diskursive Netzwerk« von Kolonialismus und Medizin ein, ohne freilich die im Brief genannten Belegstücke des ›Versehens‹ quellenkritisch zu mustern, geschweige denn ihre literarische Integration zu untersuchen.9 Besser gelingt 4
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Vgl. Peter Altenberg, »L’Homme médiocre«, in: Ashantee, Berlin 1897, S. 52f., wo sich ein »fremder Herr« dafür interessiert, wie »man […] junge schwarze Mädchen kaufen« könne. Zudem ist in dem Lexikonartikel, der den Prosaskizzen vorgeschaltet ist, ausdrücklich erwähnt, dass bei den Aschanti »Vielweiberei herrscht« (ebd., S. 3f.). Peter Altenberg, »Die Hütten (Abends)«, in: Ashantee, Berlin 1897, S. 20f., hier S. 21. Max Messer, »Peter Altenberg und sein neues Buch ›Ashantee‹«, in: Wiener Rundschau, 1/1897, S. 540–543, hier S. 540f.: »an diesen ersten Menschen können wir lernen, wie viel in unserem Verkehr verlogen, unaufrichtig, falsch oder halb empfunden ist – also wahrhafter werden; an diesen Negern können wir lernen, wie viele unserer Bedürfnisse unnöthig zu einem heiteren, zufriedenen Leben seien, wie einfach und natürlich auch der homo sapiens leben kann – also freier werden.« Vgl. Tgb 17. 09. 1896: »Mit [Felix] Salten Aschantis (dort Peter Altenberg).« Stephan Dietrich, »Der Wilde und die Großstadt. Literarische Exotismen von Altenberg bis Claire Goll«, in: Kristin Kopp (Hrsg.), Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. Text – Politik – Repräsentation, Stuttgart und Weimar 2004, S. 201–220; auf Schnitzlers Novelle beziehen sich nur die knappen und oberflächlichen Ausführungen auf S. 201f. Peter Schnyder, »Im Netz der Bedeutung: Arthur Schnitzlers Erzählung ›Andreas Thameyers letzter Brief‹ in kulturwissenschaftlicher Perspektive«, in: Uwe Japp/ John A. McCarthy/Marijan Bobinac (Hrsg.), Epochenbegriffe: Grenzen und Möglichkeiten, Bern (u. a.) 2002, S. 419–425.
Textgenese
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Imke Meyers Versuch, Andreas Thameyers letzten Brief diskurshistorisch zu kontextualisieren und gleichzeitig die narrative Vermittlung zu berücksichtigen.10 Allerdings blendet Meyer in ihrer Studie die zentralen intertextuellen Aspekte völlig aus. Der Literarizität eher gerecht werden die älteren Studien von Martin Swales, Maja Reid und Bernard Dieterle.11 Während Dieterle vor allem die metapoetischen Bezüge der Novellette im Kontext von Schnitzlers Leben und Werk (Schreiben am Rande des Todes) deutet, betonen Swales und Reid ihre kompositionelle Affinität zum Lieutenant Gustl. Die narrative Analogie lässt sich durch die Textgeschichte stützen.
1.
Textgenese
Im Nachlass sind drei handschriftliche Entwürfe überliefert. Sie zeigen insofern eine kompositionelle Nähe zum Inneren Monolog, als sie noch weniger brieftypisch als die Druckfassung einsetzen und mehr einem Gedankenprotokoll ähneln. Der erste Entwurf, eine einseitige Skizze, präsentiert den Eingang eines Abschiedsbriefes, der die Ausgangssituation explizit schildert und drastisch benennt (Abb. 3): Ein Brief. Ich muss mich tödten … Keiner wird mir glauben, dass meine Frau mich nicht mit jenem Beduinen betrogen – da sie ein dunkles Kind hat, u[nd] ich weiss, nur weil ich ihr die Eifersuchts scene machte . .12
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Imke Meyer, Männlichkeit und Melodram. Arthur Schnitzlers erzählende Schriften, Würzburg 2010, bes. S. 75–102. Vgl. Martin Swales, Arthur Schnitzler. A Critical Study, Oxford 1971, S. 93–97, Maja D. Reid, »›Andreas Thameyers letzter Brief‹ and ›Der letzte Brief eines Literaten‹«. Two Neglected Schnitzler Stories«, in: The German Quarterly, 45/1972, S. 443– 460, und Bernard Dieterle, »›Keineswegs kann ich weiterleben‹ – Figurationen des Schreibens bei Arthur Schnitzler«, in: Modern Austrian Literature, 30/1997, S. 20–38. Andreas Thameyers letzter Brief [I] (FF C XXII, 2, Bl. 3 – Cambridge Schnitzler A 153, 1) [Die Zeilenumbrüche folgen dem Entwurf].
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Andreas Thameyers letzter Brief
Abb. 3: Andreas Thameyers letzter Brief. Erster Entwurf (Cambridge Schnitzler A 153, 1).
Textgenese
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Der zweite Entwurf, eine einseitige, schwer leserliche Bleistiftskizze, deren Umschlag den Titel »Der Beduine« trägt, greift die Affektvehemenz des Briefanfangs aus dem ersten Entwurf auf. Zwar wird der Grund des Freitods noch nicht genannt, aber zusätzlich wird ein Brieffund fingiert, um durch diesen Rahmen den Abschiedsbrief zu beglaubigen (Abb. 4): Ja . . nun geht es nicht anders – ich muss es thun . . Wenn ich es gethan hab . . wird man mir glaub[en] … oder ihr … Njedes Worzahl [t] daM … die Leut verhohnen mich und sie. Nein – so geht es nicht weiter Ich muss sterben … Aber ich möcht es nied[er] schreiben . . sonst glaubt man erst recht, ich hab mich getödtet … weil ich nicht glau[be] … Er wird zll u nur nied [er]schreiben, wie u wo er fallt … (diesen Brief fand man in seiner Rocktasche … Nun aber wird man es mir zwohlu glauben müssen dass ich in den Tod geh …13
Der dritte Entwurf, eine stark überarbeitete Bleistiftskizze von 43 Blättern, datiert vom 7. Februar 1900, führt den Abschiedsbrief aus und nähert die Form noch stärker einem Gedankenprotokoll an. Allerdings ist der Entschluss zum Freitod gedämpft und der Grund wird im Incipit nurmehr angedeutet: Es ist sehr wohl überlegt … ich muß es thun … Wenn ich es gethan habe, wird man xxx zes miru wohl glauben müssen … und alles ist gut. So kann ich nicht weiterleben zKeineswegs werde ich weiterlebenu … denn wenn ich weiterlebe … würden die Leute höhnen … und niemand würde die Wahrheit erfahren …14
Der dritte Entwurf führt die Brieffund-Fiktion des zweiten Entwurfs weiter aus. Es finden sich sogar gleich zwei entsprechende Schlussvarianten: eine gestrichene wie eine überarbeitete Version. Dabei gilt das offene Ende des eigentlichen Brieftexts für beide Schlussvarianten: Das Ende des Briefes lautet: »Nun gehe ich noch hinein … und küsse mein Kind auf die Stirn … meine Frau auf die Lippen: da[nn] hinaus … und … fort. – «.15 Abgetrennt durch einen Strich, folgen danach erst die Schlussvarianten (Abb. 5): 13
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Andreas Thameyers letzter Brief [II] (FF C XXII, 2, Bl. 4 – Cambridge Schnitzler A 153, 2). Andreas Thameyers letzter Brief [III] (FF C XXII, 3, Bl. 5 – Cambridge Schnitzler A 153, 3, Bl. [1]). Die letzte Seite des Entwurfs trägt das Datum 9. Februar 1900. Da ein Blatt doppelt beschrieben ist, umfasst der Entwurf insgesamt 44 Seiten. Andreas Thameyers letzter Brief [III] (FF C XXII, 3, Bl. 47f. – Cambridge Schnitzler A 153, 3, Bl. [41] f.).
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Abb. 4: Andreas Thameyers letzter Brief. Zweiter Entwurf (Cambridge Schnitzler A 153, 2).
Andreas Thameyers letzter Brief
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So war der Wortlaut des Briefes den man zam wunderbar Sommermorgenu Dinst [ag] den 18. Juni in der Tasche des zeinesu noch jung[en] Mannes fand, der im Wien[er] Wald, ganz nah der Rohrerhütte16
In der zweiten Schlussvariante, die vom 9. Februar 1900 datiert, ist der fiktive Paratext, die Fundepisode, noch detaillierter ausgestaltet (Abb. 6): So war der Wortlaut ein Briefes, den zzwei u Ausflügler an z7. Juni ein sehru ei[nem] wunder Sommermorgen im Wienerw [ald] auf dem Rasen fanden auf dem Ras[en] lieg fanden. Sie erschrak[en] sehr, als sie in nächster Nähe ein[en] jung[en] Mann auf ztodtu am Ast hängen sahen, und sprachen noch Abend im Wirtshaus von dem unerfreulich[en] Abenteuer› konnt sich NlangM17
Für den Druck hat Schnitzler dagegen ganz auf ein Postskriptum verzichtet, das den Fund des Briefes durch einen fiktiven Herausgeber erklärt und den im Brief angekündigten Selbstmord Thameyers beglaubigt. Warum dieses topische Gattungsmerkmal des literarischen Briefs weggefallen ist, lässt sich nur mutmaßen.18 In der Druckfassung endet der Brief allerdings nicht mehr offen, sondern mit einem sentimentalen Abschiedsgestus: der Ankündigung, Kind und Ehefrau ein »letztes Mal« zu küssen – ohne die Zärtlichkeit zu »Kind« und »Frau« zu differenzieren – sowie mit einer prägnanten Grußformel: Gute Nacht, meine Lieben. Nun geh’ ich noch einmal ins Nebenzimmer und küsse mein Kind und meine Frau zum letzten Mal – dann geh’ ich fort. – Lebt wohl (EI, 520).
Der scheinbar gefasste Schluss erweist sich jedoch als ambivalent. Zum einen ist die zyklische Abschiedsformel: »Gute Nacht, meine Lieben […] Lebt wohl« keineswegs harmlos, sondern verbrämt euphemistisch den 16
17
18
Andreas Thameyers letzter Brief [III] (FF C XXII, 3, Bl. 48 – Cambridge Schnitzler A 153, 3, Bl. [42]). Andreas Thameyers letzter Brief [III] (FF C XXII, 3, Bl. 49 – Cambridge Schnitzler A 153, 3, Bl. [43]). Blieb der Hinweis auf einen Abschiedsbrief in den frühen Titelgebungen noch unklar – in der ersten Skizze noch »ein Brief«, im zweiten Entwurf »Der Beduine« –, macht der neue Titel »Andreas Thameyers letzter Brief« ein Herausgebernachwort überflüssig.
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Andreas Thameyers letzter Brief
Abb. 5: Andreas Thameyers letzter Brief. Dritter Entwurf, erste Schlussvariante (Cambridge Schnitzler A 153, 3, Bl. [42]).
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Abb. 6: Andreas Thameyers letzter Brief. Dritter Entwurf, zweite Schlussvariante vom 9. Februar 1900 (Cambridge Schnitzler A 153, 3, Bl. [43]).
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angekündigten Freitod, indem sie stilistisch und in der Wortwahl den Typus des christlichen Sterbelieds imitiert.19 Zum andern ist aber der Adressatenbezug der Grußformeln unklar, da die Apostrophe an »meine Lieben« der neutralen Bezeichnung von »Kind« und »Frau« widerspricht. Diese ambivalente Referenz stellt das Ende des scheinbar klar abgeschlossenen Briefs in Frage und sorgt für einen offenen Schluss. Aus den Änderungen von Anfang und Schluss wird klar, dass Schnitzler im Laufe der Arbeit an der Brief-Novellette die paratextuellen Authentifizierungsstrategien getilgt hat, um im Gegenzug die Brieferzählung selbst zu komplizieren und ohne jegliches Beiwerk als ambivalenten Text, eine implizite Entkräftung des Behaupteten, zu präsentieren. Die folgende Analyse der narrativen Struktur knüpft an die Studien von Swales, Reid und Abraham an, die zwar die Ambiguität der Ich-Erzählung hervorgehoben und auf die Diskrepanz von Gesprochenem und Gemeintem hingewiesen haben,20 ohne jedoch das ›unzuverlässige Erzählen‹ in Andreas Thameyers letztem Brief systematisch zu bestimmen und die Funktion der figuralen intertextuellen Bezüge zu erschließen. Die Faktur des unzuverlässigen Erzählens soll nach einer Strukturanalyse genauer untersucht werden. Dann werden die starken intertextuellen Bezüge, die bislang unterbestimmt blieben, gemustert, da sie für den sogenannten ›zweiten Text‹, die ›verschwiegene Geschichte‹, eine entscheidende Rolle spielen. Anschließend wird die so ermittelte Dialogizität von Andreas Thameyers letztem Brief werk- und kulturgeschichtlich eingeordnet.
2.
Struktur und Unzuverlässiges Erzählen
Für die Annahme, dass der Ich-Erzähler Andreas Thameyer unzuverlässig ist, sprechen bereits Anlass und Inhalt des Briefes. Vorgeblich handelt es sich um einen Abschiedsbrief, in dem der Briefschreiber ankündigt, durch seinen 19
20
Vgl. etwa den »Abschied eines Sterbenden [Sterbelied]«, in: Christliches Gesangbuch für die evangelisch protestantische Kirche des Großherzogthums Baden, Nr. 535, Karlsruhe 1836, S. 298f. Die Strophen 5 bis 7, die dem Abschied von den Familienmitgliedern gewidmet sind, sind sämtlich gerahmt durch die Grußformeln: »Lebt wohl« und »Gute Nacht!« Sowohl Swales, Arthur Schnitzler, S. 93–97, als auch Reid, »›Andreas Thameyers letzter Brief‹ and ›Der letzte Brief eines Literaten‹«, S. 443–460, vergleichen das ›einstimmige‹ Erzählen Thameyers mit dem inneren Monolog des Lieutenant Gustl. Den Vergleich erneuert – mit den Kategorien von Gérard Genette – hat Bénédicte Abraham, »Discours de la folie raisonnante dans ›Andreas Thameyers letzter Brief‹«, in: Michel Vanoosthuyse (Hrsg.), Crises allemandes de l’identité, Montpellier 1998 (Bibliothèque d’Etudes Germaniques et Centre-Européennes, 3), S. 35–48.
Struktur und Unzuverlässiges Erzählen
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Freitod die Ehre seiner Frau retten zu wollen. Doch wecken die Gründe, die er vorbringt, Zweifel an der Wahrhaftigkeit und hehren Absicht. Denn nachdem seine Frau 14 Tage zuvor ein dunkelhäutiges Kind geboren hat, ist nicht nur deren guter Ruf bedroht, sondern auch der Ehemann ins Gerede gekommen. Infolge dieses Zwangs zur doppelten Rechtfertigung enthält Thameyers Abschiedsbrief auch latente Vorwürfe gegen seine Gattin. Der Abschiedsbrief, der einen Besuch der Ehefrau an einem Augustabend im Tiergarten des Praters, »wo Neger ihr Lager aufgeschlagen hatten« (EI, 518), als ›Versehen‹ verharmlost, ist undatiert. Die im Nachlass überlieferten Schlussvarianten des Erzählerberichts datieren dagegen den Fund des Briefes in der Tasche eines Selbstmörders präzise (»18. Juni« bzw. »7. Juni«) und widerlegen somit Thameyers Behauptung, seine Frau sei bereits schwanger gewesen, bevor sie im Spätsommer des Vorjahres sich in die Schwarzen ›versah‹.21 Damit wird auf die antike Theorie der Telegonie, der ›Fernzeugung‹, angespielt, welcher der Glaube zugrunde liegt, außergewöhnliche Wahrnehmungen und Eindrücke von Schwangeren könnten die Bildung des Fötus beeinflussen.22 Der Text weist keinen einzigen Absatz auf und ähnelt einem erregt-atemlosen Gedankenprotokoll. Dies bekundet schon die Inversion des ersten Satzes, welche die Ausweglosigkeit des Briefschreibers verdeutlicht: »Keineswegs kann ich weiterleben« (EI, 514). Zwar wird die ›Vorgeschichte‹ in chronologischem Verlauf wiedergegeben, doch lassen zahlreiche Wiederholungen, Assoziationen, Ellipsen, Aposiopesen, Anakoluthe, Auslassungen 21
22
Anna muss den Tiergarten vor dem September des Vorjahres besucht haben, da der Ich-Erzähler ausdrücklich bekundet, »selbst diese Leute später […], im September nämlich«, gesehen zu haben (EI, 518). Die im Volksaberglauben verankerte Theorie des ›Versehens‹ erfuhr gerade um 1900, als sie wissenschaftlich endgültig widerlegt war, eine »literarische Renaissance«; vgl. dazu die motivgeschichtliche Studie von Franz K. Stanzel, Telegonie – Fernzeugung. Macht und Magie der Imagination, Wien, Köln und Weimar 2008. – Schnitzler hat dieses Motiv auch an anderer Stelle verwandt. So lobt »der tapfere Cassian« Sofiens Schönheit, indem er ihrer Mutter ein Versehen andichtet: »Wir wollen nicht daran zweifeln, Fräulein, daß Ihre Mutter nach ihrem besten Wissen tugendhaft gewesen; aber schwören will ich, daß sie sich, während sie Euch unter dem Herzen trug, an der heidnischen Göttin Venus selbst verschaut hat, die ihr wohl im Traum erschienen sein mag. Solches widerfährt den ehrbarsten Frauen; ich selber war zu dem Traum einer vornehmen Dame geladen, der ein Mohrenfürst erschien und die ein kohlrabenschwarzes Mägdelein auf die Welt brachte!« (Arthur Schnitzler, »Der tapfere Cassian«, in: Gesammelte Werke, Die Dramatischen Werke, Bd. 3, Frankfurt/M. 1962, [D I], S. 856–871, hier S. 865). Auf diese Parallele, die in der Forschung unbeachtet blieb, wies bereits Theodor Reik, Arthur Schnitzler als Psycholog, Minden 1913, S. 91, hin.
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Andreas Thameyers letzter Brief
und Korrekturen eher an einen Inneren Monolog als an einen Brief denken. Während eine einleitende Anrede fehlt, schließt der Text mit der Abschiedsformel »Lebt wohl«, jedoch ohne Unterschrift des Briefschreibers. Obwohl äußerlich ungegliedert, lässt sich der briefliche Redeschwall inhaltlich grob strukturieren. Thameyers Brief gliedert sich in drei Sinnabschnitte, denen sich jeweils ›Ihr‹-Anreden anschließen, die mit Apostrophen weiterer Adressaten (Ehefrau, Angehörige, Schwägerin Fritzi) kombiniert sind. Zudem strukturieren Rekurrenzen das Redekontinuum. So werden in allen drei Teilen die wissenschaftlichen Autoritäten des ›Versehens‹, Hamberg und Limböck, zitiert, begegnet durchgängig das Verbpaar ›höhnen‹ und ›lachen‹, und das Adjektiv ›treu‹, Zentralbegriff des Briefes, kommt in allen drei Teilen sogar jeweils zweimal vor. Der erste Abschnitt enthält historische Fallbeispiele, die das ›Versehen der Frauen‹ verbürgen sollen. Im zweiten Abschnitt rechtfertigt der Briefschreiber seinen Freitod mit ›seiner‹ Geschichte und dem Hohn und Spott seiner Umgebung, die ihn nach der Geburt eines dunkelhäutigen Kindes verfolgen. Dagegen rekapituliert er im dritten und abschließenden Teil die Version seiner Frau von ihrem kritischen Aufenthalt im Tiergarten im Prater, wo 1897 ein Lager der Aschanti-Neger aufgebaut war. Im ersten Abschnitt reiht Thameyer seinen eigenen ›Fall‹ sechs angeblich verbürgten Präzedenzfällen an, die das ›Versehen der Frauen‹ unter Beweis stellen: […] und es sind beglaubigte, wissenschaftlich feststehende Tatsachen, die darin erzählt werden, und ebenso beglaubigt ist die Tatsache, die ich selbst erlebt habe, oder vielmehr mein gutes Weib, das mir treu gewesen ist, so wahr ich in diesem Augenblick noch lebe! (EI, 515).
Doch die überfigurierte Wahrheitsbeteuerung läuft leer, weil die pleonastischen Beschwörungen (»beglaubigte, wissenschaftlich feststehende Tatsachen«) und paronomastischen Parallelismen (»beglaubigte […] Tatsachen« / »beglaubigt ist die Tatsache«, »selbst erlebt« / »so wahr ich […] lebe«) unschwer als bloße Persuasionsrhetorik kenntlich sind, zumal die verräterische correctio (»oder vielmehr«) die Unglaubwürdigkeit der Euphemismen wie des konventionellen Epitheton (»mein gutes Weib«) entlarvt. Schließlich wirkt es eher grotesk als überzeugend, dass ausgerechnet ein Selbstmörder mit seinem Leben für die Treue seiner Frau bürgt. Diese Ambivalenz bildet die Überleitung zur ersten Apostrophe, die der eigenen Frau gilt: Wirst du mir verzeihen, liebe Gattin, daß ich nun sterben gehe? Siehe, du mußt es tun. Es ist ja nur aus Liebe zu dir, daß ich sterbe, denn ich kann es nicht ertragen, daß die Leute höhnen, daß sie dich verlachen und mich! Nun werden sie wohl aufhören zu lachen, nun werden sie es verstehen, wie ich es verstehe. Ihr, die ihr mich, die ihr diesen Brief finden werdet, wisset, daß sie, während ich dieses schreibe,
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in dem Zimmer nebenan schläft, ruhig schläft, wie man nur mit gutem Gewissen schlafen kann; und ihr Kind – unser Kind, das nun vierzehn Tage alt ist, liegt in der Wiege neben dem Bett und schläft gleichfalls (EI, 515).
Der hohe Stil der einleitenden Frage wird durch den inadäquaten Austriazismus ›sterben gehen‹ im folgenden ›Daß‹-Satz relativiert. Noch entwaffnender ist die hochtrabende Lakonik, welche keinen Hehl daraus macht, dass der Ehefrau gar keine Wahl bleibt (»Siehe, du mußt es tun«). Ebenso unglaubwürdig wirkt die Begründung der nachfolgenden Liebesbeteuerung (»Es ist ja nur aus Liebe zu dir, daß ich sterbe«). Denn im nachgereichten »und mich« verrät der Briefschreiber, dass es ihm mindestens ebenso sehr um die eigene Ehre geht wie um die Reputation seiner Ehefrau. So fällt Thameyer auch aus der Rolle, weil er den Adressaten des vorgeblich intimen Abschiedsbriefes ändert: Er wechselt unversehens in die ›Ihr‹-Anrede, in der Hoffnung, durch seinen Freitod die höhnenden »Leute« zum Schweigen zu bringen. Das anaphorische »nun«, die paronomastische Wiederholung (»nun werden sie es verstehen, wie ich es verstehe«), die ausmalende Präzisierung (»schläft, ruhig schläft, wie man nur mit einem guten Gewissen schlafen kann«), vor allem aber die verräterische correctio, die den Säugling erst in einem zweiten Anlauf als das gemeinsame Kind anerkennt (»ihr Kind – unser Kind«), zeigen, wie stark die Zweifel am Sprecher nagen, und erklären die Affektvehemenz der Rede als klassischen Abwehrkonflikt. Im zweiten Teil erklärt der Ich-Erzähler in metanarrativen Reflexionen, warum er »so genau« schreibe: »Damit man nicht meint, ich sei wahnsinnig … nein, es ist wohlüberlegt, und ich bin vollkommen ruhig« (EI, 516). Neben solchen Versicherungen seiner Zurechnungsfähigkeit klärt der Briefschreiber seine Identität und die Vorgeschichte seiner Ehe auf: Ich heiße Andreas Thameyer, bin Beamter in der österreichischen Sparkassa, vierunddreißig Jahre alt, wohnhaft Hernalser Hauptstraße Nr. 64, verheiratet seit vier Jahren. Ich habe meine Frau sieben Jahre gekannt, ehe sie meine Gattin wurde, und sie hat zwei Bewerber ausgeschlagen, weil sie mich liebte und auf mich wartete: einen Kommissär mit 1800 Gulden Gehalt, und einen sehr schönen jungen Kandidaten der Medizin aus Triest, der als Zimmerherr bei ihren Eltern wohnte, man merke auf! – ausgeschlagen um meinetwillen, obzwar ich weder schön, noch reich war, und obwohl sich unsere Heirat von Jahr zu Jahr verzögerte (EI, 516).
Die langwierige Vorgeschichte von sieben Jahren lässt Thameyers Ehe nicht als Liebesheirat, sondern ihn als dritte Wahl erscheinen.23 Denn dass seine 23
Dieterle, »Figurationen des Schreibens«, S. 23, verweist auf eine schlagende Parallelstelle in Schnitzlers Entwürfen aus dem Jahr 1900: »Er heiratet sie, nach sieben Jahren. Sie verzeiht es ihm nie, dass er sie so spät geheiratet hat« (EuV, S. 228).
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Frau um seinetwillen zwei Rivalen »ausgeschlagen« habe, wirkt trotz oder gerade wegen der bekräftigenden Wiederholung nicht überzeugend. Die detaillierten Vorzüge der »Bewerber« bekunden im Gegenteil noch nachträglich Thameyers Minderwertigkeitsgefühl. Nur scheinbar auf die Wahl seiner Person zum Bräutigam bezieht sich die Aufmerksamkeitspartikel (»man merke auf!« [EI, 516]) in dem langen Satzbogen: Sie verweist vielmehr wie ein unfreiwilliger Versprecher auf den Umstand zurück, dass der zweite Bewerber, ein »sehr schöne[r] junge[r]« Südländer, im Hause der Braut lebte, eine Hervorhebung, die eher auf den Verdacht des Briefschreibers schließen lässt, seine Frau habe eine voreheliche Beziehung mit dem Untermieter gehabt. So schlägt das Argument der vorgeblichen Standhaftigkeit seiner Frau ins Gegenteil um. Wenn der Briefschreiber in seiner erneuten Beschwörung der ehelichen Treue seiner Frau einen fiktiven Dialog mit den imaginären Anklägern führt, dramatisiert er seine Rede durch das Zeitadverb ›nun‹ und wechselt er unversehens in eine ›Ihr‹-Apostrophe, wie sie für alle drei Sinnabschnitte typisch ist. Die prophetische Formel »ich sage euch« dient – wie zuvor »siehe« – der Selbstberuhigung: Aber nun werden sie alle verstummen … ja nun werden sie alle sagen: wir haben unrecht getan, wir sehen es ein, deine Frau ist dir treu gewesen, und es war gar nicht notwendig, daß du dich umbringst … Aber ich sage euch: es ist notwendig! Denn solange ich am Leben bliebe, würdet ihr weiter höhnen, ihr alle (EI, 516).
Von der pauschalen Verurteilung seiner Umgebung nimmt Thameyer ausdrücklich nur den Hausarzt Doktor Brauner aus, den er einzig in direkter Rede wörtlich zitiert. Ihm fühlt sich der Briefschreiber, ohne dass er die ironische Referenz des Namens auf die Hautfarbe des neugeborenen Kindes bemerkt,24 zu Dank verpflichtet, weil der Arzt ihn mit Büchern versorgt »von Limböck […] und andere[n] über das Versehen der Schwangeren« (EI, 516). Sie sollen, wie eine zweite Apostrophe an die Angehörigen mitteilt, dem Arzt rückerstattet werden, da sie ihn wesentlich darin bestärkt hätten, sein eigenes Misstrauen zu überwinden und sich selbst immer wieder zu ermahnen. Beschwörende Wiederholungen des Personalpronomens »mir« (Dativ ethicus) und des Possessivpronomens (»meine Frau«, »mein Kind«) vermitteln die sprachliche Technik solcher Autosuggestion: […] meine Frau ist mir treu gewesen, und das Kind, das sie mir geboren hat, ist mein Kind. Und daß es eine so eigentümliche Hautfarbe hat, werde ich nunmehr auf einfachste Weise erklären (EI, 517).
24
In der Sekundärliteratur hat die Namensironie von »Doktor Brauner« lediglich Bernard Dieterle, »Figurationen des Schreibens«, S. 36, bemerkt.
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Anschließend schildert Thameyer einzelne Reaktionen seiner Umgebung, von der er sich verachtet wähnt. Die Reihe der Personen, die mit Verwandten beginnt (Onkel, Mutter) und über Nachbarn und Hausgenossen (Hausmeister, Köchin) bis zu entfernteren Personen reicht (Spezereihändler an der Ecke, anonyme Fahrgäste im Stellwagen), lässt in ihrer Antiklimax an der Zuverlässigkeit von Thameyers Wahrnehmungen zweifeln. Auch nimmt die präzise Manifestation von Mimik und Gestik ab, die Thameyer als Verhöhnung seines angeblichen Hahnreitums auffasst: Augenzwinkern, Händedruck, verbissenes Lachen, Gesichtsausdruck, Nachschauen, Nachrede wirken so vage, dass sie trotz oder eben wegen ihrer Summation wie bloße Projektionen wirken: In welch starkem Maße Thameyer seine eigenen Zweifel auf die Umgebung überträgt, wird syntaktisch an verzweifelten Fragen und Imperativen deutlich. Darin verweist er ein imaginäres ›Ihr‹ auf die wissenschaftliche Versehenstheorie, bis er schließlich die flehentliche Bitte simuliert: »Seid nicht so grausam … seht es doch ein … meine Frau ist mir immer treu gewesen!« (EI, 517). Im dritten Teil sucht Thameyer die Theorie des ›Versehens‹ auf die Geschichte seiner Frau anzuwenden, wie er in einem einleitenden Satz ankündigt: Sie hat sich versehen, als sie im August mit ihrer Schwester unten im Tiergarten war, wo diese fremden Leute ihr Lager hatten, diese unheimlichen Schwarzen. Ich kann es beschwören, daß sie sich versehen hat, denn die Geschichte trug sich folgendermaßen zu: Ich war an jenem Tag – und schon ein paar Tage vorher – bei meinen Eltern auf dem Lande gewesen […]. – Nun, Anna war allein (EI, 517f.).
Wie wenig glaubwürdig diese Geschichte ist, zeigt schon ihre narrative Präsentation: Die syntaktischen und stilistischen Signale einer kognitiven Dissonanz sind nicht zu übersehen. So relativiert die beschworene Wiederholung die Plausibilität des Einleitungssatzes, ganz abgesehen davon, dass ein Schwur als Form der Beglaubigung mangels eigener Wahrnehmungen Thameyers unangemessen ist. Die Aschanti-Gruppe im Tiergarten wird durch Deiktika, Alteritätsadjektive und Plural deutlich distanziert, zudem fällt die Opposition der Personalpronomina ›sie‹ und ›ich‹ ins Auge. Anders als für eine Schwangerschaft spielt das Datum für das Versehen keine entscheidende Rolle, doch die Nennung des Monats lässt darauf schließen, dass Thameyer rückrechnet. Auch bleibt es nicht bei der beiläufigen Nennung von »jenem Tag« – er wird im weiteren Verlauf als fatales Datum präzisiert: »Dann kam der Mittwoch« (EI, 518). Nur in diesem Schlussteil nennt der Ich-Erzähler seine Frau beim Namen, während er sonst die neutrale Bezeichnung »meine Frau« wählt, wie auch
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»das Kind« nie beim Namen genannt wird und sogar dessen Geschlecht unbestimmt bleibt. In szenischem Erzählen, das mittels Distanzminderung Authentizität und Glaubwürdigkeit beim Leser evozieren soll, rekapituliert der Briefschreiber den fatalen Tag: den Mittwochabend im August, an dem seine Frau Anna gemeinsam mit ihrer Schwester Fritzi den Tiergarten besuchte, »wo Neger ihr Lager aufgeschlagen hatten« (EI, 518). Im September, als die Schwangerschaft wohl offensichtlich war, hatte Thameyer dann selbst das Aschanti-Dorf in Augenschein genommen, ohne dass seine Frau mitgekommen wäre. Die Erklärung für ihr Fernbleiben vermischt Beschreibung und Wiedergabe von Annas Rede. Indem er beide Male dieselbe Wendung (»ein solches Grauen«) gebraucht und auch das Empathie heischende »allein« bekräftigend wiederholt, wird deutlich, wie sehr sich Thameyer Annas Version zu eigen machen will: Anna wollte durchaus nicht mit, ein solches Grauen war ihr zurückgeblieben seit jenem Mittwoch. Sie sagte mir, niemals in ihrem Leben habe sie ein solches Grauen empfunden als an jenem Abend, da sie allein bei den Negern war … Allein, denn Fritzi hatte sich plötzlich verloren … Es ist mir nicht möglich, diese Tatsache zu verschweigen (EI, 518).
Typischer Fall einer Verschiebung oder »›transponierten‹ Eifersucht«25 ist die Digression, in der Thameyer seiner Schwägerin vorwirft, ihren Verlobten, »einen sehr braven jungen Mann«, mit einem Herrn, »der sich nicht des besten Rufes erfreut, obzwar er verheiratet ist«, betrogen zu haben. Um jeden Verdacht von seiner Frau abzulenken, betont Thameyer mehrfach die ›Plötzlichkeit‹, mit der Fritzi Anna alleingelassen habe: »und meine arme Frau war plötzlich allein« (EI, 518). Indem Thameyer zusätzlich die Stimmung des »nebligen Abend[s]« (EI, 519) entlastend ins Feld führt, setzt er ein drittes Mal zur Schilderung des Geschehens an: Nun, solch ein Abend war es an jenem Mittwoch, und Fritzi war plötzlich fort, und meine Anna war allein – mit einem Male allein … wer begreift nicht, daß sie unter diesen Umständen ein ungeheures Grauen vor diesen Riesenmenschen mit den glühenden Augen und den großen schwarzen Bärten empfinden mußte? … Zwei Stunden lang wartete sie auf Fritzi und hoffte immer, daß sie wiederkommen würde, endlich wurden die Tore geschlossen, da mußte sie gehen. So war es (EI, 519).
Das pleonastische Insistieren auf Annas plötzlichem Alleinsein, der Appell an das Mitgefühl in einer rhetorischen Frage (»wer begreift nicht«) und die hyperbolische Dämonisierung der Neger bereiten die eigentliche ›Tatzeit‹ von zwei Stunden vor, die aber mittels einer Sprungraffung übergangen 25
So Specht, Arthur Schnitzler, S. 221, der zu Recht feststellt, dass es tatsächlich »die eigene Frau [ist], der diese Vorwürfe gelten.«
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wird. Die Leerstelle fällt umso mehr auf, als Thameyer gerade bei der Rekonstruktion des ›Tathergangs‹ immer diskontinuierlicher und weitschweifiger wird. Er ergeht sich in Exkursen, correctio-Formeln, digressiven Detaillierungen, Wiederholungen und Übertreibungen. In dem hyperbolischen Bild der »Riesenmenschen« mit den »großen schwarzen Bärten« mögen Thameyers Neid auf die sexuelle Attraktivität der Ashanti-Neger und Selbstzweifel an der eigenen Potenz mitschwingen,26 doch enthält die szenische Rekonstruktion auch einen intertextuellen – freilich narratorialen – Seitenhieb Schnitzlers auf Altenbergs Ashantee.27 Obwohl sich Annas Tremor, der ihr Geständnis am nächsten Morgen begleitet, kaum durch ein angebliches ›Versehen‹ erklären lässt, stützt Thameyer ihre Version durch den Zusatz, dass sie zum Zeitpunkt des Praterbesuches bereits schwanger gewesen sei: Denn hätte ich gewußt, daß sie bereits unser Kind unter dem Herzen trage, dann hätte ich nie und nimmer gestattet, daß sie mit Fritzi an einem nebligen Abend in den Prater ginge und sich allerlei Gefahren aussetzte. Denn für eine Frau in solchem Zustand ist alles Gefahr … Freilich, wenn Fritzi sich nicht verloren hätte, so wäre meine Frau nie und nimmer in eine so entsetzliche Angst geraten; aber dies war eben das große Unglück, daß sie so allein war und um Fritzi zitterte … Nun ist ja alles vorüber, und ich werfe auf niemand einen Stein (EI, 519).
In zwei Irrealis-Konstruktionen verdrängt Thameyer jeden Verdacht einer außerehelichen Zeugung, indem er die Schwangerschaft seiner Frau als Faktum vordatiert. Doch deutet die Inkongruenz des Modus (Konjunktiv Präsens statt Indikativ Präteritum) im einleitenden Bedingungssatz an (»hätte 26
27
Diesen Aspekt betont Reid, »›Andreas Thameyers letzter Brief‹ and ›Der letzte Brief eines Literaten‹«, S. 449, derzufolge Thameyer sein wahres Problem zu verschleiern suche: »his anxieties with regard to his virility«. Die asymmetrische Überzeichnung könnte aber zusätzlich anspielen auf die Skizze von Peter Altenberg, »Der Neger«, in: Ashantee, S. 36f. Darin kontrastiert Altenberg die in seinen Augen harmlose Konstellation eines »kleinen blonden Mädchens«, das »einen riesigen Neger überall mit sich [schleppt]« (ebd., S. 36), mit dem fiktiven »Schreckensbild« einer rassistischen Skandalmeldung in einer amerikanischen Zeitung: »Ein Neger schändet ein kleines Mädchen«. Thameyers szenische Schilderung der meteorologischen Bedingungen des fraglichen Abends (»Es war ein nebliger Abend, wie sie im Spätsommer zuweilen vorkommen; […] ich erinnere mich, dass da auf den Wiesen oft graue Dämpfe liegen, in denen sich die Lichter spiegeln«) alludiert augenfällig den Beginn von Altenbergs Eingangsskizze, die gerade den erotischen Reiz eines nebligen Sommerabends betont: »Die feuchte abendliche Wiesen-Erde gab ihre dunstförmige nebelförmige Frische den müden Menschen auf den harten Gartenbänken, den Liebespaaren in verschwiegenen Ecken, welche den Abend sich erwünschten« (Peter Altenberg, »Der Hofmeister«, in: Ashantee, S. 5–13, hier S. 12).
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ich gewusst, dass sie […] trage« [Hervorh. von mir]), wie wenig der Briefschreiber selbst von seiner Aussage überzeugt ist. Da Thameyer an seinem eigenen Zirkelschluss zweifelt, überträgt er erneut einen Teil der Schuld auf Fritzi. Die Variation des biblischen Diktums (»wer vnter euch on sunde ist / der werffe den ersten stein auff sie«)28 lässt aber wie ein unfreiwilliger Versprecher erkennen, dass Thameyer an Ehebruch denkt. Denn Jesus spricht diesen Satz, als (»die Schrifftgelerten vnd Phariseer […] ein Weib zu jm [brachten] / im Ehebruch begriffen«) eine Frau des Ehebruchs bezichtigt wird. Dieses Misstrauen schwingt auch dann noch mit, wenn Thameyer die »Leute« bittet, seinen Freitod nicht als Eingeständnis eines Betrugs misszuverstehen, sondern im Gegenteil als Glaubensbeweis der ehelichen Treue seiner Frau aufzufassen: […] wer weiß, ob die Leute in ihrer Erbärmlichkeit nicht endlich noch sagten: er hat sich umgebracht, weil seine Frau ihn betrogen hat … Nein, ihr Leute, nochmals, meine Frau ist treu, und das Kind, das sie geboren hat ist mein Kind! (EI, 519).
Als Thameyer nach seinem Ausfall gegen die untreue Schwägerin Fritzi am Ende ausgerechnet seine Mutter vorwurfsvoll anspricht, weil sie ihn zu Unrecht als Betrogenen bedauert habe, wird der misogyne Grundzug des Abschiedsbriefes augenfällig. Thameyer überträgt die mögliche Schuld der Gattin auf andere Frauen, um an seiner Chimäre der ›reinen Ehefrau‹ festhalten zu können. Trotz der offensichtlichen kognitiven Dissonanz, die den Brief sprachlich-stilistisch prägt, vermag Thameyer die verklärte Sicht auf seine Frau nicht aufzugeben. Aus diesem Abwehrkonflikt, der mehr über den Briefschreiber als über seine Frau Anna aussagt, gewinnt der Brief schließlich einen tragikomischen Zug.
3.
Intertextualität
Für das ›unzuverlässige Erzählen‹ spielt die Intertextualität eine entscheidende Rolle. Die Konstellation, in der eine Frau ein Kind zur Welt bringt, dessen Hautfarbe nicht derjenigen der Eltern gleicht, hat eine lange literarische Tradition, die Schnitzler sicherlich großenteils kannte. Zu den frühesten und wichtigsten poetischen Zeugnissen gehört die Episode aus Heliodors Äthiopischen Geschichten, welche paradoxerweise die Geburt eines weißen
28
Joh 8, 7 (nach Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft [1545]).
Intertextualität
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Mädchens von schwarzen Eltern schildert.29 Eine komplizierte Version, die mit Schnitzlers Erzählung in mancher Hinsicht übereinstimmt, ist eine in der Motivtradition bislang unbeachtet gebliebene Novelle Georg Philipp Harsdörffers: Der weisse Mohr30. Sie handelt von dem spanischen Ritter Mantica, der seine schöne Tochter Charite von Mohren bewachen lässt und sie ihrem Verehrer Eufranor nicht zur Braut geben will. Daraufhin entführt Eufranor, schwarz gefärbt und als Mohr verkleidet, die Jungfer, bis der Vater in die Ehe einwilligt: Solcher Gestalt hat der listige Eufranor diese Gefangene auß der Gefangenschafft mit ehelicher verbindniß erlösst / und erhalten was er sonsten nicht bekommen mögen. Nach Verfliessung 9 Monat wird Charite ihrer weiblichen Bürde entbunden / und bringt einen Mohren zur Welt / deßwegen Mantica nochmals in seiner Meinung bestärcket worden / daß Eufranor / der weisse Mohr / nicht Vatter darzu / welcher wol wuste / daß solches von der Einbildung der um sie gewesenen schwartzen Gesellen herkommen können; deßwegen er sie dann entschuldiget und seinem Schwervatter die begangene Liebslist eröffnet / welcher ihm gewünschet / daß er fort und fort mit seiner Tochter Mohren zeugen möchte / wie auch erfolget / und ob sich zwar Mantica den Wunsch reuen lassen / hat er doch keine andere Enenckelein gesehen: als Mohren / so lang er gelebet.31
Der Schluss, demzufolge der ›weiße Mohr‹ von seiner List eingeholt wird, indem seine Frau nur schwarze Kinder gebiert, erinnert an das Motiv des betrogenen Betrügers und antizipiert in seiner Kombination einer Mohrengeburt und der Theorie des Versehens sowie in seiner ironischen Doppelbödigkeit Schnitzlers Brief. Ferner bezeugen Texte wie Karl von Holteis schlesisches Gedicht ›De Mohrenwäsche‹,32 dass dieses Motiv auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus noch aktualisiert wurde. In seinem humoristischen Kalenderbildel schildert Holtei, wie die junge Ehefrau eines alten jüdischen Kaufmanns, nachdem ein schöner farbiger Soldat der napoleonischen Armee bei ihnen einquartiert war,33 ein schwarzes Kind zur Welt 29
30
31 32
33
Vgl. die motivgeschichtliche Studie zur Telegonie von Franz K. Stanzel, Telegonie – Fernzeugung, S. 25f. Georg Philipp Harsdörffer, »Der weis[s]e Mohr«, in: Ders., Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte, (Frankfurt/M. und Hamburg 1664) Hildesheim und New York 1978, S. 19–22. Harsdörffer, »Der weis[s]e Mohr«, S. 22. Karl von Holtei, »De Mohrenwäsche«, in: Schlesische Gedichte, Breslau 31854, S. 115–125. Vgl. Holteis ironische Beschreibung des einquartierten Rivalen: »A’ geschlanker, schiener Schlingel, Bei der Regimentsmusikke Iuste’s Klarinettel bli’s; A’ läbend’ger schwarzer Mohr« (ebd., S. 120).
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Andreas Thameyers letzter Brief
bringt und dies ihrem erschrockenen Mann (»Gottes Wunder, bin ich blind? / Nee, das is’ a’ schwarzes Kind!«) als ›Versehen‹ bei der Mohrenapotheke erklärt: »Am Apthekel, halt dän Mohren, Spürt’ ich’s gleich in mir rumoren Und do war’sch ooch schund geschähn; Ja, do hab’ ich mich versähn.»34
Und tatsächlich gelingt es der jungen Frau, den zunächst misstrauischen Mann von ihrer angeblichen ehelichen Treue und ihrem ›Versehen‹ zu überzeugen. Doch scheint Schnitzler, der dasselbe Motiv auch im Tapferen Cassian zitiert,35 seine Novelle weniger aus der poetischen Hahnrei-Tradition als vielmehr aus der medizinischen Kasuistik des Versehens geschöpft zu haben. Sie ist bislang weder in ihrer Breite noch in ihrer Geltungsreichweite angemessen gewürdigt worden, obschon die intertextuellen Verweise des Briefes eine entscheidende Rolle spielen. Die kasuistische Reihe ist in Andreas Thameyers letztem Brief auf deutlichste Weise markiert und trägt maßgeblich dazu bei, die ›zweite Geschichte‹ zu erschließen.36 Denn auf die Prätexte verweist Andreas Thameyer in seinem Abschiedsbrief ausdrücklich selbst. Im handschriftlichen Entwurf beruft sich Thameyer lediglich auf zwei Fälle von Versehen, für die er folgende Autoritäten als Quellen anführt: »Hamberg’s ›räthselhaftes Vergnügen der Natur‹, Seite 74« und »Limböcks Schrift über das ›Versehen der Frauen‹, Basel 1846, Seite 19«.37 Beide Belege sind – trotz der scheinbaren bibliographischen Präzision – fiktiv. Sie finden sich auch in der Druckfassung, sind dort jedoch um vier zusätzliche Präzedenzfälle vermehrt, für die Thameyer jeweils den Gewährsmann nennt: So erzählt Malebranche, daß eine Frau anläßlich der Kanonisationsfeier des heiligen Pius dessen Bildnis so scharf betrachtete, daß der Knabe, den sie bald darauf zur Welt bracht, diesem Heiligen vollkommen glich; – ja sein Antlitz zeigte die müden Züge des Alters, seine Arme waren über die Brust gekreuzt, seine Augen gen Himmel gerichtet, und zum Überfluß zeigte sich noch auf einer Schulter in Gestalt eines Muttermales die herabhängende Mütze (EI, 514). 34
35
36
37
Ebd., S. 12. In Schnitzlers Leseliste ist Karl von Holtei nur mit seiner großen Autobiographie Vierzig Jahre aufgeführt. Vgl. Anm. 22 (Auf diese Parallele, die in der Forschung unbeachtet blieb, wies bereits Reik, Arthur Schnitzler als Psycholog, hin). Vgl. Ansgar Nünning (Hrsg.), Studien zur Theorie und Praxis Unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998. Andreas Thameyers letzter Brief [III] (FF C XXII, Bl. 6–7 – Cambridge Schnitzler A 153, 3, Bl. [6v–7r].
Intertextualität
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Diese Anekdote hat Thameyer nicht aus Malebranche gezogen, sondern aus der Studie über Das Versehen von Frauen in Vergangenheit und Gegenwart, die der bekannte Geschlechtsforscher Iwan Bloch im Jahre 1899 unter dem Pseudonym Gerhard von Welsenburg veröffentlicht hatte.38 Schnitzler verwahrte ein Exemplar dieser Kulturgeschichte des Versehens in seiner Bibliothek.39 Schnitzlers Malebranche-Passage entspricht dem Prätext fast wörtlich, ist allerdings durch das Mündlichkeit fingierende »ja« empathisiert und deutlich gekürzt. Die Auslassungen charakterisieren den fiktiven Briefschreiber Thameyer. Er übergeht die Einleitung, in der sich Welsenburg darüber wundert, mit welcher Konsequenz »ein so frommer Mann wie Malebranche« die Auffassung der »innigsten Beziehung« von Mutter und Kind vertritt und sogar »einige bei der Mutter oft rege Begierden, wie z. B. nach dem Beischlafe, für einen Foetus nicht sehr unschicklich gefunden hat«.40 Indem Thameyer diese Kritik unterschlägt und so den Aspekt weiblicher Sexualität kappt, verharmlost er die Anekdote entscheidend. Die selektive Zitation ist als ein weiteres Indiz für Thameyers Verdrängung zu deuten. 38
39 40
Gerhard von Welsenburg [d.i. Iwan Bloch], Das Versehen der Frauen in Vergangenheit und Gegenwart und die Anschauungen der Ärzte, Naturforscher und Philosophen darüber, Leipzig 1899, S. 40f.: »Sehr eigenartig und ganz nach der Lehre des Occasionalismus zurechtgelegt ist die Begründung des Versehens durch den Nachfolger des Descartes, den Philosophen Nicolas Malebranche (1638–1715). Nach ihm stehen Mutter und Kind in der denkbar innigsten Beziehung zu einander, und obgleich die Seelen beider getrennt sind, sind ihre Körper verbunden. […] Malebranche bringt einige wunderbare Beispiele von Versehen: Bei der öffentlichen Kanonisationsfeier des heiligen Pius betrachtete eine Frau dessen Bildnis so scharf, daß sie hernach einen Knaben gebar, der diesem Heiligen vollkommen glich. Das Alter war dem Gesicht aufgeprägt, nur daß der Bart fehlte. Seine Arme waren auf der Brust kreuzweise übereinander gelegt, seine Augen gegen den Himmel gerichtet, auch hatte er eine außerordentlich kleine Stirn, entsprechend der Verkürzung der Stirn des in die Höhe blickenden Heiligenbildes. Sogar die herabhängende Mütze zeigte sich auf der Schulter, und dort, wo sie mit Edelsteinen verziert war, zeigten sich runde Flecken. Ganz Paris konnte sich von der Sache überzeugen, weil das Gebilde in Spiritus aufbewahrt wurde.« Urbach, S. 111f., hier S. 111, hat zwar die Quelle ermittelt, ohne aber das Pseudonym aufzulösen. Zu dem Sexualwissenschaftler Iwan Bloch (1872–1922) vgl. die sehr allgemeine Würdigung von Erwin J. Haeberle, »Iwan Bloch«, in: Hans Erler, Ernst Ludwig Ehrlich und Ludger Heid (Hrsg.), »Meinetwegen ist die Welt erschaffen«. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. 58 Portraits, Frankfurt/M. und New York 1997, S. 165–172. Ein bibliographisch zuverlässiges Werkverzeichnis in: Archiv Bibliographica Judaica: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 3, Red. Leitung: Renate Heuer, München (u. a.) 1995, S. 140–147, s. v. »Bloch, Iwan«. Vgl. Urbach, S. 111. Vgl. Welsenburg, Das Versehen der Frauen, S. 40.
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Der zweite Präzedenzfall nimmt vorsorglich mögliche Zweifel an Malebranches Anekdote auf, greift aber chronologisch noch weiter zurück: Wem aber diese Erzählung trotz der Autorität des Zeugen, der ein Nachfolger des berühmten Cartesius war, nicht genügend beglaubigt erscheint, dem wird vielleicht Martin Luther als Gewährsmann genügen. Luther nämlich – so ist in seinen Tischreden nachzulesen – hat in Wittenberg einen Bürger mit einem Totenkopf gekannt, und es war erwiesen, daß die Mutter dieses bedauernswerten Mannes während ihrer Schwangerschaft durch den Anblick eines Leichnams aufs heftigste erschreckt worden war (EI, 514).
Auch diese Anekdote verdankt Thameyer nicht Luther, obwohl er eigenständig die Tischreden als Quelle angibt, sondern Welsenburg.41 Erneut wird der Prätext nahezu wörtlich zitiert, durch Zusätze aber der Tenor geändert. Während nach Welsenburg »Martin Luther […] im Aberglauben seiner Zeit […] befangen« war, übergeht Thameyer diese historische Relativierung nicht nur, sondern betont durch eigenständigen Quellennachweis in Parenthese (»so ist in seinen Tischreden nachzulesen«) und zusätzliche Bekräftigungsformel (»und es war erwiesen«) die angebliche Wahrheit der Luther-Anekdote. Empathetische Adjektive (»bedauernswert«, »aufs heftigste«) malen sie aus und camouflieren die karge Überlieferung. Der dritte Präzedenzfall greift in die Antike zurück und rekurriert auf eine literarische Quelle. Dennoch misst ihr Thameyer die größte Bedeutung bei: Die Geschichte aber, die mir am wichtigsten erscheint und an der zu zweifeln kein vernünftiger Anlaß vorliegt, wird von Heliodor in den Libri aethiopicorum berichtet. Diesem geschätzten Autor nach hat die Königin Persina [ ! ] nach zehnjähriger kinderloser Ehe ihrem Gatten, dem Äthioperkönig Hydaspes, eine weiße Tochter geboren, die sie aus Angst vor dem voraussichtlichen Zorn ihres Gemahls gleich nach der Geburt aussetzen ließ. Doch gab sie ihr einen Gürtel mit, auf dem der wahre Grund des verhängnisvollen Zufalls angegeben war: im Garten des königlichen Palastes, wo die Königin die Umarmungen ihres schwarzen Ehegemahls empfing, waren herrliche Marmorstatuen griechischer Götter und Göttinnen aufgestellt, auf die Persina ihre entzückten Blicke gerichtet hatte (EI, 514f.).
Die einleitende Wertung und hyperbolische Wahrheitsbeteuerung stehen im Kontrast zur reservierten Quellenkritik im Prätext: Welsenburg qualifiziert Heliodor als »erotische[n] Schriftsteller« und betont ausdrücklich das »Gewand der Poesie« und die Anlage als »anmutig-lebendige Erzählung«.42 Das 41
42
»Auch erzählt Luther, daß er in Wittenberg einen Bürger mit einem Totenkopf gekannt habe, dessen Mutter während ihrer Schwangerschaft durch den Anblick eines Leichnams so erschreckt worden sei, daß das Gesicht des Foetus im Mutterleibe das Aussehen dieses Totenkopfes angenommen habe«; vgl. Welsenburg, Das Versehen der Frauen, S. 22. Welsenburg, Das Versehen der Frauen, S. 11–13.
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Versehen, das Heliodor »zu einer interessanten Episode benutzt« hat, fasst Welsenburg knapp zusammen: »Persinna, die äthiopische Königin, war nach zehnjähriger kinderloser Ehe mit ihrem schwarzen Gatten Hydaspes Mutter einer weißen Tochter geworden, und mußte, damit sie nicht in einen bösen Verdacht geriete, ihr Töchterlein aussetzen«43. Persinna rechtfertigt sich vor ihrer Tochter, indem sie in Gefangenschaft die Geschichte von Zeugung und Versehen auf einen Gürtel stickt. Diese ›Beichte‹ zitiert Welsenburg ausführlich aus Heliodors Liebesroman: Persinna erklärt die weiße Hautfarbe ihrer Tochter mit dem Umstand, dass ihr Gatte Hydaspes sie im Frauengemach geschwängert habe, das mit »Perseus’ und Andromedas Liebe geschmückt« war: Wie ich aber glänzend weiß dich geboren und du strahltest in der Farbe, die fremd ist dem Aethiopergeschlecht: da erkannt’ ich wohl den Grund; denn bei meines Gatten Umfangen zeigte das Bild meinen Augen die Andromeda in voller Nacktheit – denn eben führte sie Perseus von dem Felsen – und so ward das Kind – ach! nicht zum Glück – ihr gleich gestaltet.44
Der gestickte Brief der Persinna wird als Vorgeschichte der Charikleia im vierten Buch des Romans nachgetragen.45 Obwohl die Romanepisode das schwächste unter Andreas Thameyers Exempeln des Versehens ist, »erscheint« es ihm »am wichtigsten«. Denn es entspricht – freilich in invertierter Form – seinem eigenen Fall: Wie die äthiopische Königin Persinna die Geburt ihrer weißen Tochter nach zehnjähriger kinderloser Ehe als ›Versehen‹ rechtfertigt, so sucht der Sparkassenangestellte Andreas Thameyer den Umstand zu erklären, dass seine Frau Anna nach vierjähriger Ehe ein dunkelhäutiges Kind zur Welt gebracht hat.46 Versieht sich die äthiopische Königin an einem weißen Kunstwerk, so versieht sich Anna Thameyer an einem ›ausgestellten‹ Neger im Tiergarten. Während aber Persinna ihre Unschuld selbst mitteilt, macht sich im Falle Thameyers der ›Betrogene‹ zum Fürsprecher seiner Frau. Dadurch gewinnt Schnitzlers Inversion von Heliodors Episode komische Züge. Neben der forcierten Enterotisierung, welche die Episode 43 44 45
46
Ebd. Welsenburg, Das Versehen der Frauen, S. 12. Vgl. Heliodor, Die Äthiopischen Abenteuer von Theagenes und Charikleia [Aithiopika], Übers. und Anm. von Horst Gasse, Nachwort von Heinrich Dörrie, Stuttgart 1972, IV 8, S. 102–104. Heliodor ist zwar in Schnitzlers Lektüren nicht eigens aufgeführt, aber es ist in Anbetracht von Schnitzlers humanistischer Schulbildung mehr als wahrscheinlich, dass er den antiken Klassiker der Romanliteratur kannte. Zeitlich übertrifft Thameyer aber fast das Geburtswunder der äthiopischen Königin. Denn er ist zwar erst »verheiratet seit vier Jahren«, hat aber »[s]eine Frau sieben Jahre gekannt, ehe sie [s]eine Gattin wurde« (EI, 516).
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in Thameyers Wiedergabe erfährt, wird die illusionistische Differenz zwischen dem antiken Roman und dem fruchtlosen Bemühen des amusischen Thameyer gerade durch den Selbstvergleich evident. Auch das vierte Exempel eines Versehens ist aufschlussreich für die wahre Absicht Thameyers: Aber noch weiter geht die Macht des Geistes, und nicht nur Abergläubische oder Ungebildete huldigen dieser Anschauung, wie die folgende Geschichte beweist, die sich im Jahre 1637 in Frankreich zutrug. Dortselbst gebar ein Weib nach vierjähriger Abwesenheit ihres Gatten einen Knaben und schwor, daß sie in der entsprechenden Zeit vorher mit der vollkommensten Lebhaftigkeit von der inbrünstigen Umarmung ihres Gatten geträumt hatte. Die Ärzte und Wehefrauen von Montpellier erklärten eidlich die Tatsache für möglich, und der Gerichtshof von Havre sprach dem Kinde alle Rechte der legitimen Geburt zu (EI, 515).
Die Litotes, die diese Anekdote einleitet, offenbart das Misstrauen, das Thameyer gegen seine eigene Geschichte hegt. Die leisen Zweifel erklären sich aus dem Tenor des Prätexts, der mit der Anekdote des berühmten Mediziners Thomas Bartholinus anprangert, »daß gefallene[] Jungfrauen und sündige[] Frauen das Versehen dazu benutzen, um sich in den Mantel der Unschuld zu hüllen«.47 Dass Thameyer die Ironie des Prätexts unterschlägt und die inhärenten Zweifel an der imaginären Zeugung und außerehelichen Schwangerschaft tilgt, zeigt einen bewusst einseitigen, ja verfälschenden Umgang mit den Quellen. Das Beispiel koinzidiert nicht nur wegen der angeblich unbefleckten Geburt, sondern mehr noch wegen der zeitlichen Übereinstimmung der »vierjährigen [ehelichen] Abwesenheit« (EI, 515) mit der Ehe Thameyers, was zudem ein versteckter Hinweis auf dessen sexuelle Abstinenz sein könnte. Die beiden folgenden Präzedenzfälle finden sich bereits in der handschriftlichen Vorfassung. Sie verweisen im Unterschied zu den bisher ge47
Vgl. Welsenburg, Das Versehen der Frauen, S. 49. Nach Welsenburg illustrierte bereits Bartholinus an dem Fall ironisch »die Fruchtbarkeit der Phantasie«: »In Frankreich soll nämlich eine Frau vier Jahre nach der Abwesenheit ihres Mannes nur durch den Einfluß ihrer Phantasie empfangen und einen Knaben als Erben ihres väterlichen Besitzes geboren haben. Dieser Knabe Emanuel wurde durch öffentliches Urteil des Gerichtshofes in Havre vom 13. Februar 1637 auf das eidlich erstattete Gutachten der als Sachverständige geladenen Ärzte und Hebammen von Montpellier hin für legitim erklärt, nachdem seine Mutter ausgesagt hatte, sie habe geträumt, ihr Mann sei gegenwärtig und umarme sie mit derselben geschlechtlichen Inbrunst, die sie sonst bei der wirklichen Gegenwart ihres Mannes empfunden! Dazu bemerkt Bartholinus kurz und drastisch: ›Ich habe an der Wahrheit dieser Erzählung immer gezweifelt. Würde man sie wahr erklären, so würden wahrscheinlich bald noch mehr Emanuele aus den Träumen der Jungfrauen entstehen!‹« (ebd., S. 50).
Intertextualität
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nannten frühneuzeitlichen Quellen auf ›moderne‹ Fälle und teilen die Nachweise bibliographisch exakt mit. Doch anders als die vorgängigen Fallbeispiele, die aus Welsenburgs Studie stammen, existieren die angeblichen Quellen gar nicht: Des ferneren finde ich ich Hambergs »Rätselhaften Vorgängen der Natur«, Seite 74, die Geschichte von einer Frau, die ein Kind mit einem Löwenkopf zur Welt brachte, nachdem sie im siebenten Monate ihrer Schwangerschaft mit ihrem Gatten und ihrer Mutter der Produktion eines Löwenbändigers beigewohnt hatte (EI, 515).
Dieser angeblich moderne Fall findet sich nicht in Welsenburgs Kasuistik, entspricht aber den Schilderungen von Missgeburten, wie sie für die Monstrenliteratur des 16. Jahrhunderts typisch sind. Zu den »merkwürdigsten Monstra«, die Welsenburg als Zeugnisse der »wundergläubigen Phantasie jener Zeit« referiert, zählt etwa »ein jung Kind […] mit einem Helfantenkopff«48. Die Wundergeschichte, die Thameyer anführt, wirkt trotz der bibliographischen Angabe so unglaubwürdig, dass sie weniger die Treue der Gattin als vielmehr die Verdrängung des Erzählers beglaubigt. Auch wenn der Präzedenzfall auf den Tiergarten anspielt, wo das angebliche Versehen stattfand, markiert das fortgeschrittene Stadium der Schwangerschaft kontrastiv, wie im Falle der Anna Thameyer Empfängnis und angebliches Versehen – und ohne das beruhigende Beisein des Gatten und der Mutter – zeitlich zusammenfallen. Wie die »Geschichte« des angeblichen Gewährsmanns Hamberg ist auch die Quelle für das sechste und letzte Exemplum, das Thameyer anführt, fingiert, obwohl der bibliographische Nachweis übertrieben exakt markiert ist: Ich habe ferner eine Geschichte gelesen – sie ist zu finden in Limböcks »Über das Versehen der Frauen«, Basel 1846, Seite 19 – daß ein Kind mit einem großen Brandmal auf der Wange geboren wurde, weil die Mutter einige Wochen vor der Geburt das Haus gegenüber in Flammen hatte aufgehen sehen (EI, 515).
Während es sich bei den ersten vier Fällen um offene Zitate aus Welsenburgs Beispielsammlung handelt und der fünfte Fall eine Variation oder Parodie darstellt, bietet der sechste Fall ein offenes Intertextualitätssignal.49 Denn zitiert wird der genaue Titel des maßgeblichen Prätexts, »Das Versehen der Frauen«, auch wenn als Verfasser nicht Welsenburg, sondern ein ungewisser »Limböck« genannt wird und die bibliographischen Daten fingiert sind. 48
49
Welsenburg, Das Versehen der Frauen, S. 23. Vgl. zu dieser von Conrad Lycosthenes überlieferten Episode die Holzschnitte ebd., S. 24f. Vgl. die Terminologie von Peter Stocker, Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn (u. a.) 1998, bes. S. 105.
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Zwar führt Welsenburg keinen »Limböck« an,50 doch der geschilderte Fall ist der einzige Fall von Versehen, den Bloch alias Welsenburg selbst als Gewährsmann beibringt und der die Reihe seiner Fallgeschichten abschließt: Ich selbst verfüge nur über einen einzigen 1893 von mir beobachteten Fall, der als ein Versehen zu deuten ist. Eine im zweiten Monate ihrer Schwangerschaft befindliche Frau wurde durch den Anblick der Flammen eines in der Nähe ihrer Wohnung brennenden Hauses aufs heftigste erschreckt. Das Kind zeigte nach der Geburt im Gesichte ein sehr großes Feuermal.51
Nicht zufällig kommt dem einzigen durch Autopsie bezeugten Fall in Welsenburgs Sammlung die geringste Überzeugungskraft zu. Denn mit einem bloßen Feuermal lässt sich ein ›Versehen‹ kaum beweisen. Überdies ist die Analogie zu dem dunkelhäutigen Kind, das Anna Thameyer zur Welt gebracht hat, so schwach und so wenig überzeugend, dass dieses Fallbeispiel mehr die Mühe von Thameyers Argumentation entlarvt als ihre Plausibilität stärkt.52 Auch Thameyers anschließender Verweis auf den fingierten Prätext relativiert dessen Wahrheitsgehalt: In diesem Buch stehen noch andere, höchst verwunderliche Dinge. Während ich dieses schreibe, liegt es [das Buch von »Limböck«, d.i. Welsenburg] vor mir auf dem Tisch, eben habe ich wieder darin geblättert, und es sind beglaubigte, wissenschaftlich feststehende Tatsachen, die darin erzählt werden […] (EI, 515).
Neben der unfreiwilligen Diskreditierung der Kasuistik als »andere, höchst verwunderliche Dinge« und der ungläubigen Wiederholungsgeste (»eben […] wieder darin geblättert«) bekundet die Diskrepanz des – offenkundig überbetonten – wissenschaftlichen Inhalts- und unwissenschaftlichem Darstellungsmodus (»beglaubigte, wissenschaftlich feststehende Tatsachen, die darin erzählt werden« [Hervorh. von mir]) unfreiwillig Thameyers Zweifel an der von ihm vorgetragenen Theorie des Versehens. Die latenten Zweifel unterminieren auch die vorgebliche Autorität der Prätexte bei ihrer Erwähnung im zweiten Teil. Denn hier werden die zuvor minutiös zitierten Titel nicht präzise wiederholt, sondern abgewandelt. Die50
51 52
Möglicherweise wollte Schnitzler auch mit dem fingierten Alias-Namen ironisch darauf hinweisen, dass es sich bei dem Namen ›Welsenburg‹ (Anspielung auf die Utopie der ›Insel Felsenburg‹?) seinerseits um ein Pseudonym handelt. Vielleicht wusste Schnitzler, dass sich hinter dem Pseudonym Iwan Bloch verbarg, dessen Sexualleben unserer Zeit er 1911/12 las. Welsenburg, Das Versehen der Frauen, S. 152. Möglicherweise liegt psychologisch doch insofern eine Klimax vor, als das brennende Nachbarhaus den drohenden Zusammenbruch von Thameyers Hauswesen und Ehe symbolisieren mag.
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ses ›Verschreiben‹ der Titelangaben verrät im Sinne einer Fehlleistung die Aporie des Briefschreibers gegenüber seiner eigenen Erklärung: Was soll ich tun? Was bleibt mir übrig? Ich kann es nicht jedem sagen: Leset Hambergs »Wunder der Natur« und Limböcks vorzügliches Werk »Über das Versehen der Schwangeren« (EI, 517).
Bei beiden Titeländerungen handelt es sich um sprechende ›Verschreibungen‹, in welchen sich Thameyers verdrängte Zweifel an der Unschuld der Gattin manifestieren. Denn die »rätselhaften Vorgänge der Natur« verballhornt er nun zu unglaubwürdigen »Wunder[n] der Natur« und Welsenburgs Titel »Über das Versehen der Frauen« wird verharmlost zu »Über das Versehen der Schwangeren«, als wäre Anna Thameyer bei ihrer Begegnung mit den Negern im Tiergarten bereits schwanger gewesen. Überdies markiert die Titelvariation einen weiteren Prätext, nämlich die medizinische Studie Vom Versehen der Schwangeren von Julius Preuss, auf die ihrerseits Welsenburgs Abhandlung rekurriert.53 Ein letztes Intertextualitätssignal bietet der Briefschluss, der unter Aufbietung aller wissenschaftlichen Autoritäten des Versehens an die Leser appelliert, die Wahrheit seiner Version zu akzeptieren: ihr werdet einsehen, daß es solche Dinge gibt, wie sie Hamberg, Heliodor, Malebranche, Welsenburg, Preuß, Limböck und andere berichten (EI, 519f.).
