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German Pages [243] Year 2023
Super alta perennis Studien zur Wirkung der Klassischen Antike
Band 26
Herausgegeben von Uwe Baumann, Marc Laureys und Winfried Schmitz
Bernd Peltzer
Darstellung und Funktion politischer Rhetorik in ausgewählten Dramen der englischen Renaissance
V&R unipress Bonn University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen bei V&R unipress. Zgl. Dissertation, Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 2022. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Holzschnitt mit dem Titel Rethorica, aus: Gregor Reisch, Margarita philosophica, 4. autorisierte Ausgabe, Basel 1517, Buch III tractatus I, S. 123. Quelle: Aristeas, Wikimedia Commons. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6134 ISBN 978-3-7370-1653-7
Meinen Eltern
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Probleme der Definition . . . . . . . . . 2.2 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Buch I . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Buch II . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Buch III . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Cicero und die lateinische Rhetorik . . . 2.3.1 De inventione, Ciceros Jugendschrift 2.3.2 De oratore . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Quintilian . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Drei Redegattungen . . . . . . . . . . . . 2.6 Die Redeteile . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Rhetorik in der Renaissance . . . . . . .
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3 Shakespeare, Coriolanus . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Reden in Akt I . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Rede des First Citizen (I,1) . . . . . . 3.2.2 Die Rede des Menenius (I,1) . . . . . . . 3.2.3 Coriolanus’ erster Auftritt . . . . . . . . . 3.3 Reden in Akt II . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Coriolanus, der Wahlkandidat . . . . . . 3.3.2 Die Volkstribunen beeinflussen das Volk 3.4 Laudationes im Drama . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Die erste Laudatio (I,4,52–61) . . . . . . . 3.4.2 Die zweite Laudatio (I,9,52–65) . . . . . .
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8
Inhalt
3.4.3 Die dritte Laudatio (II,2,82–122) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Rhetorische Elemente in Akt III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Wechsel im dritten Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Massinger, The Roman Actor . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Aretinus gegen Paris (I,3) . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Anklage durch Aretinus . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Paris’ Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Paris’ Rede vor zeitgenössischem Hintergrund 5.3 Domitians laudatio (IV,2) . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Shakespeare, King Richard II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Eröffnungsszene (I,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Bolingbrokes und Mowbrays Verbannung (I,3) . . . . . . . . . . . 6.4 Gaunts Rede auf England (II,1,31–68) . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Gaunts Anklage gegen Richard II. (II,1,93–138) . . . . . . . . . . . 6.6 Yorks Appell an Richard (II,1,163–208) . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Yorks Konfrontation mit Bolingbroke (II,3,85–170) . . . . . . . . 6.8 Richards Ansichten zum Königtum (III,2,4–62) . . . . . . . . . . . 6.9 Richards »hollow crown« speech (III,2,144–177) . . . . . . . . . . 6.10 Bolingbrokes Nachricht (III,3,31–67) und Richards Rede auf Flint Castle (III,3,72–100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.11 Bischof von Carlisles Einspruch gegen Bolingbrokes Thronbesteigung (IV,1,114–149) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Shakespeare, King Henry V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Canterbury und Ely (I,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Canterburys Argumente für den Frankreichfeldzug (I,2) – »unwind your bloody flag« . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 Jonson, Sejanus His Fall . . . . . . . . . . . 4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Accusatio und Defensio in Akt III . . . 4.2.1 Prozeß gegen Silius . . . . . . . . 4.2.2 Anklage gegen Cremutius Cordus 4.3 Tiberius’ Brief (V,6) . . . . . . . . . . .
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147 154
9
Inhalt
7.4 Vorankündigung des Kriegsgeschehen durch den Chorus (II,Chorus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 »Or else what follows?« – Exeter als Botschafter in Frankreich (II,4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 »The game’s afoot« – Henrys Appell an seine Soldaten (III,1) . 7.7 Unterschiedliche Aufnahme und Resonanz auf Henrys Appell (III,2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8 Henrys Rede und Drohung an den Governor (III,3,1–43) . . . 7.9 Heroische Darstellung Henrys vor der Schlacht von Agincourt (IV,Chorus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.10 Henry V. getarnt als einfacher Soldat; Argumentationslogik (IV,1,1–160) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.11 »No, thou proud dream« – Henrys Reflektionsmonolog (VI,1) 7.12 Crispian’s Speech (IV,3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9 Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
8 Ford, Perkin Warbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Perkin Warbecks rhetorischer Charme (II,1,40–115a) . . . . . 8.3 Durhams Kritik an James’ Handeln (III,4,10–54) . . . . . . . . 8.4 Durhams politisches Kalkül (IV,1,23–72) . . . . . . . . . . . . 8.5 James distanziert sich von Warbeck (IV,3,65–86) . . . . . . . . 8.6 Perkins Rede vor den Bewohnern Cornwalls (IV,5,1–12; 47–64) 8.7 Perkins Schlußrede (V,3,187–207) . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorwort
An erster Stelle gilt mein Dank meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Uwe Baumann, der diese Arbeit angeregt und mich über die langen Jahre mit großer Geduld betreut hat. Ich danke den Mitgliedern der Prüfungskommission, Frau Professor Dr. Marion Gymnich, Herrn Professor Dr. Klaus P. Schneider und Herrn Professor Dr. Marc Laureys. Ferner danke ich den Herausgebern, den Herren Professoren Dr. Baumann, Dr. Laureys und Dr. Schmitz, für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Super alta perennis«. Herrn Oliver Kätsch vom Verlag V&R unipress danke ich für die professionelle Betreuung und Geduld bei meinen technischen Fragen. Außerdem danke ich Sebastian Robens für hilfreiche Anmerkungen, Dr. Nadine Siepe für ihre kritischen Kommentierungen und Hinweise. Ebenfalls danke ich Herrn Dr. Martin Kämper für die mehrfachen Durchgänge des Korrekturlesens und die vielen anregenden Diskussionen und Verbesserungsvorschläge. Ich danke meiner Frau, Svenja Peltzer-Wolf, für ihre Geduld mit mir, wenn ich wieder einmal länger über den Büchern oder am Computer gesessen habe. Schließlich möchte ich meinen Eltern, Doris und Josef Peltzer, die mich immer in jedweder Hinsicht unterstützt haben, danken. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Baesweiler, im November 2022
Bernd Peltzer
1
Einleitung
Wenn man in den Suchmasken beliebiger Universitätsbibliotheken als Titel »Rhetorik« eingibt, wird man auf eine wahre Fülle an Ergebnissen, die von antiken Texten, Übersetzungen bis zu modernen Ratgebern reichen, treffen. Rhetorik stellt demnach ein reizvolles Thema dar, das den Menschen auf unterschiedliche Weise beschäftigt. Grenzen wir die Suche auf die englische Renaissance ein, finden wir eine ebenfalls beträchtliche Menge an Ergebnissen, die ein ebenfalls vorhandenes Interesse an Rhetorik in der Renaissance zu belegen scheint.1 In den Literaturen der Renaissance »von Erziehungsbüchern bis zu Grammatiken, Rhetoriken und Poetiken«2 gelangte die Beredsamkeit gattungsübergreifend zur erneuten Blüte wie einst in der Antike. Um das Feld der Untersuchung einzugrenzen, beschäftigt sich diese Arbeit mit der Untersuchung der Darstellung und Funktion politischer Rhetorik in ausgewählten Dramen der englischen Renaissance. Denn im Drama zeitigt die Rhetorik als signifikantes Kompositionselement, etwa als Mittel der Überredung (ars persuadendi), der Anklage oder der Verteidigung, ihre Wirkung. Die Frage nach dem Wesen und der Funktionsweise von Rhetorik hat den Menschen in verschiedenen Disziplinen fortwährend beschäftigt. Im ersten Schritt soll im folgenden Kapitel der Arbeit das aus der Antike stammende System der Rhetorik beleuchten und kurz erläutertn. Das Kapitel kann keine komplette geschichtliche Abhandlung oder etwa Katalogisierung der griechisch-römischen Beredsamkeit bieten, weil dies den Rahmen überschreiten würde.3 Statt dessen beschränkt sich die Arbeit nach einer Standortbestimmung zu der Frage, was die Rhetorik ist und welche Ziele sie verfolgt, auf einen Überblick über die Werke dreier Autoren der griechischen und römischen Antike: Dazu zählen die Rhetorik des Aristoteles, Ciceros De inventione und De oratore 1 Vgl. dazu auch Plett, Englische Rhetorik und Poetik 1479–1660, S. III, Plett, English Renaissance Rhetoric and Poetics, S. 1f. 2 Müller, Wolfgang G. Die politische Rede bei Shakespeare. Tübingen: Narr 1979, S. 9. [zitiert als Müller, Die politische Rede]. 3 Für einen Überblick siehe Fuhrmann, Die antike Rhetorik.
14
Einleitung
und schließlich Quintilians Institutio oratoria. Darüber hinaus werden die Redegattungen und die Redeteile vorgestellt und erläutert. In der Antike galt die ῥητορικὴ τέχνη, die Kunst der Beredsamkeit, als ein wichtiger Aspekt der Erziehung und sogar als ein Lebensideal und prägte darüber hinaus das geistige Leben der Römer und Griechen. Schon in jener Zeit divergierten die Meinungen zum Begriff der Rhetorik: Ist sie tatsächlich als eine τέχνη, also als eine Kunst, oder als eine ἐπιστήμη, eine Wissenschaft, einzustufen? Das Phänomen Rhetorik in Worte zu fassen, fällt nicht leicht, was auch in der Geschichte der Rhetorik begründet liegt. Die antiken Rhetoriker waren selbst uneinig , was man auf die Frage »Was ist Rhetorik?« antworten sollte.4 Im Verständnis der Rhetorik als eine Wissenschaft geht es mehr um die alleinige Überzeugungskraft der Rede, ungeachtet ob der Inhalt wahr oder falsch ist.5 Platon und Aristoteles vertreten hierbei zwei diametrale Standpunkte, die kurz betrachtet werden. Im Anschluß wendet sich die Untersuchung in den folgenden Kapiteln den Dramen der englischen Renaissance zu. Unter dem Gesichtspunkt, daß die Redekunst ein Instrument der (Massen-)Beeinflussung ist, das es schon immer in den unterschiedlichsten Gesellschaften und Kulturen gegeben hat, ist die Textauswahl etwas weiter gefaßt. Im Fokus der Betrachtung stehen einerseits die Römerdramen Coriolanus von William Shakespeare, Sejanus His Fall von Ben Jonson und The Roman Actor von Philip Massinger. Da die Rhetorik in der Antike stärker im Alltag vertreten war, soll u. a. untersucht werden, wie die Redekunst in die Dramenhandlungen eingebunden ist, in welchen Gattungen sie vorkommt und auf welche Weise die Charaktere sie verwenden. Die drei Römerdramen spielen allesamt in unterschiedlichen Epochen der römischen Geschichte: Coriolanus spielt zur Zeit der Republik (5. Jh. v. Chr.), die anderen beiden spielen in der Kaiserzeit (1. Jh. n. Chr.), Sejanus His Fall zur Zeit des Tiberius und The Roman Actor zur Zeit Domitians in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts. In der Geschichte zeigte sich mit dem Beginn des Prinzipats des Augustus ein Ende der Rede im öffentlichen Raum, die Rede auf dem Forum und in der Kurie und damit die politische Debatte existierte nicht mehr. Anhand dieser Auswahl soll neben den auftretenden genera orationis zudem der Stellenwert der Redekunst untersucht werden. Genießt die Rhetorik in allen drei Römerdramen denselben Stellenwert oder hat ihre Bedeutsamkeit ebenso abgenommen wie seinerzeit in der Antike im Wandel von der Republik zur Monarchie? In den darauf folgenden Kapiteln sollen als weitere Dramen William Shakespeares history plays King Richard II, King Henry V und John Fords Perkin 4 Andersen, S. 19. 5 Umberto Ecos humorvoller Ansatz hierzu ist: »Rhetorik ist die Kunst, auf elegante Weise etwas zu sagen, von dem man nicht sicher weiß, ob es wahr ist.«
Einleitung
15
Warbeck zur Analyse herangezogen werden. Die genannten Historiendramen spielen jeweils zu der Zeit ihrer namengebenden Protagonisten, King Richard II im 14. Jahrhundert und King Henry V im 15. Jahrhundert, Perkin Warbeck im ausgehenden 15. Jahrhundert. Auch hier soll wieder der Frage nach der Funktion der Rhetorik nachgegangen werden, also in welchen Redegattungen und wie sie von ihren Rednern angewendet wird. Darüber hinaus soll ein Einblick gegeben werden, wie subversiv und wie sehr die Massenwirksamkeit auch bis nahezu in die Gegenwart Shakespeares und seiner Zeitgenossen funktioniert hat. Alle Werke werden aus diesem Grunde in die zeithistorische Reihenfolge der namengebenden Protagonisten gebracht und in chronologischer Reihenfolge untersucht. Das bedeutet, daß Shakespeares Coriolanus als erstes Drama Gegenstand der Untersuchung ist, gefolgt von Jonsons Sejanus His Fall und Massingers The Roman Actor. Auf die Römerdramen folgen die Historiendramen, angefangen mit Shakespeares King Richard II, King Henry V und schließlich John Fords Perkin Warbeck. In den history plays ist die Redekunst genauso bedeutend wie in den Roman plays, wenn Henry V. seinen Herrschaftsanspruch gegenüber Frankreich stellt oder seine Soldaten auf die Schlacht von Agincourt einschwört, Richard II. seine Auffassung des Königtums darlegt oder Perkin Warbeck seinen Thronanspruch zu begründen versucht. In diesen Dramen sind die Überredungsszenen geradezu charakteristisch, und das Suasorische – das Zuraten oder das Abraten – entfaltet sein komplettes Potential. Die Redekunst und damit verbunden die Fähigkeit des Redens und Überredens muß in den Renaissance-Dramen als entscheidendes Mittel der Handlungsentwicklung angesehen werden. In ihnen bündelt sich die politisch-argumentative Kraft der Stücke.6 Die persuasive Kraft tritt am deutlichsten in den Überredungsmonologen der politischen Reden hervor. So kann nicht nur die politische Gesinnung der Charaktere gezeigt, sondern auch nachgewiesen werden, ob die Rede als Mittel des Betruges und der Heuchelei eingesetzt wird oder aus einer inneren Haltung und Überzeugung heraus angewendet wird. Bereits 1979 lieferte Wolfgang G. Müller mit seiner Untersuchung Die politische Rede bei Shakespeare7 eine erste bedeutsame Auseinandersetzung mit dem Thema, welches zuvor noch nie in dieser Form beleuchtet worden ist. Zwar findet man unter den Schlagworten »rhetoric« oder »Renaissance rhetoric« Literatur, aber keine strengt eine vergleichbar mikroskopisch-präzise und detailreiche Untersuchung der Reden an wie Müller. Für die Analyse von Shakespeares Coriolanus und King Richard II war Müllers Untersuchung daher grundlegend und
6 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 9. 7 Vgl. Anm. 2.
16
Einleitung
gleichermaßen Inspiration für die Analyse der anderen in Betracht gezogenen Dramen. Für die Redeanalysen bieten sich verschiedene Herangehensweisen an: Die eine besteht darin, alle Reden ihren Redegattungen entsprechend zu analysieren und zu katalogisieren. Der Vorteil hier wäre hier, daß man beispielsweise alle Gerichtsreden oder alle Lobreden jeweils zusammengefaßt hätte. Der Nachteil ist, daß nicht alle Redegattungen in gleicher bzw. gleichmäßiger Anzahl vertreten sind, was zu größeren Schwankungen in den Kapitellängen führt. Ein weiterer Nachteil ist, daß nach dieser Herangehensweise die Reden aus dem Kontext ihres jeweiligen Dramas gezogen werden, dem Leser evtl. der notwendige Kontext fehlen könnte und die Charakterentwicklung aus dem Fokus rückt. Deshalb wurde dieser Ansatz verworfen und statt dessen jedes Drama einzeln für sich analysiert, so wie wir es auch bei Müller finden können. Dadurch bleiben der Kontext der Rede innerhalb des jeweiligen Dramas, der weitere Handlungshergang und die Charakterentwicklung erhalten und nachvollziehbar. Den Abschluß der Arbeit bildet das neunte Kapitel mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse.
2
Rhetorik
Der Begriff »Rhetorik« wird generell mit »Redekunst« übersetzt. Daß aber hinter diesem Wort noch viel mehr steht, nämlich die Theorie und Praxis wirkungsmächtiger Beredsamkeit, gerät anscheinend in Vergessenheit, so daß nur noch der künstlerische Aspekt im Vordergrund zu stehen scheint. »Wenn wir über die antike griechische und römische Rhetorik sprechen, können wir den enormen Einfluß, den sie auf spätere Perioden hatte, nicht übersehen, und wir müssen daher denjenigen Texten und Lehren, die hauptsächlich solchen Einfluß ausübten, unsere besondere Aufmerksamkeit zuwenden.«8
Eine bessere Begründung, warum hier in aller Kürze die Antike Erwähnung findet, kann man wohl kaum finden. Daher sollen auf den folgenden Seiten die zentralen Themen und Konzepte – darunter fällt auch eine kurze Vorstellung der signifikanten und einflußreichen Werke Aristoteles’, Ciceros und Quintilians – der griechischen und römischen Redekunst vorgestellt werden. In der griechischen und römischen Antike war die Rhetorik, neben der Philosophie, ein zentrales Thema und gilt aus heutiger Sicht als ein wichtiger Bestandteil des griechischen und römischen Kulturerbes.9
2.1
Probleme der Definition
Doch was hier einfach und leicht zu definieren scheint, hat seit Entstehung der Rhetorik – ca. im 5. Jahrhundert v. Chr. – einige Streitpunkte hervorgebracht, über die sich bis zum heutigen Tage kein Konsens finden ließ.10 Um dies zu 8 Kristeller, S. 14. 9 Vgl. Weißenberger, »Rhetorik«, in: Cancik, Hubert; Schneider, Helmuth (Hgg.). Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 10, Sp. 958–987. [zitiert als Cancik-Schneider (Hgg.), Der neue Pauly]. 10 Vgl. auch Øivind Andersen, der auf S. 25 sein Kapitel zur rhetorischen Kommunikation mit modernen Definitionen beginnt.
18
Rhetorik
verdeutlichen, seien hier einige der Probleme genannt: Ist die Rhetorik eine τέχνη (»Kunst«), oder nicht? Ist sie nur eine auf ihre Wirkung hin konzipierte Rede oder eine Wissenschaft? Verfolgt man mit ihr die einzige Intention, andere zu überreden oder vielmehr durch logische Argumente zu überzeugen? Ohne Zweifel gehen diesen Problemstellungen unterschiedliche Denkansätze voraus. Einige antike Grundgedanken seien hier nun vorgestellt: Platon äußert sich mehrfach negativ über die Rhetorik. Beispielsweise heißt es in Gorgias 463a–b: »Ich weiß nicht, ob das die Rhetorik ist, die Gorgias betreibt – denn eben ist uns aus dem Gespräch nicht klar geworden, was er eigentlich glaubt – aber das, als was ich die Rhetorik bezeichne, ist Teil einer Sache, die nicht zu den schönen gehört. […] Ich bin also der Ansicht, Gorgias, daß es eine Tätigkeit ist, die nicht zur Kunst gehört, sondern zu einer treffsicheren und mutigen Seele, die von Natur aus fähig ist, mit den Menschen umzugehen. Als das Wesentliche dieser Tätigkeit bezeichne ich die Schmeichelei. […] Als einen Teil von ihr bezeichne ich auch die Rhetorik […].«11
Oder in 465c: »Um nicht viele Worte zu machen, will ich es dir so sagen wie die Geometriker – vielleicht kannst du mir dann folgen: was die Putzkunst im Verhältnis zur Gymnastik, das ist die Sophistik zur Kunst der Gesetzgebung, und was die Kochkunst im Verhältnis zur medizinischen Kunst, das ist die Rhetorik zur Gerechtigkeit.«12
Einen anderen Ansatz findet Aristoteles in seiner Rhetorik, 1355b (I,2,1): »Ἔστω δὴ ῥητορικὴ δύναμις περὶ ἕκαστον ϑεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόμενον πιϑανόν.«13 Gemäß dieser Definition soll der Redner nicht überreden, sondern die überzeugenden Eigenschaften des Stoffes erkennen. Die Definition aus römischer Perspektive beruht auf den Werken des Marcus Tullius Cicero – Brutus, Orator, De oratore – und Marcus Fabius Quintilianus – Institutio oratoria. Beide römischen Autoren nahmen für ihre Auffassung von Rhetorik das griechische Verständnis als Fundament für ihr System. Bei Quintilian wird die Rhetorik mit einer Wissenschaft gleichgesetzt. Indirekt wird Platons Kritik, die Rhetorik sei ein Mittel der Verführung, in der Institutio oratoria entkräftet: »Corrumpi mores in scholis putant: nam et corrumpuntur interim, sed domi quoque, et sunt multa eius rei exempla, tam hercule, quam conservatae sanctissime utrobique opinionis. natura cuiusque totum curaque distat. da mentem ad peiora facilem, da 11 Dalfen, S. 30. 12 Dalfen, S. 32. Vgl. auch Clarke, S. 11f. 13 Vgl. die Übersetzung von Rapp, Aristoteles. Rhetorik. Erster Halbband, S. 22 [zitiert als Rapp, Rhetorik – Erster Halbband; der zweite Band als Rapp, Rhetorik – Zweiter Halbband]: »Es sei also die Rhetorik eine Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende zu betrachten.«
Aristoteles
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neglegentiam formandi custodiendique in aetate prima pudoris, non minorem flagitiis occasionem secreta praebuerint. nam et potest turpis esse domesticus praeceptor, nec tutior inter servos malos quam ingenuos parum modestos conversatio est.« (I,2,4)14
2.2
Aristoteles
Von den vielen Schriften des Aristoteles zählt die Rhetorik zu den akroamatischen Schriften.15 Das bedeutet, sie ist nicht von vornherein als didaktisches Kompendium oder Lexikon angelegt worden, sondern eher als eine Ansammlung von Notizen. Manfred Fuhrmann schreibt zur Rhetorik des Aristoteles: »Die ›Rhetorik‹ ist, wie alle aristotelischen Schriften, die vollständig erhalten sind, kein ausgefeiltes, für ein breites Publikum bestimmtes Literaturwerk, sondern eine Art Kladde, die als Gedächtnisstütze für weitere Forschungen sowie für den Lehrvortrag gedient hat.«16
Die aus drei Büchern bestehende Schrift folgt einer in sich gegliederten, logischen Anordnung: Das erste und zweite Buch behandeln die rhetorischen Überzeugungsmittel (τὸ πιϑανόν). Im dritten Buch werden der Stil (λέξις) und die Anordnung der Redeteile (τάξις) erläutert.
14 Vgl. Rahn (Hrsg.), Marcus Fabius Quintilianus. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Erster Teil, Buch I–VI, S. 31 [zitiert als Rahn, Ausbildung des Redners. Erster Teil.]: »Man meint, die Sitten würden in den Schulen verdorben; denn es kommt manchmal vor, daß sie verdorben werden, aber das kommt zu Hause ebenfalls vor, und es gibt viele Beispiele hierfür – genauso aber wahrhaftig doch auch dafür, daß in beiden Fällen der Ruf aufs peinlichste gewahrt wurde. In der natürlichen Veranlagung eines jeden und der Pflege, die sie findet, liegt der wesentliche Unterschied. Gesetzt den Fall, ein Hang zur Unsittlichkeit sei vorhanden, gesetzt den Fall, man ließe es in der frühen Jugend daran fehlen, das Schamgefühl zu entwickeln und zu behüten: auch die Abgeschiedenheit des eigenen Hauses würde dann nicht weniger Gelegenheit zu Schändlichkeiten bieten. Denn auch der Hausherr kann sich unsittlich benehmen, der Umgang mit schlechten Sklaven ist kein besserer Schutz der mit Freigeborenen ohne genügende Selbstzucht.« 15 Abgeleitet vom griechischen Adjektiv ἀκροαματικός, was »nur zum Anhören bestimmt« bedeutet und somit im Kontrast zur sokratischen Methode steht. Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 31f. 16 Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 32.
20
Rhetorik
2.2.1 Buch I Bereits im ersten Kapitel wird dargestellt, daß die Rhetorik das Gegenteil der Dialektik17 ist und wie eine τέχνη (»Kunst«) einzustufen ist. Die Aufgabe der Rhetorik bzw. deren Methode ist die Überzeugung. Im rhetorischen Umfeld ist der Beweis das sogenannte Enthymem, eine verkürzte Form des Syllogismus (I,1,11): »Ἐπεὶ δὲ φανερόν ἐστιν ὅτι ἡ μὲν ἔντεχνος μέϑοδος περὶ τὰς πίστεις ἐστίν, ἡ δὲ πίστις ἀπόδειξίς τις (τότε γὰρ πιστεύομεν μάλιστα ὅταν ἀποδεδεῖχϑαι ὑπολάβωμεν), ἔστι δ’ ἀπόδειξις ῥητορικὴ ἐνϑύμημα, καὶ ἔστι τοῦτο ὡς ει᾿πεῖν ἁπλῶς κυριώτατον τῶν πίστεων, […]«18
Christof Rapp erläutert wie folgt: »Das erste Kapitel von Buch I ist ganz der Rechtfertigung des Projekts einer (von einem Philosophen verfassten) Rhetorik gewidmet. Im Vordergrund steht der Gedanke, dass die zu entwickelnde Rhetorik an die philosophische Disziplin der Dialektik anknüpfen kann. Durch diese Zuordnung wird eine Abgrenzung von den bisherigen Rhetoriklehren möglich.«19
Auch wenn die Rhetorik das Gegenstück zur Dialektik ist, zeigt Aristoteles ihre Gemeinsamkeiten, beispielsweise daran, daß sie beide keiner für sich abgeschotteten Wissenschaft angehören. Die folgenden Kapitel 4–14 des ersten Buches werden darauf verwendet, den Leser in die drei Redegattungen – Volksrede, Festrede und Gerichtsrede – einzuführen.20 Bei seiner Trias orientiert Aristoteles sich an dem Schema Platons, ἀγαϑόν – δίκαιον – καλόν, doch ist es Aristoteles, der eine Klassifizierung durch »Gattung« oder »Redegattung« – im Griechischen durch γένος ausgedrückt – einführt.21 Durch den Satz »Ἔστι δὲ τῆς ῥητορικῆς εἴδη τρία τὸν ἀριϑμόν· τοσοῦτοι
17 Arist. Rh. 1354a1–1354a6 (I,1,1–6): »Ἡ ῥητορική ἐστιν ἀντίστροφος τῇ διαλεκτικῇ·« Siehe auch Hellwig, S. 43. 18 Arist. Rh. 1355a3–21 (I,1,11). Vgl. Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 21: »Weil es die kunstgemäße Methode offensichtlich mit den Formen der Überzeugung zu tun hat, die Überzeugung aber eine Art von Beweis ist – wir sind nämlich dann am meisten überzeugt, wenn wir annehmen, dass etwas bewiesen wurde –, weil aber der rhetorische Beweis ein Enthymem ist, und dies ist, um es geradeheraus zu sagen, das wichtigste Überzeugungsmittel […]«. 19 Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 172f. 20 Um auf diese Dreiteilung zu kommen, wird im dritten Kapitel des ersten Buches die These aufgestellt, daß jede Rede einer der drei Gattungen zugeordnet werden kann. In den Kapiteln 4–8 schildert Aristoteles die politische Rede, im neunten Kapitel die vorführende Rede und schließlich in den Kapiteln 10–14 die Gerichtsrede. Vgl. auch hierzu Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 173f. 21 Vgl. Hellwig, S. 121. Aus Platons δίκαιον wird bei Aristoteles das γένος δικανικόν, aus ἀγαϑόν wird das γένος συμβουλευτικόν und aus καλόν entsteht das γένος ἐπιδεικτικόν.
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γᾶρ καὶ οἱ ἀκροαταὶ τῶν λόγων ὑπάρχουσιν ὄντες«22 führt er in die Thematik der Dreiteilung ein, die er in diesem dritten Paragraphen des dritten Kapitels ausformuliert. Er kommt zu dem Schluß: »ὥστ’ ἐξ ἀνάγκης ἄν εἴη τρία γένη τῶν λόγων τῶν ῥητορικῶν, συμβουλευτικόν, δικανικόν, ἐπιδεικτικόν.«23 Für die Antike war und blieb diese Dreiteilung maßgeblich. »Jedoch,« so Rapp, »werden in diesen Kapiteln nicht die Redegattungen als solche thematisiert, vielmehr geht es darum, für die argumentativ-beweisenden Überzeugungsmethoden zu jedem der drei Gegenstandsbereiche analytische Hilfsmittel […] an die Hand zu geben.«24
2.2.2 Buch II Das zweite Buch umfaßt 26 Kapitel. Als ersten Themenabschnitt behandelt es, nachdem zwei noch ausstehende Überzeugungsmittel im ersten Kapitel kurz erläutert sind, von Kapitel 2–11 die Emotionen der Zuhörer.25 Aristoteles schildert die rhetorische Funktion der Emotionserregung und welchen Einfluß die Emotionen auf das Urteil des Zuhörers haben können. Jede Emotion besitzt drei Momente, deren Kenntnis beim Redner vorausgesetzt sind, wenn er bei seinen Zuhörern die Gefühlsregungen wecken will.26 Der zweite Themenbereich der Mentalitäten oder Charaktertypen – davon führt Aristoteles sechs an der Zahl ein – wird in den Kapiteln 12–17 entfaltet. Gemäß Rapps Kommentar verfolgt dieser Aufbau eine tiefere Logik, wie er auf diese Weise erläutert: »[…] vielmehr bemühen sich die Kapitel um eine Beschreibung, zu welchen Emotionen jemand disponiert ist, der sich einem der sechs behandelten Charaktertypen zuordnen lässt. Auf diese Weise tragen die ›Charakterkapitel‹ der Rhetorik eher als Hilfsmittel für
22 Arist. Rh. 1358b (I,3,1). Siehe auch die Übersetzung von Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 28: »Die Arten der Rhetorik sind drei der Zahl nach. Denn ebenso viele Arten von Zuhörern der Reden gibt es auch.« 23 Arist. Rh. 1358b (I,3,3) und die Übersetzung von Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 28: »Daher wird es wohl notwendig drei Gattungen der rhetorischen Rede geben: die beratende, die gerichtliche und die vorführende.« Quintilian übertrug diese Dreiteilung in III,3,14 seiner Institutio Oratoria folgendermaßen: »[…] partes enim rhetorices esse dicebant laudativam, deliberativam, iudicialem.« 24 Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 174. 25 Vgl. Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 174: »Der Leitfaden für die Behandlung der Einzelemotionen besteht in der Idee, dass man zur Erzeugung bestimmter Emotionen wissen muss, aufgrund welcher Dinge jemand eine Emotion empfindet, wem gegenüber er sie empfindet und in welchem Zustand er zur Empfindung einer bestimmten Emotion bereit ist.« 26 Vgl. Rapp, Rhetorik – Zweiter Halbband, S. 542.
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die auf Emotionen beruhende Überzeugungsmethode bei, als dass sie das Moment der Glaubwürdigkeit des Redners weiter vertiefen würden.«27
Das 18. Kapitel behandelt gattungsspezifische bzw. gattungsübergreifende Überzeugungsmittel, die größtenteils schon im ersten Buch angesprochen wurden. Die Kapitel 19, 23 und 24 führen abermals zurück zu den Topen (topoi), welche auch im ersten Buch erwähnt wurden. Die hier erwähnten Topen sind für alle Redegattungen der Rhetorik die gleichen.28 Die Kapitel 20, 21 und 22 thematisieren Beispiele in der Form von Berichten, Vergleichen und Fabeln. Ab Kapitel 25 wird von Aristoteles die Widerlegung rhetorischer Argumente behandelt. Das letzte Kapitel des zweiten Buches erweckt dagegen den Eindruck, als sei es nachträglich beigefügt worden, da es »nur noch vermischte Nachträge«29 liefert.30
2.2.3 Buch III In den 19 Kapiteln des dritten Buches behandelt Aristoteles zwei Themenabschnitte. Von Kapitel 1–12 führt er in die sprachliche Form, die λέξις, oder, wie man heute sagen würde, in den Stil ein. Dazu schildert er in den ersten Kapiteln die theoretischen Grundlagen und stellt den guten und den abschreckenden Stil beispielhaft gegenüber. Rapp faßt den ersten Teil von Buch III so zusammen: »[…] Kap. III 4 behandelt das mit der Metapher eng verwandte Thema des Gleichnisses. Kap. III 5 erörtert das korrekte Griechisch, III 6 die mit sprachlichen Mitteln erzeugte Breite, III 7 den in Kapitel III 2 schon erwähnten Begriff der Angemessenheit.«31
Die Kapitel 8 und 9 sowie 10 und 11 können paarweise zusammengefaßt werden. In den beiden ersteren erläutert Aristoteles Rhythmus und Periodenbildung.32 Die Kapitel 10 und 11 können teilweise als Ergänzung zum zweiten Kapitel gewertet werden, da Kapitel 10 »Formulierungen, die geistreich sind (τὰ ἀστεῖα) und 27 Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 174. 28 Vgl. Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 175, hierzu besonders auch Rapps weitere Ausführung zu den Kapiteln: »Allerdings sind die in Kapitel II 19 einerseits und II 23–24 andererseits nicht nur durch Kapitel unterbrochen, die sich nochmals der rhetorischen Induktion und Deduktion im Allgemeinen zuwenden, auch der stilistische und methodische Unterschied zwischen den Kapiteln ist erheblich: Kapitel II 19 entfaltet systematisch Topen zu den Begriffen des Möglichen/Unmöglichen, des Geschehenen und des Künftigen, während die Kapitel II 23–24 unsystematisch Aufzählungen von Topen geben, die offensichtlich überwiegend der Analyse von historischen Reden entnommen sind.« 29 Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 175. 30 Für einen Überblick über die Gliederungen vgl. Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 175. 31 Rapp, Rhetorik –Erster Halbband, S. 176. 32 Vgl. Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 176 und Rapp, Rhetorik – Zweiter Halbband, S. 868.
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gut ankommen (εὐδοκιμοῦντα)«33, behandelt. Aristoteles geht im folgenden Kapitel zur Thematik der Formulierungen weiter. Dabei schließt er mit dem sprachlichen Gestaltungsmittel, »dem Merkmal des ›Vor-Augen-Führens (πρὸ ὀμμάτων ποιεῖν)‹ oder Anschaulich-Machens«34, an. Kapitel 12 markiert das Ende des ersten Themenabschnittes »λέξις«. In ihm werden die von den verschiedenen Redegattungen abhängigen unterschiedlichen angemessenen Stile behandelt. Ferner wird die Unterscheidung von schriftlichem und mündlichem Sprachgebrauch getroffen. Die zweite große Sektion von Buch III befaßt sich mit der τάξις, der Anordnung der Redeteile. Bei der Lektüre dieses Abschnittes entsteht der Eindruck, er habe nichts mit dem restlichen Werk gemein. »Die Abhandlung der Kapitel III 13–19 […] ist gegenüber der restlichen Schrift so selbstständig, dass manche Autoren sogar von ›eine[r] kleine[n] Rhetorik für sich‹ sprechen,« schreibt Rapp diesbezüglich.35 Aristoteles beginnt in III,13 mit der Gegendarstellung seiner Vorgänger, daß es nämlich anstatt vieler kleiner Unterscheidungen von Redeteilen nur zwei für die Rede notwendige Teile gebe. Die Folgekapitel bearbeiten die Redeteile nach einem »vierteiligen Redeschema«36, als Zusatz wird in Kapitel 15 und 18 die Thematik der Beschuldigung und Befragung behandelt. Abhängig vom Redeanlaß, so verdeutlicht es Aristoteles, muß der Redner diese Redeteile entsprechend anpassen. Neben Kritikäußerungen an Theodoros und Likymnios beendet Aristoteles sein Werk mit einer Abhandlung über das
33 Rapp, Rhetorik – Zweiter Halbband, S. 883. Rapp erläutert die Ergänzung zu III,2 darin, daß geistreiche Formulierungen überwiegend in Metaphern zu finden sind und sich daher dieses Kapitel als Ergänzung anbietet. 34 Rapp, Rhetorik – Zweiter Halbband, S. 904. 35 Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 176. Vgl. auch Rapp, Rhetorik – Zweiter Halbband, S. 954. Rapp schildert den Hergang der Forschung zu Rhetorik, stellt dabei in aller Kürze Theorien und Modelle zur Entstehung vor. Die Leitfrage ist, ob der zweite Themenblock von Buch III vor der Rhetorik entstanden ist und somit eine frühere Version Aristoteles’ Auseinandersetzung ist oder, ob dieser Sinnabschnitt erst nach Fertigstellung des Gesamtwerkes entstanden war. Laut Forschung scheint dieses Problem nicht eindeutig gelöst zu sein, da es für beide Theorien Indizien gibt, die entsprechende Rückschlüsse zulassen. Rapp schreibt weiter: »Weitgehend akzeptiert ist inzwischen die These Barwicks (1922) und Solmsens (1932), dass die Unterteilung der Rede in den folgenden Kapiteln auf einer aus dem Umkreis des Isokrates stammenden Quelle basiert; besonders einleuchtend scheint die Annahme, dass es im Besonderen die Lehre des ehemaligen Isokrates-Schülers und späteren AristotelesFreundes Theodektes ist, die hier verwendet wird. Diese Vermutung wird unterstützt durch den Umstand, dass die antiken Verzeichnisse der Aristotelischen Schriften eine ›τέχνης τῆς Θεοδέκτου συναγωγή (Sammlung von Theodektes’ Kunst)‹ erwähnen und Aristoteles in diesen Kapiteln nachweislich Bezug auf Einzelheiten der Theodekteischen Lehren nimmt […].« 36 Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 176f.
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Schlußwort und seine Bestandteile. Er selbst schließt mit folgender Empfehlung für ein Schlußwort seine Rhetorik: »Εἴρηκα, ἀκηκόατε, ἔχετε, κρίνατε.«37
2.3
Cicero und die lateinische Rhetorik
Mit seiner Rhetorik hatte Aristoteles eine Art Vorreiterrolle eingenommen. Zwar war die unmittelbare Wirkung seines Werkes nicht sehr groß, dennoch vermochte er mittels der Rhetorik die Entwicklung rhetorischer Forschungen zu beeinflussen.38 Im römischen Kulturkreis war die Sachlage anders: Alles, was Rhetorik oder deren theoretische Konzeption betraf, wurde von griechischen Lehrern unterrichtet.39 Das bedeutete, daß auch der Unterricht in der Fremdsprache durchgeführt wurde. »[…] sowohl die Vermittlung der Theorie, der Anweisungen und Regeln, als auch die praktischen Übungen vollzogen sich in dem fremden Medium«, beschreibt Fuhrmann.40 Zu Ciceros Jugend fand der Rhetorikunterricht bereits in griechischer und lateinischer Sprache statt. Das bedeutet nicht unbedingt, daß der in der Fremdsprache Griechisch durchgeführte Unterricht zu Verständnisschwierigkeiten führen mußte. Im Gegenteil war es so, daß die römische Oberschicht Griechisch auf fast muttersprachlichem Niveau sprechen konnte.41 Auch unterschieden sich römische Gerichtsverhandlungen von ihren griechischen Pendants: In Rom übertrugen Angeklagte ihre Verteidigung einem patronus, während in Griechenland Angeklagte ihre Sache selbst vertraten. Dies war möglicherweise ein Grund, warum im römischen Kulturkreis die Rhetorik nicht sofort eine solche Breitenwirkung beim Volk wie in Griechenland erlangt hatte und sich erst in Ciceros Epoche voll entfalten konnte.42 Eine vollkommene Latinisierung fand durch die ersten literarischen Beiträge in lateinischer Sprache statt. Darunter zählt, neben der anonymen Rhetorica ad 37 Arist. Rh. 1420a (III,19,6). »Ich habe gesprochen. Ihr habt gehört. Ihr verfügt über die Fakten. Ihr urteilt.« Gemäß der Übersetzung von Rapp, Rhetorik – Erster Halbband, S. 165. 38 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 36. Zur Wirkung von Aristoteles’ Rhetorik: »Die stärkste Wirkung war hausintern: Theophrast, ein Schüler des Aristoteles und in der Leitung des Peripatos dessen Nachfolger, ließ sich durch das Werk seines Meisters zu intensiven rhetorischen Studien anregen.« 39 Kristeller schreibt den Römern eine Abhängigkeit von den Griechen zu. Vgl. Kristeller, S. 19. Bevor von den Römern die griechische Theorie übernommen wurde, war die Rhetorik eher eine praktische Redekunst. 40 Fuhrmann, Geschichte der römischen Literatur, S. 140. 41 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 43f. Das Griechische war zu jener Zeit die am meisten verbreitete Sprache (lingua franca) und somit internationales Verständigungsmittel. 42 Zur Situation in Griechenland vgl. Curtius, S. 73. Vgl. auch Andersen, S. 289f.: »Recht und Gesetz bildeten ein kompliziertes Geflecht, und man mußte sich schon gut in allen Formalitäten auskennen, um sich darin zurechtzufinden.« Siehe ferner Andersen, S. 294.
Cicero und die lateinische Rhetorik
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Herennium (auch als auctor ad Herennium bezeichnet)43, auch De inventione, eine Schrift des jungen Cicero.44 In der klassischen Latinität war Cicero mit seinen Werken De inventione, Brutus, Orator und De oratore die prägende Instanz auf diesem Gebiet. Pleticha und Schönberger merken zur Entwicklung an: »Insgesamt führte die Entwicklung der römischen Redekunst von Cato bis Cicero zu immer größerer sprachlich-stilistischer Glätte, zu größerer Kunstfertigkeit und Raffinesse.«45 Cicero perfektionierte die Rhetorik und wurde mit seinen Schriften zu einem Orientierungspunkt. Doch die öffentlichen Forumsreden wurden mit dem Untergang der Republik und dem Wechsel zum Prinzipat, zur Monarchie immer seltener. »Die zunehmende Abhängigkeit vom Kaiser führte zur Vorsicht bei allen öffentlichen Äußerungen; der Opportunismus, der sich breitmachte, empfahl Schweigen statt Reden«, beschreiben Pleticha und Schönberger die Situation.46 Der Wandel der Rhetorik läßt sich ebenfalls in den Römerdramen der englischen Renaissance wiederfinden: In William Shakespeares Coriolanus spielt die Handlung, wenn auch Jahrhunderte vor Ciceros Zeit, zur Zeit der römischen Republik. Reden wurden öffentlich gehalten. Hingegen beschränken sich die rhetorischen Elemente in Philip Massingers The Roman Actor und Ben Jonsons Sejanus His Fall auf den Typus der Gerichtsrede und der Lobrede, auf welche später genauer eingegangen wird.47 Der Bedeutungsverfall der Gerichtsrede spiegelt sich auch in Sejanus His Fall wider: Zwar befinden sich die Angeklagten Silius und Cordus im Recht und legen dies rhetorisch überzeugend dar, aber das Urteil ist für beide schon vorab gefällt und läßt einen positiven Verhandlungsverlauf für die Angeklagten – trotz der besseren Argumente – nicht zu. Des weiteren wagen die opportunistischen Senatoren nicht den Aufstand gegen Kaiser Tiberius und Sejanus. Bedingt durch die Macht des Kaisers bzw. durch die Abhängigkeit vom Kaiser, war man in Rom nun zur Vorsicht gezwungen. »Unter dem Prinzipat des Augustus und seiner Nachfolger«, so beschreibt es Curtius, »mußte die politische Rede verstummen.«48 Doch um nun einen knappen Überblick über Ciceros Werk zu erhalten, sollen im folgenden Ciceros De inventione und De oratore kurz vorgestellt werden. 43 Vgl. Fuhrmann, Geschichte der römischen Literatur, S. 140f. 44 Vgl. Fuhrmann, Geschichte der römischen Literatur, S. 140. Vgl. zu De inventione auch Curtius, S. 74f.: »Diese Schrift [gemeint ist Rhetorica ad Herennium] und die sich mit ihr berührende Jugendschrift Ciceros De inventione fügen dem Lehrgehalt der griechischen Handbücher des 4. Jahrhunderts nichts Neues hinzu, sind aber eben durch ihre Vermittlung der griechischen Lehre an Rom von größter Bedeutung geworden.« 45 Pleticha-Schönberger, S. 375. 46 Pleticha-Schönberger, S. 376. Siehe auch Curtius, S. 78. 47 Siehe dazu Kapitel 2.5, S. 34. 48 Curtius, S. 75.
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2.3.1 De inventione, Ciceros Jugendschrift De inventione sollte ursprünglich den Auftakt einer komplexen Abhandlung über die Rhetorik bilden. Obwohl das Werk nie vollendet wurde, gilt es als »das erste lateinische Corpus einer Theorie der Rhetorik«49. Der einzige große Themenkreis, dem sich Cicero in den zwei Büchern widmet, ist die inventio, die Stoffauffindung.50 In Buch I behandelt Cicero in zehn Kapiteln (I,10–19) die Lehre von den status, den Falltypen.51 Dieser Lehre schließt sich in den folgenden Kapiteln die Lehre von den Redeteilen an: Einleitung, Erzählung, Ankündigung des Beweisziels, Beweisführung, Widerlegung und schließlich der Schluß der Rede.52 Im zweiten Buch widmet sich Cicero in 178 Kapiteln den Redegattungen: Gerichtsrede, Volksrede und Festrede.53 Von diesen drei Redegattungen wird das genus iudiciale am ausführlichsten dargestellt, so daß ab II,14–154 eine weitere Einteilung unternommen werden kann: in den Kapiteln 14–51 behandelt Cicero die »Status der Mutmaßung«, von Kapitel 52–56 die »Status der Definition«, die Kapitel 57–61 erläutern die »Status der Übertragung des Verfahrens«, in den Kapiteln 62–115 werden die »Status der Beschaffenheit« und in den Kapiteln 116– 154 die »Gesetzes- und Vertragsauslegung erläutert«.54
49 Kristeller, S. 20. 50 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 49. Cicero erläutert in de inventione I,7,9 diesen Teil wie folgt: »Inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium, quae causam probabilem reddant […]«. Am Ende des Abschnittes sagt Cicero weiter: »Quare inventio, quae princeps est omnium partium, potissimum in omni causarum genere, qualis debeat esse, consideretur.« Zu dieser Bemerkung schreibt Adamietz, S. 11: »[…] Cicero bringt als ersten Teil seiner Verbindung der materia und der fünf partes einen allgemeinen, von der Gliederung der materia in die drei aristotelischen genera causarum unabhängigen Abriß der inventio für alle nur möglichen Fälle. Dieser füllt das ganze restliche erste Buch (I 10ff.) […]«. 51 Für eine Erläuterung der Statuslehre sei hier Andersen, S. 162f., empfohlen: »Bei der Frage nach dem Status geht es darum, wie es um eine Sache ›steht‹. Die Statuslehre als solche wurde erstmals im 2. Jahrhundert v. Chr. in einem (verlorengegangenen) Werk von Hermagoras entwickelt. Ihre detaillierte Ausformung bekam sie in dem (erhaltengebliebenen) Werk des Hermogenes Über die Stellungen (Peri staseon) aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.« Möglicherweise erweist es sich als leichter, die Statuslehre mit »juristische Fragestellungen« zu übersetzen. 52 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 149; vgl. auch Adamietz, S. 11, zu dieser Auflistung: »In de inv. steht am Anfang eine Bestimmung der fünf Wesensmerkmale der ars rhetorica: genus, officium, finis, materia, partes (I 6–8).« 53 Für die Einteilung der Kapitel vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 149. Vgl. auch bei Kristeller, S. 13, die tabellarische Übersicht zu De inventione. 54 Die Einteilung und Nomenklatur ist Fuhrmanns schematischer Darstellung aus Die antike Rhetorik, S. 149, entnommen. Eine präzisere Einteilung von de inv. II,14–154 – besonders bei den Kapiteln 62–115 – bietet Adamietz, S. 57–93. Zusätzlich sei angemerkt, daß Adamietz De inventione mit der pseudociceronischen Schrift auctor ad Herennium auf Gemeinsamkeiten
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Auch wenn Kritiker De inventione lediglich als Ciceros erste ›rhetorische Gehversuche‹ bezeichnen, eröffnete diese Schrift den Römern einen Zugang zur griechischen Rhetorik, da Cicero darum bemüht war, griechische Fachbegriffe ins Lateinische zu übertragen.55 Werner Eisenhut schreibt dazu: »Trotz mancher Mängel ist die Schrift nicht wenig benützt worden. Was man an ihr vor allem schätzte, scheint neben der anziehenden Darstellung die bequem benützbare Behandlung der Stasis-Lehre gewesen zu sein. Was eigentlich eine gedankliche Schwäche der Schrift ist, ist für einen Überblick ihre Stärke: Wie Cicero in der Einleitung zu Buch II sagt, hat er aus allen Technai das Beste ausgewählt.«56
2.3.2 De oratore Im Gegensatz zu Ciceros früher Schrift De inventione gilt De oratore als sein »rhetorisches Hauptwerk«57. Es besteht aus drei Büchern, die in Dialogform verfaßt sind, dabei sind die beiden Hauptpersonen L. Crassus und M. Antonius.58 Die (fingierte) Handlung des Werkes spielt im Jahre 91 v. Chr., die Dauer ist mit zwei Tagen angegeben.59 Ziel des Werkes ist es, die Frage nach dem orator perfectus zu beantworten. Welche Voraussetzungen muß der vollkommene Redner erfüllen? Als Grundkonstruktion der Schrift dienen Cicero die officia oratoris. Von diesen wird die Darstellung der inventio, dispositio und memoria dem Antonius übertragen. Crassus ist für die elocutio und die actio zuständig. Ein gegliederter Überblick über die drei Bücher soll nun geboten werden. 2.3.2.1 Buch I Jedes der drei Bücher wird durch ein Proömium Ciceros eingeleitet. Das erste Buch gliedert sich mit seinen 265 Paragraphen in drei größere Teile. Im Vorwort stellt er die These auf, die Rhetorik benötige als Voraussetzung eine universale Bildung.
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und Unterschiede hin vergleicht. Leider können wir uns mit Adamietzs genauerer Einteilung nicht intensiver befassen, da dies sonst den gesetzten Rahmen überschreiten würde. Vgl. Kristeller, S. 20. Eisenhut, S. 62. Vgl. Eisenhut, S. 62. Konkreter formuliert ist die vorherrschende Dialogform der aristotelische Dialog. Das bedeutet, alle Dialogteilnehmer sprechen in zusammenhängenden Abschnitten, jedoch in keinem Wechselgespräch. In De oratore auftretende Charaktere, neben Cicero selber, sind: L. Crassus, Q. Mucius Scaevola, Antonius, Q. Lutatius Catulus und C. Iulius Caesar Strabo Volpiscus. Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 53.
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Teil 1 bietet von Paragraph 30–95 einen Überblick über die Kulturleistung der Rhetorik. Crassus beginnt den Dialog (de or. I,7,29–I,8,34), dabei stellt er die Rhetorik als erhabenste aller Wissenschaften dar.60 Einwände werden von Scaevola erhoben. In den Paragraphen 35–44 führt er an, daß Staaten nicht von beredten, sondern von weisen und tapferen Männern gegründet seien. Ferner kritisiert er Crassus’ Aussage, ein Redner könne sich in jedweder Art von Erörterungen eloquent zurechtfinden, als übertrieben. Crassus’ Antwort, die wiederum eine Verteidigung seiner These ist, wird in den Abschnitten 45–73 dargestellt. In den Paragraphen 74–79 wird die Debatte zwischen Crassus und Scaevola beendet, mit dem Ergebnis, daß Scaevola die Ansicht des Crassus billigt. Antonius bekundet seine Einwände gegenüber Crassus, daß die erwähnte Beredsamkeit in der Gesellschaft auf dem Forum nicht funktioniere: »Aliud enim mihi quoddam orationis genus esse videtur eorum hominum, de quibus paulo ante dixisti, quamvis illi ornate et graviter aut de natura rerum aut de humanis rebus loquantur: nitidum quoddam genus est verborum et laetum, et palaestrae magis et olei, quam huius civilis turbae ac fori.« (Cic. de or. I,18,81)61
Darüber hinaus bietet er einen knappen Exkurs über den Streit der griechischen Philosophen und Rhetoren.62 Man erkennt daran, daß die Rhetorik in der Antike durchaus der Rechtfertigung bedurfte, und zwar insofern, als daß sie einerseits als Blendwerk, andererseits als Kunstfertigkeit und Mittel zum verständlichen Ausdruck gesehen wurde. Dem schließt sich der zweite Teil mit dem »Hauptbeitrag des Crassus«63 an. Fuhrmann gliedert diesen in zwei Abschnitte: der erste behandelt die Erfordernisse zur Beredsamkeit64, im zweiten findet eine ausführliche Erörterung der Rechtskenntnis statt.65 Der dritte Teil des Buches I bildet mit Antonius’ Meinung den Gegenpol zu Teil 2. Antonius stellt den menschlichen Verstand über theo-
60 Vgl. Eisenhut, S. 62. 61 Cic. de. or. I,18,81. Gemäß der Übersetzung von Merklin, S. 87: »Denn die Ausdrucksweise der Leute, von denen du eben sprachst, scheint mir ganz anders zu sein, mögen sie auch noch so schön und eindrucksvoll über das Wesen der Dinge und die Anliegen der Menschen reden; ihr Stil wirkt so glänzend und üppig und erinnert mehr an Ringschule und Salböl als an die Wirren der Politik und das Forum.« 62 Gemeint ist damit der Disput, ob die Rhetorik »ἐπιστήμη oder bloß τέχνη« (also ein Wissen bzw. eine Kenntnis oder eine Kunst) sei, wie Eisenhut es auf S. 62f. veranschaulicht. 63 Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 55. 64 Dazu zählen u. a. »animi atque ingeni celeres« (»geschwinde Beweglichkeit des Geistes«) oder »dona naturae« (»Gaben der Natur«). Vgl. Cic. de or. I,24,113–I,25,114. In I,24,113 äußert sich Crassus noch zusätzlich: »›Sic igitur‹ inquit ›sentio,‹ Crassus ›naturam primum atque ingenium ad dicendum vim adferre maximam; […]‹.« Vgl. auch Merklin, S. 105: »›Ich bin also der Meinung‹, fuhr Crassus fort, »daß erstens die natürliche Begabung von entscheidender Bedeutung für die Rede ist […]«. 65 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 56f.
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retisches Wissen in Politik, Philosophie und Recht. In I,49,213 nennt er sein Verständnis von einem Rhetoren: »Oratorem autem, quoniam de eo quaerimus, equidem non facio eundem quem Crassus, qui mihi visus est omnem omnium rerum atque artium scientiam comprehendere uno oratoris officio ac nomine; atque eum puto esse, qui et verbis ad audiendum iucundis et sententiis ad probandum accomodatis uti possit in causis forensibus atque communibus: hunc ego appello oratorem eumque esse praeterea instructum voce et actione et lepore quodam volo.« (Cic. de. or. I,49,113)66
Ferner, meint Antonius, sei die Philosophie für den Redner unbrauchbar, und Kenntnisse im Privatrecht seien auch nicht vonnöten.67 2.3.2.2 Buch II In Buch II werden die ersten 28 Paragraphen von Cicero als Einstieg in die Szene verwendet. Gegen Ende des ersten Buches hat Scaevola den Gesprächskreis verlassen, dafür schließen sich Catulus und Strabo der Runde an. Die beiden großen Teile, §§ 28–113 und §§ 114–367, in die das Buch eingeteilt werden kann, werden durch die Darstellungen des Antonius geprägt. Der erste Teil wird von Antonius als Einleitung verwendet. Dabei betont er in II,8,33 »[…] nihil esse perfecto oratore praeclarius«, daß es nichts Herrlicheres gebe als einen vollkommenen Redner.68 Antonius grenzt daher den Beruf des Redners ein und bestimmt ihn in II,18,39–42. Der Beruf des Redners schließt das Beherrschen der drei genera – genus iudiciale, genus deliberativum und laudationes – ein, da ausschließlich diese der Redekunst zugehörig sind. Der erste Teil endet mit Vorschlägen für eine praxisorientierte Rhetorik. Den Grundgedanken hierzu erwähnt er in II,16,69f.: »[…] neque est omnino ars ulla, in qua omnia, quae illa arte effici possint, a doctore tradantur, sed qui primarum et certarum rerum genera ipsa didicerunt, reliqua [non incommode] per se adsequentur – similiter arbitror in hac sive ratione sive exercitatione dicendi, qui illam vim adeptus sit, ut eorum mentis […] ad suum arbitrium movere
66 Vgl. auch Merklin, S. 165: »Das Bild des Redners aber, denn wir fragen ja nach ihm, ist bei mir nicht dasselbe wie bei Crassus; er schien mir nämlich das gesamte Wissen aller Disziplinen und Bereiche mit dem einen Amt und Titel eines Redners zu umgreifen; ich aber sehe in ihm einen Mann, der bei Verhandlungen, die auf dem Forum üblich sind, dem Ohr genehme Worte und überzeugende Gedanken vorzubringen weiß. Ihm gebe ich den Titel eines Redners, und ihn will ich außerdem mit stimmlichen Voraussetzungen, mit Talent zum Vortrag und mit einer Art von Anmut ausgestattet sehen.« 67 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 57. 68 Vgl. Merklin, S. 227.