Diese Namenreihe rekapituliert nicht nur die zuvor genannten Verfechter des Versehens, sondern fügt zwei Namen hinzu, die tatsächlich Schnitzlers Prätexte sind. So wird zum ersten und einzigen Mal Welsenburg explizit beim Namen genannt. Die onomastische Markierung des wirklichen Prätexts ist dadurch hervorgehoben, dass sein Name die alphabetische Namenreihe durchbricht. Zudem wird neben Welsenburg namentlich auch erstmals Preuss genannt, dessen »historisch-kritische Studie« Vom Versehen der Schwangeren die »Grundlage« für Welsenburgs populäre Abhandlung lieferte. Nachdem Andreas Thameyers letzter Brief lange mit fingierten Prätexten operiert hat, werden am Ende – wie die verborgene Lösung eines Rätsels – die ›tatsächlichen‹ Prätexte namentlich genannt.
53
Vgl. J[ulius] Preuss, »Vom Versehen der Schwangeren. Eine historisch-kritische Studie«, in: Berliner Klinik, 5/1892, S. 1–50. Auf sie beruft sich Welsenburg, Das Versehen der Frauen, S. 1, ausdrücklich in seinem »Vorwort«.
130
4.
Andreas Thameyers letzter Brief
Dialogizität und wissenschaftsgeschichtlicher Kontext
Thameyers Bemühen, die Zweifel an der Treue seiner Frau und seiner Vaterschaft nach der Geburt eines dunkelhäutigen Kindes durch die Theorie des Versehens zu zerstreuen, mag heute nur noch komisch erscheinen. Die bislang unterbestimmten intertextuellen Bezüge des Texts zu den zeitgenössischen sexualwissenschaftlichen Abhandlungen von Julius Preuss und Iwan Bloch alias Gerhard Welsenburg zeigen aber, dass die Theorie des Versehens um 1900 durchaus noch Teil des medizinischen Diskurses war. So konzediert ein maßgebliches Lehrbuch der Gynäkologie der Jahrhundertwende, dass man die Frage nach dem Versehen der Schwangeren »in neuester Zeit […] doch einer Diskussion wert erachtet habe«.54 Und Schnitzler hatte bestimmt Kenntnis von der Rezension eines Aufsatzes über die »Vorgeburtliche Beeinflussung«, die im Jahre 1900 in der Wiener Rundschau erschienen war. Darin heißt es: »Dass Eindrücke, die eine Schwangere empfängt, auf die Leibesfrucht übertragbar sind, ist durch die als ›Versehen‹ bekannte Erscheinung erwiesen«.55 Mehr noch, in Otto Weiningers vielbeachteter kulturkritischer Theorie Geschlecht und Charakter gewinnt das Versehen eine entscheidende Bedeutung. Denn obwohl Züchtungstheorie, Biologie und Medizin seit Mitte des 19. Jahrhunderts diese Auffassung mehrheitlich ablehnten, versucht Weininger erneut, »eine Theorie des Versehens« zu entwickeln56. Wenn er die »Vaterschaft« als »armselige Täuschung« relativiert und das »Mutterrecht« neu inthronisiert, stützt er sich auf fragwürdige ›Versehens‹- und ›Infektionstheorien‹: Weiße Frauen, die einst von einem Neger ein Kind gehabt haben, gebären später oft einem weißen Manne Nachkommen, die noch unverkennbare Merkmale der Negerrasse an sich tragen.57 54
55
56
57
Max Runge, Lehrbuch der Geburtshilfe, Berlin 61901, S. 82f. (zit. nach Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, (Wien und Leipzig 1903) München 1980, S. 560 (Anm. zu S. 285, Z. 12 v. u.). Doch deutet das Handbuch seine Reserve an, wenn es daraus folgert: »Mag die Frage als wissenschaftlich noch diskutabel sein, für die Praxis gilt auch heute noch der Rat, bei Schwangeren und ihrer Umgebung den Glauben an das sogenannte Versehen ernstlich zu bekämpfen«.). Vgl. Anon. Rez. über Aufsatz von Max Seiling über die »Vorgeburtliche Beeinflussung« (Neue Heilkunst, 5 (1900)), in: Wiener Rundschau, 4/1900, S. 179f. Vgl. Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 285. Siehe dazu die umsichtige Studie von Barbara Beßlich, »Mütter im Visier. ›Versehen‹ und ›Telegonie‹ in Otto Weiningers ›Geschlecht und Charakter‹ – mit einem Seitenblick auf Weiningers Anleihen bei Goethe, Ibsen und Zola«, in: KulturPoetik, 4/2004, H. 1, S. 19–36. Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 307. Vermutlich diente diese Infektionstheorie auch dazu, Mischehen zu diskreditieren. Die gesellschaftspolitische Relevanz dieser Infektionstheorie, die aus der langen Fußnote zu S. 307, Z. 12 v. u., erhellt, kommt bei Weininger nicht in Betracht.
Dialogizität und wissenschaftsgeschichtlicher Kontext
131
Weininger rekapituliert in einer exkursartigen Anmerkung zu seinen Ausführungen ausführlich Geschichte und Stand der Versehenstheorie und nennt namentlich als Gewährsleute auch die Autoritäten, auf die sich Andreas Thameyer stützt: So nennt er neben Julius Preuss die Arbeit von Gerhard von Welsenburg, dessen »ausführliche Zusammenstellung […] am Schlusse die Frage unentschieden« lasse.58 Wir sehen: Bei dem Erscheinen von Andreas Thameyers letztem Brief war die Versehenstheorie nicht nur aktuell, sondern erhielt durch die moderne Sexualpsychologie neuen Auftrieb. Schnitzlers Novelle ist somit in ihren intertextuellen Anleihen ein parodistischer Seitenhieb auf die Versuche von Preuß und Welsenburg, die Versehenstheorie wieder wissenschaftlich zu etablieren: Zugleich ist diese verdeckte Parodie ein Meisterstück unzuverlässigen Erzählens, das kurz vor dem Lieutenant Gustl die Möglichkeiten der Ich-Erzählung im Präsens bis an die Grenzen des Inneren Monologs forciert und in seiner doppelbödigen Strategie der Verdrängung und latenten Anklage seinesgleichen sucht. In der Reihe der intertextuellen Erzählungen Schnitzlers kommt Andreas Thameyers letztem Brief in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung zu. Zum einen beruft sich der Ich-Erzähler selbst explizit auf mehrere Prätexte, um seine eigene Argumentation zu verbürgen, zum andern sind diese markierten Prätexte keine poetischen Texte, sondern (pseudo)wissenschaftliche Belege, und zum dritten ergibt sich gerade aus der dichten und hochgradigen Intertextualität des Briefes seine latente Komik.
58
Vgl. ebd., S. 550 (Anm. zu S. 285, Z. 20).
132
VI. Der letzte Brief eines Literaten (1917) Krise und Kritik des intertextuellen Verfahrens
1.
Forschungsstand
Der letzte Brief eines Literaten zählt zu den weniger beachteten Texten Schnitzlers. Das mag daran liegen, dass diese Erzählung erst ein Jahr nach dem Tod des Dichters veröffentlicht wurde.1 Es waren wohl keine ästhetischen Bedenken, die Schnitzler von einer Publikation absehen ließen, als er den Letzten Brief eines Literaten im Kriegsjahre 1917 abgeschlossen hatte. Denn später hat er durchaus noch eine Veröffentlichung erwogen. So notiert er am 19. Februar 1923 in seinem Tagebuch: »Las die Novelle ›Letzter Brief eines Literaten‹ nach Jahren wieder durch; könnte doch wohl veröffentlicht werden«,2 und noch im Jahre 1927 bekräftigt er: »›Literat‹ gelesen, bessre Novelle als ich gedacht«.3 Die Forschung hat die Erzählung bisher vor allem unter komparativen Aspekten gewürdigt: So vergleichen Maja D. Reid, Bernard Dieterle und Szilvia Ritz den Letzten Brief eines Literaten mit Schnitzlers anderer Abschiedsbrief-Erzählung, Andreas Thameyers letztem Brief.4 Etwas vage bleiben die Parallelen zur Wahnsinnsnovelle Flucht in die Finsternis sowie die Selbstzitate und Analogien zu Sterben, auf die Bettina Matthias hinweist,5 während Eva Kut1 2 3 4
5
Erstdruck in: Neue Rundschau, 43 (1932), S. 14–37. Tgb 19. 02. 1923. Tgb 08. 08. 1927. Vgl. Maja D. Reid, »›Andreas Thameyers letzter Brief‹ und ›Der letzte Brief eines Literaten‹: Two Neglected Schnitzler Stories«, in: The German Quarterly, 45/1972, 3, S. 443–460, Bernard Dieterle, »›Keineswegs kann ich weiterleben‹ – Figurationen des Schreibens bei Arthur Schnitzler«, in: Modern Austrian Literature, 30/1997, 1, S. 20–38, und Szilvia Ritz, »Von Selbstmördern und Komödianten. Über drei fiktive Briefe von Arthur Schnitzler«, in: András F. Balogh/Helga Mitterbauer (Hrsg.), Der Brief in der österreichischen und ungarischen Literatur, Budapest 2005, S. 174–186. Vgl. Bettina Matthias, Masken des Lebens – Gesichter des Todes. Zum Verhältnis von Tod und Darstellung im erzählerischen Werk Arthur Schnitzlers, Würzburg 1999, bes. S. 171–189 und Anm. 23; tatsächlich ließen sich die Parallelen zu Sterben noch unterfüttern und präzisieren. Neben der Namensgleichheit der Protagonistin (Marie / Maria) ist es vor allem die inverse Konstellation: ein todkranker Liebhaber droht seine Geliebte an den befreundeten Arzt zu verlieren. In der Rivalität der Freunde ist das ambivalente Verhältnis des Literaten zu seinem Schulfreund Vollbringer antizipiert.
Forschungsstand
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tenberg einseitig auf den Selbstmord im Vergleich mit Fräulein Else abhebt und in der forcierten Parallelisierung die Eigenheiten der Erzählung verfehlt.6 Zudem wurde das Verhältnis von Literat und Arzt, von Briefschreiber und Adressat, biographisch gedeutet. Diese Lesart stützt sich zum einen auf Schnitzlers eigenes Doppelleben, das lange zwischen Medizin und Literatur schwankte, zum andern auf das fiktive Datum des Abschiedsbriefs vom 11. Oktober 1887, das etwa mit dem Beginn von Schnitzlers medizinischer Karriere als Sekundararzt und als Redakteur der von seinem Vater gegründeten Internationalen Klinischen Rundschau zusammenfällt. So sieht Maja D. Reid in Arthur Schnitzlers Vater, dem renommierten Kehlkopfspezialisten und Direktor der Wiener Poliklinik, das Vorbild für den fiktiven Adressaten »Dr. Anton Vollbringer«,7 dessen Rolle als Erzählinstanz im ambivalenten Verhältnis zu dem Literaten auch von Weinberger aufgewertet wird.8 Das Schreiben angesichts des Todes und das plötzliche Abbrechen des Abschiedsbriefes untersuchen sowohl Bernard Dieterle als auch Bettina Matthias, die in ihrer dekonstruktivistischen Analyse auf die »›doppelte Matrix‹ des letzten Briefes« abhebt, »wo Schreiben umspringt in Sterben«.9 Kritisch gewürdigt wurde vor allem die Künstlerkonzeption. Elke Surmann geht in ihrer genderorientierten Deutung auf die »männliche Selbstinszenierung« des Literaten ein und stellt fest, dass die »gegenseitige Besitzergreifung« »auf das bevorstehende Trennungserlebnis ausgerichtet« ist und Maria nur »als wertvolles Medium der Selbstvollendung« betrachtet wird.10 Denn der Künstler sehe in Maria die »produktive Schöpferkraft […] verwirklicht«, die ihm fehle, und ihre »Opferung« würde »zum Märtyrertod umgedeutet«.11 Dieser naheliegenden Lesart folgt auch Szilvia Ritz, die den engen 6
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Vgl. Eva Kuttenberg, »Suicide as Performance in Dr. Schnitzler’s Prose«, in: Dagmar Lorenz (Hrsg.), A Companion to the Works of Arthur Schnitzler, New York 2003, S. 325–345, bes. S. 337–345. Reid, Andreas Thameyers letzter Brief, bes. S. 456. Vgl. G. J. Weinberger, »Arthur Schnitzler’s ›Der letzte Brief eines Literaten‹«, in: Michigan Germanic Studies, 22/1996, S. 162–172. Allerdings passt das zweite fingierte Datum, der zehn Jahre danach datierte Kommentar des Arztes (11. Oktober 1897) nicht zu dieser biographischen Deutung. Vgl. Matthias, Masken des Lebens, S. 179; doch bietet die Erkenntnis, dass wir lesen, »wie das Subjekt des Textes vor unseren Augen auf den Tod hinschreibt« (ebd.), kaum mehr als eine Explikation des Offensichtlichen. Elke Surmann, »Ein dichtes Gitter dunkler Herzen«. Tod und Liebe bei Richard Beer-Hofmann und Arthur Schnitzler. Untersuchung zur Geschlechterdifferenz und der Mortifikation der ›Anderen‹, Oldenburg 2002, S. 92 und 94. Ebd., S. 96 und 99.
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Der letzte Brief eines Literaten
Zusammenhang von »Schmerz« und »Liebe« als textinternen Beweis dafür erachtet, dass der Literat »mit Maria experimentiert«: Nicht nur der Verzicht auf das Werk, auch der Selbstmord entwerte sich als »große[] Selbsttäuschung, zur sinnlosen und leeren Demonstration«.12 Die komplexe erzählerische Faktur, das dreistufige Inklusionsschema, wurde in der Forschung allerdings bislang kaum untersucht. Zwar würdigt Bettina Matthias das Verhältnis des Literaten als tertiärem Erzähler zu seinem Adressaten und Kommentator, dem sekundären Erzähler, ohne aber den primären Erzähler zu berücksichtigen. Surmann ist ihrer moralischen Argumentation der geschlechtsspezifischen Todesinszenierung so sehr verhaftet, dass sie die erzählerische Vermittlung und die Rivalität zwischen dem Literaten und dem Arzt Vollbringer ganz außer Acht lässt. Auch die intertextuellen Bezüge sind nur ansatzweise erkundet. Während Matthias pauschal »Anleihen an literarische Muster und Traditionen« konstatiert, weist Dieterle unspezifisch auf die Parallele zum »Charlotte-StieglitzKomplex« hin, und Surmann notiert die intertextuelle Anspielung auf Dostojewskis Schuld und Sühne.13 Kaum überzeugt dagegen Kuttenbergers Hinweis auf Lichtenbergs Rede eines Selbstmörders als »a master narrative voice reminiscent«, da allenfalls die analoge Sprechsituation geltend gemacht werden kann, die freilich keineswegs singulär ist.14
2.
Textgenese
Warum Schnitzler trotz seiner Wertschätzung den Letzten Brief eines Literaten nicht veröffentlicht hat, ist umso rätselhafter, wenn man die langwierige und bestens dokumentierte Textgenese bedenkt.15 In Schnitzlers Nachlass sind acht verschiedene Textfassungen der Novelle aus dem Zeitraum 1910–17 erhalten.16 12 13
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Ritz, Von Selbstmördern, hier S. 179f. Vgl. Matthias, Masken des Lebens, S. 182, Dieterle, Figurationen des Schreibens, S. 26, und Surmann, Ein dichtes Gitter, S. 101, Anm. 467. Dieterle erwähnt auch, dass Schnitzler am 15. Oktober 1915 im Tagebuch die Stieglitz-Affäre passend als »mühseliges Literatengewäsch« abtat. Vgl. Kuttenberger, Suicide as Performance, S. 340. Hier und im Folgenden benutze ich dankbar Ergebnisse der von mir betreuten Magisterarbeit von Marc Wurich, Textgenese von Arthur Schnitzlers ›Der letzte Brief eines Literaten‹ (Universität Freiburg 2009). Der Literat (FF C XXXVIII, 1–10 [9 und 10 identisch mit 8], Bl. 1–276 – Cambridge Schnitzler A 191f.).
Textgenese
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Noch vor oder in dem Jahre 1910 skizziert Schnitzler unter dem Arbeitstitel Der Literat folgenden Plot: Von einem verrückten Dichter. Er muss sein grosses Werk schreiben; aber er muss das Gefühl eines Witwers kennen lernen, heiratet eine todkranke Frau. In den Flitterwochen verliebt er sich in sie. Sie muss … muss gesund werden! Reist zu allen grossen Aerzten. Sie stirbt. Nun könnte er sein grosses Werk vollenden – aber es geht nicht. Tagebuch. Die Litteraten.17
Die kleine Skizze zeigt eine erstaunliche Interferenz von Erzähler- und Figurentext. Entspringt der einleitende Satz mit dem abwertenden Adjektiv ›verrückt‹ eindeutig dem Erzähler, so kommt in der zwanghaften Wahnidee, »sein grosses Werk [zu] schreiben«, wie der strukturell dominante Gebrauch des Modalverbs ›müssen‹ zeigt, der Wahrnehmungs- und Bewusstseinshorizont des Dichters zum Ausdruck. Der Hinweis »Tagebuch«, deutet darauf hin, dass Schnitzler dieser Subjektivierung auch durch eine Darstellungsform entsprechen wollte, die er bereits im Frühwerk erprobt hatte.18 Das abschließende Stichwort »Die Litteraten« bekundet, dass Schnitzler mit seinem Protagonisten auf einen Phänotypus der literarischen Moderne zielte, von dem er sich zeitlebens, zuletzt in seinem Essay Der Geist im Wort und der Geist in der Tat (1927), kritisch distanzierte. In diesem Essay, der erstaunliche Parallelen zu Jakob Wassermanns Traktat Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit (1910) aufweist,19 entwirft Schnitzler den »Literaten« als »negativen Gegentyp« zum »Dichter« und bezeichnet ihn »als einen Hochstapler des Geistes«:20 17 18
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Der Literat [I] (FF C XXXVIII, 1 – Cambridge Schnitzler A 191, 1). Vgl. etwa Arthur Schnitzler: Der Andere. Hier wird die ambivalente Trauerarbeit eines Witwers aus seinem Tagebuch protokolliert. Vgl. Jakob Wassermann, Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit, Leipzig 1910. Arthur Schnitzler: »Der Geist im Wort und der Geist in der Tat. Vorläufige Bemerkungen zu zwei Diagrammen«, in: Robert O. Weiss (Hrsg.), Aphorismen und Betrachtungen, Frankfurt/M. 1967, S. 135–166, hier S. 165. Vgl. dazu Wassermann, Der Literat, der den Typus des Literaten in fünf Ausprägungen fasst (als »Dilettant«, als »Psycholog«, als »Tribun«, als »Schöngeist«, als »Apostel« – dazu kommt das Kapitel »Die Frau als Literat«), bes. S. 47f. Darin charakterisiert Wassermann das Verhältnis des Literaten zum Erlebnis ähnlich wie später Schnitzler: »Wie oft sehen wir, dass zugunsten des ›Literarischen‹ das Menschliche geopfert wird. […] Die Kunst trennt sich vom Leben. Nun gibt es Fälle, wo ein Mann so von einem Erlebnis erfüllt ist, dass er sich gedrängt fühlt, es darzustellen. […] er greift zur schriftlichen Mitteilung – als Beichte; […] es reinigt und entlastet ihn. […] Erlebnis wird sogleich als Stoff einkassiert, der Stoff hinwiederum lähmt das Erlebnis, dem Schaffenden wird die Bahn verlegt […], und es entsteht – Literatur.«
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Der letzte Brief eines Literaten
Dem Literaten ist die Welt nicht a priori Material für sein Werk. Er ist vielmehr auf Stoffe aus. Er betrachtet seine Erlebnisse, seine Beziehungen, seine Stimmungen daraufhin, wie er sie etwa zugunsten seiner Produktion ausnützen könnte. Seine Erlebnisse sind ihm […] Mittel zum Zweck. Er ist unfähig, einem Menschen, einer Sache betrachtend, also wahrhaft reinen Herzens gegenüberzustehen. […] Beim Dichter ist die Linie des Lebens und des Schaffens ein und dieselbe. Beim Literaten sind es zwei Linien, die in gewissen (erhöhten) Momenten nahe zueinanderfließen, ja sich so völlig decken können, dass der Eindruck einer einheitlichen Linie hervorgerufen (und der Literat für einen Dichter gehalten) wird.21
Eine zweite Textfassung, ein stark überarbeitetes Typoskript von vier Seiten, mit dem Titel »Tragische Anekdote« datiert vom 19. April 1910.22 Sie distanziert das Geschehen durch die Form der auktorial, ohne direkte Rede erzählten Anekdote, deren Protagonisten namenlos bleiben, überführt aber den Plot in eine komplexere Konfiguration und Handlung. So erklärt ein Freund »halb im Scherze« dem Literaten, dem es nicht gelingen wollte, die Gefühle zden Schmerzu eines Witwers mit der ihm notwendigzenu erscheinenden zso ergreifenu Eindringlichkeit darzustellen, […] dass er, der manche Dichter […] überhaupt nur das mit vollkommener Treue zu schildern vermöchteznu, was er sie als eigenes Schicksal erfahren und erlitten habe hätten.23
Diesen Rat verinnerlicht der Literat so sehr, dass ihm »für das Gelingen seines Werkes« die Verbindung mit einer Frau »unerlässlich schien«, »deren Gesundheitszustand ihm die Hoffnung geben mochte zsollte, nunu bald jener inneren zSeelen-uVerfassung [eines leidenden Witwers, AA] teilhaft zu werden zu haben, die ihm bisher unbekannt geblieben war«.24 Außer der Nebenfigur des Freundes führt Schnitzler einen Gegenspieler in Gestalt eines Arztes ein, der vergeblich vor der Heirat »mit einem jungen Mädchen aus guter Familie« warnt, das »durch einen schweren Herzfehler zHerzleidenu zu frühem Tode bestimmt war«.25 Die Vermählung fungiert als Wendepunkt der Handlung. Während der Literat anfangs »das Ungeheuerliche und Tückische seines Vorgehens nicht zkaumu zu Bewusstsein kam zempfandu«, erwacht er bald, »gerührt von der vertrauensvollen Zärtlichkeit seiner zjungenu Gattin, […] zum Bewusstsein der lügenhaft bösen ztückisch-grauenhaftenu Rolle, die er sich nicht nur seiner Gattin gegenüber, sondern auch sich selbst und damit wieder seinem Werk gegenüber spielte zübernommenu«.26 Doch bleibt die Umkehr 21 22 23 24 25
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Ebd., S. 150f. Der Literat [II] (FF C XXXVIII, 2, Bl. 3–6 – Cambridge Schnitzler A 191, 2). Der Literat [II] (FF C XXXVIII, 2, Bl. 3 – Cambridge Schnitzler A 191, 2, Bl. [1]). Ebd. Der Literat [II] (FF C XXXVIII, 2, Bl. 3f. – Cambridge Schnitzler A 191, 2, Bl. [1]–2). Der Literat [II] (FF C XXXVIII, 2, Bl. 4f. – Cambridge Schnitzler A 191, 2, Bl. 2f.).
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ebenso ambivalent wie seine »wachsenden zfurchtbareu Angst«, in der »von Gewissensbissen mehr war als Mitleid und mehr von Mitleid als von Liebe«.27 Zum Freitod entschließt sich der Dichter, weil er fürchtet, aufgrund der »Veranlagung seines Wesens zvielleicht dochu dnoch dahin gebracht [zu] werden […], seinen Schmerz um die Hingeschiedene zihren Todu zwie er es früher gewollt eigentlichu zu Gunsten seines Werkes zu verwenden«.28 Der Selbstmord des Dichters führt aber den Tod der jungen Ehefrau herbei, deren »krankes Herz […] das Leid um den Verlorenen nicht länger als eine Stunde zRätsel seines Todes nur wenige Stundenu xxx« ertrug.29 Das Doppelbegräbnis wirkt wie eine zynische Persiflage auf den romantischen Liebestod: »noch ehe er aufgebahrt war, starb sie, und so fügte es sich, dass die Beiden am Ufer des Comosees, wo sich der Abschluss dieser Geschichte zu trug, in ein gemeinsames Grab zzu ewigem Schlaf u gebettet wurden. – «30 Das Jahr 1912 bringt die entscheidende Veränderung und Neukonzeption mit sich. Die Textfassung vom 23. März 1912, ein sparsam korrigiertes Typoskript, entspricht zunächst ganz der »Tragischen Anekdote«, bevor sie den schon auf den Trennungsschmerz zielenden Heiratsplan des Dichters psychologisch genauer motiviert.31 Erstmals wird ein Ballabend als entscheidender Moment der Liebesbegegnung in den Plot integriert. Als die schöne Tanzpartnerin des Dichters »auf einem Ballfest während eines Tanzes in seinen Armen ohnmächtig« wird und ihm »der Arzt des Hauses […], ein guter Bekannter« anvertraut, die Ohnmacht habe ihre »Ursache in einem schweren Herzleiden«,32 gewinnt sein tückischer Plan Gestalt. Der Dichter erkennt zum einen, dass Agathe ihn liebt, wenn sie trotz des Verbots und »fast mit Gefahr des Lebens, in seinen Armen und nur in den seinen« tanzt, und sieht sich zum andern »in dem Gefühl seiner hohen poetischen Sendung« bestätigt, da ihm das Schicksal »den Weg weise, den er nun bis zum Ende gehen müsse«.33 Die zunehmende Wiedergabe seiner Gedanken zeigt, wie in dieser Textfassung ein szenisch-personalisiertes Erzählen den anekdotischen Bericht sukzessive zurückdrängt. Die formale Diskrepanz zwischen dem auktorialen Erzählgestus und der fortschreitenden Subjektivierung wie Detaillierung mag ein Grund dafür sein, warum Schnitzler diesen Entwurf mitten in den Einwänden des Arztes gegen eine Heirat abbricht. 27 28 29 30 31 32 33
Der Literat [II] (FF C XXXVIII, 2, Bl. 5 – Cambridge Schnitzler A 191, 2, Bl. 3). Ebd. Der Literat [II] (FF C XXXVIII, 2, Bl. 6 – Cambridge Schnitzler A 191, 2, Bl. 4). Ebd. Der Literat [III] (FF C XXXVIII, 3, Bl. 7–12 – Cambridge Schnitzler A 191, 3). Der Literat [III] (FF C XXXVIII, 3, Bl. 9 – Cambridge Schnitzler A 191, 3, Bl. 3). Der Literat [III] (FF C XXXVIII, 3, Bl. 10 – Cambridge Schnitzler A 191, 3, Bl. 4).
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Der letzte Brief eines Literaten
Abb. 7: Der letzte Brief eines Literaten. Erste Seite aus dem Typoskript vom 17. 10. 1912 (Cambridge Schnitzler A 191, 4, Bl. 1).
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Ein formalästhetisches Experiment stellt die Textfassung vom 17. Oktober 1912 dar. Das sechsseitige Typoskript trägt den handschriftlichen Titel »Der Unmensch«, was Schnitzlers Vorbehalten gegenüber dem Typus des ›Literaten‹ entspricht.34 Hier überführt Schnitzler die Handlung in eine personale Erzählung, deren diskontinuierlicher, parataktischer Stil die Vorläufigkeit des Entwurfs widerspiegelt. Ein weiterer Unterschied ist das Erzähltempus: Schnitzler hat das Präteritum der ersten Entwürfe zugunsten einer Präsenserzählung aufgegeben. Auch der ›Medias in res‹-Beginn zeigt das Bemühen um Unmittelbarkeit (Abb. 7): Er geht in Gesellschaft trüb gestimmt, weil ihm sein Werk nicht gelingt. Er tanzt mit Alberta, sie wird ohnmächtig. Sein Gefühl: Wäre es das? z[Marginalie:] mit einer andern – nur sie wird ohnmächtig – (mit einer Schauspielerin.) die seine Geliebte ist. –u Er vermag nicht Schmerzen zu schildern, weil er keine noch gefühlt. (Es quält ihn, dass er als Dichter des Heitern gilt). Wenn er nun liebte und das Geliebte verlöre? Aber sie liebt ihn nicht oder er weiss wenigstens nicht ob.35
Signalisieren die Fragesätze im Konjunktiv Imperfekt anfangs das Stilmittel der ›Erlebten Rede‹, so intensiviert die Mutmaßung des Protagonisten im Indikativ Präsens den Figurentext fast zum uneigentlichen Inneren Monolog – davon unterscheidet ihn lediglich das Personalpronomen in dritter Person. Die starke Einspiegelung von Figurentext bestimmt diese vierte Textfassung. Der Schluss lässt Schnitzlers Suche nach einer formalästhetisch adäquaten Darstellung und dem erzähllogischen Status des Briefes erkennen. Die Frage »Ein hinterlassener Brief ?«, die das Typoskript beschließt, hat Schnitzler handschriftlich mit zwei Alternativvarianten beantwortet, die ich folgendermaßen entziffere (Abb. 8): Er schreibt ihr – aber sie wird den Brief nie empfangen. Er zerreißt ihn. –– Er schreibt einem Freunde z(dem Arzt. –u, dass er sich umbringt … Der reist dorthin – findet ihn schon todt … Du sollst mir sagen, ob ich ein Verbrecher ob ein Narr bin Ob ich gesühnt habe wie ich ein Verbrecher war? –36
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Vgl. Schnitzler, Der Geist im Wort, S. 150: »Er [der Literat] ist unter allen Typen der unmenschlichste […]«. Der Literat [IV] (FF C XXXVIII, 4, Bl. 13 – Cambridge Schnitzler A 191, 4, Bl. 1). Der Literat [IV] (FF C XXXVIII, 4, Bl. 16 – Cambridge Schnitzler A 191, 4, Bl. 4).
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Abb. 8: Der letzte Brief eines Literaten. Schluss der vierten Textfassung mit Alternativvarianten (Cambridge Schnitzler A 191, 4, Bl. 4).
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Fragen nach der moralischen Qualität seines Verhaltens, ob er »ein Verbrecher war«, beschließen als mögliche Wendungen aus dem Abschiedsbrief des Dichters an seinen Freund den Entwurf. In zwei Blättern einer undatierten Nachschrift hat Schnitzler die erzähllogischen Probleme dargelegt, um dann die Fiktion eines Herausgebers zu erproben. Dieser erklärt, dem Abschiedsbrief des Literaten wäre zwar kein Selbstmord gefolgt, doch sei die Erzählung »vielleicht das Einzige« aus der Hinterlassenschaft des Literaten, der »neunzig Jahre alt« geworden wäre, »was der Erinnerung wert scheint«.37 Die Unsicherheit der formalen Gestaltung ist auch den disparaten Skizzen aus den Jahren 1913/14 anzumerken, deren Erzählinstanz mehrfach wechselt: Einem Brief des Literaten an Agathe38 folgt ein Bericht des Arztes,39 dem sich ein weiterer Brief des Literaten (ohne Nennung des Adressaten)40 und zwei Aufzeichnungen von ihm, die zweite mit einem Nachwort des Arztes, anschließen.41 Auch wenn die Briefentwürfe suggerieren, die Gründe des Suizids für die Hinterbliebenen aufklären zu wollen, lassen entlarvende Äußerungen keinen Zweifel daran, dass diese pragmatische Absicht nur Vorwand des Literaten ist, das »große Werk« zu liefern. »Auch in der erzählten Welt offenbart sich der Brief demnach als das, was er auch in der außerliterarischen Realität darstellt: als literarische Fiktion«.42 Der Doppelcharakter des Abschiedsbriefs manifestiert sich besonders in den performativen Aspekten, die den Schreibakt nicht nur retrospektiv, im Hinblick auf die Vorgeschichte, verstehen, sondern auch selbstreferentiell auf das Schreiben als Begründung literarischen Ruhms zielen, wie etwa folgende Äußerung illustriert: Ich schreibe unsere Geschichte auf. […] Wo fängt sie an? […] Ist sie denn zu Ende mit meinem Tod? Mit deinem, Agathe? Da es aufgeschrieben ist, fängt es eben erst an – vielleicht.43
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Der Literat [IV*] (FF C XXXVIII, 5, Bl. 18 – Cambridge Schnitzler A 191, 4, Bl. [6]). Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 6, Bl. 19f. – Cambridge Schnitzler A 191, 5, Bl. 5f.). Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 6, Bl. 22f. – Cambridge Schnitzler A 191, 5, Bl. 8f.). Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 6, Bl. 24–29 – Cambridge Schnitzler A 191, 5, Bl. 10–15). Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 6, Bl. 30–32 und 35–42 – Cambridge Schnitzler A 191, 5, Bl. 16–18 und 21–28). Wurich, Textgenese, S. 50. Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 6, Bl. 19 – Cambridge Schnitzler A 191, 5, Bl. 5).
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Der letzte Brief eines Literaten
Um 1914 deutet sich sogar eine identifikatorische Intensivierung der Autoreflexivität an. Denn Schnitzler erprobt trotz des negierenden Anfangssatzes (»Es fällt mir nicht ein Aufzeichnungen von meinem gesammten Leben zu schreiben«) in einer weiteren Textfassung des Letzten Briefs eines Literaten eine lebensgeschichtliche Ausweitung.44 Sie überschneidet sich mit Schnitzlers eigener Autobiographie, die er um diese Zeit in Angriff nimmt. So deckt sich die erste Analepse des Briefentwurfs, die frühe resignative Einsicht in die Vergänglichkeit menschlichen Lebens (»Dies erste Aufwachen nachts, als ich noch ein Kind war und weinen musste, weil ich plötzlich wusste, dass der Tod in der Welt ist«), mit einer entsprechenden Kindheitserinnerung in der Jugend in Wien.45 Allerdings wird die Serie der Erinnerungen nachträglich ebenso relativiert (»Dies sind natürlich alles Erfindungen«) wie der Modus der Ich-Erzählung in Zweifel gezogen: »Fort mit dem pathetisch-sentimentalen Ich-Stil«.46 Der Brief wird auf diese Weise zur Rahmengeschichte umfunktioniert. Der eigentliche Plot, die Ehe mit einer todgeweihten Partnerin, aus deren Tod »richtiger Schmerz« als poetische Inspiration gewonnen werden soll, wird als Binnenerzählung isoliert. Mit der Rahmengeschichte des Literaten konkurriert die »Nachschrift des Arztes«, der sich als fingierter Herausgeber von dem Wahrheitsgehalt der Binnengeschichte distanziert. Da seine Korrekturen aber selbst der ›erzählten Welt‹ angehören und überdies stark affektisch geprägt sind, stellt er keine objektive Gegenstimme dar:
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Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 6, Bl. 30 – Cambridge Schnitzler A 191, 5, Bl. 16). Den biographischen Ansatz bekräftigt Schnitzler in mehreren handschriftlichen Marginalien, wie etwa: »Soll ich mein ganzes Leben schildern? Von dem Leben daheim … Ich hatte es gut! Von den Eltern, die todt waren … Von der Schwester …! die vermisst ist auch von – … Das alles ist eines. Einer gehört niemand« (Ebd.). Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 6, Bl. 30 – Cambridge Schnitzler A 191, 5, Bl. 16); vgl. den entsprechenden Passus in der Jugend in Wien, S. 59: »[…] an der Schwelle der späteren Knabenjahre, die bei früher reifenden Naturen fast schon als die ersten Jünglingsjahre zu bezeichnen sind, muß ich einer unvergeßlichen und bedeutungsvollen, zeitlich vielleicht etwas weiter zurückliegenden Stunde gedenken, in der ich des Begriffs Tod zum erstenmal mit ahnendem Schauer innewurde. Es war eine Nacht, in der ich, entweder plötzlich erwacht oder noch nicht eingeschlafen, in einem aus der Tiefe meiner Seele aufsteigenden Grauen vor dem Sterbenmüssen, das mir zum erstenmal in seiner ganzen Unentrinnbarkeit zum Bewußtsein kam, laut zu weinen begann«. Vgl. dazu Dieterle, Figurationen des Schreibens, S. 31, der auf die Interferenzen von faktualem, autobiographischen und fiktionalem Erzählen verweist. Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 6, Bl. 31f. – Cambridge Schnitzler A 191, 5, Bl. 17f.).
Unzuverlässiges Erzählen
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Nachschrift des Arztes. Er hatte wirklich so viel Anstandsgefühl, dass er sich getötet hat. Aber die Papiere vertilgte er nicht. Ich tue es auch nicht. Sie bleiben aufbewahrt. Man soll ihn kennen. Man soll diese Subjekte überhaupt kennen lernen. zDieu Schöne Frau war übrigens schon vorher still entschlafen. Was er von der Schwester erzählte ist der pure Schwindel. Poesie nennt man es ja wohl auch … Für die Schwester leg ich meine Hand ins Feuer … zSie ist aus guter Familie. Ich habe ihn gekannt …u47
In der fast Mise-en-abyme-ähnlichen Metalepse, welche die Hierarchien und Grenzen der verschiedenen Ebenen der Erzählung verwischt und den Leser irritiert, hat Schnitzler eine adäquate Erzählform gefunden, die er mit dem Literaten-Thema und dem literarischen Plot beabsichtigt hatte. Sie lenkt den Leser über das problematische Verhältnis von Ich-Erzähler und Erzählabsicht – Beichte oder literarisches Kunstwerk – auf die nicht minder ambivalente Beziehung zwischen Briefschreiber und fingiertem Herausgeber, ohne selbst lösen zu können, ob der Herausgeber ein mögliches Korrektiv darstellt oder innerfiktionaler Teil des letzten Briefes ist. Diese unauflösbare Metalepse behält Schnitzler auch in den abschließenden Textfassungen 7 und 8 aus dem Jahre 1917 bei. Da die Textfassung 8 lediglich eine maschinenschriftliche Reinschrift der Textfassung 7 darstellt, eines Typoskripts mit handschriftlichen Korrekturen Schnitzlers, können beide Fassungen gemeinsam als maßgebliche Grundlage der Interpretation und der intertextuellen Bezüge gewürdigt werden. Auf die zentrale Bedeutung von Intertextualität und Allusion weist allein schon der Titel im postumen Erstdruck hin, der eine identifikatorische Lektüre ohnehin kaum zulässt.
3.
Unzuverlässiges Erzählen
In der letzten Textfassung, die bis auf die Titelei und kleine Abweichungen die Vorlage für den postumen Druck bildet, hat Schnitzler die Erzählebenen noch einmal verkompliziert. So ist zwischen dem ausführlichen Brief des Literaten und der Nachschrift des Arztes ein vermittelnder Erzähler eingeschaltet. Er fungiert als Kommentator und erklärt den jähen Abbruch des nurmehr als Binnengeschichte fungierenden Briefs: Ich lösche mich aus, eh ich mich vollende. Darum habe ich mich entschlossen ––– Hier bricht der Brief ab. Der deutsche, in Mailand praktizierende Arzt, in dessen Nachlaß er gefunden wurde, hat einige Zeilen beigefügt, die seiner Absicht nach gewiß zugleich mit dem Manuskript der Veröffentlichung übergeben werden sollten. Hier sind sie: […] (EII, 228) 47
Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 6, Bl. 42 – Cambridge Schnitzler A 191, 5, Bl. 28).
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Der letzte Brief eines Literaten
Der primäre Erzähler steht in der Rolle eines postumen Herausgebers nun als verlässliche Instanz zwischen den fast feindlichen Erzählern, dem Dichter und dem Arzt. Damit ähnelt die Konstruktion Sören Kierkegaards Enten – Eller [Entweder – Oder], dessen fiktiver Herausgeber Victor Eremita Papiere und Briefe, die er in einem Sekretär gefunden zu haben vorgibt, zwei unterschiedlichen Verfassern zuordnet.48 Und wie bei Kierkegaard finden auch bei Schnitzler die beiden Charaktere Ausdruck in der unterschiedlichen Textgestalt: dem verbosen Abschiedsbrief des Literaten steht die knappe, bittere Nachschrift des Arztes entgegen. Schnitzlers Herausgeber relativiert zwar mit seiner knappen Erklärung den Status des Arztes, der nur mehr als sekundärer Erzähler und fingierter Herausgeber fungiert, doch bleibt seine eigene Rolle durchaus zweifelhaft. Nimmt man ihn als postumen Herausgeber ernst, ist er auch für den Titel Der letzte Brief eines Literaten wie für den Untertitel »Novelle« verantwortlich. Da die Titelei aber auf die Fiktionalität des gesamten Erzähltexts abhebt, relativiert sie den Status des primären Erzählers, indem sie ihn wieder zu einem Teil der Fiktion werden lässt. Dieses Oszillieren zwischen realer und fiktionaler Wirklichkeit irritiert den Leser gezielt, erschwert eine eindeutige Bewertung der Erzählinstanzen und unterminiert jegliche identifikatorische Lektüre. Die amplifizierende Ausgestaltung des Briefs in der letzten Textfassung dient vor allem einer stärkeren Psychologisierung des Literaten. So wird das ambivalente Verhältnis zur Ehefrau wie zum Arzt psychologisch ausgedeutet, zur Sprache kommen aber auch das Thema Kunst und Nebenmotive wie das ausgeprägte ökonomische Interesse des Dichters und das erotisch konnotierte Verhältnis zur Krankenschwester, welche die sterbende Geliebte pflegt. Den namenlosen Literaten und den Arzt mit dem sprechenden Namen »Dr. med. Anton Vollbringer« verbindet eine fast lebenslange, freilich zweischneidige Freundschaft. Die Retrospektive des Dichters auf die gemeinsame Zeit als »Schulkamerad[en und] Jugendfreund[e]« (EII, 207) bekundet eine konkurrentielle Hassliebe: So hat der Arzt den Dichter in seinen schulischen Leistungen hinter sich gelassen und auch in seiner akademischberuflichen Karriere als Mediziner übertroffen. Zugleich beschuldigt der Dichter den Adressaten, dieser habe ihn trotz äußerlicher Erfolge immer beneidet, führt aber als Beweis für den angeblich »unauslöschlichen Hass« (EII, 208) des Arztes lediglich den »etwas tückischen Schimmer in [s]einem Auge« (EII, 208) an. Auch die dreifache Erwähnung der »wundertätigen 48
Schnitzler kannte Kierkegaards Schrift, wie aus der Lektüreliste hervorgeht (LL N35).
Unzuverlässiges Erzählen
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Morphiumspritze«, dank derer Maria komatös schläft, während der Dichter den Brief schreibt, enthält im vordergründigen Dank und konspirativen Einverständnis einen impliziten Vorwurf: »Du hast gut getan, mein Freund, aber du hättest mir auch sagen dürfen, dass sie [scil. Maria] diesmal nicht mehr erwachen wird« (EII, 226). Den Literaten verbindet nicht nur mit Doktor Vollbringer eine Rivalität, er ist überhaupt auf Mediziner fixiert. So erwähnt er in seinem letzten Brief insgesamt vier verschiedene Ärzte, stellt eine »Diagnose«, obwohl er einräumt, »kein Arzt« zu sein (EII, 213) und antizipiert bei Marias Ohnmacht sogar den Umstand, dass ihm neben Marias Mutter »die Ärzte das Heiraten widerraten oder gar untersagen sollten«. Die wenigen kryptischen biographischen Details, etwa die Begegnung mit dem Jugendfreund »auf dem Medizinerkränzchen«, legen den Verdacht nahe, der Literat sei ein gescheiterter Mediziner, relativieren aber zusätzlich die Glaubwürdigkeit des ressentimentgeladenen Briefschreibers. Auch das Verhältnis zur todkranken Partnerin Maria bleibt in der letzten Textfassung ambivalent. Schon der Status der Beziehung ist unklar. Obwohl der Dichter in einer Parenthese erklärt: »Wir sind nämlich nicht verheiratet, mein Freund«, und Maria seine »Geliebte« nennt, spricht er später wieder von »meiner Frau« (EII, 209). Ebenso bleiben sowohl die Entstehung der zur »Liebe auf den ersten Blick« stilisierten Beziehung als auch deren erotische Intensität zweifelhaft. Obgleich der Partnertausch, der Wechsel von »Syringe« zu Maria fast übergangslos stattfindet, wird er wie ein epochaler Wandel vom paganen zum christlichen Liebesobjekt überhöht.49 Die Tendenz zur Stilisierung zeigt sich etwa, wenn der Literat nach dem scheinbar ersten Zusammentreffen mit Maria auf dem Ball einräumt, dass »wir uns in Gesellschaft schon etliche Male begegnet waren« (EII, 211). Der ohnmächtigen Maria eilt »eine Dame« zu Hilfe, »in der ich Marias Mutter erkannte« (EII, 211). Und den Vergleich mit einer ›alten Bekanntschaft‹, der den vertraulichen Umgang mit Maria und ihrer Mutter illustriert, bekräftigt ein nachgereichter Relativsatz überraschend als Tatsache: »als ich mit Maria und ihrer Mutter an einem Tisch im Logengang saß und mit ihnen wie mit oberflächlichen alten Bekannten, die sie ja übrigens waren, von allerlei gleichgültigen Dingen plauderte«. (EII, 212f.) Auch die widersprüchlichen Berichte über den Gesundheitszustand Marias gehören zu den Unstimmigkeiten, mit denen der Literat seine Liebe zu Maria nachträglich bearbeitet. 49
Der Umstand, dass »Syringe« nicht nur auf die pagane Syrinx verweist, sondern im Englischen auch ein Synonym ist für ›Injektion‹, bekräftigt die These von der medizinischen Fixierung des Briefschreibers.
146
Der letzte Brief eines Literaten
Die »Liebesehe«, vor der ein mit Marias Familie befreundeter Arzt den Dichter zuvor gewarnt hatte, entlarvt der Bericht von der italienischen Reise des Paares als Strohfeuer. Zwar betont der Dichter gerade nach Marias Ohnmachtsanfällen in Florenz eine enge Verbundenheit: »Wir waren etwas Unlösliches, Unteilbares, wir waren wahrhaft eins geworden […]« (EII, 222); andererseits erwähnt er auch »[s]eine[] einsamen Spaziergänge […], auf die ich auch damals nicht verzichten wollte und konnte« (EII, 219), und die er in den Dolomiten noch ausdehnt: »Da Maria keine weiteren Spaziergänge unternehmen durfte, mir aber solche unter allen Umständen unentbehrlich waren, fügte es sich, dass ich oft stundenlang von ihr fernblieb« (EII, 221). Die medizinische Begründung seiner sexuellen Enthaltsamkeit wirkt daher nur bedingt glaubwürdig: Auch wenn »Maria sich in dem geschwisterlichen Zusammenleben, zu dem ich mich nach einer leisen Mahnung des Professors hatte verstehen müssen, sichtlich erholte« (EII, 225), ist die Rekonvaleszenz von kurzer Dauer. Die scheinbar fürsorgliche Zurückhaltung camoufliert wohl eher eine amouröse Indifferenz, wie sie sich der Briefschreiber kurz danach eingesteht: »Aber meine Gleichgültigkeit nicht nur gegen sie, auch gegen mich, war eine vollkommene« (EII, 225). Vor diesem Eingeständnis wirkt die letzte Liebesnacht – schon wegen ihrer übersteigerten Parallelisierung zu dem ersten Ballabend – deutlich stilisiert: »Wie zu einem ersten Kuß sanken wir einander in die Arme – und jetzt erst war das Glück« (EII, 227). Die Liebesbeteuerung konterkariert die digressiven Schilderungen der attraktiven Krankenschwester, der »schöne[n] blonde[n]«, mit der sich der Dichter ein erotisches Abenteuer imaginiert und die er kontrastiv auf die todkranke Maria bezieht (vgl. EII, 214). Auch passt das abrupte Ende des Briefs mitten im Satz nicht zu dem weitschweifigen Stil. Die narrative Unzuverlässigkeit, die den Letzten Brief eines Literaten charakterisiert, beschränkt sich nicht auf derartige Unstimmigkeiten. Sie wird durch die dialektische Spannung zu dem Postskriptum noch gesteigert, das von dem Adressaten, dem behandelnden Arzt Vollbringer, stammt. Das Postskriptum ist auf den 11. Oktober 1897 datiert, genau zehn Jahre, nachdem Vollbringer den Brief »unbeendet auf dem Schreibtisch des Dichters« gefunden habe, und erklärt auch den abrupten Briefschluss: Der Dichter habe, als er »seine Geliebte bewusstlos, in den letzten Zügen fand« (EII, 229), »seinem Leben durch einen wohlgezielten Schuß in die Schläfe ein Ende gemacht« (EII, 228f.). Doch schwächt bereits die Erklärung für den Selbstmord des Dichters die Glaubwürdigkeit des Postskriptums. Vollbringer zufolge wollte sich der Dichter »möglichst rasch ins Jenseits […] befördern, um nicht doch am Ende genötigt zu sein, das versprochene Wunderwerk zu schaffen – wozu er übrigens, wie nach der Lektüre des Briefes wohl
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niemand zweifeln wird, völlig unfähig gewesen wäre« (EII, 229). Die unverhohlene Feindseligkeit, die aus dem vernichtenden Urteil über die künstlerische Unfähigkeit seines Freundes spricht, diskreditiert den Arzt als objektive Instanz. So enthält auch der zweite Teil des Postskriptums lediglich Richtigstellungen »einzelne[r] Partien des Briefes«: Der Arzt wehrt sich gegen die »Verdächtigung«, er habe der »Kranken eine zu starke Injektion verabreicht« (EII, 229), gegen »die versteckten Anwürfe«, er sei ein »neidischer Philister« (EII, 229) und »leugne[] nicht »eine gewisse Antipathie gegen den Schreiber« (EII, 229). Auch die Versicherung des Arztes, er habe »ein ziemlich reichlich bemessenes Honorar […] einem wohltätigen Zwecke zugeführt« (EII, 229), dient nur der eigenen Rechtfertigung. Vor allem wird die Charakterisierung der angeblich leichtlebig-lüsternen Krankenschwester zurückgewiesen: Die »junge Dame, aus einer guten Brescianer Familie, schon damals mit mir verlobt«, ist nämlich »nun tatsächlich seit acht Jahren meine Gattin und [hat] mir drei Kinder geboren« (EII, 229). Das Postskriptum wirkt wie eine klassische Gegenübertragung auf den Dichter, die Fixierung des Arztes geht über den Tod des Dichters hinaus. Auf der Hochzeitsreise besucht er mit seiner Frau, der blonden Krankenschwester, eine Komödie des Dichters, um einzuräumen, »es dauerte lange, bis ich und besonders meine Frau sich von dem peinlichen Eindruck dieses Abends erholen konnten« (EII, 229f.). Und es scheint am Ende fast, der Arzt habe genau »zehn Jahre« gewartet, um befriedigt festzustellen, dass der literarische Nachruhm des Dichters versiegt sei. Diese Fixierung zeigt der hämische Schluss des späten Postskriptums: »Die Unsterblichkeit dauert manchmal nicht so lange, als man sich bei Lebzeiten einbildet. Er ruhe in Frieden« (EII, 230). Um eine Zwischenbilanz zu ziehen: Sowohl Der letzte Brief eines Literaten als auch das Postskriptum des Arztes sind tendenziell unzuverlässige Texte, die sich nicht wechselseitig korrigieren, sondern sich in spürbarer Affektvehemenz unaufgelöst in Frage stellen. Die doppelte Erzählperspektive verhindert jegliche einseitige Parteinahme. Auch die zahlreichen intertextuellen Referenzen, die ich im Folgenden erläutern möchte, tragen zur rezeptionsästhetischen Irritation des Lesers bei und stehen im Dienste einer ›pluralen Lektüre‹.
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4.
Der letzte Brief eines Literaten
Literarisierungstendenz
Bereits die Gattungsbegriffe ›Brief‹ und ›Novelle‹ sowie die Bezeichnungen ›Literat‹ und ›Nachwort‹ in Titel und Untertitel verweisen auf die ausgeprägte literarische und metapoetische Faktur des Textes. Überdies verdeutlicht der Ich-Erzähler in dem Letzten Brief immer wieder durch transtextuelle Hinweise, in welch starkem Maße er sich auf Dichtungstraditionen und Schreibweisen bezieht und mit ihnen interagiert. So hebt er ausdrücklich die ›Fiktionsindikatoren‹ und die literarische Stilisierung hervor, wenn er seine Liebesbegegnung mit Maria schildert: Daher sei nach der Art gewiegter Novellisten bei der Stunde der Anfang gemacht, in der wir beide einander begegneten, Maria und ich; vielmehr bei der, da wir einander Schicksal wurden, im Gewirr dahinschwebender Paare unter Flöten- und Geigenklang (EII, 210).
Auch metafiktionale Hinweise, die trotz abweichender Aspekte an der Gattung ›Brief‹ festhalten (»es ist trotz alledem ein Brief« [EII, 206]) und den Schreibakt reflektieren, gehören zu den ausgeprägten Signalen markierter Literarizität: »[…], dass ich […] einen Brief – oh, ist’s möglich! an dich einen Brief verfasse« (EII, 207). Die Literarisierung wird als spezifische Wahrnehmung sogar anderen Personen zugeschrieben, allerdings lassen solche Projektionen eine camouflierende Tendenz erkennen. Wenn etwa der Literat erklärt, Maria habe die liebestiftende Begegnung nur deshalb gleichgültig gelassen, weil darin für sie ein Leseerlebnis Wirklichkeit geworden sei, sind Zweifel an des Literaten Gegenliebe angebracht: und auch unsere Begegnung […] nahm sie [Maria] ohne Verwunderung und ohne jede Andacht hin – sie hatte gewiß schon in manchem Buch von jener geheimnisvollen Liebe auf den ersten Blick gelesen, an die ich selbst bisher nie geglaubt hatte – die Sache schien ihr keineswegs merkwürdiger, weil sie sie an sich selbst erfuhr (EII, 215, Hervorh. von mir).
Auch sind die Floskeln, in denen der Literat seine Liebe zu Maria schildert, poetisch so hochgradig konventionell, dass sie mehr die literarische Gewandtheit des Ich-Erzählers bezeugen als ein wirklichkeitsgetreues Bild der Beziehung zeichnen. So wirken auch die zahlreichen Verweise auf das »Schicksal« oder die allgemeinen Reflexionen über das Verhältnis von Mann und Frau wie Weisheiten aus zweiter Hand.
Literarisierungstendenz
4.1.
149
Dostojewski: Schuld und Sühne
Einen klar markierten intertextuellen Bezug liefert die Einleitung des Briefgeständnisses, indem der Literat dem Arzt »[s]ein Geheimnis« anvertraut, »die Geschichte meiner Schuld und Sühne, wie andere dir sympathischere Autoren sich ausdrücken dürften« (EII, 206). Bei der Abfassung von Schnitzlers Erzählung lag der Roman Dostojewskis bereits in sieben verschiedenen deutschen Übersetzungen vor; Elisabeth Kaerricks maßgebliche Version, unter dem Pseudonym E. K. Rahsin erschienen, trug den Titel Schuld und Sühne (1906).50 Mit der Erwähnung des Titels parallelisiert sich Schnitzlers Literat mit dem Protagonisten von Dostojewskis Roman, dem Studenten Rodion Raskolnikow, der sich in einem Überlegenheitsdünkel zu einem Mord legitimiert sieht. Wie Raskolnikow zufällig auf die Idee des »perfekten Verbrechens« kommt, so war es in den früheren Textfassungen Schnitzlers die beiläufige Äußerung eines Freundes, die »Wurzel in der empfänglichen, ja aufgewühlten Seele dieses Dichters« schlug.51 Zugleich steckt in dem intertextuellen Selbstvergleich des Dichters auch schon das Moment der Selbstkritik. Denn wie Raskolnikows Plan an seinen Gewissensqualen scheitert und er sich schließlich der Polizei stellt, so gibt Schnitzlers Dichter sein hochgestecktes Ziel, ein großes Werk zu schaffen, auf oder entzieht sich ihm durch Suizid. Und das Verhältnis des sich reuevoll gebenden Abschiedsbriefes zu dem Vorhaben, aus dem Tod eines Menschen ästhetisches Kapital zu schlagen, entspricht ganz der »Sühne« Raskolnikows, nachdem er seine »Schuld« eingesehen hat. Trotz des markierten und strukturalen Bezugs ist Dostojewskis Roman nur einer von mehreren Prätexten, mit denen der Letzte Brief eines Literaten in einem Dialog steht – allesamt Texte, die vom hohen Anspruch und Scheitern einer Künstlerfigur erzählen. Dieses durchaus zeittypische Thema reflektieren mehrere Texte der Klassischen Moderne, am prominentesten vielleicht Thomas Manns Künstlernovelle Tristan (1903). Die Dialogizität, die produktive Auseinandersetzung mit den mutmaßlichen Prätexten, verleihen dem Letzten Brief seine Polyvalenz und sichern dadurch seine poetologische und ästhetische Bedeutung.
50
51
Als komplementäres Begriffspaar war »Schuld und Sühne« Ende des 19. Jahrhunderts durchaus gebräuchlich. Vgl. etwa Geibels Schiller-Lob: »Und aus der Leidenschaften Schuld und Sühne | Das Schicksal deutend, meistert’ er die Bühne« (Emanuel Geibel, »Am Schillertage«, in: Ders., Gedichte und Gedenkblätter, Stuttgart 41865, S. 80–83). Der Literat [II] (FF C XXXVIII, 2, Bl. 3 – Cambridge Schnitzler A 191, 2, Bl. [1]).
150 4.2.
Der letzte Brief eines Literaten
E. T. A. Hoffmann: Rat Krespel
Die Konstellation in Schnitzlers Letztem Brief eines Literaten entspricht E. T. A. Hoffmanns bekannter Künstlernovelle Rat Krespel: die Liebesbeziehung zwischen einem Künstler und einer kranken Frau, deren Leben durch den künstlerischen Anspruch des Liebhabers und die hiermit verbundenen körperlichen Belastungen gefährdet ist. Gerät Rat Krespels Tochter Antonie durch Singen in Lebensgefahr, ist es bei der Geliebten des Literaten der Tanz. Allerdings wäre hier durchaus an eine doppelte Bezugnahme auf E. T. A. Hoffmanns Werk zu denken, da die Ballszene mit der leblos wirkenden Marie an Nathanaels Tanz mit der Automate Olimpia in Hoffmanns Briefnovelle Der Sandmann erinnert. Schnitzler war mit Hoffmanns Werk von Kind auf vertraut, Tagebuchnotizen von 1905 und 1915 bezeugen aber auch noch spätere HoffmannLektüren.52 Seine frühe Geschichte von Amadeus dem Poeten beurteilt Schnitzler 1915 rückblickend selbst als »hoffmannisierend«.53 Neben der gleichen Konstellation und Identität des Konflikts – der künstlerische Anspruch des Protagonisten konkurriert mit seiner Liebe – weisen Der letzte Brief eines Literaten und Rat Krespel weitere deutliche Gemeinsamkeiten auf. Dies gilt zunächst in formaler Hinsicht: Beide Texte sind Ich-Erzählungen und als Binnenerzählungen in einen Rahmen eingebettet, der aus nachzeitiger Perspektive die Ausführungen des Ich-Erzählers relativiert. Auch wenn eine eindeutige Markierung fehlt,54 finden sich in Schnitzlers Brieferzählung mehrere sprachliche, motivliche und inhaltliche Merkmale, die sich als Hinweise auf den Rat Krespel deuten lassen. Marias verstorbener Vater war »Ministerialrat«, trägt also denselben Titel wie Antonies Vater Rat Krespel, und die anachronistische Reminiszenz zum Porträt des Ministerialrats, das »an die Züge 52
53 54
Tgb 08. 03. 1905 und Tgb 10. 06. 1915, wo er allerdings zu seiner Hoffmann-Lektüre bemerkt: »nicht mit dem Vergnügen von einst«. Diese Abwendung steht im Kontrast zur Verehrung des jungen Schnitzler für Hoffmann, auf der etwa seine Jugendfreundschaft mit Richard Horn gründete: »Wir trafen uns vor allem in unserer Liebe für die Romantik. Unter den Dichtern war E.T.A. Hoffmann uns am teuersten, nächst ihm Tieck und Immermann. Ihr Einfluß zeigte sich in manchen meiner Entwürfe und Versuche aus damaliger Zeit, am deutlichsten in einer übrigens kindlich-süßlichen, gegen Schluß völlig verhudelten ›Geschichte von Amadeus, dem Poeten‹. Unter E.T.A. Hoffmanns Werken liebte ich am meisten den ›Kater Murr‹« (JW, S. 69). Tgb 19. 07. 1915. Da die Frauenfiguren in den früheren Textfassungen zwar ihren Namen wechseln, aber sämtlich mit ›A‹ beginnen (Agathe, Alma, Auguste, Albertine), könnte man darin auch eine Allusion auf Hoffmanns Protagonistin Antonie sehen.
Literarisierungstendenz
151
eines Offiziers aus den Freiheitskriegen« (EII, 214) erinnert, evoziert die Entstehungszeit der Serapionsbrüder (1819–21). Maria lebt mit ihrer Mutter in »Hietzing«, Hoffmanns Künstlernovelle spielt in »H.«, doch vor allem bildet in beiden Texten Italien die Kulisse für Krankheit und Tod der leidenden Frauen. Nicht zu übersehen sind die Ähnlichkeiten in den Beschreibungen der Tochter-Figuren. Beide leben mit einem verwitweten Elternteil zusammen, Maria mit ihrer Mutter, Antonie mit ihrem Vater Rat Krespel. Antonie wie Maria werden als zart-fragile, aber leidenschaftliche Wesen charakterisiert: Die Schilderung der ohnmächtigen Maria, nachdem der Dichter ihren tiefen »Blick« »in Aug’ und Sinn weitertrug« (EII, 210), als »totenblaß«, bis »die Farbe wieder in ihre Wangen zurückkehrte«, ähnelt durchaus Hoffmanns Beschreibung: Antoniens Äußeres machte auf den ersten Anblick keinen starken Eindruck, aber bald konnte man nicht loskommen von dem blauen Auge und den holden Rosenlippen der ungemein zarten lieblichen Gestalt. Sie war sehr blaß, aber wurde etwas Geistreiches und Heiteres gesagt, so flog in süßem Lächeln ein feuriges Inkarnat über die Wangen hin, das jedoch bald im rötlichen Schimmer erblasste.55
Unverkennbar stimmt auch die Beschreibung der »Fehler«, eines angeborenen »Defekts«, überein,56 die den jungen Frauen die Ausübung bestimmter körperlicher Anstrengungen verbietet: […] Antonie leidet an einem organischen Fehler in der Brust, der eben ihrer Stimme diesen […] über die Sphäre des menschlichen Gesangs hinaustönenden Klang gibt. Aber auch ihr früher Tod ist die Folge davon, denn singt sie fort, so gebe ich ihr noch höchstens sechs Monate Zeit.57
Ist es bei Antonie das Singen, das ihr Leben gefährdet, ist es bei Marias Befinden ein Herzfehler, der ihr jegliche Leidenschaft untersagt:58 So stellt der Literat nach ihrer Ohnmacht bei dem Ball fest: 55
56
57 58
E. T. A. Hoffmann, »Rat Krespel«, in: Ders., Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Die Serapionsbrüder, Wulf Segebrecht/Ursula Segebrecht (Hrsg.), Frankfurt/M. 2001, S. 39–64, hier S. 49. Vgl. auch die äußerliche Markierung der Schwäche bei Gabriele Klöterjahn in Thomas Manns Tristan in Gestalt eines »kleine[n], seltsame[n] Äderchen[s]«, das »sich blaßblau und kränklich in der Makellosigkeit dieser wie durchsichtigen Stirn verzweigte«, in: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. II,1: Frühe Erzählungen. 1893–1912, Terence J. Reed unter Mitarb. von Malte Herwig (Hrsg.), Frankfurt/M. 2004, S. 319–371, hier S. 323. Hoffmann, »Rat Krespel«, S. 60f. Allerdings wird Marias Leiden unterschiedlich gedeutet. Der nachträgliche Kommentar von Marias Mutter (»sie bekommt nämlich Herzklopfen durch jede rasche Bewegung« [EII, 212]) etwa relativiert die Erklärung des Dichters als Dramatisierung.
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Der letzte Brief eines Literaten
Maria hat einen Herzfehler […]. Sie weiß von ihrer Krankheit und von der Gefahr, die jede rasche Bewegung für sie zur Folge haben kann und hat mir trotzdem den erbetenen Tanz nicht verweigert […]. (EII, 213)
Doch die Diagnose ihres behandelnden Arztes leitet aus diesem Herzfehler ein Liebesverbot ab: Marias Zustand bedürfe der größten Schonung, wenn, die sie liebten, sich noch ein paar Jahre an ihrer Gegenwart erfreuen wollten. Den Erregungen einer Ehe, insbesondere […] einer Liebesehe, sei ihr krankes Herz durchaus nicht gewachsen. (EII, 217)
In seinem Verstoß gegen Gesangs- bzw. Liebesverbot gleicht Schnitzlers Dichter sowohl Antonies Bräutigam B. wie ihrem Vater Rat Krespel. Krespel verschwindet mit Antonie »aus F** … nach H.«,59 doch der angebliche Grund der Flucht, die Furcht, der Bräutigam B. könnte »nicht der Versuchung […] widerstehen […], Antonien singen zu hören«, entpuppt sich bald als egoistischer Vorwand des Vaters. Krespel selbst vermag auf die Kunstausübung nicht zu verzichten: »er [selbst] wollte, dass das Entsetzliche geschehe. – B. musste an den Flügel, Antonie sang, Krespel spielte lustig die Geige, bis sich jene roten Flecken auf Antoniens Wangen zeigten«.60 Auch Schnitzlers Literat verzichtet nach der Diagnose nicht auf ein gesundheitsgefährdendes Liebesleben, sondern reist mit der herzkranken Maria »fluchtartig« (EII, 217) nach Italien. Der Literat rechtfertigt sein mörderisches Durchbrennen künstlerisch wie erotisch. Beide Wünsche sind aber so miteinander verschränkt, dass sie die Camouflage des erotischen Destruktionstriebs und dessen Verschiebung auf ein künstlerisches Ziel entlarven: Das Gefühl, sie durch eigene Schuld zu verlieren, und dass ich mir zugleich zutraute […] durch ein Werk, das vor Gott höher anzuschlagen war als ein Menschenleben, dieser Schuld wieder ledig zu werden, das musste meine Leidenschaft so sehr ins Ungeheure steigern, dass sie fähig war, innerhalb einer karg zugemessenen Frist das geliebte Geschöpf reicher zu beglücken, als es eine behaglich-unbekümmerte Zärtlichkeit imstande war […]. (EII, 217)
Durch den intertextuellen Bezug auf Hoffmanns Rat Krespel wertet Schnitzlers Literat sein Liebesleben künstlerisch auf. Er schreibt der überforderten Maria dieselben Leidenssymptome »Anfall« und »Ohnmacht« zu, wie sie Antonie bei Ausübung ihrer Kunst erleidet (EII, 220),61 und auch die erotische »Leidenschaftlichkeit« (EII, 219) ist in Krespels Beziehung zu Antonie vor59 60 61
Hoffmann, »Rat Krespel«, S. 61. Ebd. Vgl. ebd., S. 62.
Literarisierungstendenz
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geprägt: Antonie entzündet im Rat »nie gekannte Lust«.62 Wie im Prätext wird auch der Tod der geliebten Frau als Befreiung von der Kunstübung gefeiert. Auch wenn Schnitzlers Dichter nicht wie Rat Krespel jubelt,63 versagt er sich beim Sterben Marias seiner künstlerischen Sendung: »Ich lösche mich aus, eh’ ich mich vollende« (EII, 228). Die Dialogizität zwischen beiden Texten zu ermitteln, ist dem Leser Schnitzlers aufgegeben. Kritisiert bereits Hoffmanns Erzählung den destruktiv-analytischen Künstler, der, verbildlicht im Zerlegen von Geigen, den Mechanismus der Kunst zu ergründen sucht, so entlarvt sich auch Schnitzlers Dichter als dilettierender Literat. Er strebt im inszenierten Nachgefühl nach Authentizität, verfehlt sie aber eben durch seine Intentionalität und seine Unmoral, die dafür ein Menschenleben in Kauf nimmt. 4.3.
Goethe: Die Leiden des jungen Werthers
Deutlicher noch als Prätext markiert ist Goethes Künstlerroman Die Leiden des jungen Werthers (1774). Schnitzler, der Goethes Roman von früher Jugend an kannte,64 nahm spätestens in der vierten Textfassung auf den Werther Bezug, als er die Tanzszene als Moment der Liebesbegegnung einfügte. Sie ist der Schlüsselstelle von Goethes Roman im Brief vom 16. Junius nachgebildet, als sich Werther beim Tanz in Lotte verliebt. Nicht nur in der Briefform, auch strukturell, mit dem Abschiedsbrief, einem Freund als Adressaten und einem fingierten Herausgeber imitiert der Letzte Brief eines Literaten unverkennbar die Leiden des jungen Werthers. Es ist erstaunlich, dass diese intertextuellen Bezüge bislang unentdeckt blieben, denn sie sind zum Teil als wörtliche Übereinstimmungen gekennzeichnet. Dazu zählt etwa die Anwandlung des Literaten, Selbstmord zu begehen nach der Erkenntnis, dass ihm mehr an Marias Liebe als an seiner poetischen Sendung liegt: In dieser Erkenntnis oder in dem Geisteszustand, den ich dafür hielt, erschien ich mir so elend und schmachbedeckt, daß sich mir nur eine mögliche Lösung darbot; und mein Auge richtete sich zu einem Felsgrat empor, von dem ein Absturz in die Tiefe den einzig gerechten Abschluß meines Daseins bedeuten würde. Bin ich damals auch dieser Eingebung nicht gefolgt, so darf ich mich heute doch ihrer erinnern, ohne daß irgend jemand, auch du nicht, mein Freund, es wagen könnte, an ihrer Unmittelbarkeit zu zweifeln. (EII, 224) 62 63
64
Ebd. »[…] Nun bin ich frei – frei – frei – Heisa frei! – Nun bau ich keine Geigen mehr – keine Geigen mehr – heisa keine Geigen mehr. […] Sie ist dahin und das Geheimnis gelöst!« (Hoffmann, »Rat Krespel«, S. 53f.). Vgl. Tgb 19. 11. 1881.
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Der letzte Brief eines Literaten
Die Ernsthaftigkeit seines damaligen Entschlusses beteuert der Literat dem Adressaten fast drohend, doch ist die Schilderung alles andere als »unmittelbar«: Sie ist Werthers Brief vom 12. Dezember nachgebildet, der die überschwemmte Landschaft um Wahlheim schildert. Als Werther »vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln« sieht, wünscht er sein Leben zu beenden, überwindet aber diesen Wunsch in einem inneren Kampf und Appell an Freund Wilhelm: Ach mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund und athmete hinab! hinab! und verlohr mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da hinab zu stürzen! dahin zu brausen wie die Wellen! Oh! – und den Fuß vom Boden zu heben vermochtest du nicht, und alle Qualen zu enden! – Meine Uhr ist noch nicht ausgelaufen, ich fühle es! O Wilhelm! (am 12. Dec.)65
Die Werther-Allusionen betreffen vor allem das Künstler-Thema und erhellen den Unterschied zwischen den Kunstauffassungen Werthers und denjenigen des Literaten. Nicht zufällig distanziert sich der Literat durch ein kleines Autodafé von seinem Schaffen, als ihn Maria zum ersten Mal besucht und sie gemeinsam im Arbeitszimmer am Kamin [sitzen], in dem übrigens die Asche eines Werkes verglimmte, das ich erst vor ein paar Wochen begonnen und an diesem Morgen, da es mir in seiner frechen und kalten Lustigkeit mit einem Male fremd, ja meines inneren Zustandes im eigentlichen Sinne unwürdig erschienen war, ins Feuer geworfen. (EII, 215f.)
Diese Koinzidenz erinnert an Werthers Autodafé, nachdem er sich zum Selbstmord aus unglücklicher Liebe entschlossen hat. Zu seinen letzten Handlungen gehört die Ordnung seines künstlerischen Nachlasses, auch das Verbrennen eines Teils: »Er kramte den Abend noch viel in seinen Papieren, zerriß vieles und warf es in den Ofen, versiegelte einige Päcke mit den Addressen an Wilhelm. Sie enthielten kleine Aufsätze, abgerissene Gedanken, deren ich verschiedene gesehen habe« (Herausgeberbericht am Schluss).66 Dass Schnitzlers Literat Goethes Werther imitiert, gerade dadurch jedoch die Differenz seines Künstlertums deutlich macht, zeigt die selektive Variation von Werthers Brief vom 10. Mai, in dem er seine pantheistische Inspirationsübung im Grase liegend beschreibt, aber zugleich sein ästhetisches Unvermögen eingesteht: 65
66
Johann Wolfgang von Goethe, »Die Leiden des jungen Werthers«, in: Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe], I. Abt., Bd. 8: Waltraud Wiethölter in Zusammenarbeit mit Chr. Brecht (Hrsg.): Die Leiden des jungen Werthers, Die Wahlverwandtschaften, Kleine Prosa, Epen, Frankfurt/M. 1994, S. 10–267 [Fassung A und B], hier S. 213 [B]. Goethe: »Die Leiden des jungen Werthers«, S. 261.
Literarisierungstendenz
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[…] dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt […]. Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen. (am 10. May)67
Das Dilemma eines Künstlers, dessen Übermaß an Inspiration seine Ausdruckskraft überfordert, fasst Werther in das Paradoxon: »Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Mahler gewesen als in diesen Augenblicken« (am 10. May).68 Dieses Diktum variiert Schnitzlers Literat, verschiebt aber die ästhetische Aporie in die Zukunft. Er imaginiert den Tod Marias und seinen anschließenden Verlustschmerz: Ich aber werde zurückbleiben, allein, mit einem großen Schmerz, mit dem ersten wahrhaften Schmerz meines Lebens, den ich mir in dieser Stunde schon in seiner ganzen Furchtbarkeit vorzustellen fähig bin. Und dann erst, wenn ich diesen Schmerz durchfühle, werde ich der geworden sein, zu dem mich Gott geschaffen hat. (Nenne mich nicht einen Gotteslästerer, nie bin ich frommer gewesen als in jenem Augenblick.) (EII, 213)
Der mangelnde Ernst dieses prospektiven Künstlertums wird durch die folgende, ausschließlich auf ästhetische Reize hin ausgerichtete Beschreibung der kontrastiven Figuration am Sterbebett Marias entwertet: »Die blonde, schöne, ins Leben blühende Schwester regungslos auf dem Sessel zu Häupten des Betts, in dem die dunkelhaarige, blasse, dahinsterbende Frau ruht. Oh, was für ein Bild, und es ist am Ende noch ein Glück, daß ich nicht zudem noch ein Maler bin!« (EII, 213) Der Dichter, der sich vom Tod seiner Geliebten den »ersten wahrhaften Schmerz« erhofft, fällt selbst wieder in die Rolle des gewissenlosen Ästheten zurück, für den die angeblich geliebte Maria nur mehr die »dahinsterbende Frau« ist. Die ästhetische Distanz wird durch die parodistische Inversion von Werthers Leiden markiert: Während Werthers Kunst vor seiner Leidenschaft versagt, vergisst der Literat seine Liebe vor Entzücken über dem »Bild« der Sterbeszene.69
67 68 69
Ebd., S. 15. Ebd., S. 15. Im Bericht von der tragischen Liebe des Bauernburschen, der sich nur in der Fassung von 1787 findet, schreibt Werther »am 4. September« begeistert: »Diese Liebe, diese Treue, diese Leidenschaft ist also keine dichterische Erfindung. Sie lebt, sie ist in ihrer größten Reinheit unter der Klasse von Menschen, die wir ungebildet, die wir roh nennen«. (Goethe: »Die Leiden des jungen Werthers«, S. 163–169, hier S. 167). Dagegen bleibt Schnitzlers Literat durchgängig in seinem literarischen Erleben gefangen und hält selbst die Liebe Marias für lesebedingt: »sie hatte gewiß schon in manchem Buch von jener geheimnisvollen Liebe auf den ersten Blick gelesen, an die ich selbst bisher nie geglaubt habe […]« (EII, 215).
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Der letzte Brief eines Literaten
Auch unterscheidet sich der Letzte Brief eines Literaten signifikant von Werthers letztem Brief. Beide Verfasser betonen ihre ›Gelassenheit‹, ihre innere Seelenruhe, beim Verfassen ihrer Briefe, allerdings betreibt der Literat dafür mit einer rhetorischen Frage den größeren sprachlichen Aufwand. Werther schreibt schlicht: Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben, und das schreibe ich dir ohne romantische Überspannung gelassen, an dem Morgen des Tages, an dem ich dich zum letztenmale sehen werde. [am 21. Dezember]70
Dagegen bleibt der Literat in der literarisch inspirierten Selbstreflexion gefangen: Würde ich so gelassen, sogar mit einiger Sorgfalt meine Worte aneinanderreihen, wenn ich im Innersten davon überzeugt wäre, daß dieser Brief auch wirklich mein letzter, daß in ein paar Stunden wirklich alles für mich vorbei sein wird? Warum nicht? – Aber es ist immerhin beruhigend, sich nicht verurteilt zu fühlen, sondern nur entschlossen. Daß man etwas nicht muß, macht alles leichter, sogar das Sterben. (EII, 206)
Diese Passage, in der Schnitzlers Literat seinen freien Willen nach dem Muster Werthers als ›Entschluss‹ betont, greift das Ende des Briefes wieder auf: »Ich lösche mich aus, eh’ ich mich vollende. Darum hab ich mich entschlossen« (EII, 228). Gerade die Spannung von Anfang und Ende verdeutlicht die entscheidende Differenz zum Prätext: Werther beendet seinen letzten Brief an Lotte im Bewusstsein seines freien Willens zum Tod. Der Literat ist dagegen Opfer seines eigenen Arrangements: Die plötzliche Verschlechterung von Marias Krankheit zwingt ihn zum Handeln – daher bricht sein letzter Brief mitten im Satze ab. Erweist sich Werthers Tod als innere Notwendigkeit, wird der Literat Getriebener seiner eigenen Selbstinszenierung und Selbsttäuschung. Das Arrangement zum »großen Werk«, das auf der intentionalen Erzeugung eines »wirklichen Schmerzes« als poetischer Inspirationsquelle beruht, ist vollendet, geht aber ins Leere. Denn der Literat entzieht sich dem selbstgesetzten Schaffensdruck durch Freitod. Damit bleibt letztlich offen, ob Schnitzlers Protagonist aus Verzweiflung über den Tod der Geliebten oder angesichts künstlerischer Unfähigkeit in den Tod geht. Es ist nicht einfach, die Dialogizität zwischen Schnitzlers Letztem Brief eines Literaten und Goethes Leiden des jungen Werthers zu bestimmen. Deutlich wird, dass Schnitzler mit dem Moment Mittelbarkeit vs. Unmittelbarkeit spielt. Gerade im Vergleich mit dem Muster des kanonischen Briefromans erscheint die sekundäre, intertextuell gefilterte und gebrochene Erzählung als eine prinzi70
Goethe: »Die Leiden des jungen Werthers«, S. 223.
Literarisierungstendenz
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pielle Infragestellung von künstlerischer Originalität in der Moderne. Und die intertextuellen Bezüge dienen überdies dazu, einen Kontrast des modernen Erzählens zum traditionellen Erzählen vorzuführen. Schnitzler nutzt das gleiche narrative Setting wie Goethe, problematisiert aber mit diesem Setting die Wahrheitsfrage.71 Gibt es bei Goethe keine Differenz zwischen den Aussagen Werthers, des Adressaten und des Herausgebers, so nutzt Schnitzler dasselbe Setting, um durch unzuverlässiges Erzählen die Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz zu relativieren und zwei subjektive Perspektiven miteinander zu konfrontieren. Der Leser gerät damit in die Rolle eines Analytikers, der aufgrund des projektiv und intertextuell überformten Materials die Wahrheit zu ermitteln sucht oder erkennen muss, dass es mehrere Wahrheiten gibt. 4.4.
Ferdinand von Saar: Marianne
Der Werther-Bezug ist wohl durch einen weiteren Prätext vermittelt: Ferdinand von Saars Briefnovelle Marianne (1873). Saar, den Schnitzler persönlich kannte und dem er wie alle jungen Wiener entscheidende ästhetische Anregungen verdankte, setzt sich in der poetologischen Novelle über das Muster von Goethes Werther mit Fragen nach der Zeitgemäßheit der Klassik auseinander.72 Bei Saar ist nicht nur die Briefform – Marianne umfasst allerdings sechs Briefe –73 und die situative Analogie des Ich-Erzählers vorgegeben: Saars Ich-Erzähler ist wie Schnitzlers Literat ein Wiener Schriftsteller, der sich in einer Vorstadt eingemietet hat, da er sich dort, wie er einem befreundeten Universitätslehrer schreibt, schöpferische Ruhe für die »Vollendung« eines »unselige[n] Werk[s]« erhofft.74 71
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74
Möglicherweise birgt die intertextuelle Bezugnahme auf Goethes Werther noch eine weitere – ironische – Bedeutung, die aus der autobiographischen Deckung der Werther-Figur resultiert. Denn während Goethe durch die unglückliche Liebe seines Ego-Phänomens Werther und ihre literarische Verarbeitung schlagartig berühmt wurde, scheitert der Literat als kläglicher Epigone Goethes. Saar hat an Marianne, seiner zweiten Novelle, seit 1868 gearbeitet. Die langwierige Entstehungsgeschichte wird in der kritischen Ausgabe von Polheim [Ferdinand von Saar, Kritische Texte und Deutungen, Karl Konrad Polheim (Hrsg.), hier Band 1: Ferdinand von Saar, Marianne, krit. hrsg. u. gedeutet von Regine Kopp. Mit einer Einführung von Karl Konrad Polheim, Bonn 1980] rekonstruiert. Im Folgenden wird aus der immer noch maßgeblichen Werkausgabe zitiert: Ferdinand von Saar, »Marianne«, in: Ders., Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Jakob Minor (Hrsg.), Leipzig [1908], hier Band 7, S. 70–72 und S. 75–107. Die Briefe datieren vom »15. April …« bis »Mitte September.« Die Jahreszahl wird wie bei Goethes Werther nicht mitgeteilt. Saar, »Marianne«, S. 77.
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Der letzte Brief eines Literaten
Auch gleichen sich die Spannungsverhältnisse zwischen Briefschreiber und Adressaten bzw. fiktivem Herausgeber. Bei Schnitzler relativiert das zynische Nachwort des Arztes die Bedeutung des Literaten: »Soviel ich das von hier aus verfolgen kann, hat sich keine der Komödien auf den Bühnen zu erhalten vermocht. Es ist heute gerade zehn Jahre her, daß er sich erschossen hat. Die Unsterblichkeit dauert manchmal nicht so lange, als man sich bei Lebzeiten einbildet« (EII, 230). Saars Marianne ist durch ein ähnliches Vorwort des Herausgebers ambivalent perspektiviert: Die folgenden Mitteilungen rühren von einem Poeten her, welcher seinerzeit einiges von sich reden gemacht, nunmehr aber, wie so mancher andere, verschollen und vergessen ist. Das Wenige, das er geschrieben, mag noch hie und da im Bücherschrank eines Literaturfreundes oder in dem bestäubtesten Fache einer Leihbibliothek zu finden sein, und der Zukunft bleibt es anheimgestellt, ob sein Name noch einmal genannt werden wird oder nicht.75
Der Erklärung von Saars fiktivem Herausgeber ähneln Schnitzlers frühe Entwürfe noch mehr, so dass sich der intertextuelle Bezug textgenetisch stützen lässt.76 Da auch bei Saar der Herausgeber als primärer Erzähler wohl nicht identisch ist mit dem fiktiven Adressaten der Briefe, entsprechen sich zudem die verschachtelten narrativen Strukturen beider Erzählungen. Saars Briefnovelle Marianne ist allerdings ihrerseits hochgradig intertextuell: Ihr liegt – ironisch gebrochen – unverkennbar Goethes Leiden des jungen Werthers als Hypotext zugrunde. Die Handlungsskizze lässt die Analogien in Struktur und Konstellation erkennen: Ein Dichter, »Herr A.« genannt, berichtet seinem Wissenschaftler-Freund Fritz brieflich von seinem Leben und Dichten in einer Wiener Vorstadt, wohin er sich als Untermieter zurückgezogen hat. Der Sohn des Hauses, Heidrich, der mit seiner Frau Luise, einem kränkelnden Knäblein und einer adoptierten Tochter einzieht, lässt den Dichter am familiären Leben teilhaben. So lernt dieser Heidrichs Schwägerin Marianne kennen, die mit dem Geschäftsmann Dorner seit fünf Jahren in einer kinderlosen unglücklichen Ehe lebt. Der Dichter verliebt sich in die junge Frau, die seine Bücher kennt und ihn wiederliebt. Da Marianne aber leidend ist und leicht in Ohnmacht 75 76
Ebd., S. 75. Vgl. etwa die Passage in der Tragischen Anekdote von 1910, wo Schnitzler den Protagonisten charakterisiert als einen »Dichter, der sich schon durch andere zmancheu Werke berühmt gemacht hatte zzu großem Ruhm gekommen waru« (Der Literat [II] [FF C XXXVIII, 2, Bl. 3 – Cambridge Schnitzler A 191, 2, Bl. [1]), oder den späteren Entwurf eines Nachworts, wo es vom Literaten heißt: »Sein Name ist vergessen, er möge es bleiben« (Der Literat [V] (FF C XXXVIII, 5, Bl. 18 – Cambridge Schnitzler A 191, 4, Bl. [6]).
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fällt, schützt sie sich vor übergroßen Gefühlen. Bei der Hochzeit einer jüngeren Schwester Luises tanzt der Dichter mit Marianne so leidenschaftlich Walzer, dass sie zusammenbricht und der herbeigeholte Arzt nur noch ihren Tod durch eine »plötzliche Herzlähmung«77 feststellen kann. Der Dichter reist darauf fluchtartig ab und tritt das Amt eines Archivars auf einem böhmischen Schloss an. Neben der formalen Entsprechung – einseitige Korrespondenz an einen Freund, Anonymisierung der Lokalitäten, ähnliche Briefanfänge, anthropologische Generalisierungen78 – reichen verschiedene inhaltliche und motivliche Parallelen bis in Details. Wie Werther »am 15. Sept.« beklagt, dass die »herrlichen Nussbäume« im Pfarrgarten gefällt worden seien,79 so klagt auch Saars Dichter am 15. April, dass »an der Stelle des Holzplatzes mit den prächtigen Nussbäumen, ein hohes palastähnliches Gebäude aufgeführt [worden sei], das mir Luft und Sonne nimmt«.80 Unverkennbar ist Werthers Leidenschaft für Lotte in der Liebe von Saars Dichter zu Marianne nachgebildet. Dieser verliebt sich in Marianne, nachdem er erfahren hat, dass sie »vergeben« ist, und sein Groll gegen den Ehemann, der sich »einer industriellen Unternehmung wegen hier ansässig machen« will,81 ähnelt ganz Werthers gespanntem Verhältnis zu Albert. Auch der Walzer, den Saars Dichter mit der Geliebten Marianne tanzt, nimmt unverkennbar ein Motiv aus Goethes Roman auf. Da die Werther-Bezüge – wie typischerweise intertextuelle Bezüge in einer Ich-Erzählung – dem Figurentext entstammen, also dem Wahrnehmungsund Bewusstseinshorizont des Briefschreibers, ist es Saars Dichter, der sich selbst zu einem zweiten Werther stilisiert, ja diese Selbststilisierung sogar deutlich markiert: Er zieht sich aus der modernen Großstadt zurück in die Vorstadt, zu den »vergilbten Schiller- und Goethe-Büsten«.82 Aus seiner Goethe-Verehrung macht er keinen Hehl, wenn er aus Goethes Wilhelm Meister zitiert: »›Wer sich der Einsamkeit ergibt, ist bald allein‹, singt Goethes 77 78
79 80 81 82
Saar, »Marianne«, S. 106 So imitiert der Anfang des letzten Briefes, den Saars Dichter »Mitte September« schreibt: »Warum ich so lange schweige, fragst Du?« (Saar, »Marianne«, S. 100), den Anfang von Werthers Brief »am 16. Juny«: »Warum ich dir nicht schreibe? Fragst du das […]« (Goethe, »Die Leiden des jungen Werthers«, S. 36). Auch Werthers mehrere ›Was ist der Mensch‹-Fragen (vgl. »Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!«) ahmt Saars Dichter nach: »Ach Freund, was sind die Entschlüsse des Menschen!« (Saar, »Marianne«, S. 100). Goethe, »Die Leiden des jungen Werthers«, S. 170–175. Saar, »Marianne«, S. 76. Ebd., S. 82. Ebd., S. 76.
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Der letzte Brief eines Literaten
Harfner«,83 oder wenn er die Aussage des Harfner-Lieds mit seiner eigenen Lebenserfahrung vergleicht.84 Daneben finden sich weitere wörtliche oder abgewandelte Goethe-Anleihen. So ist etwa die Äußerung von Saars Dichter: »Pfingsten, das Weihefest des Sommers, war herangerückt«,85 unschwer als variiertes Faust-Zitat zu erkennen: »Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen«. Schnitzlers Literat schöpft seinerseits unverkennbar aus Saars Marianne.86 Der Name der weiblichen Protagonistin ›Maria‹ kann als onomastische Allusion gedeutet werden. Da sich der tragische Tod Mariannes ausgerechnet am 15. August, an Mariae Himmelfahrt, ereignet, ist diese Analogie zusätzlich motiviert, und mittelbar verdeutlicht die Intensivierung der Werther-Anspielungen den intertextuellen Bezug. Unmittelbar deutlich wird er in der analogen Strukturalität des Geschehens, das gezielt invertiert ist: So ähnelt die Nachschrift des Arztes zum Letzten Brief sprachlich wie funktional der Vorrede des Herausgebers, die Saars Novelle einleitet. Marias Ohnmacht beim liebesstiftenden Tanz mit dem Literaten ist Mariannes plötzlichem Herztod beim Walzer nachgebildet, der bei Saar die Liebesgeschichte beschließt. Imitation und Inversion des Prätexts verdeutlichen, was Schnitzlers Literaten von Saars Dichter unterscheidet: seine intentionale Instrumentalisierung der Liebe. Während sich Saars Dichter wider besseres Wissen den Fortgang seines »unselige[n] Werk[s]« wünscht, »das mir schon so viele fruchtlose Mühe, so viele herbe Qualen und Zweifel bereitet«,87 sieht Schnitzlers Literat das Gelingen seines »Werks« in einem kausalen Zusammenhang mit dem Tod seiner Geliebten: Was ich nach Marias Tode zu erwarten hatte, war etwas durchaus Unvorstellbares, darin die Fülle der Erinnerung, unstillbare Sehnsucht und das Ungeheuerste an menschlicher Einsamkeit sich zu etwas Neuem, noch von niemand Erlebtem vereinen – und aus dessen Unergründlichkeit erst emporsteigen mußte, was ich als meine Sendung auf Erden früher wohl geahnt, nun aber in seiner ganzen Notwendigkeit erkannt hatte: das Werk. (EII, 222)
83 84
85 86
87
Ebd., S. 78. Freilich war das Zitat aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre II 13 auch durch Felix Mendelssohn-Bartholdy bekannt. Der Gebrauch des Zitats in Saars Novelle banalisiert allerdings die Stelle und das Lied, in dem am Schluss der Harfner den Tod als Befreiung aus seiner Isolation herbeisehnt: »Ach werd’ ich erst einmal / Einsam im Grabe sein, / Da lässt sie [scil. die Einsamkeit] mich allein!« Saar, »Marianne«, S. 81. Von Details abgesehen, wie der Vorliebe beider Ich-Erzähler für »einsame Spaziergänge« (EII, 220 bzw. Saar, »Marianne«, S. 78). Saar, »Marianne«, S. 77.
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Bleibt bei Saar offen, ob die tragische Liebe das ›Werk‹ befördert, ist es von Anfang an das Kalkül des Schnitzler’schen Literaten, aus dem Schmerz über den prospektiven Tod von Maria poetisches Kapital zu schlagen. Saars Dichter bescheidet sich mit dem kleinen Amt eines Archivars in der böhmischen Provinz und nimmt sich vor, sein vergangenes Leben nurmehr in Kunst zu transformieren: Wollte sich doch jetzt erfüllen, wonach ich mich so lange gesehnt: unbekümmert um literarischen Erwerb in gänzlicher Zurückgezogenheit meiner Kunst leben zu können. Gewisse Leute werden freilich die Köpfe schütteln. »Wie man nur daran denken könne, fern von aller Welt in einem alten Schlosse zu versauern«, hör’ ich sie sagen; »daß der Dichter Anregung brauche –« und was sonst noch an ähnlichen Gemeinplätzen vorzubringen sein wird. Als ob ich bis jetzt nicht gelebt hätte! An meinen Schläfen schimmern schon die ersten grauen Haare, und ich müßte wirklich unsterblich sein, um auch nur die Hälfte meiner Erfahrungen künstlerisch zu verwerten.88
Schnitzlers Literat hat größere Ambitionen als Saars Dichter, doch scheinen ihn letztlich diese Ambitionen zu überfordern. In der angeblichen Gewissheit, dass ihn der nie gefühlte Schmerz, den ihm Marias Tod bereiten wird, zum großen Dichter machen würde, setzt er selbst seinem Leben ein Ende: […] dieses Ungeheure würde mich zum Dichter machen und ich bliebe auf Erden, um meine Sendung zu erfüllen. Und das Werk ohnegleichen, das, mit dem ich gerechtfertigt wäre vor Gott, vor mir selbst und vor der Welt – ich würde es schaffen. (EII, 228)
Die Rechtfertigung seines Todes als »Totenopfer« für die Liebe wirkt aber nicht recht glaubhaft. Sie passt weder zu seinem hohen Selbstanspruch, noch entspricht sie der Liebe zu Maria, die keineswegs so leidenschaftlich ist, dass sie einen Liebestod legitimieren würde. Auch vermag sie die Dominanz des Adressaten, des Arztes, im Abschiedsbrief und in der Nachschrift nicht zu erklären. 4.5.
Charlotte und Heinrich Stieglitz
Die Idee, aus dem Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen poetisches Kapital zu schlagen, war im 19. Jahrhundert untrennbar mit dem berühmten Freitod der Charlotte Stieglitz verbunden. Charlotte Stieglitz erdolchte sich am 29. Dezember 1834 im Alter von 28 Jahren, da sie sich von 88
Ebd., S. 96. Inwieweit der nur der Kunst geweihte Lebensabend auf einem böhmischen Schloss ironisch auf den Abenteurer Casanova anspielt, der im böhmischen Dux als Bibliothekar des Grafen Waldstein seine Memoiren schrieb, muss offen bleiben.
162
Der letzte Brief eines Literaten
ihrem Tod eine geistige Erneuerung ihres Ehemannes, des Dichters Heinrich Stieglitz, erhoffte. Ihr ›Opfertod‹ wurde von den Jungen Deutschen zu einer Heldentat stilisiert. Theodor Mundt setzte ihr ebenso ein dichterisches Denkmal wie Karl Gutzkow. Gutzkow markiert deutlich die Parallele zu Goethes Werther in Charlotte Stieglitz’ Freitod, ohne die Modernität ihrer Tat zu leugnen: Wer das Genie Goethes besäße und es schon aushalten könnte, daß man von Nachahmung sprechen würde, könnte hier ein unsterbliches Seitenstück zum »Werther« geben. Denn es sind ganz moderne Kulturzustände, welche sich hier durchkreuzen […].89
Gutzkow imaginiert und präsentiert die Verzweiflung, die Heinrich Stieglitz angesichts seiner großen poetischen Prätention befiel. Seine szenische Schilderung erinnert durchaus an den Beginn von Schnitzlers Novelle, in dem der Literat seinen Abschiedsbrief verfasst, während seine Geliebte todkrank im Nebenzimmer liegt: Ach, der unglückliche Dichter ging noch weiter in seiner Verzweiflung. Er saß im Schimmer der nächtlichen Lampe, Ruhe auf der Straße, das weiße Papier, das Leichenhemde der Unsterblichkeit, durstig nach Worten der Unsterblichkeit vor ihm. Im Nebenzimmer schlug Charlotte zuweilen auf das Klavier an. Der Dichter weinte. Denn war ihm eine andere Leiter zum Himmel im Augenblicke sichtbar, als die, welche sich aus einem solchen zitternden Tone aufbaute? Wo Wahrheit? Wo Licht, Leben, Freiheit? Wo alles, was man haben muß, um ein großer Dichter zu sein?90
Noch deutlicher wird die Analogie im Schluss von Gutzkows Würdigung. Was soll Heinrich Stieglitz? Armer Überlebender! Du bist ein unglücklicher Rest. Aber dein Unglück, das nun da ist, ist ohne Energie. Dein Unglück überragt dich! Du bist ihm nicht gewachsen. Was wirst du tun? Die ungeheure Tat besingen? Gewiß, ein Totenopfer steht dir an. Dante hätte dieser Anregung nicht bedurft; Goethe gar nicht. […] Ich beschwöre dich, bring’ an das Risiko deiner Verse nicht den gewaltigen Schmerz heran, den du empfindest! In dem Ganzen liegt zu viel Demütigung, daß nicht das Ende eine Komödie sein könnte. Wahrlich, Poesie ist nun hier nichts mehr; das Motiv und die Staffage ist größer als das, was sich darauf bauen läßt.91
Wie Gutzkow dem Witwer Stieglitz rät, verzichtet Schnitzlers Literat darauf, den Schmerz in tragische Kunst zu verwandeln, da er die inadäquate Poetisierung des Schmerzes fürchtet. Er scheint überdies auf Gutzkows Mahnung 89
90 91
Karl Gutzkow, »Cypressen für Charlotte Stieglitz (1835)«, in: Wolfgang Rasch (Hrsg.), Berlin – Panorama einer Residenzstadt, Berlin 1995, S. 152–159, hier S. 152. Ebd., S. 156. Ebd., S. 158–159.
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zu antworten, indem er das eingeforderte »Totenopfer« mit seinem Freitod zu bringen bereit ist: »Maria ist ein Totenopfer wert, wie es noch keinem sterblichen Wesen dargebracht wurde. Ich lösche mich aus, eh’ ich mich vollende« (EII, 228). Somit wird im Letzten Brief eines Literaten der Freitod von Charlotte Stieglitz für ihren Mann Heinrich nicht nur in der analogen Konstellation, sondern auch in der Gutzkow’schen Sprachgebärde nachgeahmt. Schnitzler beschäftigte sich um 1915 nachweislich mit der Stieglitz-Affäre, als er Hans Kysers Charlotte Stieglitz. Ein Schauspiel aus den dreißiger Jahren (1915) las.92 Es präsentiert, gestützt auf die Schilderungen Gutzkows und Mundts, die problematische Ehe zwischen Heinrich und Charlotte Stieglitz und erklärt Charlottes Entschluss, sich ihrem Mann zu opfern, nachdem dieser zunächst Theodor Mundt, dann ihr seine Schaffenskrise schildert: Dem jungdeutschen Freund Mundt beschreibt Heinrich mit Werthers Paradoxon, das auch Schnitzlers Literat verwendet, sein Schwanken zwischen politischer Prosa und reiner Poesie: Heinrich. Da habe ich vor wenigen Stunden Himmel und Hölle verschworen, … ich werde nie einen Vers mehr schreiben, … und ich könnte in diesem Augenblick wieder schwören: ich werde nichts anderes von meinem Leben mehr begehren als einen einzigen, unvergeßbaren Vers …93
Charlotte gegenüber totalisiert er seine Schaffenskrise zu einer umfassenden Lebensschwäche, die er nur mit ihrer Hilfe meistern könne: Heinrich […] … ich habe keinen Glauben, Charlotte, an keinen Menschen, an kein Wort, an kein Werk … kann ich glauben, … ich bin verloren, … bin zerfallen … bin unheilbaren Herzens ohne dich …94
Doch wird Charlottes Tat und ihre Bedeutung Heinrich Stieglitz erst bei der Lektüre ihres Abschiedsbriefes bewusst, der das Ende des Stückes einleitet: Heinrich (starrt bebend und entsetzt auf den Brief, lesend). Der Segen des Schmerzes wird über dich kommen …95
Indem ihm Charlottes Freitod und dessen Sinn als künstlerische Verpflichtung schlagartig deutlich wird, erschließt sich Heinrich Stieglitz auch seine 92
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Hans Kyser, Charlotte Stieglitz. Ein Schauspiel aus den dreißiger Jahren, Berlin 1915. Vgl. Schnitzlers kritischen Eintrag im Tgb am 18. 10. 1914: »Kyser, Charlotte Stieglitz (mühseliges Literatengewäsch, an leidlichen Mustern gebildet, von falscher Seelenvornehmheit)«. Schnitzler hat seinen Vorwurf gegen Kyser – dies signalisiert schon der Begriff ›Literatengewäsch‹ – wohl produktiv für den Letzten Brief eines Literaten genutzt. Kyser, Stieglitz, S. 68. Ebd., S. 80. Ebd., S. 84.
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eigene Schuld: »Sie hat mich zum Mörder gemacht …«.96 Während der Schluss von Kysers Drama die Figur Heinrichs aufwertet, ist Schnitzlers Literat zu einem Schuldgefühl oder gar einem tragischen Bewusstsein nicht fähig. So wird vor der Folie von Kysers Charlotte Stieglitz und bei einer identischen Konfiguration doch der Abstand von Schnitzlers Literat zu dem Vorbild deutlich. 4.6.
Dialogizität
Schnitzlers Letzter Brief eines Literaten ist in seiner langwierigen Entstehungsgeschichte, seiner komplexen erzählerischen Struktur und seinen vielschichtigen intertextuellen Bezügen ein poetologisch bedeutsamer Text der Klassischen Moderne. Er reflektiert das Kunstwollen eines Ästheten, der an seinem Anspruch scheitert, die Trauer über den Tod der Geliebten, die er nur zu diesem Zweck auserwählt hatte, in unsterbliche tragische Poesie zu verwandeln.97 Der Brief ist insofern zugleich eine Absage an die reine Kunst, da er mit Sören Kierkegaards Entweder – Oder einen gewissenlosen Ästhetizismus zugunsten einer ethisch fundierten Kunst verneint. Diese Position vertritt dezidiert der Arzt, demzufolge es »ohne wahre Sittlichkeit […] kein Genie« gibt (EII, 229). Zugleich geht es um die Bedingungen künstlerischen Schaffens. Mit dieser Haltung steht Schnitzlers Letzter Brief eines Literaten in einem zeitgenössischen Diskurs zum Ästheten- und Dilettantentum, dessen prominenteste literarische Figurationen Thomas Manns Detlev Spinell im Tristan und Hugo von Hofmannsthals Lord Philipp Chandos sind, der sein Schreiben auch als »voraussichtlich letzten Brief[]« bestimmt, »den ich an Francis Bacon schreibe«.98 96 97
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Ebd. Dieses Motiv reicht bis in die Gegenwartsliteratur. So tröstet die schwerkranke Titelheldin in Mario Vargas Llosas Roman Das böse Mädchen [Travesuras de la niña mala], übers. von Elke Wehr, Frankfurt/M. 2006, S. 396, den mit ihr befreundeten Ich-Erzähler und verhinderten Schriftsteller kurz vor ihrem Tod mit dem Hinweis: »Gib wenigstens zu, dass ich dir das Thema für einen Roman geliefert habe.« In seiner schonungslosen Selbstdiagnose konstatiert Lord Chandos die Fremdheit der eigenen Schöpfungen: »Mein Inneres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere«. Ganz ähnlich entfremdet äußert sich Schnitzlers Literat über seine eigenen Werke: »Darum fehlt allem, was ich bisher versucht, allem, was mir bisher zu einem gewissen Grad gelungen, Leidenschaft und Tiefe. Darum ist alles so kühl, so glatt – so leer, wie meine Feinde sagen« (EII, 213).
Literarisierungstendenz
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Zugleich prätendiert der ›letzte Brief‹ metaphysische Bedeutsamkeit und ein poetisches Vermächtnis, ein »Mysterium« von »Pathos und Ethos«, auf das auch zeitgenössische Anthologien zielten.99 Neben diesem Diskurs konstruiert Schnitzlers Letzter Brief eines Literaten aber zugleich ein dichtes intertextuelles Netz, das auf die literarische Tradition künstlerischer Selbstüberforderungen und Figurationen verweist, die der Kunst den Vorrang vor dem Leben einräumen: die Reihe der alludierten Künstlererzählungen reicht von Goethes Werther über Hoffmanns Rat Krespel, Dostojewskis Schuld und Sühne bis hin zu Ferdinand von Saars Novelle Marianne. Über den Charlotte-Heinrich-Stieglitz-Komplex erhält das verhandelte Problem überdies noch eine historisch-biographische Beglaubigung, auch wenn es vor allem um die Literarisierung von Charlotte Stieglitzens Freitod zugunsten ihres Mannes geht. Der Letzte Brief eines Literaten gewinnt aus der semantischen und ideologischen Spannung zu seinen Prätexten erst seine Bedeutung. Indem der Literat auch in seinem Abschiedsbrief sich mehr in geliehenen Posen bewegt, als er zu eigenen Worten findet, wird er der pejorativen Bezeichnung im Titel gerecht. In seiner Art zu schreiben, »wie man liest«, gelingt es ihm zwar, seine Problematik, nämlich die Suche nach einem eigenen großen Werk, exemplarisch zu spiegeln. Doch bleibt er in abgebrauchten Phrasen und rhetorischen Figuren gefangen, ohne zu einer eigenen Sprache zu finden. Inwieweit der Literat damit das Gegenbild eines ›echten Dichters‹ repräsentiert oder das Zerrbild eines Dilemmas der Moderne darstellt, nämlich nichts Neues mehr sagen zu können, muss offen bleiben. Und offen bleiben muss auch die Frage, ob der Letzte Brief eines Literaten eine Kritik an der zunehmenden Journalisierung der Moderne oder gar eine Selbstkritik Schnitzlers ist.
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Vgl. etwa die Anthologie: Ilse Linden (Hrsg.), Der letzte Brief. Eine Sammlung letzter Briefe, Berlin 1919. Ebd., S. 78f., der »letzte Brief« von Charlotte Stieglitz.
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
VII. »Selig wer in Träumen stirbt« Das literarisierte Leben und Sterben von Fräulein Else (1924)
Ich selbst könnte mehr als ein weibliches Geschöpf nennen, von dem ich für die Figur der ›Else‹ zum Teil bewußt, zum Teil unbewußt, Züge geborgt habe.1
1.
Forschungsstand
Fräulein Else, in der Neuen Rundschau 1924 zuerst veröffentlicht, erschien als Buchausgabe 1924 – mit den Notenzitaten aus Robert Schumanns Carnaval – nicht im S. Fischer-Verlag, sondern bei dem eben gegründeten Verlag Paul Zsolnay.2 Arthur Schnitzlers zweite Monolognovelle stand als verspätetes weibliches Gegenstück zum 1900 erschienenen Lieutenant Gustl lange in dessen Schatten. Daran vermochten weder der Erfolg der Erzählung3 noch die Tatsache etwas zu ändern, dass ihr manche Zeitgenossen – so Hugo von Hofmannsthal – den Vorrang gaben: »Ja, so gut Leutnant Gustl erzählt ist, ›Fräulein Else‹ schlägt ihn freilich noch«.4 Mittlerweile zählt Fräulein Else zu den literaturwissenschaftlich am intensivsten erforschten Novellen Schnitzlers.
1 2
3
4
Brief an Gabor Nobl vom 21. 02. 1925, in: BII, S. 394f., hier S. 395. Die Neue Rundschau, 35/1924, S. 993–1051. Der Erstdruck unterscheidet sich von der Buchausgabe nur unwesentlich. Allerdings fehlen hier noch die Notenbeigaben aus Robert Schumanns Carnaval. Zu Programm und Ausrichtung des 1924 gegründeten Paul Zsolnay-Verlags vgl. Murray G. Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Bd. 2: Belletristische Verlage der Ersten Republik, Wien, Köln und Graz 1985 (Literatur und Leben, N.F. 28,2), s. v. Paul Zsolnay Verlag. – Die eingeklammerten Seitenzahlen im Text beziehen sich im Folgenden auf die Ausgabe in den Erzählenden Schriften, Bd. 2, Frankfurt/M. 1961, S. 323–381. 1929 erschien bereits das 70. Tausend der Buchausgabe. In demselben Jahre wurde die Novelle mit Elisabeth Bergner in der Hauptrolle verfilmt. Vgl. Richard H. Allen, An Annotated Arthur Schnitzler Bibliography. Editions and Criticism in German, French, and English. 1879–1965, Chapel Hill 1966 (University of North Carolina Studies in the German Languages and Literatures, 56), S. 36–38, hier S. 37. Brief an Arthur Schnitzler vom 03. 06. 1929, in: Therese Nickl/Heinrich Schnitzler (Hrsg.), Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler: Briefwechsel, Frankfurt/M. 1964, S. 312.
Forschungsstand
167
Die Forschung hat Fräulein Else häufig mit dem Lieutenant Gustl verglichen, dabei allerdings mehr das ästhetische Gefälle als die maßgeblichen intertextuellen Zusammenhänge betont.5 Neben der Handlungszeit (Österreich um 1900) stimmt die gedrängte, fast zeitdeckend erzählte Zeit überein: Lieutenant Gustl spielt in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1900, Fräulein Else am Abend des 3. September 1896. Auch die Strukturanalogie ist nicht zu übersehen: Die Protagonisten, beide jung, stürzen angesichts einer Forderung, die von außen an sie herangetragen wird, in eine existentielle Krise, die bei Gustl durch einen Zufall glücklich, bei Fräulein Else mit Suizid tragisch endet.6 Übersehen wurde aber eine wesentliche Differenz im Erzählverfahren: Während Else den Inhalt ihres Traumes im Inneren Monolog simultan zu erzählen vermag und zum Schluss gar die Gedanken der Sterbenden wiedergegeben sind, schweigt Gustls Erzählstimme, solange er schläft. Möglicherweise mag das Erzählexperiment, einen Traum im Inneren Monolog wiederzugeben, das formalästhetische Problem gewesen sein, das Schnitzler in der späteren Novelle lösen wollte.7 Vor allem aus psychologisch-medizini5
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7
Schon Felix Salten, »Fräulein Else [Rezension]«, in: Neue Freie Presse, 23. 11. 1924 (Morgenblatt), S. 1–3, hier S. 2, hat in seiner prominenten Rezension den »Leutnant Gustl« [sic!] mit »Fräulein Else« verglichen und deren größere ästhetische Qualität hervorgehoben: »Farbiger, fülliger, mit noch höherer Meisterschaft als vorher«. Astrid Lange-Kirchheim, »Zwei frühe Rezensionen zu Arthur Schnitzlers Spätwerken ›Fräulein Else‹ und ›Therese‹«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch, 10/2002, S. 37–57, hier S. 51, wirft Salten allerdings vor, das »Phantasma der Kindsbraut neu [zu errichten], das Schnitzlers Novelle doch gerade kritisch zur Debatte gestellt hat«. Der Mitteilung von Hartmut Scheible, Arthur Schnitzler. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 132003 (11976), S. 123, demzufolge die Dosis Veronal, die Else einnimmt, nicht tödlich sei, ist in der Forschung widersprochen worden. Bettina Rabelhofer, Symptom, Sexualität, Trauma: Kohärenzlinien des Ästhetischen um 1900, Würzburg 2006, S. 203 (Anm. 5), stellt etwa die Frage, ob »ein solcher Import von ›Faktizität‹ in den Text eine zulässige und auch zuverlässige Operation« sei. Sie gibt zu bedenken, dass »[e]ine mögliche Rettung, wie sie Scheible nahe legt, […] einer Textstrategie, die Sexualität, Tod und Weiblichkeit für den Leser in der geradezu symbolischen Aufdringlichkeit ihrer Verkettung permanent präsent hält«, widerspräche. Schnitzler selbst hat diese Differenz werkintern durch ähnliche Formulierungen beim Aufwachen der Protagonisten markiert. So erwacht Gustl aus seinem – ausgesparten – Schlaf mit folgenden Gedanken: »Was ist denn? […] … Was ist? … Wo ja, träum’ ich denn? […] – Wo sitz’ ich denn? – Heiliger Himmel, eingeschlafen bin ich!« Ganz ähnlich registriert Else, deren Traum zuvor geschildert wurde, ihr Erwachen: »Was ist denn? Wo bin ich denn? Habe ich geschlafen? Ja. Geschlafen habe ich. Ich muß sogar geträumt haben« (EII, 353). Diese Analogie hat m.W. einzig Evelyne Polt-Heinzl, Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2002, S. 30, bemerkt.
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
schem Blickwinkel ist Fräulein Else wiederholt gewürdigt worden.8 Die feministische Forschung geht inzwischen sogar so weit, einen Missbrauch Elses durch ihren Vater anzunehmen.9 Seltener sind die Versuche, der literarischen Form des Inneren Monologs in einer Deutung gerecht zu werden. Während Manfred Diersch die »dekompositive Komposition« akzentuiert, die er auf die empiriokritizistische Philosophie Ernst Machs und die impressionistische Ästhetik Hermann Bahrs zurückführt, betont William H. Rey das »Formgesetz der Konzentration«, mit dem Jürgen Zenke die Gattungsbezeichnung ›Monolognovelle‹ rechtfertigt.10 Hinsichtlich einer inhaltlichen Bestimmung und Bewertung der Erlebniswelt Elses bleiben die Interpretationen jedoch unzureichend. Die subjektive Wirklichkeit, die Diersch bei Else diagnostiziert, ergibt sich allein schon aus der Form und ist in dieser Verallgemeinerung wenig aussagekräftig. Wenn Rey meint, Else sei, »im Gegensatz zu den Schattengestalten der Umgebung, ein ganzer Mensch«,11 verwechselt er ihre Wahrnehmung mit der erzählten Welt. Neben formgeschichtlichen Studien, die Fräulein Else mit dem Lieutenant Gustl vergleichen und ihr meist den ästhetisch überzeugenderen Gebrauch des Inneren Monologs zuerkennen,12 dominierten – von biographistischen 8
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Vgl. Victor A. Oswald, Jr./Veronica Pinter Mindess, »Schnitzler’s ›Fräulein Else‹ and the Psychoanalytic Theory of Neuroses«, in: The Germanic Review, 26/1951, S. 279–288, Robert O. Weiss, »The Psychoses in the Works of Arthur Schnitzler«, in: The German Quarterly, 41/1968, S. 377–400, bes. S. 396f., Robert Bareikis, »Arthur Schnitzler’s ›Fräulein Else‹: A Freudian Novelle?«, in: Literature and Psychology, 19/1969, S. 19–32, Kenneth Segar, Psychological Determinism and Moral Responsibility in Some Narrative Works of Arthur Schnitzler, Diss. Oxford 1971, S. 200–218. Diese These vertritt Astrid Lange-Kirchheim in ihren diversen literaturpsychologischen Studien; vgl. Anm. 15. Manfred Diersch, Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien, Berlin [Ost] 1973 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 36), bes. S. 94ff., William H. Rey, Arthur Schnitzler. Die späte Prosa als Gipfel seines Schaffens, Berlin 1968, hier S. 49, Jürgen Zenke, Die deutsche Monologerzählung im 20. Jahrhundert, Köln und Wien 1976 (Kölner germanistische Studien, 12), S. 57–68. Rey, Arthur Schnitzler, S. 51. Vgl. neben anderen Craig Morris, »Der vollständige innere Monolog: eine erzählerlose Erzählung. Eine Untersuchung am Beispiel von ›Leutnant Gustl‹ und ›Fräulein Else‹«, in: Modern Austrian Literature, 31/1998, H. 2, S. 30–51, Achim Nuber, »Neue Aspekte zu Arthur Schnitzlers Monolognovellen ›Leutnant Gustl‹ und ›Fräulein Else‹«, in: Peter Wiesinger (Hrsg.), Epochenbegriffe: Grenzen und Möglichkeiten, Bern (u. a.) 2002 (Jahrbuch für internationale Germanistik: Reihe A, Kongreßberichte, 58), S. 427–432, Heidi E. Faletti, »Interior monologue and the unheroic psyche in Schnitzler’s ›Leutnant Gustl‹ and ›Fräulein Else‹«, in: Will Wright/Steven Kaplan (Hrsg.), The image of the hero in literature, media, and society, Colorado 2004, S. 522–527,
Forschungsstand
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Unterfangen abgesehen, die Fräulein Else auf tatsächliche Personen zurückführten, sogar mit Schnitzlers kapriziöser Tochter Lili in Verbindung brachten –, sozialgeschichtliche Überlegungen. Sie wurden durch ambitionierte kultur- und zeitkritische,13 sozialpsychologische14 oder genderspezifische Studien fortgeführt.15 Sowohl Schnitzlers Filmskript – wiewohl fragmentarisch geblieben – als auch die Verfilmung16 der Novelle 1929 in der Regie von
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Astrid Lange-Kirchheim, »›Dummer Bub‹ und ›liebes Kind‹: Aspekte des Unbewussten in Arthur Schnitzlers ›Lieutenant Gustl‹ und ›Fräulein Else‹«, in: Evelyne Polt-Heinzl/Gisela Steinlechner (Hrsg.), Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte, Wien 2006, S. 97–109. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, »Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers ›Fräulein Else‹«, in: Giuseppe Farese (Hrsg.), Akten des Internationalen Symposiums »Arthur Schnitzler und seine Zeit«, Bern (u. a.) 1985 (Jahrbuch für internationale Germanistik: Reihe A, Kongreßberichte, 13), S. 170–181, Bettina Matthias, »Arthur Schnitzler’s ›Fräulein Else‹ and the end of the bourgeois tragedy«, in: Women in German Yearbook, 18/2002, S. 248–266, Barbara Neymeyr, »Fräulein Else. Identitätssuche im Spannungsfeld von Konvention und Rebellion«, in: Hee-Ju Kim/Günter Saße (Hrsg.), Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen, Stuttgart 2007, S. 190–208. Vgl. u. a. Arnim-Thomas Bühler, Arthur Schnitzlers »Fräulein Else«: Ansätze zu einer psychoanalytischen Interpretation, Wetzlar 1995. Vgl. Elisabeth Bronfen, »Weibliches Sterben an der Kultur: Arthur Schnitzlers ›Fräulein Else‹«, in: Jürgen Nautz/Richard Vahrenkamp (Hrsg.), Die Wiener Jahrhundertwende: Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, Wien, Köln und Graz 21996 (Studien zu Politik und Verwaltung, 46), S. 464–480; Andrew W. Barker, »Race, sex and character in Schnitzler’s ›Fräulein Else‹«, in: German Life and Letters, 54/2001, S. 1–9. Die extreme Position, Else sei »von früh an [von ihrem Vater] missbraucht« worden, vertritt Astrid Lange-Kirchheim in ihren diversen Studien: »Adoleszenz, Hysterie und Autorschaft in Arthur Schnitzlers Novelle ›Fräulein Else‹«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 42/1998, S. 265–300, Dies., »Die Hysterikerin und ihr Autor. Arthur Schnitzlers Novelle ›Fräulein Else‹ im Kontext von Freuds Schriften zur Hysterie«, in: Thomas Anz zus. mit Christine Kanz (Hrsg.), Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz, Würzburg 1999, S. 111–134, und Dies., »Weiblichkeit und Tod: Arthur Schnitzlers ›Fräulein Else‹«, in: Der Deutschunterricht, 54/2002, S. 36–47. Allerdings vereindeutigt Lange-Kirchheim kulturelle Praktiken der Jahrhundertwende wie einen Handkuss zu »pervertierten erotischen Beziehungen« (116). Kritisch dazu Brigitte Prutti, »Weibliche Subjektivität und das Versagen des sanften Patriarchen in Schnitzlers ›Fräulein Else‹«, in: Orbis litterarum, 59/2004, S. 159–187. Siehe auch Elsbeth Dangel-Pelloquin, »Das Fräulein und der Berg«, in: Polt-Heinzl/Steinlechner (Hrsg.), Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte, S. 111–117, und Eva Kuttenberg, »Die Imagination des Weiblichen. Schnitzlers ›Fräulein Else‹ in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit«, in: Modern Austrian Literature, 41/2008, H. 1, S. 97–99. Klaus Kanzog, »Arthur Schnitzler, ›Fräulein Else‹. Der innere Monolog in der Novelle und in der filmischen Transformation«, in: Ian Foster/Florian Krobb (Hrsg.), Arthur Schnitzler: Zeitgenossenschaften / Contemporaneities, Bern (u. a.) 2002
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
Paul Czinner und mit Elisabeth Bergner in der Hauptrolle regten wie die Notenzitate aus Robert Schumanns Carnaval 17 intermediale Vergleiche an. Neuerdings sind aufschlussreiche Impulse aus der Erforschung des kulturellen Kontexts zu verzeichnen.18 Die intertextuellen Bezüge der Novelle sind hingegen bislang noch nicht umfassend gewürdigt worden, auch wenn die Protagonistin, eine belesene junge Frau, auf ihre Lektüren explizit hinweist und in Zitaten spricht. Neben meiner eigenen Studie zum »literarisierten Leben und Sterben« und Heide Eilerts epochenspezifischem Überblick zum Kunstzitat19 blieb es bei vereinzelten thematischen und motivischen Vergleichen20 und gelegentlichen Erwähnungen möglicher Paralleltexte, wie Lou Andreas-Salomés früher Erzählung Fenitschka.21 Als wichtigste, freilich unmarkierte Vorbilder wurden
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(Wechselwirkungen, 4), S. 359–372. Zur Transposition von Fräulein Else in anderen Medien (Film und Comic) vgl. die Masterarbeit von Katharina Krause, Visualisierung eines Seelenlebens. Arthur Schnitzlers Novelle ›Fräulein Else‹ in Film und Comic, Freiburg 2011 (Exemplar im Arthur-Schnitzler-Archiv Freiburg). Die maßgebliche Studie von Gerd K. Schneider, »Ton- und Schriftsprache in Schnitzlers ›Fräulein Else‹ und Schumanns ›Carnaval‹«, in: Modern Austrian Literature, 2/1969, H. 3, S. 17–20, wurde mittlerweile mehrfach vertieft: vgl. Martin Huber, »Optische Musikzitate als Psychogramm in Arthur Schnitzlers ›Fräulein Else‹«, in: Ders., Text und Musik. Musikalische Zeichen im narrativen und ideologischen Funktionszusammenhang ausgewählter Erzähltexte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1992 (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, 12), S. 78–91, Cathy Raymond, »Masked in music: hidden meaning in Schnitzler’s ›Fräulein Else‹«, in: Monatshefte, 85/1993, S. 170–188, und Hanna Stegbauer, »›Wer spielt da so schön?‹ Erzähltechnische Funktionen der Musik in Arthur Schnitzlers ›Fräulein Else‹«, in: Joachim Grage (Hrsg.): Literatur und Musik in der klassischen Moderne. Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien, Würzburg 2006, S. 227–243. Franziska Schößler, »Börse und Begehren. Schnitzlers Monolog ›Fräulein Else‹ und seine Kontexte«, in: Polt-Heinzl/Steinlechner (Hrsg.), Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte, S. 119–129. Achim Aurnhammer, »›Selig wer in Träumen stirbt‹. Das literarisierte Leben und Sterben von ›Fräulein Else‹, in: Euphorion, 77/1983, S. 500–510, und Heide Eilert, Das Kunst-Zitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900, Stuttgart 1991, bes. S. 322–335. Vgl. u. a. Veronika Schuchter, Wahnsinn und Weiblichkeit: Motive in der Literatur von William Shakespeare bis Helmut Krausser, Marburg 2009, und Siew Lian Yeo, »›Entweder Oder‹: Dualism in Schnitzler’s ›Fräulein Else‹«, in: Modern Austrian Literature, 3/1999, H. 2, S. 15–26. Vgl. Susan C. Anderson, »Seeing Blindly: Voyeurism in Schnitzler’s ›Fräulein Else‹ and Andreas-Salomé’s ›Fenitschka‹«, in: Joseph P. Strelka (Hrsg.), Die Seele … ist ein weites Land: kritische Beiträge zum Werk Arthur Schnitzlers, Bern (u. a.) 1997 (New Yorker Beiträge zur österreichischen Literaturgeschichte, 8), S. 13–27.
Textgenese
171
Maupassants Erzählung Yvette22 und Sigmund Freuds Bruchstück einer HysterieAnalyse genannt.23 Während die Maupassant-Parallele kaum beachtet wurde, ist Freuds Einfluss im Zuge der bisweilen repetitiven Kontextualisierungen Elses im zeitgenössischen Hysterie-Diskurs immer wieder erörtert worden.24 Da beide mutmaßlichen Prätexte sich kaum dem Wahrnehmungs- und Bewusstseinshorizont Elses zuordnen lassen, sondern der narratorialen Gestaltung, werden sie am Anfang des Kapitels erörtert, nachdem eine Erläuterung der Textgenese die Entwicklung der Darstellung zum Inneren Monolog und Schnitzlers Bearbeitung der intertextuellen Bezüge offen gelegt hat. Danach wird die figurale Intertextualität – Elses intertextuelle und intermediale Bezugnahmen – analysiert. Hierzu werde ich die Ergebnisse meiner früheren Studie vertiefend ergänzen und um eine textgenetische Betrachtung erweitern. Dabei orientiert sich die intertextuelle Untersuchung am Textverlauf, so dass sie in eine Interpretation der ganzen Erzählung miteinbezogen werden kann.
2.
Textgenese
2.1.
Erste Entwürfe
Die Textgeschichte von Fräulein Else ist bislang nur ansatzweise erforscht worden.25 Nach einer Äußerung Schnitzlers zu Max Krell liegen die Ansätze 22
23
24
25
Vgl. Theodor W. Alexander/Beatrice W. Alexander, »Maupassant’s ›Yvette‹ and Schnitzler’s ›Fräulein Else‹«, in: Modern Austrian Literature, 4/1971, H. 3, S. 44–55. Vgl. Glenn Robert Sandberg, »Freudian elements in Arthur Schnitzler’s ›Fräulein Else‹«, in: Philological Papers, 39/1993, S. 116–120, Lilian R. Furst, »Girls for sale: Freud’s Dora and Schnitzler’s Else«, in: Modern Austrian Literature, 36/2003, H. 3/4, S. 19–37, und Martina Caspari, »Durchkreuzungen des zeitgenössischen HysterieDiskurses: ›Fräulein Else‹ von Arthur Schnitzler und Freuds Dora – nicht nur zwischen den Zeilen gelesen«, in: Germanic Notes and Reviews, 37/2006, S. 5–28. Vgl. Sybille Kershner, »Le ›cas‹ Else? Un monologue hystérique«, in: Austriaca, 17/1992, S. 173–190, Barbara Lersch-Schumacher, »›Ich bin nicht mütterlich‹: zur Psychopoetik der Hysterie in Schnitzlers ›Fräulein Else‹«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Arthur Schnitzler, München 1998 (Edition Text + Kritik, 138/139), S. 76–88, Lange-Kirchheim, »Die Hysterikerin«, und Silvia Kronberger, Die unerhörten Töchter: »Fräulein Else« und Elektra und die gesellschaftliche Funktion der Hysterie, Innsbruck (u. a.) 2002. Vgl. auch weitere in Anm. 15 genannte Studien. Lange-Kirchheim, »Die Hysterikerin«, S. 115, 119, 121, 127 und 134, zitiert zwar aus den Entwürfen des Texts, allerdings ungenau und unsystematisch. So konstatiert sie (ebd., S. 115), dass im ersten Entwurf die Entkleidungsszene »eigener Initiative und eigenem weiblichen Begehren« entspringe und »erst in der ausgeführ-
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
zu Fräulein Else vor der Jahrhundertwende, »wenigstens die anekdotischen Elemente, auf die sich die Novelle stützen sollte«.26 Im Nachlass Schnitzlers sind vier Fassungen überliefert: ein undatierter Plan (Maschinenschrift und Handschrift Schnitzlers), eine maschinenschriftliche Skizze aus dem Jahre 1921, ein umfänglicher handschriftlicher Entwurf sowie eine TyposkriptFassung mit handschriftlichen Korrekturen, die Schnitzler im Dezember 1922 begonnen und im Oktober 1923 abgeschlossen hat.27 In der Forschung ganz unberücksichtigt geblieben ist bislang der erste, als einseitiges Typoskript überlieferte, undatierte Plan, der wohl vor 1921 entstand. Er lokalisiert bereits das Geschehen (»Speisesaal des Berghotels«), hebt aber ganz auf das Sich-zur-Schau-Stellen ab, das ein junges Mädchen als Liebesprobe inszeniert. In handschriftlichen Ergänzungen psychologisiert Schnitzler das Motiv, indem er einen Vaterkomplex und eine Ambivalenz des Mädchens zu dem Nacktauftritt andeutet (Abb. 9): Ein junges Mädchen tritt nackt in den Speisesaal des Berghotels. Sie erzählt, dass sie beraubt wurde. Motiv: Sie tut es, um die Männer zu prüfen, die sich um sie bewerben. Besser stilisiert. (Sie will die Blicke sehen …) Bis … Als sie auf der Wiese war, traten aus dem Seitenweg … warf die Kleider ab … Ich will sie nackt sehen Vielleicht erfüllt sie so seinen Wunsch Aber so daß Sie keine Freude dran haben werden. Ihr Vater ruinirt … Sie erfährt es im Berghotel; – – geht zu dem alten Freund. Sie könne[n] ihn retten … Sie liebte ihn ein wenig … Indess Nachricht dass der Vater sich erhängt hat.28
26
27 28
ten Novelle die Entblößung als Reaktion auf eine Erpressung« erfolgt, unterschlägt jedoch den handschriftlichen Zusatz im ersten Entwurf, der ebendiese Möglichkeit auch schon erwägt. Vgl. Max Krell, Das alles gab es einmal, Frankfurt/M. 1961, S. 202–205 (»Fräulein Else«), hier S. 203. Vgl. Aufstellung zu »Fräulein Else« in FF, S. 92, und Urbach, S. 130–132. Fräulein Else [I] (FF C XL, 1, Bl. 2 – Cambridge Schnitzler A 141, 1).
Textgenese
173
Abb. 9: Fräulein Else. Undatierter Plan, wohl vor 1921. Typoskript mit handschriftlichen Zusätzen des Autors (Cambridge Schnitzler A 141, 1).
174 2.2.
Fräulein Elses literarisiertes Leben
Der zweite Entwurf
Ein zweiter Entwurf datiert aus dem Jahre 1921.29 Er umfasst sechs Seiten, nennt Else wie den männlichen Widerpart Dorsday bereits beim Namen und zeichnet die Handlung der Novelle ziemlich konkret nach, bricht aber etwa nach der Hälfte des Geschehens, vor Elses Traum, ab. Den Schluss des Entwurfs bildet Elses Überlegung, wie sie die Bedingungen Dorsdays erfüllen und gleichzeitig unterlaufen könne. Ihre Lösung wird freilich nur rätselhaft angedeutet: »Ja, sie wird es tun, aber anders, als es sich Herr Dorsday vorstellt. Es wird eine Sensation sein. Und wenn sie sie auch mit dem Leben bezahlen muss.«30 Das formalästhetische Dilemma des Entwurfs zeigt sich bereits im ersten Absatz: Else kam vom Tennis. Leidlich gespielt trotz Zerstreutheit. zJa … in diesen Tagen …u Warum dergleichen so wichtig nehmen? Das gestrige Telegramm vom Hause: Keine grössere Partie machen, Expressbrief abwarten. Gute Mama.31
Zwar handelt es sich um einen extrem subjektivierten Entwurf, doch schwankt Schnitzler hier wie in dem gesamten Text zwischen heterodiegetischem und homodiegetischem Erzählen. Ist der erste Satz in Präteritum noch ›Erzählertext‹, so zeigen die nachfolgenden Sätze eine unverkennbare Intensivierung Erlebter Rede zum uneigentlichen Inneren Monolog. Sie sparen die finiten Verben ein und präsentieren somit die üblicherweise in Präteritum wiedergegebene Gedankenrede. Die Subjektivierung zeigt die Zeitangabe des »gestrigen Telegramms«, das dem Wahrnehmungshorizont der erlebenden Figur entspringt.32 Auch der »Expressbrief«, in dem Elses Mutter ihre Tochter drängt, den Kunsthändler Dorsday um Geld anzugehen, wird ausführlich zitiert, dazwischengeschaltet sind Elses skeptische Assoziationen, die an dem langfristigen Erfolg einer Finanzhilfe zweifeln lassen. Zwar vermeidet Schnitzler auch im weiteren Verlauf des Entwurfs noch konsequent die IchForm oder den Inneren Monolog, doch nehmen die ›heterodiegetischen‹ Signale eines Erzählertexts mehr und mehr ab. Erzählerkommentare in Präteritum wie »Sie fühlte sich rot werden« oder »Sie weinte vor Zorn« sind selten.33 Der maschinenschriftliche Entwurf von 1921 unterscheidet sich nicht 29 30 31 32
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Fräulein Else [II] (FF C XL, 2, Bl. 3–6 – Cambridge Schnitzler A 141, 2, Bl. 1–6). Fräulein Else [II] (FF C XL, 2, Bl. 6 – Cambridge Schnitzler A 141, 2, Bl. 6). Fräulein Else [II] (FF C XL, 2, Bl. 3 – Cambridge Schnitzler A 141, 2, Bl. 1). Die stilistische Nähe des Entwurfs zu einem Filmskript zeigt sich etwa im Zitat des Telegramms, das einem Insert in Großaufnahme entspricht. Fräulein Else [II] (FF C XL, 2, Bl. 4 und 6 – Cambridge Schnitzler A 141, 2, Bl. 2 und 6).
Textgenese
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nur durch die Erzählform der dritten Person von den späteren Entwürfen, er enthält auch keinen einzigen markierten intertextuellen Verweis. 2.3.
Der dritte Entwurf
Intertextuelle Bezüge finden sich erst im dritten Entwurf, einem handschriftlichen Konvolut.34 Da die ungefähr 200 mit Bleistift geschriebenen, stark korrigierten Blätter wohl zwei unterschiedlichen Foliierungs- und Paginierungsphasen zugehören und die meisten Seitenzahlen doppelt vorkommen, ist es allerdings nicht ganz leicht, die Stadien des Entwurfs klar zu unterscheiden, zumal Schnitzler sie miteinander kombiniert hat. Während der Anfang editionsphilologisch unproblematisch scheint, da er weitgehend der Druckfassung entspricht, ist nicht zu verkennen, dass Schnitzler vor allem am Schluss der Erzählung, an Elses Todesvision, intensiv feilte. Nachdem Else das Glas Veronal ausgetrunken hat, verselbständigen sich ihre Assoziationen und Phantasien. Die zunehmende Entsemantisierung des Inneren Monologs deutet sich in der Verballhornung des ›Veronals‹ an und steigert sich in einer phantastischen Jagd nach Dorsday, in dem Else den Mörder ihres Vaters zu erkennen glaubt: Ich habe zum Spaß … Saft getrunken lass Veronalika genommen … Das läuft mir über die Arme, rechts und links, wie die Schlangen zxxxu … Klapper wenn du mich rettest, dann Ja, fang ihn nur, den zHerrnu Dorsday, dort läuft er. Siehst du – er springt über den Teich … er hat … den Papa umgebracht … Ich bin ja nun | […]35
Von dieser Stelle an hat Schnitzler den Schluss ein weiteres Mal neu bearbeitet: Siehst du nicht, was er gethan hat? Er hat den Papa umgebracht! … Herr Veronalika … auch … Aber ich lauf mit … Ich bin … Ist Es ist ganz leer Sie haben mir die Bahre auf den Rücken geschnallt, aber ich lauf mit … Ich bin wach aber ich lauf mit.36
Etwas ausführlicher als im Druck schließt sich der Verfolgungsjagd Elses Flugtraum an: Sie träumt, gemeinsam mit ihrem Vater in einer »hellen Nacht« durch den Himmelsraum zu fliegen. Die zunehmende Fragmentierung der sprachlichen Äußerungen Elses gibt ihr Hinscheiden wieder. In dem handschriftlichen Entwurf spielen intermediale und intertextuelle Bezüge bereits eine maßgebliche Rolle. So werden Kunstwerke (Apoll von Belvedere), Künstler (Tizian, Rubens) und Komponisten wie Chopin, Beet34 35 36
Fräulein Else [III] (FF C XL, 3, Bl. 7–171 – Cambridge Schnitzler A 140). Fräulein Else [III] (FF C XL, 3, Bl. 134 – Cambridge Schnitzler A 140, Bl. 186). Fräulein Else [III] (FF C XL, 3, Bl. 167 – Cambridge Schnitzler A 140, Bl. 166).