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possit, illum de toto genere reliquarum orationum non plus quaesiturum esse, quid dicat […].«69
Im zweiten Teil kommt Antonius zu seinem eigentlichen Vortrag über die Beredsamkeit. Dieser Teil gibt Regeln zur inventio vor, zunächst in einer Art Vorbemerkung und schließlich im genaueren Maße. In den Paragraphen 114–177 behandelt er die Lehre von der Beweisführung: Der Redner soll seine Zuhörer mit gegebenen Tatsachen belehren und deren Richtigkeit beweisen. In §§ 178–184 wird der nächste Schritt erörtert: Aufgabe des Redners ist conciliare, d. h. er soll sich um die Gunst der Zuhörer bemühen. Im Anschluß fährt Antonius in seinem Vortrag mit der Thematik bezüglich des Erregens der Affekte (movere) fort.70 Ein Redner müsse in seinem Vortrag wissen, auf welche Weise bestimmte Emotionen erregt werden oder wie man sie in einer Rede vermischen kann. Hierauf folgt Caesars Exkurs über den Witz als bestes Mittel zur Erregung von Affekten. Als nächstem zentralen Thema wendet sich Antonius in §§ 307–349 der dispositio, der Stoffgliederung, zu. Dabei kommt er auch auf die einzelnen Redeteile zu sprechen. Das exordium muß vom Redner sorgfältig ausgearbeitet sein und soll sich an die nachfolgende Rede anfügen, II,80,325: »Conexum autem ita sit principium consequenti orationi, ut non tamquam citharoedi prooemium adfictum aliquid, sed cohaerens cum omni corpore membrum esse videatur.«71
Die narratio, die Erzählung des Sachverhaltes (§§ 326–330), sollte in einem verständlichen Stil verfaßt sein (Cic. de or. II,80,329): »Apertam enim narrationem tam esse oportet quam cetera.«72 In den Paragraphen 331–349 referiert Antonius über die propositio (Hauptfrage), die confirmatio (Beweisführung) und die peroratio (Schluß der Rede) mit einigen Bemerkungen. 69 Bei Merklin, S. 249–251: »Es gibt auch gar kein Fach, in dem ein Lehrer alles lehrt, was man in diesem Fach zustande bringen kann, vielmehr erreichen die, die sich die wichtigsten, feststehenden Grundformen angeeignet haben, alles übrige von selbst. Ähnlich verhält es sich meiner Meinung nach mit der theoretischen Beherrschung oder praktischen Einübung der Beredsamkeit. Wer es so weit gebracht hat, daß er die Gemüter der Zuhörer […] in seinem Sinne zu beeinflussen vermag, der wird bei all den Reden anderer Art nicht mehr danach fragen, was er sagen soll […]«. 70 Cic. de or. II,51,206: »Iam quoniam haec fere maxime sunt in iudicum animis aut, quicumque illi erunt, apud quos agemus, oratione molienda, amor odium iracundia, invidia misericordia, spes laetitia, timor molestia […]«. Vgl. Merklin, S. 339: »Das also sind im wesentlichen die Gefühle, die wir in den Herzen der Richter oder derer, vor denen wir auftreten, zu erwecken haben: Zuneigung, Haß, Zorn, Neid, Mitleid, Hoffnung, Freude, Furcht, Verdruß.« 71 Vgl. Merklin, S. 415: »Die Einleitung soll aber mit der Rede, die ihr folgt, so eng verbunden sein, daß sie nicht wie ein nachträglich komponiertes Vorspiel eines Kitharöden, sondern als ein Glied erscheint, das mit dem ganzen Leib zusammenhängt.« 72 Vgl. Merklin, S. 417: »Die Schilderung des Sachverhalts muß nämlich so klar sein wie das übrige.«
Cicero und die lateinische Rhetorik
31
Den Schluß des zweiten Buches markiert die Abhandlung der memoria, des Auswendiglernens, (§§ 350–367). Die hierin enthaltenen Themenpunkte umfassen den Nutzen des Gedächtnisses, sowie was die Kunst des Gedächtnisses ist und worin sie besteht. 2.3.2.3 Buch III Das dritte Buch behandelt die noch ausstehenden officia oratoris.73 Ciceros Vorwort erstreckt sich auf die Paragraphen 1–16, die beiden nachfolgenden verwendet er, um wieder in die Szene einzuführen. Den Hauptteil bildet in §§ 19– 53 und in §§ 144–230 der Vortrag des Crassus, der durch einen Exkurs über die Bildung des Redners in den Paragraphen 54–143 unterbrochen wird. Crassus beginnt mit einigen einleitenden Worten. Dabei merkt er an, daß Stoff und Redeschmuck nicht voneinander trennbar sind. Damit ist der Grundstein für den weiteren Vortrag, in welchem der Schmuck der Rede erörtert wird, gelegt. Crassus führt an, daß durch das Lesen lateinischer Dichter und Redner der gute lateinische Ausdruck, d. h. die Sprachrichtigkeit (Latine dicere) und Klarheit (plane dicere) gefördert werde.74 An diese Ausführung schließt der Exkurs an. Der orator perfectus sei derjenige, der die Gewandtheit eines Aristoteles besitze, heißt es beispielsweise.75 In § 144 wendet sich Crassus wieder seinem eigentlichen Vortrag zu. Eine Rede kann anhand einzelner Worte oder ihrer Anordnung seiner Ansicht nach ausgeschmückt werden: »Nam est quidam ornatus orationis, qui ex singulis verbis est; alius, qui ex continuatis [coniunctis] constat.«76 (Cic. de or. III,37,149). Bei der Stellung der Worte gilt es zu beachten, daß sie sich harmonisch aneinanderfügen und zur Rhythmusbildung beitragen können.
73 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 58f. 74 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 150. Vgl. auch Cic. de. or. III,10,37: »Quinam igitur dicendi est modus melior, nam de actione post videro, quam ut Latine, ut plane, ut ornate, ut ad id, quodcumque agetur, apte congruenterque dicamus?« Vgl. auch Merklin, S. 469: »Welche Art der Formulierung wäre darum besser – denn vom Vortrag wird später noch die Rede sein – als die, daß wir korrekt, klar, wirkungsvoll und dem Thema entsprechend formulieren?« 75 Vgl. Cic. de. or. III,19,71: »Sin veterem illum Periclem aut hunc etiam, qui familiarior nobis propter scriptorum multitudinem est, Demosthenem sequi vultis et si illam praeclaram et eximiam speciem oratoris perfecti et pulcritudinem adamastis, aut vobis haec Carneadia aut illa Aristotelia vis comprehenda est.« Meine Übersetzung: »Wenn ihr aber jenen alten Perikles oder auch diesen Demosthenes, der uns wegen seiner Vielzahl an Schriften vertrauter ist, folgen wollt und ihr jenes vortreffliche und außerordentliche Ideal des vollkommenen Redners und Schönheit liebgewonnen habt, müßt ihr entweder die Macht des Karneades oder des Aristoteles erfassen.« 76 Cic. de or. III,37,149. Vgl. auch Merklin, S. 539: »Denn es gibt einen Schmuck der Rede, der aus Einzelworten, und einen, der aus ihrer Verbindung und Vereinigung besteht.«
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Rhetorik
Ab § 210 referiert Crassus über den angemessenen Ausdruck (aptum): »Quam ob rem quoniam de ornatu omni orationis sunt omnes, si non patefacti, at certe commonstrati loci, nunc quid aptum sit, hoc est, quid maxime deceat in oratione, videamus.«77 (Cic. de or. III,55,210). Crassus fährt mit dem Vortrag, der actio, fort. Der actio kommt der größte Einfluß zu.78 Ein Redner könne, wie ein Maler mit Farben seinem Bild, durch seine Stimme der Rede die gewisse Stimmung verleihen (Cic. de or. III,57,217): »[…] nullum est enim horum generum, quod non arte ac moderatione tractetur. Hi sunt actori, ut pictori, expositi ad variandum colores.«79
Zum Schluß (§§ 229, 230) dankt Catulus für die Darstellung.
2.4
Quintilian
Quintilians Institutio oratoria ist wohl das ausführlichste römische Werk, das die klassische Beredsamkeit behandelt. Dabei richtet er sich nicht an Rhetorikschüler, sondern spricht unter didaktischen Aspekten die Redelehrer an, wobei er auch kritische Betrachtungen einfließen läßt.80 Auf zwölf Bücher aufgeteilt, behandelt Quintilian im ersten Buch die Grundlagen für den Rhetorikunterricht, ferner Grammatik, Musik und Geometrie. Im zweiten Buch spricht er von rednerischen Übungen und der Theorie der Rhetorik. Des weiteren versucht er – wie schon andere vor ihm – , die Rhetorik zu definieren. Der bekannte Streitpunkt, ob die Rhetorik eine Kunst ist oder nicht und welchen Stellenwert sie einnimmt, wird auch hier angesprochen. Im dritten Buch verlagert Quintilian den Fokus auf die Rede und deren rhetorisches Grundgerüst. Dazu zählt u. a. die Behandlung der Redegattungen, der Beratungsrede und der Gerichtsrede. Das vierte Buch ist die logische Fortführung des dritten: Detaillierter geht Quintilian nun, nach kurzem Vorwort, auf die 77 Cic. de or. III,55,210. Vgl. auch Merklin, S. 579: »Da alle Quellen für den Schmuck der Rede wenn schon nicht erschlossen, so doch bezeichnet sind, laßt uns nun sehen, was im Ausdruck angemessen ist, das heißt, was sich am ehesten geziemt.« 78 Cic. de or. III,56,213: »Actio, inquam, in dicendo una dominatur; sine hac summus orator esse in numero nullo potest, mediocris hac instructus summos saepe superare.« Vgl. Merklin, S. 581: »Der Vortrag, sage ich, hat in der Redekunst allein entscheidende Bedeutung. Denn ohne ihn gilt auch der größte Redner nichts, ein mittelmäßiger, der ihn beherrscht, kann aber oft die größten Meister übertreffen.« 79 Cic. de. or. III,57,217. Vgl. Merklin, S. 583: »Denn unter diesen Möglichkeiten gibt es keine, die nicht der Kunst und ihren Regeln unterliegt. Sie bieten sich dem Redner, wie dem Maler seine Farben, zur Abwechslung an.« 80 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 70. Leider kann hier keine Einzelübersicht der jeweiligen Bücher geboten werden, da eine Veranschaulichung aller zwölf Bücher die angestrebte Übersicht bei weitem überschreiten würde.
Quintilian
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Redeteile ein. Als Rhetoriklehrer erwähnt er auch die griechischen Konzepte und Bezeichnungen, wie etwa in IV,1,1: »Quod principium Latine vel exordium dicitur, maiore quadam ratione Graeci videntur προοίμιον nominasse, quia a nostris initium modo significatur, illi satis clare partem hanc esse ante ingressum rei, de qua dicendum sit, ostendunt.«81
Die Zielsetzung des exordium, sagt er in IV,1,5, ist, den Zuhörer vorzubereiten, ihn wohlwollend, aufmerksam und gelehrig zu stimmen (»benevolum, attentum, docilem«). Im nächsten Schritt erläutert er die narratio: »Maxime naturale est et fieri frequentissime debet, ut praeparato per haec, quae supra dicta sunt, iudice res, de qua pronuntiaturus est, indicetur: ea est narratio.« (Quint. IV,2,1)82
Darauffolgend behandelt er den Exkurs als kleinen Redeteil, an dessen Behandlung sich die Ankündigung des Beweiszieles, die propositio, anschließt. Daß bezüglich der propositio unterschiedliche Meinungen vorherrschen, berücksichtigt Quintilian: »Sunt qui narrationi propositionem subiungant tamquam partem iudicialis materiae: cui opinioni respondimus. mihi autem propositio videtur omnis confirmationis initium […] ea non semper uti necesse est. aliquando enim sine propositione quoque satis manifestum est, quid in quaestione versetur […].« (Quint. IV,4,1–2)83
Buch 5 und 6 widmen sich u. a. der Beweisführung und den noch ausstehenden Redeteilen, der Widerlegung (refutatio) in V,13 und dem Schluß der Rede (peroratio) in VI,1:
81 Vgl. Rahn, Marcus Fabius Quintilianus. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Erster Teil, Buch I–VI, S. 407 [zitiert als Rahn, Ausbildung des Redners. Erster Teil.]: »Was auf Lateinisch principium (Anfang) oder exordium (Beginn) heißt, haben die Griechen, wie mir scheint, sinnvoller προοίμιον genannt; denn unsere Benennung bezeichnet nur, daß es anfängt, die Griechen aber machen hinreichend kenntlich, daß dieser Teil vor dem Eintritt in das Thema der Rede liegt.« 82 Vgl. Rahn, Ausbildung des Redners. Erster Teil, S. 437: »Am natürlichsten ist es und muß am häufigsten geschehen, daß dann, wenn der Richter mit den Mitteln, die oben besprochen sind, vorbereitet ist, die Sache, worüber er sein Urteil verkünden soll, angegeben wird: das ist die Erzählung.« 83 Vgl. Rahn, Ausbildung des Redners. Erster Teil, S. 495: »An die Erzählung schließen manche die Ankündigung des Beweiszieles, als bilde sie einen eigenen Teil des Stoffes, der dem Gericht vorzutragen sei, eine Ansicht, zu der wir schon Stellung genommen haben. Ich aber sehe in dieser Ankündigung den Beginn einer jeden Beweisführung, […]. Die Ankündigung des Beweiszieles muß nicht immer erfolgen. Manchmal nämlich ist es auch ohne Ankündigung hinreichend klar, worum die Untersuchung eigentlich geht, […]«.
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Rhetorik
»In hac quae repetemus quam brevissime dicenda sunt, et, quod Graeco verbo patet, decurrendum per capita. Nam si morabimur, non iam enumeratio, sed quasi altera fiet oratio.« (Quint. VI,1,2)84
An dieser Stelle sei kurz erwähnt, daß in den Büchern 4–6 die Redeteile – Einleitung, Erzählung, Exkurs, Ankündigung des Beweisziels, Beweisführung und Schluß der Rede – genauer behandelt werden. Buch 6 schließt mit einem Anhang zu Pathos, Ethos und Witz. Buch 7 enthält die Statuslehre, in den Büchern 8–11 wird die Stilistik hinsichtlich des Ausdrucks, der Sprachrichtigkeit, Klarheit und des Redeschmuck (Buch 8–9) dargestellt. Die Bücher 10–11 behandeln das Lektürewissen des Redners (Buch 10), sowie die Angemessenheit und das Auswendiglernen bzw. Gedächtnistraining (Buch 11). Das letzte Buch handelt vom Wesen und Charakter des Redners, der sittlichen Grundlage der echten Redekunst und der sittlichen Ausbildung des Redners.85
2.5
Drei Redegattungen
Auch wenn verschiedene Autoren in der Antike Lehrbücher über die Rhetorik verfaßt haben und durchaus unterschiedliche Ansichten vertreten, so stimmen sie in einer gewissen Systematik alle überein. Diese Systematik betrifft u. a. die Einteilung der Rede in drei Gattungen, die sogenannten genera causarum. Seit Aristoteles unterscheidet man zwischen der ›Gerichtsrede‹ (griech. γένος δικανικόν, lat. genus iudiciale), der ›politischen Rede‹ oder ›Volksrede‹ (griech. γένος συμβουλευτικόν, lat. genus deliberativum) und der ›Gelegenheits-‹ bzw. ›Festrede‹ (griech. γένος ἐπιδεικτικόν, lat. genus demonstrativum).86 Die drei Redegattungen werden nach drei Aspekten eingeteilt: dem Zweck, der zeitlichen Orientierung und nach den entsprechenden Maßstäben der Gattung.87 Im Kontext einer Gerichtsrede bezieht sich der Zweck entweder auf eine Anklage oder Verteidigung. Im zeitlichen Rahmen orientiert sie sich am Vergangenen, da sie ein gerichtliches Urteil über einen vorliegenden Tatbestand anstrengt. Dabei richtet sie sich nach ihrem Maßstab Recht oder Unrecht (iustum/iniustum).88 Die 84 Vgl. Rahn, Ausbildung des Redners. Erster Teil, S. 675: »In ihr gilt es, was wir wiederholen, so knapp wie möglich zu bringen und, wie ihr griechischer Name besagt, die ›Hauptsachen‹ schnell durchzugehen. Denn falls wir uns dabei aufhalten, ergibt es nicht mehr eine Aufzählung, sondern gleichsam eine neue Rede.« 85 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 71f. 86 Vgl. S. 21. 87 Vgl. Andersen, S. 35. 88 Vgl. Andersen, S. 35; vgl. auch Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 54 und S. 86ff. Bei der Gerichtsrede sollte beachtet werden, daß sie stets zwei Aufgaben vor Gericht
Die Redeteile
35
Gattung der Festrede traktiert entweder Lob oder Tadel, das bedeutet, sie will die Ehre oder die Unehre, wenn die betreffende Person sich nicht rühmlich verhalten hat, einer Person oder Gemeinschaft herausstellen.89 Im zeitlichen Rahmen betrifft sie die Gegenwart, kann sich allerdings auch auf die Vergangenheit beziehen und Anspielungen auf die Zukunft machen.90 Die politische Rede schließlich will entweder zuraten oder abraten, die Zuhörer zu einer Entscheidung auffordern, ob etwas nützlich oder unnützlich (utile/inutile) ist. Hierzu bezieht sie sich zwangsläufig auf die Zukunft.91 Eine klare Trennung der drei genera ist nicht immer gegeben, wie auch Lausberg ausführt: »Die Reden jedes der drei genera können natürlich Elemente der beiden anderen genera enthalten, besonders wenn durch die Länge der Rede Exkurse […] möglich sind. Es gibt also im genus iudiciale deliberative […] und epideiktische […] Elemente. Das genus demonstrativum wird als Hilfsbestandteil der beiden übrigen genera […] verwandt.«92
2.6
Die Redeteile
Ebenso wie die Definitionen von Rhetorik in der Antike variierten, gab es auch unterschiedliche Auffassungen bei der Aufteilung der Rede. Dies wird bereits in de oratore II,19,79 angesprochen: »Atque haec ego non reprehendo, sed ante oculos posita esse dico, ut eas item quattuor, quinque, sexve partis vel etiam septem, quoniam aliter ab aliis digeruntur, in quas est ab his omnis oratio distributa.«93
Einer universalen Einteilung folgend, die nicht an das genus einer Rede gebunden ist, unterscheidet man bis zu fünf Redeteile (partes orationis): exordium, narratio, propositio, argumentatio und peroratio oder conclusio. Nach ihnen richtet sich der allgemeine Aufbau einer Rede.94
89 90 91 92 93
94
erfüllen muß. Die eine Partei bildet den Angriff, die andere formiert die Abwehr. Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 88. Gewöhnlich wird für eine ins Negative pervertierte laudatio der Begriff vituperatio verwendet. Vgl. Andersen, S. 35; vgl. auch Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 55 und S. 129ff. Vgl. Andersen, S. 35; vgl. auch Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 54 und S. 123ff. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 61. Vgl. Andersen, S. 50f. Vgl. auch Merklin, S. 257: »Ich halte diese Einteilung auch gar nicht für verkehrt, doch ich behaupte, daß sie vor Augen liegt, genau wie jene vier, fünf, sechs oder auch sieben Teile – denn der eine gliedert so, der andere so –, in die sie die gesamte Rede aufgegliedert haben.« Auch die Theoretiker sind sich über die Anzahl der Redeteile nicht einig. Vgl. hierzu auch Lausberg, S. 147, und Curtius, S. 79.
36
Rhetorik
Den Anfang der Rede bildet das exordium, welches in die Rede einführen soll. Weiterhin soll das exordium den ersten Kontakt zwischen Redner und Publikum bzw. Richter herstellen. Der Redner verfolgt mit ihm den Hauptzweck, die Zuhörer auf den Redegegenstand vorzubereiten.95 Dabei sollen die Hörer dem Redner gegenüber freundlich gesinnt sein (captatio benevolentiae) und seiner Rede aufmerksam folgen. Bei der captatio benevolentiae wird im juristischen Kontext das Ziel verfolgt, die eigene Person oder Sache als besonders positiv – beispielsweise als äußerst kompetent und glaubwürdig – darzustellen und die Gegenpartei als negativ, so daß für diese Verachtung empfunden wird.96 Abhängig von der Redegattung kann bzw. muß die Einleitung unterschiedlich gestaltet werden.97 Es werden zwei Arten des exordium, ein direktes und ein indirektes, differenziert.98 Im Lateinischen unterteilt sich der Begriff in principium und insinuatio; letztere entspricht der indirekten Einleitung oder dem besonderen exordium. Das principium ist in der Praxis besser anwendbar als die insinuatio, da
95 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 84; vgl. auch Andersen, S. 53: »Die Einleitung […] hat eine zentrale Funktion: Mit ihr muß es dem Redner gelingen, mit dem Publikum in Kontakt zu kommen. Wenn er das nicht schafft, kann es sein, daß er alles Weitere tauben Ohren predigt.« Vgl. auch Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 150. 96 Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 84. Fuhrmann formuliert die Intention des Redners zudem in der prägnanten Formel: Aufmerksamkeit und die Empfänglichkeit des Publikums wecken. Vgl. auch Andersen, S. 53: »[…] sie [gemeint ist die Einleitung] soll also bewirken, daß die Zuhörer bereitwillig, interessiert und aufnahmefähig zuhören.« Vgl. Quint. IV,1,5: »Causa principii nulla alia est quam ut auditorem quo sit nobis in ceteris partibus accommodatior praeparemus. Id fieri tribus maxime rebus inter auctores plurimos constat, si benivolum attentum docilem fecerimus, non quia ista non per totam actionem sint custodienda, sed quia initiis praecipue necessaria, per quae in animum iudicis ut procedere ultra possimus admittitur.« Vgl. auch Rahn, Ausbildung des Redners. Erster Teil, S. 407: »Gegenstand der Einleitung ist es lediglich, den Hörer so vorzubereiten, daß er bei den übrigen Teilen der Rede leichter für uns gewonnen wird. Daß dies vor allem in dreifacher Hinsicht geschieht, darüber besteht in den meisten Lehrschriften Übereinstimmung: wenn wir nämlich den Hörer wohlwollend, gespannt und aufnahmebereit machen – nicht, weil diese drei Ziele nicht die ganze Rede hindurch beachtet werden müßten, sondern weil sie besonders notwendig sind für die Gestaltung des Eingangs, durch den wir Einlaß zum Herzen des Richters gewinnen, um auf diesem Weg dann weiter vordringen zu können.« 97 Vgl. Fuhrmanns weitere Erläuterungen in Die antike Rhetorik, S. 85ff.: »Man klassifizierte die Vielfalt möglicher Positionen im Schema der genera causarum […]. Die ›Rhetorik an Herennius‹ nennt deren vier (1,5–6): die genera honestum, turpe, dubium und humile […]«. 98 Vgl. Andersen, S. 54. Die Umschreibung ›direkt‹ und ›indirekt‹ stammt von Andersen; vgl. auch Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 150ff. Bei Lausberg findet die Unterscheidung zwischen einem »›normalen‹ exordium«, welches Andersens ›direkter Einleitung‹ entspricht, und einem »›besonderen‹ exordium«, welches bei Andersen als ›indirekte Einleitung‹ definiert wird.
Die Redeteile
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die Rede mit ihm auf vielfältigere Weise99 begonnen werden kann und es in erster Instanz das »iudicem benevolum, docilem, attentum parare«100 sucht. Die insinuatio findet in drei besonderen Fällen ihre Anwendung, und zwar vornehmlich, wenn der Redner der Gegenpartei »das Publikum bereits für sich gewonnen hat, so daß unsere causa als dem genus turpe angehörig angesehen wird«101, wenn die Zuhörer durch die vorherige Rede erschöpft sind und wenn man selbst Vertreter einer schlechteren Sache ist.102 Zu diesen möglichen Problemen bedient sich die insinuatio rhetorischer oder auch psychologischer Mittel, wie z. B. einer Unterstellung oder Überrumpelung.103 Dem exordium folgt die narratio als nächster Redeteil. Sie ist, wie Lausberg sie definiert, »die (parteiische) Mitteilung des (in der argumentatio zu beweisenden) Sachverhalts an den Richter«104. Vornehmlich ist sie daher im genus iudiciale vorzufinden.105 Die narratio vereint neben der Erzählung des Tathergangs auch die genauere Schilderung des zu beweisenden Sachverhalts, die propositio.106 Ziel ist es, auf die Beweisführung (argumentatio) vorzubereiten und die Zuhörer zu überzeugen (persuadere). In der Theorie betrachtet, bilden narratio und propositio zwei Redeteile, doch häufig hängen sie in der praktischen Anwendung so eng zusammen, daß man die Grenzen bisweilen nicht explizit ausmachen kann. Die argumentatio ist die Beweisführung des Redners. Sie ist »der zentrale, ausschlaggebende Teil der Rede, der durch das exordium […] und die narratio […] vorbereitet wird«107. Bei der argumentatio muß man ebenfalls unterscheiden, ob diese eine positive oder negative Beweisführung ist. Eine positive Be99 Vgl. Andersen, S. 54: »Die direkte Einleitung (lat. principium) ist am häufigsten anwendbar, weil wir mit einem der vier Aspekte – Redner, Gegner, Zuhörer oder Sache – beginnen können.« 100 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 151. 101 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 160. 102 Vgl. Andersen, S. 54. 103 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 160. 104 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 163. 105 Im Kontext einer Lobrede ist davon auszugehen, daß die Zuhörer bereits Kenntnis des Sachverhalts haben. 106 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 164: »Die narratio ist also parteiischvereindringlichende Detaillierung des nüchtern-knapp in der propositio Ausdrückbaren.« Quintilian definiert die narratio in IV,2,31 folgendermaßen: »narratio est rei factae aut ut factae utilis ad persuadendum expositio, vel, ut Apollodorus finit, oratio docens auditorem, quid in controversia sit.« Vgl. die Übersetzung von Helmut Rahn, Ausbildung des Redners. Erster Teil, S. 449: »Die Erzählung ist ja eine zum Überreden nützliche Darlegung eines tatsächlichen oder scheinbar tatsächlichen Vorgangs oder, nach der Definition des Apollodorus, eine Rede, die den Hörer darüber unterrichtet, was strittig ist.« Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 89, erläutert kurz den Zweck der propositio: »Die propositio umreißt den Streitpunkt, um den es bei den bevorstehenden Beweisen geht; wenn es sich um mehrere Punkte handelt, dann werden sie in einer partitio der Reihe nach vorgeführt.« 107 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 190.
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Rhetorik
weisführung, also eine probatio oder confirmatio, entspricht einer Bekräftigung des eigenen Standpunktes, während der negative Beweis, die confutatio oder refutatio, die Entkräftung der Gegenpartei darstellt.108 Um die eigene Glaubwürdigkeit besser vor Augen führen zu können, spielt die Anordnung der Argumente eine entscheidende Rolle. Auch die Beweise werden kategorisiert, und zwar in »kunstlose« und »künstliche« Beweise.109 Lausberg erläutert den Unterschied dahingehend, daß die kunstlosen Beweise (probationes inartificiales) ohne rhetorische Hilfsmittel bereits vorhanden sind, wie etwa Zeugenaussagen. Im Gegensatz dazu werden die künstlichen Beweise (probationes artificiales) durch die Kunst der Rhetorik, also aus dem Prozeß selbst, gefunden.110 Der letzte Abschnitt der Rede ist die peroratio oder conclusio. Anhand des Wortes conclusio ist herzuleiten, daß in ihr die Rede, unter Zusammenfassung der narratio und argumentatio, zum Schluß geführt wird. Für den Redner ist dieser Part der Rede fast ebenso wichtig wie das exordium, da er, zusätzlich zu dieser Zusammenfassung, versucht, die Affekte seiner Zuhörer ein letztes Mal zu beeinflussen.111 Dabei bedient sich der Redner der amplificatio, einer »Aufpeitschung der Affekte des Publikums zur Parteinahme gegen die Partei des Geg108 Vgl. Andersen, S. 57. 109 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 191. Vgl. auch Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 89f., der statt dessen – in synonymer Bedeutung – zwischen »technischen« und »untechnischen« Beweisen unterscheidet. Der Grund für diese Varianz mag am Bezug auf Quintilian, der von »probationes artificiales« und »probationes inartificiales« schreibt, liegen. 110 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 193. Beide Beweisgattungen finden bei Lausberg jeweils akribischere Unterteilungen, die hier nicht erwähnt werden können. Für den kunstlosen Beweis vgl. auch Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 92: »Schließlich die wichtigste untechnische Beweisform, die gewöhnliche Zeugenaussage: ›Den meisten Schweiß ruft bei den Anwälten die Behandlung der Zeugen hervor‹ (Quintilian 5,7,1). Es war eben in der Antike auch bei Strafprozessen im allgemeinen Sache der Parteien, möglichst viel aus den Zeugen herauszuholen, nicht der Gerichte, und eine eigene öffentliche Anklagebehörde gab es nicht. So grassierte denn auch in den Tagen des Anaximenes […] die rhetorische Topik. Entweder ist ein Zeugnis glaubwürdig, unglaubwürdig oder zweifelhaft, oder aber ein Zeuge; der Redner muß demgemäß sein Für und Wider bald auf das Zeugnis, bald auf den Zeugen konzentrieren.« Vgl. für den künstlichen Beweis auch Fuhrmanns Ausführung, S. 93: »Die technischen, auf der Kunst des geschulten Redners beruhenden Beweise unterscheiden sich nach Aristoteles […] von den streng wissenschaftlichen dadurch, daß sie der Präzision ermangeln, daß sie demnach nur zu mehr oder minder wahrscheinlichen, im allgemeinen nicht unbedingt zwingenden Ergebnissen führen […]«. 111 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 238: »Die peroratio ist die letzte Gelegenheit, die Richter (das Publikum) für die eigene Partei günstig zu stimmen und gegen die Partei des Gegners zu beeinflussen. Während der Affektgebrauch in den übrigen Redeteilen gemäßigt ist […], können in der peroratio alle Affektschleusen geöffnet werden […]«. Vgl. auch Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 97: »Der Schluß der Rede, ἐπίλογος (epílogos) / peroratio – conclusio, stimmt darin mit der Einleitung überein, daß er sich um das Wohlwollen der Zuhörer bemüht; für Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit braucht nicht mehr gesorgt zu werden.«
Rhetorik in der Renaissance
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ners«112. Andersen spricht von vier Aspekten, die es in der conclusio zu beherzigen gilt: Der erste Punkt zielt auf die Auffrischung des Gedächtnisses in Form einer Zusammenfassung der Argumente ab. Der zweite Aspekt zielt darauf ab, das Publikum noch einmal für seine Darstellung wohlgesinnt zu stimmen. Die letzten beiden beziehen sich darauf, daß der Redner seine Argumente als die schlüssigeren und besseren darstellt und dabei die Affekte der Zuhörer bewegt.113
2.7
Rhetorik in der Renaissance
War die Rhetorik in der Antike noch ein fester Bestandteil des Alltags, hat sie in den nachfolgenden Epochen einen Wandel erfahren und weitgehend ihre politische Bedeutung verloren. Im Mittelalter nahm ihr Einfluß auf andere Disziplinen, beispielsweise die Philosophie, ab, auch in der schulischen Erziehung nahm sie eine untergeordnete Rolle ein. Aufgrund der Erstarkung anderer Disziplinen, wie Medizin oder Mathematik, war auch in der Renaissance eine Vormachtstellung für die Rhetorik nicht gegeben. Als positiv für die Rhetorik in der Renaissance schreibt Kristeller: »Das Studium, die Nachahmung und Bewunderung des klassischen Altertums, die eines der Merkmale der Renaissance waren, kamen jedoch ihrerseits der Entwicklung und Verbreitung der Rhetorik zugute.«114
Zwar besann man sich in der Renaissance auf die klassische Antike, aber das Einsatzgebiet beschränkte sich fortan nicht mehr ausschließlich auf die politische oder gerichtliche Ebene. Für die Rhetorik fand durch gegenseitige Beeinflussung mit der Poetik eine Weiterentwicklung statt. Müller unterstreicht, daß durch die stetige Annäherung seit der Antike beide durch ihre Verbindung nur noch schwerlich voneinander zu unterscheiden sind.115 Zur Verbindung von Rhetorik 112 113 114 115
Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 239. Vgl. Andersen, S. 58. Kristeller, S. 43. Vgl. Müller, »Ars Rhetorica und Ars Poetica. Zum Verhältnis von Rhetorik und Literatur in der englischen Renaissance.« In: Plett, Heinrich F. (Hrsg.). Renaissance-Rhetorik. Renaissance Rhetoric. Berlin; New York: de Gruyter 1993, S. 225–243. Hier: S. 225 [zitiert als Müller, »Ars rhetorica und ars poetica«]: »In der Renaissance beeinflußten sich Rhetorik und Poetik gegenseitig so intensiv und verbanden sich so eng miteinander, daß die beiden Disziplinen, die sich schon in der Antike einander stark angenähert hatten, vielfach kaum noch unterscheidbar waren. Ein Beispiel für die Rhetorisierung der Poetik aus der englischen Renaissance ist Georg Puttenhams The Arte of English Poesie (1589), eine Poetik, deren dritter, längster und wichtigster Teil – ›Of Ornament‹ – den Stil behandelt, also dasjenige Gebiet, das sich Rhetorik und Poetik seit eh und je teilen.« Ein Beispiel für die Kontrastierung zweier verschieden konzipierter Reden – Verssprache gegen Prosa – , bietet William Shakespeare in Julius Caesar mit dem Rededuell zwischen Brutus und Marcus Antonius in III,2.
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Rhetorik
und Prosa bzw. Versdichtung wird nach Kristellers Auffassung lediglich der antike Grundgedanke der Lehre wiederholt, allerdings sei dieses Dogma aus der Perspektive der Renaissance nicht mehr das Kernstück gewesen.116 Jungmann schreibt zur Rhetorik im England des 16. Jahrhunderts: »Die Rhetorik wird Gegenstand literarkritischer Diskussion und sprachlicher Elemente. Diese Konzeption findet ihren Ausdruck in zahlreichen Rhetorikbüchern, die in England im 16. Jahrhundert und auch noch im 17. erscheinen und es sich zur Aufgabe machen, die von den antiken Rednern benutzten Stilfiguren und Aufbauelemente zu kompilieren und zur Nachahmung zu empfehlen.«117
Eine ähnliche Meinung zur wachsenden Bedeutung der Rhetorik in der Renaissance vertritt auch Plett, wenn er sagt, die Rhetorik jener Epoche komme in ihrer Wertstellung der der klassischen Antike gleich.118 Im Bildungskanon der grammar schools, so sieht es Miola, war der Bezug zur römischen Antike besonders ausgeprägt: »The roads to Rome in the Renaissance were many, winding, and various. Although they often ran concurrently, the major routes were well marked, and the most widely traveled one was probably that of the grammar schools. T. W. Baldwin has shown that elementary education included study of the Disticha Moralia, Terence, Plautus, Seneca, Cicero, Quintilian, Ad Herennium, Ovid, Vergil, Horace, Juvenal, Persius, and possibly Lucan and Catullus.«119
Das Ziel der grammar schools war »vor allem die mündliche und schriftliche Beherrschung der lateinischen Sprache«120. Gemäß Baldwin basierten die Auswahl an lateinischen Lehrbüchern der Klassik und Renaissance auf der von europäischen Humanisten.121 Vor der Lektüre antiker Autoren wurde in der sogenannten lower school die lateinische Grammatik mittels William Lilys Latin Grammar vermittelt.122 Die Lektüre lateinischer Autoren fand in der upper school 116 Vgl. Kristeller, S. 43. 117 Jungmann, Die politische Rhetorik in der englischen Renaissance, S. 58. Vgl. auch Pletts Anmerkung zu James J. Murphys Bibliographie Renaissance Rhetoric; Plett, »Rhetorik der Renaissance – Renaissance der Rhetorik.« In: Plett, Heinrich F. (Hrsg.). Renaissance-Rhetorik. Renaissance Rhetoric. Berlin; New York: de Gruyter 1993, S. 2–20. Hier: S. 3: »Die Bibliographie, die der Verfasser [gemeint ist James J. Murphy] 1985 zur englischen Renaissance-Rhetorik veröffentlicht hat, registriert etwa zweihundert Autoren von neulateinischen oder volkssprachlichen Lehrbüchern, Traktaten, Kommentaren und anderen Werken zur Theorie der Beredsamkeit; […]«. 118 Vgl. Plett, »Rhetorik der Renaissance – Renaissance der Rhetorik.« In: Plett, Heinrich F. (Hrsg.). Renaissance-Rhetorik. Renaissance Rhetoric. Berlin; New York: de Gruyter 1993, S. 2–20. Hier: S. 2. 119 Miola, S. 3. 120 Boltz, Shakespeare-Handbuch, S. 139f. 121 Vgl. Baldwin, Bd. 1, S. 77–93. 122 Vgl. Baldwin, Bd. 1, S. 558.
Rhetorik in der Renaissance
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statt. Für die rhetorische Grundbildung wurden beispielsweise Quintilians Institutio oratoria, Ciceros De inventione und das seinerzeit Cicero zugeschriebene Rhetorica ad Herennium verwendet.123 Da das Lateinische in den von Baldwin zusammengetragenen Curricula einen größeren Platz einnahm, ist es durchaus wahrscheinlich, daß die griechischen Autoren wie Aristoteles an den grammar schools in Übersetzung gelesen worden sind.124 Im Renaissance-Drama stellten rhetorische Elemente u. a. einen rhetorischen Höhepunkt des Dramas dar, heute würde man von einem ›Showdown‹ sprechen. Entweder es entstand ein rhetorisches Duell zwischen Protagonist und Antagonist (z. B. das Rededuell zwischen Marcus Antonius und Brutus in Julius Caesar III,2) oder der Hauptcharakter mißbrauchte die Rhetorik als persuasives Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele: »Die herausragenden Rhetoriker im Drama der englischen Renaissance sind jedoch jene Rednerpersönlichkeiten, die das Wort als Mittel des Betruges, der Täuschung und der Heuchelei benutzen, etwa Shakespeares […] Antonius (Julius Caesar) […] oder Ben Jonsons Tiberius (Sejanus) […].«125
Die Rhetorik im Drama wird daher auf zweierlei Arten benutzt: entweder verkörpert der Redner das antike Ideal des vir bonus oder er ist dessen ins Gegenteil pervertierte Version. Hier findet man wieder beide Sichtweisen der Rhetorik: Lob und Kritik. Der Vergleich mit dem antiken Streit zwischen Platon und Aristoteles, die verschiedene Auffassungen vertraten, bietet sich an. Ein weiterer Aspekt, der vielleicht nicht gänzlich der Rhetorik zugesprochen werden kann, ist die Kritik an der zeitgenössischen Politik und deren status quo, die das Drama – besonders das Römerdrama – der Renaissance trotz verhängter Zensur übt. Baumann faßt die generellen Verbote jener Epoche so zusammen: »Explizit verboten waren – von kurzfristigen Lockerungen oder Verschärfungen der Zensur einmal abgesehen – insbesondere: 1. kritische Kommentare über die Regierung; 2. ungünstige Darstellung befreundeter auswärtiger Mächte; 3. Kommentare zu reli123 Vgl. Baldwin, Bd. 1, S. 509–514. Vgl. Fielitz, S. 19. Vgl. Plett, Rhetoric and Renaissance Culture, S. 6. 124 Vgl. Plett, Rhetoric and Renaissance Culture, S. 17: »Lack of linguistic competence led to another stage of rhetorical revival: the translating of the classical texts into the vernacular to render them accessible to those readers who, as in Ben Jonson’s famous dictum about his rival Shakespeare, knew ›little Latine & lesse Greeke.‹ But first of all, the poor knowledge of Greek among humanists raised the necessity of having the relevant Greek texts translated into Latin, the language of the international respublica literaria. Thus Aristotle’s Rhetoric was translated into Latin by Geor- gius Trapezuntius (Paris, 1475?; Lyons, 1541).« 125 Müller, »Ars rhetorica und ars poetica«, S. 229. Vgl. auch bei Müller auf derselben Seite: »Phänomene der Massenbeeinflussung wie die ›Demagogie‹ und die ›Indoktrination‹ sind in der Literatur erstmals in größerem Maße dargestellt worden, erstere besonders in Shakespeares Julius Caesar, letztere besonders in Shakespeares Coriolanus und Ben Jonsons Sejanus.«
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Rhetorik
giösen Kontroversen; 4. jedwede Profanierung der religiösen Sphäre; 5. persönliche Attacken auf einflußreiche lebende Personen.«126
Verwunderlich ist jedoch, daß durch diese Zensur die Autoren der Renaissance sich nicht gehindert sahen, Stellung zu beziehen. An anderer Stelle bringt Baumann den Konsens der Forschung auf die Formel: »[…] obwohl die Bestimmungen der Zensur es explizit verboten, nahmen die Dramatiker mit ihren Werken zu aktuellen politischen Ereignissen Stellung.«127 Doch es bleibt noch die Frage unbeantwortet, warum sich die römische Antike derart anbot, den König mit einem römischen Kaiser zu assoziieren. Hier gibt uns Baumann den Hinweis auf James I., der sich bei seinem Einzug in London im Stile eines römischen Kaisers feiern ließ: »Seinen Einzug in London hielt James I. (von England) […] ganz in der Art eines römischen adventus. Immer wieder wurde er dabei als Caesar apostrophiert und – natürlich zu seinem Vorteil – mit den guten Kaisern Roms verglichen. […] Wenn der König sich selbst – in der Öffentlichkeit – zum römischen Kaiser stilisiert, dann liegt es doch mehr als nahe, daß diese Öffentlichkeit bei der Darstellung eines römischen Kaisers auf der Bühne diesen mit ihrem König assoziiert.«128
126 Baumann, »Das Drama der englischen Renaissance als politische Kunst. Die zeitgenössische Aktualität der Römerdramen. Teil I«, S. 101–131. Hier: S. 101 [zitiert als Baumann, »Politische Kunst I«]. Beispielsweise unterlag Philip Massingers Tragödie Believe As You List dieser Zensur, wie ebenfalls bei Baumann, S. 101, zu entnehmen ist. 127 Baumann, »Politische Kunst I«, S. 101–131. Hier: S. 103. Daß trotz Zensur die Dramatiker ihre Dramen als Mittel zur kritischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Politik benutzten, ließe sich anhand von Shakespeares Coriolanus manifestieren. Vgl. hierzu von Koppenfels, Shakespeare-Handbuch, S. 522: »Ein Hauptthema des Stückes, die politischsoziale Spannung zwischen Volk und Aristokratie, war für die Zeitgenossen nach den Midland-Aufständen im Frühsommer 1607 höchst aktuell und wurde heftig debattiert. Schließlich hat man in dem Bild ›the coal of fire upon the ice‹ (I, i, 62) einen Hinweis auf den äußerst strengen Winter 1607/08 sehen wollen, als auf der Eisdecke der Themse in großen Becken Kohlenfeuer entzündet wurden.« Oder S. 524: »Die hochfahrende Sprache des Coriolanus ähnelt der zeitgenössischer Aristokraten, und die Plebejer gleichen Londoner Handwerkern und Tagedieben; als Individuen mit Mutterwitz und unfreiwilliger Komik, Torheit und Einsicht ausgestattet, werden sie in der Masse und unter dem Einfluss eines Demagogen zur reißenden Meute.« Bereits die Rede des Menenius in I,1 hat einen zeitgenössischen Hintergrund, wie wir bei Müller, Die politische Rede, S. 160f. vorfinden: »Besondere Aktualität für das zeitgenössische Publikum verlieh Shakespeare der Szene durch zwei Änderungen, die er an seiner Quelle vornahm. […] Und zum anderen läßt er das Volk aus durch Kornknappheit bedingter Hungersnot rebellieren. Bei Plutarch gibt es zwei Aufstände: […] Shakespeare faßt die beiden Rebellionen zu einer zusammen […]. Aufstände wie derjenige, den der Dramatiker am Beginn von Coriolanus auf die Bühne bringt, waren in der Shakespeare-Zeit keine Seltenheit.« 128 Baumann, »Das Drama der englischen Renaissance als politische Kunst. Die zeitgenössische Aktualität der Römerdramen. Teil II«, S. 63–100. Hier: S. 97. Vgl. auch Baumann, »Das Drama der englischen Renaissance als politische Kunst. Die zeitgenössische Aktualität der Römerdramen. Teil II«, S. 63–100. Hier: S. 98. [zitiert als Baumann, »Politische Kunst II«].
Rhetorik in der Renaissance
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Die Umwandlung in eine Kritik stellt Baumann folgendermaßen dar: »Die Vergleiche des regierenden Monarchen […] mit römischen Kaisern waren jedoch nicht nur topische Elemente antikisierender Herrscherpanegyrik, sie wurden – und damit erhalten wir ein weiteres entscheidendes Argument für unsere These einer zeitgenössischen Aktualität der Römerdramen – bisweilen sogar zur deutlichen Kritik am König umfunktioniert.«129
Die Verbindung von Rhetorik und politischer Kritik in einem Drama verführt dazu, dem Irrglauben zu erliegen, Dramatiker wie Jonson, Massinger oder Shakespeare hätten für ihre Tragödien einen politischen Aufhänger benötigt. Im Falle Shakespeares warnt Müller sogar, Shakespeare mache politische Probleme nicht explizit zum Thema seiner Werke. »Er stellt in seinen Geschichtsdramen, die in eminentem Sinne politische Dramen sind, Geschichte vielmals so dar, daß Grundfragen der Staatstheorie gänzlich in dramatische Handlung übersetzt sichtbar werden, ohne daß sie jemals losgelöst von dem dramatischen Interaktionsgefüge formulierbar wären.«130 Folglich können anhand der Rhetorik im Drama unterschiedliche Erkenntnisse oder Erlebnisse der Renaissance wiedergefunden werden, beispielsweise die Methode der Täuschung bzw. Verstellung auf der politischen Ebene (etwa in William Shakespeares Coriolanus).131 Den politischen Einfluß, welchen die Römerdramen erlangen konnten, veranschaulicht Baumann anhand des Beispiels von Sejanus His Fall: »Die Bühnenfigur des machiavellistischen Tyrannen (in unserem Falle des Tiberius), die moralische Analyse der jeden einzelnen Bürger korrumpierenden Lasterhaftigkeit des kaiserlichen Hofes wie auch der detailliert geschilderte ethisch begründete Widerstand gegen die Gewaltherrschaft bis hin zum ausführlich begründeten Tyrannen-
129 Baumann, »Die Tragödien Ben Jonsons als humanistische Auseinandersetzung mit Niccolò Machiavelli.« In: Bauer, Barbara; Müller, Wolfgang G. (Hgg.). Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800. Wiesbaden: Harrassowitz 1998 (Wolfenbütteler Forschungen Band 79), S. 295–318. Hier: S. 315. [zitiert als Baumann, »Die Tragödien Ben Jonsons«]. 130 Müller, »Politische Probleme in Shakespeares Dramen«, S. 273–294. Zitat: S. 274. 131 Vgl. Müller, »Ars rhetorica und ars poetica«, S. 225–243. Hier: S. 229: »In der vielfältigen literarischen Gestaltung des Mißbrauchs der Rhetorik drücken sich spezifische Erfahrungen der Renaissance aus, etwa die zunehmend intensiv empfundene Erfahrung der moralischen Verderbtheit der höfischen Gesellschaft und die Einsicht in die Notwendigkeit der Verstellung und Heuchelei im politischen Leben, die sich im Machiavellismus und später Tazitismus Bahn brach. In dieser Hinsicht sind die Rhetoriken und Poetiken traditioneller als die literarischen Werke. Die Rhetorik geht in der Literatur vielfach eigene neue Wege. […] Eines ist jedoch sicher: Der große Redner, ob als Verkörperung eines Ideals oder als dessen Perversion, tritt in der Literatur der Epoche markanter in Erscheinung als in der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit der Epoche, […]«.
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Rhetorik
mord (etwa in Philip Massingers The Roman Actor […]), verleihen den Römerdramen, die in der römischen Kaiserzeit spielen, ihre eminent politische Stoßkraft.«132
Zusammenfassend ließe sich sagen: Trotz erwähnter Zensur (siehe oben) blieben die Römerdramen ein Mittel der Kritik und Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Themen und Problemen. Hierzu möge Baumann das Schlußwort bilden: »[…] das Drama war, und zwar indem es Drama war, eine Aussageform von Politik, d. h. das Drama der englischen Renaissance wird verstanden als Teil, als eminent wichtiger Teil des politischen Diskurses des 16. und 17. Jahrhunderts.«133
132 Baumann, »Die Tragödien Ben Jonsons«, S. 295–318. Zitat: S. 312. Vgl. auch Baumann, »Politische Kunst II«, S. 63–100, hier: S. 96f. bzw. bei Baumann, »Tyrannen, Attentäter und Intrigen: Die Darstellung des Römischen Kaiserhofes in der Jakobäischen Tragödie.« In: Baumann, Uwe (Hrsg.). Basileus und Tyrann. Herrscherbilder und Bilder von Herrschaft in der Englischen Renaissance. Frankfurt am Main: Lang 1999. (Düsseldorfer Beiträge aus Anglistik und Amerikanistik Bd. 8), S. 419–440, hier: S. 436. 133 Baumann, »Politische Kunst I«, S. 101–131, hier: S. 106.
3
Shakespeare, Coriolanus
3.1
Einführung
Coriolanus ist William Shakespeares letztes Römerdrama.134 Die Handlung des Stückes ist in einer Epoche angesiedelt, in der Rom noch eine junge Republik war (5. Jh. v. Chr.). Im Gegensatz zu Julius Caesar verarbeitet Shakespeare in Coriolanus das Leben einer Person, die, nach heutigem Forschungsstand, in der Antike nicht existiert hat.135 Dem Werk liegt eine römische Legende zu Grunde. Protagonist dieser Legende ist Gaius Marcius Coriolanus136, dessen vita auch in Plutarchs Parallelbiographien behandelt wird.137 Wie Mehl herausstellt, ist Coriolanus die dritte von vier
134 Verglichen mit Julius Caesar hat es nie den gleichen Berühmtheitsgrad erlangen können; eine mögliche Ursache hierfür ist wohl, daß Shakespeare einen weniger bekannten Ausschnitt der Antike zu einem Drama verarbeitet hat. Vgl. Suerbaum, S. 180, der so weit geht und Coriolanus als »das sprödeste der Römerdramen« bezeichnet. Alle Zitate des Dramas werden nach folgender Ausgabe zitiert: Philip Brockbank (Hrsg.). William Shakespeare. Coriolanus. London: Thomson Learning 2001. (The Arden Shakespeare). 135 Vgl. von Koppenfels, Shakespeare-Handbuch, S. 522; vgl. auch Mehl, S. 213; vgl. ferner Krippendorff, S. 233. 136 Die Schreibweise des Namens variiert zwischen »Caius (bzw. Gaius) Marcius (bzw. Martius)« und »Gnaeus Marcius (bzw. Martius)«. Beispielsweise verwendet Eder die Variante »Cn. Marcius Coriolanus«. Vgl. Eder, Walter, »Coriolanus«, in: Cancik-Schneider (Hgg.), Der neue Pauly, Bd. 3, Sp. 164–165. Die gleiche Schreibung finden wir auch bei Reichenberger, »Die Coriolan-Erzählung.« In: Burck, Erich (Hrsg.). Wege zu Livius. Darmstadt: WBG 1967, S. 383–391. Vgl. auch The New Encyclopædia Britannica, Volume 3, S. 632: Unter dem Eintrag »Coriolanus« wird die Schreibung »Gnaeus Marcius Coriolanus« verwendet. Vgl. auch Jens, Walter (Hrsg.). Kindlers neues Literatur-Lexikon, Band 15, S. 348–349, mit der Variante »Caius Marcius Coriolanus«. Lediglich The New Oxford Dictionary of English, S. 408, gibt beide Varianten des Praenomen an: »Gaius (or Gnaeus) Marcius (5 th century BC), […]«. Für den weiteren Verlauf wird »Caius Martius Coriolanus«, der Schreibweise des Dramas entsprechend, verwendet. 137 Vgl. von Koppenfels, Shakespeare-Handbuch, S. 522. Vgl. auch Brockbank, S. 29–35, der Shakespeares Quellen für Coriolanus ausführlich vorstellt. Alle Verweise aus dem Vorwort werden mit »Brockbank« angegeben.
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Shakespeare, Coriolanus
Tragödien Shakespeares, die auf Plutarchs Parallelbiographien basiert.138 Eine andere These über Shakespeares Quellen stellt Kenneth Muir auf: Gemäß seinen Forschungen habe William Shakespeare auch Titus Livius als Quelle vorgelegen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Shakespeare als Schüler die Sage von Coriolanus bei Livius gelesen und beim Verfassen des Dramas mehrere Quellen – davon Plutarch als Hauptquelle – verwendet.139 Da der Stoff zu damaliger Zeit noch nicht in einem Drama dargestellt worden war, brauchte Shakespeare keine anderen Werke oder bereits vorgeformte Bilder zu berücksichtigen. Er konnte daher »noch freier mit seiner Quelle umgehen oder ihr folgen«140 als bei anderen historisch basierten Dramen, wie beispielsweise Julius Caesar. Anders als in Julius Caesar kommen in Coriolanus die Reden nicht immer als klar erkennbare bzw. abgegrenzte Einheiten vor.141
3.2
Reden in Akt I
3.2.1 Die Rede des First Citizen (I,1) Daß die Rhetorik in Coriolanus ein zentrales Element ist, läßt schon der Auftakt des Dramas vermuten, der markant mit dem Satz »Before we proceed any further, hear me speak.« (I,1,1) beginnt. Diese Formel weist darauf hin, daß der First Citizen sich anschickt, eine Rede – hier vor Seinesgleichen – zu halten. Doch anstelle eines Monologs folgt eine von Zwischenrufen unterbrochene Rede, die wie ein Dialog wirkt. Die Rede des First Citizen hat den Zweck, den anderen Bürgern das geplante Vorhaben plausibel zu machen. Weiterhin kommt ihr eine handlungsverzögernde Funktion zu.142 Das Hauptmotiv der Rede besteht darin, die Diskrepanz zwischen den Patriziern und den Plebejern mittels der Gegenüberstellung von »we« und »they« polarisierend darzustellen, wie beispielsweise in Vers 20 und 21. Dadurch wirkt die Ausführung des First Citizen absoluter, d. h. er läßt nur richtig und falsch, nur schwarz oder weiß als Kategorie zu. Weiter bemerkt Müller in Vers 14f. die Antithese von »poor« und »good«, die in einem Paradoxon gipfelt.143 138 Vgl. Mehl, S. 213. 139 Vgl. Muir, S. 238. Muir schreibt: »Shakespeare’s knowledge of the Coriolanus story probably dated from his schooldays. The story is told by Livy (Bk 2) and Shakespeare could have refreshed his memory of it when Philemon of Holland’s translation of it was published in 1601.« 140 Mehl, S. 213. 141 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 158. 142 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 162f. 143 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 163. Müller erläutert, daß die Gegensatzpaare »arm – reich« und »schlecht – gut« miteinander verbunden sind, wodurch noch einmal die Beto-
Reden in Akt I
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An diese Antithese knüpfen in I,1,15–18 zwei konjunktivische Sätze an, die auf eine mögliche Lösung des Problems der Plebejer – die Hungersnot – hinweisen: »What authority surfeits on would relieve us. If they would yield us but the superfluity while it were wholesome, we might guess they relieved us humanely; but they think we are too dear.« Der First Citizen argumentiert logisch: Was die Patrizier an Lebensmitteln im Übermaß haben, würde schon genügen, um den Bedarf der Plebejer zu decken. Der zweite Konjunktivsatz, der sich mit der hypothetischen Konstruktion »If they would […]« anschließt, weist wiederholt auf den Überfluß, »the superfluity«, der Patrizier hin. Darüber hinaus kann man Rückschlüsse daraus ziehen, daß die Oberschicht nicht einmal ihren gesamten Getreidevorrat verbrauchen kann, bevor er verdirbt. In diesem Punkt wird die Kornwirtschaft durch den First Citizen kritisiert. Des weiteren wird den Patriziern mit »If they would yield us but the superfluity […], we might guess they relieved us humanely« (I,1,16–18) unmenschliches Verhalten den Plebejern gegenüber unterstellt, da sie ihr überflüssiges Getreide nicht an die Plebs abgeben wollen.144 Der Konditionalsatz findet seine Begründung im folgenden Nebensatz »but they think we are too dear« in Vers 18. Anders ausgedrückt heißt dies, der Pöbel verursacht den Patriziern nur Kosten. Durch die Kontrastierung von »leanness« und »abundance« wird, gemäß Müller, aus Sicht der Patrizier ihr eigener Überfluß um so deutlicher wahrgenommen.145 Schließlich wird das Hauptargument seiner Rede in Vers 21 mit dem Ausspruch »our sufferance is a gain to them« paraphrasiert. Müller formuliert es wie folgt: »Mit dem Satz […] bringt der Citizen den ökonomischen Sachverhalt auf eine prägnante Formel. Die Patrizier sind auf Kosten der Armen reich.«146 Nach dieser Zusammenfassung seiner Argumentation beendet der Citizen seine Rede mit einer Aufforderung in Form von »Let us revenge this with our pikes, ere we become rakes« (I,1,21–22). Wie bei Müller zu entnehmen ist, wird durch das Wortspiel »pikes« und »rakes« in Vers 22 eine Verknüpfung zu »leanness« hergestellt.147 Doch nicht irgendeine Form von Mißgunst ist der Anlaß seiner Rede, eher ist es sein Hunger, der den First Citizen zu dieser Rede bewegt
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nung auf der Ungerechtigkeit liegt, die in der Verknüpfung von »arm und moralisch minderwertig« und von »reich und moralisch überlegen« liegt. Im Paradoxon sieht Müller einen Protest darin, daß materielle Besitztümer über die moralische Qualität eines Menschen aussagen. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 163. Vgl. auch S. 160–161, auf der Müller auf den zeitgenössischen Hintergrund der Rede des First Citizen und somit auf die Kornknappheit eingeht. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 163. Müller, Die politische Rede, S. 163. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 164.