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
hoven und Schumann namentlich genannt. Eine Sofortkorrektur lässt erkennen, dass Schnitzler Fräulein Elses musikalische Kennerschaft hervorhebt, indem er die unsichere Zuschreibung eines Musikstücks streicht und die vormalige correctio ›Beethoven‹ zur Kennerschaft aufwertet: Oder in das Klavierzimmer … Da spielt wer gerade … | Eine Schubertsonate? Beethovensonate! – Ich vernachlässige mein Klavierspiel.37
Else erinnert sich auch an Opernabende, bei denen sie »geweint« hat: Und in der Oper bei Bohème und bei der Cameliendame auch … Wenn ich todt bin wird die Mama Wer wird weinen wenn ich tod bin? … Der Papa … Ich bin aufgebahrt … im Salon … Blumen.38
Die Bohème-Opern von Giacomo Puccini (UA Theater an der Wien am 5. Oktober 1897) und von Ruggiero Leoncavallo (UA Hofoperntheater am 23. Februar 1898) feierten wegen des rührenden Bühnentodes der einfachen Blumenstickerin Mimì im Schlussakt große Erfolge im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts.39 Möglicherweise hat Schnitzler die Anspielung auf die Bohème-Oper – im Gegensatz zu der auf die Kameliendame – im Druck weggelassen, weil ihm Elses Wahlverwandtschaft zur Protagonistin Mimì überdeutlich schien. Dennoch stellt sie mit Mimìs Sterben ein weibliches Identifikationsmuster bereit, das zwar nicht Elses Lebensrealität, wohl aber ihrer romantischen Sehnsucht nach großen Gefühlen entspricht. So wirkt Elses Begegnung mit Dorsday, der mit »heißen Lippen« ihre »kalte Hand« küsst, wie eine parodistische Inversion von Mimìs liebesstiftender Begegnung mit dem Dichter Rodolfo, die in der berühmten Arie vom ›eiskalten Händchen‹ gipfelt:40
37
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Fräulein Else [III] (FF C XL, 3, Bl. 49f. – Cambridge Schnitzler A 140, Bl. 49f.). Die entsprechende Passage lautet im Druck: »Oder ins Musikzimmer? Spielt da nicht wer? Eine Beethovensonate! Wie kann man hier eine Beethovensonate spielen! Ich vernachlässige mein Klavierspiel« (EII, 337). Fräulein Else [III] (FF C XL, 3, Bl. 87 – Cambridge Schnitzler A 140, Bl. 83). Vgl. die Rezensionen der Uraufführungen in der Neuen Freien Presse vom 7. Oktober 1897 (Morgenblatt), S. 1–3 (Puccini) und vom 25. Februar 1898 (Morgenblatt), S. 1f. (Leoncavallo). Die Uraufführung von Leoncavallos Bohème dirigierte übrigens Gustav Mahler. Vgl. Henry-Louis de La Grange, Gustav Mahler. Vienna: Triumph and Disillusion (1904–1907), Oxford 1999, S. 939–941 (»The Vienna Opera in Mahler’s Time«), hier S. 941. »Er führt meine Hand an die L seine Lippen … Küsst sie … xxx xxx Heiße Lippen Meine Hand ist kalt … » (Fräulein Else [III] [FF C XL, 3, Bl. 70 – Cambridge Schnitzler A 140, Bl. 83). Im Druck blieb diese Passage leicht modifiziert erhalten: »Was will er denn mit meiner Hand? Ganz schlaff ist mein Arm. Er führt meine Hand an seine Lippen. Heiße Lippen. Pfui! Meine Hand ist kalt« (EII, 347).
Textgenese
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Rodolfo (tenendo la mano di Mimì, con voce piena di emozione!) Che gelida manina! Se la lasci riscaldar. (Puccini: Bohème, 2. Akt)
In der zunehmenden Fragmentierung der Lexik und der diskontinuierlichen Syntax ähnelt sogar Elses Sterben demjenigen Mimìs, die, ihre kalten Hände vergeblich in einem Muff wärmend, den ihr der verzweifelte Rodolfo geschenkt hat, verscheidet: Mimì (Stende una mano a Rodolfo). […] (Rodolfo scoppia in pianto.) Piangi? Sto bene … Pianger così, perché? (Mette le mani nel manicotto, si assopisce inclinando graziosamente la testa sul manicotto in atto di dormire.) Qui … amor … sempre con te! Le mani … al caldo … e … dormire. (Silenzio).
Mimìs letztes Wort »dormire« entspricht Elses letzten Worten in dem Entwurf: »Ich … schlafe …«.41 Umso deutlicher wird die Differenz des Sterbens: Während Mimì, beweint von ihrem Liebhaber Rodolfo und betrauert von ihren Freunden, entschläft, stirbt Else, ohne dass es die Umstehenden registrieren – ihr Vetter Paul flirtet gar mit Cissy. Weitere literarische Figuren, meist Protagonisten gleichnamiger Dramen, werden in dem handschriftlichen Entwurf genannt, geflügelte Worte werden zitiert. Wenn Schnitzler neben der Kameliendame auf Maupassants Roman Notre Cœur als Nachttischlektüre hinweist, zeigt die intensive Korrekturarbeit der entsprechenden Passage im Manuskript, mit welcher Aufmerksamkeit Schnitzler die intertextuellen Signale gesetzt hat. Lautet der intertextuelle Hinweis im Druck nur lapidar: »Das Buch aufs Nachtkastel, ich lese heut’ Nacht noch weiter in ›Notre Cœur‹, unbedingt, was immer geschieht« (EII, 337), so zeigt die entsprechende Stelle im Manuskript zahlreiche Korrekturen: Den Band Maupassant lese ich noch … Das Bu Den Maupassant Lese Bücher … aufs Nachtkastel … Lese heut Nacht In der Nacht les ich noch | den Maupassant …42
Die Stelle zeigt: Schnitzler schwankte lange zwischen einer unbestimmten Formulierung und einer onomastischen Markierung des Autornamens.
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Fräulein Else [III] (FF C XL, 3, Bl. 170 – Cambridge Schnitzler A 140, Bl. 71). Fräulein Else [III] (FF C XL, 3, Bl. 36 und 52 – Cambridge Schnitzler A 140, Bl. 45b–46a [durchgestr. Seite]).
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
Überdies hat Schnitzler an einem weiteren wichtigen intertextuellen Verweis intensiv gearbeitet, nämlich Elses Projektion, in der sie sich ihre eigene elende Zukunft und die ihres Bruders Rudi mit dem Vater als Häftling ausmalt, sich zugleich aber von ihrer Angst mit einem intertextuellen Rollenspiel ironisch distanziert: »Die Kinder des Sträflings! Roman von Temme in drei Bänden. Der Papa empfängt uns im gestreiften Sträflingsanzug. Er schaut nicht bös drein, nur traurig« (EII, 350). Im Entwurf heißt die Stelle: »Der Tod zDie Kinderu des Sträflings Roman von Temme … Else war nicht da Nbes M gewesen Der Papa sieht mich an …«.43 Von Temme ist kein Roman mit dem Titel »Der Tod des Sträflings« überliefert, vielmehr lautet so die Überschrift eines zentralen Kapitels des im Fin de siècle erfolgreichen Kolportageromans Die Vestalinnen (1895) von Robert Kraft, der mit Karl May nicht nur denselben Verleger, sondern auch ein ähnlich geheimnisumwittertes Leben teilt.44 Indem Schnitzler den Titel in »Die Kinder des Sträflings« ändert, verkompliziert er freilich nur das intertextuelle Spiel, wie noch zu zeigen sein wird. 2.4.
Der vierte Entwurf
Ein Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen, das 168 gezählte Blätter umfasst, bildet die letzte Fassung vor der Drucklegung. Die Einträge datieren vom 18. Dezember 1922 bis zum 9. April 1923, abgeschlossen wurde das Typoskript am 20. Oktober 1923. Wahrscheinlich handelt es sich um die Druckvorlage. So sind die Passagen in wörtlicher Rede, die nicht von Else gesprochen werden, wohl deswegen handschriftlich unterstrichen, um ihre Kursivierung im Druck anzuzeigen. Die intertextuellen Anspielungen sind in dem Typoskript nicht vermindert, eher ein wenig präzisiert. So wird der Name Maupassants in der Abschiedsszene ersetzt durch den Romantitel: »Das Buch aufs Nachtkastel, ich lese heut Nacht noch weiter im Notre Cœur – […]«.45 Damit wird der Bezug viel stärker auf den Text gelenkt und die Markierung präzisiert. Die literarische Allusion auf den Kriminalschriftsteller Temme mit dem Titel eines Romans des Kolportageschriftstellers Balduin von Möllhausen hat Schnitzler um einen Zusatz, eine fiktive Bandzahl, ergänzt: »Die Kinder
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45
Fräulein Else [III] (FF C XL, 3, Bl. 81 – Cambridge Schnitzler A 140, Bl. 86). Vgl. Robert Kraft, Die Vestalinnen. Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Erzählt nach eigenen Erlebnissen, Bd. 1, Dresden-Niedersedlitz [1895], Kapitel 36 (»Der Tod des Sträflings«). Vgl. dazu Thomas Braatz, Emil Robert Kraft [1869–1916]. Farbig illustrierte Bibliographie, Leipzig und Wien 2006. Fräulein Else [IV] (FF C XL, 4, Bl. 192 – Cambridge Schnitzler A 141, 3, Bl. 35).
Textgenese
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des Sträflings. Roman von Temme, in drei Bänden«.46 Dieser Zusatz unterstreicht den systemreferentiellen Charakter der Allusion auf das Genre rührseliger Trivialliteratur, die eben meist in mehrbändigen Ausgaben erschien. Präzisiert hat Schnitzler in der letzten Fassung vor der Drucklegung auch die intermedialen Bezüge. So wird eine Allusion auf Mozarts Oper Figaros Hochzeit eingefügt, bei der Else bemerkt, dass ihr Vater schwere Sorgen hat: »In der Oper bei ›Figaro‹ sein zins leereru Blick – zich bin fast erschrockenu aber das war gleich wieder vorbei zein ganz andrer Menschu.«47 Dieser Zusatz lässt sich durchaus als ein »Zeichen patriarchalischer Verfügungsmacht über die Frau« sehen und auf Else beziehen, die eben den Expressbrief ihrer Mutter erhalten hat.48 Überdies ist der Schumann-Bezug verdeutlicht. Identifiziert Else schon im handschriftlichen Entwurf das Musikstück, das sie hört, bevor sie den Musiksalon betritt (»Schumann … Ja … Carneval! … Den hab ich auch studiert …«49), so wird in der Typoskript-Fassung der Bezug intensiviert: Schumann … zCarneval …u Es muss ein neuer Gast sein. Vielleicht ist es eine Virtuosin. Schumann – Carneval … den hab ich auch studiert. Ich will zeinen Blick in das Musikzimmer werfen –u hineinsehen – vom Gang aus – […] Carneval … Die Dame ist nicht mehr jung.50
Aus der einmaligen Nennung wird die nun fast leitmotivische Wiederholung zu einem musikalischen Bezugsmuster für Elses Auftritt. Die Untersuchung der Textgenese hat gezeigt, dass Schnitzler, nachdem er das Gerüst der Handlung im ersten und zweiten Entwurf errichtet hatte, zunächst in einem formalästhetischen Dilemma steckte: Die Darstellung in der dritten Person konnte der gewünschten Subjektivierung nicht gerecht werden. Deshalb transformierte er die Erzählung im dritten Entwurf ganz in den Inneren Monolog und gewährte somit höchstmögliche Erzählnähe. Es fällt auf, dass diese Einführung des Inneren Monologs mit dem Aufkommen von intertextuellen Bezugnahmen zusammenfällt, die im vierten Entwurf noch konkretisiert werden. Ist die parallele Entwicklung lediglich der größeren Ausführlichkeit des dritten und vierten Entwurfes geschuldet oder ist sie funktional mit der Darstellungsweise des Inneren Monologs verknüpft? Es ist zumindest offensichtlich, dass die Darstellungsform des Inneren Monologs intertextuelle Anspielungen begünstigt, die auf der Figurenebene anzu46 47 48
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Fräulein Else [IV] (FF C XL, 4, Bl. 215 – Cambridge Schnitzler A 141, 3, Bl. 78). Fräulein Else [IV] (FF C XL, 4, Bl. 186 – Cambridge Schnitzler A 141, 3, Bl. 23). Vgl. Lange-Kirchheim, »Adoleszenz, Hysterie«, S. 293, weniger eindeutig dagegen Eilert, Kunst-Zitat, S. 324. Fräulein Else [III] (FF C XL, 3, Bl. 158 – Cambridge A 140, Bl. 145). Fräulein Else [IV] (FF C XL, 4, Bl. 263 – Cambridge Schnitzler A 141, 3, Bl. 140).
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
siedeln sind. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist deren Dichte in Fräulein Else auch wesentlich größer als die narratorialen intertextuellen Bezüge. So wie am Anfang der Textgenese Idee und Struktur der Handlung stehen, soll auch die folgende Analyse der intertextuellen Bezüge das Augenmerk zunächst auf zwei mögliche strukturelle Prätexte richten. Wie die Form des Inneren Monologs und die intertextuellen Bezüge speziell bei Else zusammenwirken, soll im zweiten Schritt, den Untersuchungen zur figuralen Intertextualität, gezeigt werden.
3.
Narratoriale Intertextualität
Von der figuralen Intertextualität, der Bezugnahme auf Prätexte aus der Sicht der Protagonistin, ist die narratoriale Intertextualität zu unterscheiden, auch wenn die Alternative ›figural vs. narratorial‹ – wie bei Schnitzlers intermedialen Anleihen bei Schumanns Carnaval gesehen – bisweilen zugunsten einer Interferenz modifiziert werden muss. Narratorial vermittelt sind in Schnitzlers Monolognovelle Fräulein Else möglicherweise der Titel und das zentrale Motiv des erotischen Voyeurismus. So mag Schnitzler die titelgleiche Erzählung Fräulein Else (1859) von Edmund Höfer gekannt haben, zumal er neben anderen Werken dessen »Erzählungen« unter seinen Lektüren ausdrücklich nennt.51 Zwar hat Höfers historische Erzählung, die Anfang des 18. Jahrhunderts, im Nordischen Krieg Karls XII. spielt, vordergründig nur wenig gemein mit Schnitzlers Novelle, aber beide Erzählungen prägt eine unglückliche Vater-Tochter-Beziehung: Wie Schnitzlers Else liebt auch Höfers blonde Titelheldin ihren skrupellosen Vater mehr als er sie. Doch anders als bei Schnitzler stirbt bei Höfer nur der Vater, während sich seine Else emanzipiert und ihr Liebesglück in Gestalt eines Vetters, eines schwedischen Leutnants findet – er heißt allerdings nicht Paul, sondern Gustav. Auch das zentrale Motiv von Schnitzlers Novelle, der erotische Voyeurismus, wie er in Dorsdays Bedingung zum Ausdruck kommt, mag narratorial motiviert sein. Denn Schnitzler fand dieses Motiv in Henri Barbusses Roman L’Enfer (1919) vorgeprägt, den er in einer längeren Kritik gewürdigt hat. Barbusses autodiegetischer Erzähler beobachtet durch einen Mauerspalt in seinem Hotelzimmer das Geschehen im Nebenzimmer, darunter die erotische Entkleidung einer jungen Frau – diese Schilderung repräsentiert die formalästheti51
Edmund Höfer, »Fräulein Else«, in: Ders., Vergangene Tage. Geschichte, Prag 1859, S. 7–116. Edmund Höfer (1819–1882) wird mit mehreren Titeln, darunter auch »Erzählungen«, in der Leseliste Schnitzlers genannt (LL D210).
Narratoriale Intertextualität
181
sche Inversion von Elses Schilderung aus der Sicht der Beobachteten in Schnitzlers Novelle –, aber auch eine ähnliche Konstellation wie zwischen Dorsday und Else, die Schnitzler selbst mit folgenden Worten zusammenfasst:52 Ein alternder, todkranker Mann reist mit einem jungen Mädchen, die ihn aus Dankbarkeit und Hochachtung heiratet. Die Hochzeitsnacht besteht darin, dass sich die junge Frau vor ihm entkleidet. Wenige Tage darauf stirbt er. Der eigentliche Herzensgeliebte der jungen Frau kommt an, sie stürzt ihm in die Arme, gibt sich ihm hin, und der Lauscher an der Wand beobachtet die ganze Verführungsszene, von der uns auch kein physiologisches Detail erspart bleibt.53
Schnitzlers L’Enfer-Kritik illustriert aber auch seine eigenständige Adaptation. Während bei Barbusse die körperliche Vereinigung mit dem wahren Liebhaber auf den ›distanzierten‹ Liebesakt der Entkleidung folgt, kombiniert Schnitzler beide Episoden, indem Else sich nicht exklusiv vor Dorsday entblößt, sondern auch vor den von ihr begehrten attraktiven männlichen Hotelgästen (»Filou«, »Römerkopf«).54 Narratorial vermittelt sind aber auch vor allem strukturanaloge Bezüge, für die als Prätexte Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905) sowie Guy de Maupassants große Novelle Yvette (1884) vorgeschlagen wurden. Beide Texte seien im Folgenden als mögliche Prätexte exemplarisch gemustert. 3.1.
Freuds ›Dora‹ als Prototyp?
Immer wieder hat man nach realen Vorbildern für die literarische Gestalt Else gesucht, obgleich Schnitzler selbst die Literarizität der Figur betont und versichert hat, dass »das ›Fräulein Else‹, so wie ich sie geschildert habe, nie52
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Vgl. Henri Barbusse, Die Hölle. Roman [L’Enfer], dt. Übers. von Max Hochdorf, Zürich 1919. Schnitzler, der den Roman in der Leseliste (LL F4) und im Tagebuch (Tgb 21. 07. 1919 [»Las Barbusse’s Enfer, mit Interesse und Widerstand«] und am 23. 07. 1919) anführt, hat ihn im französischen Original gelesen. In seiner Kritik betont Schnitzler ausdrücklich das Verhältnis von Voyeur und Objekt des Voyeurismus, kritisiert aber Barbusses forcierte Motivierung der Mauerspalte im Vergleich mit der literarischen Tradition der menippeischen Satire (Arthur Schnitzler, »Bemerkungen zu ›L’Enfer‹ von Barbusse [datiert 22. 07. 1919]«, in: AuB, 486–489). Schnitzler, »Bemerkungen zu ›L’Enfer‹«, S. 487. So apostrophiert Else, nachdem sie den Mantel hat fallen lassen und nackt dasteht, sowohl Dorsday wie den schwärmerisch verehrten »Filou«: »Keiner noch sieht mich. Filou, Filou! Nackt stehe ich da. Dorsday reißt die Augen auf. Jetzt endlich glaubt er es. Der Filou steht auf. Seine Augen leuchten. Du verstehst mich, schöner Jüngling« (EII, 373).
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
mals gelebt [hat,] und der Fall, den ich erzählt habe, ist völlig frei erfunden«.55 Die intertextuellen und intermedialen Bezüge, denen ich im Folgenden nachgehe, können die Frage der narratorialen Konzeption der Figur selbst nicht klären, sondern decken nur die literarische Überformung ihrer Projektion auf. Allerdings stimmt Else in vieler Hinsicht mit der Patientin ›Dora‹ in Sigmund Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905) überein, eine Analogie, die Astrid Lange-Kirchheim und Lilian R. Furst herausgearbeitet haben.56 Beide – Else wie Dora – entstammen derselben großbürgerlichen Gesellschaftsschicht Wiens um 1900, leben in einer ähnlichen Familienkonstellation (Liebe zum Vater, Verachtung der Mutter57) und sehen sich als Tauschobjekte im Interesse ihrer Väter: Während die 19-jährige Else die Konstellation in einem zynisch distanzierten Rollenspiel formuliert (»Die edle Tochter verkauft sich für den geliebten Vater, und hat am End’ noch ein Vergnügen davon« [EII, 333]), vermutet die 18-jährige Dora, ihr Vater unterstütze die Avancen, die ihr Herr K., ein älterer Freund des Vaters macht, weil er ein Verhältnis mit Frau K. habe und seine Tochter gegen die fremde Ehefrau eintauschen wolle. Die Töchter sollen somit für die moralische bzw. kriminelle Schuld der Väter ihre Virginität opfern. Die Reaktionen auf die zudringlichen ›Liebesanträge‹ beider ältlichen Verehrer (Kussszenen) entsprechen sich: Wie Dora gegenüber Herrn K. hegt auch Else zunächst durchaus eine gewisse Sympathie für Dorsday. Erst als beide realisieren, dass 55 56
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Brief an Gabor Nobl vom 21. 02. 1925, in: BII, S. 394f., hier S. 395. Lange-Kirchheim, »Adoleszenz, Hysterie«, bes. S. 285–291, und Furst, »Girls for sale«. Caspari, »Durchkreuzungen«, greift den Vergleich mit Freuds Dora auf, ohne Lange-Kirchheim und Furst zu erwähnen. Aus der Sicht von Heinz Kohuts ›Selbstpsychologie‹ kritisiert sie das Triebmodell Freuds, der Dora nicht verstanden habe, und lobt Schnitzlers »Fräulein Else« als »Paradigmenwechsel« im »klassischen Hysteriediskurs« (ebd., S. 26). Nach Casparis banalem Fazit, das der Literarizität der Figuren und ihrer projektiven Überformung durch Else nicht einmal ansatzweise gerecht wird, wäre »›Fräulein Else‹ der ›normalste Mensch‹ in der Erzählung – und insofern der gesündeste. […] Sie beschreibt die Pathologie einer Zeit, die sich ihr einschreibt und sie zerschreibt« (ebd., S. 26). Else verachtet ihre Mutter als ungebildet, wie folgende Aussagen bekunden: »Mama ist ziemlich dumm« (EII, 325), »Einen furchtbaren Stil schreibt Mama« (EII, 329), »Sie kennt sich doch in diesen Dingen nie aus« (EII, 331), und auch in Doras Leben spielt die Mutter eine untergeordnete Rolle. Der Umstand, dass sie im »zweiten Traum« einen Brief schreibt, in dem sie ihre Tochter vom Tod des Vaters unterrichtet, erinnert an die Rolle von Elses Mutter, die mit ihren Telegrammen und dem »Expressbrief« als Mittlerin für den Vater wirkt. Auch ähneln Elses Familienverhältnisse mit dem älteren Bruder Rudi und ihrer gönnerhaften Tante Emma denen der Fallstudie: So hat Dora einen eineinhalb Jahre älteren Bruder und eine Tante, zu der sie aufschaut.
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sie den Freunden ihrer Väter als Sexualobjekte offeriert werden, verkehrt sich die Attraktivität in »Ekel«.58 Dieses »nicht ernst gemeinte Taedium vitae«, nach Freud ein typisches Hysterie-Symptom, teilen beide59 und versuchen dem Zwang ihres Rollenkonflikts (Tochter und Sexualobjekt) durch halbherzige Selbstmordversuche zu entgehen – allerdings wird Dora im Unterschied zu Else gerettet. Das Ende von Schnitzlers Fräulein Else markiert geradezu einen Bezug zu Freuds Hysterie-Analyse, indem Elses Zusammenbruch ausdrücklich als »hysterischer Anfall« (EII, 378) diagnostiziert wird.60 Und Freud selbst betont die Literarizität seiner Fallstudie, wenn er eine zusätzliche Komplikation als »Element« charakterisiert, das »den schönen, poesiegerechten Konflikt, den wir bei Dora annehmen dürfen, nur trüben und verwischen [könne]; es fiele mit Recht der Zensur des Dichters, der ja auch vereinfacht und abstrahiert, wo er als Psychologe auftritt, zum Opfer«.61 Schnitzler konnte sich zu einer Literarisierung der Fallstudie geradezu aufgefordert fühlen, da ihn Freud, was bisher unbemerkt blieb, in einer Fußnote namentlich als kongeniale poetische Autorität anführt: »Ein Dichter, der allerdings auch Arzt ist, hat dieser Erkenntnis in seinem ›Paracelsus‹ sehr richtigen Ausdruck gegeben«.62 Auch wenn sich letztlich nicht nachweisen lässt, dass Schnitzler Freuds Hysterie-Analyse als Subtext seiner Monolognovelle zu Grunde gelegt hat, spricht die Ähnlichkeit der Figurenkonzeption, der familiären Konstellation und des seelischen Konflikts für eine Bezugnahme.
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Vgl. Sigmund Freud, »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, in: Ders., Studienausgabe, Bd. 6, Frankfurt/M. 1971, S. 83–186, hier S. 106ff. Und – typisch für Freuds Hysteriediagnose – löst die sexuelle Erregung durch Dorsday auch »Unlustgefühle« in Else aus: »Es ist alles gleich ekelhaft, und ich komme überhaupt gar nicht mit Ihnen auf die Wiese« (EII, 358). Freud, »Bruchstück«, S. 101. Es ist Cissy, die diese Diagnose trifft, doch zitiert sie sicher die Diagnose des Frauenarztes Paul, während Tante Emma die Einweisung in eine Anstalt fordert. Der Umstand, dass Paul die seelische Not der Patientin so sehr verkennt, dass er nicht einmal den Selbstmordversuch realisiert, ließe sich dann aber als ironische Spitze gegen die psychoanalytische Methode verstehen. Freud, »Bruchstück«, S. 133. Doras Fall ist dadurch kompliziert, dass sie zu Frau K., von der sie sexuell aufgeklärt wurde, eine lesbische Neigung hegte. Ebd., S. 119, Anm. 1.
184 3.2.
Fräulein Elses literarisiertes Leben
Guy de Maupassant: Yvette
Theodor und Beatrice Alexander haben bereits im Jahre 1971 Guy de Maupassants Novelle Yvette (1884) als Prätext für Schnitzlers Fräulein Else vorgeschlagen, zugleich aber die narrative Differenz betont.63 In der Forschung wurde dieser Hinweis erstaunlicherweise nicht weiter diskutiert, obgleich er es verdiente. Tatsächlich sind die situativen und inhaltlichen Analogien zu Maupassants Novelle augenfällig: Die 18-jährige, rotblonde, naiv-kokette Yvette wird von ihrer Mutter, der sogenannten Marquise Obardi, die ein Freudenhaus führt, dem Verehrer Jean de Servigny, einem Pariser Lebemann, angeboten. Als Yvette realisiert, dass ihre Mutter eine Prostituierte ist und sich durch deren Leben und Ansinnen überfordert fühlt, entschließt sie sich zum Suizid. Zunächst spielt sie vor den Gästen ihrer Mutter die Dirne, um sich anschließend mit Chloroform umzubringen. Dank Servignys tatkräftiger Hilfe wird sie aber gerettet. Schnitzlers 19-jähriges rotblondes Fräulein Else ähnelt in Alter und Aussehen Maupassants Yvette, die von ihren Verehrern »Mam’zelle [Mademoiselle]« genannt wird, und teilt mit ihr eine exhibitionistisch-narzisstische Neigung.64 Während Yvette erkennen muss, dass ihre Mutter eine Kurtisane ist, erleidet auch Else einen Schock, als sie erfährt, dass ihr Vater Geld unterschlagen hat. Überdies fühlen sich beide Titelheldinnen von ihren Müttern überfordert, so dass sie sich zum – freilich halbherzigen – Suizid entschließen: Während Yvette aber aus ihrem Chloroform-Traum gerettet wird, stirbt Else an der Überdosis Veronal. Die Handlungsähnlichkeiten werden durch motivliche Parallelen verstärkt. Dazu gehören Elses charakteristische Spiegelszenen, die ein Vorbild in Maupassants Novelle haben. So schaut sich auch Yvette vor ihrem Selbstmordversuch lange selbstverliebt im Spiegel an:
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Alexander/Alexander, »Maupassant’s ›Yvette‹«. Françoise Derré, L’œuvre d’Arthur Schnitzler. Imagerie viennoise et problèmes humains, Paris 1966 (Germanica, 9), bes. S. 476–488, bleibt in ihrem Vergleich recht allgemein, und Karl Zieger, »Arthur Schnitzler – un ›Maupassant Autrichien‹. Le rôle de Maupassant pour l’insertion d’un auteur étranger dans le champ littéraire français«, in: Guy de Maupassant. Études réunies par Noëlle Benhamou, Amsterdam und New York 2007, S. 71–80, hier S. 77f., referiert lediglich die These von Theodor und Beatrice Alexander. Vgl. Alexander/Alexander, »Maupassant’s ›Yvette‹«, S. 48, die auch die wesentlichen Handlungsübereinstimmungen anführen.
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– C’est moi, c’est moi que voilà dans cette glace. […] Elle prit ses grands cheveux tressés en nattes et les ramena sur sa poitrine, suivant de l’œil tous ses gestes, toutes ses poses, tous ses mouvements. – Comme je suis jolie! pensa-t-elle. Demain, je serai morte, là, sur mon lit.65
Wie Else vor ihrem Selbstmord sich nicht nur Dorsday, sondern auch den Hotelgästen präsentiert, so kompromittiert sich Yvette an ihrem vermeintlich letzten Abend durch ›Tollheiten‹ mit den Klienten ihrer Mutter. Ihren Verehrer Servigny erniedrigt sie, nachdem sie mit einigen Männern im Gefolge ein Karussell mit Holzpferden bestiegen hat,66 indem sie ihn wie einen Hund ein Stück Holz aus einem Fluss apportieren lässt.67 Einen maßgeblichen Wesenszug Yvettes, von Schnitzler in seiner intertextuellen Bezugnahme noch verstärkt, hat die Forschung bislang übersehen: die ausgeprägt literarisierte Wahrnehmung der Protagonistinnen. Wie Else die kriminellen Machenschaften ihres Vaters verdrängt und sich in eine literarisch überformte Welt flüchtet, ist auch Yvette ›eine begeisterte Romanleserin‹ (»une liseuse de romans enragée«),68 die, wie ihr Verehrer Servigny zynisch bemerkt, »contemple l’existence à travers quinze mille romans« [›das Dasein durch fünfzehntausend Romane hindurch betrachtet‹69] und wie Else in ihren literarischen Träumen lebt: »Ce sont peut-être nos rêves qui nous disposent comme ça. Ça dépend aussi du livre que je viens de lire«.70 Auf Servignys Liebesgeständnis, Kuss und brutale Absage an eine Heirat reagiert Yvette, aus ihren romantischen Träumen gerissen, ähnlich erschro-
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Guy de Maupassant, »Yvette«, in: Louis Forrestier (Hrsg.), Maupassant. Contes et nouvelles, Bd. 2, Paris 1979, S. 234–307. Hier Kap. IV, S. 292 [dt. Übersetzung zitiert nach Guy de Maupassant, »Yvette«, in: Ders., Yvette, Die Unbekannte und andere Novellen, übertr. v. Irma Schauber, Walther Georg Hartmann und Ernst Sander, München 1964, S. 31–114, hier S. 97: »Das da bin ich, was da im Spiegel ist, das bin ich. (…) Sie nahm ihr langes, zu Zöpfen geflochtenes Haar und legte es sich über die Brust; sie verfolgte mit dem Blick alle ihre Gesten, alle Posen, alle Bewegungen. ›Wie hübsch ich bin!‹ dachte sie. ›Morgen liege ich tot da drüben in meinem Bett‹«]. Die entsprechende Stelle in Schnitzlers »Fräulein Else« lautet: »Wie schön meine blondroten Haare sind, und meine Schultern; meine Augen sind auch nicht übel. Hu, wie groß sie sind. Es wär’ schad’ um mich. Zum Veronal ist immer noch Zeit. – Aber ich muß ja hinunter. Tief hinunter« (EII, 362), und kurz darauf: »Bin ich wirklich so schön wie im Spiegel?« (EII, 365). Maupassant, »Yvette«, S. 100. Ebd., S. 101. Vgl. ebd., Kap. 1, S. 239 [›eine begeisterte Romanleserin‹ (Schauber u. a., »Yvette«, S. 37)]. Schauber u. a., »Yvette«, S. 37. Vgl. Maupassant, »Yvette«, Kap. II, S. 251.
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cken71 wie Else auf Dorsdays erotische Offerte. Malt Else sich ihre Zukunft als Tochter eines Strafgefangenen in Form eines Trivialromans aus, so scheint Yvette, nachdem sie die Prostitution ihrer Mutter erkannt hat, die ›entsetzliche Entdeckung […] die natürliche Fortsetzung eines tags zuvor begonnenen Feuilletonromans‹ zu sein.72. Literarisch präformiert wirkt auch ihr heroischer Entschluss: »›Ich will meine Mutter retten‹«,73 der so gar nicht zum Selbstverständnis der Mutter passt, die aus ihrem Beruf keinen Hehl macht. Sogar ihr verzweifelter Vorsatz, »in den Tod zu gehen«,74 wirkt in seiner romantisierten Vorstellung des Sterbens poetisch unverbindlich: Sie faßte den Entschluß ganz plötzlich und in vollkommener Ruhe, als handele es sich um eine Reise; ohne Überlegungen, ohne sich den Tod auszumalen, ohne zu begreifen, dass er das Ende ohne Neubeginn ist, das Fortgehen ohne Wiederkehr, der ewige Abschied von der Erde, vom Leben.75
Zwar scheint sich auch Else in ihrem literarisch überformten Erleben über die Tragweite ihres Entschlusses zum Suizid ähnlich unklar wie Maupassants Yvette, doch ist der Entschluss lang gedehnt und in der Form des Inneren Monologs ambivalent. Und während Yvettes knapper anklagender Abschiedsbrief nur referiert wird (›ich sterbe, weil ich keine ausgehaltene Dirne werden will‹76), wird Elses Schreibprozess, die Korrekturen und Modifikationen, ausführlich geschildert. Den höchsten Grad gewinnt der intertextuelle Bezug in der analogen Schlussszene: Yvettes Halluzination ist ein Flugtraum, der mit Klavierbegleitung ihrer Mutter und mit dem Rufen ihres Namens vorläufig endet: Elle regardait la lune et voyait une figure dedans, une figure de femme. Elle recommençait à battre la campagne dans la griserie imagée de l’opium. Cette figure se balançait au milieu du ciel; puis elle chantait; elle chantait, avec une voix bien connue, l’Alleluia d’amour. C’était la marquise qui venait de rentrer pour se mettre au piano. Yvette avait des ailes maintenant. Elle volait, la nuit, par une belle nuit claire, audessus des bois et des fleuves. Elle volait avec délices, ouvrant les ailes, battant des ailes, portée par le vent comme on serait porté par des caresses. Elle se roulait dans l’air qui lui baisait la peau, et elle filait si vite, si vite qu’elle n’avait le temps de rien 71 72
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Schauber u. a., »Yvette«, S. 57. Ebd., S. 88. Vgl. Maupassant, »Yvette«, Kap. III, S. 284: »Sa pensée avait rôdé en des aventures si tragiques, poétiquement amenées par les romanciers, que l’horrible découverte lui apparaissait peu à peu comme la continuation naturelle de quelque feuilleton commencé la veille«. Schauber u. a., »Yvette«, S. 88. Ebd., S. 95. Ebd. Ebd., S. 111.
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voir au-dessous d’elle, et elle se trouvait assise au bord d’un étang, une ligne à la main; elle pêchait. Quelque chose tirait sur le fil qu’elle sortait de l’eau, en amenant un magnifique collier de perles, dont elle avait eu envie quelque temps auparavant. Elle ne s’étonnait nullement de cette trouvaille, et elle regardait Servigny, venu à côté d’elle sans qu’elle sût comment, pêchant aussi et faisant sortir de la rivière un cheval de bois. Puis elle eut de nouveau la sensation qu’elle se réveillait et elle entendit qu’on l’appelait en bas.77
Theodor und Beatrice Alexander führen zwar Yvettes Flugtraum als Prätext für Elses Sterbevision an, schöpfen aber die Analogien keineswegs aus. Tatsächlich reichen sie von der Figur des erotischen »Matadors«, als den Yvette in ihrem Traum den Liebhaber Servigny sieht,78 bis hin zu dem »Teich«, an dem Else Dorsday zu erkennen meint. Manche Visionen Elses wie das »Ringelspiel« und die vorgängige »Perlenschnur« als Liebespreis erscheinen erst vor der Folie von Maupassants Yvette plausibel.79 Selbst das prägnante Paradoxon der »hellen Nacht«, die an Weihnachten erinnert, ist in der »nuit claire« in Yvettes Flugvision ebenso vorgeprägt wie die durchflogene nächtliche Landschaft mit den Wäldern oder das ›Halleluja der Liebe‹, das Else zur kosmischen Melodie überhöht. 77
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Maupassant, »Yvette«, Kap. 4, S. 300f. [»Im eingebildeten Rausch des Betäubungsmittels begann sie wiederum die Landschaft zu durchschweifen. Jene Gestalt wiegte sich inmitten des Himmels; sie sang mit wohlbekannter Stimme das ›Halleluja der Liebe‹. Es war die Marquise; sie war gerade hereingekommen und wollte sich ans Klavier setzen. Yvette hatte jetzt Flügel. Sie flog durch eine schöne, helle Nacht über Wälder und Flüsse dahin. Sie flog voller Entzücken, mit ausgebreiteten Flügeln, mit schwingenden Flügeln, und der Wind trug sie, wie wenn man von Liebkosungen dahingetragen wird. Sie wand sich in der Luft, die ihr die Haut küßte, und sie glitt so schnell, so schnell, dass ihr keine Zeit verblieb, sich anzusehen, was unter ihr war, und mit einemmal saß sie am Ufer eines Teiches, hatte eine Angelrute in der Hand und fischte. Etwas zerrte an der Schnur, als sie sie aus dem Wasser zog; es hing ein prächtiges Perlenkollier daran, das sie sich vor kurzem inständig gewünscht hatte. Dieser Fund dünkte sie etwas durchaus Selbstverständliches, und sie blickte zu Servigny auf, der neben ihr stand, ohne daß sie gewußt hätte, wie das zugegangen sei; auch er fischte und zog ein Holzpferd aus dem Fluß. Dann hatte sie aufs neue das Gefühl, als erwache sie, und sie hörte, daß sie vom Garten her gerufen wurde.« (Schauber u. a., »Yvette«, S. 106)]. Maupassant, »Yvette«, S. 300: »Servigny, habillé en prince, venait la chercher pour la conduire à un combat de taureaux« [»Servigny, fürstlich gekleidet, kam und wollte sie zu einem Stierkampf abholen« (Schauber u. a., »Yvette«, S. 105)]. Ähnlich bemisst Else den Kaufpreis einer Heirat: »Für eine Perlenschnur?« (EII, 333).
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Haha, Paul. Warum sitzest du denn auf der Giraffe im Ringelspiel? – »Else, Else!« – So reit’ mir doch nicht davon. […] Du sollst mich ja retten. […] Ja, fang’ ihn nur, den Herrn von Dorsday. Dort läuft er. Siehst du ihn denn nicht? Da springt er über den Teich. Er hat ja den Papa umgebracht. […] Ich werde lieber fliegen. Ich habe ja gewußt, daß ich fliegen kann. […] Was ist denn das? Ein ganzer Chor? Und Orgel auch? Ich singe mit. Was ist es denn für ein Lied? Alle singen mit. Die Wälder auch und die Berge und die Sterne. Nie habe ich etwas so Schönes gehört. Noch nie habe ich eine so helle Nacht gesehen. Gib mir die Hand, Papa. Wir fliegen zusammen. So schön ist die Welt, wenn man fliegen kann. Küss’ mir doch nicht die Hand. Ich bin ja dein Kind, Papa. »Else! Else!« Sie rufen von so weit! Was wollt Ihr denn? Nicht wecken. Ich schlafe ja so gut. (EII, 380f.)
Die frappanten Ähnlichkeiten, die bis in die Wortwahl und die visionäre Überformung reichen, lassen zugleich den markanten Unterschied und die narrative Innovation von Schnitzlers Novelle erkennen. Während Maupassant Yvettes Vision mit dem tatsächlichen Geschehen in der erzählten Welt konfrontiert, entfällt in Elses Innerem Monolog dieses erzählerische Korrektiv. So wird Yvettes Projektion einer kosmischen Melodie als das »Alleluia d’amour«-Klavierspiel der Puffmutter ebenso desillusioniert wie der Weckreiz, der mit lauten Befehlen ihrer Mutter erklärt wird. In Elses Flugvision bleibt dagegen der subjektive Faktor ungebrochen. Tritt bei Maupassant die kosmische Phantasie zugunsten der Tagesreste zurück, in denen das Erlebnis des Ringelspiels und das hündische Betragen Servignys verarbeitet werden, so entfernt sich Elses Vision immer weiter von den nahen, bedrängenden Erinnerungen und Assoziationen zu einem pantheistischen Himmelsflug: Die »Else«-Rufe der Umstehenden werden schwächer und verhallen ungehört. So bezieht sich Fräulein Elses Todesvision zwar markant auf Maupassants Yvette, überbietet aber gerade in der radikalen Subjektivierung und narrativen Umsetzung den Prätext. Maupassant berichtet die seelische Krise eines jungen Mädchens neutral und gerafft, nur gelegentlich aus der Sicht Servignys leicht personalisiert. Dagegen liefert Schnitzlers Monologerzählung das zeitdeckende minutiöse Protokoll einer solchen Krise, das den Leser zur Teilnahme oder zum Nachvollzug zwingt. Die narrative Differenz erschwert eine abschließende Bewertung. So unstrittig der intertextuelle Bezug ist, so unklar ist sein Status. Handelt es sich um einen narratorialen Bezug – hat also Schnitzler die Erzählung Yvette dem Fräulein Else als Muster unterlegt, oder inszeniert Else – das wäre eine figurale Erklärung – ihr eigenes Sterben nach ihrem Nachttisch-Autor Maupassant? Für die Interpretation ist es wohl sinnvoll, die Deutungsalternative zu-
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gunsten einer Interferenz oder Ambivalenz aufzugeben. Schnitzler präsentiert zwar eine Geschichte, der literarische Muster wie Maupassants Yvette zu Grunde liegen, doch im Gestus des Inneren Monologs scheint die literarisch erlebende Protagonistin Else zunehmend selbst ihre Affinität zu Maupassants Titelheldin Yvette zu ahnen und sie zu imitieren. Die tragische Ironie dieser Nachahmung liegt darin, dass Fräulein Else im Unterschied zum Vorbild Yvette von keinem Verehrer wiederbelebt wird, sondern einsam »in ihren Träumen« stirbt.80
4.
Figurale Intertextualität: Elses literarisches Erleben
In der Erzählsituation des Inneren Monologs ist die Erzähldistanz aufgehoben. Der Leser erfährt nur eine wahrgenommene Wirklichkeit, die durch interpersonale Situationen und Dialoge zwar verlässlicher wird, dennoch aber eine beunruhigende Einseitigkeit vermittelt. Distanzschaffende Elemente wie Bewertungen, Reaktionen, Assoziationen und Halluzinationen, die den Wahrnehmungen folgen oder sich mit ihnen vermischen, ermöglichen es dem Leser, das Verzerrungsmoment in der Projektion zu bestimmen und unter Berücksichtigung des so ermittelten subjektiven Faktors trotz fehlenden Gegenlagers eine Brücke von der subjektiven Innenwelt zur objektiven Außenwelt zu schlagen. Stärker noch als im Lieutenant Gustl changiert im Fräulein Else der Grad der Bewusstheit und damit der Status der erzählten Welt. Er reicht vom neutralen Bericht über die literarisch stilisierte Wahrnehmung und tagträumerische Projektion bis hin zur visionären Überformung im Traum. Zur Kohärenz der großen Bandbreite des sogenannten ›Mittelbewusstseins‹ tragen sprachliche Rekurrenzen und intermediale wie intertextuelle Referenzen maßgeblich bei. Sie sind ein wesentlicher Maßstab für die Charakterisierung der Protagonistin und für die Bestimmung des wechselnden subjektiven Faktors in der Monolognovelle. Dies zeigt exemplarisch die leitmotivische, mehrdeutige Figur des Matadors. Sie spielt in einer interpretatio nominis auf ›Dorsday‹, aber auch auf den Tod an und ruft die literarische Spanien-Mode des 19. Jahrhunderts in Erinnerung, die das Moment von Eros und Thanatos im Kampf des Matadors mit dem Stier erotisch aufgeladen hat.81 Diese Mi80
81
Der Umstand, dass Else ihren Tod zum Himmelsflug mit dem Vater verklärt, spricht allerdings wiederum für die These einer inzestuösen Beziehung zwischen Else und ihrem Vater, da ja der Flug mit dem Vater die Wiederbelebung durch den Liebhaber ersetzt. Vgl. etwa die Beschreibung von Eugène Süe, Plik et Plok, Paris 1858, S. 87, wo der vermeintliche Sieg und der tragische Tod eines attraktiven Matadors aus dem Blick
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schung von unbewusster Assoziation und vager Leseerinnerung bestimmt die sprachlich ›gebahnten‹ Assoziationen: Bei der ersten Erwähnung des Matadors, am Ende von Elses Traum nach der Begegnung mit Dorsday, vermischen sich alle drei Aspekte (Dorsday, Tod, Liebhaber): »Öffnen Sie das Tor, Herr Matador. Erkennen Sie mich nicht? Ich bin ja die Tote … Sie müssen mir darum nicht die Hand küssen … Wo ist denn meine Gruft?« (EII, 353). Wie sehr die Projektionen sprachlich vermittelt sind, zeigen Elses Versuche, den Trauminhalt zu rekonstruieren: »Was habe ich denn nur geträumt? Von einem Matador? Was war denn das für ein Matador?« (EII, 354), und später den geträumten Matador zu identifizieren: »Matador – wenn ich nur drauf käm’, was – eine Regatta war es, richtig und ich habe vom Fenster aus zugesehen. Aber wer war der Matador?« (EII, 356). Die abschließende Sterbevision greift die Traumszene wieder auf, formuliert die Aufforderung an den Matador aber drastischer: »Wie in einem Sterbezimmer. Gleich wird die Bahre da sein. Mach’ auf das Tor, Herr Matador!« (EII, 375). Somit ist der Leser aufgefordert, bei der Semantisierung und Bewertung der sprachlichen Äußerungen den psychischen Status Fräulein Elses zu berücksichtigen. »Du willst wirklich nicht mehr weiterspielen, Else? – Nein, Paul, ich kann nicht mehr. Adieu.« (EII, 324) Bereits mit dem Erzähleingang, der Weigerung, für das Verhältnis ihres Cousins Paul mit der verheirateten Cissy Mohr weiterhin die Anstandsdame zu spielen, ist Elses Rollenkonflikt skizziert und vorausdeutend gelöst. Else versucht, ihre an Herkunft und Erziehung gebundene Rolle der jungen Dame aus guter Familie (EII, 335) in eine selbstgewählte Identität umzuwandeln. Diese Identitätskrise bestimmt Elses Projektion in entscheidender Weise; sie manifestiert sich zunächst im distanzierten Durchspielen von Rollen und Deutungsmustern. Schon die ersten Reflexionen zeigen, dass Elses Phantasie die Außenwelt zu einer ichbezogenen Traum- und Romanwelt fermentiert und überformt. Auf Traum, Lektüre und Theatererlebnisse gehen die sentimentalen Vorstellungen und Sentenzen zurück, zu denen die Wahrnehmungen moduliert werden. Dabei zeigt sich eine hohe Adaptationsfähigkeit Elses, die sich Geeiner weiblichen Verehrerin geschildert wird: » – Tue le taureau pour moi, mon amour, lui crie une Andalouse au teint bruni et aux dents d’émail. – Par le Christ, ne souris donc pas ainsi à ta maitresse! … Fuis, José, fuis! le taureau fond sur toi. – Mais non, José l’attend de pied ferme, son epée entre les dents, saisit une des ses cornes, et sauté légèrement par-dessus lui. – Bravo, mon digne matador, bravo! aussi ramasse la fleur d’amandier que ton amoureuse t’a jetée en battant des mains. Mais voici que le taureua se retourne! Santa Carmen! […] Recommande ton âme à Dieu, José, car la barrière est loin et le taureau proche. […] Jésus! il est trop tard!«
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hörtes und Gelesenes rasch aneignet und daraus wesentlich ihre unsichere Identität gewinnt. Dieser Adaptationsprozess zeigt sich paradigmatisch an der leitmotivisch wiederholten, insgesamt sieben Mal verwendeten Sentenz »Die Luft ist wie Champagner«. Das bereits vor 1900 literarisch mehrfach belegte Bonmot findet sich etwa in dem Aphorismenband Sant’ Ilario des Mathematikers Felix Hausdorff. Damit charakterisiert Hausdorffs ernüchtertes Ich die vergangene und verlorene Ich-Bezogenheit der Jugend: Ihr Spiele der Selbstigkeit, wohin seid ihr mir entflohen? Es gab lichte, jugendliche Zeiten, da das reine Ich wie eine saftige Frucht genossen wurde und die Luft wie Champagner schmeckte; noch gar nichts Wirkliches Erfüllendes war mir geschehen […].82
Das Zitat illustriert und kritisiert zugleich die literarisierte Identität Elses, die ganz in ihrem Ich-Bezug gefangen ist. Die Wendung wird von Else selbst metatextuell eingeführt, indem sie sie als Übernahme kenntlich macht: »›Die Luft ist wie Champagner‹, sagte gestern Doktor Waldberg. Vorgestern hat es auch einer gesagt«. (EII, 327) Doch schon bald danach gebraucht Else die Formel wie selbstverständlich (»Die Luft ist wie Champagner« [EII, 333]) und bezieht sie kurz darauf auf ihre Periode: »Oder bin ich schon unwohl? Nein, Fieber habe ich. Vielleicht von der Luft. Wie Champagner« (EII, 334). Wie sehr sie sich das auf die Abendstimmung im Gebirge erneut angewandte Zitat zu eigen gemacht hat (»Die Luft ist wie Champagner. Und der Duft von den Wiesen!« [EII, 336]), zeigt sich im Gespräch mit Dorsday. Ihm untersagt Else, um Abgrenzung und Behauptung ihrer eigenen Identität besorgt, ›ihre‹ Wendung zu gebrauchen: »Aber bitte, sagen Sie nicht, daß die Luft hier wie Champagner ist.« – »Nein, Fräulein Else, das sage ich erst von zweitausend Metern an. Und hier stehen wir kaum sechzehnhundertfünfzig über dem Meeresspiegel.« – »Macht das einen solchen Unterschied?« – »Aber selbstverständlich. Waren Sie schon einmal im Engadin?« – »Nein, noch nie. Also dort ist die Luft wirklich wie Champagner?« – »Man könnte es beinah’ sagen. Aber Champagner ist nicht mein Lieblingsgetränk.« (EII, 340)
82
Paul Mongré [d.i. Felix Hausdorff], Sant’ Ilario. Gedanken aus der Landschaft Zarathustras, Leipzig 1897, Nr. 278, S. 178f., hier S. 178. Wieder in Felix Hausdorff, Gesammelte Werke, Bd. VII: Philosophisches Werk, Werner Stegmaier (Hrsg.), Heidelberg 2004, S. 272. Der Stellenkommentar übergeht die Sentenz. Vgl. auch den früheren Beleg bei Alexander Frhr. von Hübner, Ein Spaziergang um die Welt, Bd. 1, Leipzig 31875, S. 235, der mit diesem Vergleich die erfrischende Luft von San Francisco charakterisiert: »Auf den Geist, auf den Sinn, auf das Herz wirkt diese Luft wie Champagner«.– Schnitzler kannte Mongrés Komödie Der Arzt Seiner Ehre (Tgb 07. 04. 1906).
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Die Assoziationen und Gesprächsfetzen, die Else nach dem Dialog aufgeregt rekapituliert, zeigen, wie sehr sie sich in ihrer Identität bedroht fühlt. Im sarkastischen Lachen, welches das Nebeneinander von Dorsdays sentimentaler Selbstcharakterisierung und dem Champagner-Vergleich verbindet, wird deutlich, dass Else Dorsdays Forderung mit ihrer eigenen Identität nicht vereinbaren kann: »Ich bin ein einsamer alter Mann, haha. Himmlische Luft, wie Champagner« (EII, 348).83 Bevor Else in einen Erschöpfungsschlaf fällt, bemerkt sie, dass der Champagner-Vergleich, der zur scheinbar heilen Rollenidentität einer höheren Tochter gehört, nicht zu ihrer Hypomanie passt: »Ja, da bin ich in Martino di Castrozza, sitze auf einer Bank am Waldesrand und die Luft ist wie Champagner und mir scheint gar, ich weine« (EII, 352). Auch wenn der Grad der Reflexivität in Elses literarischem Erleben variiert und manche Zitate so kryptisch sind, dass sie sich kaum noch als Allusionen erkennen lassen, so finden sich doch einige klar markierte intertextuelle Bezüge. Sie schaffen einen Resonanzraum der Protagonistin, der im Folgenden ausgemessen und in seiner Bedeutung erschlossen sein soll. 4.1.
Shakespeares Coriolanus
Wie sehr Elses Lebens- und Liebesvorstellungen literarisch geprägt sind, tritt bereits in einer Digression auf dem Rückweg vom Tennisplatz zum Hotel zutage. Zunächst beruft sich Else auf eine leitmotivisch wiederkehrende Distinktion ihres Freundes Fred, die durch die Verbindung mit einem Theaterbesuch von Shakespeares Coriolanus aufgewertet wird: Wie sagte Fred auf dem Weg vom ›Coriolan‹ nach Hause? Frohgemut. Nein, hochgemut. Hochgemut sind Sie, nicht hochmütig, Else. – Ein schönes Wort. (EII, 325)84
Die Aufführung von Shakespeares Coriolanus, auf die sich Else bezieht, lässt sich präzisieren. Es handelt sich um die Inszenierung von Adolf Wilbrandts Übersetzung, die am 5. April 1895 am Burgtheater Premiere hatte und bis 83
84
Else verkürzt in ihrer Erinnerung Dorsdays Selbstcharakterisierung: »Sie werden möglicherweise ahnen, daß ein Mann zu Ihnen spricht, der ziemlich einsam und nicht besonders glücklich ist und der vielleicht einige Nachsicht verdient.« (EII, 347) Das Adjektiv ›hochgemut‹ verwendet Else danach noch mehrfach zur Selbstcharakterisierung: »hochgemut und ungnädig« (EII, 325), »das ist ja mein Fall, ›hochgemut‹« [als zitierte Rede] (EII, 332), »Ich, die Hochgemute« (EII, 334), »Ich bin hochgemut« (EII, 335). Überdies bedient sich Else einer ähnlichen Distinktion gegen Dorsday (»hochverehrt« vs. »hochverachtet« [EII, 366]).
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1899 aufgeführt wurde.85 Die correctio ›hochmütig/hochgemut‹ geht zwar nicht direkt auf Wilbrandts heroisierende Version zurück, greift aber eine Wendung aus Speidels Rezension der Uraufführung von Wilbrandts Coriolanus in der Neuen Freien Presse auf. Dort heißt es über den Titelhelden: »Seine Bescheidenheit ist fast noch hochmüthiger, als sein laut ausgesprochenes Selbstgefühl«.86 Zugleich antizipiert Elses metatextuelle Identifikation mit der Volksverachtung von Shakespeares elitärem Helden auch die tragische Konversion der Figur. Wie Coriolan auf Bitten seiner Mutter seinen Rachefeldzug und die Belagerung Roms einstellt und dafür mit dem Leben bezahlen muss, so wird auch Else unter Verleugnung ihres eigenen Willens der Bitte ihrer Mutter entsprechen und anschließend in den Tod gehen.87 Inwieweit diese weitreichende identifikatorische Anspielung auf Shakespeares Coriolan aber schon in Elses figuralem Kommentar enthalten ist oder hier nicht eine narratoriale Metalepse hineinspielt, muss offen bleiben. 4.2.
Manon-Figurationen
Auf einer theatralischen Erfahrung beruht auch das nachfolgende Bekenntnis ihrer einzigen Verliebtheit, deren Epitheton ›wirklich‹ Elses mangelnde Unterscheidung zwischen Literatur und Leben bezeugt: 85
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Zur Coriolanus-Aufführung, auf die Else anspielt, vgl. Minna von Alth, Burgtheater 1776–1976. Aufführungen und Besetzungen von zweihundert Jahren, 2 Bde., Wien 1976, hier Bd. 1, s. d. 5. April 1895. Emmerich Robert, der die Titelrolle spielte, war Schnitzler gut bekannt, etwa als Darsteller des Paracelsus 1899; vgl. Ludwig Eisenberg, Großes Biographisches Lexikon der Deutschen Bühne, Leipzig 1903, s. v. Robert, Emmerich (S. 836f.). Zu Wilbrandts Coriolan-Übersetzung vgl. Angela Hünig, »›Coriolanus‹ in Wien: Adolf Wilbrandts Shakespeare-Übersetzung und deren Inszenierung am Burgtheater«, in: Bärbel Fritz/Brigitte Schultze/Horst Turk (Hrsg.), Theaterinstitution und Kulturtransfer, Bd. 1: Fremdsprachiges Repertoire am Burgtheater und auf anderen europäischen Bühnen, Tübingen 1997, S. 127–153, und Fritz Neumann: »Shakespeare – Dorothea Tieck – Wilbrandt: Coriolanus auf der Datenbank. Neue Wege der historisch-vergleichenden Übersetzung«, in: ebd., S. 155–172. Vgl. L[udwig] Sp[eidel]: »Burgtheater« (»Coriolanus«, Trauerspiel in fünf Aufzügen von Shakespeare), in: Neue Freie Presse, Nr. 7808, 23. 05. 1886 (Morgenblatt), S. 1f. Diese Konversion scheint mir für die Figurenanalogie wichtiger als der »Stolz« und das »empfindliche Selbst- und Ehrgefühl« Coriolans, die Eilert, Kunstzitat, S. 324, betont. Entscheidend ist die Differenz von Rollen- und Ich-Identität, die beide Figuren überfordert. Die Rollenspiel-Thematik, die in Fräulein Else strukturell dominant ist, bestimmt auch Shakespeares Helden: So kommentiert er im dritten Akt die Rolle, die er gegenüber den Volkstribunen spielen soll, mit folgenden Worten: »Ihr zwingt mir eine Rolle auf, die ich nie | Natürlich spiele.« (III 2).
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Mit dreizehn war ich vielleicht das einzige Mal wirklich verliebt. In den Van Dyck – oder vielmehr in den Abbé Des Grieux, und in die Renard auch. (EII, 325)
Gemeint sind der berühmte Tenor Ernest van Dyck und die Mezzosopranistin Marie Renard, die beide die Aufführung von Massenets Oper Manon am Wiener Burgtheater 1890 zum großen Erfolg werden ließen.88 Da Else neunzehn Jahre alt ist, lässt sich somit das Geschehen der Erzählung – ungeachtet mancher Anachronismen – auf den 3. September 1896 datieren.89 Die Erwähnung von Massenets Oper ist allerdings nur vordergründig bedeutsam; auf das Libretto wird lediglich in Elses Schwebevision und in der Klimax ihres Todeswunsches: »Beinah schon dunkel. Nacht, Grabesnacht.« (EII, 333) angespielt.90 Entscheidend ist vielmehr das dabei aufscheinende Phänomen literarisierten Lebens, auch wenn Else, wie die correctio des Zitats und ihre Schwärmerei für die Sängerin zeigen, nicht scharf zwischen Rolle und Darsteller unterscheidet. In ihrer diffusen Ich-Identität versucht Else, sich in eine literarische Figur hineinzuversetzen und sie nachzuleben. Die treulose Titelheldin aus Antoine-François Prévosts Roman Manon Lescaut (1731/1753), der dem Libretto zu Grunde liegt, fungiert als vages Liebes88
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Zu den beiden Sängern Ernest van Dyck und Marie Renard vgl. Ludwig Eisenberg, Großes Biographisches Lexikon, S. 218 und 818f. In beiden Artikeln wird die Wiener Aufführung von Massenets Manon ausdrücklich erwähnt; vgl. dazu auch Art. »Renard«, in: Enciclopedia dello Spettacolo, Bd. 8, Rom 1961, Sp. 875. Da Urbach, hier S. 131, der Bezug auf die Aufführung von 1890 entgangen ist, hat er die Möglichkeit zur Datierung des Geschehens nicht genutzt. Fräulein Else steht trotz der späten Abfassung ihrem formalen Pendant Lieutenant Gustl hinsichtlich der Handlungszeit auffällig nahe. Eilert, Kunstzitat, S. 325, verwechselt die Aufführung von Massenets Manon mit der Wiener Inszenierung der Oper Werther desselben Komponisten im Jahre 1892, in der auch Ernest van Dyck und Marie Renard mitwirkten. Zu den Anachronismen gehört der Umstand, dass das Hotel »Fratazza«, in dem Else wohnt (EII, 328f.), das im Ersten Weltkrieg zerstört wurde, erst im Jahre 1908 gegründet worden war. Schnitzler selbst war mehrfach in San Martino di Castrozza, er logierte wiederholt im »Hotel Dolomiti«. Die Datierung auf den 3. September 1896 relativiert auch der Umstand, dass das Hypnoid »Veronal« zwar bereits im 19. Jahrhundert als Schlafmittel erprobt wurde, aber erst 1903 auf den Markt kam; vgl. Ruth H. Anders, »Veronal. Die Geschichte eines Schlafmittels«, in: Pharmazeutische Zeitung, 47/2003 (Online-Ressource, http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=magazin_47_2003, Zugriff am 08. 06. 2012). Henri Meilhac/Philipp Gille, Manon. Oper in vier Akten, Deutsch von Ferdinand Gumbert. Musik von Jules Massenet, Frankfurt/M. (u. a.) o. J. (Ricordi Textbücher), zur Schwebevision vgl. S. 14: »Mein Herz eilt’ über Tal und Hügel, | erschien das Dasein doch so süß, | mir ward zu Mut, als hätt ich Flügel | und schwäng’ mich auf zum Paradies.« Zur Grabesnacht vgl. S. 74: »Ich fühl’, mich überfällt der Schlaf mit Macht – | (für sich, schaudernd) dem folgt die Grabesnacht.«
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und Lebensmuster.91 Ihr jugendlicher Liebhaber, der Chevalier Des Grieux, ist der Protagonistin Manon in Liebe verfallen: Er brennt mit ihr nach Paris durch, verschuldet sich und gibt ihr zuliebe alle Vorstellungen von Anstand und Ehre auf, bis schließlich Manon, die in ihrer Gefängnishaft tödlich erkrankt ist, in den Armen des Geliebten stirbt.92 In der amoralischen, gefühlsmäßig inkonstanten Manon, die ihrem Luxusbedürfnis frönt, findet Else den Wunschtraum vom freien Liebesleben präfiguriert, freilich auch den vorzeitigen Tod vorausgedeutet. Zudem ist auch Elses exhibitionistische Neigung in der Manon-Figur vorgezeichnet, die sich von einem älteren Liebhaber aushalten und als Schönste eines Festes von allen Männern bewundern lässt. Dass aber ein nach Manon Lescaut literarisiertes Leben an der Wirklichkeit scheitert, wird mit versteckten literarischen Anspielungen – gewissermaßen in doppelter Spiegelung – dargelegt: Zum einen geschieht dies durch Elses Angabe ihrer Nachttischlektüre, Maupassants Roman Notre Cœur (EII, 337), zum andern durch die Kameliendame von Alexandre Dumas d. J., an die sich Else sentimental erinnert (EII, 352). 4.3.
Guy de Maupassant: Notre Cœur
Nachdem der liebeskranke Held von Notre Cœur, der Rentier André Mariolle, in den einsamen Wäldern von Fontainebleau dem Zauber der Pariser Lebedame Michèle de Burne zu entgehen sucht, weil sie seine Liebe nicht unbedingt erwidert, lässt er sich von seiner jungen Wirtschafterin Elisabeth aus Prévosts Manon Lescaut vorlesen: Mariolle identifiziert sich mit dem Abbé des Grieux, dem Helden des Buchs, »das er allen vorzog«. Deshalb entfernt er sich zwar von seiner Geliebten, deren Differenz zur ebenso treulosen, aber bedingungslos liebenden Manon ihm auffällt, verliebt sich aber in seiner literarisch stimulierten Phantasie sukzessive in die schöne Vorleserin:93 91
92
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Der Roman, der in Deutschland bereits im 18. Jahrhundert breit rezipiert und mehrfach übersetzt worden war (vgl. Hugo Friedrich, Abbé Prevost in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Empfindsamkeit, Heidelberg 1929), war auch in der Klassischen Moderne ein beliebtes Sujet, wie etwa die deutschen Stummfilmproduktionen von Friedrich Zelnik (Manon. Das hohe Lied der Liebe, 1919) und Arthur Robison (Manon Lescaut/Die Geliebte des Abbé, 1926) zeigen. Das Libretto von Henri Meilhac und Philippe Gille hat den Schluss des Romans, der Manons tragischen Tod ins amerikanische Exil verlegt und eine moralische Besserung von Des Grieux vorsieht, operngerecht gekürzt und sentimentalisiert. Guy de Maupassant, Notre Cœur [1890], Nadine Satiat (Hrsg.), Paris 1991, S. 245 (III 2) [im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert unter Angabe des Teils (römische Zahl) und Kapitels (arabische Zahl) – zur Verständnishilfe wird auch aus der frühen deutschen Übersetzung von Georg Frhr. von Ompteda, Unser Herz,
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Ce charme féminin déjà senti en elle lui faisait vraiment du bien dans cette aprèsmidi chaude et tranquille, et se mêlait étrangement en son esprit au charme si mystérieux et si puissant de cette Manon qui apporte à nos cœurs la plus étrange saveur de femme évoquée par l’art humain. Il était bercé par la voix, séduit par la fable tant connue et toujours neuve, et il rêvait d’une maîtresse volage et séduisante comme celle de des Grieux, infidèle et constante, humaine et tentante jusqu’en ses infâmes défauts, créée pour faire sortir de l’homme tout ce qu’il a en lui de tendresse et de colère, d’attachement et de haine passionnée, de jalousie et de désir. Ah! si celle qu’il venait de quitter avait eu seulement dans les veines la perfidie énamourée et sensuelle de cette irritante courtisane, peut-être ne serait-il jamais parti! Manon trompait, mais elle aimait; elle mentait, mais elle se donnait! Après cette journée de paresse, Mariolle s’assoupit, quand le soir vint, dans une espèce de songerie où toutes ces femmes se confondaient.94
Die in der Passage angedeutete Umbesetzung des Liebesverlangens, welche in Mariolle die Lektüre der Manon Lescaut hervorruft, bestimmt auch die literarisch überformten Selbstbilder Fräulein Elses. So träumt sie sich immer wieder in die Rolle einer femme fatale hinein, wie Michèle de Burne sie verkörpert, der sie zudem äußerlich ähnelt: Wenn Else feststellt, »wie schön meine blondroten Haare sind, und meine Schultern; meine Augen sind auch nicht übel. Hu, wie groß sie sind.« (EII, 362), dann wirkt dies wie eine Selbststilisierung nach Maupassants Romanheldin, deren ›rötlichblondes Haar‹ und ›weit[e] schwarze[ ] Pupillen‹ Mariolle ebenso faszinieren wie die ›unver-
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Berlin 1910 (Maupassant: GW 18) zitiert]: »Une curiosité lui vint, et il l’envoya chercher dans l’atelier, parmi les livres qu’il s’était fait adresser, celui qu’il préférait à tous: Manon Lescaut.« [›Neugierde stieg in ihm auf, und er schickte sie ins Atelier, um aus den Büchern, die er sich hatte nachsenden lassen, eines herauszusuchen, das er allen vorzog: Manon Lescaut.‹ (Maupassant, Unser Herz, S. 229)]. Maupassant, Notre Cœur, S. 246 (III 2) [›Dieser weibliche Reiz, den er schon in ihr empfunden, that ihm an diesem warmen, ruhigen Nachmittage wirklich wohl und vermischte sich in seltsamer Weise in seinem Geist mit jenem märchenhaften starken Reiz dieser Manon, die in unsere Herzen das seltsamste Gefühl zaubert, das je menschliche Kunst hervorgebracht. Die Stimme wiegte ihn ein. Er fühlte sich durch die so genau gekannte und doch immer neue Geschichte bezaubert und träumte von einer flüchtigen, verführerischen Geliebten genau wie jene des Des Grieux, wandelbar und untreu, menschlich und reizend sogar in ihren fürchterlichen Fehlern, um aus dem Mann hervorzuzaubern alles, was in ihm an Zärtlichkeit und Wut liegt, an Anhänglichkeit und leidenschaftlichem Haß und Eifersucht und Wünschen. Ach wenn die, die er verloren, nur in ihren Adern die perfide Liebesglut und Sinnlichkeit dieser aufregenden Courtisane gehabt hätte, vielleicht wäre er nie davongegangen. Manon betrog, aber sie liebte, – sie log, aber sie gab sich hin. Nach jenem faulen Tag versank Mariolle, als der Abend kam, ganz in Träume, in denen sich alle Frauen vermischten.‹ (Ompteda, Unser Herz, S. 230f.)].
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gleichlichen Schultern der Rothaarigen‹.95 Auch in ihrer Fixierung auf das eigene Spiegelbild ahmt Else Maupassants moderne Manon nach: Nicht zufällig spricht Else, unmittelbar nachdem sie sich entschlossen hat, »heut’ Nacht noch weiter in ›Notre Cœur‹« zu lesen, selbstverliebt ihr eigenes Spiegelbild an: »Guten Abend, schönstes Fräulein im Spiegel, behalten Sie mich in gutem Angedenken, auf Wiedersehen … « (EII, 337). Noch deutlicher autoerotisch ist die zweite Spiegelszene, nachdem sich Else zu ihrem öffentlichen Nacktauftritt entschlossen hat: »Bin ich wirklich so schön wie im Spiegel? Ach, kommen Sie doch näher, schönes Fräulein. Ich will Ihre blutroten Lippen küssen. Ich will Ihre Brüste an meine Brüste pressen« (EII, 365). Elses theatralische Spiegelszenen ahmen Michèle de Burnes tägliche »Selbstanbetung« in einem dreiteiligen Spiegel nach: […] elle alla vers la glace, où elle voyait venir trois jeunes femmes, dans les trois panneaux diversement orientés. Quand elle fut tout près, elle s’arrêta, se fit un petit salut, un petit sourire, un petit coup de tête ami qui disait: »Très jolie, très jolie«. Elle inspecta ses yeux, se montra ses dents, leva ses bras, posa ses mains sur ses hanches et se tourna de profil pour se bien apercevoir tout entière dans les trois miroirs, en inclinant un peu la tête. Alors elle resta debout, amoureusement, en face d’elle-même, enveloppée par le triple reflet de son être, qu’elle trouvait charmant, ravie de se voir, saisie d’un plaisir égoïste et physique devant sa beauté, et la savourant avec une satisfaction de tendresse presque aussi sensuelle que celle des hommes.96
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Ompteda, Unser Herz, S. 19f. Vgl. »blonde, un peu rousse […] les pupilles noires luisaient au milieu, rondes et dilatées. Ce regard brillant et singulier paraissait raconter déjà des rêves de morphine, ou peut-être plus simplement l’artifice coquet de la belladone. […] ses belles épaules de rousse que la lumière rendait incomparables. Ses cheveux cependant n’étaient point rouges, mais de la couleur intraduisible de certaines feuilles mortes brûlées par l’automne« (Maupassant, Notre Cœur, S. 77f.(I 1)). Maupassant, Notre Cœur, S. 97f. (I 2) [›(…) ging sie zum Spiegel, in dem sie drei junge Frauen sich entgegenkommen sah in den drei verschieden gestellten Flächen. Als sie ganz nahe war, blieb sie stehen, machte sich mit leisem Lächeln eine leichte Verbeugung, nickte sich freundschaftlich zu, als wollte sie sagen: sehr hübsch! sehr hübsch! Sie betrachtete ihre Augen, öffnete die Lippen, um die Zähne zu sehen, hob die Arme, stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich ins Profil, um, den Kopf zur Seite neigend, ihr ganzes Wesen in sich aufzunehmen. So blieb sie, verliebt in sich selbst, stehen, ganz, versunken in den Anblick ihres Körpers, den sie reizend fand. Sie war glückselig, sich zu erblicken. Ein selbstsüchtiges, körperliches Wohlbehagen packte sie angesichts ihrer Schönheit, und mit befriedigter Zärtlichkeit, fast so sinnlich wie die Liebe der Männer, sah sie sich an‹ (Ompteda, Unser Herz, S. 40f.)].
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
Die intertextuellen Bezüge sind neben der Nennung des Romantitels durch die betonte Nähe zum eigenen Spiegelbild (»näher« und »tout près«) und die narzisstische Bewunderung der eigenen Schönheit (»schönstes Fräulein«, »schönes Fräulein« und »›Très jolie, très jolie‹«) deutlich markiert. Gerade die Spiegelszenen konturieren die Else-Figur vor ihrem literarischen Vorbild. Die klassischen Merkmale von Hysterie, welche die Forschung bei Frau de Burne diagnostiziert hat – »Koketterie, die outrierte Sorge um die eigene Schönheit und Frigidität«97 –, finden sich ebenso bei Else. Auch sie zweifelt an ihrer »Liebesfähigkeit«: »Ich bin nicht verliebt. In niemanden. Und war noch nie verliebt. Auch in Albert bin ich’s nicht gewesen, obwohl ich es mir acht Tage lang eingebildet habe. Ich glaube, ich kann mich nicht verlieben« (EII, 325). Indem Else sich mit der Romanfigur Madame de Burne identifiziert, entgeht ihr die Differenz zwischen Literatur und Leben, die Maupassants Roman kritisch zeigt: Zunehmend gesellschaftlich entfremdet und isoliert (»[…] loin de ces gens, de ces fantoches«),98 gelingt Mariolle die Umbesetzung seines Begehrens nicht, da in seiner neuen Leidenschaft zu Elisabeth die alte Liebe zu Frau de Burne mitschwingt, der er nicht zu entsagen vermag. Sein Arrangement, eine Liebesbeziehung mit beiden Frauen zu führen, ist keine selbstbestimmte Wahl, sondern seiner Entscheidungsschwäche geschuldet. 4.4.
Alexandre Dumas d. J.: La dame aux camélias
Wenn sich Fräulein Else an ihre tränenreiche Anteilnahme an der Kameliendame erinnert, bezieht sie sich auf eine andere literarische Manon-LescautNachahmung, die eine ähnlich widersprüchliche Liebespassion und das Scheitern einer literarisch induzierten Leidenschaft darlegt. Sowohl in Alexandre Dumas d. J. Roman La dame aux camélias (1848) als auch in der Bühnenfassung (1852) liefert Prévosts Manon Lescaut dem Helden Armand Duval das Projektionsmodell seiner Liebe zu Marguerite Gautier, das er zu spät als verfehlt erkennen muss. Manon stiftet überdies die Verbindung zwischen der Binnenerzählung und dem homodiegetischen Rahmenerzähler, als dieser auf einer Auktion des Besitzes der verstorbenen Lebedame Marguerite eine bibliophile Ausgabe der Manon Lescaut ersteigert, deren Widmung »Manon à 97
98
Frau de Burne warnt sogar selbst Mariolle davor, sie sei »nicht fähig […], wirklich heiß zu lieben, wen auch immer« (Ompteda, Unser Herz, S. 176): »En tous cas, je vous préviens que, moi, je suis incapable de m’éprendre vraiment de n’importe qui …« (Maupassant, Notre Cœur, S. 202 (II 6)). Maupassant, Notre Cœur, S. 214 (II 7) [›weit fort (…) von diesen Menschen, von diesen Puppen‹ (Ompteda, Unser Herz, S. 193)].
Figurale Intertextualität: Elses literarisches Erleben
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Marguerite, humilité«, unterzeichnet von einem Armand Duval, ihm rätselhaft bleibt: »Que voulait dire ce mot: humilité? Manon reconnaissait-elle dans Marguerite, par l’opinion de ce M. Armand Duval, une supériorité de débauche ou de cœur?«99 Das Rätsel wird gelöst, als Armand Duval sein Buchgeschenk vom Ich-Erzähler zurückerwerben möchte und als sekundärer Erzähler die Geschichte seiner tragischen Liebe zu Marguerite erzählt. In die leidenschaftliche Liebe, die Duval für die Kurtisane Marguerite empfand, mischte sich immer wieder als Warnbild Manon Lescaut, bis er sich schließlich mit der Rolle eines verliebten Des Grieux abgefunden und seiner Geliebten als Zeichen des Einverständnisses den Roman gewidmet hatte.100 Als Marguerite auf Drängen von Armands Vater, der ebenfalls auf Manon Lescaut verwiesen hatte, die Mesalliance mit seinem Sohn beendet und ihr Kurtisanenleben wieder aufgenommen hatte, hatte sich Armand enttäuscht abgewandt. Zu spät, als Marguerite im Sterben lag, erfuhr Armand, dass sie nur aus Rücksicht auf seine bürgerliche Ehre ihrer Liebe zu ihm entsagt hatte. Die Heldin Marguerite fungiert in Dumas’ poetischem Dialog mit Prévosts Roman Manon Lescaut als Wunschbild für Schnitzlers Fräulein Else. Else hegt wie Marguerite eine Vorliebe fürs Theater und für die exzessive démimonde. Als schöne Frau sieht sie sich zwar von den Männern bewundert, aber als Tochter eines spielsüchtigen jüdischen Advokaten ähnlich gesellschaftlich emarginiert wie Marguerite, und beide zerbrechen letztlich an dem äußerlichen Ehrenkodex der Väter. Der tragische Aspekt ihrer Wahlverwandtschaft ist Else durchaus bewusst, wenn sie den rührenden Tod der Kameliendame mit ihrem eigenen Sterben assoziiert: »[…] und im Theater bei der Kameliendame hab’ ich auch geweint. Wer wird weinen, wenn ich tot bin?« (EII, 352). Neben solchen figural motivierten intertextuellen Bezügen finden sich weitere konstellative Analogien, welche Elses Dilemma vor Augen führen. So wird Marguerite von einem alten Herzog ausgehalten, der zwar nicht so explizit erotische Wünsche wie Dorsday hat, diesem aber in seiner Funktion als Geldgeber entspricht. Zudem findet sich ein analoger Handlungsmoment, als Marguerite innerhalb einer kurzen Frist »etwa 30 000 Franken« Schulden zurückzahlen muss.101 Die Romanfigur Manon Lescaut 99
100 101
Alexandre Dumas, La Dame aux Camélias. Illustrations de Jordic, Paris 1900 (Nouvelle collection illustrée, 7), S. 13. »Was sollte dieses Wort ›Demut‹ bedeuten? Erkannte Manon, nach der Meinung dieses Monsieur Armand Duval, Marguerites ausschweifenden Lebensstil und die Größe ihres Herzens als überlegen an?« [Eigene Übersetzung]. Vgl. ebd., S. 16f. Vgl. Alexandre Dumas, Die Dame mit den Camelien [La dame aux camélias], übers. von G. F. W. Rödiger, Wien (u. a.) 1850 (und öfter), Kapitel XVII.
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
stiftet aber nicht nur die Analogie zwischen Else und ihrer Wunschgestalt Marguerite Gautier, sondern macht auch die entscheidende Differenz aus: Else bleibt ihrem identifikatorischen Lesen verhaftet, während sich Marguerite von der Romangestalt Manon distanziert: »Inzwischen las sie auch oft in ›Manon Lescaut‹. Ich überraschte sie zuweilen, während sie Bemerkungen in das Buch schrieb, und sie sagte mir immer, wer wahrhaft liebe, könne es nicht machen wie Manon.«102 Daher bleibt Else die Kritik ihres literarisierten Lebens durch eben die Lektüre, auf die sie sich bezieht, verborgen.
5.
Weitere intertextuelle und intermediale Bezüge und Selbststilisierungen
Zur artifiziellen Selbststilisierung zieht Else zusätzlich zu Theater und Literatur andere Bildungsbereiche ihrer großbürgerlichen Herkunft wie Malerei und Musik heran. Else selbst wollte Schauspielerin werden, nahm Klavierunterricht und verfügt über ein gewisses kennerschaftliches Urteil. So findet sie es deplaciert, im Hotel eine Beethovensonate zu spielen: »Eine Beethovensonate! Wie kann man hier eine Beethovensonate spielen! Ich vernachlässige mein Klavierspiel« (EII, 337). Doch nutzt Else ihre kulturelle Bildung vorrangig dazu, um sich mit Hilfe intermedialer Tagträume in andere Räume und Zeiten zu träumen, etwa wenn sie sich als Renaissancebildnis sieht: Du bist schön mit dem Mantel. Florentinerinnen haben sich so malen lassen. In den Galerien hängen ihre Bilder und es ist eine Ehre für sie. (EII, 367)103
So bleibt Else auch in ihren Wunschträumen der bürgerlichen Sphäre, der sie entfliehen möchte, verhaftet. Die wechselseitige Durchdringung von Wirklichkeit und Phantasie zeigt sich deutlich in ihren Heiratsplänen, die zwischen diversen Rollenidentitäten und erotischen Wünschen vermitteln, wie folgender Katalog zeigt: Nach Amerika würd’ ich ganz gern heiraten, aber keinen Amerikaner. Oder ich heirat’ einen Amerikaner und wir leben in Europa. Villa an der Riviera. Marmorstufen ins Meer. Ich liege nackt auf dem Marmor. (EII, 324) Ich werde hundert Geliebte haben, tausend, warum nicht? (EII, 334) Ich könnte einen Mann sehr glücklich machen. Wäre nur der rechte Mann da. Aber Kind will ich keines haben. Ich bin nicht mütterlich. (EII, 336) 102 103
Dumas, Die Dame, II 5 (Kapitel XVII). Es finden sich mehrere Anspielungen auf den Bereich der bildenden Kunst, vgl. EII, 328 und EII, 336. Die Tatsache, dass Dorsday mit alten Bildern handelt, kann Else so leicht auf sich selbst beziehen.
Weitere intertextuelle und intermediale Bezüge und Selbststilisierungen
201
Ich werde auf dem Land leben. Einen Gutsbesitzer werde ich heiraten und Kinder werde ich haben. (EII, 336) Ich werde kein gemeinsames Schlafzimmer haben mit meinem Mann und mit meinen tausend Geliebten. (EII, 337)
In tagträumerischer Selbstverklärung verknüpft Else spielerisch Realität und Imagination zu Rollen und Lebensmustern, die sich wechselseitig dementieren. Die Wirklichkeit wird einer Serie konkurrierender Möglichkeiten eingefügt und verliert das Privileg des Faktischen, wie in folgender Skalenübung, die mit einer Antiklimax beginnt und als Klimax endet: Ich werde mit Herrn Dorsday aus Eperies sprechen, werde ihn anpumpen, ich die Hochgemute, die Aristokratin, die Marchesa, die Bettlerin, die Tochter des Defraudanten. Wie komm’ ich dazu? Wie komm’ ich dazu? Keine klettert so gut wie ich, keine hat so viel Schneid, – sporting girl, in England hätte ich auf die Welt kommen sollen, oder als Gräfin. (EII, 334)104
So gelingt Else in ihrer Projektion zwar zunächst die träumerische Überformung der Wirklichkeit, doch die leitmotivisch wiederkehrenden Rausch- und Schlafmittel – Champagner, Haschisch, Veronal – lassen als Korrektive bedrohlicher Wirklichkeitseinbrüche ahnen, wie empfindlich das Gleichgewicht von Traum und Wirklichkeit in ihrem Bewusstsein ist. Elses poetisch verklärte Traumwirklichkeit wird durch die familiäre Ökonomie aus der Balance gebracht. Als Tochter nicht nur aus guter, sondern auch aus jüdischer Familie lastet auf ihr ein doppelter Konventionszwang.105 In der ersten Phase seelischer Erregung verliert die Außenwelt für Else, die so sehr mit dem elterlichen Brief beschäftigt ist, weiter an Bedeutung. Das Ankleiden zum Diner geschieht mechanisch und wird nur sporadisch regis104
105
In diesem Sinne beruft sich Else auf eine Äußerung Freds: »Aus Ihnen hätte alles Mögliche werden können, Fräulein, eine Pianistin, eine Buchhälterin, eine Schauspielerin, es stecken so viele Möglichkeiten in Ihnen. Aber es ist Ihnen immer zu gut gegangen« (EII, 335). Die jüdische Herkunft folgere ich aus der Passage, in der Else ihren antisemitisch gefärbten Vorwurf der Krämerseele gegen den Juden Dorsday rechtfertigt: »O, ich kann mir das erlauben. Mir sieht’s niemand an. Ich bin sogar blond, rötlichblond, und Rudi sieht absolut aus wie ein Aristokrat. Bei der Mama merkt man es freilich gleich, wenigstens im Reden. Beim Papa wieder gar nicht. Übrigens sollen sie es merken. Ich verleugne es durchaus nicht und Rudi erst recht nicht« (EII, 333). Die jüdische Herkunft Elses, durch die ihre Selbstbezogenheit eine sozial-historische Begründung erhält, blieb in der Forschung lange unbemerkt. Das Problem der Tochter aus gutem Hause, die von ihren Eltern zur Darlehensbeschaffung benutzt wird, ist bereits in dem Entwurfskomplex Jüdische Familie aus den 1890er Jahren zu finden. Auch diese Skizzen sind bisher noch nicht als Vorarbeiten zu Fräulein Else herangezogen worden (EuV, S. 182–185).
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
triert. Else versucht, die von den Eltern geforderte Tochterpflicht herunterzuspielen, indem sie sich einen Spielraum von Verhaltensmöglichkeiten suggeriert. Doch die Zuhilfenahme konkreter Bilder aus der Literatur gelingt zunächst nicht recht, da das durch den Brief gewaltsam geweckte Wirklichkeitsbewusstsein die literarischen Illusionen immer wieder konterkariert und Else an ihre Rollenverpflichtung erinnert: Heut’ wär vielleicht das schwarze [Kleid] richtiger. Zu dekolletiert? Toilette de circonstance heißt es in den französischen Romanen. (EII, 333)
Mit dem selbstironischen Zitat einer typischen Wendung französischer Gesellschaftsromane verschafft sich Else einerseits Distanz zu ihrer Bedrängnis, andererseits flüchtet sie sich in eine fiktionale Welt. Diese Tendenz wiederholt sich, als sie sich ausmalt, sie müsse den attraktiven Vetter Paul und nicht Dorsday um Geld angehen: Ihr erotisches Versprechen erkennt sie selbst – wie ihre thematextuelle Reflexion erkennen lässt – als unspezifisches literarisches Zitat eines Kurtisanenromans: Paul, wenn du mir die dreißigtausend verschaffst, kannst du von mir haben, was du willst. Das ist ja schon wieder aus einem Roman. Die edle Tochter verkauft sich für den geliebten Vater, und hat am End’ noch ein Vergnügen davon. Pfui Teufel! (EII, 333)
Else dementiert ihren Wunschtraum, indem sie sich an eine Reihe sentimentaler Kolportageromane erinnert,106 in denen sich die Töchter für ihre Väter opfern oder buchstäblich verkauft werden. Doch auch ihre Selbstverachtung wirkt literarisch überformt und erinnert etwa an die Kritik, die der Protagonist Oswald in Friedrich Spielhagens Roman Problematische Naturen (1861) an der vornehmen Gesellschaft übt, als er sich verraten glaubt: »[I]st ihr ganzes Leben nicht eine gemeine Intrigue? betrügt hier nicht die Gattin den Gatten? und dieser jene? verkauft nicht der Vater seine Tochter? verkuppelt nicht die Mutter ihr eigen Fleisch und Blut?«107 106
107
Freilich wäre auch an die oben erwähnte Episode (Kapitel XVIII) aus Alexandre Dumas d. J., La dame aux camélias (1848), zu denken, wo Marguerite dringend 30 000 Franken benötigt und ihr der Liebhaber Armand Duval aus der Verlegenheit hilft. Friedrich Spielhagen, Problematische Naturen (Sämtliche Werke. Neue vom Verf. rev. Ausgabe. Leipzig 1874ff.), hier Bd. 1 (47. Kapitel), S. 497. Eine entsprechende Szene findet sich auch bei Luise Mühlbach, Eine Welt des Glanzes. Roman aus der Gegenwart, 3 Bde., Berlin [1868]. Dort kehrt eine an einen Grafen verschacherte Tochter zu ihrer Familie zurück, die aber auf den Kaufpreis nicht verzichten will: »›Bei Euch bleiben, mit Euch leben‹, erwiderte sie mit gedämpfter, trauriger Stimme, ›der Graf stellte mir die Wahl zwischen Euch und ihm, er begehrte, ich soll Euch für immer entsagen, und seine Tochter werden!‹ ›Und ist Dir das etwas Neues?‹ fragte der Vater rauh, ›das ist ja eine alte Geschichte, die wir längst
Weitere intertextuelle und intermediale Bezüge und Selbststilisierungen
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Gradationen illustrieren Elses Bemühen, für ihr momentanes Empfinden einen literarischen Ausdruck zu finden: »Ich werde hundert Geliebte haben, tausend, warum nicht?« (EII, 334).108 Über die Zahlwörter dieser Klimax kommt die Literarisierung der Außenwelt zustande; Else moduliert ihre Wahrnehmung der Dämmerung so lange, bis sich ein entstelltes Zitat aus Goethes Willkommen und Abschied ergibt: »Die Dämmerung starrt herein. Wie ein Gespenst starrt sie herein. Wie hundert Gespenster« (EII, 334). Allerdings bereitet ihr, wie die sukzessive Aneignung zeigt, die Poetisierung eine gewisse Mühe. Aus der Entstellung geht hervor, dass Else sich des Zitierens nicht recht bewusst ist. Else wehrt die Wirklichkeit, die sie in ihren Träumen stört, ab, indem sie eine sentimentale Einsamkeit beschwört. Die anaphorisch stilisierte Klimax ihres Grußes an den unbekannten Geliebten soll ohne Echo bleiben: Ich bin ja ganz allein. Ich bin ja so furchtbar allein, wie es sich niemand vorstellen kann. Sei gegrüßt, mein Geliebter. Wer? Sei gegrüßt, mein Bräutigam! Wer? Sei gegrüßt, mein Freund! Wer? – Fred? – Aber keine Spur. (EII, 336f.)
Das heroische Einsamkeitsgefühl – durch die Erwähnung Freds zwar ironisiert – gipfelt in theatralischem Narzissmus: »Guten Abend, schönstes Fräulein im Spiegel, behalten Sie mich in gutem Angedenken, auf Wiedersehen …« (EII, 337). In Elses Ich-Spaltung beim Abschied vom eigenen Spiegelbild zeigt sich, dass sie die geforderte Rolle akzeptiert, um danach wieder in ihr Traum-Ich zu schlüpfen, das sie im Spiegel zurücklässt.109 Ihr Festhalten am vorbewussten Zustand wird von Vetter Paul in Frage gestellt: »Darf ich mich einen Moment zu dir setzen, Else, oder stör’ ich dich in deinen Träumen?« (EII, 338).
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gekannt haben! Der Graf ist ein dummer Mensch, der sich in Dich vergafft hat und Dich uns abkaufen will um jeden Preis […], aber sein Gebot ist noch nicht hoch genug! Wenn man eine Tochter verkauft, muß der Preis wenigstens gut sein!‹ ›Vater!‹ rief Adolpha entsetzt, ›kann das Dein Ernst sein, könntest Du einwilligen, Dich von mir zu trennen?‹ ›Warum nicht?‹ fragte der Alte mürrisch […]« (ebd., Bd. 2, S. 175f.). Vgl. die Schlussverse der ersten Strophe von Goethes Gedicht »Willkommen und Abschied«: »Wo Finsterniß aus dem Gesträuche | Mit hundert schwarzen Augen sah.« Das Zahlwort ›tausend‹ findet sich in Vers 5 der zweiten Strophe: »Die Nacht schuf tausend Ungeheuer« (Johann Wolfgang Goethe, Werke [WA], Bd. 1, Weimar 1887, S. 68). Zum »entstellten Zitat« vgl. die Ausführungen von Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 1955, S. 161–179. Daraus erklärt sich Elses Reaktion gegen Ende der Erzählung: »Cissy stellt sich vor den Spiegel hin. Was machen Sie vor dem Spiegel dort? Mein Spiegel ist es. Ist nicht mein Bild noch drin?« (EII, 377).
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
Elses Antwort, die pointierte Gleichsetzung von Traum und Wirklichkeit – beide unterschiedslos im Plural und durch Possessivpronomina subjektiviert –, stellt eine sentenziöse Charakterisierung ihres hypnoiden Bewusstseinszustands dar, der aus erotisch-poetischer Projektion und Tagträumerei resultiert. Mit der Vermengung von Subjektivität und Objektivität, Traum und Wachen, Literatur und Leben, korrespondiert eine Vielzahl personaler Realitäten: »Warum in meinen Träumen? Vielleicht in meinen Wirklichkeiten« (EII, 338). Doch das Fräulein ist der Selbstverleugnung in seinem Rollenspiel kaum gewachsen, als Dorsday die Begleichung der elterlichen Schulden davon abhängig macht, dass sich Else ihm nackt zeige. Im Gespräch stehen sich wörtliche Rede und Gesprächskommentar in großer Spannung gegenüber. Else kommentiert die Rolle der ›hochgemuten‹ Tochter aus gutem Hause mit Befremden und Distanz. Wortwiederholungen und die Häufung selbstbezogener Fragen sind die formalen Kennzeichen einer kaum überbrückbaren Ich-Spaltung in einen Teil, der beobachtet, und einen Teil, der beobachtet wird: »Wie merkwürdig meine Stimme klingt. Bin das ich, die da redet? Träume ich vielleicht? Ich habe gewiß jetzt auch ein ganz anderes Gesicht als sonst« (EII, 341). Die Distanz zur eingenommenen Rolle wird gesteigert, indem die beobachtende Else die Situation des Gesprächs ins Theatralische verfremdet.110 Sie rezensiert Dorsdays sentimental-erotischen Vortrag mehrfach wie eine schlechte schauspielerische Leistung: Warum sagt er ›in der Tat‹? Das ist abgeschmackt. Das sagt man doch nur im Burgtheater. (EII, 344) Wo hat er so reden gelernt? Es klingt wie aus einem Buch. (EII, 346) Warum sagt er denn ›kundtun‹. Was für ein blödes Wort: kundtun. (EII, 347) Affektierter Schuft. Spricht wie ein schlechter Schauspieler. (EII, 347)
Damit entlarvt Else zwar auch die Maskerade der Liebhaberrolle, auf die ihr Blick ihn reduziert; doch der dabei wirksame Verzerrungsfaktor in ihrer Abwehrhysterie bestätigt sich in grotesken Größenverhältnissen und Übertreibungen: »Riesengroß ist sein Gesicht« (EII, 346) und: »Seine gepflegten Finger sehen aus wie Krallen« (EII, 347). Von der Doppelrolle physisch und psychisch erschöpft, verliert sich Else wieder in ihren hypnoiden Zustand. In einer Assoziationskette gerät sie über die Erinnerungen an einen erotischen Traum und ein exhibitionistisches Erlebnis in einen grotesken Familienroman, in dem sie sich die Folgen einer Gefangenschaft ihres Vaters ausmalt. Else registriert selbst, wie sehr sie die 110
Auch ihr eigenes Verhalten kommentiert Else aus der Sicht einer Theaterbesucherin: »Das war ein ganz guter Abgang« (EII, 324).
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Wirklichkeit in ihrer Phantasie literarisch überformt, indem sie ironisch in einem metatextuellen Verweis ihre Halluzination mit einem Fortsetzungsroman des trivialen Kriminalschriftstellers Temme vergleicht:111 Nichts wird ihm helfen. Einstimmig schuldig. Verurteilt auf fünf Jahre. Stein, Sträflingskleid, geschorene Haare. Einmal im Monat darf man ihn besuchen. Ich fahre mit Mama hinaus, dritter Klasse. Wir haben ja kein Geld. Keiner leiht uns was. Kleine Wohnung in der Lerchenfelderstraße, so wie die, wo ich die Nähterin besucht habe vor zehn Jahren. Wir bringen ihm etwas zu essen mit. Woher denn? Wir haben ja selber nichts. Onkel Viktor wird uns eine Rente aussetzen. Dreihundert Gulden monatlich. Rudi wird in Holland sein bei Vanderhulst – wenn man noch auf ihn reflektiert. Die Kinder des Sträflings! Roman von Temme in drei Bänden. Der Papa empfängt uns im gestreiften Sträflingsanzug. (EII, 350)
Die Passage, in der sich Else die Zukunft ihrer unglücklichen Familie ausmalt, fällt durch ihr hastig-atemloses Erzähltempo auf. Bislang blieb unbemerkt, dass Else in dem staccatohaften Reden mit kurzen Sätzen, oft ohne finites Verb, eben jenen »seltsamen Stil« des Kriminalschriftstellers Temme parodiert, den genau solche »kurze[n], abgerissene[n] Sätze, wie Fragen und Antworten eines Verhörs« charakterisieren.112 Die Verballhornung des Romantitels – nicht Temme, sondern Balduin von Möllhausen hat einen Roman mit diesem Titel verfasst – ist sicher kein Versehen Schnitzlers, findet sie sich doch schon, wie oben gezeigt, in einer früheren Textstufe und wurde auch in der Folge der Buchauflagen unverändert beibehalten. Dass Schnitzler den Roman mit Temmes ähnlich lautendem Roman Die Kinder der Sünde verwechselt haben soll, scheint mir nicht plausibel, da keine intertextuellen Bezüge zu erkennen sind.113 In dem analytisch erzählten Roman geht es um die Leidenschaften von drei Brüdern, die am Ende erfahren, dass sie einem inzestuösen Verhältnis entstammen, dem Leben entsagen und sich einem 111
112
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Else entwirft den Romantitel: »Die Kinder des Sträflings! Roman von Temme in drei Bänden« (EII, 350). I. D. H. Temme hat allerdings keinen Roman mit diesem Titel verfasst. Vgl. Franz Brümmer, »Temme, Jodocus Deodatus Hubertus«, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 37/1894, S. 558–560, und weiter ebd.: »Für Temme’s Genre ist der schnelle Sprung von Satz zu Satz nicht unangenehm, wenngleich er darin des Guten manchmal zu viel gethan hat«. Vgl. auch den Überblick von Winfried Freund, »Demokrat, Richter, Kriminalautor. Eine Wiederbegegnung mit Jodokus Donatus Hubertus Temme«, in: Gerhard P. Knapp (Hrsg.), Autoren damals und heute. Literaturgeschichtliche Beispiele veränderter Wirkungshorizonte, Amsterdam und Atlanta 1991, S. 257–271. Vgl. Polt-Heinzl, Erläuterungen und Dokumente, S. 28 (»Der Roman, auf den Else in leichter Abwandlung anspielt, erschien 1827 unter dem Titel Die Kinder der Sünde«).
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
Klosterleben verschreiben.114 Inwieweit Elses metatextueller Verweis sich auf Balduin von Möllhausens Trivialroman Die Kinder des Sträflings beziehen lässt, ist bislang noch nicht geprüft worden. Möllhausens Roman – er umfasst allerdings vier, nicht »drei Bände[ ]«, wie Else meint – weist in der Figurenkonstellation einige Analogien zu Elses Lebenssituation auf.115 Die Protagonistin Dora ist ebenso alt wie Else. Mit 19 Jahren erfährt sie, dass ihr leiblicher Vater wegen eines schweren Verbrechens eine Gefängnisstrafe abbüßt, während ihr vermeintlicher Vater in Diensten eines skrupellosen Wucherers namens Wohlfeil steht, der spielsüchtige junge Offiziere in den Ruin treibt. Die Analogie wird im zweiten, analytischen Roman-Teil verstärkt, der in Amerika spielt und in einigen Rührszenen Dora ihren Bruder und Vater wiederfinden lässt. Elses ambivalente Vaterbindung, ihr Verständnis für seine Spielsucht, ihr Abscheu gegen die wucherische Ausnutzung einer finanziellen Notlage und ihre diversen auf Amerika zielenden Fluchtphantasien zeigen, dass Möllhausens Roman durchaus als Prätext in Frage kommt.116 Elses hybrider metatextueller Verweis stellt eine bedeutsame Fehlleistung dar.
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Vgl. H. Stahl [d.i. Jodocus Donatus Hubertus Temme], Die Kinder der Sünde, 2 Thle., Leipzig 1827. Manche Situationen, die als ›Kippfiguren‹ gestaltet sind, erinnern an die psychologisch plausibilisierte und erzählerisch gedehnte Krise, die Else widerfährt. So schlägt die Liebe der Heldin Adolphine, die dem Verführer Karl von Dresch zuliebe ihren sterbenden Vater verlässt, um ihn tot wiederzufinden, in Schuldgefühl um, und Amalie von Hagen entsagt ihrer Liebe, als sie bemerkt, dass ihr Ehemann nicht der vermeintliche Liebhaber Adalbert, sondern dessen Bruder Karl ist. Eine strukturierte Inhaltsangabe bietet Andreas Graf, Abenteuer und Geheimnis. Die Romane Balduin Möllhausens, Freiburg/Br. 1993, bes. S. 151–156. Vgl. auch die maßgebliche biobibliographische Darstellung von Andreas Graf, Der Tod der Wölfe. Das abenteuerliche und das bürgerliche Leben des Romanschriftstellers und Amerikareisenden Balduin Möllhausen (1825–1905), Berlin 1991. Elses Amerika-Phantasien sind eng mit Vorstellungen sozialer Freiheit und finanzieller Möglichkeiten verknüpft, wie folgende Belege zeigen: »Der einäugige Amerikaner auf der Rosetta hat ausgesehen wie ein Boxkämpfer. Vielleicht hat ihn beim Boxen wer das Aug’ ausgeschlagen. Nach Amerika würd’ ich ganz gern heiraten, aber keinen Amerikaner. Oder ich heirat’ einen Amerikaner und wir leben in Europa« (EII, 324); »Neulich soll er an einem Rubens, den er nach Amerika verkauft hat, allein achtzigtausend verdient haben« (EII, 330); »Wenn Papa nach Amerika durchgeht, begleite ich ihn« (EII, 338). Der Begriff »Imaginationspotential«, mit dem Polt-Heinzl, Erläuterungen und Dokumente, S. 8, diese Vorstellungen charakterisiert, trifft somit recht genau die literarisch überformte Phantasie Elses.
Weitere intertextuelle und intermediale Bezüge und Selbststilisierungen
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Die Wortkombination Die Kinder des Sträflings entspricht einem für die Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts beliebten und massenhaft belegten Titeltyp, der eine Relation zwischen Kinder- und Elterngeneration herstellt, in der die Jüngeren durch ihre Eltern […] stigmatisiert sind.117
Die Romane dieses Typs sympathisieren mit der jüngeren Generation, indem sie sie als Opfer der Väter darstellen. Da Else in ihrem behüteten Leben mit dem Prekariat kaum konfrontiert wurde – ein zehn Jahre zurückliegender Besuch bei einer armen »Nähterin« stellt ihre einzige Erfahrung dar –, malt sie sich den drohenden Abstieg ihrer Familie mit Hilfe von Trivialliteratur aus, die aus dem abrupten Wechsel von Reichtum und Armut sentimentalen Profit schlägt. Die Vertauschung von Autor und Titel sowie die falsche Bandzahl (drei statt vier Bände) lassen sich somit als Abwehrkonflikt deuten, der einerseits Elses Furcht vor einer sozialen Deklassierung durch das kriminelle Verhalten ihres Vaters zeigt, andererseits ihr Bemühen, durch Verballhornung des intertextuellen Bezugs die Gefahr eines sozialen Absturzes zu distanzieren. Sogar im anschließenden Weinkrampf, der Elses innere Spannung löst und in die Traumvision des eigenen Sterbens überleitet, konvergieren eigene Erfahrungen und literarische Identifikationsmuster: »Das Weinen tut mir immer wohl. […] und im Theater bei der Kameliendame hab’ ich auch geweint. Wer wird weinen, wenn ich tot bin? O, wie schön wäre das tot zu sein« (EII, 352).118 Gerührt über ihre eigene Rührung beim Theatertod der Kameliendame fällt Else imitatorisch in einen erotischen Todeswunschtraum. Im Traum gelingt die Poetisierung. Denn Else projiziert sich in Euridice, die durch einen Schlangenbiss in den Fuß in das Reich der Schatten gelangt ist:119 »Vor den Schlangen habe ich keine Angst. Wenn mich nur keine in den Fuß beißt. O weh« (EII, 353). Mit Hilfe des mythologischen Beispiels verklärt sie 117
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Vgl. Andreas Graf, Abenteuer und Geheimnis, bes. S. 199–203, hier S. 199. Graf nennt neben Möllhausens Kindern des Sträflings folgende ähnliche Titel: B. v. Woisky, Die Tochter des Sträflings (1865), Ewald August König, Der Sohn des Sträflings (1873), Herbert Frey, Die Tochter des Sträflings (1879) und M. Ludolf, Die Tochter des Spielers (1879) (ebd., Anm. 19). Ganz ähnlich malt sich – eine weitere werkinterne Parallele – Lieutenant Gustl die Reaktion der anderen auf seinen Tod aus: »Das Fräulein Steffi wird sich weiter amüsieren, als wenn gar nichts gescheh’n wär’ … nicht einmal erzählen darf sie’s wem, daß ihr lieber Gustl sich umgebracht hat … Aber weinen wird’s’ schon – ah ja, weinen wird’s’ … Überhaupt, weinen werden gar viele Leut’ … Um Gottes willen, die Mama!« (EI, S. 350). Vgl. Ovid, Metamorphosen, X 8–10, und passim. Der Schlangenbiss in den Fuß ist zusätzlich als Leibreiz motiviert, da Else beim Erwachen an den Füßen friert (EII, 353).
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Fräulein Elses literarisiertes Leben
proleptisch ihren Tod zum Traum- und Schattendasein. Das Aufwachen wird durch drei Fragen und den rückwärts gewandten Traumverdacht signalisiert: Was ist denn? Wo bin ich denn? Habe ich geschlafen? Ja. Geschlafen habe ich. Ich muß sogar geträumt haben. (EII, 353)
Elses wiederholter Versuch, den Traum zu rekonstruieren (»Was hab ich denn geträumt?« [EII, 353], »Was habe ich denn nur geträumt?« [EII, 354]), ihn von der Wirklichkeit zu trennen, scheitert. Es bleiben ihr nur der eigene Tod und der unbekannte Matador im Gedächtnis. Damit ist der Traumverdacht begründet, den Else in der zweiten Hälfte der Erzählung leitmotivisch gegen ihre eigene Projektion hegt. Schnitzler hat den zweiten Hotelzimmeraufenthalt in deutlicher Entsprechung zum ersten gestaltet, um die Steigerung von Elses tagträumerischem Zustand augenfällig werden zu lassen. Ihre selbstverleugnende Bereitschaft, im Interesse der Eltern Dorsday als Gegenwert zu dienen, wird durch die finanzielle Nachforderung überbeansprucht. Zunächst radikalisiert Else ihre Ablehnung in Regressionen und Einsamkeitswünschen. In ihren Gedanken kritisiert sie zwar die Prostitution als logische Konsequenz und Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft, doch da sie der eingeforderten Rolle kein alternatives Selbstbild, sondern nur traumhaft-literarische Möglichkeiten entgegensetzen kann, ist sie zu einer wirklichen Verweigerung nicht fähig. So ermuntert sich Else zur Selbstaufgabe, indem sie diese zum amoralischen Lebensgenuss stilisiert; dabei helfen ihr die Argumente des Carlos in Goethes Clavigo: Lustig, lustig, jetzt fängt ja das Leben erst an. Ihr sollt Euere Freude haben. Ihr sollt stolz werden auf Euer Töchterlein. Ein Luder will ich werden, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. […] Man lebt nur einmal. (EII, 362)120
Sie entschließt sich aber dazu, ihre Nacktheit nicht unter dem Deckmantel bürgerlicher Wohlanständigkeit zu verbergen, sondern sie theatralisch zu inszenieren, um in einem forcierten ›rite de passage‹ die Rollenidentität abzuschütteln und eine neue Identität zu gewinnen. Alle, alle sollen sie mich sehen! – Dann gibt es kein Zurück, kein nach Hause zu Papa und Mama, zu den Onkeln und Tanten. Dann bin ich nicht mehr das Fräulein Else, das man an irgendeinen Direktor Wilomitzer verkuppeln möchte; alle hab’ ich sie so zum Narren; – den Schuften Dorsday vor allem – und komme zum zweitenmal auf die Welt … (EII, 364)
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So ermuntert Carlos seinen wankelmütigen Freund Clavigo im ersten Akt: »Mich dünkt doch, man lebt nur Einmal in der Welt […] Und heirathen! heirathen just zur Zeit, da das Leben erst recht in Schwung kommen soll!« [1. Akt] (Goethe, Werke [WA], Bd. 11, Weimar 1892, S. 51).
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Ihr Wunsch nach Wiedergeburt ist ein poetisierter Todeswunsch. Daher stellt Elses Akt keine Klassenflucht, sondern eine endgültige Verweigerung der Lebenswirklichkeit dar. Die Entscheidung für den Tod fällt Else umso leichter, als sie infolge ihres mangelhaften Realitätsbezugs damit nur die literarische Vorstellung eines Traums verbindet. Sie sieht im Veronal die Verewigung ihres präexistentiellen Traumlebens: Aber das Veronal, – man schläft langsam ein, wacht nicht mehr auf, keine Qual, kein Schmerz. Man legt sich ins Bett; in einem Zuge trinkt man es aus, träumt, und alles ist vorbei. (EII, 363)
Else verdrängt die Tragweite ihres Entschlusses, indem sie die objektive Wirklichkeit ihren Träumen inkorporiert. In Anlehnung an Pindars achte Pythische Ode, deren betreffende Passage in Hölderlins Übersetzung lautet: »Der Schatten Traum, sind Menschen«,121 kommt sie zu dem Schluss: »Menschen gibt es nicht. Die träumen wir nur« (EII, 365). Mit dem Zitat ordnet Else sich selbst bereits dem Schattenreich zu und nivelliert so den Unterschied zwischen Tod und Leben. »Leb’ wohl, Veronal, auf Wiedersehen. Leb’ wohl, mein heißgeliebtes Spiegelbild« (EII, 367). Diese Parodie auf den Abschiedsmonolog von Friedrich Schillers Jungfrau von Orleans, auf die zuvor schon angespielt wurde, eröffnet Elses Lebensabschied.122 Damit wird nicht nur ihre literarische Selbstinszenierung ins Licht gerückt, sondern auch die Endgültigkeit ihres Abschieds. Wie Verdis vom rechten Weg abgekommene Kameliendame, La Traviata, unter den Klängen des Karnevals Abschied vom Leben nimmt, so gibt Schumanns Carnaval die Begleitung zu Fräulein Elses Lebensabschied ab.123 Dieser intertextuell-intermediale Zusammenhang erschwert eine eindeutige Zuordnung der drei Noten-Zitate aus Robert Schumanns Carnaval, die Schnitzler der Buchausgabe der Fräulein Else inseriert hat. Zum einen repräsentieren die Noten figurale Bezüge, da sie die akustische Wahrnehmung der 121
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Friedrich Hölderlin, »Achte Pythische Ode«, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz (Hrsg.), Frankfurt/M. 1994, S. 750, V. 136. »Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften, | Ihr traulich stillen Täler lebet wohl!« [Prolog, IV 383f.] (Friedrich von Schiller, Werke [NA], Bd. 9, Weimar 1948, S. 180). Vgl. dazu die vorausgegangene Anspielung Elses: »Ich, die Jungfrau, ich traue mich« (EII, 364). Aus Schumanns »Carnaval« werden zitiert: 1. Florestan, Takt 19–24, 2. Florestan, Takt 39–43, 3. Reconnaissance, Takt 1–8. Zur Verbindung von Ton- und Schriftsprache in Fräulein Else vgl. Gerd K. Schneider, Ton- und Schriftsprache, und die weiteren in Anm. 16 genannten Studien.
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musikalisch geschulten Else wiedergeben, die den Klavierzyklus aus ihrem eigenen Studium kennt: »Schumann? Ja, Karneval … Hab’ ich auch einmal studiert« (EII, 371). Zudem kann Else in den Dissonanzen und dem »Passionato« der ersten beiden Notenzitate aus dem leidenschaftlichen Florestan, dem sechsten Stück des Zyklus, ihre eigene innere Aufgewühltheit wiedererkennen. Dies gilt besonders für die Figur in der rechten Hand der zweiten Florestan-Stelle, die um den Tritonus, das spannungsreichste Intervall, herum gebaut ist. Auch die nachfolgenden ›Charakterstücke‹ aus Schumanns Zyklus – dieser Aspekt wurde in der Forschung bisher kaum berücksichtigt – fungieren, obwohl sie im Inneren Monolog nicht zitiert werden, als latente intermediale Bezüge zu Elses Wahrnehmung. So wirkt die dem Florestan folgende Passage wie ein unausgesprochener Dialog mit der musikalisch »schnippischen« Coquette, der siebten Miniatur, die mit dem Florestan und der anschließenden Replique ein amouröses ›Binnendrama‹ in Schumanns Zyklus darstellt: Fünfzigtausend! Jetzt oder nie. […] Da bin ich, Herr von Dorsday! […] Ich will ihm nur ein Zeichen mit den Augen geben, dann werde ich den Mantel ein wenig lüften, das ist genug. Ich bin ja ein junges Mädchen. Bin ein anständiges junges Mädchen aus guter Familie. Bin ja keine Dirne … Ich will fort. […]. Sie haben sich geirrt, Herr von Dorsday, ich bin keine Dirne. Adieu, adieu! … Ha, er schaut auf. Da bin ich, Herr von Dorsday. Was für Augen er macht. (EII, 372)
So kokettiert Else mit Dorsday, um dann aber selbst die Rolle einer ›Dirne‹ wiederholt von sich zu weisen, bis er ihren Blick in einer ›Replik‹ erwidert. Zudem kann Else ihre Entblößung zur Musik von Schumanns Carnaval in einer Variation von Verdis La Traviata als öffentliche Demaskierung inszenieren. Auf das Teilstück Reconnaissance [›Erkennung‹, ›Erkenntnis‹], das als drittes Notenzitat ausgerechnet die Enthüllung begleitet, scheint auch Elses Selbstkommentar ironisch zu zielen: »Niemand weiß es. Keiner noch sieht mich. Filou! Filou! Nackt stehe ich da. Dorsday reißt die Augen auf« (EII, 373). Dabei wohnt Elses Enthüllung eine – freilich verzweifelte – Ironie inne. Bezeichnete Schumann die Reconnaissance als ›Liebesbegegnung‹, so zeigt sich gerade in Elses Appell an den »Filou« als erotisches Gegenbild zu Dorsday ihre fremdbestimmte Einsamkeit. Diese Spannung manifestiert sich in den zitierten Reconnaissance-Takten, deren Legato-Melodie durch die Staccato-Begleitung unterminiert wird. Und Else registriert auch noch, dass mit ihrer Enthüllung zu den Klängen der Reconnaissance der Klaviervortrag von Schumanns Carnaval abbricht: »Die Dame spielt nicht mehr« (EII, 373). Für eine figurale Lesart spricht zudem Schnitzlers heimliches Vorbild des Notenzitats, Édouard Dujardins Monolognovelle Les lauriers sont coupés.
Weitere intertextuelle und intermediale Bezüge und Selbststilisierungen
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Darin finden sich bereits zwei Notenzitate, als der Protagonist Daniel Prince versucht, ›eine Tanzweise, eine Art Walzer, der Rhythmus eines langsamen Walzers‹ zu identifizieren, und schließlich eine Melodie erkennt.124 Und doch dürfte in die Notenzitate ein narratorialer Bezug hineinspielen, der mit der musikalischen Tonfolge as-c-h (bzw. a-(e)s-c-h) zusammenhängt, die den Zyklus bestimmt. Damit huldigte Robert Schumann seiner damaligen Geliebten Ernestine aus dem böhmischen ›Asch‹, sie lässt sich aber auch als Monogramm des Autors Arthur Schnitzler deuten. So wäre das Notenbeispiel aus dem Stück Reconnaissance, in dem die »ASCH-Chiffre alle drei Stimmebenen des Satzes« durchwirkt125, in doppelter Weise zu deuten: zum einen figural, als musikalischer Kommentar zu Elses Demaskierung, zum andern narratorial, als Arthur Schnitzlers ironische Verrätselung seiner Autorschaft. Nachdem Else in einer Hypnoidhysterie den Mantel hat fallen lassen und unter Lachen ohnmächtig zu Boden gestürzt ist, setzt das Mittelbewusstsein des Inneren Monologs – anders als im Schlaf des Lieutenant Gustl – nicht aus. Als sie – bedingt durch die Ähnlichkeit der Situation (Filou, Scheintod, Bahre) – ihren Liebestod-Traum erneut zu durchleben glaubt, verschwimmen Traum und Wirklichkeit noch mehr: »War ich nicht schon tot? Muß ich denn noch einmal sterben?« (EII, 374). In traumhaft-disparatem Erleben reagiert Else zwar noch auf Berührungen und Gerüche, doch ihre assoziativen Wahrnehmungen können die Situation nicht mehr organisieren. Staccato-Stil und anaphorische Wendungen illustrieren ihre Verwirrung. Nach Einnahme der tödlichen Veronal-Dosis steigert sich Elses Projektion kontinuierlich zu unverbundenen regressiven Halluzinationen: Was hast du mir mitgebracht, Papa? Dreißigtausend Puppen. Da brauch ich ein eigenes Haus dazu. (EII, 380) Küss’ mir doch nicht die Hand. Ich bin ja dein Kind, Papa. (EII, 381)
Erstaunlicherweise ist die Allusion auf Ibsens Drama Nora, das seit 1880 auf den deutschsprachigen Bühnen erfolgreich aufgeführt wurde, unbemerkt 124
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Vgl. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés, Jacques Emile Blanche (Hrsg.), Paris 1924, S. 79. Hier zitiert nach einer modernen dt. Version: Édouard Dujardin, Die Lorbeerbäume sind geschnitten [Les lauriers sont coupés], übers. von Irene Riesen, Zürich 1984, S. 88. An die Notenzitate in Dujardin, den Schnitzler selbst als sein Vorbild in einem Brief an Stefan Zweig vom 6. November 1924 zu sehr relativiert hat, hat Giuseppe Farese, Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien. 1862–1931, München 1999, S. 256f., zu Recht erinnert. Vgl. Günther Spies: Robert Schumann, Stuttgart 1997 (Reclams Musikführer), S. 39–44, hier 42.
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geblieben. Als Ibsens Nora am Schluss des Stückes ihrem Mann Torvald Helmer erklärt, warum sie ihn verlässt, parallelisiert sie ausdrücklich Vater und Ehemann: Nora: Er [Papa] nannte mich sein Puppenkind, und spielte mit mir, wie ich mit meinen Puppen spielte. […] Du und Papa, Ihr habt Euch schwer an mir versündigt. Ihr seid schuld daran, daß nichts aus mir geworden ist. […] Hier bin ich Deine Puppenfrau gewesen, wie ich zu Hause Papas Puppenkind war.126
Während aber Nora aus ihrer Unmündigkeit ausbricht, sucht Else der Überforderung durch ihre Familie mittels einer kindlichen Regression zu entgehen. Vor der Folie von Ibsens Drama, das mit den Begriffen »Puppen«, »(Puppen)haus« und »Papa« deutlich markiert ist, zeichnet sich zugleich die Differenz und Tragik Elses ab. Ihr gelingt es eben nicht einmal im Traum, die Rolle der höheren Tochter zugunsten eines selbstbestimmten Lebens aufzugeben. Sogar ihren Tod erlebt Else als Rückkehr in die kindliche Traumwelt. Dreimal zweifelt sie an der Tatsache ihres Sterbens und hält es nur für einen Traum.127 Gegen Ende weitet sich der Traum und fällt in einen rhythmischen Wechsel von ›schlafen‹, ›träumen‹, ›fliegen‹, ›wecken‹: »Else! Else!« Sie rufen von so weit! Was wollt Ihr denn? Nicht wecken. Ich schlafe ja so gut. Morgen früh. Ich träume und fliege. Ich fliege … fliege … fliege … schlafe und träume … und fliege … nicht wecken … morgen früh … »El …« Ich fliege … ich träume … ich schlafe … ich trau … träu – ich flie … (EII, 381)
Dieser merkwürdige Schluss von Elses Todesvision blieb lange unbeachtet. Er kombiniert kryptische Zitate von zwei prominenten romantischen Liedern.128 Die Zeitangabe »morgen früh«, die im ersten Abschnitt die Verbfolge umschließt, ist ein charakteristisches Versatzstück des Wiegenliedes Gute Nacht, mein Kind! (Guten Abend, gute Nacht) aus Des Knaben Wunderhorn. Dessen bekannte Schlusszeilen lauten:
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Henrik Ibsen, »Ein Puppenheim. Schauspiel in drei Akten [Et dukkehjem (1879)]«, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, Julius Elias/Paul Schlenther (Hrsg.), Berlin 1910, S. 1–96, hier S. 88f. Vgl. folgende Wendungen: »Ich träume nur« (EII, 374), »Träume ich?« (EII, 378) und »Das ist ja alles nur ein Traum« (EII, 380). Zum Begriff des ›kryptischen Zitats‹ vgl. Herman Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans, Stuttgart 1967, bes. S. 12f.
Weitere intertextuelle und intermediale Bezüge und Selbststilisierungen
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Morgen früh, wenn Gott will, Wirst du wieder geweckt.129
Setzt man das Zitat mit seinem ursprünglichen Kontext in Beziehung, so erweist sich die Negation in Elses Bitte – »nicht wecken« – als entscheidende Veränderung. Der Wunsch, nicht mehr in die Wirklichkeit zurückgeholt zu werden, bezeugt Elses Vorstellung vom Tod als einem ewigen Schlaf und Traum, die den Schlusszeilen der später hinzugekommenen zweiten Strophe des Liedes entspricht: Schlaf nun selig und süß, Schau im Traum ’s Paradies.130
Auch die Verben ›schlafen‹, ›träumen‹, ›fliegen‹, ›wecken‹ sind ein kryptisches Zitat, und zwar aus einem Schlaflied von Clemens Brentano. Sie entstammen den Schlussversen des Liedes, das der Prinz Wetschwuth dem Myrtenfräulein in dem gleichnamigen Märchen singt: Hörst du, wie die Brunnen rauschen? Hörst du, wie die Grille zirpt? Stille, stille, laß uns lauschen, Selig, wer in Träumen stirbt; Selig, wen die Wolken wiegen, Wem der Mond ein Schlaflied singt! O! wie selig kann der fliegen, Dem der Traum den Flügel schwingt, Daß an blauer Himmelsdecke Sterne er wie Blumen pflückt: Schlafe, träume, flieg, ich wecke Bald dich auf und bin beglückt.131
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Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L. A. von Arnim und Clemens Brentano, Studienausgabe in neun Bänden, Heinz Rölleke (Hrsg.), Stuttgart (u. a.) 1979, Bd. 3, S. 304, sowie die Lesarten und Erläuterungen in Bd. 9, S. 548f. Die Kinderlieder-Fassung des Wiegenliedes ist durch Brahms’ Vertonung populär geworden. Die zitierten Verse sind in der Vertonung als Refrain besonders hervorgehoben. Dietrich Fischer-Dieskau (Hrsg.), Texte deutscher Lieder. Ein Handbuch, München 1968, S. 429. Clemens Brentano, »Das Märchen von dem Myrtenfräulein«, in: Ders., Werke, Friedhelm Kemp (Hrsg.), Bd. 3, München 1968, S. 315–326, hier S. 320. Das Lied des Prinzen und die beiden Schlaflieder, die das Myrtenfräulein im Märchen singt (»Säusle liebe Mirte«), sind 1918/19 von Richard Strauss vertont worden.
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Eine analoge Flugvision löst wohl das Zitat bei Else aus, die somit selbst sterbend ihrer romantischen Traumwelt verhaftet bleibt.132 Schnitzler behält die Reihenfolge der Verben unverändert bei; nur das Aufwachen, auf das auch das »morgen früh« anspielt, wird von Else verneint. So wird das Liedchen, unter dem in Brentanos Märchen das Myrtenfräulein »entschlummert«,133 zum Sterbelied Elses, das ihre Einsamkeit enthüllt. Denn in Ermangelung eines Prinzen muss sie sich selbst in den ewigen Schlaf singen. Die tödliche Konsequenz von ›schlafen‹ und ›träumen‹ ist in Hamlets Monolog »Sein oder Nichtsein« vorgegeben: […] Sterben – schlafen – Schlafen! Vielleicht auch träumen! […]134
Das Bild des Sterbens als Flugtraum hat die Forschung im Sinne einer inzestuösen Beziehung gedeutet. Ohne diese Deutung entkräften zu wollen, sei sie doch erzähllogisch durch Elses telepathische Begabung relativiert, die sie sich selbst attestiert. Dementsprechend lässt sich die Vision eines gemeinsamen Fluges mit dem Vater auch als Hinweis auf die Koinzidenz von dessen Tod lesen, zumal ja ein Selbstmord des Vaters nicht nur in den Vorstufen, sondern explizit in der Druckfassung immer wieder angedeutet wird.135 Schnitzler hat die literarischen Bezüge so kunstvoll in Wahrnehmung und Erlebniswelt verwoben, dass Fräulein Else, obgleich sie aus Zitaten lebt, als literarische Gestalt plastisch bleibt. Ihre Authentizität wird durch die Gefangenschaft im kunstverklärten Leben eher erhöht als gemindert. Über die Fragwürdigkeit eines Lebens aus zweiter Hand zu befinden, stellt Schnitzler dem belesenen Leser anheim. Else bleibt die Reflexion ihrer ästhetischen Existenz erspart. Auf ihr literarisches Leben und Sterben wirft der vierte Vers ihres Sterbeliedes ein tröstliches Licht: »Selig, wer in Träumen stirbt.« 132
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Auch die Flugvision Elses trägt romantische Züge. Die Bildlichkeit des Fliegens in Zusammenhang mit Traum, Freude, Liebe und Sehnsucht ist ein Topos in der deutschen Romantik, vgl. Heinz Hillmann, Bildlichkeit der deutschen Romantik, Frankfurt/M. 1971, bes. S. 74ff. Brentano, »Myrtenfräulein«, S. 321. William Shakespeare, Hamlet, III 1 (deutsch von August Wilhelm Schlegel). Das doppelte Zitat lässt die Verwandtschaft des Brentano-Gedichts zu Hamlets Monolog erkennen und erklärt den unheimlichen Ton des Schlafliedes. Den Begriff ›Telepathie‹ wendet Else vier Mal auf sich selbst an, um ihre Begabung zu bezeichnen, entfernte Begebenheiten zu imaginieren. Zudem ist die Telepathie um 1900, der Handlungszeit der Novelle, ein zentrales literarisches Thema. Ich verweise exemplarisch auf die situative Analogie in Thomas Manns Tagebuchnovelle Der Tod (1897), in der die Tochter des Grafen wenige Stunden vor dessen Tod, der wohl ein Selbstmord ist, stirbt.
Weitere intertextuelle und intermediale Bezüge und Selbststilisierungen
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VIII. »Wer war’s der träumte?«* Schnitzlers Traumnovelle (1926) – ein Wiener Ulysses?
1.
Forschungsstand
Die Traumnovelle gehört – vor allem nach Stanley Kubricks Verfilmung aus dem Jahre 1999 (Eyes wide shut) – zu den am meisten behandelten Erzählungen Schnitzlers. Vor den neueren intermedialen Untersuchungen dominierten in der Forschung psychoanalytische Ansätze, die Affinitäten und Differenzen zu Freuds Traumtheorie herausarbeiteten.1 Auch das Verhältnis von Wirklichkeit und Traum wurde schon früh eigens verhandelt.2 Zum andern ging es um die Bedeutung von Liebe, Ehe, Erotik und Sexualität, vor allem im Zusammenhang mit der ›geheimen Gesellschaft‹.3 Weniger Beachtung * Handschriftliche Bleistiftnotiz Schnitzlers auf der Mappe, welche die Entwürfe zur Traumnovelle enthält (FF C XLII [Mappe] – Cambridge Schnitzler A 144 [Mappe]). 1 Bereits die zeitgenössische Rezeption hat dieser Deutungsrichtung Vorschub geleistet; vgl. Friedrich Düsel, »Literarische Rundschau«, in: Westermanns Monatshefte, 140/1926, H. 2, S. 577f., und Paul Wiegler, »Schnitzlers ›Traumnovelle‹«, in: Die neue Rundschau, 37/1926, S. 335f. Wiederaufgegriffen wurde die psychoanalytische Deutung von Frederick J. Beharriell, »Schnitzlers Anticipation of Freud’s Dream Theory«, in: Monatshefte, 45/1953, S. 81–89. Die deterministische Komponente betont Kenneth Segar, »Determinism and Character. Arthur Schnitzler’s ›Traumnovelle‹ and his Unpublished Critique of Psychoanalysis«, in: Oxford German Studies, 8/1973, S. 114–127. Unter den neueren Arbeiten vgl. auch: Astrid Lange-Kirchheim, »›Déjà-vu‹ einer Jahrhundertwende. Psychoanalyse als Traumatheorie. Zu Arthur Schnitzlers ›Traumnovelle‹«, in: Margaret Littler u. a. (Hrsg.), Geschlechterforschung und Literaturwissenschaft, Bern 2003 (Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. 10. Jahrbuch für Internationale Germanistik, A/62), S. 269–274. 2 Rudolf Lantin, Traum und Wirklichkeit in den Prosadichtungen Arthur Schnitzlers, Diss. Köln 1958. Für die jüngere Forschung vgl. insbes. die Studie von Michaela L. Perlmann, Der Traum in der literarischen Moderne. Untersuchungen zum Werk Arthur Schnitzlers, München 1987, S. 180–229. 3 Genannt seien stellvertretend Hertha Krotkoff, »Themen, Motive und Symbole in Arthur Schnitzlers ›Traumnovelle‹«, in: Modern Austrian Literature, 5/1972, H. 1/2, S. 70–95, Dies., »Zur geheimen Gesellschaft in Arthur Schnitzlers ›Traumnovelle‹«, in: The German Quarterly, 46/1973, S. 202–209, Hartmut Scheible, Arthur Schnitzler und die Aufklärung, München 1977, Ders., Liebe und Liberalismus. Über Arthur Schnitzler, Bielefeld 1996, S. 173–189, Eric L. Santner, »Of Masters, Slaves, and
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Traumnovelle
fanden die zeit- und kulturkritischen Aspekte der Erzählung.4 Auch kontextualisierende Analysen, welche die Traumnovelle im Dialog mit zeitgenössischen literarischen Konjunkturen sehen, beschränken sich auf wenige Ausnahmen.5 Narratologische Untersuchungen sind rar, hervorgehoben seien aber die erhellenden Studien von Swales und Scheffel.6 Intertextuelle und intermediale Bezüge wurden – von Hinweisen auf einzelne Motive abgesehen – kaum erörtert.7 Schließlich blieb die komplizierte Textgeschichte der
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Other Seducers. Arthur Schnitzler’s ›Traumnovelle‹, in: Modern Austrian Literature, 19/1986, H. 3/4, S. 33–48, Lorna Martens, »Naked Bodies in Schnitzler’s Late Fiction«, in: Joseph P. Strelka (Hrsg.), Die Seele … ist ein weites Land. Kritische Beiträge zum Werk Arthur Schnitzlers, Bern 1997, S. 107–129, Gerhard Neumann, »Arthur Schnitzlers ›Traumnovelle‹. Eine Theorie der Liebe am Beginn des 20. Jahrhunderts’, in: Christoph Hoffmann/Caroline Welsh (Hrsg.), Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugierde, Berlin 2006, S. 91–110. Vgl. Marc A. Weiner, »Die Zauberflöte and the Rejection of Historicism in Schnitzler’s ›Traumnovelle‹«, in: Modern Austrian Literature, 22/1989, H. 3/4, S. 33–49 sowie – mit Einschränkung – auch Wolfgang Lukas, Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers, München 1996. Vgl. Alfred Fritsche, Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers. Bern und Frankfurt/M. 1974, Joanna Jabłkowska, »Erinnerung an die ›belle époque‹: ›Décadence‹ und Dekadenz als Zitate in der ›Traumnovelle‹ von Arthur Schnitzler und in ›Eyes wide shut‹ von Stanley Kubrick«, in: Anna Byczkiewicz/Kalina Kupczy´nska (Hrsg.), Verbalisierung und Visualisierung der Erinnerung. Literatur und Medien in Österreich, Łód´z 2008, S. 289–307, Michael Imboden, Die surreale Komponente im erzählenden Werk Arthur Schnizlers, Bern u. a. 1971, S. 51–65, Ernst H. von Nardroff, Aspects of Symbolism in the Works of Arthur Schnitzler, Diss. Columbia 1966. Neben der grundlegenden Studie von Martin Swales, Arthur Schnitzler. A Critical Study, Oxford 1971, seien aufgrund ihrer fundierten Textnähe die Analysen Reys hinzugerechnet: William H. Rey, »Das Wagnis des Guten in Schnitzlers Traumnovelle«, in: The German Quarterly, 35/1962, S. 254–264 sowie Ders., Arthur Schnitzler. Die späte Prosa als Gipfel seines Schaffens, Berlin 1968, S. 86–125. Vgl. insbes. Michael Scheffel, »Narrative Fiktion und die ›Märchenhaftigkeit des Alltäglichen‹ – Arthur Schnitzler: ›Traumnovelle‹«, in: Ders., Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997, S. 175–196, und Ders., »›Ich will dir alles erzählen‹. Von der ›Märchenhaftigkeit des Alltäglichen‹ in Arthur Schnitzlers ›Traumnovelle‹«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Arthur Schnitzler, München 1998 (Edition Text + Kritik, 138/139), S. 123–137. Vgl. ferner Herbert Knorr, Experiment und Spiel – Subjektivitätsstrukturen im Erzählen Arthur Schnitzlers, Frankfurt/M. (u. a.) 1988, S. 189–211, Werner Neuse, »›Erlebte Rede‹ und ›Innerer Monolog‹ in den erzählenden Schriften Arthur Schnitzlers«, in: PMLA, 49/1934, S. 324–355. Neben den Arbeiten Michael Scheffels seien hier insbes. die von Hee-Ju Kim erwähnt: »Traumnovelle. Maskeraden der Lust«, in: Dies./Günter Saße (Hrsg.), Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen, Stuttgart 2007, S. 209–229, sowie Dies.,
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Novelle weitgehend vernachlässigt. Eine Zäsur in der Forschung stellt die Studie von Scheffel dar, der die Traumnovelle kontextualisierte, narratologisch würdigte und sie auf den Märchentext bezog, der zu Beginn der Novelle zitiert wird.8 Im Folgenden wird die Textgeschichte erstmals systematisch rekonstruiert, um die intertextuellen Verweise genetisch abzusichern und die sukzessive Veränderung der Erzählhaltung nachzuzeichnen. Im Zusammenhang mit der internen Fokalisierung, die in der Druckfassung strukturell dominant ist, werden die Interferenz von Traum und Märchen sowie der ambivalente Realitätsstatus des Geschehens auf die Tradition der phantastischen Literatur bezogen. Im zweiten Teil werden dann die vielfältigen, figural wie narratorial motivierten und bislang ganz unterschätzten intertextuellen Bezüge erläutert, bevor abschließend maßgebliche strukturell homologe Subtexte der Traumnovelle als Deutungshilfen herangezogen werden.