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Shakespeare, Coriolanus
hat, wie er in Vers 23f. zugibt: »For the gods know, I speak this in hunger for bread, not in thirst for revenge.« Müller schreibt über den Schluß der Rede des First Citizen: »Die physische Not ist Hauptargument und wichtigster Handlungsantrieb. In beinahe entschuldigenden Schlußworten weist der Citizen nochmals auf den Hunger als Grund seiner Rede hin (argumentum a causa).«148 Dieses Argument des First Citizen gibt den Hinweis, daß die Stadt nicht in Anarchie untergeht, sondern daß hier Protest gegen Machtmißbrauch geäußert wird. Shakespeare wandelt hier seine Quelle Plutarch dezent ab. Wie man bei Mehl erfährt, faßt Shakespeare »eine längere Auseinandersetzung in einem dramatischen Auftritt zusammen und konzentriert den Zorn der Bürger auf die ungerechte Verteilung der Getreidevorräte, während Plutarch noch eine ganze Reihe anderer Mißbräuche […] anführt«.149 An dieser Stelle sinnt man nicht auf einen Sturz des politischen Systems, man will vielmehr »die materielle Not«150 der Plebejer zur Geltung bringen. Dennoch fällt am Ende der Rede der Gegensatz von »Let us revenge this« (I,1,21) und »not in thirst for revenge« (I,1,23–24) auf. Beide Sätze stehen sich diametral gegenüber.151 Zu den Worten des First Citizen schreibt Müller weiter: »Sie [die Worte] sind Ausdruck des akuten Leidens einer gesellschaftlichen Klasse und zielen mehr auf die Beseitigung der Symptome als der Ursachen der Notlage, in der sich die Plebejer befinden.«152
Die in den Sätzen vorhandene Antithetik spiegelt dieses akute Leiden wider. Die Rede ist nicht rhetorisch fein ausgeschmückt, wodurch sie gerade deshalb die akute Not der Plebejer darstellt wie Müller es richtig deutet.
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Müller, Die politische Rede, S. 164. Mehl, S. 215. Müller, Die politische Rede, S. 164. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 164. Müller meint, daß die Rede durch ihre schwachen Argumente gerade aufgrund dieses inneren Widerspruches überzeugend ist. Vgl. auch bei Müller die Endnote 572, in der er folgendermaßen auf Goddard, S. 613, verweist: »The end of this sentence has forgotten its beginning.« (Harold C. Goddard. The Meaning of Shakespeare. Chicago: Univ. of Chicago Press 1951). 152 Müller, Die politische Rede, S. 164.
Reden in Akt I
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3.2.2 Die Rede des Menenius (I,1) Während die Rede des First Citizen darauf ausgerichtet ist, dem Volk den Grund für diese Auflehnung darzulegen und es gleichzeitig auf den Aufstand vorzubereiten, so stellt die Rede des Patriziers Menenius Agrippa (ab I,1,50) den Gegenpol dar. Ganz allgemein läßt sich die Rede des Menenius Agrippa in zwei größere Sinnabschnitte paraphrasieren. Der erste (I,1,64–77) behandelt die Anrede der Bürger mit einem Redeteil, der nicht von Erfolg gekrönt ist. Er wird durch die Phrasen »most charitable care / Have the patricians of you« (Vers 64–65) und »who care for you like fathers« (Vers 76), die gegenüber den Plebejern Fürsorge implizieren sollen, eingeklammert. Der zweite Teil besteht aus einer Fabel, welche Menenius seinen Zuhörern erzählt.153 Menenius versucht auf verständige Weise, den Handlungsdrang der Plebejer zu hemmen. Politisch geschickt spricht er die Menge mit »What work’s, my countrymen, in hand? Where go you / With bats and clubs? The matter? Speak, I pray you.« (I,1,53–55) an. Auf diese Weise erweckt er den Eindruck, er wüßte nicht, was seitens des Volkes geplant ist.154 Durch seine Frage bleiben ihm freilich die Plebejer noch eine Antwort schuldig, welche Menenius auch prompt in Vers 56 erhalten soll: »Our business is not unknown to th’Senate.« Damit hat der Patrizier Menenius ein Teilziel erreicht: der Pöbel zieht nicht mit Knüppeln und landwirtschaftlichem Gerät bewaffnet zum Capitol, sondern wird durch das Gespräch aufgehalten. Wurde das Volk bis jetzt lediglich mit »my countrymen« angesprochen, so steigert Menenius Agrippa die folgende Anrede in Vers 61 mit seiner »Anrede-Trias«155 »Why masters, my good friends, mine honest neighbours, / Will you undo yourselves?«. Dabei schmeichelt er obendrein noch seiner Zuhörerschaft, indem er sie mit »masters« über seine eigene Position stellt und sie mit »my good friends, mine honest neighbours« scheinbar als seine Verbündeten anerkennt. Daß er jedoch mit der Menge spielt, läßt sich an seinem Redestil erkennen. Im Gegensatz zur Rede des First Citizen fällt auf, daß die Rede des Menenius im Versmaß verfaßt ist und nicht in Prosa.156 Ein weiterer Unterschied zum First Citizen besteht in der Verwendung von Bildern und Symbolen. Sprach der First Citizen noch von »pikes«, die seine Mitbürger teils in ihren Händen hielten, so spricht Menenius mit »you may as well / Strike at the heaven with your staves« 153 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 165. Müller beschreibt den ersten Abschnitt als ein »geschlossenes Redestück«, welches seine Intention, nämlich die Plebejer umzustimmen, verfehlt. 154 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 165. 155 Müller, Die politische Rede, S. 165. 156 Vgl. Krippendorff, S. 235.
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Shakespeare, Coriolanus
(I,1,67) symbolhaft von Knüppeln, mit denen der Himmel geschlagen wird. Müller verweist für die Verse 64–70 sowohl auf die häufigen Enjambements, welche die Rede noch kunstvoller erscheinen lassen, als auch auf die onomatopoetischen Elemente, wie »strike – stave – state« oder »course – cracking – curbs«.157 Im weiteren Verlauf seines Argumentationsaufbaus schiebt Menenius die Schuld für die Hungersnot von den Patriziern auf die Götter, er vermischt Politik mit Religion158: »For the dearth The gods, not the patricians, make it and Your knees to them, not arms, must help.«
Hierdurch versucht Menenius Agrippa, die Volksmenge davon zu überzeugen, daß auch die Patrizier machtlos seien gegen die Allmacht der Götter. Er sieht sich an den Götterglauben gebunden und verkündet »politische Grundsätze, die zutiefst konservativ und anti-revolutionär sind und die die Willensfreiheit und die Veränderbarkeit der Welt durch den Menschen leugnen«.159 Somit ist die einzige Hoffnung auf Besserung des Zustandes das demütige Gebet an die Götter, wie sein Ratschlag in Vers 73 mit »Your knees to them, not arms, must help« verrät. Menenius’ Rede wird durch eine Zwischenrede des First Citizen, der eindeutig Menenius’ Meinung nicht teilt, kontrastiert: »Care for us? True indeed! They ne’er cared for us yet.« Auch an dieser Stelle stellt Shakespeare wieder den Sprachstil des Menenius Agrippa dem des First Citizen gegenüber; Versmaß wird direkt mit Prosa, Perioden mit Asyndeta und Ellipsen vermischt. Müller merkt an, daß sich im Sprachduktus des First Citizen die Hungersnot seiner Klasse widerspiegelt.160 Da es Menenius im ersten Teil seiner Rede nicht gelingt, das Volk zu überzeugen – oder sollte man besser überreden sagen –, daß das Wohlergehen der Plebs der Oberschicht höchstes Anliegen sei, erkennt er seinen momentan argumentativ schwächeren Standpunkt angesichts der Hungersnot. Aus diesem Grunde wechselt er seine Taktik der persuasio und erzählt der Volksmenge die Fabel von den Körperteilen. Die Fabel des Menenius Agrippa zählt zum Ober157 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 165f. 158 Der Bezug zur Religion ist typisch römisch, zumal jedes religiöse Amt gleichzeitig ein politisches Amt und Teil des Staatskultes war. Folglich waren die Römer auf eine solche Verbindung geschult und daran gewöhnt. Vgl. Der neue Pauly, Band 10, »Religion«, Sp. 911– 914. 159 Müller, Die politische Rede, S. 166. 160 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 167. »In dem Katalog exklamatorisch herausgestoßener Vorwürfe und in den kurzen parataktischen Sätzen […] dokumentiert sich die akute Not des Sprechers und seiner Klasse.«
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begriff »body politic«. Diesem Begriff kommt in der Renaissanceliteratur Englands eine besondere Rolle zu, da seine Vergleiche zwischen Staat oder Gesellschaft und menschlichem Körper das elisabethanische Weltbild maßgeblich geprägt haben.161 Zum Vorgang des Menenius schreibt Hale: »[…] the idea of a body politic, introduced by Menenius’ [so im Original] fable of the belly in the first act, was sometimes used to enforce the doctrine of passive obedience […]«.162 Zur Rezeption dieser Fabel äußert Huffman: »Versions of Menenius’s fable were often told in conjunction with the Coriolanus story […]. It is cited both by Shakespeare’s sources and Elizabethans as an example of the effective public use of rhetoric which enforced obedience to political order.«163
Daß Menenius Agrippa nun offenbar von seinem Argumentationsstrang auf die Fabel lenkt, beeinträchtigt nicht die Wirkung oder die Qualität seiner Rhetorik. Im Gegenteil zeugt die Fabel von großem Geschick und ist ein rhetorischer Trick, zu welchem auch Aristoteles rät. Denn Aristoteles sagt in seiner Rhetorik: »ει᾿σὶ δ’ οἱ λὸγοι δημηγορικοί, καὶ ἔχουσιν ἀγαϑὸν τοῦτο, ὅτι πράγματα μὲν εὑρεῖν ὅμοια γεγενημένα χαλεπόν, λόγους δὲ ῥᾷον.«164 Als Quelle für die Meneniusfabel muß wohl Titus Livius’ Werk Ab urbe condita gedient haben.165 Livius berichtet dort in II,32,8–12 von Menenius Agrippa und der Fabel: »Sic placuit igitur oratorem ad plebem mitti Menenium Agrippam, facundum virum et quod inde oriundus erat plebi carum. Is intromissus in castra prisco illo dicendi et horrido modo nihil aliud quam hoc narrasse fertur: tempore quo in homine non ut nunc omnia in unum consentiant, sed singulis membris suum cuique consilium, suus sermo fuerit, indignatas reliquas partes sua cura, suo labore ac ministerio ventri omnia quaeri, ventrem in medio quietum nihil aliud quam datis voluptatibus frui; conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent, nec os acciperet datum, nec dentes conficerent. hac ira, dum ventrem fame domare vellent, ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem venisse. inde apparuisse ventris quoque haud segne ministerium esse, nec magis ali quam alere eum, reddentem in omnes corporis partes hunc quo vivimus vigemusque, 161 Vgl. hierzu Hale, S. 11–13 und S. 96ff. Er schreibt zur Verwendung solcher Analogien in seinem Vorwort auf Seite 7: »The comparison is employed to defend and attack the established church, to promote order and obedience to secular rulers, and to criticize political and economic abuses.« Vgl. auch Peil, Der Streit der Glieder mit dem Magen, S. 167f. 162 Hale, S. 98. 163 Huffman, S. 174. 164 Arist. Rh. 1394a (II,20). Vgl. auch Rapp, Aristoteles. Rhetorik. Erster Halbband, S. 108: »Die Fabeln sind für die Rede vor der Menge geeignet, und sie haben den Vorteil, dass es schwierig ist, ähnliche Dinge, die tatsächlich geschehen sind, zu finden, Fabeln (zu erfinden) aber einfach.« 165 Vgl. Miola, S. 11: »[…] Menenius’s belly fable in Coriolanus is a composite of passages from Livy, North’s Plutarch, William Averell’s A Mervaillous Combat of Contrarieties (1588), William Camden’s Remaines (1605), possibly Camerarius’s Fabellae Aesopicae (1573), and Sidney’s Apology (1595).«
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Shakespeare, Coriolanus
divisum pariter in venas maturum confecto cibo sanguinem. Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres, flexisse mentes hominum.«166
Was an Livius’ Erzählung eine signifikante Rolle spielen könnte, ist die Tatsache, daß er die Fabel in der oratio obliqua, eingeleitet durch fertur, distanziert wiedergibt. Daß Titus Livius stilistische Elemente betreffend die Fabel eher als ein rhetorisches Überzeugungsmittel betrachtet, könnte sein Verweis »prisco illo dicendi et horrido modo« bedeuten, wie auch Michael Hillgruber zu bedenken gibt.167 Den Wirkungsgehalt der Meneniusfabel wußte auch Quintilian bereits zu erkennen, wenn er im fünften Buch seiner Institutio oratoriae sagt: »Illae quoque fabellae, quae, etiam si orginem non ab Aesopo acceperunt (nam videtur earum primus auctor Hesiodus) nomine tamen Aesopi maxime celebratur, ducere animos solent praecipue rusticorum et imperitorum [meine Hervorhebung], qui et simplicius quae ficta sunt audiunt, et capti voluptate facile iis, quibus delectantur, consentiunt: si quidem et Menenius Agrippa plebem cum patribus in gratiam traditur reduxisse nota illa de membris humanis adversus ventrem discordantibus fabula.«168 166 Liv. II,32,8–12. Vgl. die Übersetzung von H. J. Hillen, S. 233–235: »[…] Menenius Agrippa als Unterhändler zu den Plebejern zu schicken, einen beredten Mann, der auch den Plebejern lieb war, weil seine Ahnen Plebejer gewesen waren. Er wurde ins Lager geschickt und soll dort in der damaligen altertümlichen und schlichten Art zu reden nichts anderes getan haben, als daß er folgende Geschichte erzählte: Zu der Zeit, als im Menschen nicht wie jetzt alles im Einklang miteinander war, sondern von den einzelnen Gliedern jedes für sich überlegte und für sich redete, da hätten sich die übrigen Körperteile darüber geärgert, daß durch ihre Fürsorge, durch ihre Mühe und Dienstleistung alles für den Magen getan werde, daß der Magen aber in der Mitte ruhig bleibe und nichts anderes tue, als sich der dargebotenen Genüsse zu erfreuen. Sie hätten sich daher verschworen, die Hände sollten keine Speise mehr zum Munde führen, der Mund solle, was ihm dargeboten werde, nicht mehr aufnehmen und die Zähne sollten nicht mehr kauen. Indem sie in diesem Zorn den Magen durch Hunger zähmen wollten, habe zugleich die Glieder selbst und den ganzen Körper schlimmste Entkräftung befallen. Da sei dann klar geworden, daß auch der Magen eifrig seinen Dienst tue und daß er nicht mehr ernährt werde als daß er ernähre, indem er das Blut, von dem wir leben und stark sind, gleichmäßig auf die Adern verteilt, in alle Teile des Körpers zurückströmen lasse, nachdem es durch die Verdauung der Nahrung seine Kraft erhalten habe. Indem Agrippa dann einen Vergleich anstellte, wie ähnlich der innere Aufruhr des Körpers dem Zorn der Plebs gegen die Patrizier sei, habe er die Menschen umgestimmt.« 167 Vgl. Hillgruber, »Die Erzählung des Menenius Agrippa. Eine griechische Fabel in der römischen Geschichtsschreibung«, S. 42–56. Hier: S. 43. Hillgruber stellt auf den darauffolgenden Seiten weitere Überlieferungen der Meneniusfabel vor, beispielsweise bei Dionys von Halikarnaß, Cassius Dio und Plutarch. 168 Quint. inst. V,11,19. Vgl. die Übersetzung von Helmut Rahn, S. 605: »Auch die Geschichtchen, die, wenn sie auch nicht ihren Ursprung bei Aesop haben – denn offenbar ist Hesiod der erste Gewährsmann für sie –, doch durch den Namen des Aesop vor allem berühmt sind, pflegen auf die Herzen vor allem von Bauern und Ungebildeten zu wirken, die solche Erfindungen in harmloserer Art anhören und voll Vergnügen leicht auch mit denen, denen sie den Genuß verdanken, einverstanden sind: wie ja auch nach unserer Überlieferung
Reden in Akt I
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Folglich macht die Fabel auf Bauern und Unerfahrene Eindruck. In Coriolanus bewirkt die Fabel von den Körperteilen, daß Menenius vorerst von der Hungersnot ablenken kann. Am Anfang scheint seine neue Taktik zu funktionieren, er gewinnt Zeit dadurch, daß auch der Anführer des Volkaufstandes, der First Citizen, ihm zuhört (Vers 92): »Well, I’ll hear it, sir.« Einschränkend muß an dieser Stelle erwähnt werden, daß der First Citizen nicht ohne Vorbehalte der Erzählung der Fabel zustimmt, wie der zweite Teil von Vers 92f. zeigt: »[…] yet you must not think to fob off our disgrace with a tale; but, and’t please you, deliver.« Das Mißtrauen scheint geweckt zu sein. Im Gegensatz zur Rede, die man als Monolog auffassen kann, ist die Fabel von mehreren Zwischenrufen aus der Volksmenge unterbrochen. Aus der Zuschauerperspektive sorgen diese Unterbrechungen, wie »The belly answer’d—« und dem Zwischenruf des First Citizen »Well, sir, what answer made the belly?« in Vers 104f., für Spannung. Für Menenius hingegen mag es eher hinderlich erscheinen, daß er von diesem Zeitpunkt an häufiger vom First Citizen unterbrochen wird. Wie Müller schreibt, können beide Charaktere »auf diese Weise Witz und Schlagfertigkeit beweisen«.169 Beispielsweise versucht der First Citizen, die Fabel anders zu deuten, als es eigentlich Menenius Agrippas Plan ist. Gemäß seiner Auffassung hat der Kopf die Funktion als Oberhaupt und alle anderen Körperteile haben sich ihm hierarchisch unterzuordnen (Verse 113–118). Von diesen Antworten scheint Menenius unbeeindruckt, vielmehr kann er darauf seine Argumentation weiter ausbauen. Nach seiner Auffassung liegt der Oberbefehl beim Bauch, oder wie Huffman es formuliert: »The belly’s answer argues for interdependence, each according to its appointed function; the belly distributes the food to each other member, and keeps only the ›bran‹ for itself.«170
Daß die Fabel auf den First Citizen eine gewisse Wirkung ausübt, deutet Müller anhand der Tatsache, daß die Sprache des First Citizen einen Wechsel von der
Menenius Agrippa die Plebeier mit den Patriziern dadurch wieder ausgesöhnt hat, daß er ihnen die bekannte Geschichte von menschlichen Gliedmaßen erzählte, die sich gegen den Bauch empörten.« Zur Wirksamkeit der Fabel siehe auch Peil, Der Streit der Glieder mit dem Magen, S. 8f. 169 Müller, Die politische Rede, S. 168. Vgl. auch Hale zum Version der Fabel, vorgetragen von Menenius, S. 100: »The telling of the fable of the belly is surely the liveliest version we have.« 170 Huffman, S. 173. An weiterer Stelle, S. 173–174, erläutert Huffman die Deutung des Menenius: »As he thus applies it, the body-state analogy endorses the absolute rule of the patrician Senate, that is, the existing form of government in Rome following the expulsion of the kings. This accounts for Menenius’s selection of the ›Belly‹ as a ruler, rather than the ›Head,‹ which was the common choice of those discussing monarchy.«
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Shakespeare, Coriolanus
Prosa hin zum Blankvers durchläuft.171 Mittels der Fabel ist es Menenius ebenfalls gelungen, das Volk von gewaltsamen Unruhen abzubringen. Die Frage des First Citizens »How apply you this?« (Vers 146) deutet darauf hin, daß eine Umorientierung beim Volk stattfindet. Menenius, der seine Zuhörer hat fesseln können, kann somit die Deutungsebene der Fabel nach seinen Wünschen umsetzen.172 Die Patrizier verteilen also gemäß der Fabeldeutung alles gerecht an das Volk. Noch in seinen Ausführungen befindlich, greift Menenius den First Citizen verbal an: »What do you think, / You, the great toe of this assembly?« (I,1,153f.), »For that being one o’th’lowest, basest, poorest […]« (I,1,156). Nahtlos knüpft an diese Beleidigung mit viel Charme die Schmähung der kompletten Volksmenge in Vers 161 an: »Rome and her rats are at the point of battle.« An dieser Stelle scheint die offensichtliche Auffassung des Menenius von Staat durchzuscheinen: Das Volk ist nichts als ein Haufen Ratten, der in dieser Werteordnung gar nicht zu Rom gehört.173 Auch Müller äußert Kritik an der Fabel, da sie auf das eigentliche Problem der Plebejer, nämlich die Hungersnot, nicht eingeht oder gar Lösungsansätze, welche die Lage verbessern könnten, bietet.174 Menenius Agrippas rhetorisch geschickter Rede mangelt es an einem Wirklichkeitsbezug. Der einzige Zweck, den er verfolgt hat, war, die Bürger durch sein rhetorisches Können für sich zu gewinnen und zu manipulieren, so daß sie für einen kurzen Moment – wie Müller schreibt – ihr »Elend vergessen«175.
3.2.3 Coriolanus’ erster Auftritt Konnte Menenius Agrippa sich als humorvoller und schlagfertiger Redner, dessen wahre Intentionen nicht an die Öffentlichkeit dringen, vor der Menschenmenge darstellen, so bildet Caius Martius Coriolanus dessen Gegenstück. Coriolans Rede richtet sich gegen Menenius’ Publikum, um das jener sich noch bemüht hatte. Bereits seine ersten Worte (I,1,163) sind voller Verachtung: 171 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 168. Als Beispiel für den Wechsel soll hier Vers 126 dienen, in welchem der First Citizen Menenius Agrippa auffordert, die Antwort des Bauches, welche dann folgt, zu erzählen: »Y’are long about it.« – »Note me this, good friend.« 172 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 168. Des weiteren macht Müller die Anmerkung, daß an dieser Stelle des Dramas William Shakespeare nicht ausschließlich Plutarch als Quelle verwendet hat. 173 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 172. Müller bringt die Gesinnung des Menenius Agrippa auf folgenden markanten Satz: »Rom besteht für Menenius aus dem Senat und den Patriziern.« 174 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 172. Vgl. Peil, Der Streit der Glieder mit dem Magen, S. 168f. 175 Müller, Die politische Rede, S. 174.
Reden in Akt I
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»What’s the matter, you dissentious rogues That, rubbing the poor itch of your opinion, Make yourselves scab?« (I,1,163)
Dem Idealbild einer guten Rede entspricht dies keineswegs: Anstatt die Hörer zu erreichen und anzulocken, vertreibt er sie regelrecht mit seinen unqualifizierten Äußerungen.176 Will man in Agrippas Rede Anzeichen von moderatio interpretieren, kommt man nicht umhin, Coriolans Affront als ein Produkt von dessen superbia darzustellen. Hat sich Menenius Agrippa noch verstellt, steigernde Anredeformeln benutzt und scheinbar die Not der Plebejer verstanden, agiert Coriolanus entgegengesetzt hierzu.177 Stur verharrt er auf seinem Standpunkt, den er offen kundtut, wie man ab Vers 166f. entnehmen kann: »He that will give good words to thee, will flatter / Beneath abhorring.«178 Seine Rede ist angefüllt mit Interjektionen – »Hang ye! Trust ye?« – und weist an mehreren Stellen Anzeichen für Coriolans Denken in veralteten Strukturen auf.179 Gattungsspezifisch läßt sich diese Rede des Caius Martius, genauso wie spätere, zum genus demonstrativum einordnen.180 Viel schwieriger ist es hingegen, zu entscheiden, ob die Invektiven Coriolans auch als politische Reden gelten dürfen. Auch hier muß man Müller zustimmen, der dies so begründet: »Sie müssen als politische Reden gelten, weil Coriolan in der Schmähung des Volks seine politische Position, seinen extremen Patrizierstandpunkt zu erkennen gibt.«181
Dem versammelten Volk wirft er in den Versen 181–183 Unentschlossenheit vor:
176 Damit stimmt auch Müller, Die politische Rede, S. 175, überein.: »Schon seine ersten Worte sind den Vorschriften der klassischen Rhetorik für die Einleitung einer Rede diametral entgegengesetzt. Statt Aufmerksamkeit, Interesse und Wohlwollen für seine Rede zu suchen, überfällt er die Plebejer mit Schimpfworten […].« 177 Vgl. auch Kullmann, S. 155, der den Gegensatz Menenius Agrippa – Coriolanus im folgenden Satz paraphrasiert: »Von den Patriziern begegnet Menenius Agrippa den Versammelten mit Verständnis und rhetorischem Geschick, Caius Martius, der spätere Coriolanus, jedoch mit offen zur Schau gestellter Verachtung.« 178 Für den weiteren Verlauf von Coriolans Rede warnt Müller, S. 176, davor, diese Rede schlichtweg als »vitiöse Rhetorik abzutun«. Zur Struktur fährt er wie folgt fort: »[…] denn Shakespeare läßt den Römer seine Sätze mit solcher Vehemenz vortragen und macht sie durch rhetorische Figuren wie Antithese, Chiasmus und Paradoxon und durch die Bildersprache so wirkungsvoll, daß diese Anti-Rhetorik selbst eine eigentümliche poetische Kraft erlangt.« 179 Seine extremistische Grundhaltung zeigt Coriolan in seinen Tiermetaphern »foxes« – »geese« oder »lions« – »hares«. Vgl. auch hierzu Müller, Die politische Rede, S. 176–177. 180 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 181. 181 Müller, Die politische Rede, S. 181.
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Shakespeare, Coriolanus
»With every minute you do change a mind, And call him noble that was now your hate, Him vile that was your garland.. […].« (I,1,181–183)
Nachdem Caius Martius vorerst den Versammelten seinen Unmut kundgetan hat, beendet er ab Vers 183 seine Rede genauso, wie er sie begonnen hatte: »[…] What’s the matter, That in these several places of the city, You cry against the noble Senate, […]?« (I,1,183–185)
Die Phrase »What’s the matter« bildet den Rahmen für Coriolans Schmährede, deutet jedoch ebenso daraufhin, daß er den Versammelten keine Beachtung geschenkt hat.182 Wird man sich der Tatsache bewußt, daß er das Volk bzw. dessen Stimmen benötigt, um zum Tribun gewählt zu werden, so ist sein Benehmen nicht nachvollziehbar. Daß die Antwort auf seine Frage, »What’s the matter […]?«, nicht aus der Menge der Plebejer stammt, liegt daran, daß Caius Martius seine Frage, »What’s their seeking?« (I,1,187), an Menenius Agrippa weiterreicht. Hieraus entwickelt sich ein Dialog der beiden Patrizier; die Weiterleitung der Frage ist ein weiteres Indiz, daß er an den Plebejern gar kein Interesse hat, daß sie für ihn (noch) nicht zählen. Auch in dem anknüpfenden Dialog mit Menenius Agrippa streut Coriolanus weitere Ausdrücke seines Ärgers – »Hang ’em! They say!« (I,1,189), »Would the nobility lay aside their ruth, / And let me use my sword, I’d make a quarry / With thousands of these quarter’d slaves, as high / As I could pick my lance.« (I,1,196–199) – über die Plebejer ein. Doch ist in Caius Martius’ Augen sein Ärger über die Plebs nicht unbegründet, wie er selbst ausführt: »They’ll sit by th’fire, and presume to know What’s done i’th’Capitol: who’s like to rise, Who thrives, and who declines; side factions, and give out Conjectural marriages; making parties strong, And feebling such as stand not in their liking Below their cobbled shoes.«183
Zusammengefaßt bedeutet dies, daß Coriolan sich über den Einfluß der Plebejer auf das Staatsgeschehen aufregt. In seiner abfälligen Äußerung klingt zudem seine längst überholte Denkweise mit: Coriolanus ist von Grund auf voreingenommen. Seine politische Gesinnung faßt Müller folgendermaßen zusammen: »Coriolan sieht den Klassenkonflikt als einen Freund-Feind-Antagonismus. Er artikuliert seine Position mit größter Schärfe und ohne Rücksichtnahme auf seine Zuhörer,
182 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 178. 183 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 177–178.
Reden in Akt II
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während Menenius die Plebejer, wenn er ihnen auch jedes politische Recht abspricht, zumindest als Gesprächspartner akzeptiert.«184
Doch arbeitet Shakespeare in dieser ersten Szene den Gegensatz zwischen Menenius Agrippa und Caius Martius Coriolanus aus. Während letzterer die Rebellion mit Waffengewalt beenden will, lenkt Menenius Agrippa in Vers 200 mit »Nay, these are almost thoroughly persuaded« ein. Dem Zuschauer wird vor Augen geführt, daß Coriolanus ebensowenig Politiker wie Redner ist, im Gegensatz zu Menenius, welcher sich als talentierter Redner erweist.185 Doch nicht nur solche vituperationes oder persuasiones (im Falle des Menenius Agrippa) sind in Coriolanus vorherrschend. An weiterer Stelle begegnet uns auch die laudatio, die Lobrede, die genau wie die vituperatio (Tadel) dem genus demonstrativum zuzuordnen ist.186
3.3
Reden in Akt II
3.3.1 Coriolanus, der Wahlkandidat Der erste Akt hat uns bereits ein grobes Bild geliefert, anhand dessen man Coriolanus’ politische Haltung und sein Verhalten den beiden Ständen gegenüber erkennen konnte. Daß er sich nicht wie Menenius Agrippa gegenüber den Plebejern verstellen kann bzw. will, zeigt II,3. Nach der siegreichen Schlacht über die Volsker soll sich Caius Martius zum Konsul wählen lassen, einem Vorhaben, dem er nur äußerst widerwillig zustimmt. Sein Widerwille begründet sich darin, daß er als Wahlkandidat auf die Stimmen des Volkes, also die Stimmen der Plebejer, angewiesen ist. Als er, um die Gunst des Volkes zu erlangen, eine Rede halten soll, tritt seine Ratlosigkeit zu Tage: »What must I say? […] I cannot bring / My tongue to such a 184 Müller, Die politische Rede, S. 179. 185 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 178f. Trotz aller Unterschiede, die zwischen Caius Martius Coriolanus und Menenius Agrippa vorherrschen, denken beide Patrizier gleich. Beide politischen Auffassungen sind »nahezu identisch«. Für Müller ist Menenius der »Rhetor schlechthin« und Coriolanus der »Anti-Rhetor«. Vgl. auch S. 180, auf der er schreibt, daß es Shakespeare gelungen sei, den Redestücken des Coriolanus »eine eigentümliche poetische Kraft zu verleihen«, obwohl oder gerade weil Coriolanus gegen die Regeln der Redekunst verstößt. Zudem drücken die Beschimpfungen seinen Hang zum cholerischen Verhalten aus. Vgl. auch Baumann, Vorausdeutung und Tod im englischen Römerdrama der Renaissance (1564–1642). »The heavens themselves blaze forth the death of princes«, S. 82. [zitiert als: Baumann, Vorausdeutung und Tod]. Zum Tod Coriolans nennt Baumann dessen Charakterzüge: »Coriolan fällt wie er gelebt hat, männlich, stolz – und politisch blind.« 186 Vgl. Kapitel 3.4, S. 61.
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Shakespeare, Coriolanus
pace.« (II,3,51–53) Als ob Menenius etwas ahnen würde, gibt er Coriolanus den Hinweis »Pray you, speak to ’em, I pray you, / In wholesome manner« (II,3,61f.). Bei seiner ›Wahlkampfrede‹ weicht Coriolanus mit seinen spöttischen Bemerkungen – z. B. »No, sir, ’twas never my desire yet to trouble the poor with begging.« (II,3,70) – vom Hinweis des Menenius Agrippa ab. Von einer »wholesome manner« kann hier nicht die Rede sein.187 Genauso ungeschickt verhält er sich, als er um den Preis seines Konsulats fragt. Kullmann äußert sich wie folgt zu Coriolanus’ Situation: »Auf den Punkt gebracht wird die Situation durch die Bemerkung des ersten Bürgers, ›The price is, to ask it kindly‹: Die einzige Voraussetzung für die Zustimmung des Volkes ist die mit angemessenem Respekt vorgetragene Bitte um diese Zustimmung.«188
An dieser simplen Bemerkung des First Citizen scheitert Coriolanus, er kann und will sich nicht verstellen.189 Folgt man den Ausführungen Werner von Koppenfels’190, erleidet Caius Martius in dieser Passage einen politischen Rückschlag. Ebenso hat Coriolanus schwer daran zu tragen, daß ihm die Plebejer, besonders der Fourth Citizen, seine ungerechten Persönlichkeitsmerkmale vorführen: »You have deserved nobly of your country, / and you have not deserved nobly.« (II,3,87f.) bzw. »You have been a scourge to her enemies, you have been a rod to her friends; you have not indeed loved the common people.« (II,3,90–93) 187 Vgl. Krippendorff, S. 242: »Während Menenius taktisch klug und geschickt, auf die rebellierenden Bürger zugegangen war, […] gibt sich Marcius keine Mühe mit der Verschleierung seiner Klassenvorurteile.« 188 Kullmann, S. 156. 189 Coriolanus sagt später (III,2): »I play / the man I am.« Mit diesen Worten schließt er damit ab, sich für andere verstellen zu müssen. Zu dieser Problematik vgl. auch Geoffrey Miles, S. 148–168. Auf S. 158 schreibt Miles: »A soldier is one part, a politician is another, and Coriolanus must be prepared to change roles. Coriolanus cannot see it in this way: for him soldiership is not a ›part‹ but his nature and his very identity. With his ideal of being always the same, acting is for him a contemptible hypocrisy.« Coriolanus ist nicht bereit, sich in die Rolle eines Politikers zu versetzen; so sagt er in V,3,40 »Like a dull actor now / I have forgot my part […]«. Weiter sagt Miles auf Seite 150: »I believe that Shakespeare […] sees Coriolanus’ strengths and weaknesses as related to an ideal of constancy.« Die Standhaftigkeit Coriolans führt er darauf zurück, daß Shakespeare ihn mit stoischen Elementen versieht. Vgl. hierzu auch S. 151: »These warrior qualities are present in Plutarch’s Martius, but Shakespeare surrounds him with the aura of the Senecan Stoic hero […].« Manifestiert wird dies erst in V,3,72–75 durch, wie Miles es auf S. 151 nennt, »the ideal of constancy in its noblest form: the immovability of the Stoic hero«. An dieser Stelle könnte noch präziser herausgearbeitet werden, daß Coriolanus von seinem Benehmen her sich nicht stoisch verhält und nicht mit Gleichmut seine Berufung zur Wahl annimmt. 190 Vgl. von Koppenfels, Shakespeare-Handbuch, S. 525: »Auf die militärischen Siege des Coriolanus folgen in beiden Hälften des Dramas seine politischen und persönlichen Niederlagen.«
Reden in Akt II
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Dem Argument hat Coriolanus nur noch seine Tugend – »You should account me the more virtuous« (Vers 93) – entgegenzusetzen. Seine Fähigkeiten als Politiker und Redner zu agieren, beschränken sich auf ein Minimum. Er verletzt seine Wähler verbal. Seine Argumente, die er anführt, sind fadenscheinig und werden nicht im gewünschten Maße von den Plebejern aufgenommen.
3.3.2 Die Volkstribunen beeinflussen das Volk Bedingt durch Coriolanus’ abfällige Bemerkungen gegenüber den Plebejern, können die beiden Tribunen Brutus und Sicinius das Volk umstimmen. Ihren verbalen Gegenangriff leiten sie in II,3,173 ein. Die Redesituation paraphrasiert Müller wie folgt: »Man kann die Passage als eine auf zwei Redner verteilte Rede verstehen. Denn hier liegt kein dramatischer Dialog mit Rede und Gegenrede vor, keine wirkliche Gesprächssituation.«191 Die sich in zwei Teile untergliedernde Rede wird von Brutus mit harscher Kritik an den Plebejern begonnen (II,3,174– 188): »Could you not have told him / As you were lesson’d; when he had no power, / But was a petty servant to the state, […]«. Die Bürger hätten ihre Pflicht nicht erfüllt, weil sie den in II,1,235–268 abgesprochenen Plan nicht umgesetzt haben. Um so energischer ist Brutus nun darauf bedacht, das Feindbild von Coriolanus neu zu zeichnen: »He was your enemy, ever spake against Your liberties and the charters that you bear I’th’body of the weal; and now arriving A place of potency and sway o’th’state, If he should still malignantly remain Fast foe to th’plebeii, your voices might Be curses to yourselves?« (II,3,177–183)
In Vers 179 wechselt nach der Zäsur das Tempus von der Vergangenheit in die Gegenwart: Brutus verdeutlicht damit den Wechsel, den Coriolanus zum Nachteil der Plebejer anstrebt. Das sich durch Ironie (»his gracious nature«, Vers 185) anschließende zweite Argument erläutert Müller folgendermaßen: »[…] wie Coriolans edle Taten nichts Geringeres als das Konsulat verdienen, so soll sein gütiges Wesen um der Wahlstimmen willen seinen Plebejerhaß in Liebe verwandeln. Zwischen den beiden zueinander in Entsprechung gesetzten Aussagen besteht ein Mißverhältnis, zumindest keine stringente logische Beziehung.«192
191 Müller, Die politische Rede, S. 194. 192 Müller, Die politische Rede, S. 195.
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Shakespeare, Coriolanus
An dieser Stelle löst Sicinius den Brutus ab und macht ebenfalls noch einmal durch »As you were fore-advis’d« (II,3,189) auf die frühere Einweisung der Plebejer aufmerksam. Ferner gibt er eine Mutmaßung ab, was geschehen wäre, wenn die Plebejer den Instruktionen der beiden Tribunen gefolgt wären: Das Ziel der Aktion formuliert Sicinius mit »putting him to rage« (II,3,195).193 Die Wirkung dieser manipulativen Anschuldigungen spiegelt sich in der Aussage des Third Citizen, »He’s not comfirm’d: we may deny him yet« (II,3,207), und der Bestätigung durch den Second Citizen, »And will deny him!« (II,3,208), wider: Die Bürger wenden sich gegen Coriolanus. Für die beiden Tribunen ist mit der Umstimmung der Plebejer ein Teilziel erreicht. Im sich anfügenden zweiten Teil ihrer gemeinsam geführten Rede ändern sie ihre Taktik der Schuldzuweisung in eine adhortatio. Imperativisch gebrauchte Verben – »Get you hence« (II,2,211), »make them« (II,2,213), »Let them assemble« (II,2,215) usw. – kennzeichnen diese an die Plebejer gerichtete, persuasiv gestaltete Aufforderung, wie auch Müller bestätigt.194 Weiterhin sind die beiden Tribunen nun genötigt, ihre Propaganda gegen Coriolanus zu vertuschen, damit sie nicht wegen Volksverhetzung angeklagt werden können. »Der Gipfel der Perfidie«195 liegt darin, daß beide Tribunen dem Volk oktroyieren, bei möglichen Fragen während der Wahl die Schuld bei den Tribunen zu suchen (»Lay the fault on us«). Brutus skizziert einen Stammbaum von Coriolanus’ Familie (II,2,232–243), um den Schein zu wahren, die beiden Tribunen hätten sich für die Wahl des Caius Martius Coriolanus ausgesprochen. Wieder werden die Plebejer Mittel zum Zweck: Coriolanus ist auf sie angewiesen, damit er die Wahl gewinnt, die beiden Tribunen überreden das Volk durch geschickte Rhetorik, Coriolanus nicht zu wählen.196 »Durch ihre raffinierte Taktik exkulpieren sich die Tribunen vor den Patriziern. Sie waschen sich von dem Verdacht rein, gegen Coriolan intrigiert zu haben. Sie geben eine Beeinflussung des Volks zu, die sie nicht vorgenommen haben, um von der eigentlichen Volksverhetzung abzulenken«, beschreibt Müller hierzu den Propagandavorgang.197 193 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 195: »Schlüsselwort ist hier das Verbum ›lesson‹, in Sicinius’ folgenden Sätzen das Verbum ›fore-advise‹.« 194 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 196. 195 Müller, Die politische Rede, S. 196. 196 Diese Passage schildert ebenso die Macht der Rhetorik – ähnlich bei Platon, der sie als ein ungerechtes Mittel definiert (vgl. Platons Äußerung in Kapitel 2, S. 18) –, Menschen soweit zu manipulieren, daß diese nur noch als Werkzeug zwischen zwei Darstellungen hin- und hergerissen werden. Vgl. auch Krippendorffs Kommentar, S. 249f.: »Denn dieses Volk, es ist immer nur ›Fußvolk‹ in der Politik der Großen – aber auch ihrer kleinen Führer, für die noch die Oppositionsrolle der Volksvertretung eine Karriere darstellt. Das Volk ist Opfer der Regime; sich zu entwickeln, zu emanzipieren, hat es – als Masse, in der Menge – keine historische Chance gehabt.« 197 Müller, Die politische Rede, S. 197.
Laudationes im Drama
3.4
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Laudationes im Drama
Wie oben bereits erwähnt, werden in Coriolanus auch Ruhmreden, drei laudationes auf Caius Martius, gehalten, wobei er in der zweiten Ruhmrede den Namen Coriolanus verliehen bekommt.198 Im Folgenden sollen diese nun kurz vorgestellt und analysiert werden.
3.4.1 Die erste Laudatio (I,4,52–61) Diese Ruhmrede wird vom General Titus Lartius auf Caius Martius gehalten. Der General geht davon aus, daß Coriolanus in der Schlacht gegen die Volsker gefallen sei, wie ihm auch fälschlicherweise berichtet wird: »What is become of Martius?« – »Slain, sir, doubtless.« (I,4,48) Der Beginn von Lartius’ Rede – »Oh noble fellow!« – gleicht eher einem Seufzermotiv als einem Exordium zu einer laudatio.199 Coriolan wird zum ersten Mal glorifiziert, indem Lartius eine Analogie zwischen ihm und einem Schwert anstrengt. Dadurch rückt Lartius in den Vordergrund, daß Coriolanus, wie ein Schwert, eine perfekte Tötungsmaschine ist.200 Lartius steigert seine Beschreibung ab Vers 56ff. weiter: »Thou wast a soldier Even to Cato’s wish, not fierce and terrible Only in strokes, but with thy grim looks and The thunder-like percussion of thy sounds Thou mad’st thine enemies shake, as if the world Were feverous and did tremble.«
Daß in der Tat ein wehmütiger Unterton in dieser Rede mitschwingt, wird immer wieder im Redeverlauf deutlich, z. B. in Vers 54 mit »Thou art left, Martius« oder in Vers 56f. »Thou wast a soldier / Even to Cato’s wish […]«.
198 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 182. 199 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 182. An dieser Stelle vergleicht er diese Lobrede mit einer Totenrede. 200 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 182. Müller geht außerdem noch auf die Paronomasie von »sensibly« und »senseless« ein, welche »eine Sublimierung der Vernichtungskraft des Tötungsinstruments« verdeutlicht. Ferner paraphrasiert Müller noch einmal die schmückenden Attribute, mit denen Lartius Coriolanus’ Wesen schmückt: »Shakespeare folgt hier Plutarch: ›For he [Coriolan] was even such another, as Cato would have a souldier and a captaine to be: not only terrible, and fierce to laye about him, but to make the enemie afeard with the sounde of his voyce, and grimness of his countenance.‹«
62
Shakespeare, Coriolanus
3.4.2 Die zweite Laudatio (I,9,52–65) Wie zuvor erwähnt, dient diese zweite laudatio – gehalten vom General Cominius – dazu, Caius Martius den Beinamen »Coriolanus« zu verleihen. Die neunte Szene beginnt bereits mit euphorischen Phrasen, geäußert von Cominius: »If I should tell thee o’er this thy day’s work, / Thou’t not believe thy deeds.« (I,9,1f.) Caius Martius wird sinnbildlich auf ein Podest gehoben, Cominius ist voll des Lobes über ihn. In diesem Abschnitt bzw. in dieser Szene könnte der Verdacht aufkommen, Cominius wolle Caius Martius Coriolanus in den Status einer ›lebenden Legende‹ versetzen. Zweifelsohne birgt es etwas Wunderbares, daß Caius Martius fast allein für den Sieg der Römer verantwortlich zu sein scheint. Mit dem Vorhaben, den Senat und die Tribunen von Coriolans herausragender militärischer Leistung zu unterrichten, wird das Bild des Caius Martius bei den Plebejern wieder in ein positiveres Licht gerückt: »[…] where the dull tribunes, That with the fusty plebeians hate thine honours, Shall say against their hearts, ›We thank the gods Our Rome hath such a soldier.‹« (I,9,6–9)
Doch während das Vorangegangene eher einer Vorschau diente, befindet sich die eigentliche Ruhmrede in den Versen 52–65. Caius Martius bekommt vor versammelter Prominenz noch einmal alle Ehren – »[…] that Caius Martius / Wears the war’s garland« (I,9,58f.) – von Cominius zugesprochen. Höhepunkt und Schluß dieser laudatio ist in den Versen 62–65 enthalten: »For what he did before Corioles, call him, With all th’applause and clamour of the host, Martius Caius Coriolanus!«
3.4.3 Die dritte Laudatio (II,2,82–122) Die dritte laudatio im zweiten Akt bringt weitere Elemente für den Handlungsverlauf ein, u. a. Coriolans Bewerbung um das Konsulat.201 Die Rede besteht, wie Müller erläutert, aus drei Abschnitten: »[…] einem knappen exordium, einer Kurzbiographie Coriolans, die sich auf dessen Kriegstaten bezieht, und einem Bericht von seinem Kampf in der Schlacht bei Corioli.«202
201 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 183. Seines Erachtens ist diese Ruhmrede die wichtigste des Dramas. 202 Müller, Die politische Rede, S. 184.
Rhetorische Elemente in Akt III
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Inhaltlich arbeitet die Rede Caius Martius’ Taten toposartig auf, beispielsweise, daß er mit 16 Jahren bereits ein herausragender Kämpfer gewesen sei (II,2,87). Der ganze Katalog von Kriegstaten wird von Cominius benutzt, dem Publikum Coriolanus’ Tugendhaftigkeit (»valour«) vor Augen zu führen, wie er es selbst mit »It is held / That valour is the chiefest virtue and / Most dignifies the haver […]« (II,2,83–85) anführt.203 Bei diesen Rühmungen verwendet Cominius eine pittoreske Sprache.204 Die Zuhörer stimmen der Ruhmrede des Cominius zu, da valour oder virtus, die Kardinaltugend, ganz besonders in den Taten des Coriolan vorgeführt wird. Daß für den Leser des Dramas Coriolanus gegen Ende der laudatio immer mehr unmenschliche Züge erhält, ist wohl Shakespeares Absicht.205 Die Ruhmreden haben daher die Absicht, einerseits die virtus des Protagonisten herauszuarbeiten, sogar zu idealisieren, andererseits wird mittels der Ruhmrhetorik geschickte Propaganda betrieben. Coriolan ist womöglich zum ersten Mal bei den Plebejern beliebt (oder beliebt gemacht worden).
3.5
Rhetorische Elemente in Akt III
Coriolans Rede in der ersten Szene des dritten Aktes mutet etwas sonderbar an. Obzwar diese Rede von Zwischenrufen unterbrochen wird, sind dennoch ihre Redeteile – exordium, narratio, propositio, argumentatio und conclusio – klar erkennbar.206 Die Situation der Rede läßt sich hierbei folgendermaßen schildern: Coriolans Absicht ist es, mit seiner Rede die Patrizier aufzufordern, die politische Macht der Plebejer einzuschränken. Dabei kommt es oft zu Zwischenbemerkungen, welche wiederum auf die Rede einwirken. Dies ist auch dadurch bedingt, daß Caius Martius Coriolanus seine Rede nicht zuvor vorbereitet hat, sondern sie, von 203 Vgl. auch Müller an dieser Stelle. Müller stellt auf S. 185 heraus, daß Shakespeare in dieser Rede besonders mit Enjambements gearbeitet hat. Ein Zeilensprung erfolgt in dieser Lobrede immer nach dem Prädikat. Auf diese Weise können Coriolanus’ Taten mehr Nachdruck verliehen werden. 204 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 186. Müller macht auf das Wortspiel in Vers 113f. aufmerksam: »And with a sudden reinforcement struck / Corioles like a planet.« Müller verdeutlicht die Parallele von Martius und dem Planeten Mars, dessen Name in der römischen Mythologie der des Kriegsgottes war. Coriolanus wird durch diesen Vergleich auf die Ebene eines Kriegsgottes gehoben. 205 Müller, Die politische Rede, S. 192: »In der unbegrenzten Tötungsfähigkeit und in der Vernichtungsbesessenheit enthüllt sich der Soldat als ein dehumanisiertes Wesen.« Zur Rolle und Bedeutung der Rhetorik sagt Müller richtigerweise: »Shakespeare gibt dem Zuschauer die Möglichkeit zu erkennen, welche Rolle die Rhetorik spielen kann, wenn es darum geht, ein politisch verwertbares Image von einem Menschen aufzubauen.« 206 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 199ff.
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Shakespeare, Coriolanus
seinen Emotionen ergriffen, überstürzt hält. Daß Coriolans besonderes Talent nicht gerade im freien Sprechen liegt, weiß man spätestens seit der laudatio des Cominius, der dessen virtus im Krieg über alles gestellt hat. Aus diesem Grund wird Caius Martius auch beständig von seinen Standesgenossen mit dem Hintergedanken, ihn vom Reden abzuhalten, unterbrochen. Auf diese Weise entsteht aus den Dialogen heraus das exordium der Rede.207 Der Auftakt in Vers 60f. – »Tell me of corn! / This was my speech, and I will speak’t again.« – macht auf die vorherrschende aggressive Stimmung aufmerksam. Seinem Wertesystem, der Diskriminierung der Plebejer, bleibt Coriolan treu. Die Patrizierpartei spricht er mit »My nobler friends« (III,1,63) an, die Plebejerpartei im Gegenzug mit »For the mutable, rank-scented meinie« (III,1,65). Der Gegensatz wird durch die Verwendung des Possessivpronomens für die Patrizier und durch die dritte Person für die Volksvertreter intensiviert. Ab der zweiten Hälfte des exordiums beginnt Caius Martius mit seiner Selbstdarstellung, die nach der Bitte des First Senators um Zurückhaltung mit »No more words, we beseech you« (III,1,74) einsetzt. Mit Ausdrücken wie »[…] for my country I have shed my blood, / Not fearing outward force […]« (III,1,75) stellt er seine eigene virtus heraus.208 Brutus und Sicinius kritisieren diese hochmütigen Äußerungen. Vor allem Brutus äußert in Vers 79–80 seine Vorbehalte mit »You speak o’th’people / As if you were a god to punish«. Sicinius will diese – unbedachte – Meinungsäußerung Coriolans sofort dem Volk mitteilen (»’Twere well / We let the people know’t«). Dieser Dialog stellt die Überleitung zur narratio dar, die in erster Linie, wie Müller feststellt, Coriolanus’ Reaktion auf Sicinius’ Kommentar ist. Sicinius provoziert Coriolanus so stark, daß dieser auf den Satz »It is a mind / That shall remain a poison where it is, / Not poison any further.« (III,1,85f.) spontan antwortet: »Shall remain! / Hear you this Triton of the minnows? Mark you / His absolute ›shall‹?« Man beachte hier, daß er das »shall remain« nochmals zu Beginn seiner Gegendarstellung aufgreift.209 Bei seinen Ausführungen übt Coriolanus Kritik am politischen status quo. Wir wissen, daß er im Verlauf der Handlung darauf hingewiesen hat, daß dem Plebejerstand zu viel an politischer Mitsprache zuteil werde. Die Senatoren werden 207 Eine sehr detaillierte und völlig überzeugende Analyse der Rede bis hin zu den einzelnen Redeteilen findet sich bei Müller, Die politische Rede, S. 200ff. 208 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 201. Müller deutet diese Passage so, daß Coriolanus eine »deutliche Analogie zwischen seinem Verhalten als Soldat und als Redner« herstelle. Neben der Diskriminierung der Plebejer sieht Müller in Vers 78–79 (»[…] yet sought / The very way to catch them«) auch Kritik gegen den Patrizierstand. 209 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 201. Müller führt für die narratio weiter aus, daß diese nicht erneut genannt werden müsse, da der einstige Tatbestand bekannt sei. Die narratio beschränkt sich in dieser Rede Coriolanus’ darauf, die momentan vorherrschende politische Lage zu thematisieren.
Rhetorische Elemente in Akt III
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noch einmal auf ihr Fehlverhalten hingewiesen. In der Rede tritt Coriolanus’ emotionale Entrüstung zu Tage, wenn er die Patrizier und die Senatoren in Vers 90 mit »O good but most unwise patricians: why, / You grave but reckless senators, […]« anspricht. Coriolanus steigert sich in seiner Rage immer weiter in das Thema hinein, wie die folgenden if-Sätze zeigen. In seinen Hypothesen führt er immer wieder Extrembeispiele an, bis er im letzten Konditionalsatz210 »You are plebeians / If they be senators« skandiert. Cominius unterbricht Coriolanus in Vers 111 mit »Well, on to th’market place«, um vom Redner abzulenken und diesen endlich zum Schweigen zu bewegen. Coriolanus aber steigert sich, unbeeindruckt von der Unterbrechung, anscheinend weiter in seiner Rage und bringt abermals die alte Diskussion um das Getreide ein: »Whoever gave that counsel, to give forth / The corn o’th’storehouse gratis […]« (III,1,112f.). Diese Passage dient der Formulierung des Streitpunktes wie in einer propositio.211 Menenius schreitet mit »Well, well, no more of that« ein, um diesen Disput unterbinden zu können. An dieses Teilstück der Rede knüpft die argumentatio fast nahtlos an, die der Protagonist in Vers 118 mit »I’ll give my reasons / More worthier than their voices« einleitet. Dabei kommt Coriolanus nicht umhin, sich mit seinen Diskriminierungen gegen das Volk zu mäßigen, zu stark hat er sich in seine Wut hineingesteigert. Genauso wie Caius Martius Coriolanus sich weiter in seiner Emotionalität steigert, gelangt dessen Rede ebenso allmählich zur Klimax. Seine Sprache ist reich an Vokabeln, die mit Krieg assoziiert werden, beispielsweise in Vers 121: »They ne’er did service for’t; being press’d to the war […]«. Er bezieht alles stets auf seinen Horizont. Die argumentatio enthält sein Hauptargument in Form einer Rechtfertigung, welches Müller auf Seite 204 wie folgt paraphrasiert: »[…] das Volk hatte damals kein Korn verdient, weil es in der Stunde der größten Not des Staates feige und aufrührerisch gewesen war.«212 Coriolanus will demnach nur diejenigen am Kornvorrat teilhaben lassen, die, genau wie er, ihre virtus bereits unter Beweis gestellt haben. 210 Müller weist in seiner Analyse darauf hin, daß der letzte Konditionalsatz umgekehrt ist. Die Intention, die sich dahinter verbirgt, manifestiert sich darin, den anderen Patriziern noch einmal in allerschärfster Form die Konsequenzen zu verdeutlichen. Vgl. S. 202. Wurde oben noch auf den First Citizen hingewiesen, der auch nur ein richtig oder falsch als Möglichkeiten zuläßt, so zeichnet Shakespeare für Coriolanus ein ähnliches Bild. Für Coriolanus ist ein demokratisch geführter Staat undenkbar. Das heißt, ein Mittelweg, der die Machtverhältnisse auf Volk und Senat gleichermaßen verteilt, ist indiskutabel. 211 Müller schreibt zum Übergang von der narratio zur propositio auf S. 204: »Die propositio bildet, wie bereits in der Cassius-Rede aus Julius Caesar deutlich zu erkennen war, den Übergang zwischen der narratio und der argumentatio.« 212 Müller, Die politische Rede, S. 204. Ferner geht Müller auf die Verwendung der figura etymologica, das Wortspiel von »service« und »deserve«, ein.