2.
Textgenese
2.1.
Erste Entwürfe
Die Entstehung der Traumnovelle lässt sich recht genau nachvollziehen: Schnitzler hat die Entwürfe zu seiner Erzählung in einer Mappe gesammelt, die er mit einem bislang übersehenen Motto versah: »Tag und Traum | Wer war’s, der träumte? – | Traum nur Traum. – «.9 Die Stadien der Arbeit hielt Schnitzler in seinem Tagebuch fest. Demnach hat die Traumnovelle eine Entstehungsgeschichte von mehr als 20 Jahren. Sie gliedert sich in vier Phasen. Die erste Idee notierte Schnitzler bereits »Ende 80er« Jahre. Das dreizeilige Typoskript, dem die Forschung bislang keine Beachtung geschenkt hat, lautet: Er lässt seine Geliebte allein zuhause, sperrt zu, geht ins Konzert, in Gesellschaft, erlebt was; wie er nach Hause kommt und sie schlafend findet.10
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»›Ehe zwischen Brüdern‹: Arthur Schnitzlers ›Traumnovelle‹ im Licht ihrer intertextuellen Bezüge zur ›Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad‹ aus ›Tausendundeine Nacht‹«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch, 17/2009, S. 253–288. Zur MozartReferenz im Einzelnen vgl. auch Weiner, Die Zauberflöte. Scheffel, »Narrative Fiktion«, S. 180 und 193. Traumnovelle [Mappenumschlag] (FF C XLII [Mappe]) – Cambridge Schnitzler A 144 [Mappe]). Möglicherweise eine Allusion auf E.A. Poes Gedicht A Dream within a Dream, zumal Schnitzler Poe kannte (vgl. LL GB37). Traumnovelle [I] (FF C XLII, 1, Bl. 2 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. [1]). Die Situation erinnert an Properz 1, 3: Das lyrische Ich kommt spät in der Nacht
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Traumnovelle
Die blassen handschriftlichen Ergänzungen in dem Entwurf deuten die Konstellation bereits zu einem doppelten Treuebruch aus, indem der Mann feststellen muss, dass sein nächtliches Abenteuer durch den Traum seiner Geliebten übertroffen wird: Er könnte irgend etwas ungeheures erlebt haben; – wie nun seine Geliebte ihm ihren Traum erzählt, fühlt er, daß sie viel mehr erlebt hat als er – (Will ihr zuerst gestehen) (Denkt dann: Wozu?) (Vielleicht träumt sie … Verlöbnis?) Und er hat sich verlobt …11
Die Parallelität von Erlebtem und Erträumtem bestimmt auch den in der Forschung schon gewürdigten zweiten Entwurf.12 Das handschriftlich ergänzte Typoskript stammt vom 20. Juni 1907 und benennt stichwortartig die Stationen der Handlung (Abb. 10):
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nach reichlichem Weingenuss nach Hause und findet seine Geliebte Cynthia schlafend vor. Es beobachtet und bewundert die Schlafende und fürchtet, sie könne im Traum gegen ihren Willen einem anderen gehören. Vom Mondlicht geweckt macht Cynthia ihrer Eifersucht Luft. Sie denkt, ihr Geliebter komme von einer anderen, deren Tore ihm nun aber verschlossen sind. Properz ist auf Schnitzlers Leseliste vermerkt. Auch einzelne Situationen der Traumnovelle finden sich bereits in Notizen zu »Figuren und Situationen« aus den Neunziger Jahren vorgebildet, ohne dass sie bereits in den Erzählzusammenhang integriert wären. So ist Fridolins Begegnung mit den Couleurstudenten bereits in einem Entwurf von 1898 vorgezeichnet: »Ein Arzt kommt in der Nacht von einem Sterbenden. Eine Bande von Studenten begegnet ihm. Es kommt zu einem Streit. Er wird gefordert. Er hat sich schon oft geschlagen; aber diesmal fühlt er das Unsinnige, wegen so einer Nichtigkeit in den Tod zu gehen (Feigheit)« (EuV, S. 227). Traumnovelle [I] (FF C XLII, 1, Bl. 2 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. [1]). – Diese handschriftlichen Ergänzungen passen zu dem »Sujet«, das Schnitzler im Jahre 1907 Olga mitteilt: »Der junge Mensch, der von seiner schlafenden Geliebten fort in die Nacht hinaus zufällig in die tollsten Abenteuer verwickelt wird – sie schlafend daheim findet wie er zurückkehrt; sie wacht auf – erzählt einen ungeheuern Traum, wodurch der junge Mensch sich wieder schuldlos fühlt. ›Gutes Geschäft‹, sagte Olga; die den Stoff sehr charakteristisch für mich fand« (Tgb 15. 06. 1907). Traumnovelle [II] (FF C XLII, 1, Bl. 3 – Cambridge Schnitzler A 144, 1). Er findet sich transkribiert – allerdings bislang nur der maschinenschriftliche Text – bei Bertold Heizmann, Arthur Schnitzler: Traumnovelle – Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2006, S. 55–57 (nur Transkription des maschinenschriftlichen Textes, ohne die handschriftliche Notiz), sowie Achim Aurnhammer/Lea Marquart, Arthur Schnitzler: Traumnovelle, Braunschweig 22011 (Schroedel Interpretationen, 10), S. 21f.
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Abb. 10: Traumnovelle. Zweiter Entwurf. Handschriftlich ergänztes Typoskript vom 20. Juni 1907 (Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. [2]).
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Junger Mann | Ehemann, Brautnacht? | fortgeholt | Arzt? | Zu seinem Patienten, der eben gestorben ist. Einsame Tochter zdie ihm ein Liebesgeständnis in ihrem Eifer macht. Studenten – vorangehn … (Tanzsaal.) Schneefallu Er geht fort in der Nacht, trifft eine Art Ehrenfeld z[Marginalie:] Er hat das Recht einen Freund mitzubringen – einen, dem er es gönnt … Ehrenfeld hat er Schulden gezahltu oder kommt auf andre Weise in jenes Schloss, | Palast | wo der Ball stattfindet, auf dessen Höhe nicht die Masken, aber die Kleider fallen. zEine lüftet die Maske, was gegen die Abrede … er wird schuldig also gehnu Er will eine der Frauen, ist schon daran mit ihr zu entfliehen, ein Liebhaber fordert ihn, sie fahren in den Prater, Duell, er tötet den Menschen, erkennt in ihm jetzt erst einen Freund. Nach Hause. Was wird er ihr sagen? Sie schläft noch. Wacht auf. Fremde Augen. Nun erzählt sie ihm ihrn [ ! ] Traum. Hiezu der Novellenplan »Verlockung« zu benützen. Hierauf kommt er sich ganz unschuldig vor.13
Der frühe Entwurf weist schon die entscheidenden Motive der Traumnovelle auf: Enthalten sind neben der Konstellation des Ehepaars, welche die Erzählung rahmt, die Marianne-Episode, die geheime erotische Gesellschaft mit der anonymen Liebesbegegnung und das Masken-Motiv. Auch der Traum der Ehefrau als Gegenstück zu Fridolins nächtlichem Abenteuer ist vorgesehen. Schnitzlers handschriftliche Bemerkungen, die bislang nur lückenhaft als Interpretament genutzt wurden,14 entwerfen bereits neben einer Mittlerfigur, die den »jungen Mann« zu dem geheimen Maskenball bringen darf (»Er hat das Recht einen Freund mitzubringen«), den endgültigen Anfang der Erzählung. Dem Entwurf vorangestellt ist eine bisher nur partiell transkribierte handschriftliche Notiz, welche die Anlage der »Doppelgeschichte« thematisch (»Treue« und »Untreue«) und gattungsgeschichtlich (»Märchen«, »wahre Geschichte«) präzisiert, sogar das Kind als Vorleser eines Märchens einführt (Abb. 10): 13
14
Traumnovelle [II] (FF C XLII, 1, Bl. 3 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. [2]). Die Figur des ›Ehrenfeld‹ stellt wohl den Prototyp zu ›Nachtigall‹ dar. Scheffels konjunktivische Lesung »müsste« leuchtet nicht ein, und Kim, »›Ehe zwischen Brüdern‹«, S. 257, lässt die Antonymie des Entwurfs außer Acht: Sie zitiert nur die »Treue«, nicht die »Untreue«, und relativiert das »Gespräch« zum »Märchen«, da sie ebenso wenig wie Scheffel das Verbum »hineinspielen« entziffert hat.
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Wenn Doppelgeschichte, muß ein Gespräch vorausgehen, über Treue, Untreue und auch ein Märchen muß hineinspielen – oder eine wahre Geschichte – in einem Exkurs … das Kind liest ein Märchen vor15
Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass gerade der Entwurf vom 20. Juni 1907 Märchen- und Traummotiv miteinander verbindet, wie es für die Traumnovelle strukturell dominant ist. Denn an eben diesem Tag erschien im »Morgenblatt« der Wiener Neuen Freien Presse Stefan Zweigs ausführliche Rezension der zwölfbändigen Neuausgabe von Tausendundeiner Nacht in der Übersetzung von Felix P. Greve mit einer Einleitung von Hugo von Hofmannsthal.16 Neben der poetischen Autonomie der Märchen, die zwischen Traum und Wirklichkeit changieren (»ein Gefühl der Unsicherheit wie am Rand eines Traumes«), würdigt Zweig die »wunderbare Verworrenheit, die einen all dies als Wirklichkeit nur eines Traumes fühlen lässt«.17 »Und auch schon jenes Grillparzer-Calderonsche Gefühl des Menschen, der nicht mehr Traum und Leben zu scheiden weiß«, sei, wie Zweig ausdrücklich hervorhebt, in der orientalischen Märchensammlung »einzig schön angeschlagen«.18 Die Affinität von Traum und Märchen, die das handschriftlich nachgetragene Incipit von Schnitzlers Entwurf bekundet, verarbeitet somit erkennbar Stefan Zweigs Rezension. 2.2.
Die Entwürfe von 1922/23
Merkwürdigerweise griff Schnitzler den Stoff erst fünfzehn Jahre später wieder auf. Die dritte Phase der Entstehung erstreckt sich von 1920 bis 1923. Hier trägt die Traumnovelle noch den Arbeitstitel »Doppelnovelle«. Zwar vermerkte Schnitzler 1920 in seinem Tagebuch »Einfälle zum Anfang der Doppelnovelle«, er begann allerdings erst am 10. Oktober 1921 mit der Niederschrift. Im letzten Quartal 1921 arbeitete er kontinuierlich »an der Novelle weiter«. Doch erst im Herbst 1922 griff er die Arbeit an der »Doppelnovelle« wieder auf, parallel zum Fräulein Else und zur Komödie der Verführung.19 15
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Traumnovelle [II] (FF C XLII, 1, Bl. 3 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. [2]). Die handschriftliche Notiz hat Scheffel, »Narrative Fiktion«, S. 180, Anm. 23, nur bruchstückhaft wiedergegeben. Stefan Zweig, »Das Buch ›Tausendundeine Nacht‹«, in: Neue Freie Presse, 20. 06. 1907 (Morgenblatt), S. 1–4. Ebd., S. 2. Ebd., S. 4. Vgl. Tgb 02., 03. und 05. 10. 1922.
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Aus dieser Zeit stammt wohl ein fünfseitiger undatierter maschinenschriftlicher Entwurf.20 Er differenziert das Geschehen und enthält Passagen in zitierter sowie in Erlebter Rede. Dementsprechend ist auch der zuvor knapp skizzierte Erzähleingang ausgeführt, der die Erinnerungen der Eltern mit einer Märchenlektüre ihres Kindes verschränkt: Die Eltern und das Kind bei Tische. Die Kleine liest ein Märchen vor. Du sollst schlafen gehen. Ja, wenn die Prinzen wie im Märchen wären. Anspielungen im Märchen. Das Kind geht schlafen. Erinnerungen der Eltern.21
Der Protagonist heißt im Entwurf schon Fridolin, »seine Gattin« ist noch namenlos, während der Klavierspieler, der Fridolin mit der geheimen Gesellschaft in Kontakt bringt, »Amsel« statt »Nachtigall« genannt wird. Die Handlungsführung stimmt weitgehend mit der späteren Novelle überein. Allerdings sieht der Entwurf noch immer ein tödliches Duell am Rande des Maskenballs vor, bei dem »Fridolins Gegner fällt«. Dagegen ist der ›doppelte Cursus‹ der Novelle insofern schon angelegt, als Fridolin nach der Traumerzählung »seiner Gattin« versucht, am nächsten Tag seine nächtlichen Abenteuer zu verifizieren: Doch ist das geheimnisvolle Haus »verschlossen, der Garten versperrt«.22 Das Mädchen, das ihm ein Liebesgeständnis gemacht hat, erinnert sich an nichts, und auch Amsel kann er nicht wiederfinden. Diese Desillusionen sind im Entwurf durch handschriftliche Zusätze kommentiert: »Ist es nicht auch Traum?« und »nicht auch Traum?« Sie verstärken in ihrer Wiederholung den einzigen entsprechenden Hinweis vor dem Duell: »Fridolin glaubt zu träumen«23 und bekunden so Schnitzlers Absicht, den Realitätsstatus von Fridolins Erlebnissen deutlicher in Frage zu stellen und Albertines realistischem Ehebruchstraum anzugleichen. Die Duell-Episode prägt diese Fassung noch in besonderer Weise, da es keine schöne Unbekannte ist, deren Schicksal offen bleibt, sondern der Duell-Partner: »Der junge Mensch, den er im Duell erstochen, wird vermisst«.24 Die handschrift20
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22 23 24
Traumnovelle [III] (FF C XLII, 1, Bl. 4–8 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. 3–7). Der Entwurf beginnt mit der Seitenzahl ›3‹, ist aber auf einer anderen Schreibmaschine geschrieben als der Entwurf vom 20. Juni 1907. Vgl. Traumnovelle [III] (FF C XLII, 1, Bl. 4 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. 3). Traumnovelle [III] (FF C XLII, 1, Bl. 8 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. 7). Traumnovelle [III] (FF C XLII, 1, Bl. 6 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. 5). Traumnovelle [III] (FF C XLII, 1, Bl. 8 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. 7).
Textgenese
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lichen Ergänzungen, die sich dem letzten Satz des Typoskripts anschließen, zeigen, welch große Bedeutung Schnitzler der Figur des männlichen Duellgegners zunächst beimaß: Dies konnte Einer sein, der seiner Gattin gefährlich war. Vielleicht der, von dem sie geträumt hat: Der König? – Ah – er erfährt, daß er abgereist ist. – fluchtartig – – Er glaubt ein Haus als das fragliche [zu] erkennen, geht hinein – Er erfährt, wie er nach Hause kommt, – daß Felix (der Courmacher seiner Frau) zim Duellu gestorben ist, – verletzt gefunden wurde Ende der Novelle: Wieder kenntlich Herr Doctor …25
Auf vier undatierten Seiten hat Schnitzler Varianten festgehalten, die deutlich die Tendenz zeigen, den Traum Albertines, die hier schon mit Namen genannt ist, und Fridolins nächtliche Erlebnisse einander anzugleichen. Ein Entwurf erwägt sogar bereits die rezeptionsästhetischen Folgen dieses Doppeltraums: Seine Rückkehr in das Haus morgens um fünf. Erwachen Albertinens. Ihr Traum. Er hat sich vielleicht schon früher vorgenommen seine Erlebnisse als Traum zu erzählen. Oder es fällt ihm erst ein, wie sie zögert, ihm ihren Traum zu erzählen. Er erzählt nun das Ganze als Traum. (Vielleicht so, dass der Leser selbst nicht klar ist).26
Ohne biographische Aspekte forcieren zu wollen – in die Textgenese der Traumnovelle ist zweifellos Schnitzlers schmerzliche und langwierige Trennung von seiner Frau Olga im Jahre 1921 eingegangen. Diesen Zusammenhang bezeugt ein Tagebuch-Eintrag vom 12. November 1922: »An der Doppelnov[elle]. Neun Zehntel meiner Seelenkraft ging an meine Bitterkeit gegen O[lga] verloren«. Auch beim vorläufigen Abschluss der Novelle am 17. März 1923 bewegen den Dichter »Associationen vom Schlußgespräch [der Eheleute Fridolin und Albertine] aus zu meinen Gesprächen mit O[lga]«.27
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Traumnovelle [III] (FF C XLII, 1, Bl. 8 – Cambridge Schnitzler A 144, 1, Bl. 7). Traumnovelle [IV] (FF C XLII, 2, Bl. 11 – Cambridge Schnitzler A 144, 2). Vgl. zu den Umständen der Scheidung, unter der Schnitzler zeitlebens litt, die Einträge im Tgb zwischen 20. und 30. 06. 1921. Am 12. 10. 1921, als Schnitzler notiert, er habe mit der »Doppelnovelle« begonnen, erklärt er den »Zusammenbruch« der Beziehung für »vollkommen«. Noch sieben Jahre später, als Olga nach Berlin übersiedelt, spürt Schnitzler neuerlich »das zvorbeiu […] in jedem Abschiednehmen sind alle früheren auch« (Tgb 31. 01. 1928).
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Diese Entstehungsphase ist durch eine umfangreiche Fassung in Schnitzlers Nachlass dokumentiert, ein Konvolut von weit über 200 Blättern.28 Es besteht größtenteils aus einem Typoskript, das viele handschriftliche Korrekturen und Marginalien aufweist. Schnitzlers Marginalie »HS« für ›Handschrift‹ auf Seite 174 zeigt an, dass die anschließende Folge von etwa 50 handschriftlichen Seiten den vorläufigen Schluss bildet. Weitere 13 stark bearbeitete und teils gestrichene bzw. durchkreuzte Seiten enthalten Entwürfe, vor allem Varianten zur Larvenepisode. Der Gang der Handlung ist 1923 schon vollständig ausgeführt. Allerdings unterscheidet sich die maschinenschriftlich-handschriftliche Textfassung in einigen charakteristischen Aspekten von der im Januar 1925 abgeschlossenen vierten Fassung, die wohl die Druckvorlage bildete, aber nicht überliefert ist. Die Textfassung 1922/23 ist in Figurencharakterisierung, Ort- und Zeitangaben deutlich präziser, die Darstellung zielt auf eine stärkere Annäherung von Traum und Wirklichkeit, und es finden sich mehr intertextuelle Referenzen auf den im Erzähleingang prominent markierten Prätext, das Märchen von Amgiad und Assad. Auch ist die Erzählinstanz zwar schon unverkennbar figural perspektiviert, doch finden sich noch mehr narratoriale Einsprengsel. Die Textfassung 1922/23 präsentiert eine genauere, aber auch etwas andere erzählte Welt als der spätere Druck.29 So tragen mehr Personen Namen und sind genauer charakterisiert. Dies gilt vor allem für den Protagonisten, der in einem Identitätszweifel – für den Druck getilgt – sogar seinen Nachnamen preisgibt: »Bin ich wirklich der Doktor der Medizin Fridolin Törlinger, 34 Jahre alt, Assistent an der Poliklinik, verheiratet? Wohin fahre ich da?«30 Wichtige Nebenfiguren haben allerdings noch andere Namen. So heißt der Kostümverleiher nicht »Gibiser«, sondern »Tobisch«, und Fridolins halbseidener Freund nennt sich noch nicht »Nachtigall«, sondern »Amsel«.31 28 29 30
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Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 15–158 – Cambridge Schnitzler A 144, 3). So ist der Entwurf stärker intern fokalisiert erzählt als der Druck. Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 72 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 93). Allerdings weicht die Altersangabe von der anderen Selbstcharakterisierung Fridolins ab (35), die Schnitzler – minimal geändert – in den Druck übernommen hat: »[…], ich, ein Mann von fünfunddreißig Jahren, praktischer Arzt, verheiratet, Vater eines Kindes!« (EII, 448). Möglicherweise deutet sich in der Formulierung »ein Mann von fünfunddreißig Jahren« eine figurale Bezugnahme auf Goethes Novelle (»Der Mann von funfzig Jahren«) und ihm nachgebildete Titel an wie etwa Jakob Wassermann, Der Mann von 40 Jahren, Berlin 1913. Die Namen der Figuren standen bei der Niederschrift der Textfassung von 1922/23 wohl noch keineswegs fest. Dies zeigt der Umstand, dass Mariannes Bräutigam zunächst »Doktor Roedinger/Dr. Rödinger« (FF C XLII, 4, Bl. 36 – A 144,
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Aber auch Figuren, die später namenlos sind, erhalten in dieser Textfassung einen individuellen Namen und werden auch präziser charakterisiert. So hat Fridolin seine voreheliche Liebesbeziehung zu zFranziu »so streng geheim gehalten […], schon wegen ihres Bruders, der zs damal[igen]u Kadettzenu gewesen. Nun zDeru war er znunu längst Hauptmann […], von Franzi aber hatte Fridolin seit ihrer Verheiratung zmit dem Magistratsbeamtenu nie wieder etwas gehört«.32 Auch die sechsjährige Tochter von Fridolin und Albertine bleibt nicht die namenlose »Kleine« wie im Druck, sondern heißt »Mela«, in vorgängigen Varianten »Grete« und »Magda«. Sie ist durch die stärker ausgeführte Larvenepisode – Mela findet in einer Variante Fridolins Larve und präsentiert diese den Eltern – deutlich mehr konturiert und in die Ehegeschichte integriert.33 Auch Zeit- und Ortsangaben sind in der umfänglichen Textfassung von 1922/23 präziser. So setzt die Handlung am Aschermittwoch ein und leitet zu der figural motivierten Analepse der »Erlebnisse« Fridolins und Albertines »auf der zgestrigenu Faschingsdienstag-Redoute« über.34 Auch die geographischen Angaben sind genauer. Schnitzler hat allerdings manche minutiösen Weg- und Ortbeschreibungen wie diejenige von dem »alten Haus«, in dem Marianne wohnt, schon im Typoskript gestrichen: Es stand »zwischen einem andern von gleicher Art und einem vier Stock hohen modernen Gebäude in der Schreyvogelgasse hügelan auf einem letzten Rest der einstigen Bastei«.35 Die architektonische Diskrepanz, welche die innere Spannung spiegelt, die Fridolin quält, hat Schnitzler hier wie an anderer Stelle für den Druck getilgt.
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3, Bl. 31) heißt, bevor der Name über »Doktor Rüdiger« (FF C XLII, 4, Bl. 40 – A 144, 3, Bl. 37) zu »Dr. Rödiger« (ab FF C XLII, 4, Bl. 42 – A 144, 3, Bl. 42) wird. Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 46f. – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 50f.). Vgl. unter den Entwürfen, die der Textfassung von 1922/23 angehängt sind, die Blätter FF C XLII, 4, Bl. 153f. – A 144, 3, Bl. 178–180 [ehemals 180–182]. Der Passus beginnt folgendermaßen: »Da kam die Kleine herbeigelaufen aus ihrem Zimmer, im Hemd und über das Gesicht hielt sie eine schwarze Maske« (ebd., Bl. 178). Möglicherweise spielt diese Szene auf die antike Bildtradition eines Kinds mit Maske als Allegorie der Liebe an; vgl. die ikonographische Tradition bei Eckhard Leuschner, Persona, Larva, Maske. Ikonologische Studien zum 16. bis frühen 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997, sowie Julia Freytag, Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers »Traumnovelle« und in Kubricks »Eyes Wide Shut«, Bielefeld 2007. Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 16 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 3). Der Erstdruck spricht vage von der »gestrigen Redoute«. Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 32 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 27).
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2.2.1. Das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit im Entwurf von 1922/23 Wie in den vorgängigen Entwürfen interferieren in der Textfassung von 1922/23 Traum und ›Wirklichkeit‹ noch stärker als im Druck. So wird Fridolins Erleben immer wieder in die Nähe eines Traums gerückt. Bereits der Besuch bei Marianne gewinnt eine traumhafte Unwirklichkeit. Sie wird eingeleitet durch einen Traumvergleich, der im Druck weggefallen ist: Es war, als meinte sie [Marianne] anderes als sie sagte, so wie manchmal im Traum ihr eine Ding zSacheu, eine Gegend, ein Mensch eigentlich etwas ganz anderes vorzustellen haben zzu bedeuten habenu als sie sind zsich selbstu.36
Dann sieht sich Fridolin, seinerseits übermüdet, selbst, wie eine doppelt unterstrichene Marginalie Schnitzlers erläutert, als Träumer: »An dieser Stelle (wie er später das folgende als Traum erzählt): zschläft er einu und … Er saß … d …«.37 In welch starkem Maße in der Textfassung 1922/23 Traum und Projektion ineinander übergehen, zeigt Fridolins für den Druck gestrichene Vision eines Reigens, die Erinnerung, Wahrnehmung und Phantasie zusammenführt: […] – wie er nun unwillkürlich die Augen schloss, schwebte eine Gestalt nach der andern an ihm vorüber, jede mit einem sonderbaren Ausdruck des Spotts in den Mienen, – die Nackte zuerst mit dem glühroten Mund, als wäre sie geradeso entfernt von ihm wie die Andern, obgleich er wusste, dass sie im Zimmer daneben tanzte; – dann die zarte Pierette von den Fehmrichtern gefolgt – das arme Dirnchen im roten Schlafrock – Marianne in düsterer Trauerkleidung und endlich, als gehöre sie in den Zug, Albertine in dem weissen Strandkostüm, das sie am dänischen Ufer getragen, und als Letzter mit frechem Gesicht, der Student, der ihn beleidigt hatte und vor dem er davongelaufen war.38
Dieser Tagtraum spielt auf die ikonographische Tradition des erotischen Totentanzes an. Er stellt eine Reihe von fünf weiblichen Gestalten vor, die nicht nur Fridolins nächtliche Begegnungen in umgekehrt chronologischer Folge präsentiert, sondern auch eine erotische Skala, die vom Anonym-Sexuellen zum Vertrauten reicht. Möglicherweise hat Schnitzler diese ausgearbeitete Vision im Druck weggelassen, weil ihm neben dem seriellen Prinzip der Novelle das Ineinander von Traum und Wirklichkeit darin zu explizit schien. Für den Druck hat er solche Interferenzen auch dann aufgegeben, wenn sie das Thema lediglich im Modus der Verneinung alludieren. So entfällt Fri-
36 37 38
Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 39 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 35). Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 40 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 38). Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 82 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 112f.).
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dolins Selbstgespräch in der Spiegelszene bei dem Kostümverleiher, als er »einen zhagerenu (verlarvten) Pilger« wahrnimmt, »der zxxxu er selbst zeru war. (›Und doch‹, sagte er sich, ›ist es kein Traum‹.)«.39 Auch der zu Beginn des Mittelkapitels durch Wiederholung in Erlebter Rede hervorgehobene Verdacht Fridolins, sein Erleben gleiche einem Traum, entfällt im Druck: »Hatte der Traum schon damit angefangen. Traum? Warum denn Traum? Es war alles wirklich zgewesenu.«40 2.2.2. Das Märchen von Amgiad und Assad als Prätext des Entwurfs von 1922/23 In der Textfassung 1922/23 ist der intertextuelle Bezug zum Märchen von Amgiad und Assad intensiver als im Druck, und der Prätext spielt strukturell und selektiv stärker in die Novelle hinein. Das Märchen von den Prinzen Amgiad und Assad ist die Geschichte einer unzertrennlichen Freundschaft. Sie schildert die Trennung der beiden Halbbrüder bis zur glücklichen Wiedervereinigung in Form zweier paralleler Handlungsstränge. Nachdem beide Prinzen jeweils das Liebeswerben der Freundin ihrer Mutter zurückgewiesen haben, werden sie von den verschmähten Frauen beim König verleumdet und zum Tod verurteilt. Durch eine glückliche Fügung entgehen die Prinzen jedoch der Strafe. Auf ihrer Flucht trennen sie sich vor einer unbekannten Stadt, die Assad zunächst allein erkunden will. Er fällt jedoch der Feueranbeter-Sekte in die Hände, die ihn als künftiges Menschenopfer gefangen nimmt. Amgiad hat auf der Suche nach seinem ausbleibenden Bruder zunächst mehr Glück, bis er schließlich mit einer unbekannten schönen Verführerin in ein ihm unbekanntes Haus gelangt, wo er ein Gastmahl vorbereitet findet. Der Herr des Hauses, der königliche Oberstallmeister, spielt sogar das Spiel des ungeladenen Gastes Amgiad mit, indem er sich als dessen Sklaven ausgibt. Als die grausam-launische Schöne von Amgiad verlangt, den angeblichen Sklaven zu töten, enthauptet er statt seiner sie. Der des Mordes verdächtige Oberstallmeister kommt dank der Aussage Amgiads frei, der zum Großwesir befördert und vom König bei der Suche nach Assad unterstützt wird. Assad ist inzwischen Gast der muslimischen Königin Mar39
40
Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 70 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 89). In dem Typoskript ist das kurze Selbstgespräch bereits handschriftlich eingeklammert und folgendermaßen über- wie unterschrieben: »u[nd] wunderte sich, es natürlich es zuging«. Der Druck ersetzt das kleine Selbstgespräch dann durch folgenden Satz: »[…] und wunderte sich darüber, mit so natürlichen Dingen es eigentlich zuging«. (EII, 460). Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 53 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 63).
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giane, an deren Küste das Schiff der Feueranbeter auf der Fahrt zum Feuerberg notlanden musste. Margiane verliebt sich zwar in Assad, doch bemächtigen sich die Feueranbeter seiner und werfen ihn, von der Flotte der Königin gestellt, unbemerkt ins Meer. Schwimmend gelangt Assad wieder zurück in die Stadt der Magier, um dort erneut in die Hände der Feueranbeter zu fallen. Doch seine Aufseherin, die Muslimin geworden ist, führt ihn glücklich seinem Bruder Amgiad zu. Die Feueranbeter entgehen durch Konversion zum Islam ihrer Strafe, und beide Prinzen rüsten sich glücklich zur Heimreise zu ihrem Vater.41 In der Fassung von 1922/23 ist bereits das Märchenzitat des Eingangs deutlich länger und inseriert eine im Druck gestrichene Liebesromanze, die Schnitzler der »Geschichte von Amgiad und Assad« in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht hinzugedichtet hat. Dadurch gewinnt der fingierte Prätext eine Schlüsselrolle für die Erzählung: Indem »im Blick« des Prinzen Amgiad »Prinzessin Almeidens helles Bild allmählig erloschen war«, präludiert das fingierte Eingangszitat zum einen das Leitmotiv der Treue/Untreue, das Bild der nächtlichen Meerfahrt entspricht zum andern der Irrfahrt Fridolins durch das nächtliche Wien, und der Abbruch des Zitats mitten im Satz spiegelt drittens den Fragmentcharakter der Traumnovelle wider: Vierundzwanzig zbrauneu Sklaven ruderten die zprächtigeu Galeere, die den Prinzen Amgiad an das unbekannte Ufer zzu dem Palast des Kalif xxxu bringen sollte. Er zDer Prinzu selbst aber, in seinen scharlachnen zpurpurnenu Mantel gehüllt, lag allein auf dem Deck unter dem dunkelblauen Nachthimmel, und sein zdunkleru Blick, in dem Prinzessin Almeidens helles Bild allmählig erloschen war, suchte in dämmernder Ferne –42
Während sich im Druck die markierten Bezüge zum Märchen aus Tausendundeiner Nacht im Wesentlichen auf die doppelte Handlungsstruktur und auf Albertines Traumerzählung beschränken, referiert die Fassung 1922/23 nicht nur häufiger auf den Prätext, sondern bezieht ihn auch auf Fridolins nächtliche Erlebnisse. So werden nach dem Besuch bei der Prostituierten Mizzi die vorausgegangenen Begegnungen vergegenwärtigt, indem in identifikatorischer Manier und aus der Sicht Fridolins wieder die Märchenepisode in der Erinnerung auftaucht:
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Für die Inhaltsangabe der »Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad« stütze ich mich auf Dalziel’s illustrirte Tausend und Eine Nacht. Sammlung persischer, indischer und arabischer Märchen. Mit einem Vorworte von H. Beta. Mit 211 Illustrationen nach den ersten Künstlern. Gestochen von den Gebrüdern Dalziel, Berlin o. J., S. 256–272. Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 15 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 1).
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[…] seit dem Zusammenstoss mit dem Allemannen oder seit Mariannens Geständnis, – nein, schon länger, schon in dem Abendgespräch mit seiner Frau war er gleichsam ins offene Meer hinausgestossen worden, gleich dem Prinzen Amgiad in dem Märchen, das Mela heute zam eben verflossenenu Abend, wirklich zthatsächlichu heute Abend zerstu vorgelesen. Hatte der Traum damit angefangen. Traum? Warum denn Traum? Es war alles wirklich zgewesenu.43
Hier wird deutlich, dass der figural motivierte intertextuelle Bezug auf das Märchen eng mit der starken Interferenz von Traum und Wirklichkeit in Fridolins Abenteuer zusammenhängt. Die systematische Reduktion des Traum/Wirklichkeit-Themas geht daher einher mit einer Zurückdrängung der Märchenbezüge im Druck. Diesen Zusammenhang erhärtet etwa die Kaffeehausepisode in der Fassung des Entwurfs von 1922/23: Hier gerät Fridolin durch die Zeitungslektüre in einen hypnoiden Zustand, in dem er die Nachrichten, vor allem den Suizid eines jungen Mädchens, ausphantasiert und unvermittelt mit der erzählten Welt des Märchens konfrontiert: »Nun ja, das [eine politische Nachricht] ist offenbar viel wichtiger für alle, ausser für Marie G. Und zwas den Pr anbelangtu den Prinzen Amgiad hat es überhaupt nie gegeben, und die zwölf Galeerensklaven auch nicht«.44 In einer vorgängigen Variante, in der die Tochter »Mela« noch »Grete« heißt, wird die Märchenlektüre des Anfangs sogar ein zweites Mal aufgegriffen und indirekt mit Fridolins Erlebnissen korreliert: Grete zMelau hatte ihr Märchenbuch schon bereit liegen und erwartete den Augenblick, in dem sie die Geschichte vom Prinzen weiterlesen durfte. Aber der Vater erklärte, sich dass er heute zu müde sei, weil er nachts zu wenig geschlafen.45
Wie sehr das Märchen Fridolins Wahrnehmung prägt, zeigt auch das ausführliche Gespräch, das er mit der schönen Unbekannten auf dem Maskenball führt. Um in die geheime Gesellschaft aufgenommen zu werden, entmystifiziert Fridolin die Unbekannte, indem er sie von der Märchenwelt unterscheidet: »Es muss einen Weg geben in diesem Bund Aufnahme zu finden. Die Männer hier sind nicht lauter Fürsten zHerz[öge]u, die Frauen nicht durchaus verzauberte Prinzessinnen«.46 Auch die Hinweise, die Fridolins Selbstverständnis eines Retters spiegeln (etwa in der Pierrette-Episode) und seine Erlebnisse als »Abenteuer« qualifizieren, sind durch die deutliche Präsenz des Prätexts plausibler motiviert als im Druck. 43 44 45
46
Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 53 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 63). Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 54 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 66). Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 156 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 174 [ehemals 159]). Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 80 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 109).
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3.
Traumnovelle
Literarisierungstendenzen in der Traumnovelle – Märchenbezüge
Auch wenn in der Textgenese Traum und Märchen sukzessive zugunsten einer internen Fokalisierung relativiert werden, prägt auch die Druckfassung der Traumnovelle eine in der Forschung immer noch unterschätzte Literarisierungstendenz. Sie wird nicht nur durch die einleitende Märchensequenz angestimmt, sondern kommt auch in Fridolins nächtlichen Erlebnissen und in Albertines Traum zum Tragen. Nachdem Michael Scheffel erstmals den Amgiad-Assad-Stoff aus Tausendundeiner Nacht als Quelle bestimmt hat, hat Hee-Ju Kim die Märchenmotive sowohl in Fridolins nächtlichen Erlebnissen als auch vor allem in Albertines Traumerzählung genauer untersucht.47 Doch gehen weder Scheffel noch Kim auf die ausführlicheren Märchenzitate in der Textfassung 1922/23 ein; auch lassen sie Stefan Zweigs Rezension der von Hofmannsthal eingeleiteten Ausgabe der Märchen aus Tausendundeiner Nacht außer Acht. Ungeklärt ist ferner der Referenztext für den als Märchenzitat markierten Eingang. Kim legte die um 1900 populäre, mit Kupferstichen der Brüder Dalziel illustrierte Ausgabe zugrunde, ohne dies näher zu begründen. Allerdings kommen auch die von Zweig rezensierten Erzählungen aus den tausendundein Nächten mit Hofmannsthals Vorwort nur bedingt als Vorlage in Frage. Zwar ist in dieser Ausgabe die Geschichte von »Amdschad und Asad« – so die abweichende Schreibweise dort – anschaulich amplifiziert, durch metrische Einlagen sentimentalisiert und weist einige zusätzliche intertextuelle Anschlüsse auf: wie Albertine in ihrem Traum fordert dort die schöne Unbekannte den Tod eines vermeintlichen Dieners zur Steigerung der Lust: »Unser Genuß wird nur durch seinen Tod vollkommen. Wenn du ihn nicht töten willst, so werde ich es selber tun«, und Albertines geträumte Gewaltphantasien haben mehr Rückhalt in dieser Ausgabe;48 dennoch findet sich auch hier keine Entsprechung für das Eingangszitat der Traumnovelle.
47
48
Vgl. Scheffel, »›Ich will dir alles erzählen‹«, und Kim, »›Ehe zwischen Brüdern‹«. Vielleicht kannte Schnitzler auch den frühen Novellenplan seines Freundes Hofmannsthal, der 1893 die Erzählungen aus 1001 Nacht zu einer Erzählung gestalten wollte. In Hofmannsthals Nachlass findet sich ein Notizenkonvolut aus den Jahren 1894/05. Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. 29: Erzählungen 2. Aus dem Nachlass, Ellen Ritter (Hrsg.), Frankfurt/M. 1978, S. 285–291. Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe in zwölf Bänden. Nach der engl. Fassung von Burton übers. von Felix Paul Greve. Eingel. von Hugo von Hofmannsthal und mit einem Nachwort von Karl Dyroff, 12 Bde., Leipzig 1907, hier Bd. 4, S. 104 bzw. S. 90.
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Unbemerkt blieb bislang, dass sowohl die Rahmenerzählung der »Geschichte vom Amgiad und Assad« als auch die Sammlung von Tausend und Einer Nacht von ehelicher Treue, Untreue und Rache handeln und damit thematisch einschlägig für die Traumnovelle sind. Wie der König Kamaralsaman seine beiden Frauen, die ihn mit seinen Söhnen Amgiad und Assad zu betrügen suchen, mit lebenslänglicher Gefangenschaft straft, und wie der Sultan Schahrjar den Treuebruch seiner ersten Frau rächt, indem er täglich neu heiratet und die Neuvermählte jeweils am nächsten Morgen köpfen lässt, bis ihn Scheheresade durch ihr Erzählen wieder gnädig zu stimmen vermag, so reagiert auch Fridolin auf Albertines außereheliche Phantasien mit einem »Rachewerk« (EII, 489). Die Parallelität von Fridolins erlebtem und Albertines erträumtem Abenteuer, die Schnitzler zu dem Arbeitstitel ›Doppelnovelle‹ veranlasste, ist in der Geschichte von Amgiad und Assad vorgegeben. Vor allem aber sind sowohl die Makrostruktur, Trennung und Wiedervereinigung, als auch die parallelen Handlungsstränge unverkennbar dem Märchen entlehnt. Ungeachtet der geschlechtlichen Differenz bezieht Kim das Ehepaar Fridolin und Albertine auf das Halbbrüderpaar Amgiad und Assad. Ihre These, dass das Prinzenpaar als »Handlungsmuster« die Ehekrise Fridolins und Albertines plausibilisiere, kommt allerdings nicht mit einer stabilen Rollenanalogie aus, sondern bedarf der zusätzlichen Annahme einiger Rollenwechsel und »Neubesetzungen«. Um die changierenden Bilder in Albertines Traum jeweils einem Ehepartner zuzuweisen, widmet Kim die Referenz mehrfach um: So spiele Fridolin in Albertines Traum zunächst die Rolle Amgiads, bevor Albertine selbst diese Rolle übernehme und Fridolin die Rolle Assads erhalte.49 Zudem bleiben in dieser Deutung die Frauenfiguren des Märchens unterbestimmt, etwa Amgiads rätselhafte Verführerin, oder die Königin Margiane, die »solchen Gefallen an Assad« fand, »dass sie ihn […] mit Gewalt zurückbehielt«.50 Auf die Märchenbezüge in Albertines Traumerzählung hat die Forschung zu Recht hingewiesen.51 So spricht Albertine von »orientalisch[en] Kleidern« (EII, 476) und beschreibt »eine ganz phantastische Stadt« aus ihrem Traum als »nicht orientalisch, auch nicht eigentlich altdeutsch, und doch bald das 49 50
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Kim, »›Ehe zwischen Brüdern‹«, bes. S. 272–279. Vgl. »Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad«, in: Dalziel’s illustrirte Tausend und Eine Nacht, S. 256–272, hier S. 267. Vgl. etwa Scheffel, »›Ich will dir alles erzählen‹«, S. 126, Freytag, Verhüllte Schaulust, S. 69, und Kim, »›Ehe zwischen Brüdern‹«, passim. Zu Albertines Traum vgl. allgemein Francesca Bravi, »›Traumnovelle‹ di Arthur Schnitzler. Il sogno di Albertine«, in: Michael Dallapiazza (Hrsg.), La novella europea. Origine, sviluppo, teoria, Rom 2009, S. 205–216.
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eine, bald das andere« (EII, 477).52 Wie sehr das Märchen als Traumreizquelle wirkt, zeigen wörtliche Übernahmen aus dem einleitenden Märchenzitat: So taucht Fridolin »mit einem Male« in Albertines Traum wie Prinz Amgiad auf, und seine Kleidung entspricht – ungeachtet der sexuellen Konnotation des »Dolches mit Silbergehänge« – der Kleidung eines Märchenprinzen: »Galeerensklaven hatten dich hergerudert, ich sah sie eben im Dunkel verschwinden. Du warst sehr kostbar gekleidet, in Gold und Seide, hattest einen Dolch mit Silbergehänge an der Seite und hobst mich aus dem Fenster. Ich war jetzt auch herrlich angetan, wie eine Prinzessin […]. Über uns aber war ein Sternenhimmel so blau und weit gespannt, wie er in Wirklichkeit gar nicht existiert, und das war die Decke unseres Brautgemachs. Du nahmst mich in die Arme und liebtest mich sehr.« (EII, 476f.)
Albertines Hochzeitstraum vermischt zentrale Substantive des Märchenfragments wie ›Galeere‹, ›Sklaven‹ und ›dunkelblauer, sternbesäter Nachthimmel‹ mit Urlaubserinnerungen. Während das Märchenzitat der vorgängigen Textfassung von 1922/23 noch eine Liebesgeschichte andeutete und so die erotische Umwidmung im Traum vorbereitete, ist dieser Bezug im Druck weggefallen. Das Substantiv »Purpurmantel« findet sich zwar in der Traumerzählung (EII, 479), wird aber auf die »Fürstin des Landes« übertragen, die über Fridolin ein »Todesurteil« verhängt, das sie unter der Bedingung aufheben würde, wenn er »ihr Geliebter zu werden« bereit wäre. Doch gehen, wie Kim gezeigt hat, die Allusionen auf das Märchen aus Tausendundeiner Nacht deutlich über das Zitatfragment hinaus und beziehen sich auf den Kontext der Geschichte von Amgiad und Assad. So rekurriert der Verlust der Kleider in Albertines Traum auf den Beginn des Märchens. Dort überlassen die Prinzen Amgiad und Assad ihre Kleider einem Diener, damit dieser sie ihrem Vater als Zeichen der angeblich vollzogenen Hinrichtung präsentiere.53 Auch die Szenerie im »Gebirge«, auf einer Wiese vor einer »Felswand« (EII, 476), ist dem Märchen entlehnt. Dort gelangen die Prinzen »an den Fuß eines anscheinend unersteiglichen, furchtbaren Gebirges […]«:
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Auf die Einflüsse des Orientalismus in der Traumnovelle hingewiesen hat jüngst Julie K. Allen, »Dreaming of Denmark. Orientalism and otherness in Schnitzler’s ›Traumnovelle‹«, in: Modern Austrian Literature, 42/2009, H. 2, S. 41–59. Albertine findet in ihrem Traum »orientalische« Kostüme anstelle ihres »Brautkleides« und ist selber »herrlich angetan, wie eine Prinzessin« (EII, 476). Und wie im Märchen die Prinzen Amgiad und Assad ihre Kleider einbüßen, verliert auch Fridolin, der zunächst als Prinz gekleidet ist, in Albertines Traum seine Kleider.
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Seiner Unwegsamkeit wegen überlegten sie jedoch lange, ehe sie zu dem muthigen Entschlusse kamen, darauf emporzuklimmen. Je weiter sie darauf vordrangen, desto höher und schroffer erschien ihnen das Gebirge. […] Mit all’ ihrem Eifer, ihrem Muthe und ihrer Anstrengung war es ihnen aber an diesem Tage nicht möglich, den Gipfel zu gewinnen. Die Nacht überraschte sie und Assad fühlte sich dermaßen ermüdet, dass er stehen blieb und zu seinem Bruder sagte: Ich kann nicht weiter […].54
Albertines erotischer Traum von dem Dänen,55 der »geradenwegs auf die Felswand zu[ging], […] als überlegte er, wie man sie bezwingen könnte«, verarbeitet unverkennbar diese Schilderung. Denn wie die Prinzen sich lange und wiederholt mühen, den Gipfel des Gebirges zu erreichen, so kommt auch der Däne, »der früher vor der Felswand stehengeblieben war«, mehrfach wieder und »blieb wie das erste Mal vor der Felswand stehen« (EII, 478, Hervorh. von mir). Evoziert bereits die architektonische Mischung von »Laubengängen« und »türkischem Bazar« der erträumten »phantastische[n] Stadt«, in die Fridolin eilt, den Märchenorient, so präzisiert Fridolins Absicht, dort Albertine »die schönsten Dinge« zu kaufen, den intertextuellen Bezug. Denn hier ist die Episode des Märchens nachgebildet, in der sich angesichts »einer grossen Stadt« die Brüder trennen56 und Assad seinem Bruder verspricht, »auf dem Rückwege Lebensmittel mit[zu]bringen«. Aber auch Albertines sadistische Traumvisionen, die Fridolin in »einem unterirdischen Kellerraum« erdulden muss, wo »Peitschen« so auf ihn »nieder[sausten]«, dass »das Blut […] wie in Bächen« an ihm »herab[floß]« (EII, 479), sind durch das Märchen induziert. Dort ist es Assad, der von dem Anführer der Feueranbeter »in den Kerker geworfen« wird, wo ihn »die Töchter des Greises« »entkleideten und schlugen […], bis er die Besinnung verlor«, und auch danach fortgesetzt »mit gleicher Grausamkeit« martern.57 54 55
56 57
»Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad«, S. 260. Dass sich die Dänemark-Bezüge nicht allein auf die Traumnovelle beschränken, sondern auch in anderen Werken Schnitzlers verhandelt werden, zeigt die vergleichende Analyse von Ernst-Ulrich Pinkert, »›Man weiss ja nie, was man irgendwo mitnimmt‹. Zu den Dänemark-Motiven in drei Werken von Arthur Schnitzler«, in: Karin Bang (Hrsg.), Aandelige rum = Geistige Räume. FS Wolf Wucherpfennig, Roskilde 2002, S. 245–262. »Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad«, S. 261. Ebd., S. 262 und 266. »Grausamkeit« attestiert sich Albertine in ihrer Traumerzählung selbst angesichts der Leiden Fridolins (EII, 479). In der von Stefan Zweig rezensierten deutschen Übertragung sind die sprachlichen Analogien noch stärker. Dort ist es eine »Sklavin«, die Prinz »Asad« »schwer« schlägt, »so dass ihm Ströme Blutes aus den Flanken liefen und er in Ohnmacht fiel« (Erzählungen aus tausendundein Nächten, Bd. 4, S. 90), und in den »Verse[n]«, in denen Asad seine Not reflektiert, findet sich folgende Stelle: »Mit Peitschen geißelt, verflucht, die Sklavin uns […]« (ebd.).
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Die intertextuellen Bezüge zur Geschichte von Amgiad und Assad beschränken sich nicht auf Albertines Traumerzählung, sondern erstrecken sich auch auf Fridolins nächtliche Abenteuer. Als Prätext tragen sie dazu bei, Fridolins Projektionen zu entwirklichen und Albertines Traum anzunähern. Auch wenn der Märchenbezug, wie gezeigt, in der Textfassung von 1922/23 noch deutlich stärker war, ist er in der Druckversion nicht gänzlich verschwunden. Das Prinzen- und Retter-Motiv bestimmt etwa Fridolins Besuch im Maskenfundus, wenn das Mädchen im Pierettenkostüm seinem Vater Gibiser vorschlägt: »Einen Hermelinmantel musst du diesem Herrn geben und ein rotseidenes Wams« (EII, 459).58 Sogar auf der Handlungsebene lassen sich Bezüge finden: Fridolins Begegnung mit der schönen Warnerin ähnelt Amgiads überraschender Begegnung mit einer unbekannten »lockende[n] Schöne[n]« die ihn, »den Schleier lüftend«, anspricht.59 Sowohl Assads unheimliche Zusammentreffen mit den heimtückischen Feueranbetern als auch die Abenteuer in dem rätselhaften Haus, in das Amgiad unberechtigt eindringt und wo ihm der Hausherr als Sklave verkleidet dient, lassen sich durchaus vergleichen mit Fridolins Erlebnissen in der fremdartigen Villa der Geheimgesellschaft. Ausdrücklich kommt das Prinzen-und-Prinzessinnen-Thema zur Sprache, als die Warnerin vom erzwungenen Selbstmord einer Frau berichtet, die einen Besucher der geheimen Gesellschaft habe retten wollen: »War es nicht ein Mädchen aus fürstlichem Hause, das mit einem italienischen Prinzen verlobt gewesen war?« (EII, 467). Auch die Vorstellung, ihm würde »die herrliche Frau als Preis zufallen« (EII, 467), wenn er sich nur »ritterlich« (EII, 468) aufführe, wirkt kaum situationsadäquat und zeigt, dass das Märchen als Prätext auch Fridolins nächtliche Abenteuer projektiv überformt. Mit der durch das Märchen angestimmten Sphäre lässt sich auch erklären, warum ›Wunder‹ einen Zentralbegriff der Traumnovelle darstellt: Es finden sich insgesamt 24 Belege, die sich von dem Wort ableiten lassen, allein das Verb ›(ver)wundern‹ kommt zehn Mal vor.60
58
59 60
Das Prinzenkostüm kontrastiert als Symbol einer Wunschexistenz mit dem Pilgerkostüm, für das sich Fridolin gezwungenermaßen entscheidet. »Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad«, S. 262. Mit ›Wunder‹ werden, wie etymologisch das althochdeutsche ›wuntar‹ (›Verlangen‹) zeigt, nicht nur unerklärliche Ereignisse bezeichnet, die für ein Märchen gattungsspezifisch sind, sie implizieren auch einen ›Wunsch‹. Tatsächlich sind sowohl in Albertines Traum als auch in Fridolins nächtlichen Erlebnissen die ›Wunder‹ und Begriffsderivate mit den diversen Objekten der Begierde kombiniert und illustrieren so außereheliche sexuelle Wünsche. Dies belegt erneut die Verknüpfung von Märchen und Traum (Märchen – Wunder – Wunsch – Wunschtraum).
Erzählperspektive und Realitätsstatus
4.
Erzählperspektive und Realitätsstatus
4.1.
Interne Fokalisierung
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Dass in der Druckfassung das Märchenmotiv abgeschwächt ist und Fridolin nicht mehr so oft fragt, ob er sich in einem Traum befinde, lässt sich mit der zunehmenden Personalisierung des Erzählens erklären. Der unsichere Wirklichkeitsstatus wird nun vorrangig durch die interne Fokalisierung Fridolins vermittelt und muss nicht mehr explizit gemacht werden. Vordergründig scheint die Traumnovelle einen ›heterodiegetischen‹, also außerhalb der erzählten Welt stehenden Erzähler zu haben, der objektiv über Fridolins Erlebnisse berichtet. Das erste Kapitel mit dem ›Medias in res‹-Einsatz – die Erzählung beginnt unvermittelt mit der wörtlichen Rede von Fridolins Tochter, die ihren Eltern ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht vorliest –, einem raffenden Erzählerbericht über den Maskenball am vorausgegangenen Abend und der Aussprache des Ehepaars in zitierter Rede lässt auf einen allwissenden (auktorialen) Erzähler schließen. Doch sukzessive wird deutlich, dass es sich um eine ›externe Fokalisierung‹ handelt, also um eine Erzählperspektive, in welcher der Erzähler weniger sagt, als die Figuren wissen. Und mehr und mehr verschwindet der auktoriale Erzähler hinter dem Protagonisten Fridolin. Fast unmerklich geht so auch der objektive Erzählgestus zugunsten einer ›internen Fokalisierung‹ verloren, in welcher der Leser nurmehr erfährt, was die Figur Fridolin weiß und wahrnimmt. Die interne Fokalisierung bestimmt bereits die Begegnung mit Marianne: »Und irgendwie spürte Fridolin auch den süßlich faden Geruch dieses blassen Mädchens« (EII, 441). Der offene Satzbeginn (»und«), die vage Intuition (»irgendwie«), die subjektive Bewertung (»süßlich fad«) und das Demonstrativpronomen (»dieses«) entsprechen Fridolins Wahrnehmungshorizont. In diesem Satz zeigt sich, dass der Erzähler nur das vermittelt, was Fridolin wahrnimmt und wie er das Erlebte bewertet. Somit ist auch die Beschreibung von Marianne nicht objektiv, sondern aus der Sicht Fridolins projektiv überformt. Die objektiv getarnte, personale Erzählweise ist für das Verständnis der Traumnovelle aus mehreren Gründen bedeutsam: Zum einen bleibt das Wissen des Lesers stark eingeschränkt, da seine Informationen von einer einzigen Figur abhängen, zum anderen lässt sich nicht mehr unterscheiden, was Fridolin tatsächlich erlebt und was er in seinen Gedanken – vor sich selbst, aber damit eben auch vor dem Leser – beschönigt, hinzufügt oder auslässt.61 61
Vgl. Scheffel, »Narrative Fiktion«, S. 190: »Im Rahmen einer personalen Erzählsituation, die zwischen dem zweiten und dem Anfang des siebten Kapitels domi-
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In der Traumnovelle interferieren so genannter ›Erzählertext‹ (neutrale Erzählinstanz) und ›Figurentext‹, der den Wahrnehmungs- und Bewusstseinshorizont einer dargestellten Person, hier Fridolins, spiegelt. Für den unmerklichen Wechsel ist etwa die Stelle charakteristisch, in der Fridolin von einer Dirne zum Mitkommen aufgefordert wird: »Seit seiner Gymnasiastenzeit hatte er mit einem Frauenzimmer dieser Art nicht zu tun gehabt. Geriet er plötzlich in seine Knabenjahre zurück, dass dieses Geschöpf ihn reizte?« (EII, 449). Der Fragesatz entspricht formal dem Muster der Erlebten Rede: Er kombiniert Fridolins Perspektive, die in der Frageform, dem Demonstrativpronomen und in der verharmlosenden Wendung »Geschöpf« aufscheint, mit dem Erzählertext, der sich durch Imperfekt und Verwendung der dritten Person auszeichnet. Doch bereits im Einleitungssatz, nämlich in der abschätzigen, mit einem Zeigegestus versehenen Wendung von »einem Frauenzimmer dieser Art« und in dem beschönigenden Verb »zu tun haben«, ist Fridolins Wahrnehmung wiedergegeben, die verdeutlicht, wie sehr er die Sexualmoral seiner Zeit verinnerlicht hat. Auch der Satz, mit dem die Mizzi-Episode und das dritte Kapitel schließen, zeigt paradigmatisch, wie Erzählertext und Figurentext sich nahezu ununterscheidbar in der Traumnovelle überlagern: Das Tor fiel hinter ihm zu, und Fridolin prägte mit einem raschen Blick seinem Gedächtnis die Hausnummer ein, um in der Lage zu sein, dem lieben, armen Ding morgen Wein und Näschereien heraufzuschicken. (EII, 451)
Suggerieren das Erzähltempus (Imperfekt) und die dritte Person einen neutralen Erzähler, so geben die Orts- und Zeitangaben (»hinter ihm«, »morgen«) ebenso unverkennbar Fridolins Perspektive wieder wie die Wendung vom »lieben, armen Ding«, mit der Fridolin vor sich selbst sein sexuelles Begehren karitativ verbrämt. Auch größere Passagen der Traumnovelle hat Schnitzler in solcher Form Erlebter Rede gestaltet, etwa wenn Fridolin mit sich selbst ins Gericht geht wegen seines feigen Verhaltens gegenüber dem provozierenden Verbindungsstudenten (EII, 448) oder wenn er sich bei seinen Nachforschungen selbst befragt und auch selbst antwortet: – Eine geheime Gesellschaft? Nun ja, jedenfalls geheim. Aber untereinander kannten sie sich doch? Aristokraten, vielleicht gar Herren vom Hof ? Er dachte an gewisse Erzherzöge, denen man dergleichen Scherze schon zutrauen konnte. Und niert, ist mit Hilfe von erlebter Rede, Gedankenzitat und Ansätzen des Inneren Monologs sprachlich gestaltet, was sich der durch Wien irrende Fridolin in dieser Form noch gar nicht bewußt gemacht hat. Scheinbar unmittelbar lässt sich verfolgen, wie Fridolin in der besonderen Atmosphäre einer lauen Vorfrühlingsnacht […] entrückt«.
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die Damen? Vermutlich … aus Freudenhäusern zusammengetrieben. Nun, das war keineswegs sicher. Jedenfalls ausgesuchte Ware. Aber die Frau, die sich ihm geopfert hatte? Geopfert? Warum er nur immer wieder sich einbilden wollte, dass es wirklich ein Opfer gewesen war! Eine Komödie. Selbstverständlich war das Ganze eine Komödie gewesen. (EII, 486)
Die atemlose Reihe von Fragen und Antworten, die assoziative Sequenz mit ständigen Selbstkorrekturen und Selbstberuhigungen, die mehreren verblosen Sätze ließen sich, wäre da nicht das Imperfekt, als Innerer Monolog oder innere Zwiesprache deuten. Solche Passagen uneigentlichen Inneren Monologs und Erlebter Rede erweisen die Traumnovelle als eine nur scheinbar objektive Erzählung; tatsächlich ist das Geschehen maßgeblich aus der Sicht Fridolins präsentiert. Die gut getarnte Subjektivierung durch Verschränkung der Figurenrede mit der Erzählerrede erfordert eine aufmerksame Lektüre, die bei der Bewertung der Informationen zwischen Fridolins Wahrnehmung und den tatsächlichen Geschehnissen unterscheiden und vermitteln muss.62 Vor allem aus Widersprüchen oder unlogischen Momenten lässt sich erschließen, wie sehr Fridolin die Geschehnisse bearbeitet. Augenfällig wird Fridolins projektive Überformung der Geschehnisse, als er aus der geheimen Gesellschaft verwiesen wird: »Wie von einer unsichtbaren Gewalt fortgetrieben eilte er weiter, er stand auf der Straße, das Licht hinter ihm erlosch […]. Aus der Tiefe der Gasse fuhr die Trauerkutsche vor, als hätte er nach ihr gerufen« (EII, 470). Die Passage wirkt so, als würden Fridolin und die Kutsche wie von Geisterhand geführt. Der Erzähler stellt die Erlebnisse als traumhaft und phantastisch dar. Identifiziert man jedoch die erlebende Figur mit dem Erzähler und berücksichtigt man den hohen Anteil von Personentext in der Erzählung, gewinnen die phantastischen Aspekte den Charakter einer Selbstrechtfertigung: Fridolin verlässt die geheime Gesellschaft zwar – in Anbetracht der Gefahr, die ihm dort droht –, präsentiert sich aber in der erzählenden Darbietung nicht als willentlich handelndes Subjekt, sondern als unwillkürlich getriebenes Objekt. Diese Relativierung des eigenen Handelns zeigt sich in der dominanten Wiederholung des Zeitadverbs »plötzlich« (über 40 Belege in der Novelle) und des Modaladverbs »unwillkürlich« (15 Belege): So wie in Albertines Traum alles »plötzlich«, und damit unvermittelt und unmotiviert 62
Zur hermeneutischen Tragweite von Wolf Schmids Text-/Stimmen-Schema vgl. die analoge Modellanalyse von Olaf Grabienski/Bernd Kühne/Jörg Schönert, »Stimmen-Wirrwarr? Zur Relation von Erzählerin- und Figurenstimmen in Elfriede Jelineks Roman ›Gier‹«, in: Andreas Blödorn/Daniela Langer/Michael Scheffel (Hrsg.), Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin 2006, S. 195–232.
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passiert, erlebt auch Fridolin vieles traumhaft, unerklärlich und eben plötzlich: »Plötzlich stand er neben [Mizzi]« (EII, 449), ebenso »plötzlich« erscheint die Warnerin auf dem Maskenball (EII, 463f. und 469f.), wie sich die Kavaliere anschicken, ihn des Balles zu verweisen: »Irgendein Arm griff plötzlich nach seinem Gesicht, wie um ihm die Maske herunterzureißen, als plötzlich die eine Tür sich auftat und eine der Frauen – Fridolin konnte sich nicht im Zweifel darüber befinden, welche es war – dastand, in Nonnentracht, so wie er sie zuerst erblickt hatte« (EII, 469). Das Zeitadverb verbindet so Fridolins Wahrnehmung mit dem Traum Albertines und entrückt die Ereignisse in eine traumhafte, unwirkliche Welt. Noch deutlicher dient die Verwendung des Modaladverbs »unwillkürlich« dazu, in der stark subjektivierten Erzählung Fridolins eigenes Handeln zu rechtfertigen oder zumindest als fremdbestimmt zu relativieren: »Unwillkürlich« tröstet er Marianne (EII, 444), »unwillkürlich« folgt er Mizzi (EII, 449). Besonders stark entschuldigt das Modaladverb schließlich Fridolins Verhalten in der Pathologie: Denn scheinbar ohne jeden eigenen Willen fühlt er sich zu der Toten hingezogen (EII, 500). Der häufige Einsatz beider Adverbien verdeutlicht Fridolins latentes Bestreben, sein eigenes Handeln als fremdgelenkt zu interpretieren und es somit als frei von jeglicher Schuld zu präsentieren. In der personalisierten Darstellung erscheinen die Ereignisse nicht mehr wie Akte des freien Willens, sondern als phantastisch, unerklärlich und fremdbestimmt: Wie sehr die Beschreibung der Geschehnisse von Fridolins tendenzieller Sichtweise bestimmt ist, wie sehr daher die Verfremdung wirklicher Ereignisse ins Traumhafte seinem Bedürfnis nach Selbstdarstellung entspringt, verdeutlicht die Beschreibung von Fridolins Rückzug aus der geheimen Gesellschaft.63 Das ›Mittelbewusstsein‹, in dem sich Wahrnehmung, Assoziationen und Tagträume mischen, ist der psychische Zustand, der in der Traumnovelle vorzugsweise dargestellt wird:64 Fridolin ist sich der Ereignisse und Erlebnisse 63
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Vgl. Perlmann, Der Traum, S. 189: »[…] Daß es seine Feigheit ist, die ihn ohne jeden Widerstand gegen den Diener in der Trauerkutsche vorwärts treibt, verschweigt er vor sich selbst.« Und weiter ebd., S. 191: »Der traumhafte Charakter der nächtlichen Erlebnisse Fridolins erklärt sich also nicht aus der Intention Schnitzlers, das ›Überwirkliche‹ darzustellen […], er erklärt sich vielmehr aus dem Bestreben, ein Spiegelbild von Fridolins Mittelbewußtem zu geben«. Vgl. Michael Haase, »Das ›mittelbewusste‹ Ich: Arthur Schnitzlers kritische Auseinandersetzung mit Freuds Psychoanalyse in der ›Traumnovelle‹«, in: Sascha Löwenstein/Thomas Maier (Hrsg.), Was bist du jetzo, Ich? Erzählungen vom Selbst, Berlin 2009, S. 177–196.
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durchaus bewusst, die in seiner Projektion überformt werden. Durch diese Art der Darstellung bleibt die Figur ambivalent, da der Leser selbst die objektiven Gegebenheiten und die Projektionen von Fridolins Mittelbewusstsein unterscheiden muss. Fridolin ist somit ein unzuverlässiger Erzähler, der dem Leser vorspielt, objektiv zu berichten, aber doch seine mehr oder weniger subjektive Version des Geschehens mitteilt. Fridolins Sicht überformt sogar diejenige Passage der Novelle, die Albertines Innenleben schildert: ihren Traum. Hier erscheint Albertine zwar als Binnenerzählerin und berichtet ausführlich in wörtlicher Rede; doch auch diese Episode wird aus der Perspektive Fridolins geschildert.65 Insgesamt lässt sich also festhalten, dass die Novelle von einem scheinbar auktorialen Erzähler in der dritten Person erzählt wird, dass diese Perspektive sich aber weitgehend mit Fridolins subjektiver Sicht deckt und daher projektiv überformt ist. Da Fridolins Projektionen literarisch präformiert sind, sind die intertextuellen Bezüge ein wichtiges Moment zum Verständnis der Erzählung. 4.2.
Phantastisches Erzählen
Bis heute streitet die Forschung, ob die Traumnovelle eine phantastische oder eine realistische Erzählung sei. Der ›phantastischen Literatur‹ zugerechnet werden Texte, die aus zwei oppositionellen erzählten Welten bestehen, deren eine als in der Wirklichkeit möglich (›real-mögliche Welt‹) erscheint, in die eine andere, ›unwirkliche‹ oder ›real-unmögliche Welt‹ einbricht.66 Dementsprechend wird im phantastischen Erzählen die Wirklichkeit nicht außer Kraft gesetzt, sondern unmerklich unterminiert und in Frage gestellt. Klassische dualistische Strukturen werden dem phantastischen Genre nicht gerecht. Während das Zwei-Welten-Modell in früheren Literaturepochen oft überdeutlich markiert war, kennt die moderne phantastische Literatur fließende Übergänge. Zum phantastischen Erzählen tragen vor allem folgende narrative Techniken bei: zum einen Erzählstrategien, welche die Verschränkung der zwei Welten plausibilisieren; zum andern die subjektive Erzählsituation, welche die Vermischung kaum noch objektivierbar werden lässt; drittens ein typi65
66
»Denn der Traum, den Albertine gerade zu Ende träumt, als ihr Ehemann nach Hause kommt, ist ebenso im Rahmen der Erzählung wie für Fridolin im Kontext des Erzählten nur als erzählte Geschichte gegenwärtig« (Scheffel, »Narrative Fiktion«, S. 187). Im Unterschied zum Märchen, das außerhalb der Wirklichkeit liegt, schildert das Phantastische den Einbruch des Wunderbaren in die Wirklichkeit, die Unterscheidung von ›möglich‹ und ›unmöglich‹ wird im Text selbst ausgetragen.