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Shakespeare, Coriolanus
Gegen Ende der argumentatio greift Coriolanus den alten Vergleich vom umgekehrten Machtverhältnis des letzten Konditionalsatzgefüges – »You are plebeians / If they be senators« (III,1,100–101) – wieder auf, wenn auch in abgewandelter Form: »[…] Break ope the locks o’th’senate, and bring in / The crows to peck the eagles.«213 Das Ende der argumentatio und somit der Übergang zur conclusio (III,1,139– 160) ist wieder durch eine Unterbrechung der Rede durch Menenius, welcher den äußerst wütenden Coriolanus mit »Come, enough« zum Schweigen bringen will, gekennzeichnet. Die conclusio setzt da an, wo Coriolanus in seiner Rechtfertigung geendet ist, nämlich mit Denunziation und Vorwürfen gegen die Patrizier und Plebejer. Bei seinen Beschreibungen entfallen die positiven Eigenschaften »gentry, title, wisdom« (III,1,143) auf die Patrizier und die negativen »negative ignorance« (III,1,145) auf die Plebejer. Nochmals bekundet er seine Besorgnis um die vorherrschende politische Lage in Rom. Der stabile und wohlgeführte Staat werde in politischer Hinsicht ins Wanken gebracht, wie er in Vers 146f. mit »[…] give way the while / To unstable slightness« befürchtet. In seinem gesamten Argumentationsaufbau dreht sich Coriolanus stetig im Kreise, als ob ihm für weitere, weniger aggressive Beispiele oder infame Attacken gegen die Plebejer die nötigen Worte fehlten. In seinen letzten Worten der Rede richtet er nochmals seine Mahnung an die Patrizier: »[…] Your dishonour, Mangles true judgement, and bereaves the state Of that integrity which should becom’t, Not having the power to do the good it would For th’ill which doth control’t.« (III,1,156–159)
Coriolanus hat es geschafft, sich gegen den Widerstand von Cominius und Menenius durchzusetzen. Seine politische Haltung, so wird hier sehr deutlich, ist für die Zeitverhältnisse antiquiert. Das Volk und dessen Vertreter werden von Coriolanus schlecht beurteilt. Daß er auf das Volk angewiesen war, als er in II,3 zur Wahl stand, hat er längst vergessen. Statt dessen bleibt er in seinem ›Schubladendenken‹ haften. Dem Rezipienten fällt in dieser Szene des Dramas besonders der zwischen Coriolanus und Menenius Agrippa vorherrschende Kontrast der
213 Vgl. auch Müller, Die politische Rede, S. 205. Müller sieht in der Metapher, die Adler und Krähen gegenüberstellt, auch eine Widerspiegelung von Caius Martius Coriolanus’ Klassenbewußtsein.
Wechsel im dritten Akt
67
Rhetorik noch einmal auf; beispielsweise unterstreicht diese Rede Caius Martius’ rhetorisches Ungeschick und seinen Hang zu undiplomatischen Taten.214
3.6
Wechsel im dritten Akt
Nach dem klassischen Redeschema ist die Rede Coriolans eigentlich beendet. Doch aufgrund der gereizten Atmosphäre – Sicinius stachelt Coriolanus fortwährend an – will Coriolanus den politischen Umsturz: »Thou wreth, despite o’erwhelm thee! […] Let what is meet be said it must be meet, And throw their power i’th’dust.« (III,1,163–169)
Mit Müllers Worten ausgedrückt, ist »die politische Debatte an ihr Ende gekommen«215. Die Reizung Coriolans durch den Tribunen Sicinius führte zu seinem Zornausbruch, welcher wiederum, wie in einer Spirale, die Plebejer anspornte. Die Eskalation der Gewalt findet einen Höhepunkt in Vers 210 – »Therefore lay hold of him. / Bear him to th’rock Tarpeian, and from thence / Into destruction cast him« –, in dem Sicinius Coriolanus zum Tode verurteilt. Aufgrund des hitzigen Klimas greift Menenius Agrippa in das Geschehen ein. Dabei muß Coriolanus, u. a. auch von Menenius, Kritik gegen sich erdulden, wie etwa in Vers 233f.: »For ’tis a sore upon us / You cannot tent yourself: be gone, beseech you.« Ziel des Menenius ist es, für Coriolanus das Urteil abzuwenden: »I’ll try whether my old wit be in request / With those that have but little […]« (III,1,249f.). Für Menenius Agrippa ist die vorherrschende Situation eine völlig neue Erfahrung, da ihm nicht sofort Gehör geschenkt wird.216 Seine nachfolgenden Worte kann man lediglich als Redefragmente bezeichnen, da er stetig unterbrochen wird. Dennoch kann er einige Argumente einbringen, die von Sicinius nicht widerlegt werden können, so daß dieser gegen Ende der ersten Szene, in Vers 328 das Volk auffordert, sich vorerst zu mäßigen. In der zweiten Szene versucht Coriolanus’ Mutter Volumnia, ihren Sohn für den bevorstehenden Gerichtsprozeß dahin zu bewegen, daß er von seinem cholerischen Naturell abrückt und sich nicht von seinen Gefühlen leiten läßt: 214 Vgl. Krippendorff, S. 247: »Cominius und Menenius versuchten vergeblich, die Artikulation dieser politisch selbstmörderischen, aber klassenwahren und klar durchdachten Prinzipien reiner Herrschaft aus dem Munde ihres Kandidaten zu verhindern […]«. 215 Müller, Die politische Rede, S. 207. 216 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 209: »Die Szene ist so konfliktgeladen, die Erregung aller Beteiligten so groß, daß die Bereitschaft zum Zuhören fehlt.«
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Shakespeare, Coriolanus
»[…] not by your own instruction, Nor by th’matter which your heart prompts you, But with such words that are but roted in Your tongue, though but bastards and syllables Of no allowance to your bosom’s truth.« (III,2,53–57)
Daß sich Coriolanus bei seiner Verhandlung der Rhetorik bedienen soll, um die Gegenpartei zu täuschen, bezeichnet Müller als »pervertierte Auffassung von der Rhetorik«217. Volumnias Taktik ist reine Hinterlist: Coriolanus soll sich als etwas ›verkaufen‹, für das er selbst nicht einsteht. »Perform a part / Thou hast not done before« (III,2,109f.) verlangt Volumnia schlichtweg von ihrem Sohn. Dies zeigt in aller Deutlichkeit, daß von der Rhetorik im Sinne der Redekunst nichts übrigbleibt. Sie verkommt zu einer Art Schauspiel und mit ihr wird aus dem Redner ein Schauspieler. Coriolanus weiß, daß er dadurch auch sich selbst betrügen würde, weil diese Verhaltensweise überhaupt nicht mit seinem Prinzip der virtus vereinbar ist.218 Die dritte Szene des dritten Aktes behandelt den Gerichtsprozeß des Coriolanus.219 Menenius Agrippa kommt die Rolle des Verteidigers zu. Wieder gelingt es ihm nicht, eine Rede in toto zu halten. Beim Auftakt zu seiner Verteidigungsrede, die Coriolanus in ein rühmliches Licht rücken soll, schafft er es, zwei Argumentationspunkte einzubringen: Coriolanus’ Wunden – »think / Upon the wounds his body bears […]« (III,3,49f.) – und dessen Kriegsdienst – »Consider further, / That when he speaks not like a citizen, / You find him like a soldier.« Ansätze längerer Argumentationen werden durch Sicinius oder durch Zwischenrufe des Volkes zerpflückt. Die Parallele zur ersten Szene befindet sich in Vers 66, in dem Sicinius Coriolanus anklagt: »For which you are a traitor to the people.« Diese Anschuldigung eskaliert in einem erneuten Wutausbruch von Caius Martius Coriolanus. In diesem Anflug von Emotionen läßt er noch einmal all die Argumente Revue passieren, mit denen er bislang immer die Plebs beschuldigt hat. Seine Invektive wird seitens des Volkes mit dem Skandieren von »To th’rock, to th’rock with him« quittiert. Ein letzter Versuch von Cominius, das
217 Müller, Die politische Rede, S. 211. 218 Vgl. auch Müller, Die politische Rede, S. 211. Müller bezeichnet Coriolans Konflikt als »Frage von Sein und Schein«. Vgl. hierzu auch Plett, »Theatrum Rhetoricum. Schauspiel – Dichtung – Politik.« In: Plett, Heinrich F. (Hrsg.). Renaissance-Rhetorik. Renaissance Rhetoric. Berlin; New York: de Gruyter 1993, S. 328–373. Hier besonders S. 337–338: »Wie bereits dargelegt, empfiehlt Volumnia dem Protagonisten eine aktionale Schauspiel-Rhetorik zur Erleichterung seines politischen Ziels, des Konsulats; mehr noch, sie spielt ihm sogar, wie die Deictica ›thus‹ und ›here‹ zeigen, Details der von ihm geforderten Rede-Rolle vor, die nach der Ansicht Menenius Agrippas den Erfolg garantieren.« 219 Müller weist darauf hin, daß III,3 eine Wiederholung des Endes von III,1 ist. Vgl. S. 215.
Wechsel im dritten Akt
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Geschehene noch einmal zum Guten zu wenden, wie Menenius es vermochte, schlägt fehl.220 Coriolanus ist und bleibt, was die Rhetorik und sein politisches Geschick betrifft, unbelehrbar. Der dritte Akt zeigt in aller Deutlichkeit anhand der immer kürzer werdenden Redestücke bzw. anhand deren Fragmente, wie die Atmosphäre im Drama wechselt. Die Rhetorik ist sozusagen ein Spiegel, der die Stimmung anzeigt. Die immer kürzeren Stücke provozieren zusätzlich zu den Zwischenrufen und den sonstigen Ausschreitungen eine gewisse Hektik, die vorerst unter der Oberfläche schwelt, bis sie dann gegen Ende des dritten Aktes endgültig ausbricht. Doch auch Volumnias Rat an Coriolanus zeigt den Werteund Machtverfall der Rhetorik. Einst als eine Redekunst geachtet und gebraucht, soll sie nunmehr als Mittel zum Zweck, quasi als Maske, mißbraucht werden.
220 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 215f.
4
Jonson, Sejanus His Fall
4.1
Einführung
Ben Jonsons Römerdrama Sejanus His Fall, wurde im Jahr 1603 »mit nur geringem Erfolg«221 aufgeführt, obwohl die zum Drama verarbeitete antike Epoche zu einer nicht ganz unbekannten zählt. Robert E. Knoll schreibt bezüglich der Uraufführung: »Hissed off the stage at its first public presentation, its fiasco was subject to extended literary discussion.«222 Vor der Veröffentlichung der Quartoausgabe 1605 wurde das Drama stark überarbeitet und alle Spuren von George Chapman als Mitautor getilgt. Gleichzeitig schrieben Freunde Jonsons Empfehlungsgedichte für die Buchveröffentlichung.223 Doch schon bei der Veröffentlichung ging man davon aus, wie Wikander schreibt, daß das Drama ein verstecktes Thema behandle.224 Jonson sah sich daher mit einer Anklage wegen Hochverrats vor dem Privy Council konfrontiert, wie wir u. a. Leah S. Marcus entnehmen können: »After Sejanus was performed at court during the 1603–4 holiday season, Jonson was called before the Privy Council and accused of treason, presumably because of the play’s highly negative portrayal of imperial power in the persons of Nero and Tiberius.«225 221 222 223 224
Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 212. Knoll, S. 68. Vgl. Loxley, S. 57, Platz, S. 180f. Vgl. Wikander, »›Queasy to be touched‹: The World of Ben Jonson’s Sejanus«, S. 345–357. Hier: S. 346: »Sejanus was immediately assumed to have a covert subject when it appeared in 1603. Northampton found sufficient evidence of ›poperie and treason‹ in the play to settle a private grudge and summon Jonson before the Privy Council.« 225 Marcus, »Jonson and the court.« In: Harp, Richard; Stewart, Stanley (Hgg.). The Cambridge Companion to Ben Jonson. Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 30–42. Hier: S. 34. Vgl. auch Ayres, S. 16–22. Vgl. auch Platz, S. 181, der den Grund der Anklage gegen Ben Jonson in der »brisanten Thematik des Stückes« sieht. Vgl. auch Anthony Miller, »The Roman State in Julius Caesar and Sejanus.« In: Donaldson, Ian (Hrsg.). Jonson and Shakespeare. London: Macmillan 1983, S. 179–201 [zitiert als Miller, »The Roman State in Julius Caesar and Sejanus«], hier: S. 185f.: »Jonson’s misfortune in being called before the Privy Council in connection with Sejanus underscores the controversial character of the play and
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Jonson, Sejanus His Fall
Auf den ersten Blick mögen keine direkten Parallelen zwischen den historischen Charakteren und zeitgenössischen Personen vorhanden sein. Ebenfalls scheinen die von Baumann genannten Zensurregeln (siehe Kapitel 2) nicht offensichtlich verletzt worden zu sein.226 Doch Platz erläutert dazu Ben Jonsons Intention anhand eines Gedichtes von Hugh Holland an die aristokratische Oberschicht: »[…] denn, wie Holland zugesteht, wollte Jonson zwar nicht zwischen den Personen, wohl aber zwischen den ›faults‹ der Zeit des Tiberius und der Gegenwart eine Parallele ziehen. Holland sagt deutlich, daß die auf die Bühne gebrachten historischen Personen die ›crimes‹ der Gegenwart begangen hätten (›they did act these Crimes‹).«227
War Rom in Coriolanus noch eine junge Republik – ca. im 5. Jh. v. Chr. – so befinden wir uns nun im Rom zur Zeit des Kaisers Tiberius (Regentschaft 14–37 n. Chr.), also in der ersten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. Die Hauptfigur, deren Leben und Werdegang Ben Jonson hier verarbeitet hat, ist Lucius Aelius Seianus, im Drama Sejanus genannt. In den ersten drei Akten erlebt der Zuschauer, mit welch hinterlistigen Plänen sich der Prätorianerpräfekt Sejanus an die Spitze des Staates zu setzen versucht. Der dritte Akt markiert mit seinen Prozessen gegen Silius und Cremutius Cordus einen »ersten dramatischen Höhepunkt«228. Von seiner Gier nach Macht besessen, merkt Sejanus – der in Tiberius’ Familie einheiraten will – nicht, daß der Kaiser die Pläne seines Prätorianerpräfekten durchschaut hat. Im fünften Akt folgt in einem weiteren Prozeß – jetzt gegen Sejanus – ein weiterer Höhepunkt, in dessen Folge Sejanus entmachtet wird. Ben Jonson selbst gab als Quellen zu Sejanus His Fall Tacitus’ Annalen und Cassius Dios Historia Romana an.229 Daß Jonson auf eine lateinische und auf eine griechische Quelle zurückgriff, lag an der Problematik, daß die Annalen nicht vollständig überliefert sind. Um auch ein Bild über den letzten Lebensabschnitt Seians zeichnen zu können, mußte Ben Jonson Cassius Dio als zweite Hauptquelle verwenden. Für das Leben des Tiberius wurde Sueton konsultiert, wie man bei Ayres entnehmen kann.230
226 227
228 229 230
goes some way towards confirming the view that in Sejanus Jonson has genuinely absorbed the attitude, as well as the materials, of his Tacitan [so im Original] source.« Vgl. Kapitel 2 Anm. 107 und 108. Es scheint demnach keine direkte, offene Kritik am Monarchen stattzufinden. Platz, S. 181. Der betreffende Auszug aus Hugh Hollands Gedicht lautet: »Nor make your selues less honest then you are, / To make our Author wiser then he is: / Ne of such Crimes accuse him, which I dare / By all his Muses sweare, be none of his. / The Men are not, some Faults may be these Times: / He acts those Men, and they did act these Crimes.« Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 215. Vgl. W. F. Bolton (Hrsg.). Ben Jonson, Sejanus His Fall. London: Ernest Benn Ltd. 1966. (The New Mermaids). Vgl. To the Readers, S. 6. Alle Zitate aus dem Text richten sich nach dieser Ausgabe. Vgl. die Ausgabe von Ayres, S. 10. Siehe auch zur ersten Ausgabe Herford, C. H.; Simpson, P. (Hgg.), Ben Jonson. Volumes I & II. The Man and His Work. Oxford: Clarendon Press 1925,
Accusatio und Defensio in Akt III
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Im folgenden werden die rhetorischen Elemente in Sejanus His Fall analysiert. Ausgewählt wurden die Prozesse gegen Silius und gegen Cremutius Cordus im dritten Akt, sowie der Tiberius-Brief im fünften Akt, da diese alle längere zusammenhängende Passagen und Kernpunkte der Handlung umfassen.
4.2
Accusatio und Defensio in Akt III
Auf dem Weg an die Spitze des Staates hat Sejanus einige Hindernisse zu bewältigen. Im zweiten Akt bespricht Sejanus mit Tiberius, welcher Römer ihnen gefährlich werden könnte. Auf Tiberius’ Frage »But, who shall first be struck?« (II,2,285) bestimmt Sejanus die Liste derer, welche aus dem Weg geräumt werden sollen, darunter »First, Caius Silius; / He is the most of mark, and most of danger.« (II,2,285ff.) oder »And there’s Arruntius too, he only talks. […] Then, is there one Cremutius / Cordus, a writing fellow, they have got / To gather notes of the precedent times, / And make them into annals; […].« (II,2,299ff.).
4.2.1 Prozeß gegen Silius Mit dem Entschluß Silius zu stürzen, überredet Sejanus Varro, er solle die Anklage gegen Silius führen (III,1,1–8): »’Tis only you must urge against him, Varro; […] Here be your notes, what points to touch at; read: Be cunning in them. Afer has them too.«
Wie anhand seiner Frage, »but he is summoned?«, deutlich wird, erscheint ihm diese Methode anfangs eher unorthodox. Jedoch gelingt es Afer und Sejanus, ihn letztlich für ihre Sache einzunehmen: »[…] It was debated By Caesar, and concluded as most fit To take him unprepared.« (III,1,10f.)
Den Auftakt des Silius-Prozesses kündigt das aside, »Now, Silius, guard thee; / The curtain’s drawing. Afer advanceth« (III,1,153f.), des Arruntius an. Der sich anschließende rhetorische Part kann innerhalb der drei aristotelischen genera eindeutig dem genus iudiciale zugeordnet werden: Wir haben zwei Parteien, S. 35–47. Zur Quellenlage vgl. Herford, C. H.; Simpson, P. (Hgg.), Ben Jonson. Volumes IV, S. 350f., Ben Jonsons eigene Anmerkungen To the Readers. Ayres, Philip J. (Hrsg.). Ben Jonson. Sejanus His Fall. Manchester: Manchester University Press 1990. (The Revels plays).
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Jonson, Sejanus His Fall
welche sich aus Angriff (pars agentis), hier bestehend aus Varro, Afer und Sejanus, und Abwehr (pars recusantis), in diesem Falle Caius Silius, zusammensetzen. Darüber hinaus ist der zu behandelnde Zeitbereich die genus-typische Vergangenheit.231 Afer beginnt ohne jegliche Verzögerung mit der Rede. Ein auffälliges Merkmal ist hierbei, daß diese kein exordium im klassischen Sinne besitzt, welches einen Einstieg in die Rede bietet. Der Grund hierfür liegt darin, daß alle anwesenden Charaktere den Angeklagten Silius bereits kennen. Statt dessen wird der Beginn durch eine narratio substituiert (III,1,156–166): »The triumph that thou hadst in Germany For thy late victory on Sacrovir, Thou hast enjoyed so freely, Caius Silius, As no man it envied thee; nor would Caesar, Or Rome admit, that thou wert then defrauded Of any honours, thy deserts could claim, In the fair service of the Commonwealth: But now, if, after all their loves, and graces, (Thy actions, and their courses being discovered) It shall appear to Caesar, and this Senate, Thou hast defiled those glories, with thy crimes –«
Der positiv anmutende Anfang, der an Silius’ Ruhm von einst erinnert, wird ab der zweiten Hälfte durch die Zäsur mit dem stark adversativen »But now« in Vers 163 und dem Tempuswechsel aufgehoben. Sejanus’ Plan, das Überraschungsmoment zu nutzen, funktioniert, wie man anhand von Silius’ Reaktion »Crimes?« oder »What are my crimes? Proclaim them.« (Vers 168) ersehen kann. Ein Nebeneffekt dieses Plans ist, daß die Rede nicht ein abgetrennter rhetorischer Monolog bleibt, die Opponenten somit keinen durchgehenden Argumentationsstrang formulieren können. Dafür entsteht ein Disput aus Argument und Gegenrede. Silius eröffnet seine – unvorbereitete – recusatio mit rhetorischen Fragen, wie »Am I too rich? Too honest for the times?« (Vers 169) oder »Is my strength / Too much to be admitted? Or my knowledge?« (Vers 171–172), welche auch seine Ratlosigkeit über seine Anklage ausdrücken.232 Dennoch 231 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 88 (§ 144). 232 Vgl. Tac. ann. IV,20 und Suet. III,xlix (49). Ben Jonson stützt sich für Silius’ Aussage auf Tac. ann. IV,20: »Saevitum tamen in bona, non ut stipendiariis pecuniae redderentur, quorum nemo repetebat, sed liberalitas Augusti avulsa, conputatis singillatim quae fisco petebantur. ea prima Tiberio erga pecuniam alienam diligentia fuit.« Vgl. die Übersetzung bei Erich Heller (Hrsg.), S. 311: »Trotzdem stürzte man sich rücksichtslos auf sein Vermögen, aber nicht um den Provinzialen ihr Geld zurückzuerstatten, von denen keiner Ersatzansprüche stellte; vielmehr wurden die Geschenke des Augustus gewaltsam eingezogen, und man berechnete im einzelnen, was der Fiskus zu fordern hatte. Dies war der erste Fall, daß Tiberius für fremdes Geld Interesse zeigte.«
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durchschaut Silius, daß Afer nichts Weiteres ist als ein ›Handlanger‹, der nur als Werkzeug für den Prozeßauftakt benutzt wird: »I tell thee, Afer, with more scorn, than fear: Employ your mercenary tongue, and art. Where’s my accuser?« (III,1,176–178)
Als Antwort gibt sich Varro – der letztlich in Sejanus’ Auftrag handelt233 – als Ankläger des Silius zu erkennen und führt die argumentatio, hier in Form der accusatio, aus. Eine propositio hat Varro bereits in Vers 166 mit »Thou hast defiled those glories, with thy crimes –« zu formulieren versucht. Die Anklagepunkte sind durch Varro äußerst kurz dargelegt (III,1,180–189): »Against the majesty of Rome, and Caesar, I do pronounce thee here a guilty cause, First, of beginning, and occasioning, Next, drawing out the war in Gallia, For which thou late triumph’st; dissembling long That Sacrovir to be an enemy, Only to make thy entertainment more, Whilst thou, and thy wife Sosia polled the province; Wherein, with sordid-base desire of gain, Thou hast discredited thy actions’ worth And been a traitor to the state.«
Varros Anklagepunkte, in denen er Krieg und Plünderung bzw. Veruntreuung staatlicher Gelder anspricht, finden ihren Höhepunkt in der Diffamierung des Silius als Landesverräter. Die recusatio des Silius beschränkt sich vorerst auf die Aussage »Thou liest«, welche auch als eine prägnante, aber nicht ausformulierte propositio aufgefaßt werden kann. Unterstützend für diesen Deutungsansatz ist, daß Varros Lüge noch von Silius in einer recusatio bewiesen werden muß. Die Gegenseite ist nun in der Lage, sich selbst in ein positives Licht zu rücken (captatio benevolentiae) und gleichzeitig der Gegendarstellung des Silius ein schlechtes Fundament zu schaffen. Varro drückt es folgendermaßen aus (III,1,192ff.): »If I not prove it, Caesar, but injustly [so im Original] Have called him into trial, here I bind Myself to suffer, what I claim ’gainst him […].«
Theoretisch kann diese Aussage von den nicht eingeweihten Personen als eine concessio des Varro angesehen werden. Das bedeutet, Silius könnte durchaus ein Argument in seiner Verteidigung vorbringen, welches für die Anklägerpartei ungünstig ist. Wie sich im Verhandlungsverlauf noch herausstellen wird, ist diese 233 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 215.
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concessio Varros durchaus gewollt und diesbezüglich eher als Ironie oder Vorbereitung (praeparatio) auf den weiteren Verlauf des Prozesses anzusehen.234 Varro benutzt dies lediglich aus Gründen der dissimulatio und macht die Verhandlung zu einer ›Show‹, über deren Ausgang Sejanus und er schon längst Gewißheit haben, was zuvor bereits in den Versen 173–175 – »[…] if the name / Of crime so touch thee, with what impotence / Wilt thou endure the matter to be searched?« – durch Afer bekundet worden ist. In seiner Hilflosigkeit wendet sich Silius nun an Kaiser Tiberius mit der Bitte um einen Aufschub des Prozesses bis zum Ablauf der Amtszeit des Klägers. Doch ernüchtert muß sich Silius damit konfrontiert sehen, daß Tiberius, der sich hier gegen Silius wendet, dessen Einwand abweist und die Klage als rechtmäßig anerkennt235: »[…] It hath been usual, And is a right, that custom hath allowed The magistrate, to call forth private men; […].« (III,1,201–203)
Auf hinterlistige Weise setzt Tiberius fest, daß man das Recht des Konsuls nicht schmälern dürfe. Darum werde er nicht in den Prozeß eingreifen, was er mit »I should be silent« (Vers 219) endgültig beschließt. Die Hinterlist liegt jedoch in seiner Formulierung: Politisch geschickt – und nur zum Wohle des Staates – weist er Silius ab, indem er den gegenwärtigen Prozeß als Zivilprozeß auslegt, was wiederum Varro in seinem Amt als Konsul dazu befähigt, nicht nur den Ankläger, sondern auch den Richter in Personalunion zu verkörpern.236 Auch Silius bemerkt das ihm widerfahrende Unrecht, seine Einwände werden überhört, Afer spricht von justice, doch Silius kontert mit seinem Wunsch nach law. Dieses Wortspiel in dem sich zuspitzenden Streit unterstreicht aus Silius’ Perspektive, daß nicht den Gesetzen entsprechend verfahren wird. Somit redet sich Silius in Rage, macht auf die Mißstände, die ungerechte Verhandlung mit »all your unkind handling«, »most unjust presuming, / Malicious, and manifold applying, / Foul wresting, and impossible construction« (Vers 226–229) aufmerksam. Er 234 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 424–426 (§§ 854–856). Für eine praeparatio spricht, daß hier mögliche Gedanken der Gegenpartei, hier des Silius, vorweggenommen werden können. 235 Ben Jonson stützt sich hier auf Tacitus, vgl. Tac. ann. IV,19. 236 Vgl. hierzu Hennig, S. 50: »Die Bitte des Silius, das Verfahren bis zum Ablauf der Amtszeit des Visellius zu verschieben, lehnte Tiberius mit der Begründung ab, man dürfe das Recht des Konsuls nicht schmälern, auf dessen Wachsamkeit sich das Wohl des Staates stütze. Dazu bemerkt Tacitus in bissiger Weise, es sei eine Eigenart des Tiberius gewesen, »scelera nuper reperta priscis verbis obtegere«. Es ist in der Tat wahrscheinlich, daß der Konsul damals nicht mehr das Recht besaß, als Ankläger aufzutreten. In diesem Fall hatte die Forderung des Silius eine gute juristische Grundlage; daß ihr Tiberius nicht stattgab und sich damit entgegen seiner sonstigen Gewohnheit über eindeutige Rechtsvorschriften hinwegsetzte, würde auf eine besondere Bedeutung des Falles hindeuten.«
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weiß genau, daß Tiberius zusammen mit Sejanus hinter der Fassade die Personen sind, die Silius aus dem Weg schaffen lassen: »I can see / Whose power condemns me« (III,1,231–232). Die in Silius schwelende Wut wird auch von seinen Gegnern wahrgenommen, wie etwa durch Afers »He raves, he raves« in Vers 230. Bedingt durch seine Meinungsäußerung zur momentanen Lage in den Versen 225–229 und durch den Disput mit Afer (»Thou durst not tell me so, / Had’st thou not Caesar’s warrant«) urteilt Varro den Silius mit »This betrays his spirit. / This doth enough declare him what he is« (III,1,232–233) bzw. »An enemy to the state« (III,1,234) zum Staatsfeind ab. Zwar gerät Silius zu Recht in Rage darüber, daß ihm, der sich nichts hat zu Schulden kommen lassen, ein solches Unrecht zustößt und ihm dieser ungerechte Prozeß gemacht wird, doch gerade seine an Emotionalität zunehmende Gegendarstellung liefert seinen Gegnern wiederum eine weitere Argumentationsgrundlage. Zum Beispiel weist Silius Varro auf die persönlichen Differenzen beider hin237: »Because I am an enemy to thee, And such corrupted ministers of the State, That here art made a present instrument To gratify it with thine own disgrace« (III,1,235–238)
Von Sejanus wird dies als schwere Beleidigung gegen den Konsul Varro aufgefaßt: »This, to the Consul, is most insolent! / And impious!« Für die pars agentis ist das ein weiterer nützlicher Stein in diesem Mosaik des konstruierten Gerichtsprozesses. Varro, Afer und Sejanus warten nur darauf, daß Silius im unbedachten Redefluß ein Fehler unterläuft. In seiner recusatio fährt Silius nun fort, er wisse um die Verschwörung gegen ihn und wer ihn stürzen wolle238: »Ay, take part. Reveal yourselves. Alas, I scent not your confederacies? Your plots, and combinations? I not know 237 Ben Jonson bezieht sich hier auf Tac. ann. III,43. Bezugnehmend auf den historischen Silius und Varro erläutert Hennig die persönlichen Differenzen zwischen Silius und Varro in dem Schauprozeß, S. 48: »Die wahren Gründe, die Silius ins Verderben gestürzt haben, sind nun schon deutlich geworden. Was folgt, ist nur mehr eine Farce. Die Anklage führte neben anderen der Konsul des Jahres 25, Visellius Varro, unter Vorspiegelung einer vom Vater ererbten Feindschaft (paternas inimicitias obtendens – wie Tacitus sagt), in Wahrheit aber, um Sejan zu seiner Schande eine Gefälligkeit zu erweisen. Nun war es zwischen dem Angeklagten und dem Vater des Anklägers […], anläßlich des Aufstandes des Sacrovir im Jahre 21 zu Auseinandersetzungen um das Oberkommando gekommen, und Visellius Varro der Ältere hatte damals dem jüngeren und energischen Silius den Platz räumen müssen. So war es nun verständlich, daß der Sohn nach einer Gelegenheit suchte, um für die seinem Vater angetane Kränkung Rache zu nehmen.« 238 Vgl. auch Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 216.
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Minion Sejanus hates me; and that all This boast of law, and law, is but a form, A net of Vulcan’s filing, a mere engine, To take that life by a pretext of justice, Which you pursue in malice?« (III,1,240–247)
Durch seine rhetorischen Fragen verdeutlicht er zusätzlich, wie genau er dieses perfide System durchschaut hat und daß Sejanus ein »minion«, ein Günstling, ist. Allerdings begeht Silius schließlich den Fehler, auf den seine Gegner schon so lange gewartet haben: Seine Verteidigung, die Schilderung seiner Taten, wird ihm zum Verhängnis. Seine Gegendarstellung erfordert es logischerweise, daß er sich als pars recusantis ins rechte Licht rückt bzw., wie wir es hier vorfinden, die verfälschte Darstellung richtigstellt. Doch die Parteilichkeit des restlichen Senats hindert ihn, sein benevolum parare vollständig auszuarbeiten. Als historische Tatsache führte er an: »When I have charged, alone, into the troops Of curled Sicambrians, routed them, and came Not off, with backward ensigns of a slave […].« (III,1,260ff.)
Die Verwendung der ersten Person Singular »I« läßt für Varro die Deutung zu, Silius strebe nach alleinigem Ruhm, die Rettung des Imperiums sei einzig sein Verdienst. Jedoch hat Silius schon im Vorfeld, noch vor der Verhandlung, eine für ihn fatale Äußerung getätigt, die nun Afer ab Vers 271ff. gegen ihn anführt: »This well agrees, with that intemperate vaunt, Thou lately made’st at Agrippina’s table, That when all other of the troops were prone To fall into rebellion, only yours Remained in their obedience. You were he, That saved the Empire; […].«
Ben Jonson folgt hier der Darstellung des Tacitus, nach der dies wohl der wahre Grund für den Prozeß gewesen sein soll.239 Da Silius, wie bereits erwähnt, weiß, wer seinen Sturz will, ist es für ihn ebenfalls plausibel, daß diese Verhandlung nur noch ein Schauspiel ist und sein Urteil hintergründig bereits feststeht240:
239 Vgl. Tac. ann. IV,18; vgl. auch Hennig, S. 48: »Außerdem soll er bei Tiberius dadurch schweren Anstoß erregt haben, daß er sich damit brüstete, jener habe seine Herrschaft nur der Tatsache zu verdanken, daß bei den schweren Meutereien des Jahres 14 die unter seinem Kommando stehenden Legionen des obergermanischen Heeres loyal geblieben waren. Tiberius habe sich dadurch persönlich gekränkt gefühlt.« Vgl. auch Anm. 235. 240 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 216 und Baumann, »Die Tragödien Ben Jonsons«, S. 295–318, hier: S. 300.
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»Come, do not hunt, And labour so about for circumstance, To make him guilty, whom you have foredoomed« (III,1,295–297)
Ein letztes Mal richtet er das Wort an Tiberius, wirft ihm in den Versen 300–315 »persönlichen Neid und Mißgunst«241 vor, wie etwa mit »Since I have done thee that great service, Caesar, / Thou still hast feared me; and, in place of grace, / Returned me hatred« (III,1,300–302). Bei genauerer Beobachtung fällt an Silius’ Rede auf, wie Ben Jonson den Fokus verschiebt. War sie noch anfangs eine direkte refutatio, die zu den vorgebrachten Vorwürfen die politische Richtigstellung suchte, so geht ihre Tendenz nun über in eine Abrechnung mit dem Senat und Schmähung des Tiberius. Die conclusio der Ankläger setzt sich aus den Aussagen des Varro, Afer, Latiaris und Sejanus zusammen. Latiaris fordert in Vers 317 mit »Let him be censured« dazu auf, den Silius endlich zu verurteilen. Sejanus stimmt dieser Aufforderung mit »He hath spoke enough to prove him Caesar’s foe« (III,1,318) und »A censure« (III,1,319) zu. Zu einem Urteilsspruch kommt es jedoch nicht. Der Angeklagte kommt dem Senat zuvor, richtet seine letzten Worte als Kritik an Tiberius und den ganzen Senat, bevor er Suizid begeht242: »All that can happen in humanity, The frown of Caesar, proud Sejanus’ hatred, Base Varro’s spleen, and Afer’s bloodying tongue, The Senate’s servile flattery, and these Mustered to kill, I am fortified against; And can look down upon: they are beneath me. It is not life whereof I stand enamoured: Nor shall my end make me accuse my fate. […] Romans, if any here be in this Senate, Would know to mock Tiberius’ tyranny, Look upon Silius, and learn to die.« (III,1,326–339)
Obwohl Sejanus, Varro und Afer die Anklage gegen Silius einleiten, also die pars agentis sind, ist ihr Redepart im direkten Vergleich mit dem des Angeklagten äußerst klein. Eine ausführliche Beweisführung seitens der Ankläger findet nicht statt, es werden lediglich historische Tatsachen, wenn auch subjektiv, dargestellt und dem Silius als Verbrechen angelastet. Die Ironie besteht darin, daß diese nun als Verbrechen abgeurteilten Taten, wie etwa das Niederschlagen des von Sacrovir verursachten Aufstands in Germanien, damals das Römische Reich beschützt hatten. Der Vorwurf, Silius beanspruche den Ruhm, Rom gerettet zu
241 Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 216. 242 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 216–217.
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haben, für sich allein, wäre der einzige Grund für eine Verurteilung.243 Silius’ Niederlage begründet sich weiterhin in den opportunistischen Charakterzügen der Senatoren, der nicht wagt, sich Tiberius und dessen Prätorianerpräfekten Sejanus in den Weg zu stellen. Sein einziger Ausweg aus der aussichtslosen Situation dieses Standgerichts ist der Freitod, den ihm seine virtus als ehrenvoller römischer Bürger weist. Er bleibt sich und seiner Meinung durch den Suizid treu.
4.2.2 Anklage gegen Cremutius Cordus Nachdem Silius unschädlich gemacht wurde, wird nun, Sejanus’ Planung folgend, dem Geschichtsschreiber Cremutius Cordus der Prozeß gemacht. Seine bestellten Ankläger sind Satrius Secundus und Pinnarius Natta, wie den Versen 374–375 entnommen werden kann.244 Die Rede der Ankläger, die sich die narratio teilen, besitzt nicht alle partes orationis. Ben Jonson erweckt hier den Eindruck, die Prozesse, besonders der aktuelle, seien unter Zeitdruck geführt, als könnten Sejanus und seine Mitläufer das Ende gar nicht abwarten. Satrius eröffnet den Prozeß, ohne Umschweife in Form eines exordiums, direkt mit einer gekürzten Form der narratio.245 Ihr erster Teil äußert sich in einem direkten Angriff (»I do accuse thee here, Cremutius Cordus«) auf Cordus in Vers 379ff. Die Beweggründe der Anklage werden schnell aufgelistet: Cremutius Cordus sei »a man facticious, and dangerous«, ferner »a sower of sedition in the State«, »a turbulent, and discontented spirit«, und zusätzlich wird noch behauptet: »The annals thou hast published; where thou bite’st / The present age, and with a viper’s tooth, […]«.246 Das Schema ist altbekannt, erinnert es doch sehr an den kurzen Prozeß gegen Silius. Damit diese Vorwürfe nicht im luftleeren Raum schweben, will Satrius deren Grundlage mittels Cordus’ Schriften nachweisen (III,1,383f.): »Which I will prove from thine own writings, here, / The annals thou hast published […]«. Gleichzeitig impliziert diese Aussage durch »I will prove«, 243 Die Ankläger können ihm superbia und ambitio als Laster vorwerfen. 244 Vgl. in III,1,376f. den Kommentar des Arruntius: »Two of Sejanus’ blood-hounds, whom he breeds / With human flesh, to bay at citizens.« 245 Das exordium kann hier wegfallen, da Cremutius Cordus den Anwesenden bekannt ist und nicht noch einmal besonders vorgestellt werden muß. 246 Vgl. zur Anklage gegen Cremutius Cordus auch Platz, S. 182: »Wie umsichtig der Dichter seinen antiken Stoff für die Kritik an seiner Zeit zurechtschnitt, läßt sich am deutlichsten aus seiner Behandlung der Figur des Cremutius Cordus ersehen. Der historische Cordus wurde von den Gefolgsleuten des Sejanus wegen Verrats angeklagt, weil er sich als Historiker mit einer früheren Zeit beschäftigt hatte. […] Weder für dieses Urteil noch für die spätere Anklage des Cordus im III. Akt findet sich in den antiken Quellen eine Vorlage.« Ferner heißt es auf S. 183: »Die von Jonson selbst formulierten aufmerksamkeitserregenden Anklagepunkte gegen Cordus sind subtilerweise ganz auf die bei Tacitus überlieferte Verteidigungsrede des historischen Cordus vor dem römischen Senat abgestimmt.«
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daß eine präzisere argumentatio – hier in Form einer accusatio – folgen wird. Der äußerst invektiv gestalteten narratio schließt sich Natta an, fügt jedoch ein Beispiel aus Cordus’ Werk hinzu: »[…] comparing men, And times, thou praisest Brutus, and affirm’st That ›Cassius was the last of all the Romans‹.« (III,1,390–392)
Natürlich löst dieses Zitat des Natta bei Varro und Cotta Entrüstung aus. Afer artikuliert sich hier ein wenig ausführlicher: Sein Beitrag markiert einen Übergang zur argumentatio, in welcher noch einmal konkreter auf die Glorifizierung des Brutus eingegangen wird: »My lords, this strikes at every Roman’s private, In whom reigns gentry, and estate of spirit, To have a Brutus brought in parallel, A parricide, an enemy of his country, Ranked, and preferred to any real worth That Rome now holds. This is most strangely invective.« (III,1,394–399)
Im Gegensatz zu Satrius und Natta, die ihr Wort direkt an bzw. gegen Cremutius Cordus richten, wendet sich Afer zunächst an die übrigen Anwesenden mit »My lords«, am Ende seiner Wortmeldung richtet er das Wort explizit an Tiberius. Die dabei verwendete Wiederholung von Nattas Anklagepunkt dient dem Zweck, die Senatoren zu überreden. Ferner will Natta dem Tiberius damit verdeutlichen, Cremutius Cordus verleugne durch seine einstige Meinungsäußerung »Cassius was the last of all the Romans« seinen Kaiser, was nach Ansicht von Satrius, Natta und Afer einer Majestätsbeleidigung gleichzusetzen ist. Der Irrsinn dieser Anklage spiegelt sich in der Gleichsetzung der Vergangenheit mit der Gegenwart – eine zeitliche Differenz von ungefähr 67 Jahren247 – wider. Zwar ist es für die römische Geschichtsschreibung nicht ungewöhnlich, daß Personen wie Brutus stets funktionalisiert wurden, doch gerade in diesem Abschnitt des Dramas wird eine derartige Funktionalisierung negativ ausgelegt. Weil Cordus den Brutus und Cassius in seinen Werken behandelt und aus Sicht der Ankläger – ohne, daß jene Brutus’ und Cassius’ Beweggründe miteinbeziehen – in ein positives Licht gerückt hat, gilt er als nicht loyal.248 Auf persuasive Art wird von Cordus das Bild eines politischen Feindes gezeichnet. 247 Geschätzt ist hier vom Todesjahr des Brutus und des Cassius, 42 v. Chr. (Schlacht bei Philippi) bis zum Todesjahr des Aulus Cremutius Cordus, ca. 25 n. Chr. 248 Platz weißt auf eine doppelte Funktion der in den Anklagepunkten enthaltenen Rhetorik hin, S. 184: »Er verschlüsselt in den gegen Cordus erhobenen Anklagepunkten die listige Aufforderung an sein Publikum, Vergangenheit und Gegenwart nebeneinander zu sehen, zieht sich aber dann hinter die Worte des historischen Cordus zurück, der harmlos fragt, warum man denn an der Beschäftigung mit der Vergangenheit Anstoß nehme.«
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Doch Tiberius will die Rechtfertigung des Angeklagten hören. Anders als Silius, dessen Emotionen in seine Verteidigung mit einflossen, erscheint Cordus’ Verteidigungsrede nüchterner und ausgeglichener formuliert. Sehr subtil eröffnet er seine Gegenargumentation mit »So innocent I am of fact, my lords, / As but my words are argued«.249 Er hat es richtig erkannt: Nicht für etwaige strafbare 249 Die Verteidigungsrede des Cremutius Cordus basiert auf Tacitus (Tac. ann. IV,34–35) und ist im Grunde eine Übersetzung des lateinischen Originals. Vgl. Tac. ann. IV,34,2–35,3: »Verba mea, patres conscripti, arguuntur: adeo factorum innocens sum. sed neque haec in principem aut principis parentem, quos lex maiestatis amplectitur: Brutum et Cassium laudavisse dicor, quorum res gestas cum plurimi composuerint, nemo sine honore memoravit. Titus Livius, eloquentiae ac fidei praeclarus in primis, Cn. Pompeium tantis laudibus tulit, ut Pompeianum eum Augustus appellaret; neque id amicitiae eorum offecit. Scipionem, Afranium, hunc ipsum Cassium, hunc Brutum nusquam latrones et parricidas, quae nunc vocabula imponuntur, saepe ut insignis viros nominat. Asinii Pollionis scripta egregiam eorundem memoriam tradunt; Messala Corvinus imperatorem suum Cassium praedicabat: et uterque opibusque atque honoribus perviguere. Marci Ciceronis libro, quo Catonem caelo aequavit, quid aliud dictator Caesar quam rescripta oratione, velut apud iudices, respondit? Antonii epistulae, Bruti contiones falsa quidem in Augustum probra, set multa cum acerbitate habent; carmina Bibaculi et Catulli referta contumeliis Caesarum leguntur: sed ipse divus Iulius, ipse divus Augustus et tulere ista et reliquere, haud facile dixerim, moderatione magis an sapientia. namque spreta exolescunt: si irascare, adgnita videntur. Non attingo Graecos, quorum non modo libertas, etiam libido impunita; aut si quis advertit, dictis dicta ultus est. sed maxime solutum et sine obtrectatore fuit prodere de iis, quos mors odio aut gratiae exemisset. num enim armatis Cassio et Bruto ac Philippensis campos optinentibus belli civilis causa populum per contiones incendo? an illi quidem septuagesimum ante annum perempti, quo modo imaginibus suis noscuntur, quas ne victor quidem abolevit, sic partem memoriae apud scriptores retinent? suum cuique decus posteritas rependit; nec derunt, si damnatio ingruit, qui non modo Cassii et Bruti, sed etiam mei meminerint.« In der deutschen Übersetzung nach Heller (Hrsg.), S. 327–329: »Meine Worte, Senatoren, werden mir vorgeworfen: so sehr bin ich in meinen Handlungen schuldlos. Aber auch jene richten sich nicht gegen den Princeps oder den Vater des Princeps, fu¨ r die das Majestätsgesetz gilt: Brutus und Cassius habe ich gepriesen, sagt man, deren Taten, so viele sie auch dargestellt haben, niemand ohne ehrende Anerkennung erwähnt hat. Titus Livius, wegen seiner Beredsamkeit und Ehrenhaftigkeit hochberühmt vor allen, hat Cn. Pompeius mit so hohem Lob bedacht, daß ihn Augustus einen Pompejaner nannte; doch hat dies ihrer Freundschaft nicht geschadet. Scipio, Afranius, eben diesen Cassius, diesen Brutus nennt er nirgends als Räuber und Hochverräter – diese Bezeichnungen legt man ihnen heute bei) vielmehr oft als ausgezeichnete Männer. Asinius Pollios Werke übermitteln für die gleichen ein sehr ehrenvolles Erinnerungsbild; Messala Corvinus rühmte Cassius als seinen Imperator: und beide blieben im Genuß ihres Reichtums und ihrer Ehrenämter. Wie hat auf Marcus Ciceros Buch, in dem er Cato in den Himmel erhob, der Diktator Caesar geantwortet? Nicht anders als mit einer Gegenschrift), wie vor Gericht! Des Antonius Briefe, des Brutus Volksreden enthalten Vorwu¨ rfe gegen Augustus, die zwar falsch, aber von großer Erbitterung getragen sind; in den Gedichten des Bibaculus und Catullus kann man eine Fülle von Schmähungen der Caesaren) lesen: aber selbst der go¨ ttliche Iulius, selbst der go¨ ttliche Augustus haben diese Angriffe hingenommen und unbeanstandet durchgehen lassen – ich mo¨ chte nicht leichthin entscheiden, ob eher aus Ma¨ ßigung oder politischer Einsicht. Denn Dinge, die man nicht beachtet, verlieren ihre Bedeutung: wenn man aber in Zorn gera¨ t, sieht es aus, als erkenne man ihnen eine Berechtigung zu. Ich gehe nicht ein auf die Griechen, bei
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Taten, sondern für seine Autorentätigkeit wird er angeklagt. Doch er macht nachfolgend in III,1,408–410 überaus deutlich, daß seine Bücher sich weder auf Tiberius noch auf dessen Stiefvater beziehen. Ein weiterer Zweig seiner refutatio baut auf die Heranziehung von exempla auf, die zu den künstlichen Beweisen gezählt werden250. Einleitend greift er den Anklagepunkt auf, denn auch andere Autoren haben ehrenvoll über Brutus und Cassius geschrieben. Die latente Andeutung der pars agentis, Cordus habe als einziger Autor positiv berichtet, wird vom Angeklagten in Form mehrerer exempla entkräftet: Als erstes Beispiel führt Cordus Titus Livius an, der Cassius und Brutus als »worthi’st men« bezeichnet haben soll. Zusätzlich sagt Cordus: »As oft Augustus called him a Pompeian: / Yet this not hurt their friendship.« (III,1,417– 418). Folglich konnte zwischen Livius und Augustus trotz unterschiedlicher Auffassung eine Freundschaft bestehen, etwas, was in der Zeit des Tiberius undenkbar scheint. Cordus entlarvt die in Rom vorherrschende Politik: Entweder man ist für den Kaiser oder gegen ihn. Die Werke des Asinius Pollio sowie die Epigramme von Bibaculus und Catull zieht Cremutius Cordus als weitere Beispiel heran, die parallel zum ersten konstruiert sind. Politisch erweist sich Cordus nicht unbedingt als der absolute Gegner des Tiberius. Schrittweise gelingt ihm durch politische Gegendarstellung die Entkräftung der gegnerischen Argumentation. Immer weiter wird die refutatio mit Beispielen von Cicero, Cato, Catull, Julius Caesar und Augustus ausgefeilt. In seinem Übergang zur conclusio schließt er seine refutatio wieder mit dem exemplum von Brutus und Cassius, welches hier in Frageform zur endgültigen Widerlegung seiner Schuld Anwendung findet: »Did I, with Brutus, and with Cassius, Armed, and possessed of the Philippi fields, Incense the people in the civil cause, With dangerous speeches? or do they, being slain Seventy years since, as by their images
denen nicht nur Freiheit, sondern auch Frechheit unbestraft blieb; oder wenn jemand solches ahndete, vergalt er Worte mit Worten. Aber vo¨ llig straflos und unangefochten blieb, was man u¨ ber Ma¨ nner a¨ußerte, die der Tod dem Haß oder der Gunst entzogen hatte. Rufe ich etwa, weil Cassius und Brutus unter Waffen stehen und die Ebenen von Philippi besetzt halten, in o¨ ffentlichen Reden das Volk zum Bu¨ rgerkrieg auf ? Oder sind jene Männer nicht vielmehr an die siebzig Jahre tot, und du¨ rfen sie nicht, wie man sie von ihren Bildnissen kennt, die nicht einmal der Sieger beseitigen ließ, einen Teil ihres Andenkens bei den Geschichtsschreibern behaupten? Jedem wa¨gt die Nachwelt das gebu¨ hrende Maß an Ehre zu; und es wird nicht an Leuten fehlen, die sich, wenn mich der Urteilsspruch trifft, nicht nur des Cassius und Brutus, sondern auch meiner erinnern werden.« Vgl. auch Baumann, »Politische Kunst I«, S. 101–131, hier: S. 128. 250 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 227–228 (§ 410).
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(Which not the conqueror hath defaced) appears, Retain that guilty memory with writers?« (III,1,449–455)
Durch die rhetorische Frage, ob er etwa mit Brutus und Cassius in gefährlichen Reden (»with dangerous speeches«) die Menschen angestachelt habe, weist er jedwede Mitschuld an den Vergehen der Vergangenheit entschieden von sich. In einer knappen conclusio bringt er die Quintessenz der Beispiele auf den Punkt »Posterity pays every man his honour« (Vers 456). Von Sabinus erhält Cordus mit »With good temper, / I like him, that he is not moved with passion« positive Kritik zu seiner Verteidigungsrede. Arruntius erkennt die argumentativ bessere Qualität der Cordus-Rede als die der Ankläger: »He puts ’em to their whisper.« (III,1,463). Leggatt beschreibt die Qualität der Rede folgendermaßen: »The historian Cordus – significantly, a spokesman for culture and free speech in a dark age – does more. The eloquence of his defence seems to cow his accusers […] and though his books are burned action against the man himself is postponed.«251
Ein Urteil wird nicht gefällt, statt dessen läßt ihn Tiberius in Gewahrsam nehmen und ordnet an, daß in der nächsten Sitzung eine Entscheidung getroffen werde. Cotta gibt vorsorglich die Order, alle Bücher des Cordus verbrennen zu lassen. Tatsächlich ist dies der letzte Auftritt von Cremutius Cordus in Sejanus. Daß auch sein Leben ein verfrühtes Ende fand, läßt sich nur in Sejanus’ Monolog (V,3,245–247) erahnen: »Laid Silius, and Sabinus, two strong oaks, Flat on the earth; besides, those other shrubs, Cordus, and Sosia, Claudia Pulchra, Furnius, and Gallus, which I have grubbed up.«
Die Todesart wird von Ben Jonson nicht mehr erläutert. Zwar bezieht er sich im dritten Akt weitgehend auf Tac. ann. IV,34–35, doch den Hungertod des Cremutius Cordus läßt er im Drama aus, der bei Tacitus nach dem Ende der Rede mit »Egressus dein senatu vitam abstinentia finivit« kurz genannt wird.252
4.3
Tiberius’ Brief (V,6)
Den dramatischen Höhepunkt und somit die Wende für Sejanus’ politische Karriere bildet der Brief des Tiberius. Die Vorgeschichte, d. h. die Planung zum Sturz des Sejanus beginnt bereits im dritten Akt. In III,2,647–649 erfährt der
251 Leggatt, Ben Jonson. His vision and his art, S. 143. 252 Meine Übersetzung: »Danach ging er aus dem Senat und beendete sein Leben durch Hungern.«
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Zuschauer von Tiberius’ Hinterlist, als dieser nach Macro rufen läßt, um diesen als seine rechte Hand für seinen Gegenschlag einzubinden: »’Tis thought – is Macro in the palace? See: If not, go, seek him, to come to us – He Must be the organ, we must work by now […].« (III,2,647–649)
Daß Tiberius auch hier nicht besonders am Menschen Macro gelegen ist, ihn nur als Mittel zum Zweck betrachtet, läßt sich an »organ« herauslesen. Für Macro scheint dies zunächst nicht wichtig zu sein, denn er ist jetzt in der mächtigen Position, Sejanus zu stürzen (III,2,744–749)253: »If then it be the lust of Cæsar’s power, T’have raised Sejanus up, and in an hour O’erturn him, tumbling, down, from height of all; We are his ready engine: and his fall May be our rise. It is no uncouth thing To see fresh buildings from old ruins spring.«
Unschwer ist zu erkennen, daß auch Macro sich einen Vorteil – »and his fall / May be our rise« (III,2,747f.) – durch Sejanus’ Fall erhofft.254 Macro und vor allem Tiberius wissen, daß Sejanus seiner Hybris verfallen nach noch mehr Macht strebt. So kommt es, daß Macro plangemäß Sejanus aufsucht und ihm vortäuscht, Tiberius werde ihm in der bevorstehenden Senatssitzung Tribunizische Gewalt verleihen255: »[…] That which follows, The tribunicial dignity, and power: Both which Sejanus is to have this day Conferred upon him, and by public Senate.« (V,4,362–365)
253 Interessant ist hier die Metapher des Rads der Fortuna: Sejanus’ Sturz ist Macros Aufstieg. 254 Vgl. auch Leggatt, Ben Jonson. His vision and his art, S. 1, mit folgender treffender Aussage: »The Rome of Sejanus is dominated by power games, as characters work for control over each other’s lives, or for the protection of their own.« Vgl. auch Fricker, »Caesarenbilder im älteren englischen Schauspiel«, S. 26–43, Frickers Ausdruck für Macro auf S. 34: »Kreatur«. Vgl. Miller, »The Roman State in Julius Caesar and Sejanus«, S. 179–201, hier: S. 190: »The man Sejanus likewise falls, but the imperial favouritism, treachery and injustice of which he is one embodiment merely transfer themselves to the person of Macro, and Macro’s rise in the latter part of the play leaves things essentially unchanged, or else changed for the worse.« 255 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 222. Vgl. auch bei Baumann, »Die Tragödien Ben Jonsons«, S. 295–318. Hier: S. 302. Die Handlungsweise des Tiberius und des Macro zeigt hier machiavellistische Methoden. Für Tiberius heiligt der Zweck, unangetasteter Kaiser zu sein, die Mittel. Für Macro ist das die Gelegenheit auf ethisch unfeine Art, Sejanus’ Nachfolger im Amt zu werden. Vgl. auch Boughner, »Sejanus and Machiavelli«, S. 81–100, hier: S. 99: »[…] is is Macro whose ominous action symbolizes the impending trap: he orders the doors of the temple closed.«
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Die Senatssitzung findet im Tempel des Apollo statt, Tiberius ist zum Zeitpunkt des Verlesens seines Briefes abwesend. Der Inhalt ist ein scheinbares Lob auf Sejanus, der anstelle des Kaisers das Staatsgeschehen zu lenken suchte und nun meint, Tiberius habe diesen Brief geschrieben, um ihn zu befördern.256 Doch im Verlauf des Briefes wird aus der vermeintlichen laudatio bzw. Beförderung eine Amtsenthebung. Die Redeteile sind hierbei so stark miteinander verknüpft, daß man sie kaum voneinander trennen kann. Das exordium – sofern dieser Begriff verwendet werden kann, da es keine Rede im eigentlichen Sinne ist – des in Prosa verfaßten Briefes beginnt nach dem klassischen, schematischen Eröffnungsmuster für Briefe: Tiberius grüßt die Conscript Fathers und teilt knapp mit, daß es ihm gut gehe: »Tiberius Cæsar to the Senate, greeting. / If you, Conscript Fathers, with your children be in health, it is abundantly well: we with our friends here, are so.« (V,6,543–545). Bei seiner Begrüßung geht er nicht nur auf die Conscript Fathers ein, sondern auch auf deren Kinder. Das Wohlergehen beider scheint ihm am Herzen zu liegen. Für die Intention seiner Rede kann das nur bedeuten, daß Tiberius sich hier des benevolum parare – die Zuhörer, in diesem Falle die Senatoren, sollen ihm gegenüber wohlwollend sein – und attentum parare bedient.257 Sofort nach dieser Begrüßung wendet sich Tiberius seinem Anliegen, »the care of the commonwealth«, zu. Bereits hier deutet er mit »[even to princes most present,] the truth of their own affairs is hid« (V,6,548f.) unterschwellig Sejanus’ Machenschaften an. Auch schränkt er in dem angeschlossenen Nachsatz – »than which, nothing falls out more miserable to a state, or makes the art of governing more difficult« – die Qualität der Regierung ein und fällt mit »nothing […] more miserable« ein sehr negatives Urteil. Daß Tiberius sich aus dem Staatsgeschehen und auf die Insel Capri zurückgezogen hat, kann auch er nicht leugnen, da alle in der Versammlung Anwesenden um diesen Sachverhalt wissen. Er kann nur versuchen, sein Verhalten zu entschuldigen bzw. zu begründen, was er in den 256 Als Quelle für den Brief des Tiberius hat Ben Jonson auf die Überlieferung Suetons (Suet. III,65) zurückgegriffen: »Seianum res novas molientem, quamvis iam et natalem eius publice celebrari et imagines aureas coli passim videret, vix tandem et astu magis ac dolo quam principali auctoritate subvertit.« Vgl. die Übersetzung von Otto Wittstock, S. 229: »Den auf Umsturz sinnenden Seianus brachte er, obwohl er sah, daß dessen Geburtstag bereits öffentlich gefeiert und überall goldene Standbilder von ihm verehrt wurden, erst spät und mit Mühe zu Fall, eher durch Verschlagenheit und List als durch seine kaiserliche Autorität.« Vgl. auch Fricker, »Caesarenbilder im älteren englischen Schauspiel«, S. 26–43. Hier: S. 34: »Im fünften Akt zieht sich das Netz um Sejanus zusammen; aber Macro wiegt ihn in Sicherheit, so daß er in der Schlußszene, als designierter Tribun, im Zustand der Hybris vor den Senat tritt. Nun läßt Macro das doppelzüngige Schreiben des Kaisers verlesen, während die Senatoren bald von Sejanus wegrücken, bald sich ihm wieder nähern, bis er sich seiner Ämter entkleidet und der Gerichtsbarkeit eines feindlichen Senats überantwortet sieht.« 257 Zum attentum parare vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 152 (§ 271) und zum benevolum parare S. 156 (§ 273).
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Versen 550–554 auch macht. Die zuvor negative Äußerung bekommt durch das einleitende »But« in Vers 550 ein Gegengewicht und wird durch die Worte »it hath been our easeful happiness to enjoy both the aids and industry of so vigilant a Senate« unterstützt. Tiberius ist demnach äußerst zufrieden, daß sein Senat so arbeitsam war. Das heißt, weil der Senat ›regierte‹, war Tiberius in der Lage, wie er auch zugibt (»we profess«), seiner Muße nachzugehen (»to have been the more indulgent to our pleasures«). Damit er nicht als wenig pflichtbewußter Regent erscheint, sondern noch einmal zur Schau stellen kann, daß der Senat sein vollstes Vertrauen genießt und die Aufgaben zu seiner Zufriedenheit erfüllt hat, schließt er mit »[…] not as being careless of our office, but rather secure of the necessity« (V,6,553–554).258 In den beiden folgenden durch »Neither […] – Nor […]« eingeleiteten Sätzen versucht Tiberius, die »common rumours of many and infamous libels« mit Gleichgültigkeit zu übergehen (»Neither do these […] afflict us«). Interessanter ist jedoch, daß er im Nor-Satz behauptet, eine Politik der freien Meinungsäußerung zu vertreten: »[…] since in a free state (as ours) all men ought to enjoy both their minds, and tongues free.«259 Diese Aussage steht im direkten Gegensatz zu den Praktiken, die in den vorherigen Akten ausgeführt wurden. Zur bekannten gesellschaftlichen Situation in Rom schreibt Leggatt: »His [gemeint ist Ben Jonson] most scathing depiction of a corrupt society is in Sejanus, where Rome is crawling with spies, where a man’s most casual words can be taken down and used against him, and where books are not read but burned.«260
Nur Arruntius läßt mittels Tiermetaphern durchscheinen, daß er Tiberius und dessen Intention bereits durchschaut hat. Sein aside »The lapwing, the lapwing« in Vers 563 vergleicht Tiberius mit einem Kiebitz, der sich auch einer besonderen Gattung der dissimulatio bedient, um seine Brut zu schützen.261 Daß Tiberius im weiteren Verlauf seines Briefes gerissen vorgeht, läßt uns Arruntius durch ein weiteres aside »A good fox!« (V,6,588) wissen.
258 Strategisch und rhetorisch geschickt wird der wahre Grund für Tiberius’ Rückzug hier verschleiert. Als die wahre Ursache schreibt Leggatt, Ben Jonson. His vision and his art, S. 2f.: »But Tiberius withdraws only to brood over the play more ominously from a distance. And he withdraws in order to play the game of power in its purest form, the creation of a little universe in which he has absolute command.« 259 Ben Jonson bezieht sich hier auf Sueton (Suet. III,28): »Sed et adversus convicia malosque rumores et famosa de se ac suis carmina firmus ac patiens subinde iactabat in civitate libera linguam mentemque liberas esse debere; […]«. In der Übersetzung von Otto Wittstock, S. 203: »Aber auch gegenüber Schmähungen und Gerüchten sowie gegenüber ehrenrührigen Gedichten über sich und seine Famlie blieb er ruhig und gelassen. So äußerte er mehrfach, in einem freien Staat müßten auch Sprache und Denken frei sein.« 260 Leggatt, Ben Jonson. His vision and his art, S. 117. 261 Vgl. die Anmerkung zu V,6,563 bei Bolton, S. 110.
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Bis zum ersten aside von Arruntius allerdings scheint das exordium Elemente der narratio latent anzudeuten, ohne dabei Sejanus zu benennen oder explizit auf ihn zu verweisen. Wollte man daher davon ausgehen, daß eine narratio sich unmittelbar an die Anrede des Briefes anschließt, können wir bei Tiberius konstatieren, daß er sich einerseits glaubwürdig den Senatoren und andererseits in einem positiven Licht – man beachte seine Bemerkung zur freien Meinungsäußerung – präsentieren will. Unter dieser Annahme müßte in der narratio der Zweck des benevolum und attentum parare weiterhin aufrechterhalten werden, was durch positive Attribute in Verbindung mit dem Staat, z. B. »aids and industry – so vigilant a Senate«, auch geschieht. Erst nach Arruntius’ Interjektion »The lapwing, the lapwing« (Vers 563) lenkt Tiberius in der eigentlichen narratio (ab Vers 564) den Fokus auf Sejanus: »True it is, Conscript Fathers, that we have raised Sejanus, from obscure, and almost unknown gentry, to the highest, and most conspicuous point of greatness, and (we hope) deservingly.« (V,6,566–571)
Tiberius spricht sich hierin selbst das Lob zu, Sejanus’ Aufstieg herbeigeführt zu haben – ein Beispiel dafür, welche Macht er als Kaiser besitzt. Dabei benutzt Tiberius Symbole extremen Charakters, wie die Kontrastierung »hoch – tief« in der Form »obscure and almost unknown gentry – the highest and most conspicuous point of greatness«. Des weiteren stellt dieser Kontrast die Macht des Kaisers dar, der einen »Niemand« von unbekannter Herkunft in die höchsten und angesehensten Ämter einsetzen kann. Jedoch sollte man vorsichtig sein und diese Aussage nicht ohne Vorbehalte als rein positiv werten. Die Erinnerung des Senats, Sejanus stamme nicht aus einem patrizischen Familiengeschlecht, kommt einer Bloßstellung gleich, besonders dann, wenn oder weil er eben nicht aus vornehmstem Hause abstammt. Für einen außenstehenden Beobachter verleiht das Adjektiv »unknown« in bezug auf Sejanus’ Herkunft zusätzlich noch eine negative Färbung. Wahrscheinlich wußten die Senatoren auch nicht um Sejanus’ Herkunft, was deren Interjektion »How! How!« in Vers 569 verdeutlicht und das Verlesen des Briefes kurz unterbricht.262 262 Bezüglich Sejanus’ Abkunft bedarf es einiger Erklärung: Über die Familie des historischen Seianus ist durch die antiken Geschichtsschreiber nur wenig bekannt. Die Erkenntnisse, die wir durch Cassius Dio, Sueton, Tacitus und auch Velleius Paterculus erhalten, variieren zum Teil, so daß sich kein einheitliches Gesamtbild zu Sejanus’ Stammbaum zeichnen läßt. Vgl. hierzu Dieter Hennig, L. Aelius Seianus. Untersuchungen zur Regierung des Tiberius. München: C. H. Beck 1975. (Vestigia. Beiträge zur alten Geschichte Band 21). Väterlicherseits ist fast nichts über Seian bekannt, während man mütterlicherseits von vornehmer Abkunft spricht. Sein Vater, L. Seius Strabo, war Präfekt in Ägypten. Doch einige Inkonsistenzen und Indizien ließen Forscher die These aufstellen, daß der Präfekt Ägyptens nicht mit L. Seius Strabo gleichzusetzen sei, da man nicht sicher sei, daß dieser tatsächlich das Amt ausgeübt habe, wie man bei Dieter Hennig entnehmen kann. Hennig kommt auf Seite 15 zu folgendem
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Das am Satzende befindliche Adverb »deservingly«, welches zusätzlich noch von »and (we hope)« abgetrennt wird, läßt Zweifel aufkommen, ob Tiberius noch vollkommen von Sejanus überzeugt ist. Geht man davon aus, daß Tiberius nicht an Sejanus und dessen Aufstieg zweifelt, müßten sich notgedrungen die Fragen stellen, warum er statt »we hope« nicht ›we know‹ verwendet und das Adverb durch die Konjunktion »and« abtrennt? An dieser Stelle des Briefes klärt Tiberius die Frage nach Sejanus’ Herkunft und seinem Werdegang. Daß bei seiner Ausführung Sejanus regelrecht bloßgestellt wird, ist entweder ein mit der Erläuterung einhergehender Nebeneffekt oder aber berechnendes Kalkül des Tiberius, der lediglich die versammelten Senatoren aufklären will. Zur Thematik des Aufklärens, also docere, können wir bei Lausberg entnehmen: »Das docere […] ist der intellektuelle Weg der persuasio, der besonders in der narratio […] und in der argumentatio […] eingeschlagen wird.«263 Eine Veränderung in Tiberius’ Einstellung gegenüber Sejanus kommentiert Arruntius in Vers 575 mit »This touches, the blood turns«, womit er sich auch auf Tiberius’ letzten Satz, »it being a most bold hazard in that sovereign, who, by his particular love to one, dares adventure the hatred of all his other subjects« bezieht. Tiberius gesteht einen möglichen Fehler, die besondere Begünstigung Sejanus’, ein, nutzt aber auch die Gelegenheit, das benevolum parare bei den Senatoren aufrechtzuerhalten, indem er sagt: »But we affy in your loves, and understandings, and do no way suspect the merit of our Sejanus to make our Ergebnis: »L. Seius Strabo, der Vater Sejans, war zweimal verheiratet, wohl zuerst mit einer Aelia aus der Familie der Aelii Tuberones, aller Wahrscheinlichkeit nach einer Tochter des Juristen Q. Aelius Tubero, und mit einer Iunia, der Schwester des Iunius Blaesius. Dieser Ehe entstammte Sejan. Er wurde dann in die Familie der Aelier adoptiert und nannte sich seither L. Aelius Seianus.« Die Familie der Aelier wiederum war eine plebeische Familie, während seine leibliche Mutter – vertraut man auf Vell. II,127,3 – patrizischer Abstammung war. Übertragen wir nun, im Lichte dieser Erkenntnis angelangt, die komplexe Abstammungsgeschichte auf den Charakter Sejanus im Drama, erhalten wir die Erklärung zu Tiberius’ Aussage. Des weiteren begründet sich die von Erstaunen zeugende Interjektion der Senatoren darin, daß Sejanus ein Amt bekleidet, das ihm seines Standes wegen nicht zusteht. Das Amt des Prätorianerpräfekten war den Angehörigen des equester ordo (also dem Ritterstand) vorbehalten. Einschränkend muß jedoch erwähnt werden, daß Ben Jonson noch auf einem anderen Kenntnisstand war. Es bringt in diesem Rahmen keinen Erkenntnisgewinn, Mutmaßungen hierüber anzustellen. Die Tatsache, daß Sejanus seine Familienverhältnisse nicht an die Öffentlichkeit dringen ließ, bestätigt hier Matthew H. Wikander, »›Queasy to be touched‹: The World of Ben Jonson’s Sejanus«, S. 345–357. Hier: S. 348: »Sejanus, Tiberius, and Macro all act with a view to suppressing uncomfortable memories – wiping out the heirs of Germanicus, slandering Silius, burning Cordus’ [so im Original] histories.« Das Verheimlichen von Sejanus’ Abstammung würde sich hervorragend in diese Aufzählung einreihen. Vgl. auch Boughner, »Sejanus and Machiavelli«, S. 81–100, hier: S. 99. 263 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 140 (§ 257.1). Vgl. auch S. 182 (§ 326): »Die sich an das natürliche Wahrheitsbedürfnis des Richters wendenden psychologischen Mittel (docere; s. § 257) bearbeiten besonders das Unterbewußtsein des Publikums.«
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favours offensive to any.« Tiberius erweckt den Eindruck, Sejanus habe sich zu Recht verdient gemacht und durch sein Verdienst womöglich auch Neider aufkommen lassen.264 Eine argumentatio, die noch einmal genauer die Aufklärung der Anwesenden unternimmt, kristallisiert sich ab Vers 580 heraus. Eingeleitet wird sie mittels »’Though« und bildet damit ein adversatives Verhältnis zur vorangegangenen Aussage des Tiberius. Zwar ist Sejanus durch seine Leistung (»merit«) herausragend gewesen, dennoch suggeriert Tiberius mit »’Though we could have wished his zeal had run a calmer course against Agrippina, and our nephews, […]«, daß der Prätorianerpräfekt von einem gewissen Übereifer angetrieben worden ist, welcher nicht immer – was aus dem Prädikat »could have wished« hervorgeht – eine optimale Lösung für den Princeps darbot. Der sich hinter dem Adverb »howsoever« anschließende Hauptsatz – »[…] the openness of their actions, declared them delinquents« – verkommt dabei lediglich zu einer nebensächlichen Erklärung für das ›Verbrechen‹ Agrippinas und des Neffen des Tiberius. An diesen Satz knüpft sich durch »and« der nächste Kritikpunkt (V,6,582ff.) an Sejanus: »[…] and, that he would have remembered, no innocence is so safe, but it rejoiceth to stand in the sight of mercy […]«. Ein weiteres Indiz dafür, daß Milde bei Sejanus eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat und diese Vorgehensweise nicht Tiberius’ Sinne entsprach, wie Vers 585 (»as now our clemency would be thought but wearied cruelty«) impliziert.265 Bei seiner Ausführung ist Tiberius bemüht, sich von Sejanus abzusetzen, häufiger nutzt er die Gegenüberstellung »he – we« bzw. »his – our«. Arruntius, der Tiberius’ Wandel kommentiert, symbolisiert ihn nun als »good fox«, was die besondere List des Tiberius betont. Tiberius fährt mit seinen Beispielen fort, redet den Anwesenden durch »Some there be that […]« eine negative Auslegung von Sejanus’ Taten ein. Dessen »public severity« sei »ambition«, er beseitige ihm hinderliche Personen (»his own lets«) unter dem Tarnmantel seines Amtes (»a pretext of service to us«). Die der Überredung dienenden exempla vollziehen in ihrer Aufzählung einen Wandel von eher öffentlichen zu privaten, d. h. Tiberius’ Familie betreffenden, Handlungen: »[…] by the offices he holds himself, and confers on others, his popu264 Vgl. Baumann, »Die Tragödien Ben Jonsons«, S. 295–318, hier: S. 302, um einen Erklärungsansatz, warum Tiberius recht langsam die Falle für Sejanus aufbaut: »Umsicht und sorgfältige Planung sind denn auch von nöten, zu mächtig ist Seian bereits geworden; der gesamte Senat und vor allem die Prätorianer sind zu seinen diensteifrigen Werkzeugen entartet (IV,4,455–459).« 265 Vgl. die Reminiszenz an Senecas De Clementia (I,1,9): »[…] nec est quisquam, cui tam valde innocentia sua placeat, ut non stare in conspectu Clementiam paratam humanis erroribus non gaudeat.« Vgl. auch die Übersetzung von Manfred Rosenbach (Hrsg.), S. 9: »Niemandem gefällt sein makelloser Charakter so sehr, daß er nicht Freude daran hätte, im Angesicht der Milde zu stehen, die nachsieht den menschlichen Irrtümern.« Vgl. auch Ayres, S. 244.
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larity, and dependants, his urging (and almost driving) us to this our unwilling retirement, and lastly his aspiring to be our son-in-law.« (V,6,591–597). Negativ konnotiertes Vokabular – »his public severity«, »particular ambition«, »pretext of service«, »lets«, »faction in Court, and Senate«, »urging (and almost driving) us« und »his aspiring« – wird vermehrt genutzt, um ein negatives Bild von Sejanus zu zeichnen. Die Senatoren kommentieren dies mit einem »This’s strange!«, da erst jetzt Hintergrund und Wahrheit über Sejanus’ Machenschaften an die Öffentlichkeit dringen. Eine weitere Tücke, neben dem benevolum parare, ist die Hörerlenkung durch Suggestion einer veränderten Bewertung Sejanus’ (V,6,600– 603): »Your wisdoms, Conscript Fathers, are able to examine, and censure these suggestions. But, were they left to our absolving voice, we durst pronounce them, as we think them, most malicious.«
Tiberius überträgt zwar die Beurteilung des Sejanus auf die Senatoren, doch beeinflußt er sie in ihrer Urteilsfähigkeit durch das Einbringen seiner eigenen Meinung, wie durch den Superlativ »most malicious«. Den Gipfel bei der Schilderung von Sejanus’ ›Strafkatalog‹ erreicht Tiberius in Vers 606f. mit »What we should say, or rather what we should not say, lords of the Senate, if this be true, our gods, and goddesses confound us if we know!«, indem er seiner Verzweiflung Ausdruck verleiht. Ben Jonson schöpft hier wortwörtlich aus den Annalen des Tacitus (Tac. ann. VI,6,1) und der Tiberiusvita des Sueton (Suet. III,67,1).266
266 Vgl. Tac. ann. VI,6,1: »Insigne visum est earum Caesaris litterarum initium; nam his verbis exorsus est: ›quid scribam vobis, patres conscripti, aut quo modo scribam aut quid omnino non scribam hoc tempore, di me deaeque peius perdant quam perire me cotidie sentio, si scio.‹« Vgl. die Übersetzung bei Erich Heller (Hrsg.), S. 393: »Eigenartig erschien der Anfang dieses Briefes des Kaisers; denn er begann mit folgenden Worten: ›Was ich euch schreiben soll, Senatoren, oder wie ich schreiben soll, oder was ich überhaupt nicht schreiben soll in diesem Augenblick – die Götter und Göttinnen mögen mich noch ärger zugrunde richten, als ich täglich meinen Untergang spüre, wenn ich das weiß!‹« Ben Jonson ändert hier die Reihenfolge aus seinen Quellen (Tac. ann. VI,6,1 und Suet. III,65,1) ab. Während bei Tacitus und Sueton diese Passage eines Tiberiusbriefes den Anfang markiert, positioniert Ben Jonson diese im Drama in die Mitte des Briefes. Vgl. Erich Koestermanns Tacituskommentar, Band II S. 250, der einige Verständnishilfen für die besagte Textstelle bietet: »Das Schreiben des Tiberius […] wurde durch Worte eingeleitet, die einen tiefen Einblick in seine Gemütsverfassung boten.« Zur Götterbeschwörung präziser: »Tacitus zieht aus dem Brief, in dem sich die ›Verzweiflung eines verkannten, vereinsamten und verratenen Menschen‹ äußert […], den Schluß, die Freveltaten hätten sich gegen den Kaiser selbst gewandt und sein Inneres sei durch das Schuldbewußtsein verwüstet worden.« Vgl. auch Wolfgang Vogts Kommentar zu Sueton manifestiert in den Worten des Tiberius eine rhetorische Emphase, S. 298: »[…] man beachte neben den vielen Assonanzen das Trikolon ›quid scribam/ quo modo scribam/quid omnino non scribam‹ mit der Anapher des Verbs […]«. Weiter: »[…] die ungewöhnliche Verwendung des Komparativs mit folgendem ›quam‹-Satz läßt die Ti-
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Arruntius nimmt die zunehmende Anspannung unter den Senatoren wahr, welche er mit »The place grows hot, they shift« (Vers 611) kommentiert. Doch nachdem nun überwiegend Sejanus im Fokus von Tiberius’ Ausführungen war, lenkt er nun den Blick auf sich: »We have not been covetous, honourable Fathers, to change; neither is it now, any new lust that alters our affection or old loathing […]«. Feinsinnig stellt sich Tiberius als das positive Gegenbild Sejanus’ dar. Gerade diese Passage bietet das Kontrastprogramm zu den Versen 589–597, in welchen die Untaten von Sejanus aufgezählt werden. Als Beispiel sei hier »We have not been covetous, honourable Fathers, to change;« erwähnt, welches eine Gegenüberstellung zu Sejanus’ »particular ambition« und zu »[…] his urging (and almost driving) us to this our unwilling retirement […]« bildet. Ferner gibt er seine Taktik zur Wahrung der Machtposition unterschwellig preis267: »[…] but those needful jealousies of state, that warn wiser princes, hourly, to provide their safety; and do teach them how learned a thing it is to beware of the humblest enemy; much more of those great ones, whom their own employed favours have made fit for their fears.« (V,6,614–618)
Das Erstaunliche hierin ist, daß gerade der letzte Satz auch als Drohung gegen die opportunistischen Senatoren aufgefaßt werden kann. Dies wiederum würde den kleinen Aufruhr zwischen 1 Senator und 2 Senator ansatzweise erläutern: Man fürchtet den Zorn des Tiberius.268 Beißend kommentiert Arruntius, der den Gesinnungswandel bei den Senatoren beobachtet, diese Unruhe.269 Sodann schließt die conclusio des Briefes mit der kausalen Konstruktion »We therefore desire […]« in Vers 621 an. Die conclusio ist in diesem Falle der logische Schluß, den Tiberius aus der narratio und argumentatio zieht. Die von Sejanus verwalteten Ämter und Aufgaben sollen ihm entzogen und er darüber hinaus suspendiert werden: Sejanus wird auf Wunsch des Princeps aus allen Amtspflichten entlassen. Allem Anschein nach widerspricht Tiberius sich in seiner Intention: Betrachtet man lediglich Vers 600f. (»Your wisdoms, Conscript Fathers, are able to examine, and censure these suggestions.«), erhält der Zuschauer den Eindruck, Tiberius wolle das Urteil beriusworte noch gewählter erscheinen.« Wolfgang Vogt. C. Suetonius Tranquillus. Vita Tiberii. Kommentar. (Diss.) Universität Würzburg 1975. 267 Vgl. den Kommentar von Ayres, S. 246. Ben Jonson verarbeitet hier machiavellistische Taktiken, vgl. hierzu Boughner, »Sejanus and Machiavelli«, S. 81–100. Hier: S. 83, besonders Anm. 4. 268 Vgl. Leggatt, Ben Jonson. His vision and his art, S. 58. Gemäß Leggatts Aussage reagieren die Senatoren lediglich auf äußere Reize (»stimuli«). Durch diese vollziehe sich deren Gesinnungswandel gegenüber Sejanus völlig automatisch: »[…] as Tiberius’ view of Sejanus switches, the Senate mechanically follows.« Folglich sind die Senatoren lediglich Mitläufer. 269 Leggatt definiert die Senatoren als emotional äußerst beschränkt: »The senators are lumps of heavy matter, forced into unwonted, desperate activity by fear, the only emotion of which they are capable.« Vgl. Leggatt, Ben Jonson. His vision and his art, S. 49.
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alleinig den Conscript Fathers überlassen. Dagegen ist »We therefore desire, that the offices he holds, be first seized by the Senate; […]« das Sprechen eines Machtwortes in dieser Angelegenheit. Er legt hiermit den wechselmütigen Senatoren das Urteil in den Mund; er befiehlt es nicht, er wünscht es. Endlich wachgerüttelt von diesem Schriftwerk, versucht Sejanus erfolglose Gegenmaßnahmen – »Read no more.« (Vers 626) – einzuleiten: Die Senatoren sind bereits von ihm abgerückt.270 Bedingt durch den Aufstand im Tempel, muß der Praeco abermals zum Vorlesen ansetzen. Die dadurch entstehende Wiederholung von »and himself suspended from all exercise of place, or power« verleiht einerseits dem Wunsch des Tiberius mehr Nachdruck, andererseits wird so auch jedem der Anwesenden verdeutlicht, daß es sich um keinen Lesefehler handelt. Der Wunsch des Tiberius lautet tatsächlich so, und Sejanus befindet sich de facto in der Falle. Damit Tiberius nicht so grausam und übereifrig wie Sejanus vor den anderen erscheint, räumt er »[…] but till due and mature trial be made of his innocency […]« ein. Sejanus kann nicht unschuldig und von diesen schwerwiegenden Vorwürfen freigesprochen werden, das weiß auch Tiberius. Deshalb fügt er berechnend den Relativsatz »which yet we can faintly apprehend the necessity, to doubt« an. Somit ist die angeblich zu beweisende Unschuld Sejanus’ nur noch eine Farce, welche durch den nachfolgenden Satz ihre Bestätigung erhält. Für weitere Investigationen der Akte Sejanus will Tiberius den Senatoren nicht im Wege stehen: »[…] it is not our power that shall limit your authority, or our favour, that must corrupt your justice.« (V,6,635–637)
oder »In the meantime, it shall not be fit for us to importune so judicious a Senate, know how much they hurt the innocent, that spare the guilty: and how grateful a sacrifice, to the gods, is the life of an ingrateful person. We reflect not, in this on Sejanus (notwithstanding, if you keep an eye on him – and there is Latiaris a Senator, and Pinnarius Natta, two of hisi most trusted ministers, and so professed, whom we desire not to have apprehended) but as the necessity of the cause exacts it.« (V,6,643–647)
Bei letzterer Aussage, die den Schluß des Briefes einleitet, schwingt wieder die Meinungsbeeinflussung (insinuatio) mit, wenn Tiberius den Senat (»so judicious a Senate«) nicht belästigen will, dennoch aber die Opferung einer »ingrateful person« vorschlägt. Scheinbar meint der Kaiser, wie seine negatio zeigt, natürlich nicht Sejanus mit diesem Gedankenspiel, obwohl, wie er zugibt, die Sachlage eine derartige Bestrafung schon abverlangt (»but as the necessity of the cause exacts it«). Durch das Zusammenspiel von negatio und konditionalem Tempus (Vers 647–648) wird die Insinuation besonders akzentuiert. Beiläufig nutzt Tiberius die 270 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 222.
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Jonson, Sejanus His Fall
Gelegenheit, Latiaris und Pinnarius Natta als Sejanus’ Komplizen (»two of his most trusted ministers«) bloßzustellen und ebenfalls als Mittäter des Amtes zu entheben. Das Resultat des Briefes ist, daß Latiaris in Gewahrsam genommen wird und ein von den Senatoren einst gefürchteter und umschmeichelter Prätorianerpräfekt Lucius Aelius Sejanus allein und völlig entmachtet zurückbleibt. Fassungslos fragt er in die Runde »Have we no friends here?« (V,6,659) und wird wenig später abgeführt. Unter den gegebenen Aspekten muß der Brief des Tiberius noch einmal überdacht werden. Hat man anfangs, bedingt durch Macros Vorwand, angenommen, es folge eine laudatio auf Sejanus, mußten wir feststellen, daß Tiberius mit einer gewissen Doppelzüngigkeit Sejanus’ Existenz zerstört, indem er ihm »particular ambition« attestiert und ihn in seiner Aufzählung als Usurpator vorführt. Das bedeutet, die laudatio wird zu einer vituperatio pervertiert.271 Während Sejanus nach und nach eine zunehmend negativere Beschreibung erfährt, muß Tiberius gleichzeitig die dem Sejanus noch ergebenen Senatoren für sich gewinnen. Diese Aufgabe bewältigt er durch das benevolum parare, welches zudem durch die Negativdarstellung von Sejanus genährt wird. Einzig Arruntius, der die Szene für den Zuschauer in sarkastischer Form kommentiert, ahnt das Ende des Briefes voraus. Er traut Tiberius nicht, was u. a. seine von Tiermetaphern angefüllten Einwürfe untermauern (siehe S. 87). In einem weiteren Argumentationszweig, der aus Sejanus’ vituperatio heraus entsteht, nutzt Tiberius die Möglichkeit, sich selbst als milden, philanthropen Kaiser272, der weder von Affekten getrieben regiert, noch einen politischen Wechsel herbeisehnt, also als das positive Gegenstück zu Sejanus, darzustellen. Bewußt trennt er sich von Sejanus und allmählich wenden sich die anfangs verunsicherten Senatoren vom Präfekten ab.273
271 Für den hinterlistigen Plan des Tiberius vgl. Boughner, »Sejanus and Machiavelli«, S. 81–100, hier: S. 99: »The emperor has tricked his enemy into an ambush which he has closed with such skill as to conceal its deadliness until he has completely disarmed his victim.« 272 Diese Analyse ist deckungsgleich mit Norbert H. Platz’ Feststellung zu Tiberius, S. 196: »Bei jeder Gelegenheit versteht er [Tiberius] es, sich als der große Menschenfreund in Szene zu setzen, der er nicht ist.« Vgl. auch Platz, S. 199: »Sejanus’ Absicht, die Herrschaft zu usurpieren, kollidiert zwangsläufig mit dem Willen des Tiberius, die Herrschaft zu verteidigen.« 273 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 222: »Mit spitzer Feder entlarvt Jonson den widerwärtigen Opportunismus der Senatoren, zeigt sie, wie sie sich zu Beginn der Sitzung kriecherisch um Seian drängen, wie sie durch den Brief des Tiberius immer mehr verunsichert werden, bis sie schließlich weiter und immer weiter von ihm abrücken, von ihm, in dessen Glanz sie sich noch vor Minuten sonnen wollten.«
5
Massinger, The Roman Actor
5.1
Einführung
Für Philip Massingers The Roman Actor liegt uns kein genaues Veröffentlichungsdatum vor. Das einzige, auf das wir uns stützen können, ist das Datum der Lizenzerteilung, der 11. Oktober 1626.274 The Roman Actor spielt in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. zur Zeit des Kaisers Domitian (81–96 n. Chr.).275 Protagonist des Dramas ist der Schauspieler Paris, Günstling des Kaisers und der Roman Actor aus dem Titel. Das Drama thematisiert die historisch belegte Liebesbeziehung zwischen dem Schauspieler Paris und der Kaisergattin Domitia. Ein weiteres Handlungsmotiv ist das Konzept des Schauspiels im Schauspiel276, dem eine didaktische Funktion zuzuordnen ist.277 Berühmtheit erlangte das Drama sowohl deswegen als auch wegen der Verteidigungsrede des Paris vor dem Senat in Akt I.278 Der dramatische Höhepunkt zeichnet sich gegen Ende des vierten Aktes ab: Im dritten Theater274 Vgl. Philip Edwards; Colin Gibson (Hgg.). The Plays and Poems of Philip Massinger. Volume III. Oxford: Oxford University Press 1976, S. 1ff. Alle Zitate nach dieser Ausgabe. Vgl. auch Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 342. 275 Abweichend schreibt Doris Adler durchgehend »Diocletian«. Vgl. Adler, S. 67: »Paris, the Roman actor at the heart of the play, is favored and royally supported by the tyrant Diocletian.« Ein Druckfehler kann ausgeschlossen werden, da Adler auch auf der folgenden Seite bei dieser Schreibung bleibt. Vgl. Schöpflin, S. 281: »Massinger bringt die Theaterverhältnisse seiner Zeit im römischen Gewande auf die Bühne. Paris’ Truppe ist so organisiert wie die elisabethanisch-jakobitischen Berufsschauspieler; sie haben ein eigenes Amphitheater, geben aber auch – wie es bei den Theatereinlagen geschieht – Privatvorstellungen bei Hofe.« 276 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 343. Vgl. Liebler, S. 60 und S. 194f. Vgl. auch Schöpflin, S. 10–16. In The Roman Actor gibt es insgesamt drei Theatereinlagen. 277 Vgl. Jens, Walter (Hrsg.). Kindlers neues Literatur-Lexikon, Band 11, S. 315. 278 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 343. Vgl. auch für die Beschreibung der Szene Koeppel, S. 113f.: »Paris wird vor den Senat citiert, er hat sich zu rechtfertigen gegen den Vorwurf, dass in den Vorstellungen seiner Truppe an Adel und Senat eine feindliche, ihre Autorität schädigende Kritik geübt würde.«
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Massinger, The Roman Actor
stück im Theaterstück wird der Protagonist vom Kaiser, der mittlerweile Kenntnis über die Affäre zwischen seiner Frau und Paris erlangt hat, getötet.279 Den Schluß des vierten Aktes bildet Domitians Leichenrede auf Paris. Philip Massinger, so können wir es dem Vorwort von Edwards und Gibson280 entnehmen, griff für die Verarbeitung seines Dramas auf verschiedene Autoren der Antike zurück, wobei Suetons Kaiserbiographien ihm als Hauptquelle dienten. Weitere Quellen Massingers waren: Cassius Dios Historia Romana, die Annalen des Tacitus, Juvenals Satiren, Horaz, Ovid und Seneca d. Ä. Doch auch Ben Jonson hatte durch sein Drama Sejanus His Fall gewissen Einfluß auf Philip Massinger ausüben können.281 Nachfolgend sollen nun die zuvor bereits erwähnten Passagen, die Verteidigungsrede des Paris im ersten Akt und Domitians Leichenrede im vierten Akt, analysiert werden.
5.2
Aretinus gegen Paris (I,3)
In I,1,47–49 verkünden zwei Liktoren, daß Paris und seine Schauspielerkollegen vor den Senat geladen werden: »You are summon’d / T’appeare to day in the Senate«; »And there to answer / What shall be vrg’d against you.« Die Senatsversammlung mit der Verhandlung findet in I,3 statt. Hier kommt es dann zu einem Disput zwischen dem Konsul Aretinus und Paris. Aretinus, ein Spion – so nennt ihn die Figur Aesopus in I,1,35 (»[…] The Consull Aretinus (Caesars spie) […]«) – des Kaisers Domitian, beschuldigt in einer Senatsversammlung den Schauspieler Paris, daß »in den Vorstellungen seiner Truppe an Adel und Senat eine feindliche, ihre Autorität schädigende Kritik geübt würde«282.
279 Vgl. Jens, Walter (Hrsg.). Kindlers neues Literatur-Lexikon, Band 11, S. 315: »Domitian überrascht seine Frau, als sie gerade um Paris’ Liebe wirbt, und tötet seinen Vertrauten dann in einem dritten Theaterstück, das den Ehebruch zum Thema hat und in dem der Kaiser die Rolle des betrogenen Gatten übernimmt.« Für den Tod des Paris hat sich Philip Massinger von seiner Quellenvorlage entfernt; Koeppel nennt es auf S. 111 »ungeschichtlich, aber dramatisch wirksam«. Vgl. auch Koeppels Anmerkung, S. 111: »Sueton meldet Paris’ Tod nicht, Dio […] Lib. 67,3 berichtet, dass Domitian den Buhlen der Kaiserin auf offener Strasse töten liess.« 280 Nachfolgend werden Verweise auf das Vorwort dieser Ausgabe mit »Edwards und Gibson« angegeben. Siehe Edwards und Gibson, S. 1–4. 281 Zur Methode, wie Massinger seine Quellen benutzt hat, vgl. Koeppel, S. 110f.: »Seine Hauptgewährsmänner waren Suetonius und Cassius Dio Coceianus, ihre Berichte hat er nach seinem Belieben gemischt und mit manchen Zuthaten eigener Erfindung ausgestattet.« Vgl. auch Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 342. Vgl. auch Clark, S. 59–61. Vgl. Gibson, »Massinger’s use of his sources for ›The Roman Actor‹«, S. 60–72, besonders: S. 60f. 282 Koeppel, S. 113. Vgl. auch Liebler, S. 75f.
Aretinus gegen Paris (I,3)
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5.2.1 Anklage durch Aretinus Aretinus eröffnet seine Rede mit der Ansprache an die Senatoren (I,3,1f.): »Fathers conscript may this our meeting be / Happie to Caesar and the common wealth.« Bereits bei seinem Einstieg nutzt er das benevolum parare, das er im folgenden noch weiter ausarbeitet, mit »Happie to Caesar and the common wealth« in I,3,2. Anschließend legt er den Grund bzw. den Zweck der Senatsversammlung dar: »[…] The purpose of this frequent Senate Is first to giue thankes to the Godes of Rome, That for the propagation of the Empire, Vouchsafe vs one to gouerne it like themselues.« (I,3,3–6)
Nach der Huldigung der römischen Götter wechselt Aretinus zu einer Lobpreisung des Domitian (I,3,7ff.), die er schon durch »Vouchsafe us one […]« vorbereitet hat. In einer enumeratio nennt Aretinus die positiven Eigenschaften Domitians: »In height of courage, depth of vnderstanding, And all those vertues, and remarkeable graces, Which make a Prince most eminent, our Domitian Transcend’s the ancient Romans.« (I,3,7–10)
Dabei gerät er schon fast in eine Schwärmerei, wenn er »I can neuer / Bring his praise to a period« (I,3,10f.) sagt. Auf diese Weise zeigt sich Aretinus als kaisertreuer Patriot. Um seine Ausführungen noch weiter zu unterstreichen, fügt er Vergleiche mit historischen römischen Persönlichkeiten hinzu283: »[…] What good man That is a friend to truth, dares make it doubtfull, That he hath Fabius stay’dnesse, and the courage Of bould Marcellus (to whom Hanibal gaue The stile of Target, and the Sword of Rome.) But he has more, and euery touch more Roman, As Pompey’s dignitie, Augustus state, Antonies bountie, and great Iulius fortune, With Catoes resolution.« (I,3,11–19)
Die Quintessenz seiner Anhäufung positiver Eigenschaften faßt er schließlich in Vers 20f. mit »In a word / All excellencies of good men in him meet, / But no part 283 Bezüglich der historischen Anspielungen schreibt Liebler, S. 77: »In the third scene, Aretinus convenes the Senate, using a device which Massinger will repeat in II,i again through Aretinus, and IV,ii with greater intensity through Paris and Domitia. Here in the first act, Aretinus attributes qualities to Domitian by means of the traditional device of historical allusion.«
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Massinger, The Roman Actor
of their vices«, unter Ausklammerung der negativen Seiten seiner Beispiele, zusammen. Bis jetzt geht nicht klar aus der Rede hervor, welche Absicht Aretinus hegt. Das benevolum et attentum parare wird er bei seinen Zuhörern schon bewirkt haben, ebenso, daß er sich durch Domitians Lobpreisung als loyaler Römer in eine günstige Position gebracht hat. Dennoch bleibt an dieser Stelle der Verlauf der Rede – laudatio auf den Kaiser oder Gerichtsrede – offen. Daß Aretinus in seinem exordium möglicherweise übertrieben hat, läßt die Figur des Rusticus mit dem ironischen Einwurf »This is no flatterie!« (I,3,23) verlauten.284 Doch nach diesem Zwischenruf des Rusticus fährt Aretinus ab Vers 23 mit »’Tis then most fit […]« erklärend fort: Es sei daher – eben weil sich in Domitian alle Tugenden ansammeln (»[…] In th’Ocean of his vertues«) – nicht angemessen, daß der Kaiser und sein Hof durch »meaner men«, wie Aretinus es in Vers 28 umschreibt, diffamiert werde: »[…] That we (as to the Father of our Countrie, Like thankefull sonnes, stand bound to pay true seruice For all those blessings that he showres vpon vs) Should not conniue, and see his gouernment Deprau’d, and scandaliz’d by meaner men That to his fauour, and indulgence owe Themselues and being.« (I,3,24–30)
Durch den Vergleich in der Parenthese »[…] (as to the Father of our Countrie […])« (I,3,24–26) wird der Kaiser Domitian zum Vater des Staates – Aretinus deutet in dieser Passage den Titel pater patriae an – erhoben, die Bürger übernehmen die Rolle als dessen Söhne. Anhand der Darstellungs- bzw. Funktionsweise des Staates als ein Geben und Nehmen, verdeutlicht Aretinus die besondere Rolle der Bürger, den sogenannten »meaner men« Widerstand zu leisten und dem Kaiser Treue zu zeigen. Der Schauspieler Paris versteht Aretinus’ verallgemeinernde Anschuldigung nur zu gut: »Now he points at us« wirft er in I,3,30 ein und unterbricht den geplanten Redeverlauf des Aretinus. Aus dem Monolog erwächst der Disput zwischen Aretinus und Paris. Hier, im Aufbau des politischen Streitfalls, werden gewisse Parallelen zu Ben Jonsons Sejanus His Fall deutlich: »Cite Paris the Tragedian«, »Stand forth«; auf ähnliche Weise wurden in Sejanus His Fall die Charaktere Silius und Cordus in den Streitfall eingebunden. 284 Liebler bestätigt Aretinus’ Darstellung als Fiktion, sieht jedoch hierin auch Aretinus’ Versuch, lenkend in das Geschehen einzugreifen, S. 77: »Not only is this a pure fiction, as everyone in the play is aware. […] Aretinus makes a composite character of Domitian. By invoking the list of noble Romans […] Aretinus tries his own hand at directing.«
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Man beachte auch, daß in Jonsons Drama die Geschichtsschreibung angeklagt worden ist, sie hätte »mit ihrer Darstellung der Vergangenheit politische Stellungnahmen zu gegenwärtigen Missständen«285 vorgebracht. In Philip Massingers Drama wird diese Anklage analog gegen die Schauspieler und das Theater gerichtet. In Sejanus His Fall III,1,155 sagt Afer zum Prozeßauftakt: »Cite Caius Silius.« Ähnlich zu Ben Jonson verkündet auch in The Roman Actor Aretinus in seiner narratio dem Paris den Anklagepunkt286: »In thee, as being the chiefe of thy profession, I doe accuse the qualitie of treason, As libellers against the state and Caesar.« (I,3,32–34)
Damit ist allerdings nur der Hochverrat als Anklage genannt, scharfsinnig wie Cremutius Cordus in Sejanus His Fall macht Paris durch »Meere accusations are not proofes my Lord, / In what are we delinquents?« (I,3,35f.) auf eine fehlende Begründung aufmerksam.287 Aretinus versucht diese in den Versen 36–43 nachzuholen288: »[…] You are they That search into the secrets of the time, And vnder fain’d names on the Stage present Actions not to be toucht at; and traduce Persons of rancke, and qualitie of both Sexes, And with satiricall, and bitter iests Make euen the Senators ridiculous To the Plebeans.« (I,3,36–43)
Dennoch, sollte man dies als argumentatio auffassen wollen, bleibt Aretinus explizite Beweise schuldig. In seiner Ausführung bleibt er vage, von Vorurteilen
285 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 143. 286 Vgl. Edwards-Gibson, S. 3: »Some 90 lines of The Roman Actor come directly from Jonson’s Sejanus, but there are more than verbal correspondences between the two plays. […] The whole of Massinger’s third scene, the arraignment of Paris (for which there was no classical model), closely imitates the trial of Cordus in Act III of Jonson’s play.« 287 Vgl. auch Gibson, »Massinger’s use of his sources for ›The Roman Actor‹«, S. 60–72, hier: S. 65: »[…] but by far the greatest number of verbal borrowings come from Jonson’s Sejanus. There are over forty of them, and they range in length from two or three words to considerable speeches. Several of Massinger’s speeches have been given the rhetorical and conceptual frameword of speeches from Sejanus, among them the whole of Paris’s muchpraised oration in defence of the acting profession which is patterned on Cremutius Cordus’s defence before Tiberius.« 288 Ferner erinnern Aretinus’ Worte an die Zensurgesetze zur Zeit Massingers. Vgl. Baumann, »Politische Kunst I«, S. 101–131, hier: S. 101. Siehe auch Kapitel 2, S. 41f. (auch Anm. 126). Vgl. ferner Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 143.
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behaftet und verallgemeinernd.289 Für Paris ist das die Gelegenheit, die dürftig formulierten Argumente des Aretinus zu entkräften.
5.2.2 Paris’ Verteidigung Paris hat seine Rede bereits in Vers 35f. eröffnet. Unmittelbar an dieses extrem kurze exordium – sofern der Begriff überhaupt hier als zutreffend erachtet werden kann – schließt er die narratio seiner Verteidigungsrede an, indem er mit dem Konditionalsatz »If I free not my selfe, […]« (I,3,43–49) die erste Bedingung für die Verhandlung des Falls vor dem Senat aufstellt. Nur wenn es ihm nicht gelingt, diese falschen Anschuldigungen (»these false imputations«) gegen ihn und seine Schauspielerkollegen zu widerlegen, erst dann ist es gerecht, härteste Strafen zu erfahren: »It is but Iustice that we vndergoe / The heauiest censure« (I,3,48f.). In seiner narratio, mit der er allen Anwesenden beweist, daß er ein sich der Jurisdiktion fügender römischer Bürger ist, strebt auch Paris das attentum und benevolum parare an.290 Jenes kann er noch dank des Kommentars von Aretinus – »Are you on the Stage / You talke so boldly?« (I,3,49f.) – weiter ausführen. Die Verteidigung baut auf folgender Reaktion des Paris weiter auf: »[…] The whole world being one This place is not exempted, and I am So confident in the iustice of our cause, That I could wish Caesar (in whose great name All Kings are comprehended) sate as iudge, To heare our Plea, and the determine of vs.« (I,3,50–55)
Nach Paris’ Auffassung ist die ganze Welt – metaphorisch betrachtet –, ohne Ausnahmen, eine Bühne.291 Ebenso wie Aretinus Kaiser Domitian lobt, so stellt auch Paris in einer confirmatio seine Loyalität zum Kaiser heraus: Durch den Wunsch, Kaiser Domitian solle als Richter bei dieser Verteidigung fungieren, wird dies unterstrichen.292 Gleichzeitig gibt er auch zu verstehen, daß er von 289 Sollte dies tatsächlich die argumentatio des Aretinus sein, so ist sie doch, abgesehen davon, daß er keine konkreten Beweise anbringt, sehr knapp ausgefallen. Von einer Anklage dieser Größenordnung sollte mehr erwartet werden. Doch auch in den antiken Einteilungen findet man, daß es zwischen den Redeteilen fließende Übergänge geben kann und nicht immer eine strenge Anordnung stattfindet, weswegen man hier noch von einer erweiterten narratio sprechen könnte. 290 Vgl. zur Einteilung der Apologie durch Paris Clark, S. 63: »His speech is a modified five-part oration with exordium, narratio, confirmatio and confutatio, and peroratio; and it appears as one of several variations on that prescription.« 291 Vgl. Clark, S. 67. Paris’ Äußerung von der Welt als Bühne erinnert an William Shakespeares As you like it, II,7,139: »All the world’s a stage, […]«. 292 Vgl. Clark, S. 64–65.
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seiner Unschuld in dieser Angelegenheit überzeugt ist und eben keine Schändung von Personen hohen Rangs stattgefunden hat. Die confirmatio des Paris baut auf vier Konditionalsätzen auf. Der erste ifSatz, »If to expresse a man sould to his lusts, / Wasting the treasure of his time and Fortunes, / […]«, endet in der Frage: »Why are not all your golden principles Writ downe by graue Philosophers to instruct vs To chuse faire Vertue for our guide, not pleasure, Condemnd vnto fire?« (I,3, 64–67)
Wenn das Theater einen Mann darstellt, der, verführt von seinen Begierden (»sould to his lusts«), durch sein schlechtes Beispiel die Jugend warnt, und das Schauspiel die Listen von Kupplerinnen darstellt, warum wird die Aufklärung durch das Theater geahndet – »can deserue reproofe« (I,3,63) – und warum werden nicht all die von Philosophen verfaßten Regeln, die die Tugend (»faire Vertue«) als Wegweiserin des Handelns lehren, verbrannt? Das Schauspiel verfolgt die gleichen Ziele wie die Schriften der Philosophen, nur wird gegen die Aufklärung durch das Schauspiel vorgegangen, wie Paris sich beklagt. Bereits hier ist Paris bemüht, dem Schauspiel einen didaktischen Nutzen zuzusprechen. Daß Paris dabei nicht völlig emotionslos argumentiert, sondern auch hier seine Zuhörer bewegen will, impliziert auch Suras Einwurf »There’s spirit in this« in I,3,67.293 Seine alternativen, ebenfalls hypothetischen, Beispiele fügt Paris ab Vers 68 mit »Or« hinzu: Wenn das Streben nach Ehre das Fundament für das Römische Imperium war, durch das es zu solcher Größe gelangt ist, und die Schauspieler die römische Jugend zu ruhmvollem und tugendhaftem Verhalten bewegen können, dann ist es ebenso das Verdienst der Darsteller als auch der Philosophen, die, so schränkt er mit »perhaps seldome reade« (I,3,78) ein, selten gelesen werden. Kurz vergleicht Paris die unterschiedliche Vorgehensweise der Philosophen und der Schauspieler. Zu den Philosophen erörtert er (I,3,78–80): »They with could precepts (perhaps seldome reade) Deliver what an honourable thing The actiue vertue is.«
Ferner stellt er ab Vers 80–83 – »But does that fire / The bloud, or swell the veines with emulation / To be both good, and great, equall to that / Which is presented on our Theaters?« – deren Effektivität gegenüber der Wirkungsgewalt des 293 Zum Verhältnis von Schauspiel und Philosophie vgl. Liebler, S. 78f. Für Paris ist das Schauspiel kein reiner Zeitvertreib, sondern es ist »life, thought, morality, the best teacher […] not only of moral virtue but of glorious patriotism«, wie Liebler es paraphrasiert. Siehe auch Schöpflin, S. 282.
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Schauspiels in Frage: Können die Philosophen dadurch das Gute und Große derartig entflammen wie die Theater mit ihren Schauspielen? Eindeutig mangelt es nach Paris’ Auffassung der Philosophie an der Veranschaulichung. Um seinen Standpunkt zu kräftigen und hervorzuheben, verwendet Paris exempla aus der griechischen und römischen Mythologie bzw. Geschichte: »Let a good Actor in a loftie Sceane Show great Alcides honour’d in the sweate Of his twelue labours; or a bould Camillus Forbidding Rome to be redeem’d with gold, From the insulting Gauls; or Scipio After his victories imposing Tribute On conquer’d Carthage.« (I,3,84–90)
Gleich hieran knüpft er den letzten Konditionalsatz – »If done to the life, […]« (I,3,90ff.) –, der wiederum die Verwendung der oben genannten exempla begreifbar macht. Wenn nämlich der Schauspieler in seiner Darbietung eindrucksvoll ist (»a good Actor in a loftie Sceane«), kann er auch schwer zugängliches Publikum mit seiner Darbietung erreichen und darüber hinaus dazu begeistern, sich so wie der dargestellte tugendhafte Held zu verhalten: »[…] If done to the life, As if they saw their dangers, and their glories, And did partake with them in their rewardes, All that haue any sparke of Roman in them, The slothful artes layd by, contend to bee Like those they see presented.« (I,3,90–95)
Das Theater beansprucht für sich die Form einer Vorbildfunktion und hat, im Gegensatz zur Philosophie, den Vorteil der Darstellung – das Publikum kann durch die Darbietung mitgerissen werden. Wie Paris es mittels seiner exempla dargestellt hat, will das Schauspiel nicht das Volk aufwiegeln oder einflußreiche Staatsbürger verleumden, sondern tugendhaftes Verhalten veranschaulichen.294
294 Vgl. auch Adler, S. 67: »In his great defense of the stage before the senate that has accused the actors of libeling both the state and Caesar, Paris vividly sets forth the function of drama: to body forth the irresistible beauties of virtue that men will be persuaded to be virtuous and to set forth the deadly ugliness and pitfalls of vice that men will resist evil.« Vgl. zur Funktion des Theaters auch Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 344: »Das Theater zeige einerseits die Bestrafung des Lasters und ermutige andererseits jedermann zur Nachahmung tugendhafter Menschen; kurzum, das Theater sei eine Stätte der moralischen Erziehung, das ›mit den Mitteln der Kritik, der Geißelung des Lasters und des Lobes der Tugend‹ seine didaktischen Aufgaben erfülle.« Zu Paris’ Argumentationsstruktur vgl. auch Liebler, S. 79: »On the surface, Paris’ argument appears to reiterate the cliche that art instructs at least as well as philosophy. But his point is also that acting presents the lineaments of greatness […]. Acting presents living models of virtue to be emulated; its aim here is the improvement, not
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Vergleichen wir die Anklage mit der Verteidigung, dann hat Paris den Aretinus bereits an Redelänge übertroffen. Aber auch Paris’ einführende Argumente scheinen bereits mehr Überzeugungskraft zu besitzen als die vagen Unterstellungen des Aretinus, wie Rusticus es nochmals in Vers 95–96 paraphrasiert: »He has put / The Consuls to their whisper.«295 Die bloße Veranschaulichung und Konsolidierung seines Standpunktes mittels obiger exempla reichen Paris noch nicht. Bis zu diesem Punkt hat er lediglich seine Argumente dargelegt, die Widerlegung der Gegenargumente ist bis jetzt noch ausgeblieben. Mit dem adversativen »But« in I,3,96 leitet er die refutatio (auch confutatio) ein und rekapituliert die durch Aretinus vorgebrachten Anklagepunkte »But ’tis vrg’d / That we corrupt youth, and traduce superiours«296, um jene energisch mit den angeschlossenen rhetorischen Fragen zu entkräften:297 »When doe we bring a vice vpon the Stage, That does goe off vnpvnish’d? doe we teach By the successe of wicked vndertakings, Others to tread, in their forbidden steps?« (I,3,98–101)
Paris erweitert seine argumentative Grundlage, indem er den aufgegriffenen Anklagepunkt in der Konnexion mit jenen Fragen noch zusätzlich für eine finale Richtigstellung – das Theater habe eine moralisch wertvolle, didaktische Funktion – des Streitpunktes beantwortet. Hierbei bleibt er zunächst bei einer allgemeinen Darstellung: »We show no arts of Lidian Pandarisme, Corinthian poysons, Persian flatteries, But mulcted so in the conclusion that Even those spectators that were so inclin’d, Go home chang’d men. And for traducing such That are aboue vs, publishing to the world Their secret crimes, we are as innocent As such are borne dumbe.« (I,3,102–109)
Anschließend schmückt er diese Ausführungen mit weiteren exempla aus: Wenn die Schauspieler beispielsweise einen potentiellen Erben darstellen, der nur allzu gern darauf wartet, endlich erben zu können, und sich jemand im Publikum the imitation, of action in the ›real‹ world, and it is more accessible than ›could precepts (perhaps seldome reade)‹.« 295 Vgl. für den Beleg der rhetorischen Überzeugungskraft auch Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 344, Anmerkung 13. Vgl. auch die ähnliche Bemerkung des Arruntius in Ben Jonson Sejanus His Fall III,1,463: »He puts ’em to their whisper.« 296 Vgl. die Anklage des Aretinus in I,3,39–43: »[…]; and traduce / Persons of rancke, and qualitie of both Sexes, / And with satiricall, and bitter iests / Make euen the Senators ridiculous / To the Plebeans.« 297 Vgl. Clark, S. 65.