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sches Setting von Räumen und Motiven und viertens intertextuelle Anleihen bei Vorbildern phantastischen Erzählens. In ihrem Zusammenspiel lassen diese Elemente den Leser in seinem Urteil über den Realitätsstatus des Textes unschlüssig werden. Diese ›Unschlüssigkeit‹, klassisches Kriterium der ›phantastischen Literatur‹, bestimmt auch die Traumnovelle.67 4.2.1. Zum Realitätsstatus der Traumnovelle Schnitzlers Traumnovelle ist ein Musterbeispiel modernen phantastischen Erzählens, da sich die zwei oppositionellen Welten, die ›real-mögliche‹ und die ›real-unmögliche‹, nicht voneinander trennen lassen. Das unauflösliche Ineinander von Traum und Wirklichkeit macht gerade den ästhetischen Reiz der Erzählung aus. Schnitzler gebraucht zwar die moderne Technik der nachträglichen Plausibilisierung, wenn er im Stil einer analytischen Erzählung Fridolin durch nüchterne Nachforschungen am folgenden Tag die phantastischen Erlebnisse der Nacht aufklären lässt.68 Doch lösen Fridolins Bemühungen nicht wie im Detektivroman die Rätsel, sondern schaffen vielmehr neue Rätsel, welche das mysteriöse Ereignis noch stärker mit der prosaischen Wirklichkeit verschränken. Phantastische Erzählungen sind meist Ich-Erzählungen. So kann der Leser die erzählte Welt nur aus der Wahrnehmungsperspektive des Protagonisten rekonstruieren, ohne dessen Projektionen leicht als solche zu erkennen. Von diesem gängigen Erzählmodus der phantastischen Literatur weicht Schnitzler ab, indem er statt der Ich-Erzählung einen scheinbar objektiven Erzählmodus wählt. Beschränkt sich das Wissen des Lesers einer Ich-Erzählung auf das restringierte Wissen des erzählenden bzw. erlebenden Ichs, so scheint die Objektivierung in der Er-Erzählung größere Distanz zum Geschehen zu verbürgen. Doch unterläuft Schnitzler diese Objektivität, indem 67
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Den Einbruch des ›Unwirklichen‹ in die ›real-mögliche Welt‹ plausibilisieren vor allem drei Erzählstrategien: 1. Die phantastischen Elemente erweisen sich nachträglich als Traum, Halluzination oder Wahnsinn des Erzählers bzw. eines Wahrnehmungssubjekts. 2. Die phantastischen Elemente werden als scheinbar unwirkliche relativiert und in der erzählten Welt als ›real-mögliche‹ beglaubigt. 3. Der Status des Phantastischen bleibt ambivalent. Für alle drei Erzählverfahren gilt: Reale und unwirkliche, mögliche und unmögliche Textwelten sind nicht mehr scharf voneinander getrennt, sondern gehen unmerklich ineinander über. Die Unschlüssigkeit, ob es sich um Traum oder Wirklichkeit handelt, wird zum entscheidenden Merkmal phantastischer Literatur. Vgl. Lukas, Das Selbst, S. 103–105, der das »Weg-Ziel-Modell« als »Selbstfindung« deutet.
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er das Geschehen tatsächlich nur ›einsinnig‹, aus der Sicht Fridolins, präsentiert. So erhält der Leser kaum biographische Informationen über die Personen der Traumnovelle, die auch in der physiognomischen Beschreibung ganz undeutlich bleiben und entweder nur beim Vornamen (Fridolin, Albertine, Marianne, Mizzi) oder Nachnamen (Nachtigall, Dr. Roediger, Dr. Adler) genannt werden. Auch bleibt die Vorgeschichte des Ehepaars so fragmentarisch, dass das Bild, das sich der Leser von der Beziehung machen muss, keinen rechten Rückhalt findet. Als Merkmale phantastischen Erzählens hat die Forschung typische Orte und Motive bestimmt: Maske, Ruine, Labyrinth, verlassene Häuser, unaufgelöste Nachrichten und Botschaften, Traumsymbole.69 Die meisten Elemente finden sich auch in Schnitzlers Traumnovelle. Doch – und dies macht eine weitere Besonderheit von Schnitzlers phantastischem Erzählen aus – bleibt das Setting keineswegs gleich, sondern ändert sich dynamisch.70 So nehmen die phantastischen Elemente in Fridolins nächtlichem Abenteuer sukzessive zu, erreichen ihren Höhepunkt beim Maskenball der geheimen Gesellschaft, um dann wieder zugunsten einer zunehmend realistischen Schilderung zurückzutreten. Der Übergang aus der scheinbar realen in die scheinbar traumhafte Welt wird unmerklich verdeckt, weil die Requisiten des Phantastischen, vor allem die Maske, ebenso sehr in der ›real-möglichen‹ wie in der ›real-unmöglichen‹ Welt vorkommen. Typisch für die phantastische Literatur der Klassischen Moderne – so auch bei Franz Kafka, Alfred Kubin oder Gustav Meyrink – ist der Eingang der Traumnovelle keineswegs phantastisch. Präsentiert wird vielmehr das realistische Bild einer bürgerlichen Familie. Die wiedererkennbare Wirklichkeit steigert die Authentizität des Phantastischen. Dazu passt, dass zahlreiche verbürgte Straßennamen und Schilderungen in naturalistischer Detailtreue mitgeteilt werden. Die Wiener Realien, die Detailschärfe der Darstellung, die Präzisierung olfaktorischer Momente (Gerüche) und die Temperaturangaben bestätigen die protokollhafte Wirklichkeitstreue der Schilderung. Auch die Authentifizierung des phantastischen Geschehens durch Wiederholung, durch Fridolins erneutes Aufsuchen der Plätze am nächsten Tag, trägt dazu bei, dem Geschehen den Anschein des Realen zu verleihen. 69
70
Vgl. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt/M. 1992; Uwe Durst, Theorie der phantastischen Literatur, Berlin 22007, diskutiert im ersten Kapitel ausführlich Todorovs Theorie und andere Theorien der phantastischen Literatur. Michael Imboden, Die surreale Komponente im erzählenden Werk Arthur Schnitzlers, Bern und Frankfurt/M. 1971, S. 51–65, sieht einen »subjektiven Raum, den innerseelische Personen und Vorfälle bevölkern«, im Widerstreit mit »der aktuellobjektiven Wirklichkeit« (ebd., S. 56).
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Traumnovelle
Da die Erzählung nur vordergründig einen souveränen Erzähler hat, tatsächlich aber vorrangig den Wahrnehmungs- und Bewusstseinshorizont Fridolins wiedergibt, ist es schwer zu entscheiden, wie weit die Affinitäten zur phantastischen Literatur figural oder narratorial motiviert sind. Intertextuelle Bezüge, wie sie Fridolin während seiner nächtlichen Odyssee erlebt, können durchaus auch von seinen eigenen Lektüreerlebnissen geprägt und beeinflusst sein. So prägt das Märchen aus Tausendundeiner Nacht als Reizquelle nicht nur Albertines Traum, sondern auch Fridolins nächtliche Erlebnisse. Wie im tagträumerischen Zustand die projektive Überformung zunimmt, so befindet sich auch Fridolin, wie der Erzähler immer wieder betont, in einem Zustand reduzierter Aufmerksamkeit: Zum einen sucht er Albertines Bekenntnis ihrer außerehelichen sexuellen Wünsche zu verarbeiten, zum andern hat er die kränkende Provokation eines Burschenschafters zu verkraften, zum dritten schränkt ihn in seiner Konzentration das FöhnWetter ein und zum vierten ist er möglicherweise von einem an Diphtherie erkrankten Kind angesteckt worden. So überlagern sich in Fridolins Projektionen die Wahrnehmungen mit Erinnerungen, Kränkungen und Wünschen, Gesehenes vermischt sich mit Gehörtem, Erinnertem und Gelesenem. Die Vermischung von Erlebtem und Gelesenem zeigt sich vorrangig beim Maskenball der geheimen Gesellschaft, in dem der Wirklichkeitsstatus von Fridolins nächtlichen Abenteuern kaum noch der Realitätsprüfung standhält. Schon die unheimliche Hin- und Rückfahrt erinnern in ihrer überzeichneten Schilderung an das Genre der Schauerliteratur, auch wenn sie – wie die übertriebenen Raumvorstellungen – als Projektionen Fridolins relativiert werden: Zunächst geht es mit der Kutsche »abwärts wie in eine Schlucht« (EII, 462). Der Abbildungsfunktor ›wie‹ signalisiert noch eine Differenz, die in der Wiederaufnahme der Projektion wegfällt, aber durch einen alternativen Erzählerkommentar als Einbildung objektiviert wird: »Die Trauerkutsche vor ihm fuhr eben tiefer in die Schlucht hinab oder in das Dunkel, das ihm so erschien« (EII, 462). Die sich gleichzeitig wie von selbst öffnenden Türen im schwarzen Saal (»Türen rechts und links hatten sich aufgetan« [EII, 464], »die Türen nach beiden Seiten schlossen sich« [EII, 468]) werden im Tür-Mechanismus der geheimnisvollen Kutsche wiederaufgenommen: »Beide Türen öffneten sich gleichzeitig wie durch einen Mechanismus, als wäre nun Fridolin ironischerweise die Wahl zwischen rechts und links gegeben. Er sprang aus dem Wagen, die Türen klappten zu – […]« (EII, 472). Auch die geheime Gesellschaft selbst greift vorgängige Motive und Wahrnehmungen Fridolins auf, so dass sie wie eine traumhaft gesteigerte Wiederholung wirkt.
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4.2.2. Prätexte zur ›geheimen Gesellschaft‹ Der Maskenball der geheimen Gesellschaft ist vor allem einem klassischen Text der phantastischen Literatur nachgebildet: Edgar Allan Poes kurzer Erzählung The Masque of the Red Death aus dem Jahr 1842.71 Darin schließt sich während einer tödlichen Epidemie eine adlige Gesellschaft von der Außenwelt ab, um die letzten Tage im orgiastischen Rausch bei Maskenbällen zu verbringen, bis eine unbekannte Maske, als Eindringling entlarvt und gewaltsam demaskiert, sich als der ›rote Tod‹ selbst entpuppt. Nicht nur die Dialektik von Lust und Todesgefahr, auch den Maskenball der geschlossenen Gesellschaft und die musikalische Untermalung greift die Schilderung der geheimen Gesellschaft in der Traumnovelle auf. Sogar die Beschreibung des letzten unheimlichen Raumes in Poes Masque of the Red Death ähnelt Fridolins Wahrnehmung des »dämmerigen, fast dunklen hohen Saal[s], der ringsum von schwarzer Seide umhangen war« (EII, 463): Die Wände des siebenten Zimmers aber waren dicht mit schwarzem Sammet bezogen, der sich auch über die Deckenwölbung spannte und in schweren Falten auf einen Teppich von gleichem Stoffe niederfiel.72
Fridolin verhält sich als ungebetener Gast auch zunächst so, als wäre er der Pesttod in Poes Erzählung, welcher der geschlossenen Gesellschaft den Garaus macht. Selbst die Aufforderung, sich als unwillkommener Eindringling zu demaskieren (»Die Maske herunter!« [EII, 469]), Fridolins Weigerung (»Ich nehme sie nicht ab […] und wehe dem, der es wagt, mich zu berühren« [EII, 469]) und der Vorwurf des gotteslästerlichen Verhaltens finden sich bei Poe vorgeprägt: »Wer wagt es«, fragte er [Prinz Prospero] mit heiserer Stimme die Höflinge an seiner Seite, »wer wagt es, uns durch solch gotteslästerlichen Hohn zu empören? Ergreift und demaskiert ihn, damit wir wissen, wer es ist, der bei Sonnenaufgang an den Zinnen des Schlosses aufgeknüpft werden wird!«73
Neben Poes klassischer Erzählung spielen in Fridolins traumhafte Überformung der geheimen Gesellschaft weitere Lesefrüchte hinein. Zum einen ist an das in der frühneuzeitlichen Erzähltradition topische Motiv vom Liebes71
72
73
Poes Erzählung spielt in der deutschsprachigen phantastischen Literatur der Klassischen Moderne eine wichtige Rolle, vgl. Peter Cersowsky, Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, München 1989, bes. S. 144–148. Poe ist in Schnitzlers Lektüreliste angeführt (LL GB37). Edgar Allan Poe, »Die Maske des roten Todes [The Masque of the Red Death]«, in: Ders., Werke, Bd. 5: Phantastische Fahrten, Theodor Etzel (Hrsg.), Berlin [1922], S. 47–52, hier S. 48. Poe, »Die Maske«, S. 51.
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Traumnovelle
abenteuer bei der unbekannten Dame zu denken. In der deutschen Erzählliteratur sei neben Georg Philipp Harsdörffers Novelle Das gefährliche Vertrauen an die ›Beau Alman‹-Episode in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch erinnert, die Schnitzler gut kannte.74 Nachdem Simplicius an einen unbekannten Ort geführt wurde, treten »drey heroische junge Damen in den Saal/ welche ihre Alabaster-weisse Brüste zwar ziemlich weit entblöst trugen/ vor den Angesichtern aber ganz vermasquiret«.75 Nicht nur die Beschreibung der maskierten, entblößten Schönen, auch das weibliche Begehren stimmt mit Fridolins Projektion überein: Wie sich bei Grimmelshausen die vier nackten Damen unerkannt mit Simplicius vergnügen, so imaginiert sich auch Fridolin ein erotisches Abenteuer mit der aufopferungsbereiten Warnerin. Und schließlich entspricht Fridolins Abgang dem Abzug des Simplicius: Diesen setzt man nach acht Tagen erotischer Dienste »mit verbundenen Augen/ in eine zugemachte Gutsche/ […] alsdann fuhr die Gutsche wieder schnell hinweg«.76 Neben dieser novellistischen Tradition ähnelt Fridolins Abenteuer in der geheimen Gesellschaft strukturell und konstellativ Episoden im Geheimbundroman, der Mittel des Schauerromans mit dem Motiv der geheimen Gesellschaft kombinierte.77 Auch wenn dieser Romantyp seinen Höhepunkt in der Spätaufklärung hatte, wirkte er im Trivialroman des 19. Jahrhunderts fort. Hierauf spielt die Schilderung der geheimen Gesellschaft sichtlich an. 74
75 76 77
Vgl. Georg Philipp Harsdörffer, »Das gefährliche Vertrauen«, in: Ders., Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte, 2 Bde. (Frankfurt und Hamburg 1664) Hildesheim und New York 1978, V 103, und Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Werke I 1: Der abentheurliche Simplicissimus Teutsch, Dieter Breuer (Hrsg.), Frankfurt/M. 1989, IV 4–5, S. 361–370. Die Episode geht auf Matteo Bandello zurück. Harsdörffer kannte sie wohl aus François de Belleforest, vgl. Günther Weydt, Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen, Bern und München 1968, bes. S. 47–58, doch Grimmelshausen verdankt sie wahrscheinlich Harsdörffer. Vgl. dazu Jean Schillinger, »Simplicissimi erotische Abenteur in Paris«, in: Simpliciana, 31/2009, S. 161–181. Leonard Forster, »Beau Allemand et le Beau Escuyer Gruffy: Une source française pour Grimmelshausen?«, in: Etudes Germaniques, 2&3/1952, S. 161–163, hat eine Episode aus Brântomes Leben der galanten Damen als mögliche Quelle geltend gemacht, die Schnitzler ebenfalls nachweislich kannte. Pierre de Bourdeille, Seigneur de Brantôme: Das Leben der galanten Damen [Les vies des dames galantes], Übers. von Willy Alexander Kastner, Leipzig [1904], S. 161–169. Schnitzlers Vertrautheit mit Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch ist durch mehrere Tagebucheinträge aus den Jahren 1906, 1916 und 1917 gut belegt. Grimmelshausen, Simplicissimus, S. 367. Ebd., S. 370. Vgl. dazu Michael Voges, Aufklärung und Geheimnis: Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987.
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Ein gutes Beispiel für diese Systemreferenz, in der ich eine stark literarisch überformte Projektion Fridolins sehe, bietet der Geheimbundroman Die Freimaurer von Gustav Kühne.78 Kühne, bedeutender Repräsentant des Jungen Deutschland, stellt in den Freimaurern die maßgeblichen Geheimbünde im deutschen Kulturleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts historisch dar und verarbeitet dabei metapoetisch auch die Tradition dieses Romantyps. Gerade in der Schilderung der Vorführung eines Scharlatans auf einem Maskenball und in der »Einweihung zum Rosenkreuzer« weist der Roman deutliche Entsprechungen zu dem Maskenball der geheimen Gesellschaft Schnitzlers auf. So wird der Ich-Erzähler bei der Bitte um Einlass in eine geheime Gesellschaft mit der »Forderung der Parole« konfrontiert,79 ihm werden die Augen verbunden, man sinnt ihm »ein dunkles Gewand nebst Stab und Pilgerhut«80 an und droht ihm mit dem Tode, wenn er das Schweigegelübde breche. Aber auch typische Merkmale des Schauerromans wie die sich von selbst schließenden Türen (»ein Thorflügel, der hinter uns zufiel«81) begegnen in Kühnes Geheimbundroman. Daneben lassen sich die mehrfachen figuralen Hinweise auf ein »Doppelleben«, in denen Fridolin sich Wunschexistenzen ausmalt, durchaus als literarische Anspielungen auf eine Reihe von Romanen deuten, die das Wort ›Doppelleben‹ im Titel führen und in der Tradition des Doppelgänger-Motivs zerrissene Doppelnaturen präsentieren. Einschlägiges Muster ist der Roman Doppelleben (1865) von Wilhelmine von Hillern,82 die in Schnitzlers Leseliste allerdings nur mit der Geier-Wally vertreten ist. Doch ist dieser Roman in seiner schematischen Anlage so typisch, dass auch er als Beispiel einer Systemreferenz dienen kann, zumal die Affinitäten zum Schauer- und Geheimbundroman eng sind. So erkennt von Hillerns Held, Heinrich von Ottmar, im Selbstgespräch mit seinem Spiegelbild das Nebeneinander einer altruistischen Natur (Heinrich) und einer egoistischen Natur (Henri): »Statt zweier Naturen lebten nur zwei getrennte Hälften in ihm, statt doppelt zu genießen, 78
79 80 81 82
Gustav Kühne, Die Freimaurer. Eine Familiengeschichte aus dem vorigen Jahrhundert, 3 Bde., Frankfurt/M. 1855 (Bibliothek der Deutschen Literatur, 3211/12). Ich zitiere im Folgenden nach der zweiten Auflage (3 Bde., Leipzig 1867). Zu Kühne als wichtigem Vertreter des Jungen Deutschland vgl. die informativen Artikel von Johannes Proelß, »Kühne, Gustav«, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 51/1906, S. 431–435, und Fritz Martini, »Kühne, Gustav«, in: Neue Deutsche Biographie, 13/1982, S. 198f. Kühne, Die Freimaurer, Bd. 2., S. 282. Ebd., S. 442. Ebd., S. 290. Wilhelmine von Hillern, Doppelleben, Berlin 1865. Ich zitiere im Folgenden nach dieser Ausgabe – Vgl. LL D206.
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genoß er nur halb«.83 Diese »innere Zerrissenheit«84 sucht Heinrich vergeblich bei dem Jesuitenorden in Rom zu überwinden. Er verlässt den Orden enttäuscht, gilt jedoch als Legationsrat in H. einigen als verkappter Ordensbruder. Auch wenn ihn die Prinzessin heimlich bei einem Hofball warnt, dass man seine antijesuitische Politik »für eine Maske« halte,85 frönt er weiter seiner amoralischen Natur. Als sein Vorhaben, ein unschuldiges Mädchen namens Röschen zu verführen, durch den überraschenden Besuch eines Jesuitenpaters und seinen alten Diener verhindert wird, entscheidet er sich für das Laster: »Es war kein Traum, er hatte alles wirklich unwiderruflich gethan und erlebt! ›Was begonnen ist, muß vollendet werden‹, sagte er mit finstrem Entschluß und erhob sich, um seinen unseligen Lebenswechsel einzuleiten«.86 Zwar entdeckt Heinrich/Henri durch die späte Wiederbegegnung mit Röschen seine gute Natur wieder, doch ähnelt Fridolins Wunsch nach einem »Doppelleben« und sein Entschluss, die »abgebrochenen Abenteuer« (EII, 473) zu Ende zu führen, sehr den zerrissenen Romanhelden des 19. Jahrhunderts.87 Schließlich evoziert die Darstellung der geheimen Gesellschaft die satanische Messe aus Joris-Karl Huysmans’ Roman Là-bas (1891), Kapitel 19, in dem eine erotisch-satanische Gegenwelt in geistlichen Kostümen zelebriert wird. Der Dichter Durtal erhält durch seine Geliebte Hyacinthe Chantelouve Zugang zu dieser heimlichen Messe des Satanisten Docre. Sowohl der geheime Zugang als auch die Mischung von Sakralem und Sexuellem beider Gegenwelten stimmen überein, und während in Schnitzlers geheimer Gesellschaft die Musik eine entscheidende Rolle spielt, prägt Huysmans’ drastische Schilderung das olfaktorische Moment. Der Hexensabbat gipfelt bei Huysmans in der schamlosen Entblößung und im Geschlechtsakt, den Durtal angewidert abbricht.88 Auch wenn Schnitzler die Lektüre dieses Romans weder in der Leseliste noch im Tagebuch erwähnt hat, darf man die Kenntnis des seinerzeit berüchtigten Werks sicherlich annehmen.89 Die Analogien be83 84 85 86 87
88
89
Hillern, Doppelleben, S. 34. Ebd., S. 29. Ebd., S. 61. Ebd., S. 111. Vgl. die Psychologisierung des Doppelgängers durch Otto Rank, Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, (Leipzig, Wien und Zürich 1925) Wien 1993. Soweit ich sehe, geht Rank aber auf die »Doppelleben«-Konzepte der modernen Romane nicht ein. Durtal ist ernüchtert, als er »auf dem Lager Brocken einer Hostie« entdeckt (Kapitel 19). Die bis heute maßgebliche Übersetzung des Romans war kurz vor der entscheidenden Phase der Arbeit an der Traumnovelle erschienen: Joris Karl Huysmans, Tief
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treffen nicht nur die Maske, sondern auch die Funktion der Szene. Die hemmungslose Sexualität führt bei Schnitzler wie bei Huysmans den Helden zur Desillusion, Einsicht und Wandlung. Der phantastische Maskenball weicht der nüchternen Wirklichkeit. 4.3.
Fridolins literarisches Erleben – figurale Allusionen
In Fridolins Erlebnissen begegnen in verfremdender Weise immer wieder Motive aus dem Märchen, das die Tochter vorgelesen hat. Diese Rekurrenzen verstärken den durch die zunehmende interne Fokalisierung gesteigerten Eindruck, dass vielleicht nicht alles, was er erlebt, auch ›wirklich‹ stattfindet, sondern literarisch überformt ist. Zu dieser Literarisierungstendenz trägt aber keineswegs nur das Märchen als maßgeblicher Subtext bei, sondern zahlreiche weitere intertextuelle Bezüge. Hierzu zählen architextuelle Muster, die nicht einzeltextspezifisch, sondern genretypisch sind. Das Geschehen der Traumnovelle wirkt in vielen Aspekten literarisch präformiert, ohne dass sich dies auf einen bestimmten Prätext zurückführen ließe. So finden sich besonders im Mittelteil Elemente, die seit dem Schauerroman, der ›Gothic novel‹, genretypisch sind für phantastisches Erzählen, wie noch genauer zu erläutern sein wird: Dinge gewinnen ein Eigenleben, wie sich von selbst öffnende und schließende Türen, große Entfernungen werden rasch überwunden, Nacht und Dämmerung entwirklichen das Geschehen, Ereignisse überschlagen sich. Daneben nimmt die figural motivierte Intertextualität einen großen Raum ein. Fridolin selbst ist belesen und überformt Geschehnisse in seiner Phantasie nach seinen Lektüren.90 So fällt ihm bei Marianne, die ihm ihre Liebe gesteht und die er »beinahe unwillkürlich« küsst, eine analoge Romanepisode ein: »Plötzlich erinnerte er sich eines Romans, den er vor Jahren gelesen und in dem es geschah, dass ein ganz junger Mensch, ein Knabe fast, am Totenbett der Mutter von ihrer Freundin verführt, eigentlich vergewaltigt wurde«
90
unten [Lá-bas], übers. von Victor Henning Pfannkuche, Potsdam 1921. Huysmans war für die Wiener Moderne ein wichtiges Vorbild; so hat Peter Altenberg, Wie ich es sehe, Berlin 1896, ein Zitat aus À Rebours als Motto vorangestellt. Auch bei Arthur Schnitzler wurden Huysmans-Spuren gefunden, so im Falle der Blumen (vgl. Bettina Matthias, Masken des Lebens. Gesichter des Todes. Zum Verhältnis von Tod und Darstellung im erzählerischen Werk Arthur Schnitzlers, Würzburg 1999, S. 91, Anm. 88) oder des Anatol (vgl. Roger Bauer, Die schöne Décadence. Geschichte eines literarischen Paradoxons, Frankfurt/M. 2001, S. 302). Auch die übrigen Figuren nehmen in literarischen Mustern wahr. So tritt etwa Albertine in ihrem Traum »wie eine Schauspielerin auf die Szene« (EII, 476).
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(EII, 444). Diese Assoziation zielt zwar auch auf das Märchen als Subtext, wo die Mütter von Amgiad und Assad jeweils den Sohn der Freundin begehren, aber eindeutig der Prätext dieser Konstellation scheint mir Der »Wilde Mann« und das »Feuerzeug«, eine »Familiengeschichte« von Otfried Mylius zu sein. Schnitzler erwähnt zwar die Lektüre dieses Romans weder im Tagebuch noch in der Leseliste, doch kannte er andere Werke von Karl Müller (1819–1889), der unter dem Pseudonym Otfried Mylius so populär war, dass Schnitzlers Kenntnis des Romans durchaus wahrscheinlich ist. Der »Wilde Mann« und das »Feuerzeug« schildert, wie die verwitwete Frau Beate ihrer Jugendliebe Ludwig Robert in Gestalt eines Reiteroffiziers der preußischen Besatzungsarmee wiederbegegnet – die Begegnung ereignet sich im nachrevolutionären Süddeutschland 1849. Der frühere Apothekergehilfe Robert, unter dem Namen Dr. Meding zum preußischen Bataillonsarzt aufgestiegen, gesteht schließlich Beate am Totenbett ihres kränklichen sechsjährigen Sohnes Richard seine Liebe: Und in ihrer Verzweiflung legte sie Hände und Haupt unbewußt auf Meding’s Schulter. »Herr, hilf! Herr, gib mir die Fassung und Kraft! Es ist das Liebste, was Du mir vollends entziehst!« Und die Kraft schien die arme Mutter zu verlassen – ihre Kniee wankten und ohne Ludwigs schützende Arme wäre sie zu Boden gesunken. Er aber trug sie zum Lehnstuhle, bettete sie hinein und verschwendete alle Liebe und Sorge an sie, deren er nur fähig war. Sie kam wieder zu sich, und sah, dass er vor ihr kniete und ihre Hand an seinen Mund drückte und mit Küssen bedeckte und mit Thränen. »Ludwig«, flüsterte sie, »was soll das seyn?« »Verzeihung, Beate! ich konnte nicht anders,« entgegnete er. »Ich habe Ihnen unbewußt oft wehe gethan und in meiner Bitterkeit Ihnen gegrollt; darum legt mir die Vorsehung jetzt die Pflicht auf, in dieser schweren Stunde als Freund zu Ihrer Seite zu stehen; allein ehe ich dieß kann, muß ich mein Unrecht abbüßen! O lassen Sie mich so knieen, Beate!« »Nein, stehen Sie auf, Ludwig! an mir wäre es, so vor Ihnen zu knieen […]. Glauben Sie meinem ernsten Geständniß in dieser ernsten Stunde, angesichts dieses sterbenden Kindes […]: ich habe Sie inniger geliebt, da ich Sie verloren hatte, als ich Sie je in glücklichem Besitze geliebt haben würde!« »Und ich, Beate, auch ich habe nie aufgehört, Dich zu lieben!« entgegnete Meding. »Hier, an diesem Sterbebette, wo alles Irdische so werthlos erscheint, darf ich es ja wohl gestehen, ohne einen Frevel zu begehen oder eine Sünde wider den Geist: ich liebe Dich jetzt inniger als je, obschon hoffnungsloser!« Und er senkte von neuem sein Haupt auf ihre Hände und küßte diese.91 91
Otfried Mylius, »Der ›Wilde Mann‹ und das ›Feuerzeug‹. Eine Familiengeschichte«, in: Erheiterungen, 35/1863, S. 1–20, 68–79, 81–97, 146–152, 179–192, hier S. 191. Erste Buchausgabe unter dem Titel: Der Wilde-Mann und das Feuerzeug. Eine bürgerliche Familiengeschichte, Stuttgart 1868 (Familien-Geschichten, 2), hier S. 216f. [mit minimalen orthographischen Varianten, hier zitiert nach der Journalfassung].
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Als Markierung des Prätexts in der Traumnovelle kann das von Mariannes Bruder gemalte Bild gelten, das »einen Offizier« darstellt, »der einen Hügel hinuntersprengt« (EII, 443) – genau so, nämlich als Reiteroffizier, erblickt Beate ihren Jugendgeliebten. Die Passage in Schnitzlers Traumnovelle, die Fridolins Roman-Reminiszenz vorausgeht, verdeutlicht die situative und konstellative Analogie des Liebesgeständnisses am Totenbett zu der Mylius-Passage. Sie ist durch den Offizier, das Niederknien, die Küsse und Tränen am Totenbett deutlich markiert, auch wenn sie in charakteristischer Inversion der Geschlechtsrollen wiederholt wird: In der Traumnovelle ist es die Frau, die vor dem Arzt kniet und ihn unter Tränen umarmt und küsst. Während bei Mylius Beate den vor ihr knienden Ludwig auffordert, aufzustehen (»Nein, stehen Sie auf, Ludwig! an mir wäre es, so vor Ihnen zu knieen«), spricht in der Traumnovelle Fridolin diese Aufforderung aus: »Stehen Sie doch auf, Marianne«. Bezeichnenderweise ereignet sich das Liebesgeständnis in dem Mylius-Roman »an dem Totenbett des einzigen Kindes«,92 und nicht, wie sich Fridolin zu erinnern meint, »am Totenbett der Mutter«: Sie hörte kaum, was er sagte. Ihre Augen wurden feucht, große Tränen liefen ihr über die Wangen herab, und wieder verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Unwillkürlich legte er seine Hand auf ihren Scheitel und strich ihr über die Stirn. Er fühlte, wie ihr Körper zu zittern begann, sie schluchzte in sich hinein, kaum hörbar zuerst, allmählich lauter, endlich ganz ungehemmt. Mit einemmal war sie vom Sessel herabgeglitten, lag Fridolin zu Füßen, umschlang seine Knie mit den Armen und preßte ihr Antlitz daran. Dann sah sie zu ihm auf mit weit offenen, schmerzlich-wilden Augen und flüsterte heiß: »Ich will nicht fort von hier. Auch wenn Sie niemals wiederkommen, wenn ich Sie niemals mehr sehen soll; ich will in Ihrer Nähe leben.« Er war mehr ergriffen als erstaunt; denn er hatte es immer gewußt, daß sie in ihn verliebt war oder sich einbildete, es zu sein. »Stehen Sie doch auf, Marianne«, sagte er leise, beugte sich zu ihr herab, richtete sie milde auf und dachte: natürlich ist auch Hysterie dabei. Er warf einen Seitenblick auf den toten Vater. Ob er nicht alles hört, dachte er. Vielleicht ist er scheintot? Vielleicht ist jeder Mensch in diesen ersten Stunden nach dem Verscheiden nur scheintot –? Er hielt Marianne in den Armen, aber zugleich etwas entfernt von sich, und drückte beinahe unwillkürlich einen Kuß auf ihre Stirn, was ihm selbst ein wenig lächerlich vorkam. Flüchtig erinnerte er sich eines Romans, den er vor Jahren gelesen und in dem es geschah, daß ein ganz junger Mensch, ein Knabe fast, am Totenbett der Mutter von ihrer Freundin verführt, eigentlich vergewaltigt wurde. Im selben Augenblick, er wußte nicht warum, mußte er seiner Gattin denken. (EII, 444)
Die Inversion wirft ein bezeichnendes Licht auf die figural motivierte Leseerinnerung Fridolins, welche die Geschlechterrollen des Prätexts verkehrt. 92
Ebd., S. 191.
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Indem Fridolin sich in der Rolle des unschuldigen Knaben (»ein ganz junger Mensch, ein Knabe fast«) und Marianne als mütterliche Freundin sieht, entsexualisiert er sein Verhalten und lädt alle Schuld des Ehebruchs schon im Vorhinein auf Marianne. Auch im Aspekt von Verführung und Gewalt in Fridolins Lektüreerinnerung (von der Freundin der Mutter »verführt, ja fast vergewaltigt«) zeigt sich eine ähnliche Tendenz. Während in Mylius’ Roman keineswegs von weiblicher Zudringlichkeit, sondern von wechselseitigem Begehren die Rede ist, ist Fridolins Erinnerung an den deutlich markierten Prätext seinem Wunschdenken gemäß modifiziert: Sie erlaubt es ihm, sich zum Opfer weiblicher Gewalt zu stilisieren.93 Die verdrängte und projektiv überformte Lektüreerinnerung eröffnet also einen Vorstellungsraum, in dem Fridolin sein sexuelles Begehren und die Wiederherstellung seines verletzten männlichen Selbstbewusstseins mit moralischen oder gesellschaftlichen Ansprüchen in Einklang bringen könnte. Dass die Romaneminiszenz eine ›Deckerinnerung‹ darstellt, welche den Ehebruch als Rache rechtfertigt, zeigt sich in Fridolins unvermittelt folgender Albertine-Assoziation. Die literarische Wahrnehmung Fridolins ist kein isolierter Moment. Auf dem Weg zur geheimen Gesellschaft reflektiert Fridolin, als er wieder ein erotisches Abenteuer gestreift, aber es nicht ausgelebt hat, das Literarische seiner nächtlichen Irrfahrt: »An welch einem seltsamen Roman bin ich da vorübergestreift? fragte er sich. Ich hätte nicht fortgehen sollen, vielleicht nicht dürfen. Wo bin ich nun eigentlich?« (EII, 462).94 Fridolin, der gerade von Gibiser kommt und noch immer »den Geruch von Rosen und Puder [spürt], der von Pierrettens Brüsten zu ihm aufgestiegen war« (EII, 462), scheint seine ungenutzten Möglichkeiten in den Bereich des Romanhaften, Fiktiven zu rücken. Die erotischen Wünsche werden zur literarisch geprägten Imagination sublimiert. Auch Fridolins Gedankenzitat vom »Schwert zwischen uns« ist ein literarischer Phraseologismus, der auf mittelalterliche Erzählungen zurückgeht: »Ein Schwert zwischen uns, dachte er in der Erinnerung an eine halb scherzhafte Bemerkung gleicher Art, die einmal bei ähnlicher Gelegenheit von sei93
94
Der Wunsch, Marianne zu verführen, ist ja schon vorher präsent: Fridolin malt sich in einer narzisstischen Anwandlung aus, welch positive Wirkung er als Liebhaber im Gegensatz zum faden Doktor Roediger auf sie hätte: »Marianne sähe sicher besser aus, dachte er, wenn sie seine Geliebte wäre. Ihr Haar wäre weniger trocken, ihre Lippen röter und voller« (EII, 442). Heizmann, Arthur Schnitzler, S. 34, wird der literarischen Allusion dieser Stelle nicht gerecht, wenn er den »Begriff ›Roman‹ hier auf eine »wirre, abenteuerliche, nicht glaubhafte Geschichte« reduziert.
Narratorial motivierte Bezüge
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ner Seite gefallen war« (EII, 475). Ein Schwert liegt ebenso zwischen Isolt und Tristan wie zwischen Brünnhild und Siegfried in Richard Wagners Götterdämmerung I 3 (»Die Felsenhöhe«). Dort teilt Siegfried (in Gestalt Gunthers) mit Brünnhilde das Brautgemach, legt allerdings sein Schwert zwischen sich und Brünnhilde, um Gunther die Treue zu halten: Nun, Notung, zeuge du, dass ich in Züchten warb. Die Treue wahrend dem Bruder, trenne mich von seiner Braut.95
Beide Episoden stellen Dreiecksbeziehungen und Treuebrüche dar. In Gottfrieds von Straßburg Tristan-Roman täuscht das Schwert zwischen den Liebenden König Marke Treue vor, in Wagners Adaptation des NibelungenStoffes wird Brünnhilde betrogen. Daher symbolisiert das ›Schwert zwischen uns‹ über die sexuelle Enthaltsamkeit hinaus eine Entfremdung, wie sie auch Fridolin nach Albertines Erzählung ihres erotischen Traums empfindet. »Ein Schwert zwischen uns, dachte er wieder. Und dann: wie Todfeinde liegen wir hier nebeneinander« (EII, 481). Die Wiederaufnahme der Wendung als erneutes Gedankenzitat wirkt wie eine zynische Anspielung auf Siegfrieds Treuegelübde, das mit einem Treuebruch Brünnhilde gegenüber einhergeht.
5.
Narratorial motivierte Bezüge
Neben den markierten, die Struktur und den changierenden Realitätsstatus prägenden Märchen-Prätext und den phantastischen Mustertexten für die geheime Gesellschaft sowie den figural motivierten Allusionen, die bislang übergangen wurden, blieben auch die narratorial motivierten intertextuellen Bezüge in der Forschung weitgehend außer Acht. Sowohl der Titel als auch die Namen der Protagonisten eröffnen einen erstaunlichen Resonanzraum, der von hermeneutischer Bedeutung für ein besseres Verständnis der Traumnovelle ist.
95
Richard Wagner, Götterdämmerung, I 3.
252 5.1.
Traumnovelle
Titelmarkierungen
5.1.1. Franz Dingelstedt: Traum-Novelle (1839) Nie in Betracht gezogen als mögliche Anregung der Traumnovelle wurde bislang eine weniger bekannte titelgleiche »Reisenovelle« von Franz Dingelstedt.96 Die Traum-Novelle aus dem Wanderbuch (1839) eines Ich-Erzählers ist eine analytische ›Bildgeschichte‹. Sie liefert die »mysteriöse Geschichte« eines vielbeachteten Bildes, das »in Lebensgröße ein etwa sechzehnjähriges Mädchen dar[stellt], welches eine Harfe in den Armen hielt«.97 Der italienische Maler Giuseppo verliebt sich so sehr in sein »Mädchenbild« Evelina, das er ihr seine Liebe zu der blonden Hofsängerin Henriette »opfert«, bevor er sich verzweifelt auf dem Bild liegend vergiftet. Da Schnitzler nachweislich mehrere Werke Dingelstedts kannte, der bis 1881 Intendant des Burgtheaters war, ist durchaus anzunehmen, dass er auch diese Erzählung kannte.98 Ein möglicher Bezug zur Traumnovelle liegt in der irrationalen Liebe des Künstlers zu der rätselhaften weiblichen Schönheit, die ihn aus den Bahnen seiner ›normalen‹ Liebe und seines Lebens wirft. 5.1.2. August Strindberg: Ein Traumspiel (1902) Trotz seines auffällig ähnlichen Titels wurde in der Forschung bisher noch nicht auf die Analogie zu August Strindbergs Theaterstück Traumspiel hingewiesen. Das Traumspiel lag zwar schon seit 1903 in Emil Scherings deutscher Übersetzung vor und war in Deutschland kritisch breit gewürdigt worden, wurde aber in Wien erstmals 1922 aufgeführt.99 Am 13. Oktober 1922 hat Schnitzler die Aufführung im Raimundtheater gesehen, in der sein Sohn Heinrich eine Nebenrolle spielte.100 Der Besuch der Traumspiel-Aufführung fällt somit zeitlich mit der großen Fassung der Traumnovelle von 1922/23 zusammen, und Schnitzler kannte und teilte sicher Hofmannsthals Äußerung aus dem Jahre 1923, wonach das, »was Strindbergs Stücke zusammenhält […], nicht die erzählbare Anekdote, sondern ihre Atmosphäre zwischen 96
Franz Dingelstedt, »Traum-Novelle «, in: Ders., Wanderbuch, Leipzig 1839 (Erinnerungen aus Alt-Hannover, IV), S. 153–179. 97 Ebd., S. 154. 98 In der Lektüreliste führt er mehrere Werke Dingelstedts auf. Vgl. LL D93. 99 Vgl. den quellengesättigten Überblick von Hans-Peter Bayerdörfer/Hans Otto Horch/Georg-Michael Schulz, Strindberg auf der deutschen Bühne. Eine exemplarische Rezeptionsgeschichte der Moderne in Dokumenten (1890 bis 1925), Neumünster 1983. 100 Vgl. Tgb 13. 10. 1922.
Narratorial motivierte Bezüge
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Wirklichkeit und Traum« ist.101 Schon dem Titel ›Traumspiel‹ entspricht Schnitzlers Kompositum ›Traumnovelle‹, indem es das Nomen ›Traum‹ mit einem literarischen Genus kombiniert. Beide Titel kennzeichnen den unsicheren Realitätsstatus des Geschehens, indem sie wie die romantischen Komposita ›Traumlied‹ oder ›Traumdichtung‹ auf den Traum als maßgebliches Sujet hinweisen. Strindberg hatte in einer »Vorbemerkung« auch als sein poetologisches Programm erklärt, die unzusammenhängende, aber scheinbar logische Form des Traumes nachzubilden. […] die Wirklichkeit steuert nur eine geringfügige Grundlage bei, auf der die Phantasie weiter schafft und neue Muster webt: ein Gemisch von Erinnerungen, Erlebnissen, freie[n] Erfindungen, Ungereimtheiten und Improvisationen.102
Diesem Programm des Traumspiels entspricht Schnitzlers Verfahren, den Traum nachzubilden, allerdings nicht als Drama, sondern als Erzählung.103 Möglicherweise hat Schnitzler sich auch strukturell an Strindbergs ›Wanderdrama‹ orientiert. Die Stationen, welche die Tochter des Gottes Indra auf ihrer Reise unter den Menschen durchwandert, ähneln durchaus Fridolins Begegnungen während seiner nächtlichen Odyssee. In ihrer analogen Konfiguration verweisen vor allem die desolaten Eheszenen zwischen Indras Tochter und dem Advokaten in Strindbergs Traumspiel auf die Traumnovelle: Neben dem darstellungsästhetischen Prinzip und der strukturalen Analogie scheinen mir kleinere inhaltliche und motivliche Analogien zweitrangig zu sein,104 aber doch die dialogische Nähe beider Texte zu bekräftigen. 101
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Hugo von Hofmannsthal, »Eugene O’Neill«, in: Ders., Prosa IV. Gesammelte Werke. Herbert Steiner (Hrsg.), Frankfurt/M. 1955, S. 195–203, hier S. 200. Auch wenn sich keine direkten Übernahmen nachweisen lassen, liegt eine deutliche ›Affinität‹ Hofmannsthals und der jungen Wiener zu Strindberg vor; vgl. Rochelle Wright, »Strindberg’s ›Ett drömspel‹ and Hofmannsthal’s ›Die Frau ohne Schatten‹«, in: Marilyn Johns Blackwell (Hrsg.), Structures of Influence. A Comparative Approach to August Strindberg, Chapel Hill 1981, S. 211–225. August Strindberg, Ein Traumspiel [Ett Drömspel], übers. von Willi Reich. Nachwort von Walter A. Berendsohn, Stuttgart 1957, S. 3. Vgl. dazu allgemein Andreas Hamburger, »Traumnarrative. Interdisziplinäre Perspektiven einer modernen Traumtheorie«, in: Jürgen Körner/Sebastian Krutzenbichler (Hrsg.), Der Traum in der Psychoanalyse, Göttingen 2000, S. 29–48, und Freytag, Verhüllte Schaulust. Zu den Gemeinsamkeiten gehören beispielsweise das Kleidermotiv, wenn etwa Lina sich bei ihrer Mutter beschwert, sie habe »nichts anzuziehen« (Strindberg, Traumspiel, S. 9), der »Offizier«, der wie der »Offizier« aus Albertines Urlaubserinnerung und Traum namenlos bleibt, und die im poetologischen Gespräch zwischen der Tochter und dem Dichter behauptete Homologie von ›Wirklichkeit‹, ›Traum‹ und ›Dichtung‹ (ebd., S. 62). Aber auch das prägnante Realitätsmoment der geknechteten Kohlenträger, das Gustav Landauer in seiner Besprechung des
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Traumnovelle
5.1.3. ›Novelle‹ Neben dieser Einzeltextreferenz enthält der Titel der Traumnovelle noch eine generische Systemreferenz, indem er die traditionelle Gattung der Novelle zitiert. Die Traumnovelle zählt neben Schnitzlers Abenteurernovelle zu den seltenen Werken, welche die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ im Titel führen. Schon der Arbeitstitel der Erzählung, ›Doppelnovelle‹, enthielt diesen Hinweis. Auch wenn Goethes Bestimmung als »unerhörte, sich ereignete Begebenheit« keine scharfe Abgrenzung von anderen Erzählformen gewährleistet, knüpft die Gattungsbezeichnung im Titel – wie bei Wieland (Novelle ohne Titel ), Goethe (Novelle) oder eben Schnitzler – augenfällig an die literarische Tradition an, vor allem an den Decamerone, jene Sammlung von 100 Novellen, die Giovanni Boccaccio während der Großen Pest 1348 verfasst hatte und die stilprägend für die europäische Literatur wurde. Im 19. Jahrhundert hatte Paul Heyse die ›Novelle‹ unter Bezugnahme auf Boccaccio genauer gefasst und einen dramenähnlichen pyramidalen Aufbau sowie die Gruppierung um ein ›Dingsymbol‹ als wesentlich bestimmt. Zugleich wird der Realismus als Gattungsbedingung weiter relativiert. Verschwammen schon in den romantischen Novellen Ludwig Tiecks oder E. T. A. Hoffmanns die Grenzen zwischen der prosaischen Wirklichkeit und der poetischen Welt des Wunderbaren, setzte sich diese Tendenz insofern fort, als der vormals äußere Konflikt sukzessive zu einem inneren Zwiespalt psychologisiert wurde.105 Damit wurde die Novelle zu einer Idealform des Poetischen Realismus, der literarischen Strömung, die mit dem Naturalismus konkurrierte. Da die realistische Novellenpoetik im 19. Jahrhundert kanonisiert wurde, wirkt Schnitzlers Gattungsnennung im Titel im Jahre 1925 durchaus wie ein – freilich vages – konservatives formästhetisches Bekenntnis. Schnitzlers Traumnovelle folgt der Novellentradition in dreierlei Hinsicht: erstens im dramenähnlichen Aufbau, zweitens in der leitmotivischen Funktion eines Symbols und drittens im Wirklichkeitsstatus.
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Traumspiels als »die stärkste […] Szene« würdigt, hat ein Pendant in der Traumnovelle, nämlich die kurze Episode, in der Fridolin einen Obdachlosen entdeckt: »Auf einer Bank der Länge nach ausgestreckt, den Hut in die Stirn gedrückt, lag ein ziemlich zerlumpter Mensch« (ebd., S. 446). Vgl. Gustav Landauer, »Strindbergs Traumspiel. Zur Erstaufführung im Düsseldorfer Schauspielhaus«, in: Masken, 14/1918–19, wieder in: Bayerdörfer/Horch/Schulz, Strindberg, K 64, S. 276–290, hier S. 286. Vgl. auch Hugo Aust/Hubertus Fischer, Boccaccio und die Folgen: Fontane, Storm, Keller, Ebner-Eschenbach und die Novellenkunst des 19. Jahrhunderts (Fontaneana, 4), Würzburg 2006.
Narratorial motivierte Bezüge
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Die Handlung der Traumnovelle ist wie ein klassisches fünfaktiges Drama aufgebaut: Die einführende Exposition steigert sich durch ›erregende Momente‹ zur Verwicklung im Höhepunkt, bevor die Spannung, verzögert durch das ›retardierende Moment‹, im Finale ihre Lösung findet. Die ›Exposition‹ der Traumnovelle (Kapitel I) präsentiert das Sich-Verlieren und SichWiederfinden als Muster der ehelichen Beziehung. So gehen Fridolin und Albertine beim gemeinsamen Besuch eines Maskenballs (»Redoute«) zunächst getrennte Wege, bevor sie sich »zu einem schon lange Zeit nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück in die Arme« schließen (EII, 435).106 Nach den wechselseitigen Geständnissen außerehelicher Phantasien eilt Fridolin »ziemlich zerstreut« zu einem ärztlichen Notfall »davon« (EII, 440). Den ›erregenden Momenten‹, der Spannungssteigerung, entsprechen die Kapitel II, III und IV (Anfang), in denen Fridolin mit erotischen Avancen von Marianne, Mizzi und Pierrette konfrontiert ist und von Nachtigall zum Besuch der geheimen Gesellschaft verführt wird. Den dramatischen DoppelHöhepunkt repräsentieren die Kapitel IV (zweiter Teil) und V: zum einen Fridolins Erlebnisse bei dem geheimen Maskenball mit dem Selbstopfer der mysteriösen Retterin und zum andern Albertines erotischer Rachetraum. Die Funktion des ›retardierenden Moments‹ erfüllt das VI. Kapitel, in dem Fridolin am folgenden Tag die Stationen seiner nächtlichen Abenteuer zurückverfolgt, bis er meint, in einer unbekannten Toten seine Retterin wiedergefunden zu haben. Fridolins Erzählung und Albertines Verständnis sowie ihre gemeinsame Einsicht, »aus den wirklichen und den geträumten« außerehelichen Abenteuern »heil davongekommen« zu sein (EII, 503), bieten ein ›happy end‹ als ›Lösung‹ (V). Typisch für die traditionelle Novelle ist das sogenannte Dingsymbol, das den Hauptkonflikt konzentriert widerspiegelt.107 Wichtigstes ›Dingsymbol‹ oder Leitmotiv in der Traumnovelle ist zweifelsohne die Maske, deren Anonymität immer triebhaft, vorrangig erotisch, aber auch bedrohlich konnotiert ist. Das Motiv der Maske oder Verkleidung, durch die Handlungszeit ›Karneval‹ plausibel begründet, spielt schon bei der Redoute im ersten Kapitel eine entscheidende Rolle, als Fridolin und Albertine, selbst maskiert, mit 106
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Aus dem Text lässt sich nicht eindeutig entnehmen, dass es sich um eine typische Wiener ›Redoute‹ handelt, also um eine spezifische Form des Maskenballs, bei dem nur die Damen maskiert sind, Damenwahl herrscht und um Mitternacht die Demaskierung erfolgt. Dieser Umstand könnte erklären, warum die »zwei roten Dominos« über Fridolin »auffallend genauen Bescheid« wissen, während er sich »über deren Person […] nicht klar zu werden vermochte« (EII, 434). Vorbild ist der leitmotivische Falke in Boccaccios ›Falkennovelle‹ (Decamerone V, 9), an der Paul Heyse sich in seiner Novellentheorie orientierte.
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Traumnovelle
fremden Masken fast die eheliche Treue brechen. Die Episode bei dem Kostümverleiher Gibiser kombiniert beide Seiten des Maskenmotivs, Lust und Gewalt: So kann Fridolin, der sich eine Mönchstracht borgt, das hilfloserotische Verhalten der kindlichen Pierrette nicht deuten, die von zwei als Femerichtern verkleideten Kavalieren bedrängt wird. Gesteigert wird das Motiv in dem Maskenball der geheimen Gesellschaft. Denn die als Mönche und Nonnen verkleideten Teilnehmer tauschen während des Fests unversehens ihr Kostüm: Die Frauen tragen weiterhin Masken, sind aber nackt, während die Männer als Kavaliere auftreten. Fridolin reizt die orgiastische Atmosphäre des Fests so sehr, dass er die Mahnung einer unbekannten Schönen, sich zu entfernen, nicht befolgt. Als ihm die Demaskierung droht, kommt ihm die schöne Unbekannte, nun wieder als Nonne verkleidet, zu Hilfe. Sie opfert sich für Fridolin, indem sie sich entlarvt und auszieht. Aber auch in Albertines Traum erscheint das Maskenmotiv gerade im Kontrast von Verkleidung und Nacktheit: So fehlt im Fundus opernhafter Kleider ausgerechnet das Brautkleid, und nach der geträumten Hochzeitsnacht mit Fridolin sind die Kleider beider verschwunden. Als Fridolin Kleider kaufen will, wird er gefangen und mit Albertines Einverständnis hingerichtet. Dass die Maske auf eine Entfremdung der Eheleute hindeutet, legt das letzte Vorkommen des Motivs im Schlusskapitel der Traumnovelle nahe. Als Fridolin »entkleidet« das »eheliche Schlafgemach« betritt, findet er auf seinem Kopfkissen die Maske, »die er während der vorigen Nacht getragen« (EII, 502). Es ist bezeichnend, dass in der Fassung von 1922/23 das Maskenmotiv noch ausführlicher dargestellt war. Eine längere Episode, in der die sechsjährige Tochter Mela die Eltern damit überrascht, dass sie »über das Gesicht […] eine schwarze Maske« hält, hat Schnitzler später verworfen.108 Auch das Spiel mit dem Realitätsstatus, das Schnitzlers Traumnovelle mit dem Leser treibt, hat seinen Rückhalt in der Gattungsgeschichte, denkt man an die europäische Romantik. Vor allem die Novellen E. T. A. Hoffmanns treiben ein virtuoses Spiel mit zwei Wirklichkeiten, indem sie die nüchterne prosaische Tageswirklichkeit mit der wunderbaren poetischen Nachtseite verschränken.109
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Traumnovelle [V] (FF C XLII, 4, Bl. 154 – Cambridge Schnitzler A 144, 3, Bl. 178 [ehemals 180]). Vgl. auch Anm. 30. Arthur Schnitzlers bedeutsame, aber ambivalente Hoffmann-Rezeption ist bislang noch nicht systematisch erforscht worden.
Narratorial motivierte Bezüge
5.2.
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Onomastische Markierungen
Die Namen der Protagonisten der Traumnovelle standen bisher nicht im Zentrum einer intertextuellen Untersuchung, obgleich sie literarisch einschlägig ›vorbelastet‹ sind. Ziel der folgenden Erörterungen ist es, freilich ohne eine vollständige Namensgenealogie liefern zu wollen, den zeitgenössischen Anspielungs- und Resonanzraum der Figuren zu rekonstruieren. 5.2.1. Fridolin In der Forschung wurde bislang nur vereinzelt auf mögliche Namensanspielungen hingewiesen. So hat Hertha Krotkoff erstmals Adolf Wilbrandts Roman Fridolins heimliche Ehe (1875) als mögliche Anregung genannt.110 Auch wenn nicht sicher ist, ob Schnitzler diesen Roman gelesen hat, dürfte er ihn gekannt haben. Immerhin nennt er zwölf weitere Texte Wilbrandts unter seinen Lektüren.111 Zur Popularität des Romans in Wien dürfte seine Dramatisierung beigetragen haben. Sie wurde unter dem Titel Die Reise nach Riva im Jahre 1877 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, dessen künstlerischer Leiter Wilbrandt von 1881 bis 1887 war.112 Wilbrandts Titelheld Fridolin, vierzigjähriger Professor für Kunstgeschichte, ist Junggeselle, lebt aber in einer »heimlichen Ehe« mit sich selbst. In seinem Charakter mischen sich nämlich, wie er unter Bezugnahme auf den platonischen Androgyniemythos selbst erklärt, eine männliche und eine weibliche Hälfte.113 Durch die Erscheinung der schönen Ottilie geraten seine erotischen Gefühle in Unordnung, bis schließlich Leopold, sein Freund und Schüler, Ottilie gewinnt und Fridolin sich mit Ottiliens Bruder Ferdinand verbindet. Der homoerotische Roman scheint mir allerdings kaum als maßgeblicher ›Schlüssel‹-Prätext für die Traumnovelle in Frage zu kommen. Allenfalls die heimliche Neigung Fridolins 110
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Vgl. Krotkoff, Themen, Motive. Mittlerweile liegt eine Neuausgabe nach der vierten Auflage (Stuttgart 1907) vor: Adolf Wilbrandt, Fridolins heimliche Ehe. Mit einem Nachwort von James Steakley und Wolfram Setz, Hamburg 2010. Sie enthält auch das Vorwort und den dritten Aufzug des dreiaktigen Lustspiels Reise nach Riva (1877). Vgl. Schnitzlers Lektüreliste und Tagebuch. Zu Wilbrandts Leben und Werk vgl. Victor Klemperer, Adolf Wilbrandt. Eine Studie über seine Werke, Stuttgart (u. a.) 1907. Siehe auch Rudolph Lothar, Das Wiener Burgtheater, Leipzig, Berlin und Wien 1899, S. 164–167. Vgl. das Gespräch zwischen Fridolin und seinem Schüler Leopold über die »heimliche Ehe« (Wilbrandt, Fridolins heimliche Ehe, S. 91) und Leopolds Erläuterung des Mythos vom Kugelmenschen im Gespräch mit Ottilie (ebd., S. 156). Eine frühe lobende Würdigung der ›Novelle‹ stammt von Klemperer, Adolf Wilbrandt, bes. S. 132–135.
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Traumnovelle
und die Kritik an der Ehe, die in einem Widerspruch zu eigenen Anlagen stehen kann, lassen sich auf die Ehekrise und unterdrückte erotische Phantasien Fridolins wie Albertines beziehen. Doch vermag ich keine Hinweise auf latente homoerotische Neigungen von Schnitzlers Fridolin zu erkennen,114 sein Wunsch nach einem »Doppelleben« geht weniger in eine geschlechtliche als vielmehr in eine soziale Richtung. Dennoch war der Name ›Fridolin‹ gerade durch Wilbrandts Roman Anfang des 20. Jahrhunderts eindeutig besetzt, und vermutlich ist es kein Zufall, dass gerade 1907, als die vierte und letzte Auflage von Fridolins heimlicher Ehe erschien, Schnitzler die erste größere Fassung der Traumnovelle entwarf. Mit dem Namen ›Fridolin‹ verbunden ist auch Adolf Wilbrandts Artikel Traum in der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 25. Dezember 1894. Da Schnitzler ihn in seinem Nachlass verwahrt hat, hat Hertha Krotkoff ihn auf die Traumnovelle bezogen.115 Wilbrandt liefert darin ein Beispiel für die Ansicht, »daß wir nicht nur aus dem Traum oft allmälig, stückweise erwachen (mein Freund ›Fridolin‹ versicherte, daß sein höchst entwickelter Geruchssinn zuerst zu erwachen pflege), sondern daß wir auch im Traum gar oft im Erwachen unserer Geisteskräfte fortschreiten«.116 Tatsächlich erinnert der Traum, den Wilbrandt berichtet, durch seine erotischen Konnotationen und das Changieren zwischen Wachheit und Halbbewusstsein durchaus an Fridolins ›mittelbewusstes Erleben‹: Ich befand mich träumend in größerer, hauptsächlich weiblicher Gesellschaft (wer da war, ist mir gleich entschwunden); eine mir befreundete Dame hatte ein Buch weggelegt, in dem sie und andere Damen »Verbotenes« gelesen hatten; ich, noch ganz traumgerecht ein richtiges erwachsenes Kind, stahl das Buch, um auch darin zu lesen, und als jene Dame sich näherte, versteckte ich es unter dem Tische zwischen meinen Knien. Sie entdeckte es aber doch, zog es einfach fort und trug es hinaus. Dies erschien mir im ersten Augenblick bedauerlich, aber ganz natürlich; dann aber erwachten in mir – natürlich mit der Schnelligkeit des Traumes, doch in ganz entschieden empfundener Allmäligkeit – andere Gefühle. Mir kam zum Bewußtsein, daß diese Handlung der Dame mich herabgewürdigt habe, dann, daß ich sie nicht so hinnehmen dürfe; dann, daß ich mich schämte. Endlich erklärte ich den anderen Damen, rasch an Selbstgefühl zunehmend, es schicke sich durchaus nicht, daß eine Frau einem Manne ein Buch verbiete und fortnehme, das sie selber gelesen habe; ich sei entschlossen, mir das nicht gefallen zu lassen; ja ich würde ganz fortgehen, wenn die Dame nicht wiederkomme und das Buch wieder in
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Allenfalls Fridolins Interesse für die bildkünstlerische Darstellung von Mariannes Bruder in Militäruniform zu Pferd ließe sich als Indiz einer homoerotischen Neigung deuten. Vgl. Der Witwer (FF C XII, Bl. 1 – Cambridge Schnitzler A 145, 9) Adolph Wilbrandt, »Ein Traum«, in: Wiener Allgemeine Zeitung, 25. 12. 1894, S. 3.
Narratorial motivierte Bezüge
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meine Hand lege. Die Andern begriffen auch offenbar sofort, daß ich ganz im Rechte sei; denn eine der Damen ging geschwind jener ersten nach, um sie mit dem Buch zurückzuholen, und ich zweifelte nicht, daß sie kommen werde. Ehe sie aber kommen konnte, war ich aufgewacht.117
Aus diesem Erlebnis schließt Wilbrandt, dass der Traum als »ein Zumirkommen« dynamisch verläuft und der Übergang vom »richtigen, das heißt tieferen Traum« bis zum Erwachen die Ontogenese, von der Kindheit bis zur Reife, nachvollzieht. Dies zeige sich an einer wechselnden Traumzensur: Im ›tieferen Traum‹ […] fehlt unser geschulter, erfahrener Verstand – er schläft – und wir leben wie phantasievolle Kinder in einer Märchenwelt, die wir für die Wirklichkeit halten. Schreitet nun aber im Gehirn das Erwachen fort, so werden wir gleichsam älter, reifer, wir machen im Fluge die Entwicklung durch, zu der wir im Leben so viel Jahre brauchten. Unsere Erfahrungen wachen auf, unsere sittlichen Empfindungen, unser höheres Selbstgefühl. Endlich erwacht das Letzte: unser Lächeln über den beendeten Traum.118
Die Parallele zum träumerisch überformten Erleben Fridolins wird gerade durch Wilbrandts Märchenvergleich plausibilisiert. Er erinnert an das einstimmende Märchen aus Tausendundeiner Nacht, das Fridolins projektive Überformung seiner nächtlichen Abenteuer ebenso prägt wie Albertines Traum. Allerdings ist die Zeitungsseite mit Wilbrandts Traum-Artikel in Schnitzlers Nachlass keineswegs ein eindeutiger Hinweis auf Schnitzlers Wertschätzung dieses Artikels, wie Krotkoff mutmaßt. Schnitzler hat die Weihnachtsausgabe der Wiener Allgemeinen Zeitung von 1894 vielmehr wohl deswegen verwahrt, weil dort seine Erzählung Der Witwer erstmals erschienen ist, und zwar beginnt sie auf derselben Seite, auf der Wilbrandts Traum abgedruckt ist.119 Diese Koinzidenz widerlegt zwar Krotkoffs Hinweis nicht, relativiert ihn aber. Als weitere Präfiguration kommt Ferdinand von Saars Novelle Herr Fridolin und sein Glück in Betracht. Mit ihr eröffnete Hermann Bahr 1894 die Zeit, seine programmatische Wochenschrift des Jungen Wien.120 In Form einer
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Ebd. Ebd. Arthur Schnitzler, »Der Witwer [ED]«, in: Wiener Allgemeine Zeitung, 25. 12. 1894, S. 3–5, vgl. Anm. 82. Zu Hermann Bahrs programmatischer Aufwertung dieser Novelle vgl. Giselheid Wagner, Harmoniezwang und Verstörung. Voyeurismus, Weiblichkeit und Stadt bei Ferdinand von Saar, Tübingen 2005, S. 48–54. Mittlerweile liegt die Erzählung nicht nur in der alten Ausgabe vor (Ferdinand von Saar, »Fridolin und sein Glück«, in: Ders., Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Bd. 10, Leipzig [1908], S. 7–58), sondern auch in einer kritischen Neuausgabe: Ferdinand von Saar, Herr Fridolin und sein
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Binnengeschichte erzählt der Kammerdiener Fridolin, der in einer Vernunftehe lebt, die Geschichte seiner Affäre mit einer jungen Frau namens Milada. Der Kontrast von ehelich-familiärer Ordnung und dämonischer Liebesleidenschaft zeigt das unerfüllte Leben des Binnenerzählers, das mit dem Titel der Erzählung zynisch kontrastiert. Als Bild eines verfehlten Lebens und Liebesglücks war ›Fridolin‹ durch Saars Erzählung ein prominenter Referenztext für das Junge Wien, auf den der namensgleiche Protagonist von Schnitzlers Traumnovelle auch in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts durchaus noch rekurrieren könnte. Neben dem inhaltlichen Bezug des ›triangle érotique‹ stiften die psychologische Novellentechnik,121 die Subjektivierung des Erzählens und die märchenhafte Stilisierung der Liebesleidenschaft wesentliche Gemeinsamkeiten. 5.2.2. Albertine Während Krotkoff den Namen ›Fridolin‹ auf Wilbrandts Roman Fridolins heimliche Ehe (1875) zurückführte und mit dem Zeitungsartikel Ein Traum (1894) in Verbindung brachte und Ferdinand von Saars Titelheld sich als Präfiguration anbietet, wurden für den Namen ›Albertine‹ in der Traumnovelle bislang keine onomastischen Markierungen vorgeschlagen. Diese Zurückhaltung ist umso erstaunlicher, als der Name der weiblichen Hauptgestalt einen klar umrissenen literarischen Anspielungsraum öffnet, der die Figur ›vorbelastet‹ und in einem bestimmten Licht erscheinen lässt. Christian Krohg: Albertine (1875) Der Name Albertine war zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest mit dem norwegischen Skandalroman Albertine (1888) verknüpft. Auch Schnitzler kannte den Roman Christian Krohgs, der seit 1892 in deutscher Übersetzung vorlag, denn er findet sich auf der Liste seiner Lektüren.122 Der stark personalisierte
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Glück, krit. hrsg. und gedeutet von Lydia Beate Kaiser, Tübingen 1993 (Ferdinand von Saar – Kritische Texte und Deutungen, 5). Abraham Altmann hat in einem Brief vom 04. 11. 1896 Saars Novellentechnik als »subjektiv-lyrisch« bezeichnet. Zit. nach Ferdinand von Saar, Herr Fridolin, S. 114 (Nachwort von L. B. Kaiser). Vgl. Christian Krohg, »Albertine [Albertine]«, anon. Übers., in: Moderne FeuilletonBibliothek der »Lichtstrahlen«, Dresden o. J.[1892], S. 63–207. Eine weitere deutsche Übersetzung erschien 1913 in Hamburg: Christian Krohg, Albertine [Albertine], übers. von Alfred Janssen, Hamburg und Berlin 1913. In der zweiten Übersetzung ist das Kapitel VII (S. 196–207) bzw. »Auf der Polizeistation« (S. 170–182),
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Roman schildert, wie die Titelheldin Albertine, eine Näherin aus engem proletarischen Milieu, zur Prostituierten wird. Nicht nur wegen der drastischen Beschreibung einer gynäkologischen Untersuchung durch die Sittenpolizei war der Roman als ›sittenwidrig‹ verboten, sondern wohl auch deshalb, weil er Albertines moralischen Abstieg, ihre Sehnsucht nach einem mondänen Leben sowie ihre erotischen Wünsche aus ihrer Sicht erzählt und damit Empathie beim Leser weckt. So assoziiert der Name ›Albertine‹ in der Moderne zwar eine gesellschaftliche Doppelmoral, steht aber auch für weibliche Sexualität.123 Gerade der Schluss des Romans, an dem Albertine früheren Verehrern freimütig-zynisch sexuelle Dienstleistungen offeriert, zeigt weibliche Sexualität in einer ungewöhnlichen Drastik.124 Dieser Umstand rückt Schnitzlers Albertine durchaus in die Nähe von Krohgs Titelheldin. Marcel Proust: Albertine Simonet Albertine, die mysteriöse Geliebte des Erzählers Marcel, verstärkt die sexuell-sinnliche Konnotation, die durch den Namen ›Albertine‹ aufgerufen wird. Auch wenn Prousts Recherche erst 1926–28 in der deutschen Übersetzung von Rudolf Schottländer vorlag, war Schnitzler bereits Ende 1923 durch Hans Jacob, der eine Übersetzung unternehmen wollte, auf das Romanwerk aufmerksam geworden. Von April bis Juni 1924 hat er »Proust mit wachsendem Interesse«, wie das Tagebuch bezeugt, im französischen Original gelesen.125 Allerdings ist die Albertine-Figur im Entwurf 1922/23 schon
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das die skandalöse Schilderung der gynäkologischen Untersuchung enthält, ausführlicher und drastischer. Welche Übersetzung Schnitzler kannte, der den Titel in der Leseliste notierte (LL N 37), ist unklar. Wenn aus frauenemanzipatorischer Sicht E. H., »›Albertine‹ von Christian Krogh [sic]«, in: Neues Frauenleben, 19/1907, Nr. 1, S. 20f., sich auf den Roman beruft, um die Abschaffung der Prostitution zu fordern, kommt die erzählerische Modernität Krohgs, die auch Georg Brandes würdigte, viel zu kurz; doch erhellt die Stellungnahme in dem Wiener Periodikum der österreichischen Frauenrechtlerin Auguste Fickert die zeitgenössische Bekanntheit des Romans und der weiblichen Protagonistin. [Albertine:] »Kommt nur zu mir herein, einer nach dem andern – alle zusammen! Ihr sollt es auch gratis haben! So kommt doch – – –!« (Krohg, Albertine, S. 182). Schnitzlers Freundschaft mit Hans Jacob, mit dem er auch Briefe wechselte, ist, wie folgende Tagebucheinträge erkennen lassen, eng mit Prousts Romanwerk verbunden: 31. 12. 1923: »Zu Tisch (wie auch Kolap) Hans Jacob und Frau. Wir sprachen über die Verlagsangelegenheiten (Zsolnay – Proust etc.); über Fischer […]«; 15. 01. 1924: »[…] Im Hotel Continental bei Hans Jacob. Seine Zsolnay – Proust Angelegenheiten (F[elix] S[alten] soll in sein neues Buch einen Artikel über Proust hineinnehmen, den er noch nicht kennt, und man müsse, meint Z.,
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weitgehend konturiert. Dennoch stimmt sie in mancher Hinsicht mit der namensgleichen Gestalt in Prousts Recherche überein. War sie für den Erzähler die unerreichte Jugendgeliebte, wird sie nach ihrem überraschenden Besuch in Paris bald seine Geliebte und seine ›Gefangene‹, die er eifersüchtig bewacht. Doch bleibt die Beziehung relativ rätselhaft, da sie, figural gebrochen, aus der Sicht Marcels, dargestellt ist. Trotz ihrer sexuell-sinnlichen Attraktion bedeutet die Affäre für den Erzähler eine Leidenszeit, da Albertine ihn immer wieder betrügt, belügt und lesbische Kontakte hat. Nach Albertines plötzlichem Verschwinden erfährt der Erzähler bei seinen Nachforschungen (sie nehmen den Großteil des sechsten Buches ein) nicht nur, dass sie einen tödlichen Unfall erlitten hat, sondern auch, dass sie ein sexuell abseitiges Doppelleben geführt hat. Johann Wolfgang von Goethe: Nicht zu weit (1829) Ganz unbeachtet blieb in der Forschung bislang ein möglicher Bezug zu Goethes Novelle Nicht zu weit, der letzten Binnenerzählung in Wilhelm Meisters Wanderjahren.126 Schnitzler hat Goethes Altersroman sicher gekannt: Er vermerkt die Lektüre im Tagebuch am 26. 03. und am 11. 04. 1907. Am 02. 02. 1921 wendet er sich den Wanderjahren erneut zu und notiert am 26. 05. und am 07. 06. 1921, dass er in ihnen lese. Die Protagonistin der Novelle Nicht zu weit, die »fragmentarische Rechenschaft« über die Romanfigur Odoard gibt, heißt Albertine. Neben der Namensgleichheit lassen strukturale, konstellative, motivliche und narrative Analogien darauf schließen, dass Schnitzler sich in der Traumnovelle auf Goethes Novelle Nicht zu weit bezieht. Auch Goethes Erzählung ist als Doppel- und Ehenovelle angelegt: Der erste Teil schildert einen Abend Odoards, der zweite Teil die zeitgleichen Erlebnisse seiner Ehefrau Albertine. Das unverhoffte Zusammentreffen der Eheleute in einem Wirtshaus wird zwar perspektiviert, bleibt aber ausgespart. Die erzählte Zeit ist noch stärker als bei Schnitzler auf eine einzige Nacht konzentriert: Odoard erwartet mit seinen beiden »als die niedlichsten Zwillingsgenien« »maskiert[en]« Kindern die Rückkehr seiner Ehefrau Al-
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in F. S. die Fiction festhalten, er habe P. entdeckt.) – […]«. 24. 04. 1924: »Begann Proust zu lesen«. 15. 05. 1924: » – Las im Proust und in Frank Harris weiter. – « 01. 06. 1924: »Z. N. Hans Jacob und Frau, auf der Terrasse. Über Proust, Associationen, Illusionen etc. – « 14. 06. 1924: »Lese Proust mit wachsendem Interesse«. 27. 06. 1924: »Las Proust und Nouv. Littér. – «. Johann Wolfgang von Goethe, »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, in: Curt Noch (Hrsg.), Goethes sämtliche Werke, Propyläen-Ausgabe, Bd. 41, München, (ab Bd. 29:) Berlin, 1909–1932, S. 1–360. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.