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wiederfindet, der sich mit dieser dargestellten Theaterfigur identifiziert, liegt die Schuld weder beim Theater noch bei den Schauspielern. Koeppel schreibt hierzu: »In glänzender Rede […] führt Paris aus, dass es nicht die Schuld der Schauspieler ist, wenn sich die Zuschauer von ihren Darstellungen menschlicher Laster getroffen fühlen […].«298 Für die Vergehen der dargestellten Charaktere waren ausschließlich diese selbst verantwortlich, nicht das Theater.299 Aus diesem Grunde, um sich entschieden von dieser Verantwortung loszusprechen, wiederholt Paris am Ende eines jeden weiteren exemplum, welches er jeweils parallel mit »Or« bei Versbeginn einleitet300, seinen »rhetorischen Refrain«301 »we cannot helpe it« (I,3,114;122;130) bzw. wandelt ihn nach der letzten Periode in »tis not in us to helpe it« (I,3,140) ab. Auffällig ist hierbei, wie wir bei Baumann entnehmen können, die Wandlung im letzten Abschnitt der Rede (I,3,109–140) von einer Verteidigungsrede zu einer Anklage gegen die Ankläger.302 Erkennbar wird dies bei seinem letzten exemplum vom korrupten Richter, in dem er Aretinus persönlich angreift: »If any in this reuerend assemblie, Nay e’ne your selfe my Lord, that are the image Of absent Caesar, feele something in your bosome, That puts you in remembrance of things past, Or things intended tis not in vs to helpe it.« (I,3,136–140)303
Die Argumentation erfolgt hier in drei Phasen: Die erste Phase besteht aus der Wiederholung des Streit- bzw. Anklagepunktes (I,3,96f.), im nächsten Schritt erfolgt die Formulierung rhetorischer Fragen, die bereits den Wahrheitsgehalt der accusatio in Frage stellen, und schließlich findet eine nochmalige Beantwortung der rhetorischen Fragen bzw. eine Korrektur des entkräfteten Vorwurfs statt.
298 Koeppel, S. 114. Vgl. auch Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 343: »Wenn Schauspieler dem Laster einen Spiegel vorhalten, sei es doch nicht ihre Schuld, daß sich gewisse Zuschauer persönlich be- und getroffen fühlten […]«. 299 Vgl. Dunn, S. 143: »If the sins of great men are shown upon the stage, the fault lies in the great men, not in the actors; and indeed, Massinger implies that both the actors and the playwrights are to be praised for publishing to the world the ›secret times‹ of the great.« 300 Vgl. I,3,115;123;131. Vgl. Clark, S. 66: »Each one begins with some variant of a temporal ›when‹ clause that describes a standard satiric butt.« 301 Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 343. Vgl. hierzu auch Clark, S. 66. Vgl. auch Fricker, Band 3, S. 292. 302 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 343f., besonders auch Anm. 11. 303 Vgl. auch Clark, S. 66f. Vgl. auch Liebler, S. 82, die dazu Einblick in Paris’ Weltsicht bietet: »Sarcastically innocent, Paris implicates the consul in ›things past, / Or things intended‹ while cloaking his suspicions in flattery: Aretinus, we know from his place at the Senate in the absence of Domitian, acts for Caesar, is Caesar’s substitute. In Paris’ worldview, acting is being. So, Aretinus acts as if he were Caesar, and Paris merely reinforces the illusion.«
Aretinus gegen Paris (I,3)
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Den kurzen, doch prägnanten Schluß seiner Rede formuliert er im Stile des Aristoteles304: »I haue said, my Lord, and now as you finde cause / Or censure vs, or free vs with applause.« (I,3,141–142) Ähnlich wie in Sejanus His Fall die Verteidigungsrede des Cremutius Cordus von Arruntius mit »Freely, and nobly spoken.« (III,1,461) und von Sabinus mit »With good temper, […]« (III,1,461f.) gelobt wurde, erhält auch die Verteidigungsrede des Paris bei Philip Massinger würdigende Resonanz, wie etwa von Latinus, »Well pleaded on my life! I neuer saw him / Act an Orators part before« (I,3,143f.), oder ferner von Aesopus, »We might haue giuen / Ten double fees to Regulus, and yet / Our cause deliuered worse« (I,3,144–146). Ebenfalls wie in Ben Jonsons Drama Sejanus His Fall erfolgt kein Urteilsspruch im Anschluß an die Rede. Ferner bemerken wir einen genus-Wechsel der Rede, so daß eine strenge, klar abgegrenzte Einteilung nicht mehr möglich ist. Massinger vermischt hier, in der von Paris vorgetragenen Apologie, eindeutige Elemente des genus iudiciale mit denen des genus demonstrativum. Dies geschieht beispielsweise, wenn Paris seine exempla aus dem genus demonstrativum entnimmt oder bei seinem Redeauftakt den Kaiser positiv hervorhebt.305 Clark schreibt zu Paris’ Rede folgendes: »Paris’s splendid forensic speech turns out to be epideictic, an even more common Massinger trademark. Moreover, as Paris delights, teaches, and moves his audience to acquit the actors and acclaim the ideal values in drama, Massinger draws attention to how poetic rhetoric ideally persuades people to morality.«306
5.2.3 Paris’ Rede vor zeitgenössischem Hintergrund Bereits Koeppel sagt, die Verteidigungsrede gebe die Meinung Philip Massingers wieder.307 Massinger sah wohl auch persönlich einen didaktischen Nutzen in den Theaterstücken, wie es u. a. auch Dunn feststellt: »Massinger himself was certainly aware of the moral purpose of his plays. He always speaks of his art in serious terms, if sometimes with conventionally modest self-deprecation.«308 Des weiteren schreibt Dunn in bezug auf die Rede des Paris:
304 Vgl. Arist. Rh. 1420a (III,19,6): »Εἴρηκα, ἀκηκόατε, ἔχετε, κρίνατε.« (»Ich habe gesprochen. Ihr habt gehört. Ihr verfügt über die Fakten. Ihr urteilt.«). 305 Vgl. hierzu Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 132f.: »Zu beachten ist, daß die epideiktische Rede nicht nur selbständig vorkommt […], sondern auch als Teil von Reden anderer genera (genus iudiciale und genus deliberativum; so auch als Exkurse in erzählenden und dramatischen Dichtungen) und des genus demonstrativum selbst.« Vgl. auch bei Lausberg die Erläuterung auf S. 61 bzw. in Kapitel 2, S. 35. 306 Clark, S. 63. 307 Vgl. Koeppel, S. 114. 308 Dunn, S. 142.
106
Massinger, The Roman Actor
»But Massinger’s own view of the purpose of his drama is best expressed in the vehement speech he puts into the mouth of Paris in The Roman Actor, Act I, scene iii, using an argument which had been brought to the defence of the stage against its detractors [since long before Sidney].«309
Weiter erläutert er zu Massingers Praxis: »[…] Massinger implies that both the actors and the playwrights are to be praised for publishing to the world the ›secret crimes‹ of the great. That Massinger endeavoured to carry out in practice this theory of the moral purpose of the drama is evident even in the most cursory reading of the plays; […].«310
Was die Komposition der Verteidigungsrede des Paris betrifft, hat sich Philip Massinger auch hier durch einen anderen Dramatiker inspirieren lassen. Seinem Paris legt Massinger, neben seiner eigenen Meinung, zudem die Worte von Thomas Heywoods Apology for Actors in den Mund.311 Diese Mischung aus den exempla der klassischen Mythologie und der argumentativen Übereinstimmung mit Heywoods Apology for Actors scheint Philip Massingers Stil auszumachen, wie auch Clark manifestiert.312 Daß jedoch die erzieherische Funktion in der Realität keinen Erfolg hatte und sich somit die Theatergegner durchsetzten, paraphrasiert Baumann wie folgt: »Während die Apologie des Paris auf der Bühne die Zuschauer von der erzieherischen Funktion des Theaters überzeugte und die Vorwürfe der Obrigkeit widerlegte, setzten sich in der historischen Wirklichkeit die Gegner des Theaters durch. […] Die Behörden nutzten insbesondere die Pestwellen, um die Theater immer wieder für längere Zeit zu schließen.«313
5.3
Domitians laudatio (IV,2)
Im Verlauf des vierten Akts trägt sich die Kaisergattin Domitia, die sich zu dem Mimen Paris hingezogen fühlt, diesem an. Paris versucht zwar, der Kaisergattin in IV,2,97 mit »I dare not, must not, will not« Widerstand zu leisten, doch wird ihm Domitias Wunsch und Bedrängnis »I am not scorn’d. Kisse me. Kisse me againe. / Kisse closer. Thou art now my Troyan Paris / And I thy Helen.« 309 Dunn, S. 142. 310 Dunn, S. 143. In seiner weiteren Ausführung beschreibt Dunn, wie Philip Massinger durch seine »moral attitude« die Charaktere seiner Dramen in schwarz-weiß zeichnete. 311 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 344. 312 Vgl. Clark, S. 65. 313 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 145. Vgl. dort auch Anm. 73 zu Gurr, The Shakespearean Stage, S. 72–79. Vgl. auch Butler, »Romans in Britain: The Roman Actor and the Early Stuart Classical Play.« In: Howard, Douglas (Hrsg.). Philip Massinger. A critical reassessment. Cambridge: Cambridge University Press 1985, S. 139–170. Hier: S. 159.
Domitians laudatio (IV,2)
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(IV,2,102–104), den er mit »Since it is your will« (IV,2,104) erwidert, zum Verhängnis: der Kaiser bemerkt das Treiben. Der tugendhafte Paris wird zum Opfer seiner selbst, indem er sich dem Wunsch der Kaiserin beugt und dadurch unmoralisch handelt. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, wird Paris auch zum Opfer seiner Metapher: die Welt sei eine Bühne.314 Auf der Bühne ist das Tun und Handeln für jeden Zuschauer sichtbar; d. h. Domitian konnte Paris und Domitia beobachten. Domitian sinnt auf Rache und wünscht sich von Paris ein Theaterstück namens »The False Servant«, in dem beide eine Rolle übernehmen.315 Die Grenzen zwischen Schauspiel und Realität verwischen allmählich316; es kommt zum Gefecht der beiden, Paris wird von Domitian ermordet. Als Würdigung hält Domitian eine laudatio auf den noch im Sterben liegenden Mimen. Domitian macht keinen Hehl daraus, daß er Paris ermordete, wie er es eingangs seiner Rede sagt (IV,2,284): »’Tis true, and ’twas my purpose my good Paris.« Dennoch will er Paris durch die Ermordung Ehre zukommen lassen: »And yet before life leaue thee, let the honour I haue done thee in thy death bring comfort to thee.« (IV,2,285f.)
Gerne hätte der Kaiser seinen Günstling begnadigt, doch, so stellt er in dem Konditionalsatz mit dem angeschlossenen adversativen »but« heraus, waren ihm die Hände gebunden und der Tod des Paris war die notwendige Strafe.317 In einem weiteren durch »yet« angeschlossenen Adversativsatz in Vers 290 versucht Domitian, die harten Worte wieder zu entkräften und die Zuneigung zu Paris in den Vordergrund zu rücken: »Yet to confirme I lou’d thee, ’twas my study To make thy end more glorious to distinguish My Paris from all others, and in that Haue showne my pittie.« (IV,2,290–293)
Daß Paris beim Kaiser einen besonderen Stellenwert, im Gegensatz zu den übrigen Schauspielern, hatte, kennzeichnet die Verwendung des Possessivprono314 Man beachte, daß Domitia durch ihre Äußerung – die Metapher von Paris und Helena – sogar das Theaterspiel nahelegt. 315 Dadurch, daß Domitian in Paris’ Theaterstück eine Rolle übernimmt und das Geschehen mitlenkt, wird der Kaiser ebenso zu einem Schauspieler. Liebler, S. 60, erläutert Domitians Funktion u. a. als Schauspieler wie folgt: »Less noticed, but central to an understanding of the play, is the idea that Domitian himself, tyrant, and ultimately the murderer of Paris, is also essentially an actor, a pretender, a stager of events.« Über das unterschiedliche Rollenverständnis von Paris und Domitian vgl. Liebler, S. 61 und S. 83. 316 Vgl. Clark, S. 71. Vgl. auch Paris’ Bemerkung zu Beginn seiner Verteidigungsrede, die Welt sei eine Bühne, »The whole world being one« (I,3,50). Vgl. auch Liebler, S. 82, bzw. siehe Anm. 303 auf S. 104. 317 Vgl. Schöpflin, S. 116.
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Massinger, The Roman Actor
mens »my« (»my Paris« in IV,2,292). Des weiteren will er dem Paris einen (im römischen Sinne) ehrenhaften Tod ermöglichen, womit Domitian sein Mitleid mit dem verstorbenen Schauspieler unter Beweis stellt. In der anknüpfenden »Nor … or«-Konstruktion liefert er exempla eines unehrenhaften Todes: »Nor would I let thee fall By a Centurions sword, or haue thy limbes Rent peece meale by the hangmans hooke (howeuer Thy crimes deseru’d it) […].« (IV,2,293–296)
Auch wenn Domitian sich gegen die genannten Exekutionsarten ausspricht, so wird die Schwere von Paris’ Vergehen durch die konzessive Parenthese »(howeuer / Thy crime deseru’d it)« betont: Eigentlich hätte Paris einen solchen Tod verdient. Doch »Romes brauest Actor«, so glorifiziert ihn Domitian, sollte der Tod durch kaiserliche Hand nicht verwehrt sein: »[…] but as thou didst liue Romes brauest Actor, ’twas my plot that thou Shouldst dye in action, and to crowne it dye With an applause induring to all times, By our imperiall hand.« (IV,2,296–300)
Um die Besonderheit in den Vordergrund zu rücken, werden – neben dem Polyptoton »Actor – action« – Superlative bzw. Begriffe superlativischen Charakters von Domitian unterstützend eingesetzt, wie z. B. »Romes brauest Actor«, »and to crowne it«, »applause induring to all times«. Ab Vers 300 erhält der Rezipient durch den Wechsel der Anrede in die dritte Person den Hinweis, daß Paris gestorben ist: »His soule is freed / From the prison of his flesh, let it mount vpward.« (IV,2,300–301). Damit ist die Glorifizierung des Paris noch nicht abgeschlossen. Domitian veranlaßt, Paris’ Asche in einer goldene Urne aufbewahren zu lassen (IV,2,304). Ferner soll ihm – und er benutzt wieder Superlative – durch Dichter größte Bewunderung (»most rauishing«) zuteil werden, und die Theaterbühne soll ewig um ihn trauern (IV,2,305f.). Als krönenden Abschluß seiner laudatio auf Paris ordnet Domitian an, den Grund des Todes nicht auf dem Epitaph zu erwähnen: »The cause forgotten in his Epitaph.« (IV,2,308). Dadurch wird der Nährboden für posthume Negativkritik am Schauspieler Paris genommen und zugleich die positive Erinnerung an diesen herausragenden Mimen aufrechterhalten. Der erste Teil der Rede ist deskriptiv bis apologetisch gestaltet: Paris und den Zuschauern sollen Domitians Beweggründe für sein Handeln dargelegt wer-
Domitians laudatio (IV,2)
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den.318 Die teils antithetischen Sätze Domitians zeigen auch dessen Aufgeregtheit, sein Für und Wider einer Begnadigung. Mit seinem ehrenhaften Tod avanciert Paris selbst zum Beispiel für ehrenhaftes römisches Verhalten, so wie er in seiner Verteidigungsrede argumentiert hatte, dem Theater komme eine didaktisch aufklärende Funktion zu. Den Tod des Paris faßt Baumann so zusammen: »Paris […] stirbt wie er gelebt hat, als Virtuose der Bühne, als Blutzeuge für die tiefe Wahrheit seiner eigenen Aussage, daß die Welt nichts weiter als eine Bühne sei und das menschliche Leben nur ein Auftritt (I,3,50–51).«319
Im zweiten Teil der laudatio wird durch Domitians Anordnungen die Rühmung des Paris vollendet. Die Konzeption der Rede spiegelt einige Aspekte einer sogenannten laudatio funebris320 wider: Davon sind hier das Totenlob, das Lob der Erziehung und der Lebensweise, das Lob der Tugenden und die Aufforderung an die Zuhörer vertreten.321 Weiterhin kann auch eine apologetische Gestaltung der laudatio hinzugezählt werden. Der zweite Gesichtspunkt kommt in der Rede nur eingeschränkt vor: Auf die Erziehung des Paris geht Domitian nicht ein, statt dessen impliziert er dessen Lebensweise und Tugendhaftigkeit durch »Romes brauest Actor« (IV,2,297).322 Die Aufforderung an die Zuhörer konnte er ab Vers 304f. mit dem oben geschilderten »Poets adorne his hearse / With their most rauishing sorrowes« hinzufügen. Für den ermordeten Paris entbehrt die Szene nicht einer gewissen Ironie: Erst durch seinen Tod erhält er die Anerkennung, für die er in seiner Verteidigungsrede in I,3 so gekämpft hatte.323
318 Vgl. dazu auch Schöpflin, S. 115f., daß Domitians Rede im Anschluß an die Aufführung eine Erläuterungsrede für seinen Rachemord ist. 319 Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 353. Vgl. auch Liebler, S. 132, die Paris’ Tod »a carefully designed ceremony to his honor« nennt. Vgl. ferner Schöpflin, S. 283f. 320 Vgl. Kierdorf, »Laudatio funebris«, Cancik-Schneider (Hgg.), Der neue Pauly, Bd. 6, Sp. 1184–1186. Definiert ist sie als »die Lobrede auf Verstorbene, die im Zusammenhand der Bestattung gehalten wurde.« 321 Für eine präzise Übersicht vgl. Wilhelm Kierdorf, Laudatio Funebris. Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der römischen Leichenrede. Meisenheim am Glan: Anton Hain 1980. (Beiträge zur klassischen Philologie Heft 106). Hier: S. 59–93. 322 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 353, Anm. 38. Vgl. ferner Liebler, S. 133. Vgl. auch Schöpflin, S. 283 und S. 699. 323 Vgl. Liebler, S. 133.
6
Shakespeare, King Richard II
6.1
Einführung
Shakespeares Richard II ist nicht nur im historischen Kontext der Vorläufer zu Henry V, sondern auch – anders als Henry V – ein Drama nach dem Konzept der de casibus-Tragödie.324 Der Protagonist Richard II., zu Beginn des Werkes im Zenit seiner Regentschaft, wird von Henry Bolingbroke, dem späteren Henry IV., zur Abdankung gezwungen. Baumann paraphrasiert die Handlung so: »Ein offenkundig schwacher, unfähiger König, der sein Land ›durch persönliche Missund Günstlingswirtschaft ruiniert hat, wird abgesetzt bzw. gezwungen, seine Krone einem neuen Regenten zu übergeben, der das Vertrauen nicht nur fast des gesamten Adels, sondern auch des Volkes genießt und der alle Eigenschaften eines kompetenten, selbst- und machtbewussten Herrschers mitzubringen scheint‹.«325
Zur Regentschaft Elizabeth I. war Richard II als politisches Drama ziemlich heikel, es »wurde zensiert, vermutlich im Zusammenhang mit der ungeklärten Nachfolge der Königin, die sich überlieferten Äußerungen gemäß mit Richard II identifizierte.«326 Ferner diente der politische Gegenstand des Dramas dem Grafen von Essex als Hilfsmittel für einen Putschversuch.327 Was die Quellenlage betrifft, so hat sich Shakespeare wie auch bei dem späteren Henry V an Raphael Holinsheds Chronicles of England, Scotland and Ireland sowie Edward Halls The Union of the Two Noble and Illustre Families of Lancaster and York orientiert. Als weitere Quelle nennen Habermann, Klein
324 1 Henry IV und 2 Henry IV wurden von mir bewußt ausgelassen, da sie für den Verlauf der Arbeit nicht im Fokus stehen. Vgl. zur Dramentechnik auch Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 356. Alle Angaben zu King Richard II werden nach folgender Ausgabe zitiert: Charles R. Forker (Hrsg.). William Shakespeare. King Richard II. London: Cengage 2002. (The Arden Shakespeare). 325 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 57–58. 326 Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 356. 327 Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 57.
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Shakespeare, King Richard II
Samuel Daniel The Civil Wars Between the Two Houses of Lancaster and Yorke.328 Gemäß Forker hält sich Shakespeare bei Richard II genauer an die Quellen als bei anderen Dramen.329 Ähnlich wie in Henry V – jedoch weitaus offener – spielt bei Richard II das Motiv der Legitimität bzw. Illegitimität der Herrschers eine entscheidende Rolle: hier wird Richards gewaltsame Absetzung durch Bolingbroke lanciert, während sich in Henry V der Protagonist immer mehr in die Rolle des Königs einfindet.
6.2
Eröffnungsszene (I,1)
Schon in der Eröffnungsszene präsentiert Shakespeare dem Publikum eine politisch brisante Situation, die uns mitten in die Handlung katapultiert. Die »hochpolitische Szene«330 legt den Streit zwischen Henry Bolingbroke – dem späteren Henry IV. – und Thomas Mowbray dar. Mowbray hat nämlich Bolingbroke des Hochverrats beschuldigt. Richard fungiert in I,1 als Richter, der in dem Streit sein Urteil sprechen soll. Nach Abarbeiten des Protokolls zur Begrüßung bittet Richard um die Stellungnahmen beider opponierender Parteien: »We thank you both. Yet one but flatters us, As well appeareth by the cause you come, Namely, to appeal each other of high treason. Cousin of Hereford, what dost thou object Against the Duke of Norfolk, Thomas Mowbray?« (I,1,25–29)
Schon bei den an den König gerichteten Grußworten wird dem Zuschauer die Rivalität zwischen Bolingbroke und Mowbray bewußt.331 Während Bolingbrokes Begrüßung sich auf zwei Verse erstreckt (»Many years of happy days befall / My gracious sovereign, my most loving liege!«), versucht Mowbray in I,1,22–24 Bolingbroke durch symmetrische Anordnung seiner Komplimente zu übertrumpfen: »Each day still better other’s happiness Until the heavens, envying earth’s good hap, Add an immortal title to your crown!«
Was anfangs noch wie ein Wettstreit aussieht, entfacht sich ab Vers 30 zu einem handfesten Streit, der zu den Versen 20–25 einen starken Kontrast darstellt.332 Das sich nun ab Vers 30 entfaltende Wortgefecht teilt Müller in jeweils zwei 328 329 330 331 332
Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 355. Forker, S. 123. Müller, Die politische Rede, S. 42. Für Richards Reaktion vgl. Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 63–64. Vgl. dazu Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 13.
Eröffnungsszene (I,1)
113
Redepaare ein.333 Von der Konzeption der Szene sind die Reden dem genus iudiciale zuzuordnen, bestehend aus einer accusatio und einer defensio. Doch werden Erwartungen, man hätte eine ähnliche Gerichtsszene wie in Sejanus His Fall, mit rhetorisch ausgeklügelten Reden nicht erfüllt. Bolingbrokes erste Anklage gegen Mowbray (I,1,30–46) ist nichts weiteres als eine heftige Invektive gegen seinen Widersacher. Dabei zerfällt die erste Rede in zwei kleinere Einheiten, von denen die erste dem benevolum parare dient: »First – heaven be the record to my speech! – In the devotion of a subject’s love, Tend’ring the precious safety of my prince, And free from other misbegotten hate, Come I appellant to this princely presence.« (I,1,30–34)
Dazu bekundet er dem König gegenüber seine Demut und Ergebenheit (V. 30 und 32).334 Diesem ersten Teil stellt sich der zweite mit der Anschuldigung diametral gegenüber. Der harte Übergang wird durch die Verse 35–38 markiert: »Now, Thomas Mowbray, do I turn to thee, And mark my greeting well; for what I speak My body shall make good upon this earth, Or my divine soul answer it in heaven.« (I,1,35–38)
Schon hier schwingt ein aggressiver Unterton mit, der in den nachfolgenden Versen immer offener wird, wie etwa in Vers 39f.: »Thou art a traitor and a miscreant, / Too good to be so, and too bad to live […].«335 Mowbray wird ohne rhetorischen Schmuck direkt als Verräter und Schuft beschuldigt. Traversi erachtet die beiden Schimpfworte schon als ausreichend, um eine Wirkung beim Gegner zu erzielen, doch Bolingbrokes Verbitterung entfaltet sich aus der Antithese »good« und »bad« (Vers 40).336 Auffällig ist an dieser Stelle, daß Bolingbroke sich selbst das Attribut »my divine soul« zuschreibt. Nach dem Verständnis jener Epoche war das einzig Göttliche auf der Welt der König, dessen Herrschaft »von Gottes Gnaden« war. Es ist unwahrscheinlich, an dieser Stelle Bolingbroke die Absicht zuzuschreiben, König Richard jetzt schon stürzen zu wollen. Vielmehr sieht er sich mit seinem Cousin Richard auf Augenhöhe und dadurch über Mowbray. Anstatt nun mit 333 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 42. 334 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 42f. 335 Traversi sagt, daß die beiden Invektiven hysterisch werden, vgl. Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 14. 336 Vgl. Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 14. Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 111, paraphrasiert den Streit folgendermaßen: »Der Streit wird mit großer Rhetorik, in kräftigen Bildern von den Kampfhähnen ausgetragen, die beide, als Politiker, die sie sind, wissen, daß sie nicht die ganze Wahrheit sagen, während sie sich publikumswirksam in Szene setzen […].«
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Shakespeare, King Richard II
neuen Vorwürfen aufzuwarten, wiederholt Bolingbroke seine Invektive – die Wiederholung läßt das »Once more« erahnen –, wie er sagt, »the more to aggravate the note«. Die einzige Steigerung liegt in Vers 44 im Adjektiv »foul«. Durch die Worte »First«, »Now« und »Once more« strukturiert Bolingbroke seine Rede. Müller betrachtet sie lediglich als Verstärker: »Die Worte […] markieren nicht Etappen in einem logisch-argumentativen Prozeß. Sie sind vielmehr Emphase-Zeichen.«337 Man sollte dennoch in Betracht ziehen, daß hier beide Funktionen, Strukturierung und Emphase338, zum Tragen kommen. Daß Bolingbrokes Rede wenig argumentativ ist, wird durch das gänzliche Fehlen von Argumenten bzw. Beispielen klar. Es kreist alles um das Thema Gewalt: seinen Worten will Bolingbroke Taten folgen lassen, und zwar am liebsten sofort, beispielsweise in Vers 46: »What my tongue speaks my right-drawn sword may prove.« Das Abrupte in seiner Rede gewährt dem Zuschauer Einblicke in seine Emotionen und generiert darüber hinaus die für die erste Szene vorherrschende Atmosphäre. So abrupt, wie Bolingbroke angefangen hat, so abrupt endet auch seine Rede. Bevor er nämlich seine Haßtirade auf Mowbray fortführen kann, unterbricht er ihn in I,1,47 mit seiner Gegenrede. Mowbrays defensio (I,1,47–68) paßt wie eine Negativschablone zu Bolingbrokes Anklage: auch seine Verteidigung ist in zwei Abschnitten aufgebaut.339 Er nennt gleich zu Beginn, worauf die Auseinandersetzung hinauslaufen soll: »’Tis not the trial of a woman’s war, The bitter clamour of two eager tongues, Can arbitrate this cause betwixt us twain; The blood is hot that must be cooled for this.« (I,1,48–50)
Dieser Streit soll gar nicht erst mit Worten ausgetragen werden, was durch die Metonymie »a woman’s war« deutlich wird.340 Statt zu schimpfen, soll mit Waffen gekämpft werden. Mowbrays Konter ist, was die rhetorische Qualität betrifft, genauso schwach wie Bolingbrokes Rede. Zunächst sagt er aus, daß die Ehrerbietung (»reverence«) König Richard gegenüber seine Rhetorik bremse: 337 338 339 340
Müller, Die politische Rede, S. 43. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 43. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 43. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 44. Müller verweist auf den Topos des Weiberkrieges in der Theomachie von Homers Ilias. Bei Homer heißt es (Il. υ,251–255): »ἀλλὰ τί ἢ ἔριδας καὶ νείκεα νῶιν ἀνάγκη / νεικεῖν ἀλλήλοισιν ἐναντίον ὥς τε γυναῖκας, / αἵ τε χολωσάμεναι ἔριδος πέρι ϑυμοβόροιο / νεικεῦσ’ ἀλλήλῃσι μέσην ἐς ἄγυιαν ᾿ιοῦσαι / πόλλ’ ἐτεά τε καὶ οὐκί· χόλος δέ τε καὶ τὰ κελεύει.« In der deutschen Übersetzung von Voss: »Doch was nötiget uns, in Erbitterung gegen einander Lästerworte zu lästern und Schmähungen, gleich den Weibern, die, zum Zorne gereizt von herzdruchdringender Feindschaft, lästern gegen einander, in offener Strasse sich treffend, manches wahr, und auch nicht; denn der Zorn gebietet uns solches.«
Eröffnungsszene (I,1)
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»First, the fair reverence of your highness curbs me From giving reins and spurs to my free speech, Which else would post until it had returned These terms of treason doubled down his throat.« (I,1,54–57)
Aber auch Mowbray kommt nicht ohne eine Darstellung von Gewalt aus. »Setting aside his high blood’s royalty, And let him be no kinsman to my liege, I do defy him, and I spit at him, Call him a slanderous coward and a villain;« (I,1,58–61)
Bei Müller heißt es weiter: »Das Offensive dieses Redestücks wird auch durch den Gebrauch des Konjunktivs (»would post«, 56, »I would allow«, 62) etwas gemildert […].«341 Die Verteidigung ist relativ einfallslos, da sie bereits Gesagtes in irgendeiner Form wiederholt: der Vorwurf des Hochverrats wird nur zurückgeschickt, Schimpfworte werden durch Synonyme ersetzt. Auffällig bei Mowbray ist, daß er Bolingbroke nicht direkt anspricht, sondern von ihm höchstens in der dritten Person spricht, was die Pronomina »his« (V. 58), »him« (V. 59ff.) und »he« (V. 68) belegen. Der Großteil der Verteidigungsrede wird von den Invektiven, Beleidigungen und Beschimpfungen eingenommen, aber eine Verteidigung durch das Widerlegen von Bolingbrokes Anschuldigungen bleibt uns Mowbray bis in Vers 65 schuldig. Die letzten beiden Verse seiner Ausführungen enthalten erst die defensio, in der es schlicht heißt: »Meantime let this defend my loyalty: By all my hopes most falsely doth he lie.« (I,1,67f.)
Zwischen den beiden Gegnern steht König Richard, nach dessen Einschreiten erst Bolingbroke seine Anklage mit Inhalt füllt. Bolingbroke baut seine accusatio aus drei verschiedenen Anklagepunkten auf, wobei der letzte Punkt zugleich der wichtigste ist: der Tod Gloucesters, Richards und Bolingbrokes Onkel also.342 Das Vorbringen der Anklage wirkt durch »Look« (Vers 87), »Besides« (Vers 92) und »Further« (Vers 98) wie eine Aufzählung. Um mehr Gewicht und Theatralik zu
341 Müller, Die politische Rede, S. 43. 342 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 45. Daß der Tod Gloucesters der Aufhänger der gegenseitigen Anklagen ist, erfährt der Zuschauer erst an dieser Stelle. Es ist ungeklärt, inwiefern König Richard mit dem Tod des Duke of Gloucester zu tun hat. Vgl. dazu auch Porter, S. 14: »Much of the reciprocal accusation in this scene concerns the death of the Duke of Gloucester, Richard’s and Bolingbroke’s uncle and the former’s severest critic. Though Gloucester’s death at Calais while Mowbray was there in command seems to have been an execution ordered by Richard, the king never admits any responsibility for it, so that the event remains somewhat ambiguous throughout the play.«
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Shakespeare, King Richard II
erzielen, erhält der dritte und letzte Anklagepunkt einen mit einer Bibel- und Blutmetaphorik angereicherten Vergleich343: »Further I say, and further will maintain Upon his bad life to make all this good, That he did plot the Duke of Gloucester’s death, Suggest his soon-believing adversaries, And consequently, like a traitor coward, Sluiced out his innocent soul through streams of blood – Which blood, like sacrificing Abel’s, cries Even from the tongueless caverns of the earth To me for justice and rough chastisement.« (I,1,98–106)
Doch auch in der zweiten accusatio kommt Bolingbroke nicht umhin, seinen Gegner zu beleidigen. Schimpfworte aus der ersten Invektive finden sich hier, teils durch Adjektive verstärkt, wieder, wie etwa »false traitor«, »injurious villain« oder »traitor coward«.344 Trotz seines Eifers Mowbray zu belasten, mangelt es Bolingbrokes Rede an Beweisen. Jeder von Bolingbroke vorgebrachte Anklagepunkt wird sinngemäß von einer Phrase wie »my life shall prove it true« (Vers 87) dargelegt. Die Entscheidung über die Wahrheit nach Bolingbrokes Auffassung soll nicht durch Worte, sondern durch Taten herbeigeführt werden. Ein rechtmäßiges Gottesurteil kann folglich nur durch ein Duell gefällt werden. Hierzu schreibt Müller: »Auch das sind keine Beweise. Beweisen soll allein die Tat und nicht das Argument. Es handelt sich hier nicht um eine ›logisch-folgernde Art‹ des Redens. Die in der zweiten accusatio verschärft zutagetretende Polarität von Wort und Tat läßt erkennen, wie sehr Bolingbroke auf das Duell als Mittel der Entscheidung drängt.«345
Mowbrays Antwort ist ähnlich wie Bolingbrokes Anklagerede von Invektiven und Beschimpfungen geprägt, beispielsweise »the false passage of thy throat, thou liest« (Vers 125), »swallow down that lie« (Vers 131) und »As for the rest appealed, / It issues from the rancour of a villain, / A recreant and most degenerate traitor, Which in myself I boldly will defend« (Vers 142–145). Vom rhetorischen Gehalt her ist die defensio Mowbrays sehr dünn, der Hauptanklagepunkt wird
343 Zum Bibelvergleich mit Kains Brudermord vgl. Müller, Die politische Rede, S. 50, ferner Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 15: »The elaboration and the suggestion, in the solemn Biblical parallel, that this crime has a universal significance add a new and important note to the complete effect of the episode.« 344 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 45. 345 Müller, Die politische Rede, S. 45. Vgl. auch Mahood, »Wordplay in Richard II.« In: Brooke, Nicholas (Hrsg.). Shakespeare: Richard II. A Casebook. London: Macmillan 1973 [Reprint 1983], S. 198–213, hier: S. 199.
Eröffnungsszene (I,1)
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nur in aller Kürze erwähnt und nicht argumentativ-sinnvoll entkräftet, weswegen Müller zu Recht von einer »pervertierten Rhetorik«346 spricht.347 Im diametralen Gegensatz dazu steht König Richard, der darauf bedacht ist, sich als Richter dieser Angelegenheit unparteiisch zu geben: »Mowbray, impartial are our eyes and ears.« (I,1,115) Darüber hinaus distanziert sich Richard durch seine Rhetorik von Bolingbroke und Mowbray. Er begibt sich nicht auf das sprachliche Niveau der beiden, sondern redet statt dessen im Blankvers, wodurch er sprachlich Distanz schafft.348 Seine mit rhetorischen Figuren angereicherte formelle und bildhafte Sprache dient Shakespeare darüber hinaus als Metapher für die Ordnung im Staat, die allein durch den König kontrolliert wird:349 »Then call them to our presence. Face to face, And frowning brow to brow, ourselves will hear The accuser and the accused freely speak. High-stomached are they both and full of ire, In rage, deaf as the sea, hasty as fire.« (I,1,14–19)
Allerdings ist es auch eine Scheinsicherheit, die ihm seine formelle Sprache suggeriert. Zu groß scheint die Distanz zwischen König und Untertanen zu sein, daß er das im Konflikt zwischen Mowbray und Bolingbroke schwelende Problem verkennt.350 So scheint seine Herangehensweise den Konflikt zu beenden naiv, wenn er sagt: »Wrath-kindled gentlemen, be ruled by me: Let’s purge this choler without letting blood. This we prescribe, thouth no physician; Deep malice makes too deep incision. Forget, forgive, conclude and be agreed. Our doctors say this is no month to bleed. Good uncle, let this end where it begun; We’ll calm the Duke of Norfolk, your son.« (I,1,152–159)
346 Müller, Die politische Rede, S. 43. 347 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 45–46. Vgl. auch Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 15, der explizit darauf hinweist, daß Richards Anteil an der Ermordung Gloucesters relativ groß ist: »This is clearly a world more complex than that of rhetorical defiance and knightly conflict, and in it Richard, who still maintains an attitude of royal impartiality, is more deeply involved than he admits.« Vgl. auch Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 61: »The murder of Gloucester remains in some respects murky; the question is never fully brought out and resolved, and Richard never admits his own guilt.« 348 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 49. Vgl. auch Mahood, »Wordplay in Richard II«, S. 198. 349 Vgl. dazu auch Forker, S. 86ff., ferner Müller, Die politische Rede, S. 46. 350 Bolingbroke und Mowbray passen ihr Register an Richards an, sobald sie mit ihm sprechen. Vgl. auch Hasler, »Richard II: Gestische Ironie und das Problem Bolingbroke.« In: Habicht, Werner; Schabert, Ina (Hgg.). Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares. München: Fink 1978, S. 142–153, hier: S. 143.
118
Shakespeare, King Richard II
Schon durch die Alliteration »Forget, forgive« – ähnlich dem Deutschen »Vergeben und vergessen« – bagatellisiert er Bolingbrokes und Mowbrays Disput und glaubt tatsächlich, die beiden Kontrahenten mit einer derartigen Floskel versöhnen zu können: »The king has no wish to see Mowbray’s guilt exposed by a trial of arms, and he attempts to end this scene of quarrel by this own trite epilogue on the theme of ›Forget, forgive‹. But neither contestant will swallow his words.«351
Zusätzlich zeigen die letzten beiden Verse mit seiner Anrede an Gaunt seine Ratund Hilflosigkeit in dieser Situation. Richard ist als Richter einfach überfordert, was darin resultiert, daß er dem Wunsch der beiden Kontrahenten in den Versen 196–205 u. a. mit »There shall your swords and lances arbitrate / The swelling difference of your settled hate« nachgibt.352 Seine Zurückhaltung und sein Kontrollverlust deuten seinen späteren Untergang an, entrücken ihn allerdings auch in der vorliegenden Szene aus dem eigentlichen Geschehen. Shakespeares Verwendung des Spiels im Spiel – eine ähnliche Konstellation hatten wir bereits bei Massingers The Roman Actor – schafft ein zweites Drama zwischen den Kontrahenten Bolingbroke und Mowbray. Bei Mahood heißt es weiter: »As soon as the playhouse trumpet has sounded and the actors are enered Richard […] stages a miniature drama between Bolingbroke and Mowbray, which he promises himself shall be a good show.«353 Aufgrund seines zur Szene vorgefertigten Bildes (I,1,15–19) fungiert er als Regisseur, allerdings weiß er noch nicht, wie dieses Schauspiel enden wird.354
6.3
Bolingbrokes und Mowbrays Verbannung (I,3)
Die dritte Szene des ersten Aktes enthält mit dem Duell – Suerbaum nennt es ein »zeremonielles Gottesgericht«355 – zwischen Bolingbroke und Mowbray die erste Klimax in King Richard II. Nur nimmt das Duell einen anderen Verlauf, als von 351 Mahood, »Wordplay in Richard II«, S. 200. Bei Müller, S. 50, heißt es: »Während Richard den Streit völlig unter seiner Kontrolle zu haben scheint, offenbart seine Sprache, daß er die Wirklichkeit des Konflikts gar nicht erkennen und mit ihm deshalb nicht fertig werden kann.« Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 16, wertet außerdem Richards Äußerung als »almost cynical aphorism«. 352 Vgl. Porter, S. 13. Vgl. auch Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 64. Vgl. Mahood, »Wordplay in Richard II«, S. 201. Vgl. auch Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 111. 353 Mahood, »Wordplay in Richard II«, S. 199. 354 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 46. Mahood geht sogar noch weiter und sieht in Richard die Kombination aus »producer and chief actor«, vgl. S. 200. Siehe auch Zimmermann, »Die ideologische Krise in King Richard II«, S. 103–122, hier: S. 122. 355 Suerbaum, Shakespeares Dramen, S. 145.
Bolingbrokes und Mowbrays Verbannung (I,3)
119
den beiden Gegnern und den Üblichkeiten eines Gottesurteils intendiert. Noch bevor es zum ersten Schlagabtausch kommt, unterbricht Richard den Kampf, wie der Lord Marshal in Vers 118 mit »Stay! The King hath thrown his warder down« bekanntgibt. In I,3 wird als die Fortführung der Eröffnungsszene eine ähnliche Atmosphäre geschaffen, beispielsweise durch die zeremonielle Vorstellung beider Duellanten. Traversi paraphrasiert I,3 so: »The tournament scene itself […] is conducted in a similar spirit. As befits the occasion, it is surrounded with a formality which, at the same time as it contributes to the creation of an atmosphere ›mediæval,‹ chivalrous in spirit, points to a definite limitation.«356
Nach dem Grund seines Erscheinens gefragt, führt Mowbray aus, daß er neben der Verteidigung seiner Königstreue Bolingbroke als Verräter überführen will: »[…] To prove him, in defending of myself, A traitor to my God, my king and me; And as I truly fight, defend me heaven.« (I,3,23–25)
Das gleiche Anliegen hat auch Bolingbroke, der ganz nach Protokoll kundgibt: »To prove, by God’s grace and my body’s valour, In lists, on Thomas Mowbray, Duke of Norfolk, That he is a traitor, foul and dangerous, To God of heaven, King Richard and to me; And as I truly fight, defend me heaven.« (I,3,37–41)
Auch wenn seine Aussage das passende Gegenstück zu Mowbrays Äußerung ist, fällt seine Steigerung »he is a traitor, foul and dangerous« (I,3,39) auf.357 Bolingbrokes Intention ist nicht unbedingt, Mowbray mittels der Adjektive »foul« und »dangerous« zu beleidigen, vielmehr soll dadurch die von ihm ausgehende Gefahr unterstrichen werden. Beide Männer beharren darauf, selbst keine Verräter zu sein. So bekräftigt Mowbray beispielsweise seine Tugendhaftigkeit mit der Trias »A loyal, just and upright gentleman« (I,3,87), seine Art der Gelassenheit spiegelt sich in »Truth hath a quiet breast« (I,3,96) wider. An dieser Stelle können dem Betrachter Zweifel kommen, daß Richard II. nicht doch in die Ermordung Gloucesters involviert sein könnte.358 356 Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 16. 357 Müllers Interpretation, Bolingbroke nenne sich zusammen mit Gott und dem König in I,3,40 (»To God of heaven, King Richard and to me«), muß an dieser Stelle widersprochen werden. Zwar hat Müller Recht, daß Bolingbroke auf seinen hohen Rang stets deutlich verweist, aber in der vorliegenden Passage benutzen sowohl Bolingbroke als auch Mowbray (I,3,24) die gleiche Phrase am Ende ihrer Vorträge, so daß hier nicht von hoher Selbsteinschätzung Bolingbrokes gesprochen werden kann. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 49. 358 Richards Zurückhaltung in I,1 und I,3 ist auffällig und kann nicht nur mit der Neutralität eines Richters erklärt werden. Vgl. S. 117, Fußnote 347.
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Shakespeare, King Richard II
Richards Zurückhaltung endet abrupt in Vers 119 mit dem Abbruch des Zweikampfs.359 Durch sein Eingreifen durchbricht er, der sonst für die Ordnung in seinem Staat verantwortlich ist, die einer strengen Ordnung unterliegenden Abläufe überraschend.360 Die 18 Verse umfassende Rede entfällt in zwei Teile: der erste Teil enthält Richards eigenwillige Begründung für das Verbannungsurteil im zweiten Teil. Die Begründung setzt sich zusammen aus drei parallelen mit »for« eingeleiteten Kausalsätzen, von denen die ersten beiden das Thema Bürgerkrieg aufgreifen: »For that our kingdom’s earth should not be soiled With that dear blood which it hath fostered; And for our eyes do hate the dire aspect Of civil wounds ploughed up with neighbour’s sword; […].« (I,3,125–128)
Das Objekt bzw. Genitivattribut wird bei beiden Einheiten jeweils durch ein Enjambement abgetrennt. Dominiert wird Richards Rede durch den Kontrast »Krieg – Frieden«. Im dritten und auch längsten »for«-Satz wendet sich Richard an Bolingbroke und Mowbray und kommt einer accusatio nahe: »And for we think the eagle-winged pride Of sky-aspiring and ambitious thoughts, With rival-hating envy, set on you To wake our peace , which in our country’s cradle Draws the sweet infant breath of gentle sleep, Which so roused up with boist’rous untuned drums, With harsh-resounding trumpets’ dreadful bray And grating shock of wrathful iron arms, […].« (I,3,129–136)
In der tiefen Feindschaft zwischen Bolingbroke und Mowbray, die zudem durch »rival-hating envy« gekennzeichnet ist, sieht Richard den Frieden gefährdet.361 Mit seiner Symbolik personifiziert er den aus seiner Sicht gefährdeten Frieden als »our peace, which in our country’s cradle / Draws the sweet infant breath of gentle sleep« (I,3,132f.), der durch Waffenlärm verscheucht werden könnte (»Might from our quiet confines fright fair peace«). Auch hier werden wieder die beiden Motive von Krieg und Frieden, von Harmonie und Disharmonie antithetisch gegenübergestellt362: »sweet infant breath of gentle sleep« stößt auf »boist’rous untuned drums« und »harsh-resounding trumpets’ dreadful bray«. Verstärkt wird Richards Spiel mit den Kontrasten durch Adjektive, wie »sweet«, »gentle«, »untuned«, »dreadful« oder »wrathful«, wodurch seine Rede pompös wirkt. 359 Vgl. Porter, S. 15. 360 Vgl. Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 61. Richard ist für die entstehende Unordnung selbst verantwortlich, ebenso ist er verantwortlich für Gloucesters Tod. 361 Vgl. Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 17f. 362 Der locus amoenus steht bei Richard im steten Kontrast mit der Dystopie.
Bolingbrokes und Mowbrays Verbannung (I,3)
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Wirkungstechnisch ist diese Rede Krippendorff zufolge »unter der Oberfläche poetischer Bilder, gekünstelt, geschraubt, ein einziger, umständlicher, langer Satz, voller verkrampft konstruierter Bindestrich-Adjektive«.363 Mit Vers 138 »And make us wade even in our kindred’s blood« bildet Richard eine Klammer mit Vers 125f., die seine sehr bildhafte Ausführung vom zweiten Teil seiner Rede abgrenzt. Der Konnektor »therefore« in 139 markiert den Beginn der durch Bolingbrokes Einwurf zweigeteilten conclusio mit ihren zwei unterschiedlichen Verbannungsurteilen: »You, cousin Hereford, upon pain of life, Till twice five summers have enriched our fields Shall not regreet our fair dominions, But tread the stranger paths of banishment. […] Norfolk, for thee remains a heavier doom, Which I with some unwillingness pronounce: The sly slow hours shall not determinat The dateless limit of thy dear exile.« (I,3,140–151)
Das Urteil wirft allerdings mehr Fragen auf, als es beantwortet: warum unterbricht Richard die Handlung und verbannt Bolingbroke und Mowbray? Warum fällt Mowbrays Strafmaß höher aus als Bolingbrokes? Man kann hierüber nur Vermutungen anstellen: anscheinend weiß Mowbray mehr und wäre für Richard als Komplize eine Gefahr für ihn, weswegen er mit lebenslänglichem Exil bestraft wird. Seine Ungerechtigkeit unterstreicht er in Vers 174f. mit »It boots thee not to be compassionate. / After our sentence, plaining comes too late.« durch übertriebene Härte gegenüber Mowbrays Wehklage. Es ist außerdem Richards Unfähigkeit, die ihn später im Drama die Krone kosten wird.364 In I,3,183ff. läßt er beide Kontrahenten einen zusätzlichen Schwur leisten – »You never shall, so help you truth and God, / Embrace each other’s love in banishment; […]« –, mit dem er sich selbst widerspricht. Denn in I,1,156 ließ er noch im selbstherrlichen Ton »Forget, forgive, conclude and be agreed« verlauten.365 Diese Widersprüchlichkeit und auch Ungerechtigkeit Richards begegnet uns noch einmal in Vers 208– 213 mit der selbstherrlichen Herabsetzung von Bolingbrokes Exil von zehn auf 363 Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 114. Vgl. auch Goddard, The Meaning of Shakespeare, S. 151. Ferner markiert die Passage zwischen Vers 132–137 einen Bruch in der Logik von Richards Rede, wie u. a. Krippendorff sagt: »[…] die Rede verhaspelt sich, das Bild vom schlafenden, aber aufgestörten Frieden gerät schief […].« 364 Richard greift nämlich in die von Gott gewollte Handlung ein. Gaunt sagte bereits in I,2,37ff. mit »God’s is the quarrel […]«, daß Richard sich noch vor Gott zu verantworten habe. 365 Vgl. Porter, S. 15. Die Feindschaft zwischen Bolingbroke und Mowbray soll außerhalb von Richards Königreich fortbestehen, innerhalb seines Königreiches soll Eintracht herrschen.
122
Shakespeare, King Richard II
sechs Jahre.366 Gegen Mowbray gab sich Richard als harter, unnachgiebiger Richter, bei Bolingbroke macht er allerdings im Nachhinein eine Ausnahme. Suerbaum faßt Richards Handlung in I,3 wie folgt zusammen: »Richard II. bricht das zeremonielle Gottesgericht zwischen Bolingbroke und Mowbray im entscheidenden Moment ab und erweist sich damit als unfähiger und ungerechter Monarch.«367
Während Bolingbroke schwer an seiner Verbannung zu tragen hat, versucht dessen Vater, Gaunt, ihn mit einer philosophischen Rede zu trösten. Auf die drei aristotelischen genera bezogen, kann Gaunts Rhetorik aufgrund seines Beratens dem genus deliberativum zugeordnet werden. Da die Rede aus der Situation heraus entsteht, hat sie weder ein klar gegliedertes exordium noch eine narratio. Ferner wird die narratio aufgrund des Kontextes – beide Charaktere kennen den Tathergang – nicht benötigt. Der Einstieg in die Rede ergibt sich aus der dialogisch aufgebauten Passage von Vers 253–276, in welcher Bolingbroke über sein Schicksal lamentiert: »Joy absent, grief is present for that time« (I,3,259). Gaunt versucht durch Euphemismen wie in der rhetorischen Frage »What is six winters? They are quickly gone« (V. 260) den Schmerz seines Sohnes zu lindern. Jedoch findet jener wiederum neue Aspekte, der Verharmlosung etwas entgegenzusetzen. Jedes von Gaunt in positiver Konnotation verwendete Wort interpretiert Bolingbroke negativ, was sich in Wortspielen niederschlägt. Beispielsweise versteht er Gaunts »travel« (V. 262) nicht als Reise, sondern ändert den Begriff um in »pilgrimage« (V. 264) und »tedious stride« (V. 268), ebenso macht er aus »pleasure« (V. 262) »Grief« (V. 276).368 In seiner argumentatio entfaltet Gaunt seinen philosophischen Ansatz, wie Bolingbroke mit der Verbannung umzugehen habe. Seine Sätze sind kurz und prägnant, was durch Imperative z. B. »teach«, »think«, »go« und »imagine« unterstrichen wird. Die Argumentation baut auf den einen Satz »Teach thy necessity to reason thus: / There is no virtue like necessity« (I,3,277f.) auf. Ausgehend von diesem Vergleich »no virtue like necessity« leitet Gaunt seine Beispiele ab. Bolingbroke soll seinen Blickwinkel ändern, wenn es heißt: »Think not the King did banish thee, / But thou the King […]« (I,3,279f.). Gleich mit seinem ersten Beispiel zeigt sich Gaunt unbewußt vorausdeutend, da diese Illusion in der
366 Mahood, »Wordplay in Richard II«, S. 202, sieht hierin bereits den Wendepunkt von Richards Herrschaft: »It is a dramatic instant, the moment when, with Richard at the height of his power and Bolingbroke at the lowest each of his fortunes, the buckets begin to move; for Bolingbroke seems suddenly to comprehend and covet the efficacy of a king’s words […].« Vgl. auch Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 61. 367 Suerbaum, Shakespeares Dramen, S. 145. 368 Vgl. Mahood, »Wordplay in Richard II«, S. 202f.
Gaunts Rede auf England (II,1,31–68)
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späteren Handlung Realität werden soll und Bolingbroke derjenige ist, der den König verbannt. Die nächsten Beispiele folgen diesem antithetischen Prinzip. Bolingbroke soll folglich lügen und an diese Lüge oder Illusion glauben. Statt Verbannung habe Gaunt seinen Sohn entsandt, um Ehre zu erlangen (»to purchase honour«). Mit seiner Rhetorik baut Gaunt ein idealistisches Weltbild auf, das mit Vergleichen ausgestaltet wird: »Suppose the singing birds musicians, The grass whereon thou tread’st the presence strewed, The flowers fair ladies, and thy steps no more Than a delightful measure or a dance;« (I,3,288–291)
Abschließend begründet Gaunt »For gnarling Sorrow hath less power to bite / The man that mocks at it and sets it light« (V. 292–293) seine Utopie, daß sich Bolingbroke jene Illusion zum Selbstschutz schaffen soll, um die Verbannung leichter zu ertragen.369 Mit seiner stoischen Ruhe, seiner idealistischen philosophischen Anschauung bildet er in dieser Passage den Gegenpol zu Bolingbroke, der sein Exil realistisch betrachtet. Denn dieser vertritt in Vers 300f. die Meinung, »[…] the apprehension of the good / Gives but the greater feeling to the worse«. Im gesamten Drama kontrastiert Shakespeare Bolingbrokes realistische Weltanschauung mit der stilisierten Weltanschauung Richards, der sich hinter höfischem Schein und Zeremoniell versteckt und somit die ihm drohende Gefahr verkennt.370
6.4
Gaunts Rede auf England (II,1,31–68)
Die erste Szene des zweiten Aktes wird gleich von drei rhetorischen Reden bestimmt. Zwei dieser Reden werden von Gaunt gehalten, in denen er einerseits Einblicke in seine zutiefst patriotische Seele gewährt, andererseits greift er in seiner zweiten Rede, die im nachfolgenden Unterkapitel besprochen wird, Richard und dessen Führungsstil stark an.371 Schon in den ersten beiden Versen – »Methinks I am a prophet new inspired, / And thus, expiring, do foretell of him.« (Vers 31f.) – legt Gaunt die Koordinaten 369 Den Abschluß der Rede eine conclusio zu nennen, würde dem Begriff nicht gerecht werden, weil einige Bestandteile, wie etwa das Rekapitulieren des Themas, fehlen. 370 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 50f. 371 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 51: »Charaktere wie Gaunt, York und der Bischof von Carlisle sind durch die politische Position, die sie vertreten, bestimmt. Sie sind Politikphilosophen. Shakespeare baut sie aus den Urteilen, die sie über die politische Lage des Landes und über das Königtum abgeben, als Charaktere auf. Ihre großen Reden sind wichtige Bestandteile der Komposition und der politischen Aussage des Dramas.«
124
Shakespeare, King Richard II
seiner Rede fest. Müller nennt Gaunts Rede eine »prophetische Rede«372, die allerdings ebenso Elemente aus dem genus demonstrativum enthält. Der im Sterben liegende Gaunt bäumt sich noch einmal ein letztes Mal auf, um sein Enkomium auf England zu halten, was mittels des Wortspiels aus der Kombination »inspired«–»expiring« getragen wird.373 Kritik an Richard schwingt bereits von Anfang an mit, wenn er dessen Regierungsstil mit »violent fires« und »sudden storms« vergleicht. Beide Symbole haben gemäß Gaunt eine kurze Lebensdauer: »For violent fires soon burn out themselves; Small showers last long but sudden storms are short; […].« (II,1,34f.)
Es ist weiterhin die durch Alliterationen getragene Antithetik (»long« – »short«), mit der er obendrein Richard warnt. Alles Hastige und Unüberlegte, also Richards Taten, führen sein eigenes Ende herbei. Das Thema der Hast und Gier wird in Vers 37 mit »With eager feeding food doth choke the feeder« fortgeführt und zeigt – unterstützt durch das Polyptoton – äußerst drastisch Richards jähes Ende.374 Erst ab Vers 40 beginnt das nun eigentliche Lob auf England welches aus heutiger Sicht klischeehaft wirkt. Grammatikalisch sticht das Enkomium durch seine ungewöhnliche Satzstruktur hervor: der erste Satz umfaßt 20 Verse, von denen 18 auf das Subjekt (Vers 40–58) und zwei Verse auf das Prädikat entfallen.375 In einer Klimax baut sich das Subjekt durch Aufzählungen, angefangen bei »This royal throne of kings, this screptred isle« (II,1,40), allmählich auf, bis es in »This land of such dear souls, this dear dear land, / Dear for her reputation through the world« (II,1,57f.) seinen Höhepunkt erreicht. Als Basis von Gaunts patriotischer Ausführung dient die Verwurzelung Englands mit der Monarchie, in der die Krone von Generation zu Generation weitergereicht wird (Vers 40).376 372 Müller, Die politische Rede, S. 52. Erst später, ab II,1,59, stellt sich heraus, daß Gaunts Rede bis hierhin auf die Vergangenheit gerichtet ist. Somit rückt sie als Abgesang näher an eine laudatio funebris. 373 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 52. Vgl. auch Suerbaum, »›This royal throne of kings, this sceptred isle …‹: Struktur und Wirkungsweise von Gaunts England-Variationen«, S. 73–88, hier: S. 75, der negative Kritik an Gaunts Rede paraphrasiert. 374 Im weitesten Sinne spielt Gaunt mit »eager feeding food« auf Völlerei als eine der Sieben Todsünden an. Die Völlerei in Form der Selbstsucht kann auf Richards Handlungsweise zurückgeführt werden. 375 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 52: »Das Subjekt des Satzes besteht aus einer Folge von Appositionen, die steigernd angeordnet sind. Intensivierende Wirkung haben die eingeschobenen Partizipialfügungen, die nach dem Gesetz der wachsenden Glieder gebaut sind.« 376 Suerbaum belegt, daß Gaunt aufgrund seiner Zwangssituation nach Worten ringt und daher seine Rede eine uneigentliche Rede sei: »Gaunt nimmt, als ihm die rechten Worte fehlen, seine Zuflucht zunächst zu uneigentlicher Rede (40ff.). Als er so sein Aussageziel nicht erreicht, türmt er eine Reihe eigentlicher Begriffe aufeinander, die in der Benennung des
Gaunts Rede auf England (II,1,31–68)
125
Der zweite Argumentationspfeiler stellt England als eine natürliche bzw. lebendige Einheit dar, etwa durch die Metaphern »This other Eden, demi-paradise« (Vers 42) oder »This nurse, this teeming womb of royal kings« (Vers 51).377 England, dargestellt als Garten bzw. als schwangerer Schoß, trägt zu Gaunts patriotischem Bild bei. Das der Rede nun Eigentümliche ist die Art und Weise, wie Gaunt dieses Bild generiert: Gegensätzliche, zueinander nicht passende Begriffe, beispielsweise »this seat of Mars« und »This other Eden, demi-paradise« (II,1,41f.), werden miteinander vermengt und »zur Harmonie gebracht«378. Mars, der römische Kriegsgott, steht im diametralen Verhältnis zum Garten Eden. Allerdings ist England nach Gaunts Ausspruch nicht der Garten Eden, sondern ein »other«, ein weiterer oder zweiter Garten Eden. England ist demzufolge das Paradies auf Erden. Um so paradoxer mag es erscheinen, daß gerade an dieser Stelle das Paradies mit dem Sitz des Kriegsgottes Mars zusammenfällt. Aus Gaunts patriotischer Perspektive stehen beide Begriffe für traditionelle englische Werte: einerseits ein wunderbares Land mit paradiesischen Zuständen – von Gaunt in Vers 57 als »this dear dear land« bezeichnet –, andererseits eine traditionsreiche kriegerische Nation.379 Das Loblied auf England ist, wie ab II,1,59 deutlich wird, aus Gaunts Perspektive stets rückwärts gerichtet. Statt aktuelle Elemente in seine Aufzählungen einzubauen, bezieht sich Gaunt auf Vergangenes, etwa die Kreuzzüge380:
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Landes mit seinem Eigennamen, also in einem Verzicht auf Umschreibung, gipfeln (50).« Vgl. Suerbaum, »›This royal throne of kings, this sceptred isle …‹: Struktur und Wirkungsweise von Gaunts England-Variationen«, S. 73–88, hier: S. 80. Vgl. auch Elliott Jr., »History and Tragedy in Richard II«, S. 253–271, hier: S. 261. Ferner vertritt Leggatt die Auffassung, daß die Aufzählungen wie etwa in II,1,50ff. Gaunts Suchen nach dem geeigneten epitheton ornans für England darstellt. Keines dieser Beiwörter scheint Gaunts Ansprüchen zu genügen, erst bei »England« ist seine Klimax beendet, die gleichzeitig mit dem Versende zusammenfällt. Vgl. Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 55. Vgl. ferner Suerbaum, »›This royal throne of kings, this sceptred isle …‹: Struktur und Wirkungsweise von Gaunts England-Variationen«, S. 73–88, hier: S. 81. Müller, Die politische Rede, S. 53. Vgl auch Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 21. Suerbaum erläutert unter rhetorischen Aspekten die eigentlichen und uneigentlichen Aspekte als Tropen. Suerbaum, »›This royal throne of kings, this sceptred isle …‹: Struktur und Wirkungsweise von Gaunts England-Variationen«, S. 73–88, hier: S. 80. Für eine Erläuterung zur Theorie der Tropen siehe Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 282ff. Müller stellt zusätzlich noch die Verschiebung der Perspektive in Gaunts Rede in den Vordergrund. Semantisch enge Beschreibungen wechseln sich mit weiter gefaßten Begriffen ab, was Müller »Expansion« und »Kontraktion« nennt. Durch jene Perspektive wird das Bild von England als Mikrokosmos, welches Gaunt in den Versen 43 und 45 mit »This fortress built by Nature for herself« und »this little world« etabliert, unterstützt. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 53. Müller manifestiert ferner in Gaunts Worten nicht nur eine patriotische Grundhaltung, sondern auch eine exstatische Preisung Englands, z. B. in Vers 57f. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 54. Vgl. Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 21, beschreibt Gaunts
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Shakespeare, King Richard II
»Renowned for their deeds as far from home, For Christian service and true chivalry, As is the sepulchre in stubborn Jewry Of the world’s ransom, blessed Mary’s son« (II,1,53–56)
Das von Gaunt aufgebaute patriotische Englandbild kumuliert in II,1,58 mit »Dear for her reputation through the world«. »Reputation« faßt mit seiner positiven Konnotation im Grunde alle tugendhaften Eigenschaften Englands zusammen, bevor im folgenden Vers der Wechsel in Tempus und Ton – »Is now leased out« – vollzogen wird. Verschärft wird der Gegenwartsbezug durch das Adverb »now«, die laudatio wechselt über in eine vituperatio gegen Richards Führungsstil, was durch das Prädikat »leased out« dargestellt ist. Das Prädikat wiederum wird in Vers 60 mit dem Vergleich »Like to a tenement or pelting farm« bildreich unterstützt. »Gaunts Erinnerung an das einstige England kontrastiert emphatisch die ideale Vergangenheit mit der Periode der Schwäche unter Richard«, heißt es bei Lenz.381 Mit der Parenthese »I die pronouncing it« greift Gaunt wieder den Gedanken seines »I am a prophet« aus II,1,31 auf und bekräftigt den vorausdeutenden Charakter des ersten Teils. Dabei wird Gaunts bevorstehender Tod auf die gleiche Ebene gestellt wie Englands Untergang.382 Traversi faßt diesen Abschnitt so zusammen: »England, in its state of unity, is, as it were, an anticipation of perfection (›This other Eden, demi-paradise‹), and the substance of its blessed state is conveyed through a sublimation of the chivalry which survives, as a shadow blemished with strife and egoism, in Richard’s own court.«383
England, die Eroberermacht, richtet sich unter Richards Führung selbst zugrunde, wie Gaunt es pathetisch ausdrückt: »That England that was wont to conquer others / Hath made a shameful conquest of itself.« Das Demonstrativum Rede als ein rhetorisches Zwischenspiel, das stilistisch eng mit der glorreichen Vergangenheit Englands verknüpft ist. 381 Lenz, S. 54. Zur Darstellung Gaunts als Patrioten vgl. auch Zimmermann, »Richard II: Zur Geschichtlichkeit der Sympathielenkung«, S. 154–163, hier: S. 158. Vgl. ferner Suerbaums Ausführungen, daß der Satz »mit Notwendigkeit als positive Aussage, als Lobpreis Englands, verstanden« werde. Suerbaum, »›This royal throne of kings, this sceptred isle …‹: Struktur und Wirkungsweise von Gaunts England-Variationen«, S. 73–88, hier: S. 79. 382 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 54. Vgl. Suerbaum, »›This royal throne of kings, this sceptred isle …‹: Struktur und Wirkungsweise von Gaunts England-Variationen«, S. 73–88, hier: S. 76: »Gaunt […] ist dem Tode nahe; er spricht mit versagendem Atem und unter Schmerzen; was er sagt, ist Sprache vor dem Ende, Vorstufe der Sprachlosigkeit. Er ist erregt; was der König mit dem Land gemacht hat, besonders die Verpachtung der Staatsfinanzen, ist so unerhört, daß ihm der Redefluß stockt und die rechten Worte fehlen. Er zögert schließlich den Abschluß des Satzes immer wieder hinaus, um noch nicht aussprechen zu müssen, was seinen Tod bedeuten müßte […].« 383 Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 21.
Gaunts Anklage gegen Richard II. (II,1,93–138)
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»that« sowie das Polyptoton verleihen Gaunts Aussage eine größere Dramatik. Seine Klagerede beendet er äußerst zügig mit zwei Versen, die in dreifacher Form – Interjektion, irrealer Wunsch und rhetorische Frage – Gaunt als englischen Patrioten darstellen. Das einleitende »Ah« entspricht dem klassischen Seufzermotiv und spiegelt Gaunts Schmerz und Verzweiflung wider. Der irreale Wunsch, daß dieser »scandal« gemeinsam mit seinem Leben verschwinde (»vanish«)384, verstärkt die Melancholie, als daß Gaunt den status quo gar nicht ändern kann, selbst wenn er abschließend die Frage stellt, wie glücklich sein nahender Tod dann wohl wäre (II,1,67f.).385
6.5
Gaunts Anklage gegen Richard II. (II,1,93–138)
Gaunts Rede auf England ist aus dem Dialog mit York erwachsen. Die innerhalb dieses Enkomiums enthaltene Kritik an Richard und dessen Regierungsstil, verfehlt ihren eigentlichen Adressaten, der erst am Ende (ab Vers 68) die Bühne betritt. Erst jetzt hat Gaunt die Gelegenheit, Richard mit seiner accusatio zu konfrontieren. Richards und Isabels Auftritt sorgt für eine kurze Unterbrechung von Gaunt. Die Konfrontation mit dem König entsteht wiederum aus dem Dialog heraus. Auf Richards »What comfort, man? How is’t with aged Gaunt?«, eine reine Routinefrage, ergeht sich Gaunt in seiner Antwort in sarkastischen Wortspielen mit seinem Namen und dem Adjektiv »gaunt«: »O, how that name befits my composition! Old Gaunt indeed, and gaunt in being old.« (II,1,73f.)
Hierbei bereitet er seinen ersten Affront gegen Richard vor, dessen Effekt er mit einer Anadiplose verstärkt386:
384 Gaunt will keine Aufklärung der Geschehnisse. Die ganze Angelegenheit soll sich der ursprünglichen Wortbedeutung des Verbs »vanish« in Luft auflösen. Nach dem OED wird die Bedeutung u. a. mit »to become invisible, esp. in a rapid and mysterious manner« definiert. 385 Ein Großteil von Gaunts Rede ist mit ihrem Vergangenheitsbezug rückwärts gerichtet. Erst ab Vers 59 richtet er den Fokus auf die Gegenwart. Mit seiner hypothetischen Formulierung »How happy then were my ensuing death« stellt er einen kurzen Blick in eine unmögliche Zukunft in Aussicht. 386 Vgl. Montgomery, »The Dimensions of Time in Richard II«, S. 73–85: »His sarcastic puns on his name and age when Richard first approaches his sickbed also remind us that his bitterness is personal as well as patriotic.« Zitat: S. 77.
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Shakespeare, King Richard II
»And therein fasting hast thou made me gaunt. Gaunt am I for the grave, gaunt as a grave, Whose hollow womb inherits naught but bones.« (II,1,81–83)387
Durch den Dialog wird das zentrale Motiv der späteren Anklagerede aufgebaut: der Kontrast zwischen gesund und krank, Leben und Tod. Die längere Passage Gaunts in II,1,73–83 fungiert als Kombination aus exordium und narratio, anhand der der König Gaunts tiefe Betroffenheit erahnen kann. Wieder rückt Gaunts prophetisches Talent in den Vordergrund, wenn er auf Richards Äußerungen »Should dying men flatter with those that live?« (II,1,88) bzw. »Thou, now a-dying, sayest thou flatterest me.« (II,1,90) den Untergang des Monarchen prophezeit: »O no, thou diest, though I the sicker be.« Zuvor läßt sich bereits in Gaunts Äußerungen – »I mock my name, great King, to flatter thee.« (II,1,87) – ein ironischer Unterton feststellen, als er öffentlich deklariert, seinen eigenen Namen zu diskreditieren, um König Richard zu schmeicheln. Seitens Richard wird Gaunts Vorausdeutung gänzlich ignoriert, was er mit »I am in health, I breathe, and see thee ill.« (Vers 92) quittiert. Ab diesem Punkt beginnt die eigentliche accusatio Gaunts. Aus halbwegs indirekten Anschuldigungen, rhetorischen Sticheleien und Wortspielen kristallisiert sich die direkte Anklage heraus. In ihrer Argumentationsstruktur zerfällt die Rede in zwei Teile, der eine umfaßt das Leitmotiv Krankheit, der andere steigert durch die Anspielung auf Richards Großvater Edward III. den gesamten Ausdruck. Der zu Beginn vorherrschende aggressive Ton wird durch das direkte Anreden Richards mit den Pronomina der zweiten Person Singular, hier in Form von »thou«, »thee« oder »thy«, geschaffen.388 Mit dieser Ausrichtung wird offensichtlich, daß die Rede nicht unbedingt auf einer rein sachlichen Ebene bleiben wird, sondern eher darauf abzielt, den König »zu treffen, ihn wachzurütteln«389: »Now He that made me knows I see thee ill – / Ill in myself to see, and in thee seeing ill.« (II,1,93f.). Der zuvor genannten zweiten Person Singular steht der Redner in Form der Pronomina der ersten Person Singular diametral gegenüber.390 Dadurch charakterisiert Gaunt nicht nur Richard, sondern auch sich selbst. Das Adjektiv »ill« umfaßt zwei wichtige Bedeutungsebenen: einerseits 387 Gaunt verwendet den Begriff hollowness in einem anderen symbolischen Kontext als Richard das Adjektiv hollow in III,2, wie Bonheim, »The two Kings in Shakespeare’s Richard II«, S. 169–179, hier: S. 173, betont. 388 Porter merkt hier an, daß Gaunt als einziger diese Form des Pronomens im Gespräch mit Richard verwendet. Vgl. Porter, S. 22. Zur Verwendung der allgemeinen Rede- und Anredeformeln bei Shakespeare als Sozialindikatoren siehe Stein, »Pronominal Usage in Shakespeare: Between sociolinguistics and conversational analysis,« S. 215–308. 389 Müller, Die politische Rede, S. 56. 390 Müller verbindet zudem in seiner Analyse die hellen Vokale bzw. i-Laute, wie in »see«, »thee« und »ill«, mit den Schmerzen des Sprechers, was dem Beginn der Anklage einen grellen Ton verleiht. Siehe dazu Müller, Die politische Rede, S. 56.
Gaunts Anklage gegen Richard II. (II,1,93–138)
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beschreibt es Gaunts desolaten Gesundheitszustand, also seine physische Krankheit. Andererseits erweitert sich die Bedeutung in bezug auf Richard auf ›böse‹, ›hinterhältig‹ oder ›verdorben‹, was Richard als moralisch und politisch krank einstuft. Dieses Bild wird in Vers 95f. mit »Thy death-bed is no lesser than thy land, / Wherein thou liest in reputation sick« ausgeweitet. Interessant ist, daß in Gaunts Argumentation sofort deutlich wird, daß hier nicht nur Richards persönliches Verderben, gekennzeichnet durch »Thy death-bed«, sondern ebenso der Untergang des gesamten Königreiches mit »no lesser than thy land« thematisiert wird. Der Komparativ »no lesser than« betont noch einmal die Tragweite. Ferner reizt Gaunt die Krankheitsmetapher weiter aus, um Richard seine Unfähigkeit als Monarch vor Augen zu führen: »And thou, too careless patient as thou art, Committ’st thy anointed body to the cure Of those physicians that first wounded thee. A thousand flatterers sit within thy crown, Whose compass is no bigger than thy head; And yet, encaged in so small a verge, The waste is no whit lesser than thy land.« (II,1,97–103)
Gaunts negative Wortwahl fällt besonders auf, wenn er Richard als einen »too careless patient« bezeichnet, der sich in die Pflege der falschen Ärzte (»that first wounded thee«) begibt, oder auf »a thousand flatterers« verweist, deren angerichteter Schaden das ganze Land betrifft (»The waste is no whit lesser than thy land«). Die einzig positiv konnotierten Begriffe »anointed body« und »cure« (Vers 98) werden unmittelbar im darauffolgenden Vers durch das kontrastierende »wounded« entwertet.391 Zur Steigerung seiner Darstellung spielt Gaunt in II,1,104ff. auf Edward III. an. Rhetorisch werden hierdurch zwei Zielsetzungen, movere und die Funktion als pars agentis, miteinander verknüpft. Zusammen mit dem Seufzermotiv in Vers 104ff. – »O, had thy grandsire with a prophet’s eye / Seen how his son’s son should destroy his sons […]« – und dem Fokus auf die Vergangenheit wird das Pathos der Rede verstärkt.392 Der Effekt wird weiter durch die hypothetische Aussage hervorgehoben. Ganz bewußt wird durch das Polyptoton »son’s son […] his sons« und der damit verbundenen Umschreibung für ›Enkel‹ die Bedeutung der
391 Das Enjambement beschleunigt den Versrhythmus, beide Verse rücken in ihrem Bezug enger zueinander. 392 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 57. Vgl. auch Lenz, S. 55: »Gaunts Vision […] sieht Richards Fall als Folge seines gestörten Verhältnisses zur Zeit voraus, und in seiner Verbindung von Erinnerung und Zukunftsschau hält Gaunt Richard noch einmal deutlich vor Augen, daß sein Handeln, durch das ihm nach Gaunts Meinung die Absetzung droht, auch seiner geschichtlichen Aufgabe als Bewahrer der Tradition Edwards widerspricht.«
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Shakespeare, King Richard II
Erbfolge ins Zentrum gerückt.393 Richard hätte von seinen Vorfahren von der Thronfolge ausgeschlossen werden müssen (»Deposing thee before thou wert possessed«), doch letztlich setzt er sich durch sein schlechtes Verhalten, dargestellt anhand von »Which art possessed now« (II,1,108), selbst ab. Gezielt spielt Shakespeare in Gaunts Rede mit der Mehrdeutigkeit von »possessed«, welches von einer positiven Konnotation, d. h. »possessed by the crown«, zur negativen Konnotation im Sinne von »insane« wechselt. Somit bleibt Gaunts Tirade innerhalb der Krankheitssymbolik konstant. Wie zuvor erwähnt, verfolgt die Anklagerede nicht das Ziel, dem König auf einer rhetorisch sachlichen Ebene Vorwürfe zu unterbreiten. Vielmehr wird darauf abgezielt, den König auf einer persönlichen Ebene zu diffamieren. Neben den Attributen »ill« und »possessed« verschärft Gaunt seine Invektive um den Schlüsselbegriff »shame« ab Vers 110. Es wäre eine Schande, das Land zu verpachten, selbst wenn Richard »regent of the world« wäre. Die Rede findet zwischen II,1,111–114 ihren Höhepunkt: »But for thy world enjoying but this land, Is it not more than shame to shame it so? Landlord of England art thou now, not king. Thy state of law is bondslave to the law, And thou –« (II,1,111–114)
Richard wird alles Königliche abgesprochen, er ist weder »regent of the world« noch »king«, sondern nur »Landlord of England« (II,1,113), nur ein Verpächter Englands. Die abbildende Wortstellung, die das Subjekt »thou« mit den Prädikatsnomina »Landlord of England« und »king« einklammert, verdeutlicht, wie Richard zwischen diesen beiden Positionen festgesetzt ist. Die Betonung des Verses liegt jedoch auf dem vorangestellten Prädikatsnomen »Landlord«. Weitere Anschuldigungen, mit denen Gaunt seiner Empörung Gehör verschafft, werden durch Richard unterbrochen. Wie Müller sagt, ist es an dieser Stelle bezeichnend, daß Richard gerade beim nächsten »And thou« (Vers 114) Gaunt unterbricht.394 Richard wendet die Anklage nun gegen seinen Opponenten, beschimpft ihn als »lunatic lean-witted fool«, der das Vorrecht seiner Krankheit mißbraucht. Shakespeare verdeutlicht dem Zuschauer hier, daß Gaunt trotz seines rhetorischen Geschicks im Grunde nichts gegen den König anrichten kann. Gaunts Rhetorik ist zwecklos bzw. ohmächtig im eigentümlichen Wortsinn. Richard kann ihn mit Leichtigkeit unterbrechen, die gegen ihn gerichtete Satzkonstruktion auf seinen Aggressor umlenken. Die ursprüngliche Absicht von Gaunts Rede war es, Richard auf die
393 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 57. 394 Müller, Die politische Rede, S. 58.
Gaunts Anklage gegen Richard II. (II,1,93–138)
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Mißstände aufmerksam zu machen, ihn wachzurütteln. Auch Gaunts späteres Klagen ab Vers 124 vermag nichts gegen Richard zu bewirken. Der Wechsel von der Anklage zur Klage markiert einen Wechsel in Gaunts rhetorischer Strategie. War er uns zu Beginn in seiner Tirade noch konkrete exempla zur Bekräftigung seiner Entrüstung schuldig und blieb äußerst vage395 in seinen Andeutungen, so wirft er ihm nun offen vor, am Tode Gloucesters verantwortlich zu sein: »That blood already, like the pelican, Hast thou tapped out and drunkenly caroused. My brother Gloucester, plain well-meaning soul – Whom fair befall in heaven ’mongst happy souls! – May be a precedent and witness good That thou respect’st not spilling Edward’s blood.« (II,1,126–131)
Das Ende der argumentatio – in unserem Falle auch lamentatio – und der fließende Übergang in die kurze conclusio bzw. peroratio ist durch die Aufforderung »Join with the present sickness that I have« gekennzeichnet. Gaunt appelliert in aller Kürze ein letztes Mal an Richard, endet jedoch dann mit einem Wechsel aus der Vergangenheitsperspektive in die Zukunft mit »Live in thy shame, but die not shame with thee! / These words hereafter thy tormentors be.« (II,1,135f.).396 Betrachtet man Gaunts Rede auf England (II,1,31–68) und nun die Anklagerede, fällt auf, daß beide einander ergänzen. Zwar sind beide in ihrer Intention diametral entgegengesetzt, dennoch wird die England-Rede als Fundament für Gaunts Argumentation benötigt, auf der die Anklage aufbaut.397 Außerdem gibt die erste Rede dem Zuschauer eine Einsicht in Gaunts Ansichten und Ideale. Anders als in den Römerdramen versagt im Disput zwischen Gaunt und Richard das Instrument der Rede. Gaunts Rede ist zwar eindrucksvoll, aber bei ihrem Adressaten Richard wirkungslos. Statt dessen entlarvt sie Richards beschämendes und entwürdigendes Verhalten.398 Shakespeare zeigt dem Publikum einen starrsinnigen König, bei dem Gaunts verzweifelter Versuch, einen Sinneswandel in Richard zu bewirken, wirkunglos bleibt. Richards Fehler ist, daß er 395 Daß Gaunt in dieser Rede zunächst ungenau bleibt und keine genaueren Beispiele anführt, ist in diesem Kontext logisch. Die anwesenden Personen sind nur Richard und Gaunt. Richard wird genau wissen, was sein Gegner meint. 396 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 88. Der dem genus iudiciale typische Zeitbereich ist die Vergangenheit. Die schlechte oder gute Tat ist in der Vergangenheit geschehen und steht in der Gegenwart zur Beurteilung. 397 Vgl. auch Müller, Die politische Rede, S. 59. Müller weist ferner darauf hin, daß Gaunts Verwendung rhetorischer Figuren, beispielsweise Polyptota oder Wortspiele, nicht als Selbstzweck oder einer gewollt gekünstelte Sprache dienen, sondern einzig eine Intensivierung von Gaunts Gedanken darstellen. 398 Richards abrupte Unterbrechung von Gaunts Anklage ist eine taktlose Verunglimpfung ohne rhetorische Qualität.
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Shakespeare, King Richard II
Gaunts prophetische Gabe nicht sehen will und Gaunts Warnungen nicht hören will. Im Gegenteil fühlt sich Richard als König beleidigt.399
6.6
Yorks Appell an Richard (II,1,163–208)
Nach Gaunts Tod übernimmt York dessen Funktion als Mahner, der an das Gewissen des Königs appelliert. Als Richard von Gaunts Tod erfährt, schickt er sich an, den Toten zu verspotten und dessen Hab und Gut zu konfiszieren: »The ripest fruit first falls, and so doth he.« (II,1,153)
und »And, for these great affairs do ask some charge, Towards our assistance we do seize to us The plate, coin, revenues and moveables Whereof our uncle Gaunt did stand possessed.« (II,1,159–162)
Ebenso wie seinem Bruder Gaunt liegt auch dem Duke of York das Wohl des Königreichs am Herzen. Ausgelöst durch Richards arrogante Äußerung, beginnt er seine Rede mit den rhetorischen Fragen »How long shall I be patient? Ah, how long / Shall tender duty make me suffer wrong?« (II,1,163f.). Die Eröffnung seiner Rede erinnert an Ciceros erste Rede gegen Catilina (»Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra?«), nur stellt sich York selbst die Frage ›Wie lange noch?‹. Wie lange soll er sich noch in Geduld üben und die Augen vor den Schandtaten seines Neffen dem König verschließen? Die Frage zeigt sowohl, daß York mit der Situation gehadert haben muß, als auch, daß seine Geduld nun mehr als genug strapaziert ist. Wie ein Aufschrei entfährt es ihm und läßt ihn Richards vergangene Taten rekapitulieren: »Not Gloucester’s death, nor Hereford’s banishment, Nor Gaunt’s rebukes, nor England’s private wrongs, Nor the prevention of poor Bolingbroke About his marriage, nor my own disgrace Have ever made me sour in my patient cheek, Or bend one wrinkle on my sovereign’s face.« (II,1,165–170)
Mittels der »Not … Nor«-Konstruktion liefert er genügend anaphorisch verknüpfte exempla, die seine in ihm schwelende Verärgerung verdeutlichen.400 Statt seinen Appell an Richard zu richten, verwendet York das gleiche rhetorische Schema wie Gaunt zuvor: er bleibt mit seinem Fokus auf der Vergangenheit 399 Vgl. Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 116. 400 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 60.
Yorks Appell an Richard (II,1,163–208)
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fixiert, wenn er »I am the last of noble Edward’s sons, / Of whom thy father, Prince of Wales, was first.« skandiert.401 Der stete Kontrast zwischen Gegenwart und Vergangenheit wird an dieser Stelle durch die Stellung beider Prädikate jeweils am Satzanfang und -ende hervorgehoben. Parallel zu Gaunts Lobrede auf England wendet sich York in seinem Enkomium dem Prince of Wales, Richards Vater, zu.402 Interessanterweise verknüpft York hierzu in den Versen 173f. Gegensätzliches, z. B. die Anaphern »In war« und »In peace« oder die chiastisch verknüpften Metaphern »lion raged« und »gentle lamb«. Durch den Konnex »wird der Black Prince als ›Löwe im Krieg‹ und ›Lamm im Frieden‹ bezeichnet, d. h. als ein für Kriegs- und Friedenszeiten in gleicher Weise befähigter Fürst«403. Die Verbindung zu Richard wird im folgenden Vers mit »His face thou hast […]« hergestellt. Scheinbar werden die zuvor Edward zugeschriebenen Attribute auf Richard übertragen. Jedoch bringt das adversative »But« (V. 178) in Kombination mit »And not« die Aufhebung weiterer positiver Attribute für Richard: »But when he frowned, it was against the French / And not against his friends.« Der direkte Vergleich mit seinem Vater, dessen Unmut sich nur gegen »the French« richtete, rückt Richard, der wiederum gegen seine »friends« Feindseligkeiten auslebt, in ein negatives Licht. Ihre Betonung findet die Argumentation in der Alliteration von »frowned – French – friends«, das metonymische »French« versinnbildlicht, daß Edward nur einen Feind auf internationaler Ebene hatte.404 In zwei weiteren Vergleichen, rhetorisch unterstützt durch den Chiasmus »hand« und »spend« bzw. »spent«, demontiert York Richards glänzende Fassade: »[…] His noble hand Did win what he did spend, and spent not that Which his triumphant father’s hand had won.« (II,1,179–181)405
Im dritten Vergleich finden wir die gleiche Konstruktion mit »But« in Vers 182f. wieder, wenn York einen weiteren Negativvergleich zwischen Richard und Edward – »His hands were guilty of no kindred blood, / But bloody with the enemies 401 Man beachte, daß bereits in Vers 171 durch das positiv konnotierte Adjektiv (»epitheton ornans«) »noble« das Gegengewicht zu den negativen Partikeln »not« und »nor« vom Anfang gebildet wird. 402 Vgl. Lenz, S. 55. 403 Müller, Die politische Rede, S. 61. 404 York bedient sich hier des rhetorischen Mittels der Verallgemeinerung. An anderer Stelle reduziert er die Vergangenheitsdarstellung um einige Details, wie Leggatt erläutert »for functional reasons«. Vgl. Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 57. Vgl. außerdem Lenz, S. 55. 405 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 61. Zur Verwendung der Gegensätze vgl. ferner Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 57: »Here the contrasts are direct and pointed: York’s picture of a dead ideal does not float free of the present, but is shaped around specific offences committed by the King.«
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Shakespeare, King Richard II
of his kin.« – anführt. Wieder wird latent auf Richards Verwicklungen in Gloucesters Tod angespielt. York löst das Problem, am König offen Kritik zu üben, auf rhetorisch geschickte Art, was seine Rhetorik von der Gaunts abhebt. Auf engstem Raum verknüpft er mit dem Lob Edwards die Kritik an Richards Führungsstil.406 Dennoch wechselt seine accusatio mit dem Ausruf »O Richard! York is too far gone with grief, / Or else he never would compare between –« (II,1,184f.) in die lamentatio, in die (Weh-)Klage. Den großen Unterschied zu Gaunts Rede verdeutlicht Leggatt: »The Duke of York does what Gaunt has not done: he idealizes the immediate past, and uses it as a standard by which to rebuke the present King, comparing him with his father, Edward the Black Prince […].«407
Es ist das (vergangene) Ideal, an dem Richard sich messen lassen muß. Genauso wie Gaunt wird auch York in seiner Rede unterbrochen. Allerdings erleben wir einen verstörten König, der dem Publikum und seinem Gegenüber mit »Why, uncle, what’s the matter?« (II,1,186) signalisiert, daß er die soeben erfahrene Kritik nicht versteht oder nicht verstehen will. York wagt daher einen zweiten Versuch ab Vers 186 und beschränkt sich ab jetzt auf einen zentralen Schwerpunkt, die bevorstehende Enteignung Henry Bolingbrokes: »Seek you to seize and gripe into your hands / The royalties and rights of banished Hereford?« Dadurch, daß York sich nur mit einem Schwerpunkt befaßt, wirkt die Rede konzentrierter. Das auffälligste Merkmal von Yorks Rede ist allerdings die klassische Aufteilung nach antiker Vorgabe. Die Rede umfaßt somit vier partes orationis, und zwar exordium, narratio, argumentatio und conclusio. Im exordium können wir die Ansätze einer captatio benevolentiae mit »Pardon me, if you please […]« (Vers 187) erkennen. Müller sagt, die Einleitung enthalte »keine wirkliche captatio benevolentiae«408. York bitte zwar um Verzeihung für seine Worte, er bekenne aber, »er sei auch zufrieden, wenn diese Bitte nicht erfüllt werde«.409 Die Vermutung liegt nahe, daß die Kürze der captatio dem Fortgang der Handlung geschuldet ist. Möglicherweise könnte dies ebenfalls bedeuten, daß aus Shakespeares Sicht der Rhetorik nicht mehr der gleich hohe Stellenwert zugeschrieben wird wie in den Römerdramen. Auf die kurze Einleitung folgt eine ebenso kurze narratio (II,1,189f.), die den Sachverhalt zusammenfaßt: »Seek you to seize and gripe into your hands / The 406 Man beachte, daß York bei Edwards Beschreibung stets positiv konnotierte Adjektive benutzt. So wird Edward in Vers 171 als »noble« dargestellt. Weiter ist er ein »princely gentleman«, dessen »noble hand« ihn als geschickte Führungspersönlichkeit verkörpert. In bezug auf die Kritik an Richard geht Müller sogar noch weiter und nennt die Kritik »eine Verdammung Richards«. 407 Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 56. 408 Müller, Die politische Rede, S. 62. 409 Müller, Die politische Rede, S. 62.
Yorks Appell an Richard (II,1,163–208)
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royalties and rights of banished Hereford?« Die Formulierung der narratio als Fragen – die beiden Fragen können nur mit ›ja‹ oder ›nein‹ beantwortet werden – verleiht ihr die Eigenschaft einer accusatio, wodurch die Rede im genus iudiciale verortet werden muß. Der Übergang in die argumentatio ist durch weitere Fragesätze fließend: »Is not Gaunt dead? And doth not Hereford live? Was not Gaunt just? And is not Harry true? Did not the one deserve to have an heir? Is not his heir a well-deserving son?« (II,1,191–194)
York formuliert seine Fragen so, daß man auf alle ›yes‹ als Antwort erwarten muß. Rhetorisch treibt er damit Richard in die Enge. Im Gegensatz zu seinem ersten Versuch oder zu Gaunts Rede verzichtet York ganz auf Emotionen, sondern beruft sich wie im attischen Redestil auf Tatsachen. Die Fragen sind kumulativ und »ziehen die Schlußfolgerung aus den lapidar vorgeführten Tatsachen.«410 Ab Vers 195 wechselt York von Fragen zu Imperativen, womit seine argumentatio an Intensität gewinnt: »Take Hereford’s rights away, and take from Time / His charters and his customary rights;« (II,1,195f.). Deutlich zeigt York, daß Bolingbrokes Enteignung nicht nur einen Traditionsbruch, sondern auch einen eindeutigen Rechtsbruch411 nach sich zieht: »Die Anerkennung der Zeitordnung bietet Richard die Gewähr für die Stabilität seines Daseins als König. Wenn sich Richard jedoch über die Rechte hinwegsetzt, die in der Vergangenheit geschaffen wurden, durch den Lauf der Zeit geheiligt sind und nun auch für die Gegenwart Gültigkeit haben, so zeigt sich erneut seine Opposition zur Zeit, und er gefährdet die Grundlagen seines eigenen Königtums, das eben auf dieser ›fair sequence and succession‹ beruht.«412
Yorks jetzige Argumentationsstrategie zielt nicht mehr auf die glorreiche Vergangenheit Englands ab, vielmehr werden nun Gegenwart und Zukunft ins Zentrum gerückt. Die argumentatio endet mit seiner Frage »Be not thyself, for how art thou a king / But by fair sequence and succession?« (II,1,198f.), welche gleichermaßen warnt, daß der Thronanspruch auf der rechtmäßigen Erbfolge beruht.413 Die gleich lange conclusio bringt die in der argumentatio vorgebrachte Warnung mittels des Konditionalsatzes »If you do wrongfully seize Hereford’s 410 Müller, Die politische Rede, S. 63. 411 Durch die Enteignung untergräbt Richard die auf Nach- und Erbfolge basierende Legitimität seiner Herrschaft. Richard entmachtet sich durch dieses begangene Unrecht selbst. Gleichzeitig liefert die Enteignung für Bolingbroke den Vorwand, nach England zurückzukehren und sich sein Recht zu erkämpfen. Vgl. Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 116–117. 412 Lenz, S. 56. 413 Vgl. hierzu auch Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 24.
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Shakespeare, King Richard II
rights […]« (II,1,201–208) auf den Punkt. Nach der Aufzählung der von Richard (geplanten) Delikten – »seize Hereford’s rights«, »Call in the letters patents« und »deny his offered homage« – warnt York im nachgestellten Hauptsatz abermals eindringlich vor den drohenden Konsequenzen414: »You pluck a thousand dangers on your head, You lose a thousand well-disposed hearts And prick my tender patience to those thoughts Which honour and allegiance cannot think.« (II,1,205–208)
Richards indifferente Reaktion auf Yorks Appell beschränkt sich lediglich auf zwei Verse: »Think what you will, we seize into our hands / His plate, his goods, his money and his lands.« (II,1,209f.). Diese wortkarge Antwort belegt wiederum, wie wenig Richard sich von Kritik beeinflussen läßt. Genauso wenig wie Gaunts kraftvolle Rhetorik etwas gegen Richard ausrichten konnte, vermochte York mit seinen beiden Reden eine Reaktion in Richard hervorzurufen. »Die große rednerische Anstrengung«, so Müller, »verpufft wirkungslos«.415
6.7
Yorks Konfrontation mit Bolingbroke (II,3,85–170)
Yorks Rhetorik scheint auch zwei Szenen später keine größeren Auswirkungen hervorzurufen. Der verbannte Bolingbroke setzt sich über seinen Bann hinweg und kehrt nach England zurück. Bei seinem Empfang weist York seinen Neffen Bolingbroke harsch zurück: »Grace me no grace, nor uncle me no uncle. I am no traitor’s uncle, and that word ›grace‹ In an ungracious mouth is but profane.« (II,3,87–89)
In ähnlich vorwurfsvollem Ton richtet er das Wort weiter an Bolingbroke: »Why have those banished and forbidden legs Dared once to touch a dust of England’s ground?« (II,3,90f.)
Bereits wird durch die Wortwahl »dared« offensichtlich, daß York den Duktus einer accusatio angenommen hat, was sich in der nächsten Frage in Vers 91–95 bestätigt. Er herrscht Bolingbroke an, mit seinem Verstoß verbreite er die Angst vor einem Krieg im Land: »Frighting her pale-faced villages with war / And ostentation of despised arms?« (II,3,94f.). Mit der letzten Frage (»Com’st thou because the anointed King is hence?«) zeigt Shakespeare die latente Verunsicherung Yorks. Begründet wird diese in den nächsten zwei Versen durch die 414 Vgl. Lenz, S. 56. 415 Müller, Die politische Rede, S. 64.
Yorks Konfrontation mit Bolingbroke (II,3,85–170)
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Abwesenheit Richards und damit, daß York währenddessen die Macht des Königs übertragen ist: »[…] the King is left behind, / And in my royal bosom lies his power.« Der ausdrucksstarken Entrüstung wird mit dem Konditionalsatz »Were I but now the lord of such hot youth […]« (Vers 99ff.) Yorks Schwäche entgegengesetzt. Ebenso wie seine accusatio gegen Richard, richtet auch diese Rede den Blick auf Vergangenes: »As when brave Gaunt, thy father, and myself Rescued the black Prince, that young Mars of men, From forth the ranks of many thousand French […].« (II,3,100–103)
Hätte York jetzt noch die Kraft aus vergangenen Tagen, dann könnte und würde er Bolingbroke für seinen Verstoß bestrafen (»chastise thee«).416 Die Kombination der Gegensätze Vergangenheit und Gegenwart, »hot youth« und »this arm of mine, / Now prisoner to the palsy«, führt dem Publikum Yorks jetzige Schwäche bzw. Machtlosigkeit vor Augen. Obwohl er von Richard die königliche Macht übertragen bekommen hat, ist er Bolingbroke gegenüber ohnmächtig. Der kraftvolle Beginn der accusatio wird durch den Konditionalsatz mit dem Bekenntnis der körperlichen Schwäche entwertet. So ist es nicht verwunderlich, daß Yorks Rede auch hier ohne Auswirkungen bleibt und Bolingbroke seinen Onkel unterbrechen kann. Anders als in der Konfrontation zwischen Richard und Gaunt gibt sich Bolingbroke durchaus diplomatisch. So wie Yorks accusatio aus dem Dialog heraus entstanden ist, nutzt auch Bolingbroke die Gelegenheit, mit der scheinheiligen Frage »My gracious uncle, let me know my fault. / On what condition stands it and wherein?« (II,3,106f.) seine Verteidigung (defensio) im Dialog beginnen zu lassen. Bolingbroke kennt den Grund für Yorks Entrüstung ganz genau, er spielt nur den »guileless innocent« wie Gaudet ihn nennt.417 Die Anklagepunkte, die »condition of worst degree«, wiegen schwer: »In gross rebellion and detested treason. Thou art a banished man, and here art come, Before the expiration of thy time, In braving arms against thy sovereign.« (II,3,109–112)
Doch Bolingbroke kehrt das Anklageargument des »Thou art a banished man« um, sein Bann war gegen ihn als Duke of Hereford ausgesprochen worden. Durch den Tod seines Vaters Gaunt, dem Duke of Lancaster, betrachtet er sich durch Erbrecht als den nachfolgenden Duke of Lancaster: »As I was banished, I was 416 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 65. 417 Gaudet, »The ›Parasitical‹ Counselors in Shakespeare’s Richard II: A Problem in Dramatic Interpretation.« In: Shakespeare Quarterly 33 (1982), S. 142–154, hier: S. 150.
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Shakespeare, King Richard II
banished Hereford; / But as I come, I come for Lancaster.« (II,3,113f.). Bereits in Vers 70 hatte er Lord Berkeley auf diesen Umstand hingewiesen: »My lord, my answer is – to ›Lancaster‹, / And I am come to seek that name in England.« (II,3,71f.). Indem er sich nun als Duke of Lancaster bezeichnet, gilt seiner Auffassung nach der Bann nicht mehr. Seine anschließende direkte Anrede an York verfolgt das Ziel des benevolum parare: »And noble uncle, I beseech your grace, Look on my wrongs with an indifferent eye. You are my father, for methinks in you I see old Gaunt alive. […]« (II,3,115–118)
Die überaus positive Wortwahl Bolingbrokes erinnert uns an Platons Warnung vor der Rhetorik418 als Mittel der Verführung. Hier umschmeichelt Bolingbroke seinen Onkel, spricht ihn sogar als seinen Vater an. Mit dieser insinuatio als exordium beeinflußt419 Henry Bolingbroke Yorks Emotionen zu seinem Zweck: »Even the senile, indecisive indignation of York is met with a calculated reasonableness, a judicious appeal to family sentiment […] The effect of this approach upon York, who has already in his heart chosen the path of betrayal, is immediate.«420
In diesem Kontext appelliert er an York, er solle eine neutrale (hier als »indifferent eye«) Position ihm gegenüber einnehmen. Die rhetorische Frage »Will you permit that I shall stand condemned […]?« bringt die sowohl moralische als auch politische Komponente um Bolingbrokes rechtmäßigen Besitz hinzu. Kann York es zulassen, daß die staatliche Ordnung von Richard durcheinandergebracht worden ist und Bolingbroke nun um seinen Besitz und sein Erbe gebracht wird (»my rights and royalties / Plucked from my arms perforce and given away / To upstart unthrifts?«)? Es ist interessant, wie Bolingbroke seine emotionale Erpressung arrangiert: zuerst verlangt er scheinbar eine unparteiische Sichtweise Yorks. Würde er ihn nämlich offen bedrängen, für ihn Partei zu ergreifen, könnte York mit einer Gegendarstellung Bolingbrokes Standpunkt schwächen. Im zweiten Schritt konfrontiert Bolingbroke ihn mit dem Prinzip der Erbfolge und dem von Richard begangenen Unrecht, womit er York trotzdem moralisch unter Druck setzt. Die logische Konsequenz muß aus Bolingbrokes Sicht lauten: »If that my cousin king be King in England, / It must be granted I am Duke of Lancaster.«421 418 419 420 421
Vgl. Dalfen, S. 30. Plat. Gorg. 463a–b. Zur insinuatio vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 160f. Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 28. Vgl. Zimmermann, »Richard II: Zur Geschichtlichkeit der Sympathielenkung«, S. 154–163, hier: S. 159. Bolingbrokes Argument ist das gleiche wie Yorks in der Auseinandersetzung mit Richard in II,1. Zur Problematik der Erbfolge, vgl. Müller, Die politische Rede, S. 66: »Richard ist nur rechtens König von England, wenn auch bei seinen Untergebenen das Gesetz der
Yorks Konfrontation mit Bolingbroke (II,3,85–170)
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Bolingbrokes zweites Argument spricht York auf der persönlichen Ebene an. York, der immer noch eine neutrale Sicht vertreten soll, wird nunmehr mit dem hypothetischen Argument zum Perspektivwechsel animiert: »Had you first died and he been thus trod down, He should have found his uncle Gaunt a father To rouse his wrongs and chase them to the bay.« (II,3,126–128)
»Er kehrt die Situation hypothetisch um und sagt, wenn York zuerst gestorben und sein Sohn seiner Rechte beraubt wäre, dann hätte sich Gaunt mit allen Mitteln für seinen Neffen eingesetzt.«422 Das Argument kann aufgrund des Irrealis weder bekräftigt noch widerlegt werden. Sein Ziel ist lediglich die Andeutung, mit der Bolingbroke bei York eine Reaktion und Positionierung hervorrufen will. In der conclusio beteuert Bolingbroke äußerst deutlich, daß nur sein Recht einfordern will: »I am denied to sue my livery here, And yet my letters patents give me leave. […] And I challenge law. Attorneys are denied me, And therefore personally I lay my claim To my inheritance of free descent.« (II,3,129–136)
Er redet nicht von Rache, statt dessen paraphrasiert er das ihm widerfahrene Unrecht in schlüssiger Form. Seine Argumentation weist eine Nähe zum asianischen Redestil auf, d. h., durch die emotionale Ausschmückung wirkt seine Rede leidenschaftlich und nicht nur faktenbasiert.423 Die Fakten werden erst in der conclusio besprochen. Doch auch hier gibt er sich durch die Apostrophe »What would you have me do?« (Vers 133) als offen für Ratschläge, was ihn von Richard abhebt. Northumberlands Reaktion »The noble Duke hath been too much abused« (II,3,134) ähnelt der Reaktion des First Plebeian (»Methinks there is much reason in his sayings«) aus Julius Caesar nach Marc Antonys Rede. Yorks Reaktion ist differenzierter als die der übrigen Anwesenden. Zwar gesteht er ein, daß Henry Bolingbroke großes Unrecht widerfahren ist, aber trotzdem ist sein Erscheinen in Waffen rechtswidrig.424 Als Stellvertreter des Königs befindet York sich nun in Erbfolge gewahrt bleibt. Ein Rechtsbruch von seiten des Königs bringt das ganze Weltsystem, the great chain of being, ins Wanken.« 422 Müller, Die politische Rede, S. 66. 423 Siehe Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 62: »Beide Parteien stimmten darin überein, daß es in der griechischen Prosa einen guten und einen schlechten, den ›attischen‹ und den ›asianischen‹ (angeblich aus den Griechenstädten Kleinasiens stammenden) Stil gebe, und weiterhin darin, daß der asianische Stil zu übermäßiger Fülle, zu schwülstigen und manierierten Extravaganzen neige, während der attische Stil Zurückhaltung übe und die asianischen Übertreibungen meide. Vgl. auch Curtius, S. 76. 424 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 66.
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Shakespeare, King Richard II
einem Loyalitätskonflikt: auf der einen Seite müßte er Bolingbroke samt Gefolge festnehmen lassen, was er im Konditionalsatz »But if I could, […]« (Vers 155ff.) proklamiert. Auf der anderen Seite versucht er, sich in die Neutralität zu flüchten, »als er sieht, daß seine politisch-moralische Position aufgrund der veränderten Machtverhältnisse nicht mehr haltbar ist«.425 Letztlich muß er aufgrund der Ereignisse seine neutrale Positionierung aufgeben und sich für Bolingbroke entscheiden (»It may be I will go with you […]«). Wiederholt zeigt Shakespeare uns hier die Grenzen von Yorks Rhetorik. In seiner Rede hält er verstärkt an der derzeitigen Urteilslage – Henry Bolingbroke ist ein Verbannter – fest und kann gegen Bolingbrokes leidenschaftlichere Rede wenig bewirken.426
6.8
Richards Ansichten zum Königtum (III,2,4–62)
In der zweiten Szene des dritten Aktes liegt der Fokus der Handlung wieder auf König Richard II. Richard ist aus Irland zurückgekeht und an der walisischen Küste gelandet. Mit seiner Rückkehr muß er feststellen, daß auch Bolingbroke sein Exil verfrüht beendet hat. Der dritte Akt markiert somit im Drama den Wendepunkt für Richards Regentschaft. Die hier vorliegenden Reden sind meistens aus dem Dialog entstehende monologische Passagen, in denen Richards Auffassung des Königtums mit der zentralen Frage ›Was ist ein König?‹ deutlich wird.427 Einen ersten Unterschied in Richards Auftreten läßt sich bei seiner Ankunft in Wales feststellen, seine dort gehaltene Rede ist emotionsgeladen und poetisch428: »Needs must I like it well. I weep for joy To stand upon my kingdom once again. Dear earth, I do salute thee with my hand, Though rebels wound thee with their horses’ hoofs.« (III,2,4–7)
425 Müller, Die politische Rede, S. 67. Vgl. auch Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 28. 426 Im weitesten Sinne können wir Yorks vorliegende Rede eher dem attischen Stil zuordnen, Bolingbrokes Rede weist, wie bereits erwähnt, eine größere Nähe zum Asianismus auf. Bei Quintilian heißt es in Quint. inst. XVI,16: »Et antiqua quidem illa divisio inter Atticos atque Asianos fuit, cum hi pressi et integri, contra inflati illi et inanes haberentur, in his nihil superflueret, illis iudicium maxime ac modus deesset.« Meine Übersetzung: »Auch in der Vergangenheit gab es jene Unterscheidung zwischen Attikern und Asianern, da man diese für knapp und untadelig, jene hingegen für aufgeblasen und inhaltslos hielt, bei diesen gab es nichts im Überfluß, jenen fehlte es am meisten an Urteil und Maß.« 427 Vgl. Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 356: »So ist das Drama gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit Fragen der Staatstheorie wie auch die Tragödie einer gespaltenen Persönlichkeit.« 428 Vgl. Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 29.
Richards Ansichten zum Königtum (III,2,4–62)
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Der Kontrast zwischen Richard und Bolingbroke tritt wieder hervor. In der Parallelszene hingegen bleibt Bolingbroke bei der Landung mit »How far is it, my lord, to Berkeley now?« (II,3,1) sehr sachlich.429 Ferner erfährt der Zuschauer, daß Richard Kenntnis von Bolingbrokes Rückkehr aus dem Exil haben muß (Vers 7). Seine theatralische Apostrophe »Dear earth, I do salute thee with my hands« (III,2,3ff.) mag für die Begleiter Aumerle und den Bischof von Carlisle befremdlich wirken, doch verrät uns diese Einheit Richards Selbstverständnis.430 Seine Rede teilt sich in den emotionalen Begrüßungsteil, das exordium, (Vers 7– 11), den Appell an die Erde bzw. an die Natur, den Feind mit allen Mitteln aufzuhalten (Vers 12–22), und die Erklärung für Aumerle und Carlisle (Vers 23– 26). Der Anfang ist durchzogen mit dem benevolum parare, wie etwa »Dear earth«, »I greet thee, my earth«, »my gentle earth«. Seine »gentle earth« wird dazu noch personifiziert, wenn »rebels wound thee with their horses’ hoofs«.431 Sein Appell beginnt mit einem Imperativ, »Feed not thy sovereign’s foe, my gentle earth, / Nor with thy sweets comfort his ravenous sense« (Vers 12f.), das umgehend mit »But« im folgenden Vers in einer Aneinanderreihung von Aufforderungen umgekehrt wird: »But let spiders that suck up thy venom And heavy-gaited toads lie in their way, Doing annoyance to the treacherous feet Which with usurping steps do trample thee. Yield stinging nettles to mine enemies; And when they from thy bosom pluck a flower, Guard it I pray thee with a lurking adder Whose double tongue may with a mortal touch Throw death upon thy sovereign’s enemies.« (III,2,14–22)
Der Appell belegt Richards Zusammenbruch und Verzweiflung, weswegen er sich im letzten Part vor seinen Begleitern erklärt. Als sendungsbewußter Monarch – Krippendorff bezeichnet ihn als »ein in seine eigenen Wahnvorstellungen vernarrter Phantast«432 – ist ihm bekannt, daß sein Appell einer Erklärung bedarf.433 Diese beginnt mit der Aufforderung »Mock not my senseless conjuration, lords« 429 Altick, »Symphonic Imagery in Richard II«, S. 339–365, hier: S. 342, weist darauf hin, daß Richards Sprache an Gaunt erinnert. 430 Der von Richard angeführte Mutter-Kind-Vergleich in Vers 8 belegt dieses Selbstverständnis Richards als unumschränkten Herrscher und Besitzer Englands. Dieser Auffassung zufolge ist Englands Bestehen allein von ihm abhängig. Vgl. Elliott Jr., »History and Tragedy in Richard II«, S. 253–271, hier: S. 261. 431 Vgl. Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 29. Siehe auch Elliott Jr., »History and Tragedy in Richard II«, S. 253–271, hier: S. 260. 432 Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 124. 433 Vgl. Elliott Jr., »History and Tragedy in Richard II«, S. 253–271, hier: S. 261. Vgl. Zimmermann, »Die ideologische Krise in King Richard II«, S. 103–122, hier: S. 107.
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Shakespeare, King Richard II
(Vers 23). Er bezeichnet seine Aufforderung als »senseless conjuration«, was ein Anzeichen von Resignation darstellt. Die Erklärung »This earth shall have a feeling, and these stones / Prove armed soldiers, ere her native king / Shall falter under foul rebellion’s arms« greift den Gedanken der Personifikation der Erde wieder auf und läßt sein Verständnis des Königseins erkennen: zunächst soll die Erde Gefühle haben und die Steine sollen Richards Armee sein. Diese Aufforderung belegt, daß Richard sich als König von Gottes Gnaden erachtet, eine Ansicht, die er im weiteren Verlauf bestätigt. Als Stellvertreter Gottes verfügt er über die Natur.434 Als Reaktion auf seinen Appell versuchen Carlisle und Aumerle Richard sprichwörtlich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Carlisle kommt in dieser Szene der diplomatischere Part zu, der zunächst Richard Mut zuspricht (»Fear not, my lord. That Power that made you king / Hath power to keep you king in spite of all.«), ihn allerdings auch gleichermaßen bezüglich seiner Säumnisse ermahnt435: »The means that heavens yield must be embraced And not neglected; else heaven would, And we will not. Heaven’s offer we refuse – The proffered means of succour and redress.« (III,2,29–32)
»The Bishop of Carlisle, whilst echoing the doctrine of divine kingship which Richard, not without a touch of complacency, has made his own, adds an indication to the effect that God helps those who help themselves […].«436 Göttliche Hilfe ist zwar gegeben, doch muß man selbst die Initiative ergreifen.437 Unterstützung erfährt Carlisle von Aumerle, der die gleiche Kritik offener ausspricht: »He means, my lord, that we are too remiss, Whilst Bolingbroke, through our security, Grows strong and great in substance and in power.« (III,2,33–35)438 434 Vgl. Zimmermann, »Die ideologische Krise in King Richard II«, S. 103–122, hier: S. 107: »Wie eng Richards Fehlverhalten mit seinem überzogenen Selbstverständnis als von Gott bestellter Herrscher zusammenhängt, der keinem Sterblichen Rechenschaft schuldet, das offenbart sein Zusammenbruch.« Richard bezeichnet sich später in III,2,57 offen als »The deputy elected by the Lord«. Richard tendiert dazu, den body politic mit dem body natural zu verwechseln, weswegen er seine Macht nicht in Gefahr sieht. Ferner deutet Zimmermann hinsichtlich Richards Selbstverständnis auf III,2,85 hin: »Gegenüber seinem königlichen Namen, seinem body politic, schrumpfen aufrührerische Untertanen zu bedeutungsloser Winzigkeit (III.ii.82).« Vgl. auch Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 58. Vgl. ferner Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 356. 435 Vgl. Elliott Jr., »History and Tragedy in Richard II«, S. 253–271, hier: S. 262. 436 Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 30. 437 Vgl. Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 66. 438 Vgl. Kastan, »Proud Majesty Made a Subject: Shakespeare and the Spectacle of Rule«, S. 459– 475, hier: S. 471.