Narratorial motivierte Bezüge
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bertine, um deren Geburtstag zu feiern. Nachdem Albertine auch um 11 Uhr nachts noch nicht eingetroffen ist und die Kinder eingeschlafen sind, bezieht Odoard zornig Quartier in einem Wirtshaus. Dort trifft er überraschend auf Prinzessin Sophronie, die er angeblich vor seiner Hochzeit geliebt und als ›Aurora‹ bedichtet haben soll. Der Odoard-Erzählstrang bricht mit der Begegnung der Prinzessin und Odoards ab, auf dessen Lippen »die Silben ›Au-ro-ra!‹ erstarben«.127 In Form einer ›Simullepse‹, einer nachgereichten Parallelgeschichte, holt der Erzähler die abendlichen Erlebnisse Albertines nach, die bei ihrer späten Ankunft zuhause ihren Mann nicht mehr antrifft und nach einem missglückten Vortrag ihrer übermüdeten, maskierten Kinder »sich allein« sieht und »in bittre Tränen aus[bricht]«.128 Albertine hatte ihren Geburtstag mit dem von Odoard geduldeten Hausfreund Lelio bei einem Tanzabend ihrer Freundin Florine gefeiert. Die späte Heimfahrt verzögert sich noch durch einen Kutschunfall. Bei der Rettungsaktion, die im Wirtshaus endet, muss Albertine erkennen, dass Lelio nicht sie, sondern ihre Freundin Florine liebt. Mit der Weiterreise Albertines nachhause in Gesellschaft der untreuen Freundin und des treulosen Freundes bricht der Albertine-Erzählstrang ab. Die Doppelstruktur der Novelle, welche die Erlebnisse der Eheleute Odoard und Albertine als Simullepse präsentiert, wird durch einen räumlichen Chiasmus bedeutungsvoll betont: Odoard und Albertine bewegen sich in ihren nächtlichen Reisen aufeinander zu, ohne sich zu begegnen. Odoard verlässt sein Haus und gelangt in ein Wirtshaus, in dem Albertine auf ihrer Heimfahrt von Florines Landhaus Zwischenstation macht. Indem das Paar gerade im chiastischen Schnittpunkt einander ganz fern ist, illustriert das räumliche Verfehlen die latente Ehekrise, die in dieser Nacht manifest wird. Zugleich kommen bei beiden Ehepartnern verborgene Leidenschaften ans Licht: Bei Odoard deutet sich eine voreheliche Liebe an, Albertine muss erkennen, dass ihr »Hausfreund« sie mit ihrer besten Freundin betrügt. Die strukturalen und konstellativen Analogien zur Traumnovelle sind augenfällig, von motivlichen und sprachlichen Bezügen ganz zu schweigen:129 127 128 129
Ebd., S. 310. Ebd. Zwei Motivanalogien seien angeführt: das Leitmotiv der Maske sowie das Märchen aus Tausendundeiner Nacht, das die Tochter den Eltern vorliest, lassen sich als Variationen auf die »Maskerade« der Kinder deuten, die bei Goethe einen »eingelernten Spruch« rezitieren (ebd.); Nachtigall, der bei Schnitzler als Mittler fungiert, ähnelt in seiner Funktion Goethes »Kellner« im Wirtshaus, der Odoard überredet, »ein allerliebstes Abenteuer nicht mutwillig« zu »verschmähen« (ebd., S. 308).
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Traumnovelle
Beide Novellen schildern eine Ehekrise und außereheliche Amouren. Auf Goethes Nicht zu weit als Prätext dürfte auch die Wendung »nicht weiter« anspielen, die fünfmal in der Traumnovelle vorkommt. Sie gewinnt besondere Bedeutung in Albertines und Fridolins Bekenntnissen zu ihren ehebrecherischen Begehren. Nachdem Albertine Fridolins insistierende Frage nach der erotischen Faszination eines Offiziers mit der Antwort: »Nichts weiter« (EII, 437) bescheidet, greift Fridolin seinerseits diese Wendung auf, um Albertines Neugier nach seinen eigenen Phantasien zu begrenzen: »Frag’ auch du nicht weiter, Albertine« (EII, 438). Die wechselseitige Diskretion wirkt wie ein figuraler Kommentar auf die titelgebende Äußerung der Bedienten, der »guten Alten«, in Goethes Novelle: »Ich sagt’ es ihr [Albertine] mehr als einmal, sie solle es nicht zu weit treiben«.130 Die unter dem Motto ›Nicht weiter‹ wechselseitig eingeforderte Diskretion des Ehepaars wirkt wie eine poetische Reaktion auf die Soziologie des Geheimnisses, das Georg Simmel gerade für die moderne Ehe gefordert hatte. Da die moderne Ehe völlige Selbstpreisgabe und rückhaltlose Offenheit fordere, drohe sie die Diskretion aus dem Blick zu verlieren, die Georg Simmel als notwendige Basis dauerhaften Zusammenlebens erachtet.131 Im Vorgriff auf die kulturkritische Philosophie Simmels fungiert Goethes Nicht zu weit als latente Warnung vor einer ehelichen Entfremdung, auch wenn diese aus einem Nebeneinander-her-Leben resultiert und nicht aus uneingeschränkter Selbstpreisgabe. Trotz der gegensätzlichen Ausgangssituation 130 131
Ebd., S. 302. Vgl. Georg Simmel, »Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft«, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 256–304, hier S. 271f.: »Was wir bis auf den letzten Grund deutlich durchschauen, zeigt uns eben damit die Grenze seines Reizes, und verbietet der Phantasie, ihre Möglichkeiten darein zu weben, für deren Verlust keine Wirklichkeit uns entschädigen kann, weil jenes eben Selbsttätigkeit ist, die durch kein Empfangen und Genießen auf die Dauer ersetzt werden kann. […] Die bloße Tatsache des absoluten Kennens, des psychologischen Ausgeschöpfthabens ernüchtert uns auch ohne vorhergehenden Rausch, lähmt die Lebendigkeit der Beziehungen und läßt ihre Fortsetzung als etwas eigentlich Zweckloses erscheinen. Dies ist die Gefahr der restlosen und in einem mehr als äußeren Sinne schamlosen Hingabe, zu der die unbeschränkten Möglichkeiten intimer Beziehungen verführen, ja, die leicht als eine Art Pflicht empfunden werden – namentlich da, wo keine absolute Sicherheit des eigenen Gefühles besteht, und die Besorgnis, dem Andern nicht genug zu geben, dazu verleitet, ihm zu viel zu geben. An diesem Mangel gegenseitiger Diskretion, im Sinne des Nehmens wie des Gebens, gehen sicher viele Ehen zugrunde, d. h. verfallen in eine reizlos-banale Gewöhnung, in eine Selbstverständlichkeit, die keinen Raum für Überraschungen mehr hat.« Simmel wird zwar in Schnitzlers Tagebuch erwähnt, nicht jedoch dieses Werk.
Narratorial motivierte Bezüge
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ähneln sich die feindseligen Reaktionen der Ehemänner bei Goethe und Schnitzler. Odoards Bekenntnis: »Ich fing an, sie [Albertine] zu hassen«,132 teilt Fridolin, wenn er nach der Traumerzählung Albertine »tiefer zu hassen glaubte, als er sie jemals geliebt hatte« (EII, 481), doch empfindet er zugleich »eine unveränderte, nur schmerzlicher gewordene Zärtlichkeit« (EII, 481). Sogar der unsichere Realitätsstatus der Traumnovelle hat einen Rückhalt in Goethes Erzählung: Odoard findet bei seiner unwillkürlichen nächtlichen Flucht ins Wirtshaus »es [s]einer Lage gemäß, das Märchen fortzusetzen«.133 Und Goethes »Albertine glaubte zu träumen«, als sie feststellen muss, dass ihr Hausfreund Lelio sie mit ihrer Freundin Florine betrügt.134 Auch die komplexe narrative Faktur von Goethes Novelle antizipiert in mancher Hinsicht die Erzählperspektive der Traumnovelle. Dazu zählen die diversen Erzählinstanzen, die an der Erzählung Nicht zu weit beteiligt sind: So verdankt sich die Novelle vorrangig Friedrich, der »den Stoff mitgeteilt«135 und über ein »Talent« zur »Vergegenwärtigung interessanter Szenen« verfügt;136 beteiligt sind überdies ein auktorial-distanzierter Erzähler, der sich und seine Erzähler-Rolle betont, der homodiegetische Erzähler Odoard, dessen keineswegs neutrale Haushälterin (»die gute Alte«) und schließlich ein personaler, auf Albertine hin fokalisierter Erzähler. Diese Mischung von hetero- und homodiegetischem Erzählen bzw. die auktorial getarnte Personalisierung charakterisiert auch Schnitzlers Traumnovelle. Aufgrund der narrativen Analogien zeigt sich freilich umso schärfer der strukturale Unterschied beider Erzählungen. Während Goethes Erzählung eine Art ›narratives Provisorium‹ und heterogenes Fragment mit offenem Schluss darstellt, zeichnet sich die Traumnovelle durch eine fast überdeutliche zyklische Struktur aus. Goethe präsentiert die Eheleute isoliert in einer instabilen Situation. Dagegen führt Schnitzler die Geschichten von Fridolin und Albertine zu Beginn, in der Mitte und am Ende der Novelle zusammen. Damit wird strukturell die entscheidende Differenz zum Prätext deutlich: Rückhaltlose Offenheit hinsichtlich des Erlebten und prospektive Diskretion, wie sie sich Schnitzlers Ehepaar am Ende gelobt, stehen in Kontrast zur stummen Entfremdung der Eheleute in Goethes Novelle.
132 133 134 135 136
Goethe, »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, S. 301. Ebd., S. 303. Hervorh. von mir. Ebd., S. 312. Ebd., S. 306. Ebd., S. 393.
266
6.
Traumnovelle
Strukturelle Vorbilder – Homers Odyssee und James Joyces Ulysses?
Mit Goethes ›Doppelnovelle‹ aus Wilhelm Meisters Wanderjahren ist bereits nicht nur ein onomastisch markierter Prätext genannt, sondern auch ein strukturell ähnliches Muster. Daneben seien abschließend zwei weitere Texte als strukturelle Subtexte vorgeschlagen, die in der Forschung bisher noch nicht zur Sprache kamen: Homers Odyssee und ihre moderne Adaptation, James Joyces Ulysses.137 Augenfällig erinnern Fridolins nächtliche Abenteuer an die Irrfahrten des Odysseus und die Wanderung Leopold Blooms durch das nächtliche Dublin. Zwar setzt Schnitzler in seinem Tagebuch sich erst 1927 mit Joyces Roman auseinander,138 doch ist eine vorgängige Rezeption anzunehmen. Joyces Ulysses war zuerst 1922 erschienen und wurde im deutschen Sprachraum früh rezipiert. Daher ist es durchaus wahrscheinlich, dass Schnitzler die Idee einer nächtlichen Großstadtreise mittelbar Joyce verdankt, dessen großer Roman lange vor seiner ersten deutschen Übersetzung ausführlich in deutschsprachigen Zeitungen besprochen und registriert wurde.139 Die ›Miniaturisierung‹ der Odyssee, das heißt, der Versuch, die Irr137
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Allerdings wurde Fridolin schon mehrfach als moderner »Odysseus« bezeichnet, und seine nächtlichen Abenteuer wurden als »Irrfahrt« und »Odyssee« charakterisiert. Nicht nur Joyce, auch Homer liegt Schnitzler und der Wiener Moderne keineswegs fern. So waren in der Zeitschrift Imago, welche der »Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften« galt, gleich mehrere Beiträge zu Homer erschienen; vgl. Otto Rank, »Homer. Psychologische Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Volksepos«, in: Imago, 5/1917, S. 133–169 und 5/1919, S. 372–393, Hanns Sachs, »Homers jüngster Enkel«, in: Imago, 3/1914, S. 80–84, Alfred Winterstein, »Die Nausikaaepisode in der Odyssee«, in: Imago, 6/1920, S. 349–383. Zur Imago vgl. Jens Malte Fischer, »Einleitung«, in: Ders. (Hrsg.), Psychoanalytische Literaturinterpretation. Aufsätze aus »Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften (1912–1937)«, Tübingen 1980, S. 1–33. Am 13. 11. 1927 notiert Schnitzler, dass er den ersten »Ulysses«-Band zu Ende gelesen habe. Er stellt einen »Grundirrtum in der Conception« fest. »[D]er ununterbrochene unbetonte Ablauf« täusche eine Gleichwertigkeit vor, die nicht existiere. »[M]it steigender Ungeduld« setzt er die Lektüre fort (26. 11. 1927). Am 28. 11. 1927 nimmt er auf einen Artikel Bezug, der voller Bewunderung für Joyces inneren Monolog des dritten Ulysses-Bandes ist und Schnitzlers Versuche im Vergleich als »winzig« bezeichnet. Am 18. 01. 1928 charakterisiert Schnitzler den Ulysses als unglaubwürdig. Vgl. dazu die materialreiche Dokumentation von Wilhelm Füger (Hrsg.), Kritisches Erbe. Dokumente zur Rezeption von James Joyce im deutschen Sprachbereich zu Lebzeiten des Autors. Ein Lesebuch, Amsterdam 2000, sowie den Überblick von Rosemarie Franke, James Joyce und der deutsche Sprachbereich: Übersetzung, Verbreitung, Kritik von 1919 bis 1967, Diss. Berlin 1970.
Strukturelle Vorbilder – Homers Odyssee und James Joyces Ulysses?
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fahrten in kleinerem Maßstab darzustellen, war bereits in den ästhetischen Debatten um 1900 ein Thema.140 Unabhängig davon, ob Joyces Ulysses die Traumnovelle angeregt haben mag, scheint mir der Bezug zu dem griechischen Epos durch mehrere schlagende Übereinstimmungen markiert zu sein. So ist Fridolin auf seiner ›nächtlichen Irrfahrt‹ mit Odysseus zu vergleichen und ähnelt ihm auch im Familienstand: verheiratet und Vater eines einzigen Kindes. Doch den entscheidenden intertextuellen Bezug liefert die Situationsanalogie im 23. Gesang, nachdem Penelope Odysseus, der sich zuvor als Bettler ausgegeben hat, als ihren Mann ›entlarvt‹ hat und beide erstmals nach zwanzigjähriger Trennung wieder das eheliche Lager teilen: Aber nun laß uns, Frau, zu Bette gehen: damit uns Beide jetzo die Ruhe des süßen Schlafes erquicke. Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia: Jetzo wird dein Lager bereit sein, wann du es wünschest: Da dir endlich die Götter verstatteten, wiederzukehren In dein prächtiges Haus und deiner Väter Gefilde. Aber weil dich ein Gott daran erinnert, mein Lieber, Sage mir auch den Kampf! Ich muß ihn, denk’ ich, doch einmal Hören; so ist es ja wohl nicht schlimmer, ihn gleich zu erfahren. Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus: Armes Weib, warum verlangst du, daß ich dir dieses Sage? Ich will es dir denn verkünden, und nichts dir verhehlen. Freilich wird sich darob dein Herz nicht freuen; ich selber Freue mich nicht. […]141
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Wie Penelope ihren Mann beim Zu-Bett-Gehen bittet, ihr seine Abenteuer (»Kampf«) zu erzählen, so fordert Albertine mit Hilfe der Larve auf dem Kissen im Ehebett unausgesprochen Fridolin auf, sich ihr gegenüber zu erklären. Und wie Odysseus sich schweren Herzens dazu ermannt, Penelope seine vergangenen Erlebnisse, mit denen auch Treuebrüche einhergingen, zu »verkünden, und nichts dir [zu] verhehlen«, da er weiß, dass seine Erzählung weder sie noch ihn freut, so rafft sich auch Fridolin zu einer Beichte seiner nächtlichen Abenteuer auf, als Albertine auf sein Schluchzen mit einer zärtlichen Geste reagiert: »Da erhob er sein Haupt, und aus der Tiefe seines Herzens entrang sich’s ihm: ›Ich will dir alles erzählen‹« (EII, 503).
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Sie zeigt sich in der Erläuterung des Homer-Übersetzers Samuel Butler, der nicht zuletzt wegen der häuslichen Details in dem Epos eine junge Sizilianerin als Autorin vermutete und diese Theorie in einer Studie mit dem Titel The Authoress of the Odyssey darlegte. Butlers Verkleinerung Homers stieß zwar auf Widerspruch, barg aber das produktive Potential einer modernen unheroischen Adaptation. Od. 23, V. 254–267 (Übersetzung von Johann Heinrich Voß).
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Traumnovelle
Der hohe versepische Stil der Inquit-Formel, der durchaus Parallelen zur Odyssee hat, blieb bisher ebenso unbemerkt wie die antikisch metrisierte Faktur der Passage, die komplett aus Trochäen und Daktylen besteht. Fridolins Ankündigung seiner Generalbeichte, die in einem Adonius endet, gleicht durchaus der Bereitschaft des Odysseus, seiner Frau Penelope »nichts [zu] verhehlen«. Mit ihren Erzählungen überbrücken Odysseus und Penelope die Kluft der zwanzigjährigen Trennung,142 während Fridolin und Albertine zu Beginn wie am Ende der Traumnovelle versuchen, durch Erzählen ihrer Entfremdung Herr zu werden. Im Lichte dieser strukturellen und stilistischen Übereinstimmung gleichen auch Fridolins nächtliche Abenteuer den Irrfahrten des homerischen Odysseus oder der miniaturisierten Version, der nächtlichen Wanderung Leopold Blooms durch Dublin. Wie Homers Odysseus erlebt Fridolin phantastische Abenteuer in der erzählten Welt. Sind die wundersamen IrrfahrtenErlebnisse von Odysseus durch seine Ich-Erzählung vermittelt (Od. 9–12), so überformt Fridolins Projektion die Schilderung seiner nächtlichen Abenteuer. Intertextuelle Bezüge verbinden aber auch die Ehefrauen Penelope und Albertine. Beide träumen in der Abwesenheit ihrer Ehemänner. Wie Albertine im Traum, wird Penelope in Wirklichkeit von Freiern umworben.143 Zudem wirken auch einzelne Episoden von Fridolins Gang durch das nächtliche Wien – analog zu Leopold Blooms Gang durch das nächtliche Dublin – wie Entsprechungen zu prominenten Stationen der Odyssee: So alludiert die Konfrontation mit dem Burschenschafter, einem »lange[n] Kerl«, der »eine Binde über dem linken Auge« trägt, vielleicht den einäugigen Riesen Polyphem, lässt sich Fridolins Besuch im Leichenschauhaus als Anspielung auf Odysseus’ Besuch in der Unterwelt lesen, und Fridolins Treffen mit Mizzi, die ihn durch ihre Erkrankung mit der Sterblichkeit konfrontiert, wirkt wie eine Inversion von Odysseus’ Aufenthalt bei Kalypso, die ihm Unsterblichkeit verspricht, um ihn an sich zu binden. Doch zeigen Fridolins Abenteuer auch eine Distanz zu dem mythischen Vorbild: Während Odysseus seine Abenteuer besteht und sich bewährt, vollendet Fridolin keines seiner Abenteuer, sondern bricht sie alle unverrichteter Dinge ab. Diese Differenz des modernen Protagonisten zu dem mythischen Heros als seinem Muster und seiner Kontrastfigur markiert eine Kritik an der Moderne.
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Ebd., V. 300–343. Ihre Träume sind prophetischer Natur (Penelope über den Wahrheitsgehalt von Träumen s. Od. 19, V. 559–567).
Resümee
7.
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Resümee
Die Textgeschichte der Traumnovelle setzt ein mit einem starken intertextuellen Bezug zum Märchen von Amgiad und Assad aus Tausendundeiner Nacht, der aber sukzessive zugunsten einer internen Fokalisierung relativiert wird. Dafür gewinnen figurale Bezüge an Bedeutung, auch wenn sie erstaunlich kryptisch bleiben. Sie tragen unabhängig davon, ob sich ihre Prätexte erschließen, dazu bei, den Realitätsstatus von Fridolins Erleben in Zweifel zu ziehen. Das literarische Erleben verunsichert den Leser ebenso wie den Protagonisten, der im Sinne eines ›Déjà-lu‹ sein Erleben mit Lektüre-Assoziationen so überblendet, wie in Albertines Traum Erlebtes und Märchenhaftes konvergiert. Das Märchenmotiv wird somit insofern abgeschwächt, als die phantastische Sphäre psychologisiert und ›verinnert‹ wird. Die figural wie narratorial motivierten oder onomastisch markierten Prätexte beleuchten die zentralen Themen der Traumnovelle: eheliche Treue und Treuebruch. Zugleich vermitteln die drei maßgeblichen strukturellen Prätexte – das Märchen aus Tausendundeiner Nacht, Goethes Novelle Nicht zu weit und Homers Odyssee (im antiken Original wie in der zeitgenössischen Adaptation) die notwendige Bedingung für das Zusammenleben: die offene Aussprache. Zeigt sich gerade in der ehelichen Krise die Sprachlosigkeit, gelingt es Fridolin, die eheliche Entfremdung durch das der Odyssee abgeborgte Zitat zu überwinden: »Ich will dir alles erzählen.«
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Fazit und Ausblick
IX. Fazit und Ausblick
Die intertextuellen Studien zu ausgewählten Erzählungen Arthur Schnitzlers haben gezeigt, wie sehr Bezugnahmen auf literarische Muster Schnitzlers Prosa prägen. Die intertextuellen Bezugnahmen und ihre Funktion wandeln sich jedoch im Lauf der Zeit. Diese Veränderungen betreffen erstens die Wahl der Prätexte, zweitens die Markierung der Prätexte, drittens ihre narrative Integration und viertens ihre Funktion. In der Wahl der Prätexte zeigt Schnitzlers erzählerisches Werk einen merklichen Wandel, der auf eine Veränderung der ästhetischen Orientierung schließen lässt. Während das Frühwerk stärker auf die moderne französische Literatur referiert, zeichnen sich das mittlere Werk und die späten Erzähltexte durch eine individualisierte Prätextwahl aus: Die intertextuellen Bezüge sind spezifisch auf den jeweiligen Posttext abgestimmt. So rekurriert die phantastische Traumnovelle neben anderen Vorlagen auf ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, während eine historische Erzählung wie Casanovas Heimfahrt sich vor allem auf Casanovas Memoiren stützt. Auch das Gattungsspektrum der Prätexte vergrößert und diversifiziert sich tendenziell: Zu den Prätexten zählen über gattungsadäquate Erzähltexte hinaus vermehrt Gedichte, Lieder, Dramen und Opern. So referiert der Schluss von Fräulein Else auf romantische Schlaflieder. Daneben zeigt sich eine zunehmende Tendenz zu weniger bekannten Prätexten. Die Markierung der Prätexte ändert sich ebenfalls. In den frühen Erzählungen wie Die Toten schweigen oder Andreas Thameyers letzter Brief dominieren primär explizite Markierungen, die mittels onomastischer Referenz (Emma in Die Toten schweigen verweist auf Emma Bovary), Titelnennung (Wohltaten, still und rein gegeben) oder Zitat die Vorlage eindeutig kenntlich machen. In den späteren Erzählungen sind Referenzanteil und Referenzdichte quantitativ umfassender. Auch experimentiert Schnitzler stärker mit unterschiedlichen narrativen Verfahren der Integration. So finden sich selektive Motiv- oder Symbolübernahmen, Adaptationen von Handlungsstrukturen und stilistische Imitationen der Vorlage. Durch die Pluralität und Partialität bleiben die Bezüge zu möglichen Prätexten selektiv, unklar und fragmentarisch. Hinzu kommt die zunehmende Kopplung intertextueller Bezüge an die Figurenperspektive. Die narratorial motivierte Intertextualität tritt hinter die figural motivierte zurück oder interferiert so sehr mit ihr, dass eine Unterscheidung nur noch schwer möglich ist. Mit der zunehmenden Personalisierung der intertextuellen Bezüge geht auch ein Wandel der rezeptionsästhetischen Funktion einher. Schnitzlers Er-
Fazit und Ausblick
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zählen, ohnehin stark subjektiviert, ist zunehmend an Figuren der diegetischen Welt gebunden. Solche Allusionen erfolgen in monologischer (Lieutenant Gustl, Fräulein Else, aber auch in den Brieferzählungen Andreas Thameyers letzter Brief, Der letzte Brief eines Literaten) oder dialogischer Figurenrede (Traumnovelle, Sterben). Aber auch vordergründig auktorial bis personal dominierte Erzählsituationen (Die Nächste, Traumnovelle) weisen immer wieder Interferenzen auf und sind – mindestens partiell – auf den Protagonisten intern fokalisiert. Der Leser muss solche figural motivierten Allusionen von den narratorialen Bezügen unterscheiden und auf die jeweilige Person beziehen. Hinsichtlich der Figuren erfüllen die intertextuellen Referenzen damit unterschiedliche rezeptionsästhetische Funktionen: Die narratorial motivierten Bezüge erzeugen ein Mehrwissen (Rezeptionsfolie) für den Leser, indem sie mittels Erzählerbericht auf eine Vorlage bezogen sind wie im Fall der Protagonistin Emma in Die Toten schweigen. Durch den onomastisch und struktural markierten Verweis auf einen kanonischen Text der Weltliteratur, Flauberts Madame Bovary, wird das vordergründige Thema (Untreue) relativiert und das Leserinteresse auf die psychologische Frage gelenkt, wie sich eine Ehebrecherin nach dem Tod ihres Geliebten verhält. Die figural motivierten Allusionen charakterisieren dagegen die Figur als ›kulturelles Produkt ihrer Zeit‹ und vermitteln implizit Informationen über deren Bildungsgrad, Belesenheit, Milieuprägung und Geschmack. Je nach Nähe oder Distanz der Figur zu ihren Lektüren können diese identifikatorisches, kompensatorisches oder kontrafaktisches Handeln zur Folge haben. Auch wenn die Figur keineswegs immer die Bedeutung einer textuellen Erfahrung erfasst – man denke nur an Lieutenant Gustl in Mendelssohns PaulusOratorium – oder eine literarische Figur imitiert wie Fräulein Else, die sich an Manon Lescaut und ihren Nachfolgerinnen orientiert, kann der Leser das Verhalten einer Person aufgrund ihrer Lektüren oder ihres ästhetischen Selbstbezugs bewerten. Aus den vereinfacht zusammengefassten Ergebnissen der Analyse von Arthur Schnitzlers intertextuellem Erzählen seien abschließend drei Arbeitshypothesen für die künftige Schnitzler-Forschung abgeleitet. Erstens: Intertextualität ist ein Verfahren, das Schnitzlers gesamtes Erzählen in viel stärkerer Weise bestimmt, als bisher angenommen. So lohnte es sich, neben weiteren Erzählungen wie etwa Spiel im Morgengrauen, das auf Daudets Sapho und Dostojewskis Spieler referiert, auch die Romane Der Weg ins Freie und Therese auf ihren intertextuellen Resonanzraum hin zu untersuchen. Zweitens: Intertextualität bestimmt als produktionsästhetisches Verfahren nicht nur Schnitzlers Erzählen, sondern auch sein dramatisches Schaf-
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Fazit und Ausblick
fen. Erstaunlicherweise hat die Forschung bisher das dramatische Werk in viel geringerem Maße auf intertextuelle Bezüge hin geprüft. Selbst die historischen Dramen wie Paracelsus, Der Schleier der Beatrice und Der junge Medardus oder die Fragmente historischer Dramen wie Der Landsknecht, die auf dem Studium von Quellen und historiographischen Werken beruhen, sind noch nicht auf ihre intertextuellen Bezüge hin ausgewertet. Aber auch die Dialogizität der übrigen Dramen ist bislang weder in systemreferentieller noch in einzeltextspezifischer Hinsicht untersucht worden. Hier ließe sich meines Erachtens die ästhetische Konkurrenz mit anderen Repräsentanten des Jungen Wien klar profilieren, etwa im Vergleich der Verskomödie Die Schwestern oder Casanova in Spa (1917) mit Hugo von Hofmannsthals Casanova-Komödie Cristinas Heimreise (1910) oder in Bezug auf Hermann Bahr, dessen Gelbe Nachtigall das Muster für das Schauspielerstück Die große Szene abgibt. Drittens: Unsere Untersuchung hat nachweisen können, dass Schnitzlers literarisches Schaffen sich durch eine viel größere innerwerkspezifische Intertextualität auszeichnet als bisher angenommen. Dazu gehören auch gattungsübergreifende Bezüge und Selbstzitate. So spielt der Schauspieler Herbot, Protagonist in dem Filmbuch Große Szene, Schnitzlers filmischer Adaptation des titelgleichen Einakters, die Rolle Hofreiters im Weiten Land.1 Und der Tapfere Cassian lobt die Schönheit Sofiens, indem er ihrer Mutter ein ›Versehen‹ andichtet, das er mit dem Traum einer »vornehmen Dame« erklärt, »der ein Mohrenfürst erschien und die ein kohlrabenschwarzes Mägdelein auf die Welt brachte«2 – die Inversion desselben ›Versehens‹, das Andreas Thameyers letzter Brief zu bestärken sucht. Zwar hat die frühe Schnitzler-Forschung wie etwa Theodor Reik auf »die Menge der Varianten desselben Themas in demselben Werk« hingewiesen,3 doch fehlt bisher eine systematische Untersuchung. So bildet die Erzählung Der Abschied den Prätext für Die Toten schweigen, der in den frühen Entwürfen auch noch den Arbeitstitel »Der andere Abschied« hat. Auch Fräulein Else ist nicht nur in der Form des Inneren Monologs als Pendant zum Lieutenant Gustl gestaltet, wie Therese auf die frühe Erzählung Der Sohn rekurriert. Spiel im Morgengrauen folgt in der Wieder-
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Vgl. dazu Achim Aurnhammer, »Subjektivierung der Filmsprache: ›Die Große Szene‹ als ›Filmsujet‹«, in: Ders./Barbara Beßlich/Rudolf Denk (Hrsg.), Arthur Schnitzler und der Film, Würzburg 2010 (Klassische Moderne, 15 [Akten des Arthur Schnitzler-Archivs, 1]), S. 79–93. Arthur Schnitzler, »Der tapfere Cassian«, in: Gesammelte Werke, Die Dramatischen Werke, Bd. 3, Frankfurt/M. 1962, [D I], S. 856–871, hier S. 865. Theodor Reik, Arthur Schnitzler als Psycholog, Minden 1913, S. 162.
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holungsstruktur und in der projektiven Überformung der Erlebnisse der Traumnovelle. Solche stofflichen Überblendungen, Umschreibungen und Variationen eigener Texte wird man allerdings erst genauer erfassen können, wenn die textgenetische Erschließung von Schnitzlers Werk weiter fortgeschritten ist.
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Fazit und Ausblick
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Siglenverzeichnis
1.
Ausgaben
AuB BI BII DI/DII EI/EII EuV JW LG-HKA LL Tgb
2.
Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen, Bd. 5, Robert O. Weiss (Hrsg.), Frankfurt/M. 1967 (Gesammelte Werke, Bd. 5). Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912, Therese Nickl/Heinrich Schnitzler (Hrsg.), Frankfurt/M. 1981. Arthur Schnitzler: Briefe 1913–1931, Peter Michael Braunwarth (u. a.) (Hrsg.), Frankfurt/M. 1984. Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke, Bd. 1 und 2, Frankfurt/M. 1962 (Gesammelte Werke, Bd. 3 und 4). Arthur Schnitzler: Die Erzählenden Schriften, Bd. 1 und 2, Frankfurt/M. 1961 (Gesammelte Werke, Bd. 1 und 2). Arthur Schnitzler: Entworfenes und Verworfenes, Aus dem Nachlaß, Bd. 6, Reinhard Urbach (Hrsg.), Frankfurt/M. 1977 (Gesammelte Werke, Bd. 6). Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie, Therese Nickl/ Heinrich Schnitzler (Hrsg.), mit einem Nachwort von Friedrich Torberg, Wien 1968. Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Historisch-kritische Ausgabe, Konstanze Fliedl (Hrsg.), Berlin und New York 2011. Achim Aurnhammer: Arthur Schnitzlers Lektüren. Leseliste und virtuelle Bibliothek, Würzburg 2012. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1879–1931, 10 Bde., Werner Welzig (Hrsg.), unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (u. a.), Wien 1981–2000.
Weitere Siglen
Cambridge Arthur Schnitzlers Nachlass in der Cambridge University Library. Ca. 270 Nachlassmappen. FF [Freiburger Findbuch] Gerhard Neumann/Jutta Müller: Der Nachlaß Arthur Schnitzlers. Verzeichnis des im Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg i. Br. befindlichen Materials, mit einem Vorwort von Gerhart Baumann und einem Anhang von Heinrich Schnitzler: Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlaßmaterials, München 1969. Urbach Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken, München 1974.
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Siglenverzeichnis
Fazit und Ausblick
277
Zur Zitierweise unveröffentlichter Texte Schnitzlers
Zur Entstehungsgeschichte und zur Plausibilisierung genetischer Bezüge werden unveröffentlichte Texte Arthur Schnitzlers, handschriftliche wie maschinenschriftliche Entwürfe und Vorstufen herangezogen. Mehrere Passagen der flüchtig notierten, schwer lesbaren handschriftlichen Entwürfe werden hier erstmals transkribiert. Das Hauptaugenmerk liegt nicht auf der diplomatischen Wiedergabe des Textmaterials (Tippfehler, Sofortkorrekturen), sondern auf dem Nachzeichnen der Textgenese. Nur die kürzeren, schwer lesbaren Entwürfe und Skizzen werden in ihrer Zeilenanordnung wiedergegeben, ausgearbeitete Fassungen und Vorstufen werden als fortlaufende Texte präsentiert, ohne den originalen Zeilenumbruch zu berücksichtigen. Für die Transkription gelten folgende Prinzipien: abc abc
handschriftlicher Text (kursiv) maschinenschriftlicher Text (recte)
Übersicht über die diakritischen Zeichen: abc zabcu [abc] NabcM x xxx xxx |
durchgestrichener/getilgter Text addierter Text (Einfügungen) vom Editor ergänzter Text unsichere Entzifferung oder problematische Lesung nicht entzifferter Buchstabe nicht entziffertes Wort nicht entziffertes, durchgestrichenes Wort Seiten- bzw. Zeilenwechsel
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Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
279
Literaturverzeichnis
1.
Quellen
1.1.
Werke Schnitzlers
Die Werkausgaben Schnitzlers werden abgekürzt zitiert und sind im Siglenverzeichnis aufgeführt. Bergel, Kurt (Hrsg.): Georg Brandes und Arthur Schnitzler. Ein Briefwechsel, Bern 1956. Schnitzler, Arthur: »Ein Abschied«, in: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne), 7/1896, S. 115–124. Schnitzler, Arthur: »Andreas Thameyers letzter Brief«, in: Die Zeit, 8, Bd. 32, Nr. 408 vom 26. Juli 1902. Schnitzler, Arthur: »Andreas Thameyers letzter Brief«, in: Ders.: Die griechische Tänzerin. Novellen, Wien 1905, S. 63–79. Schnitzler, Arthur: »Andreas Thameyers letzter Brief«, in: Ders.: Dämmerseelen. Novellen, Berlin 1907, S. 121–132. Schnitzler, Arthur: »Andreas Thameyers letzter Brief«, in: Die Quelle. Monatsschrift für Literatur, Kunst und Theater, 4/1911, Heft 9/10, S. 9–13. Schnitzler, Arthur: »Lieutenant Gustl«, in: Neue Freie Presse, 25. 12. 1900. Schnitzler, Arthur: Lieutenant Gustl. Novelle, Konstanze Fliedl (Hrsg.), mit Anmerkungen und Literaturhinweisen von Evelyne Polt-Heinzl, Stuttgart 2002. Schnitzler, Arthur: Lieutenant Gustl, kommentiert von Ursula Renner unter Mitarbeit von Heinrich Bosse, Frankfurt/M. 2007. Schnitzler, Arthur: Lieutenant Gustl. Historisch-kritische Ausgabe, Konstanze Fliedl (Hrsg.), Berlin und New York 2011. Schnitzler, Arthur: »Die Nächste [1899] (aus dem unveröffentlichten Nachlasse)«, in: Neue Freie Presse, 27. 03. 1932, S. 33–39. Schnitzler, Arthur: »Die Nächste«, in: Ders.: Die kleine Komödie. Frühe Novellen, Otto P[aul] Schinnerer (Hrsg.), Berlin 1932, S. 249–275. Schnitzler, Arthur: »Die Toten schweigen«, in: Cosmopolis, 8/Oktober–Dezember 1897, S. 193–211. Schnitzler, Arthur: »Die Toten schweigen«, in: Ders.: Die Frau des Weisen. Novelletten, Berlin 1898, S. 135–170. Schnitzler, Arthur: »Über Psychoanalyse [1926]«, in: Reinhard Urbach (Hrsg.): Protokolle, 11/1976, H. 2, S. 277–284. Schnitzler, Arthur: »Die Wahrheit über ›Leutnant Gustl‹« (postum von Heinrich Schnitzler veröffentlicht), in: Die Presse, Nr. 3454, 25. 12. 1959. Schnitzler, Arthur: »Der Witwer [ED]«, in: Wiener Allgemeine Zeitung, 25. 12. 1894, S. 3–5. Seidlin, Oskar (Hrsg.): Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm, Tübingen 1975 [Deutsche Texte, 35]. Urbach, Reinhard (Hrsg.): »Arthur Schnitzler – Franz Nabl: Briefwechsel«, in: Studium Generale, 24/1971, S. 1256–1270.
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Abschied eines Sterbenden [Sterbelied] 112 Altenberg, Peter [d.i. Richard Engländer] (1859–1919) 103f., 119, 247 – Ashantee 103f., 119 – Wie ich es sehe 247 Altmann, Abraham (1879–1944) 260 Amelot d’Houssaie, Nicolas (1634–1706) 9 Andreas-Salomé, Lou (1861–1937) 7, 170 – Fenitschka 170 – Russische Dichtung und Kultur 7 Andrian zu Werburg, Leopold Frhr. von (1875–1951) 71 Arnim, Achim von (1781–1831) 47–49, 212f. – Des Knaben Wunderhorn 212f. – Die Kronenwächter 47–49 Bacon, Francis (1561–1626) 164 Bahr, Hermann (1863–1934) 16, 19, 53f., 72–75, 86–91, 168, 259, 272 – 17. Jänner 1902 [Rezension] 16 – Die gelbe Nachtigall 272 – Die neue Psychologie 19, 53f., 72–76, 86–91 Bandello, Matteo (um 1485–1562) 244 Barbusse, Henri (1873–1935) 180f. – L’Enfer 180f. Bartholinus, Thomas (1616–1680) 126 Beck, H. 7 – Des Grafen Leo Tolstoi »Kreutzersonate« 7 Beethoven, Ludwig van (1770–1827) 7, 175f., 200 – Violinsonate Nr. 9 [Kreutzersonate] 7 Belleforest, François de (1530–1583) 244 Berger, Adele (1866–1900) – Du sollst nicht töten! 7 Berger, Alfred Frhr. von (1853–1912) 7 – Tolstois Kreutzersonate 7 Bergner, Elisabeth (1897–1986) 166, 170
Boccaccio, Giovanni (1313–1375) 254f. – Decamerone 254f. Boileau, Pierre (1906–1989) 55 – D’entre les morts 55 Boukay, Maurice [d.i. Couyba, CharlesMaurice] (1866–1931) 15f. – Nouvellles chansons, rêves, joies, regrets 15f. Bourdeille, Pierre de, Seigneur de Brantôme (1537–1614) 244 – Les vies des dames galantes [Das Leben der galanten Damen] 244 Bourget, Paul (1852–1935) 27 Brahms, Johannes (1833–1897) 212f. Brandes, Georg (1842–1927) 7, 93f., 261 – Leo Tolstoi 7 Breier, Eduard (1811–1886) 92 – General Roßwurm 92 Brentano, Clemens (1778–1842) 213f. – Des Knaben Wunderhorn 212f. – Das Märchen von dem Myrtenfräulein 213f. Buffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de (1707–1788) 24 Calderón, Pedro de la Barca (1600–1681) 221 Casanova, Giacomo Girolamo (1725–1798) 8f., 21, 161, 270 – Confutazione della Storia 9 – Histoire de ma vie [Memoiren] 21, 270 – Icosameron ou l’histoire d’Édouard et Elisabeth 9 – Scrutinio del libro 9 Chopin, Frédéric François (1810–1849) 1, 175 Claudius, Matthias (1740–1815) 13, 20 – Die Armen in Wandsbeck 20 Dalziel’s illustrirte Tausend und Eine Nacht f Tausendundeine Nacht Daudet, Alphonse (1840–1897) 271 – Sapho 271
300 David, Jakob Julius (1859–1906) 19 – Das Höferecht 19 Descartes, René (1596–1650) 123 Dingelstedt, Franz (1814–1881) 252 – Traum-Novelle 252 – Wanderbuch 252 Döblin, Alfred (1878–1957) 65 – Die Segelfahrt 65 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch (1821–1881) 94, 134, 149, 165, 271 – Der Spieler 271 – Die Sanfte 94 – Schuld und Sühne 134, 149, 165 Dujardin, Édouard (1861–1949) 21, 91, 93–97, 210f. – Les lauriers sont coupés [Die Lorbeerbäume sind geschnitten] 21, 91, 93–97, 210f. Dumas, Alexandre d. J. (1824–1895) 176f., 195, 198–202 – La Dame aux camélias [Die Kameliendame] 176f., 195, 198–202, 207 Düsel, Friedrich (1869–1945) 215 Dyck, Ernest van (1861–1923) 194 Eisenberg, Ludwig (1858–1910) 193 – Großes Biographisches Lexikon der Deutschen Bühne 193 Erzählungen aus den tausendundein Nächten f Tausendundeine Nacht Eschenbach, Marie Ebner von (1830–1916) 27 Fickert, Auguste (1855–1910) 261 Fischer, Samuel (1859–1934) 1 – Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag [Zeitungsartikel] 1 Flaubert, Gustave (1821–1880) 13, 19, 38–47, 52, 271 – Madame Bovary 13, 16, 19, 25f., 38–46, 51f., 270f. Freud, Sigmund (1856–1939) 25, 54f., 68, 75–80, 82, 88f., 171, 181–183, 215 – Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens 80 – Bruchstück einer Hysterie-Analyse 171, 181–183 – Die Traumdeutung 88, 215
Register Frey, Herbert 207 – Die Tochter des Sträflings 207 Galitzin, Fürst Michailovic Dimitrij (1721–1793) 7 – Du sollst nicht töten! 7 Geibel, Emanuel (1815–1884) 47, 49–52, 149 – Am Schillertage 149 – Zwei Psalmen 47, 49–52 Gille, Philippe (1831–1901) 194f. – Manon 194f. Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832) 14f., 23, 100, 153–160, 162f., 165, 203, 208, 224, 254, 262–266, 269 – Clavigo 208 – Der Mann von fünfzig Jahren 14, 224 – Die Leiden des jungen Werthers 23, 153–160, 162, 165 – Faust 100f., 160 – Nicht zu weit 262–265, 269 – Novelle 254 – Wilhelm Meisters Lehrjahre 22, 159f. – Wilhelm Meisters Wanderjahre 22, 262–266 – Willkommen und Abschied 203 Gottfried von Straßburg (zweite Hälfte 12. Jh.–um 1220) 251 Greve, Felix Paul [d.i. Frederick Philip Grove] (1879–1948) 221, 227–235 Grillparzer, Franz (1791–1872) 2, 221 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von (1621–1676) 244 – Der abentheurliche Simplicissimus Teutsch 244 Guilbert, Yvette (1865–1944) 16 – Montmartre en ballade 16 Gumbert, Ferdinand (1818–1896) 194 Gutzkow, Karl (1811–1878) 162f. Hamsun, Knut [d.i. Knud Petersen] (1859–1952) 94 – Hunger 94 Hansjakob, Heinrich (1837–1916) 92 – Leutnant von Hasle 92 Harris, Frank [d.i. James Thomas Harris] (1856–1931) 262
301
Register Harsdörffer, Georg Philipp (1607–1658) 121, 244 – Das gefährliche Vertrauen 244 – Der weisse Mohr 121 Hart, Julius (1859–1930) 65 Hauptmann, Gerhart (1862–1946) 65, 68 – Bahnwärter Thiel 68 Haydn, Joseph (1732–1809) 84, 98 – Die Schöpfung 84 – Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers 84 – Die Jahreszeiten 84 Hebbel, Friedrich (1813–1863) 2 Heine, Heinrich (1797–1856) 2 Heliodor(os von Emesa) (~ 3–4 Jh. n. Chr.) 120f., 124f., 129 – Aithiopika [Die Äthiopischen Abenteuer ] 120f., 124f. Heyse, Paul (1830–1914) 27, 254f. Hillern, Wilhelmine von (1836–1916) 245f. – Doppelleben 245f. – Geier-Wally 245 Hinnerk, Otto [d.i. Otto Hinrichsen] (1870–1941) 66 – Die Närrische Welt 66 Hitchcock, Sir Alfred (1899–1980) 55 Hochdorf, Max (1880–1948) 181 Höfer, Edmund Franz Andreas (1819–1882) 180 – Fräulein Else 180 – Vergangene Tage 180 Hoffmann, E. T. A. (1776–1822) 150–153, 165, 254, 256 – Der Sandmann 150 – Die Serapionsbrüder 151 – Lebens-Ansichten des Katers Murr 150 – Rat Krespel 150–153, 165 Hofmannsthal, Hugo von (1874–1929) 164, 166, 221, 230, 252f., 272 – Cristinas Heimreise 272 – Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten [Vorwort] 230 – Ein Brief [Brief des Lord Chandos] 164 – Eugene O’Neill 253 Hölderlin, Friedrich (1770–1843) 209 – Achte Pythische Ode 209
Holtei, Karl von (1798–1880) 121f. – De Mohrenwäsche 121 – Kalenderbildel 121f. – Vierzig Jahre 122 Homer (8. Jh. v. Chr.) 266–269 – Odyssee 15, 266–269 Horn, Richard (1861–1930) 150 Hübner, Alexander Frhr. von (1811–1892) 191 – Ein Spaziergang um die Welt 191 Huysmans, Joris-Karl (1848–1907) 246f. – À Rebours 247 – Là-bas [Tief unten] 246f. Ibsen, Henrik (1828–1906) 211f. – Et dukkehjem [Nora oder Ein Puppenheim] 211f. Immermann, Karl Leberecht (1796–1840) 150 Jacob, Hans (1896–1961) 261f. James, Henry (1843–1916) 27 Janssen, Alfred 260 Joyce, James (1882–1941) 266–269 – Ulysses 215, 266–269 Kafka, Franz (1883–1924) 241 Keller, Gottfried (1819–1890) 22 – Der grüne Heinrich 22 Kellner, Lorenz (1811–1892) 20 Kerr, Alfred (1867–1948) 16 Khnopff, Fernand (1858–1921) 64 Kierkegaard, Søren (1813–1855) 144, 164 – Enten – Eller [Entweder – Oder] 144, 164 Klarwill, Victor 67 – Georges Rodenbach [Zeitungsartikel] 67 Kleist, Heinrich von (1777–1811) 15 Klemperer, Viktor (1881–1960) 1, 257 – Adolf Wilbrandt 257 – Arthur Schnitzler 1 Kohut, Heinz (1913–1981) 182 König, Ewald August (1833–1888) 207 – Der Sohn des Sträflings 207 Körner, Theodor (1791–1813) 19f. – Die Reise nach Schandau 19f.
302 Kraft, Emil Robert (1869–1916) 178 – Die Vestalinnen 178 Kraus, Karl (1874–1936) 16 – Die Fackel 16 Krell, Max (1887–1962) 171f. – Das alles gab es einmal 171f. Krohg, Christian (1852–1925) 260f. – Albertine 260f. Kubin, Alfred (1877–1959) 241 Kubrick, Stanley (1928–1999) 215 Kugler, Luise (1811–1884) 20 – Spruch-Buch 20 Kühne, Ferdinand Gustav (1806–1888) 245 – Die Freimaurer 245 Kyser, Hans (1882–1940) 163–165 – Charlotte Stieglitz 163–165 Landauer, Gustav (1870–1919) 253f. – Strindbergs Traumspiel [Rezension] 253f. Landsberg, Hans (1875–1920) 1 – Arthur Schnitzler 1 Lecocq, Alexandre Charles (1832–1918) 85 – Hundert Jungfrauen 85 Lee, Vernon [d.i. Violet Paget] (1856–1935) 27 Legay, Marcel (1851–1915) 15f. Leimbach, Carl (1844–1905) 50 – Emanuel Geibels Leben 50 Leoncavallo, Ruggiero (1858–1919) 176 – La Bohème 176 Lesage, Alain-René (1668–1747) 13 – Le Diable boiteux [Der hinkende Teufel ] 13 Libri aethiopicorum f Heliodor, Aithiopika Lichtenberg, Georg Christoph (1742–1799) 134 – Rede eines Selbstmörders 134 Linden, Ilse 165 – Der letzte Brief 165 Lothar, Rudolph [d.i. Rudolf Lothar Spitzer] (1865–1943) 257 – Das Wiener Burgtheater 257 Ludolf, M. 207 – Die Tochter des Spielers 207
Register Luther, Martin (1483–1546) 120, 124 – Die gantze Heilige Schrifft 120 – Tischreden 124 Lycosthenes, Conrad [d.i. Conrad Wolffhart] (1518–1561) 127 Mach, Ernst (1838–1916) 168 Mahler, Gustav (1860–1911) 97, 155, 176 Malebranche, Nicolas (1638–1715) 122–124, 129 Malot, Hector Henri (1830–1907) 93 – Baccara 93 – Cara 93 – Les amours de Jacques 93 – Lieutenant Bonnet 93 – Madame Obernin 93 Mann, Heinrich (1871–1950) 16 – Atem 16 Mann, Thomas (1875–1955) 149, 151, 164, 214 – Der Tod 214 – Tristan 149, 151, 164 Märchen [Geschichte] von Amgiad und Assad f Tausendundeine Nacht Märchen aus Tausendundeiner Nacht f Tausendundeine Nacht Massenet, Jules (1842–1912) 193–195 – Manon 193–195 – Werther 194 Maupassant, Guy de (1850–1893) 1, 14f., 17, 22, 171, 177f., 181, 184–189, 195–198 – Le Horla 22 – Notre Cœur [Unser Herz] 14, 177f., 195–198 – Pierre et Jean 1 – Yvette 15, 17, 171, 181, 184–189 May, Karl (1842–1912) 178 Meilhac, Henri (1831–1897) 194f. – Manon 194f. Mendelssohn-Bartholdy, Felix (1809–1847) 6f., 84f., 98–102, 160, 271 – Paulus-Oratorium 6f., 84f., 98–102, 271 Mendès, Catulle (1841–1909) 13f. – Le troisième oreiller 13f.
303
Register Meyerbeer, Giacomo (1791–1864) 70f. – Robert le Diable 70f. Meyrink, Gustav [d.i. Gustav Meyer] (1868–1932) 241 Michaëlis, Karin (1872–1950) 21 – Den farlige alder [Das gefährliche Alter] 21 Möllhausen, Balduin von (1825–1905) 178f., 205–207 – Die Kinder des Sträflings 178f., 205–207 Mongré, Paul [d.i. Felix Hausdorff] (1868–1942) 191 – Sant’ Ilario 191 Montoya, Gabriel (1868–1914) 15f. Moreau, Émile (1877–1959) 97 – Madame Sans-Gêne 85, 97 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791) 21, 179, 217 – Don Giovanni 21 – Figaros Hochzeit 179 Mühlbach, Luise (1814–1873) 202f. – Eine Welt des Glanzes 202f. Mundt, Theodor (1808–1861) 162f. Mylius, Otfried [d.i. Karl Müller] (1819–1889) 10f., 248–250 – Der ›Wilde Mann‹ und das ›Feuerzeug‹ 10f., 248–250 Nabl, Franz (1883–1974) 19 – Der Schwur des Martin Krist 19 Nansen, Fridtjof (1861–1930) 97f. – In Nacht und Eis 85, 97f. Narcejac, Thomas (1908–1998) 55 – D’entre les morts 55 Nobl, Gábor (1864–1938) 166, 182 Oko, Adolph S. (1883–1944) 1 Ompteda, Georg Frhr. von (1863–1931) 195–198 Oppeln-Bronikowski, Friedrich von (1873–1936) 64 Ovid (43 v. Chr.–um 17 oder 18 n. Chr.) 207f. – Metamorphosen 207f. Pindar (522/518–446) 209 Poe, Edgar Allan (1809–1849) 68, 217, 243
– – – –
Dream within a Dream 217 Ligeia 68 Morella 68 The Masque of the Red Death [Die Maske des roten Todes] 243 Poppenberg, Felix (1869–1915) 65 – Puppen- und Menschenspieler 65 Preuss, Julius (1885–1954) 129–131 – Vom Versehen der Schwangeren 129 Prévost, Antoine-François (1697–1763) 194–196, 198–200, 271 – Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut [Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut] 12, 194–196, 198–200, 271 Properz (Mitte 1. Jh.–16 v. Chr.) 217f. Proust, Marcel (1871–1922) 261f. – A la recherche du temps perdu 261f. Puccini, Giacomo (1858–1924) 176f. – La Bohème 176f. Rahsin, E. K. [d.i. Elisabeth Kaerrick] (1886–1966) 149 Rank, Otto [d.i. Otto Rosenfeld] (1884–1939) 246, 266 – Der Doppelgänger 246 – Homer 266 Reik, Theodor (1888–1969) 1, 113, 122, 272 – Arthur Schnitzler als Psycholog 1, 113, 122, 272 Reinhard, Marie (1871–1899) 39, 53, 56, 58, 80, 94 Renard, Marie [d.i. Marie Pölzl] (1864–1939) 194 Rilke, Rainer (René) Maria (1875–1926) 65 Robert, Emmerich [d.i. Emmerich Magyar] (1847–1899) 193 Robison, Arthur (1888–1935) 195 Rodenbach, Georges (1855–1898) 19, 53–55, 61, 64–80 – Bruges-la-Morte [Das tote Brügge] 19, 53–55, 61, 64–80 – Le Carillonneur 66 – Le Mirage [Das Trugbild] 64f. Roessler, Arthur (1877–1955) 65 – Vom Dichter der toten Stadt 65
304 Rubens, Peter Paul (1577–1640) 175, 206 Runge, Max Heinrich (1849–1909) 130 – Lehrbuch der Geburtshilfe 130 Saar, Ferdinand von (1833–1906) 15, 23, 27, 92f., 157–161, 165, 259f. – Herr Fridolin und sein Glück 259f. – Leutnant Burda 92 – Marianne 23, 157–161, 165 Sachs, Hanns (1881–1947) 266 – Homers jüngster Enkel 266 Salten, Felix (1869–1945) 83, 104, 167 – Fräulein Else [Rezension] 167 Sardou, Victorien (1831–1908) 18, 97 – Madame Sans-Gêne 85, 97 Sartori, Franz (1782–1832) 20 – Wien’s Tage der Gefahr 20 Schiller, Friedrich von (1759–1805) 98, 149, 159, 209 – Die Bürgschaft 98 – Die Jungfrau von Orleans 209 Schlegel, August Wilhelm (1767–1845) 214 Schlicht, Frhr. von [d.i. Wolf Graf von Baudissin] (1907–1993) 92 – Leutnant Krafft 92 Schnitzler, Arthur (1862–1931) – Abenteurernovelle 254 – Anatol 18, 247 – Andreas Thameyers letzter Brief 22, 24, 103–132, 270–272 – Bemerkungen zu L’Enfer 181 – Blumen 247 – Casanovas Heimfahrt 8f., 14, 21, 270 – Dämmerseelen [Novellensammlung] 103 – Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg 14 – Das weite Land 272 – Der Geist im Wort 135, 139 – Der junge Medardus 18, 272 – Der Landsknecht 272 – Der letzte Brief eines Literaten 15, 17, 23, 132–165, 271 – Der Mörder 15 – Der Puppenspieler 65 – Der Schleier der Beatrice 18f., 272
Register – – – – – – –
Der Sohn 272 Der tapfere Cassian 113, 122, 272 Der Weg ins Freie 1, 6, 22, 271 Der Witwer 258f. Die drei Elixiere 13 Die Frau des Weisen 31 Die Geschichte von Amadeus dem Poeten 150 – Die griechische Tänzerin [Novellensammlung] 15, 103 – Die grüne Krawatte 13 – Die Kleine Komödie 19, 56 – Die Nächste 19, 22, 53–80, 271 – Die Schwestern oder Casanova in Spa 18, 272 – Die Toten schweigen 13, 16, 19, 22, 25–52, 270–272 – Doktor Gräsler, Badearzt 7f. – Flucht in die Finsternis 22, 132 – Frau Beate und ihr Sohn 21 – Frau Berta Garlan 7, 39 – Fräulein Else 12, 14f., 17, 21–23, 80, 133, 166–214, 221, 270–272 – Gespräch, welches in der Kaffeehausecke nach Vorlesung der ›Elixiere‹ geführt wird 13f. – Große Szene 272 – Jüdische Familie 201 – Jugend in Wien 14, 47, 142, 150 – Komödie der Verführung 221 – Komtesse Mizzi 66 – Liebelei 18 – Lieutenant Gustl 6f., 21, 23, 81–102, 105, 112, 131, 166–168, 189, 194, 207, 211, 271f. – Marionetten 65 – Paracelsus 18, 193, 272 – Reigen 10f., 39 – Spiel im Morgengrauen 271f. – Sterben 19, 132, 271 – Therese 22, 271f. – Traumnovelle 10f., 15–17, 21–23, 215–271, 273 – Über Psychoanalyse 88 – Wohltaten, still und rein gegeben 13, 20, 270 Schnitzler, Heinrich (1902–1982) 53, 81 – Die Wahrheit über ›Leutnant Gustl‹ 81
305
Register Schnitzler, Johann (1835–1893) 133 Schnitzler, Lili (1909–1928) 169 Schnitzler, Olga (1882–1970) 60f., 218, 223 Schopenhauer, Arthur (1788–1860) 101 – Die Welt als Wille und Vorstellung 101 Schott, Paul [d.s. Leopold Julius (1860–1945) und Erich Wolfgang Korngold (1897–1957)] 65 – Die tote Stadt [Libretto] 65 Schottländer, Rudolf Julius (1900–1988) 261 Schubert, Franz Peter (1797–1828) 63, 176 Schumann, Robert (1810–1856) 22, 166, 170, 176, 179f., 209–211 – Carnaval 22, 166, 170, 179f., 209–211 Seiling, Max (1852–1928) 130 – Vorgeburtliche Beeinflussung 130 Shakespeare, William (1564–1616) 192f., 214 – Coriolanus 192f. – Hamlet 214 Simmel, Georg (1858–1918) 264 – Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft 264 Sosnoky, Theodor von (1866–1943) 82 Specht, Richard (1870–1932) 1f., 25, 39, 103, 118 – Arthur Schnitzler 1f., 103, 118 Spielhagen, Friedrich (1829–1911) 202 – Problematische Naturen 202 Spitteler, Carl (1845–1924) 92 – Conrad der Leutnant 92 Stahl, Heinrich [d.i. Jodocus Donatus Hubertus Temme] (1798–1881) 178f., 205f. – Die Kinder der Sünde 178f., 205f. Stendhal [d.i. Marie-Henri Beyle] (1783–1842) 10 Stieglitz, Charlotte (1806–1834) 17, 134, 161–165 Stieglitz, Heinrich Wilhelm (1801–1849) 17, 134, 161–165 Strauss, Richard (1864–1949) 213 Strindberg, August (1849–1912) 252f. – Ett Drömspel [Ein Traumspiel] 252f.
Sudermann, Hermann (1857–1928) 27, 65 – Der Sturmgeselle Sokrates 65 Süe, Eugène [d.i. Joseph Marie Eugène Sue] (1804–1857) 189f. – Plik et Plok 189f. Tausendundeine Nacht 21, 217, 221, 224, 227–235, 242, 248, 259, 263, 269f. Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias (1817–1885) 27 – Über Johannes von Müller den Geschichtsschreiber 27 Tieck, Ludwig (1773–1853) 150, 254 Tolstoi, Leo (1828–1910) 7 – Kreutzersonate 7 Tovote, Heinz (1864–1946) 35 – Im Liebesrausch 35 Trebitsch, Siegfried (1869–1956) 65f. Tschechow, Anton Pawlowitsch (1860–1904) 1 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch (1818–1883) 1 Urfé, Honoré d’ (1568–1625) 47 – L’Astrée 47 Vargas Llosa, Mario (*1936) 164 – Travesuras de la niña mala [Das böse Mädchen] 164 Vecellio, Tiziano (um 1477/1490–1576) 175 Verdi, Giuseppe (1813–1901) 6, 97, 209f. – La Traviata 6, 85, 97, 209f. Viereck, George Sylvester (1884–1962) 2 – Die Welt Arthur Schnitzlers [Interview] 2 Voltaire [d.i. François Marie Arouet] (1694–1778) 8f. – Le Café ou l’Écossaise 9 – Micromégas 9 Voß, Johann Heinrich (1751–1826) 267 Wackernagel, Philipp Karl Eduard (1800–1877) 20 – Deutsches Lesebuch 20
306 Wagner, Richard (1813–1883) 22, 97, 251 – Götterdämmerung 251 – Lohengrin 85, 97 Wassermann, Jakob (1873–1934) 135, 224 – Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit 135 – Der Mann von 40 Jahren 224 Weininger, Otto (1880–1903) 130f. – Geschlecht und Charakter 130f. Welsenburg, Gerhard von [d.i. Iwan Bloch] (1872–1922) 123–131 – Das Sexualleben unserer Zeit 128 – Das Versehen der Frauen in Vergangenheit und Gegenwart 123–129 Wharton, Edith (1862–1937) 68 – Pomegranate Seed 68 Wiegler, Paul (1878–1949) 215 – Schnitzlers Traumnovelle [Zeitungsartikel] 215
Register Wieland, Christoph Martin (1733–1813) 254 – Novelle ohne Titel 254 Wilbrandt, Adolf von (1837–1911) 192f., 257–260 – Coriolanus [Übersetzung] 192f. – Die Reise nach Riva 257 – Ein Traum 258–260 – Fridolins heimliche Ehe 257–260 Winterstein, Alfred Frhr. von (1885–1958) 266 – Die Nausikaaepisode in der Odyssee 266 Woisky, B. von 207 – Die Tochter des Sträflings 207 Zelnik, Friedrich (1885–1950) 195 Zuckerkandl, Bertha (1864–1945) 66 Zweig, Stefan (1881–1942) 211, 221, 230, 233 – Das Buch ›Tausendundeine Nacht‹ [Rezension] 221, 230