Richards Ansichten zum Königtum (III,2,4–62)
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Anstatt die Warnungen Carlisles und Aumerles ernstzunehmen, ignoriert er sie in gewohnter Weise und reagiert vorwurfsvoll mit »Discomfortable cousin, knowst thou not […]« (III,2,36ff.). Seine Argumentation beginnt zunächst auf einer abstrakten Ebene. Das mit der rhetorischen Frage vorgebrachte Beispiel, wenn die Sonne, »the searching eye of heaven«, untergegangen ist, werden von »thieves and robbers« Verbrechen begangen, und zwar »unseen« (Vers 39), überspielt durch die Metapher und das Hendiadyoin den argumentativ geringen Gehalt. Richard bedient sich des simplen Klischees, Verbrechen geschehen unbeobachtet stets nachts. Der argumentative Gehalt ist dadurch gering. Die Aufdeckung jener Verbrechen, dargestellt im Trikolon »murders, treasons and detested sins« (Vers 44), geschieht bei Tagesanbruch (»The cloak of night being plucked from off their backs«), wenn die Sonne, als die er, Richard, sich betrachtet, mit ihrem Licht alles überstrahlt: »He fires the proud tops of the eastern pines / And darts his light through every guilty hole, […]« (III,2,42–43).439 Aus dieser These leitet er nun die aktuellen Geschehnisse um Henry Bolingbroke ab. Eingeleitet durch das folgernde »So« in Vers 47, urteilt er: wie die aufgehende Sonne alle Verbrechen ans Tageslicht befördert, so wird Richards Rückkehr aus Irland Bolingbrokes Hochverrat (»treason«) aufdecken und überstrahlen. Bei seinem Transfer werden folgende Parallelen offensichtlich: die aufgehende Sonne (»the searching eye of heaven«) entspricht Richard, die »thieves and robbers« werden mit »this thief, this traitor, Bolingbroke« – hier durch die Kombination aus Alliteration und Klimax intensiviert – gleichgesetzt, denen beide mit »trembling at themselves« (Vers 46) bzw. »self-affrighted, tremble at his sin« (Vers 53) das gleiche Schicksal widerfährt. Dem Zuschauer wird Richards Wahnvorstellung von der göttlichen Legitimität seiner Herrschaft am Ende des Monologs abermals offenkundig. Er verschließt sich weiterhin vor der Realität, behauptet sogar: »Not all the water in the rough rude sea Can wash the balm off from an anointed king; The breath of worldly men cannot depose The deputy elected by the Lord.« (III,2,54–57)
Das heißt, daß »niemand und nichts auf dieser Welt ihm das Gottesgnadentum streitig machen«440 könne, der König ist immun. Der »anointed king« (Vers 55), auch »The deputy elected by the Lord«441 (Vers 57) stehen im antithetischen Bezug zum »breath of worldly men« (Vers 56). Letzteres ist eine metonymische 439 Vgl. auch McMillin, »Shakespeare’s Richard II: Eyes of Sorrow, Eyes of Desire.« In: Shakespeare Quarterly 35 (1984), S. 40–53, hier: S. 48. 440 Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 124. 441 Die Periphrase des »deputy« wird später in IV,1,127 von Bischof von Carlisle in dessen Rede erneut aufgegriffen.
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Shakespeare, King Richard II
Anspielung auf Bolingbroke, was durch die zweite Bedeutung des Wortes »worldly«, hier ›gierig‹ oder ›habsüchtig‹, gestützt wird.442 Die in Vers 54ff. implizierte realitätsferne Vorstellung von der Unverwundbarkeit des Königs setzt sich zum Schluß in der Antithetik »shrewd steel« – »our golden crown« (Vers 59), »angels« – »weak men« (Vers 61f.) fort. Die Hyperbel »For every man that Bolingbroke hath pressed / To lift shrewd steel against our golden crown, / God for His Richard hath in heavenly pay / A glorious angel« (Vers 59–61) greift seine Unfähigkeit zu handeln in Vers 12ff. wieder auf und bestätigt ihn nur als Illusionist.443 Erst mit Salisburys Auftritt, der ab Vers 64 »nothing but despair« zu verkünden hat, und zwar, daß »[…] all the Welshmen, hearing thou wert dead, / Are gone to Bolingbroke, dispersed and fled« (III,2,73f.), wird Richards Hybris gebremst: »Have I not reason to look pale and dead? / All sould that will be safe, fly from my side, / For Time hath set a blot upon my pride.« (III,2,79–82).444 Trotzdem klammert er sich in rhetorischen Fragen an seine Illusion von der Königsmacht, wie etwa »I had forgot myself. Am I not king?« (Vers 83) oder »Is not the King’s name twenty thousand names?« (Vers 85). Erst Scroops Andeutung schlechter Nachrichten in Vers 92 (»[…] my care-tuned tongue […]«) läßt Richard verzweifeln: »Say, is my kingdom lost?« (III,2,95).445
6.9
Richards »hollow crown« speech (III,2,144–177)
Inmitten seiner Emotionsausbrüche zwischen verzweifelnder Klage und Fluchen muß Richard anerkennen, daß seine Macht als Monarch, sein body politic, schwächer wird.446 In seiner Aufforderung »Let’s talk of graves, of worms and 442 Vgl. dazu auch Mahoods Untersuchung: Mahood, »Wordplay in Richard II«, S. 208f. 443 Vgl. Zimmermanns Zusammenfassung Richards Uneinsichtigkeit, S. 107: »Da nicht sein kann, was nicht sein darf, sollen ihn mangels Soldaten die Flora und Fauna sowie Engel Gottes im Kampf gegen den Rebellen Bolingbroke verteidigen.« Vgl. außerdem Kullmann, S. 49. 444 Eine zusätzliche Ironie besteht in der Mehrdeutigkeit des Wortes »pride«. Neben ›Stolz‹ kommen die Bedeutungen ›Arroganz‹ oder ›Hochmut‹ in Frage. 445 Vgl. Mahood, »Wordplay in Richard II«, S. 209. In Richards Augen ist die Rebellion Bolingbrokes sowie das Abfallen seiner Untertanen sowohl ein Treuebruch zu ihm als auch zu Gott, wie er selbst zwischen Verweiflung und Fluchen konstatiert: »Revolt our subjects? That we cannot mend. / They break their faith to God as well as to us. / Cry woe, destruction, ruin and decay. / The worst is death, and Death will have his day.« (III,2,100–103). Selbst bei seinem politischen Sturz hält er an der alten Denkstruktur fest, mit der er sich voll und ganz identifiziert. Seine Ignoranz gegenüber wohl gemeinten Ratschlägen und sein Fall als Konsequenz lassen ihn wie Ikarus dastehen. 446 Richards Monologe in III,2 belegen seinen inneren Konflikt. Vgl. auch Zimmermann, »Richard II: Zur Geschichtlichkeit der Sympathielenkung«, S. 154–163, hier: S. 159.
Richards »hollow crown« speech (III,2,144–177)
145
epitaphs« (III,2,145) wendet er sich zum ersten Mal den vergänglichen, menschlichen Themenbereichen zu, nachdem er mit der Todesnachricht von Bushy, Green und dem Earl of Wiltshire konfrontiert worden ist.447 Die Katachrese (abusio) »rainy eyes« dient der Intensivierung und belegt zugleich Richards Gefaßtheit in der jetzigen Situation. Seine rhetorische Frage »[…] for what can we bequeath / Save our deposed bodies to the ground?« (Vers 150) wirft gleichermaßen die Frage auf, was Richards Vermächtnis für die Nachwelt sein wird. In der Klimax »Our lands, our lives and all are Bolingbroke’s« (Vers 151) faßt er seine Mittellosigkeit zusammen. Alles, sogar sein Leben, ist nun im Besitz des Rebellen Henry Bolingbroke. Dem gegenüber steht die Antithese »And nothing can we call our own but death / And that small model of the barren earth« (Vers 152f.). Dies sind sehr menschliche Merkmale, die nicht dem göttlichen body politic Richards entsprechen.448 Das Motiv von Tod und Vergänglichkeit wird in seiner Rede fortgeführt. In der Aufforderung »For God’s sake let us sit upon the ground / And tell sad stories of the death of kings« (III,2,155f.) bemerken wir seine leise Kapitulation. Er will sich auf den Erdboden setzen, was seinem bisherigen Habitus, nämlich auf dem Königsthron zu sitzen, widerspricht. Richard erniedrigt sich durch die topographische Symbolik, die im Konnex zu Vers 145 (»[…] of graves, of worms and epitaphs«) steht.449 Theatralisch stellt er sein Selbstverständnis als de casibusKönig450 zur Schau. Die eingeschobene Aufzählung »[…] some have been deposed, some slain in war, / Some haunted by the ghosts they have deposed, / Some poisoned by their wives, some sleeping killed« (Vers 157–159), die von der Absetzung bis zur Tötung im Schlaf reicht, läuft auf die eine Gemeinsamkeit »All murdered« (Vers 160) hinaus. Richards Vergangenheitsbezug ist gleichzeitig die Vorausdeutung seines eigenen Schicksals.451
447 Altick macht auf die geänderte Konnotation von »earth« in Richards Soliloquium aufmerksam. Vgl. Altick, »Symphonic Imagery in Richard II«, S. 339–365, hier: S. 343. 448 Die Verantwortung bzw. Grund und Ursache für seinen anstehenden Niedergang sieht Richard im Wirken der Fortuna. Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 59. Siehe auch Zimmermann, »Die ideologische Krise in King Richard II«, S. 103–122, hier: S. 108: »In seinen eigenen Augen ist Richard ein Opfer Fortunas. So pflegt er eine weinerliche contemptus mundi-Haltung, ganz wie es sich nach stoisch christlichem Rat im Umgang mit der unberechenbaren Dame gehört.« Vgl. Kantorowicz, S. 13. 449 Vgl. Forker, S. 329, weist in seinen Anmerkungen darauf hin, daß aus dieser Textstelle im Drama nicht eindeutig hervorgeht, ob Richard sich alleine hinsetzt oder gemeinsam mit seiner Entourage. Hinzu kommt, daß das Sitzen auf dem Erdboden als Zeichen der Trauer galt, wie wir ebenfalls bei Forker entnehmen können. 450 Zimmermann, »Richard II: Zur Geschichtlichkeit der Sympathielenkung«, S. 154–163, hier: S. 161. 451 Unterschwellig schwingt in »haunted by the ghosts they have deposed« (III,2,158) Richards Verwicklung in der Ermordung des Duke of Gloucester mit. Gloucester war zwar nie König,
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Shakespeare, King Richard II
Das Motiv von Vergänglichkeit spiegelt sich in dem Symbol der »hollow crown« wider, greift Gaunts einstige Kritik – »A thousand flatterers sit within thy crown« (II,1,100) – wieder auf und markiert die Abkehr vom Ideal des Königtums, der »golden crown« (III,2,59). Der Glanz des Königtums wird ins Gegenteil verkehrt, Richard »denunziert […] das Königtum als leere Hülse«452, dem nichts Göttliches mehr anhaftet. Statt dessen wird in Vers 162 der personifizierte Tod, dargestellt als »Death« und »the antic«, zur bestimmenden Kraft über das menschliche Leben und das politische Geschehen: »[…] For within the hollow crown That rounds the mortal temples of a king Keeps Death his court; and there the antic sits, Scoffing his state and grinning at his pomp, Allowing him a breath, a little scene, To monarchize, be feared and kill with looks, Infusing him with self and vain conceit, As if this flesh which walls about our life Were brass impregnable; […].« (III,2,160–168)
Durch das Paradoxon verkehrt er die übliche Symbolik der Krone, daß der body politic des Königs göttlicher Natur ist. In der Rolle des Narren wird die Nichtigkeit des monarchischen Mikrokosmos verdeutlicht, der im Topos des theatrum mundi nur als ein Schauspiel entwertet wird.453 Der Narr lenkt und gestattet ihm, eine Szene, ja sogar König zu spielen (»Allowing him […] a little scene, / To monarchize«): »The double meaning of antic, a clown as well as a gargoyle or death’s head, leads to a further metaphor; the showman Richard finds life reduced to play-acting, a little scene, and that he too is a shadow in this kind. Death appears, as in the morality plays, with mops and mows that parody the king’s mortal authority.«454
Die nichtige Scheinwelt, die scheinbar massive Burgmauer, wird durch einen kleinen Auslöser (»a little pin«) zum Einsturz gebracht: »Bores through this castle wall, and farewell, king!« Im letzten Abschnitt nivelliert Richards Apostrophe »Cover your heads, and mock not flesh and blood / With solemn reverence« (III,2,171f.) symbolisch die jedoch kann diese Textstelle als ein Eingeständnis Richards auf Gloucester als den eigentlich rechtmäßigen König interpretiert werden. 452 Zimmermann, »Die ideologische Krise in King Richard II«, S. 103–122, hier: S. 110. 453 In I,1 und I,3 war Richard noch als Lenker über die Geschicke seiner Untertanen Mowbray und Bolingbroke verantwortlich; ihm als Herrscher oblag die Entscheidungsgewalt ähnlich einem Theaterregisseur. Nun ist er in III,2 selbst seiner Rolle als König beraubt und zu einem Schauspier degradiert worden. Siehe auch Simonis, »›In meines Geistes Aug‹ – Formen der Reflexion in Shakespeares Soliloquien«, S. 23–44, hier: S. 40. 454 Mahood, »Wordplay in Richard II«, S. 210.
Bolingbrokes Nachricht und Richards Rede auf Flint Castle (III,3,31–67; 72–100)
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Unterscheidung von König und Untertan. Richard setzt sich mit seinen Gefolgsleuten auf dieselbe Stufe und verzichtet auf die königlichen Privilegien. Die Begründung »For you have but mistook me all this while« (Vers 174) leitet über in die Aufzählung (Vers 175f.), in der Richard den Vergleich mit seinen Gefolgsleuten anstellt und sich vollends vom body politic loslöst.455 Im Gegenzug findet in ihm die Identifikation mit dem body natural statt: »Je mehr Richard an realer Macht verliert, um so mehr findet er sich als Mensch, wird er wieder oder überhaupt erst Mensch.«456 Den Abschluß bildet die rhetorische Frage »Subjected thus, / How can you say to me I am king?« (III,2,176f.), die in ihm auf Basis seiner vorgebrachten Beispiele eine skeptische Haltung hervorgerufen hat.457 Nach seiner anfänglichen Hysterie gelangte Richard zu der Erkenntnis, daß auch seine Zeit als Regent begrenzt ist. In seinem gesamten Monolog thematisiert er die göttliche Macht des Königs, rekapituliert Gaunts Kritik und kehrt alle Symbole, alles Metaphysische ins Negative um, was am Ende seiner inoffiziellen Abdankung gleichkommt. Zwar lassen die Reden bzw. Monologe in III,2 keine »politische Wirkabsicht«458, wie Müller es formuliert, erkennen, jedoch gewähren sie uns Einsichten in Richards politische Weltanschauung bzw. in deren Wandel.
6.10 Bolingbrokes Nachricht (III,3,31–67) und Richards Rede auf Flint Castle (III,3,72–100) Richard und Bolingbroke treffen in III,3 zum ersten Mal seit Bolingbrokes Verbannung aufeinander.459 Jener bekundet seinen Wunsch nach Verhandlungen (»the breath of parley«) und schickt seinen Verbündeten Northumberland als Unterhändler zu Richard »to the rude ribs of that ancient castle« (Vers 32). Die 16 Verse umfassende Nachricht teilt sich in zwei Abschnitte: der erste (Vers 35–
455 Die »Trennung« der beiden Körper des Königs deutet sich damit an. 456 Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 130. In seinen Ausführungen erscheint Richard dem Zuschauer immer stärker als eine gespaltene Persönlichkeit, aufgeteilt in König und Mensch. Somit steht die o. g. Passage III,2,174–177 mit Richard als Mensch im Gegensatz zu III,2,54–57 mit Richard in der Königsrolle. Siehe auch Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 356. 457 Solange Richard am Leben bleibt, ist er Henry Bolingbrokes Untertan. Siehe auch Kastan, »Proud Majesty Made a Subject: Shakespeare and the Spectacle of Rule«, S. 459–475, hier: S. 472. 458 Müller, Die politische Rede, S. 67. 459 Genau genommen geschieht dieses Aufeinandertreffen vorerst auf eine indirekte Art, indem Bolingbroke Northumberland als Mittler vorausschickt. Northumberlands Agieren dient zur Vorbereitung auf das am Ende von III,3 stattfindende Aufeinandertreffen zwischen Bolingbroke und Richard.
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Shakespeare, King Richard II
41) enthält die förmliche Anredeformel inklusive des Gesprächanliegens bzw. der Begründung seines Kommens: »[…] hither come Even at his feet to lay my arms and power Provided that my banishment repealed And lands restored again be freely granted.« (III,3,38–41)
Was anfänglich wie eine gewöhnliche Bitte bzw. ein Friedensangebot klingt, äußert sich ab Vers 40 als mächtige Kriegsdrohung, die an Henrys Kriegsrhetorik in Henry V III,3 erinnert.460 Schon die formelhafte Begrüßung mit Henry Bolingbrokes Angebot, die Waffen vor dem König niederzulegen, ist an das konditionale »Provided« (Vers 40) gebunden. Die dafür vorausgesetzte Gegenleistung ist vorrangig die Wiederherstellung von Bolingbrokes Ruf und Besitztümern.461 Die daraus resultierende Konsequenz bei Unterlassung jener Forderungen wird durch »If not« (Vers 42) eingeleitet: »If not, I’ll use the advantage of my power And lay the summer’s dust with showers of blood Rained from the wounds of slaughtered Englishmen – The which how far off from the mind of Bolingbroke It is much crimson tempest should bedrench The fresh green lap of fair King Richard’s land My stooping duty tenderly shall show.« (III,3,42–48)
Wie später Henry V. in Frankreich läßt Bolingbroke kaum Raum für Verhandlungsalternativen. Seine Drohgebärde ist geprägt von der roten Farbsymbolik wie etwa in »showers of blood« oder »crimson tempest« und trägt neben den Bildern »the wounds of slaughtered Englishmen« zur Brutalität bei.462 Im direkten 460 Diese Drohung »ist aber eingepackt in eine lange Rede, die nur so trieft von milder Ergebenheit. Bezeichnend ist der wiederholte Hinweis auf unterwürfiges Knien vor dem Herrscher«, wie Hasler erklärt. Vgl. Hasler, »Richard II: Gestische Ironie und das Problem Bolingbroke«, S. 142–153, hier: S. 147. Diese Drohung steht außerdem im Widerspruch zu Bolingbrokes Anordnungen »Through brazen trumpet send the breath of parley« (Vers 33) und »Let’s march without the noise of threat’ning drum« (Vers 51), welche wiederum den friedlichen Anlaß zur Schau stellen sollen. Vgl. dazu auch Forkers Erläuterung auf S. 26. 461 Man ahnt bereits, daß Bolingbroke und Northumberland den Griff nach der Krone im Sinn haben. Seine Forderung ist ein Versuch, seine ambition zu verschleiern, im Sinne Machiavellis. Vgl. Zimmermann, »Die ideologische Krise in King Richard II«, S. 103–122, hier: S. 117: »Dabei folgt er dem Leitsatz: ›Man darf nie seine Absicht zeigen, sondern muß zunächst mit allen Mitteln seinen Wunsch zu erreichen suchen.‹ Er hütet sich, je die Krone zu fordern und läßt Richard reagieren, so daß es so aussieht, als ob dieser Bolingbroke erst durch seine Aufgabe den Gedanken der Machtergreifung nahelegte.« 462 Bolingbrokes Symbolik können wir als prophetische, oder vielmehr vorausdeutende Elemente betrachten, was allerdings nur für den Zuschauer ersichtlich ist. Traversi paraphrasiert »These ›shower of blood‹ will follow Bolingbroke to the end of his reign«. Vgl. Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 34.
Bolingbrokes Nachricht und Richards Rede auf Flint Castle (III,3,31–67; 72–100)
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Kontrast zerstört »crimson tempest« den Topos »The fresh green lap of fair King Richard’s land« (Vers 47). Drohte Henry V. noch den Franzosen Harfleurs mit einem Blutbad, schreckt Bolingbroke nicht davor zurück, seine Landsleute abzuschlachten. Daß für Bolingbroke der Bürgerkrieg die ultimative Handlungsoption darstellt, zeigt sich in seiner Parenthese »The which how far off from the mind of Bolingbroke / It is […]« (Vers 45f.), die im Ton wiederum moderater ausfällt. Richards Reaktion ab Vers 72 baut rhetorisch Distanz zwischen ihm und dem Überbringer Northumberland auf.463 Richard verwendet ausschließlich die erste Person Plural (pluralis maiestatis) »we«, Bolingbroke im Gegenzug verwendet den Singular: »We are amazed, and thus long have we stood / To watch the fearful bending of thy knee / Because we thought ourself thy lawful king.« (III,3,72–74). Die hierarchische Distanz wird neben topographischer Symbolik – Richard steht auf der Schloßmauer, Northumberland unten am Fundament – durch das informelle »thy« statt des your deutlich. Aus der Situation heraus, daß Northumberland seiner Pflicht als Untertan nicht nachgekommen ist und vor Richard niederkniete464, leitet der König in seine argumentatio über, in welcher er Northumberland belehrt: »And if we be, how dare thy joints forget To pay their awful duty to our presence? If we be not, show us the hand of God That hath dismissed us from our stewardship; For well we know no hand of blood and bone Can gripe the sacred handle of our sceptre, Unless he do profane, steal of usurp.« (III,3,75–81) 463 Bolingbrokes Kommentar über Richards Erscheinen innerhalb der Sonnenmetaphorik spiegelt dessen eigene Beschreibung seiner selbst aus III,2,50–53 wider. Sein einleitendes »See, see« unterstreicht seine Verachtung für Richard. Ferner verkehrt er Richards Beschreibung durch seine Äußerung »the blushing discontented sun« (III,3,63). Ihm ist bewußt, daß Richards Untergang bevorsteht bzw. daß er diesen Untergang herbeiführen kann. 464 Ob Northumberland den Kniefall vergessen oder bewußt ausgelassen hat, kann nicht geklärt werden. Richards oben gezeigte Reaktion gibt jedoch genauere Rückschlüsse darüber, daß die eigentliche Nachricht Bolingbrokes, von der es »and thus deliver« (Vers 34) hieß, nicht wie von Bolingbroke geplant übermittelt worden ist. Vgl. Hasler, »Richard II: Gestische Ironie und das Problem Bolingbroke«, S. 142–153, hier: S. 148: »Deutlicher als in der späteren Abdankungsszene führt hier der Kontrast zwischen Bolingbroke und seinem Königsmacher zur Demaskierung der Bolingbroke-Partei. Der kalt-realistische, manchmal ein wenig sture Northumberland ist für diese Aufgabe nicht Diplomat genug. Sein Knie will sich nicht beugen […].« Weiter spricht Hasler von der Diskrepanz zwischen Botschaft und Botschafter, da Northumberland »seinen Vers getreulich herunterleiert – nicht wörtlich, doch sinngemäß.« Für Forker, S. 26, ist Northumberlands Verstoß gegen das Protokoll eine Vorausdeutung auf Bolingbrokes wahre Absicht: »And in Northumberland’s dropping of Richard’s title (3.3.6–9) and failure to kneel (3.3.75–6), Shakespeare subtly conveys a hint of the usurper’s ultimate goal.«
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In zwei gegenüberstehenden Konditionalgefügen stellt Richard sein Dasein als rechtmäßiger König unter Beweis: entrüstet herrscht er Northumberland an, warum dieser sich nicht vor ihm verbeuge, falls er legitimer König sei. Falls er jedoch kein König ist, so solle Northumberland den Gottesbeweis antreten. Nur Gott nämlich kann einen König seines Amtes entheben.465 Nach seiner Belehrung fährt Richard mit seiner Antwort an Bolingbroke fort. Er wechselt in seiner Argumentation in die Ebene der Herrschertheologie und prophezeit: »Yet know: my Master, God omnipotent, Is mustering in His clouds on our behalf Armies of pestilence, and they shall strike Your children, yet unborn and unbegot, That lift your vassal hands against my head And threat the glory of my precious crown.« (III,3,85–90)
Bildgewaltig wird Gott als Verteidiger Richards eingeführt, der »Armies of pestilence« im Himmel für Richard aushebt. Richard greift hier das alte Bild der kämpfenden Engelscharen aus III,2,59–61 wieder auf. Die Rede wechselt dabei vom Präsens zum Futur, wodurch der prophetische Charakter betont wird. Gleichzeitig spricht er mit »and they shall strike / Your children, yet unborn and unbegot« (III,3,87f.) eine blutrünstige Drohung aus und »verwendet das, was er für die Zukunft voraussieht, als Argument in seiner Rede«466. Kaum bemerkt wechselt der Numerus vom Plural in den Singular zu »my precious crown« (Vers 90). Die Krone und die mit ihr verbundenen Pflichten und Privilegien gehören Richard und niemandem sonst. Ab Vers 91 wechselt Richard vom prophetischen Part auf die aktuelle Situation zurück. Bolingbroke wird des »dangerous treason«, des Hochverrats, und der Kriegsabsicht beschuldigt: »He is come to open / The purple testament of bleeding war.« (Vers 93f.).467 Aus der Kriegseröffnung prophezeit Richard einen langen und blutigen Bürgerkriegs: »But ere the crown he looks for live in peace, Ten thousand bloody crowns of mothers’ sons Shall ill become the flower of England’s face, Change the complexion of her maid-pale peace
465 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 69. Zu Northumberlands Charakter vgl. Hasler, »Richard II: Gestische Ironie und das Problem Bolingbroke«, S. 142–153, hier: S. 148. Da nur Gott Richard rechtmäßig des Amtes entheben kann, sind alle anderen Handlungen diesbezüglich gemäß Richard unrechtmäßig. Ein Mensch kann Richard also nur vom Thron stoßen, wenn er eines der Verbrechen aus dem Trikolon in Vers 81 (»do profane, steal or usurp«) begeht. 466 Müller, Die politische Rede, S. 69. Richards Drohung erinnert an Henry V III,3 mit Henrys Kriegsrhetorik. 467 Siehe auch Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 36.
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To scarlet indignation, and bedew Her pastor’s grass with faithful English blood.« (III,3,95–100)
Eindeutig will er seinen Gegner Bolingbroke, welcher zuvor mit seiner grausamen Metapher des in Blut getränkten Gartens (III,3,42ff.) droht, abschrecken. Seine Verteidigung (defensio) entwendet aus rhetorischer Sicht Bolingbrokes Redefigur und verwendet sie gegen ihn.468 Richards Rede oder Antwortmonolog erscheint rhetorisch eindrucksvoll. Anders als bei Gaunts Reden ist hier nicht die Betonung der Vergangenheit das Alleinstellungsmerkmal, sondern die prophetische Schau in die Zukunft. Dennoch ist es problematisch, die drei aristotelischen genera auf gerade diese Rede anzuwenden. Sie enthält sowohl Elemente des genus iudiciale als auch des genus demonstrativum.469 Bedingt durch den Wechsel zwischen der konkreten Situation und der Prophezeiung, steht die Rede in einem Spannungsverhältnis470 zwischen den genannten Komponenten. In gleicher Weise vereint die Rede accusatio und defensio. Richards zornige Reaktion auf Northumberlands Botschaft zwingt letzteren, seine rhetorische Taktik noch einmal abzuändern und den diplomatischen Fehler zu korrigieren.471 Aus Richards Antwort kann der Zuschauer folgern, daß Northumberland Bolingbrokes Nachricht allenfalls sinngemäß übermittelt hat.472 So hört der Zuschauer nun zum zweiten Mal die gleiche Nachricht: »The King of Heaven forbid our lord the King Should so with civil and uncivil arms Be rushed upon! The thrice-noble cousin, Harry Bolingbroke, doth humbly kiss thy hand; And by the honourable tomb he swears That stand upon your royal grandsire’s bones, And by the royalties of both your bloods – Currents that spring from one most gracious head – And by the buried hand of warlike Gaunt, And by the worth and honour of himself, Comprising all that may be sworn or said, His coming hither hath no further scope Than for his lineal royalties, and to beg Enfranchisement immediate on his knees; Which on thy royal party granted once, 468 Vgl. Altick, »Symphonic Imagery in Richard II«, S. 339–365, hier: S. 344. 469 Richards Tadel an dem Boten Northumberland entspräche dem genus demonstrativum, seine Darlegung von Bolingbrokes Hochverrat gehört hingegen in den Bereich des genus iudiciale. 470 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 69. 471 Vgl. Hasler, »Richard II: Gestische Ironie und das Problem Bolingbroke«, S. 142–153, hier: S. 148. Vgl. auch Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 119. 472 Siehe auch Anm. 464 auf S. 149.
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His glittering arms he will commend to rust, His barbed steeds to stables and his heart To faithful service of your majesty. This swears he, as he is a prince and just; And, as I am a gentleman, I credit him.« (III,3,101–120)
Im direkten Vergleich mit Bolingbrokes ursprünglicher Nachricht fällt die übertriebene Verwendung von Höflichkeitsfloskeln auf, die in der Eröffnung blasphemisch wirken. Die eigentliche Nachricht bzw. Absicht – das von Bolingbroke gesetzte Ultimatum – findet sich erst in der narratio in den Versen 112–114 (»His coming hither hath no further scope / Than for his lineal royalties, and to beg / Enfranchisement immediate on his knees«) wieder. Davor versucht er, bei Richard das attentum et benevolum parare durch ein ausuferndes exordium zu erzielen: »The King of Heaven forbid our lord the King Should so with civil and uncivil arms Be rushed upon! Thy thrice-noble cousin, Harry Bolingbroke, doth humbly kiss thy hand.« (III,3,101–104)
Der zuvor von Bolingbroke erwähnte Kniefall mit Handkuß (III,3,36) wird mündlich nachgereicht. Die vier folgenden Satzteile werden jeweils durch das anaphorische »And by the« im Konnex mit positiv konnotierten Worten wie »royal grandsire’s bones«, »the royalties«, »one most gracious head« und »the worth and honour« eingeleitet. Nicht nur Bolingbroke soll in einem positiven Licht dastehen, sondern Richard soll auch seine Verwandtschaft mit ihm vor Augen geführt werden: »[…] er antwortet deshalb mit einer Rede, deren süße Klebrigkeit das Bolingbrokesche Original noch übertrifft. Die Zunge soll wettmachen, was das Knie versäumt hat, und so wird Bolingbroke als wahrer Ausbund an Noblesse, als Verkörperung der Ehre schlechthin präsentiert.«473
Es ist diese »süße Klebrigkeit«, mittels derer wir Northumberlands Rede dem asianischen Stil474 zuordnen können: statt sich nur auf die Sachlage zu beschränken, wie wir es aus seinem ersten Versuch mutmaßen können, übertreibt
473 Hasler, »Richard II: Gestische Ironie und das Problem Bolingbroke«, S. 142–153, hier: S. 148. Müller, Die politische Rede, S. 70, betrachtet Northumberlands Antwort als »bare[n] Zynismus und seine Nennung Gottes […] ist […] nichts als Blasphemie«. 474 Zum Asianismus siehe Curtius, S. 76f., vgl. auch Andersen, S. 90–92. Beide verweisen auf Cic. orat. 25, an welcher Stelle Cicero den asianischen Stil als »opimum quoddam et tamquam adipatae dictionis genus«, also als »überladene Art und gleichermaßen von feister Ausdrucksweise« bezeichnet.
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er in seinen Ausführungen.475 Die argumentatio fällt wiederum kurz aus (Vers 115–119) und geht fließend aus der narratio hervor. Das indirekte Zuraten, wenn Richard Bolingbrokes Ruf und Titel wiederherstellt, wird letzterer von weiteren kriegerischen Handlungen absehen und sich als königstreuer Gefolgsmann erweisen (»His glittering arms he will commend to rust […] and his heart / To faithful service of your majesty.«), soll Richard genus-typisch zu einer Entscheidung auffordern. Bei aller angewandten suavitas ›vergißt‹ Northumberland allerdings die (negativen) Konsequenzen zu erwähnen, falls den gestellten Forderungen nicht nachgekommen wird. Statt dessen wird in der äußerst kleinen conclusio Bolingbrokes noble Absicht (»This swears he«) zusammengefaßt und durch die Scheinargumente (argumentum ad verecundiam) »as he is a prince and just; / And, as I am a gentleman, I credit him« (Vers 119) gestützt. Die Glaubwürdigkeit Bolingbrokes stützt sich einzig auf dessen Adelsstatus, das überzeugende Moment dieser Äußerung fehlt jedoch gänzlich.476 Dem König entgeht das intrigante Spiel nicht, wie man an seiner sarkastischen Bemerkung »King Bolingbroke« (III,3,173) bemerkt.477 Jedoch verunsichert ihn die Situation ebenfalls: »We do debase ourselves, cousin, do we not, To look so poorly and to speak so fair Shall we call back Northumberland and send Defiance to the traitor, and so die?« (III,3,127–130)
Später fragt Richard478: »What must the King do now? Must he submit? The King shall do it. Must he be deposed? The King shall be contented. Must he lose The name of King? I’God’s name, let it go.« (III,3,143–146)
Damit wäre Bolingbrokes Plan aufgegangen: gemeinsam mit Northumberland betreibt er psychologische Kriegsführung, die auf Richards Charakterschwäche, nämlich dem Ausweichen einer Konfrontation, als Monarch gerichtet ist.479 Die gesamte Szene »dient als Vorbereitung auf die direkte Begegnung zwischen Ri475 Die Übertreibungen sind auch dem Umstand geschuldet, daß Northumberland nun aufgrund seines respektlosen Auftritts einen zornigen König Richard vor sich hat und jetzt alles daran setzen muß, den König wieder für Bolingbrokes Vorhaben empfänglich zu machen. 476 Siehe auch Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 36, der Northumberlands leere Begründung als Ironie bezeichnet. 477 Vgl. Forker, S. 26. 478 Bezüglich Richards Verunsicherung vgl. Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 36. Siehe außerdem Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 66. 479 Vgl. Lenz, S. 61.
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chard und Bolingbroke, und dieser benimmt sich dabei genau wie von Northumberland angekündigt«480. Die Stelle markiert für beide Charaktere den Wendepunkt im Drama. Ob Richard sich nun freiwillig bzw. aus einer gewissen Neigung heraus ergeben hat oder, ob Bolingbroke in dieser Situation durch Glück und Taktik die Oberhand behalten hat, läßt Shakespeare offen.481
6.11 Bischof von Carlisles Einspruch gegen Bolingbrokes Thronbesteigung (IV,1,114–149) Nachdem Bolingbroke und Northumberland im dritten Akt den Weg für Richards Entthronung geebnet hatten, scheint nun einer Machtergreifung nichts mehr im Wege zu stehen. Ausschlaggebend für Bolingbrokes Ernennung zum König ist das Erscheinen des Dukes of York ab Vers 108: »Great Duke of Lancaster, I come to thee From plume-plucked Richard, who with willing soul Adopts thee heir, and his high sceptre yields To the possession of thy royal hand. Ascend the throne, descending now from him, And long live Henry, of that name the fourth!« (IV,1,108–113)
Gemäß dessen Aussage soll Richard Bolingbroke als seinen Erben bestimmt und das Zepter an ihn weitergereicht haben. Die Proklamation Bolingbrokes durch York zum neuen König untermauert den Paradigmenwechsel weg vom Gottesgnadentum des Königs: Henry IV. besteigt den Thron ohne die Einwilligung der Kirche und ist kein Stellvertreter Gottes auf Erden.482 480 Hasler, »Richard II: Gestische Ironie und das Problem Bolingbroke«, S. 142–153, hier: S. 148. 481 Vgl. Forker, S. 26–27 und S. 32. Vgl. außerdem Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 60, der Bolingbrokes Handeln mit machiavellistischen Handlungsmotiven in Bezug setzt: »Bolingbroke ist der Günstling Fortunas, der seine virtù geschickt nutzt und die sich bietende Gelegenheit beim Schopfe packt. Während Richard sich in dem Kampf um die Macht zu früh aufgibt, besitzt Bolingbroke die nötige Geduld […].« Ferner urteilt Zimmermann, »Die ideologische Krise in King Richard II«, S. 103–122, hier: S. 117, daß Bolingbroke ein gewisses Talent besizt: »Als echtes Glückskind besitzt Bolingbroke die charismatische Fähigkeit, im richtigen Moment das Richtige zu tun, die günstige Gelegenheit (kairos) beim Schopf zu packen. Richard dagegen, scheitert an der Unzeitigkeit seines Tuns und begeht den Kardinalfehler der Opfer Fortunas: er gibt sich zu früh selbst auf. Sein Widersacher aber versteht es, sich in seinem Handeln pragmatisch ganz von der qualità dei tempi leiten zu lassen und so Fortunas Energie zu seinen Zwecken umzulenken. Proteisch paßt er sich den Umständen an, um sie voll und ganz für sich zu nutzen. […] Er fordert aggressiv oder kniet demütig, straft streng oder vergibt, übt Zurückhaltung oder prescht vor; er ist Fuchs und Löwe zugleicht, wie es die Situation erfordert.« 482 Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 357. Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 60: »Henry Bolingbroke ist nicht nur der persönliche Widersacher und Nachfolger
Bischof von Carlisles Einspruch gegen Bolingbrokes Thronbesteigung (IV,1,114–149)
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Kaum hat Bolingbroke als Henry IV. Yorks Bitte angenommen mit »In God’s name I’ll ascend the regal throne« (Vers 114), unterbricht der Bischof von Carlisle diese Handlungen ab Vers 115 (»Marry, God forbid!«) mit seiner Rede.483 Gleich vorweg merkt er an, daß er in dieser Versammlung zwar nicht der »royal presence« angehört – »Worst […] may I speak« (IV,1,116) –, aber er sich als am besten geeignet hält, die Wahrheit zu sagen: »Yet best beseeming me to speak the truth.« (IV,1,117). Durch die Zäsur mit dem adversativen »Yet« wird die vorherige Demutsformel abgeschwächt. Das Spiel mit dem Kontrast »worst« und »best« verschärft in der argumentatio ab Vers 118 Carlisles Protest.484 Schon mit »to speak the truth« werden die übrigen kritisiert, er selbst hingegen hebt sich dadurch als eine moralische Instanz hervor. Zu Beginn der argumentatio wird in hypothetischen Konstruktionen die Urteilsgewalt der anwesenden Personen hinterfragt (IV,1,119–121):485 »Would God that any in this noble presence Were enough noble to be upright judge Of noble Richard! Then true noblesse would Learn him forbearance from so foul a wrong.«
Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Polyptoton »noble« – »noblesse«, da in Gottes Sinne niemand »enough noble« sei, über »noble Richard« zu urteilen. Das vorgeschaltete Adverb »enough« schwächt die positive Konnotation von »noble« ab, weswegen Richard den Rest der Versammlung überstrahlt. Ebenso steht die »true noblesse« (Vers 120) der »so foul a wrong« (Vers 121) diametral gegenüber: wahrer Adel begeht nicht diese schändliche Tat, hier abermals durch »so foul« gesteigert. Subtil zeigt Carlisle durch den Wechsel von »royal presence« (Vers 116) zur »noble presence« (Vers 118), daß er Henry Bolingbroke die Königswürde verweigert.486 Im weiteren Verlauf baut Carlisle seine Argumentation mittels mehrerer rhetorischer Fragen weiter aus:
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Richards; in ihm personalisiert sich vielmehr eine neue pragmatische Herrschaftskonzeption.« Mit seinem Ausspruch »In God’s name« durchbricht Bolingbroke die elisabethanische Ordnung, bemächtigt sich selbst der Krone ohne geistliche Zustimmung. Zu Carlisles Protest vgl. Zimmermann, »Die ideologische Krise in King Richard II«, S. 103–122, hier: S. 119. Carlisles Rede geht von einem prägnanten exordium direkt in die argumentatio über. Die narratio entfällt, da schließlich allen anwesenden Charakteren der Handlungshergang bekannt ist. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 71. Carlisle bleibt in seiner Kritik zurückhaltend. Der Vorwurf der Hybris Bolingbrokes wird nur indirekt deutlich. Die Absetzung des Königs nicht durch Gott kann Bolingbroke als »ambition« vorgeworfen werden.
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»What subject can give sentence on his king? And who sits here that is not Richard’s subject? Thieves are not judged but they are by to hear, Although apparent guilt be seen in them; And shall the figure of God’s majesty, His captain, steward, deputy elect, Anointed, crowned, planted many years, Be judged by subject and inferior breath, And he himself not present?« (IV,1,122–130)
Mit seinen eindringlichen Fragen stellt er die Legitimität der Versammlung weiter in Frage: Kein Untertan hat die Autorität über seinen König zu urteilen und keiner der Anwesenden ist nicht ein Untertan König Richards. »Das ist das zentrale Argument«487, mit dem Carlisle mögliche Rechtfertigungen der Gegenseite vorab entkräftet.488 Ebenso kritisiert er den Umstand, daß Richard in Abwesenheit verurteilt werden soll, anhand eines exemplum, an das sich die letzte rhetorische Frage (IV,1,126–130) anschließt. Mit den Ausdrücken »the figure of God’s majesty« und »subject and inferior breath« betont er die Diskrepanz zwischen dem König als dem Abbild Gottes und den Untertanen. Die jeweils dreifachen Aufzählungen »His captain, steward, deputy elect« (Vers 127) und »Anointed, crowned, planted« (Vers 128) intensivieren sein Pathos und übertreffen sowohl in Wortzahl als auch in ihrer Konnotation den »subject and inferior breath«.489 Seinen Protest dagegen, Richard in Abwesenheit zu verurteilen, äußert er in der exclamatio »O, forfend it, God« (Vers 130).490 Ab Vers 131 wechselt er, beinahe fassungslos, in den Modus der Anklage: »That in a Christian climate souls refined / Should show so heinous, black, obscene a deed.« Wieder bedient er sich dreier asyndetisch verknüpfter Adjektive, um die Perfidie zu untermauern. Von hier aus verschärft Carlisle seinen Ton und wendet sich in seiner accusatio direkt an den Usurpator Bolingbroke: »My Lord of Hereford here, whom you call king, Is a foul traitor to proud Hereford’s king.« (IV,1, 135f.)
Seine direkte Ansprache wirkt durch das intensivierende »here« wie ein diskriminierender Fingerzeig auf Bolingbroke. Man beachte, daß der Bischof Bo487 Müller, Die politische Rede, S. 72. 488 Seine Argumentation belegt außerdem Carlisles Monarchieverständnis. Der König ist ein Abbild Gottes (IV,1,126) und kann nicht von seinen Untertanen entmachtet werden. 489 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 72. Vgl. auch Bonheim, »The two Kings in Shakespeare’s Richard II«, S. 169–179, hier: S. 178. 490 Gemäß Müller verweist Carlisles exclamatio auf den Redeanfang (»Marry, God forbid!«) zurück. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 72. Beide Ausrufe enthalten die gleiche Intention, daß Gott die Absetzung eines rechtmäßigen Königs verhindern soll.
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lingbroke mit dessen Titel vor der Verbannung (»Lord of Hereford«) anredet, um dadurch wieder seiner Weigerung, Bolingbroke die Königswürde anzuerkennen, Ausdruck zu verleihen. Zusätzliche Distanz vermittelt der Relativsatz »whom you call king«, wodurch er sich einerseits entschieden von Bolingbrokes Gefolgsleuten abgrenzt, andererseits das hinterhältige Spiel entlarvt. Bolingbroke ist nicht nur ein »traitor«, sondern hier durch das Adjektiv gesteigert sogar ein »foul traitor«. Mit der Periphrase »proud Hereford’s king« greift er seinen Hinweis aus Vers 133 – »I speak to subjects, and a subject speaks« – noch einmal auf. Bolingbroke ist weder König noch jemand mit Königswürde, er ist nur ein »subject«, ein Untertan wie alle anderen auch.491 Wieder fällt das rhetorische Spiel der Konstrastierung, hier »foul« und »proud«, »traitor« und »king«, auf. Die Zäsur in Vers 136 bildet mit »And if« den Übergang in den prophetischen Teil der Rede. Carlisles Zukunftsvision basiert auf zwei hypothetischen Satzkonstruktionen, von denen erstere die ausführlichere ist, wie auch Müller ausführt: »Auf einen knappen Bedingungssatz […] folgt eine Reihe von sechs Hauptsätzen, deren letzte vier als eigenständige Aussagen erscheinen, obwohl sie logisch mit dem Bedingungssatz zusammenhängen. Durch den unverhältnismäßig großen Umfang des zweiten Teils des Konditionalgefüges und dessen relative syntaktische Unabhängigkeit gewinnt die Prophezeiung eine gewisse Eigenständigkeit.«492
Carlisles Prophezeiung zeichnet ein finsteres Bild für die Regentschaft des Usurpatorkönigs Bolingbroke: »The blood of English shall manure the ground, And future ages groan for this foul act.« (IV,1,138f.)
Der Verstoß, sich ohne göttliche Legitimation krönen zu lassen, sorgt für das Verderben eines ganzen Volkes.493 Das Bild von Bürgerkrieg und Vernichtung wird durch die Alliteration im Konnex mit der Paronomasie »kin with kin and kind with kind confound« (Vers 142) sowie durch die Klimax »Disorder, horror, fear and mutiny« (Vers 143) verschärft.494 Die Negativdarstellung endet mit der Gleichsetzung Englands als »The field of Golgotha and dead men’s skulls« (Vers 145).495 491 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 72. 492 Müller, Die politische Rede, S. 73. 493 Vgl. Lenz, S. 63, der in Carlisles Warnung vor der Zukunft ebenso die »Verdeutlichung der für Shakespeare bezeichnenden Zeit- und Geschichtskonzeption« sieht. Vgl. ferner Zimmermann, »Die ideologische Krise in King Richard II«, S. 103–122, hier: S. 119. Vgl. außerdem Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, S. 123. 494 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 73. 495 Bei Lenz, S. 62, entnehmen wir im Konnex mit Bolingbrokes Inthronisierung folgende Zusammenfassung der weitreichenden Folgen: »Doch das Vorgehen Bolingbrokes gegen
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Shakespeare, King Richard II
In einer zwei Verse umfassenden conclusio resümiert Carlisle die vorgebrachten Punkte seiner negativen Zukunftsvision in der dem genus deliberativum typischen Art: »Prevent it, resist it, let it not be so, Lest child, child’s children, cry against you, ›Woe!‹.« (IV,1,149f.)
Die Reihung der kurzen, jedoch prägnanten, Aufforderungen läßt das nahende Unheil um so bedrohlicher wirken. Wie bereits zuvor bedient sich Carlisle auch jetzt bei »child’s children« der Periphrase, die abschließend die weitreichenden Auswirkungen auf Bolingbrokes Handlungen mehr Nachdruck verleihen.496 Carlisles Rede nimmt in seiner Darstellung Englands (»this seat of peace«) Elemente aus Gaunts Enkomium auf England in II,1 auf und entwickelt sie weiter, so daß diese später mit ihrer Prophezeiung der Zukunft wie eine Erweiterung erscheint.497 Shakespeare stellt das »other Eden, demi-paradise« aus II,1,42 dem »field of Golgotha and dead men’s skulls« (IV,1,145) gegenüber. Gleichzeitig verarbeitet Shakespeare ebenso die negativen Elemente aus Gaunts Kritik an Richards Regentschaft – »[…] this England, / […] Is now leased out […]. […] That England thas was wont to conquer others / Hath made a shameful conquest of itself.« (II,1,50–66) – und verknüpft sie wiederum mit Fragmenten aus Bolingbrokes Nachricht an Richard aus Akt III, beispielsweise »showers of blood« (III,3,43) oder »the wounds of slaughtered Englishmen« (III,3,44). Doch bleibt auch auf diese Rede die rhetorische Reaktion aus. Wieder zeigt uns Shakespeare in Richard II, wie macht- und wirkungslos die Rhetorik geworden ist. Auf Carlisles Rede antwortet Northumberland zynisch498 »Well have you argued, sir; and for your pains, / Of capital treason we arrest you here« und läßt ihn in Gewahrsam nehmen. So steht Carlisles Rede als eine Metapher der bisherigen Staatsideologie vom Gottesgnadentum des Königs und der Gehorsamspflicht der Untertanen. Seine Strategie, vom Idealzustand her zu argumentieren und dadurch in Konditionalkonstruktionen zu sprechen, ist identisch mit der Strategie Gaunts. Bei beiden besteht die Fixierung auf Vergangenes bzw. den König stellt keine totale Bewältigung der Vergangenheit dar, sondern schafft eine Situation, die in der außerhalb des Dramas liegenden Zukunft als dann problematische, nicht bewältigte Vergangenheit Bedeutung gewinnen wird. Selbst wenn Richard in der Vergangenheit unrecht gehandelt hat, selbst wenn in seiner eigenen Entwicklung die Folgen als gerechte Trafe angesehen werden können, rechtfertigt das nicht die Ernennung Bolingbrokes zum König. Dieser Tatbestand und die aus der unsicheren Position Bolingbrokes resultierende Ermordung Richards belasten die Zuukunft erneut mit den Problemen der Vergangenheit.« 496 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 73. 497 Vgl. Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 39–40. 498 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 73–74: »In krassem Mißverhältnis zu der großen Redeanstrengung und der argumentativen Leistung des Bischofs steht allerdings die Erfolglosigkeit der Rede.«
Bischof von Carlisles Einspruch gegen Bolingbrokes Thronbesteigung (IV,1,114–149)
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an der Vergangenheit festzuhalten, ein utopischer Staat, der längst von der Realität eingeholt wurde.499
499 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 77–80, 88.
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Shakespeare, King Henry V
7.1
Einführung
Mit der Verlagerung der Handlung in die römische Antike konnte Shakespeare den Glanz antiker Rhetorik im adäquaten Kontext veranschaulichen. Doch auch in anderen Stücken bedient er sich antiker Redemuster, anhand derer er etwa in politischen Konfliktsituationen seine Charaktere agieren und auch reagieren läßt. Als weiteres Beispiel hierzu soll der Fokus auf Shakespeares King Henry V gelegt werden. Die Geschehnisse der englischen Geschichte und deren Darstellung in der Historiographie lieferten William Shakespeare die Basis seiner Historien.500 Generell sollen Shakespeares Historien nicht als Herrschaftspanegyrik dienen, sondern ein Herrscherbild im »historisch-narrativen Kontext« darstellen.501 Suerbaum hingegen schränkt hier ein, indem er sagt, »daß ein beträchtlicher Teil der eigenen Geschichte durch eine bestimmte literarische Gestaltung ein für allemal fixiert ist. Keiner kann Richard III. sein Verbrechertum und Heinrich V. sein Heldentum nehmen, wie korrekturbedürftig Shakespeares Darstellung auch sein mag«.502 Die historischen Informationen für sein Drama entnahm Shakespeare mehreren Quellen, wobei er sich maßgeblich an Raphael Holinsheds Chronicles of England, Scotland and Ireland sowie Edward Halls The Union of the Two Noble and Illustre Families of Lancaster and York hielt.503 Als dritte Quelle Für Henry V 500 Alle Angaben dieses Drama betreffend werden nach folgender Ausgabe zitiert: Thomas Wallace Craik (Hrsg.). William Shakespeare. King Henry V. London: Methuen Drama 1995. (The Arden Shakespeare). Alle Angaben aus dem Vorwort werden mit »Craik« angegeben. 501 Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 324. Zur Gattungseinteilung vgl. auch Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 62: »Für die Shakespeare-Forschung ist Henry V eine beständige Herausforderung, Dies zeigen z. B. die Versuche, Henry V als Romanze, als Komödie, als episches Drama, als Tragödie, als ›problem play‹ oder als Satire zu verstehen.« 502 Suerbaum, Shakespeares Dramen, S. 182. 503 Craik, S. 6–7. Qualitativ betrachtet, betont Craik, daß Holinshed in seiner Darstellung neutraler sei als Hall: »Holinshed’s history is more neutral in tone, lacking Hall’s colourful
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Shakespeare, King Henry V
nennen Craik und auch Klein ein bzw. mehrere anonyme Theaterstücke, wie The Famous Victories of Henry the fifth: Containing the Honourable Battell of Agincourt, aus denen William Shakespeare Anregungen und Fragmente für sein Schauspiel übernommen hat.504 Im Drama erscheint Henry V. als ambivalenter, schwer zu durchschauender Charakter, der sich anfänglich noch in der Rolle des Königs zurechtfinden muß.505 Dadurch erscheint er anfangs naiv und beeinflußbar, doch im Verlaufe des Dramas durchläuft er einen – auch rhetorischen – Reifeprozeß. Durch Henrys Mehrschichtigkeit besteht eine »außerordentliche Variationsbreite im Verständnis des Protagonisten«506 wie Baumann und auch Kullmann hervorheben.507 Die meisten rhetorischen Einheiten in Henry V werden alle von der Thematik – und auch Problematik – des Kriegs und der Gewalt geprägt.508 Shakespeare vereinfacht den Sachverhalt in seinem Drama hier, indem er Henry V. in den Krieg gegen Frankreich ziehen läßt, um seinen von Edward III. geerbten Herrschaftsanspruch über Frankreich einzufordern. Ob ein Krieg durch den Herrschaftsanspruch gerechtfertigt ist oder nicht, soll hier nicht weiter vertieft werden. Viel interessanter ist jedoch, daß der Zuschauer bereits zu Beginn des Schauspiels mit der Ambivalenz dieses Feldzuges konfrontiert wird.509
7.2
Canterbury und Ely (I,1)
Ausgerechnet zwei Geistliche, hier in den Rollen des Erzbischofs von Canterbury und des Bischofs von Ely, zeigen sich in ihren Ansichten äußerst weltlich, wenn sie ohne Scheu den Krieg gegen Frankreich als Option favorisieren.510 Der Grund
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chapter headings […]. As a narrator Holinshed condenses what Hall amplifies, but he often follows Hall’s phrasing closely.« Vgl. Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 369. Vgl. Craik, S. 7–9. Craik erwähnt an dieser Stelle lediglich dieses eine anonyme Drama: »The other major source for Henry V […] is an anonymous play […].« Vgl. auch Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 369. Klein hingegen spricht von der Möglichkeit, daß es mehrere Bühnenadaptionen im Vorfeld gegeben haben könnte. Vgl. Mittelbach, S. 33. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 62. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. auch Kullmann, S. 134. Vgl. Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 371. Oder wie Gould es kurz und knapp formuliert: »To come to Henry V itself. It is about war.« Gould, »Irony and Satire in ›Henry V‹.« In: Quinn, Michael (Hrsg.). Shakespeare: Henry V. A Casebook. London: Macmillan 1969 [Reprint 1983], S. 81–94, hier: S. 85. Vgl. u. a. Kullmann, S. 134. Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 371: »Die Bischöfe von Ely und Canterbury, die Henrys Anspruch auf die französische Krone historisch für berechtigt erklären und den Feldzug finanziell unterstützen, machen in ihrer zynischen Unterhaltung in I, i keinen Hehl
Canterbury und Ely (I,1)
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ist an Perversität kaum zu übertreffen: Henry steht kurz vor der Entscheidung, ein neues Abgabengesetz zu verabschieden, welches den Kirchenbesitz Canterburys und Elys verringern würde (I,1,1–5). »It must be thought on. If it pass against us We lose the better half of our possession: For all the temporal lands which men devout By testament have given to the Church Would they strip from us, being valued thus; […].« (1,1,7–11)
Federführend in dieser Angelegenheit präsentiert sich Canterbury, der seinen Amtskollegen Ely in seine Pläne einweiht und als eine Art Mitläufer gewinnt, welcher sich auf Canterburys Warnung bzw. Nachricht ratlos gibt (I,1,6): »But how, my lord, shall we resist it now?« Der nachfolgende Dialog zwischen Erzbischof und Bischof liest sich wie ein rhetorischer Wechsel, bei dem sich beide Protagonisten einander ergänzen. Canterburys Entsetzen spiegelt sich bereits im ersten Vers wider, wenn er »that self bill is urged« mit anschließendem Rückverweis auf die englische Vergangenheit richtet. Für den Zuschauer ist diese Zusatzinformation nicht unwichtig, läßt sie doch an dieser Stelle bereits erahnen, daß die vormals nicht verabschiedete Gesetzesvorlage ebensowenig im Sinne des Erzbischofs gewesen ist wie die jetzige. Während Canterbury noch seine Gedanken in der Vergangenheit hat, fungiert der ratlose Ely als Bindeglied, indem er den Fokus mit »now« (Vers 6) auf die gegenwärtige Situation lenkt. Den rhetorischen Dialog (I,1,1–98) einem genus zuzuordnen ist nicht eindeutig möglich, sowohl Elemente des genus iudiciale als auch des genus deliberativum sind hier konstatierbar.511 Rein formal lassen sich die klassischen Redeteile wiederfinden. Als exordium dienen die Verse 1–20, die, wie zuvor erwähnt, Einsicht in den Sachverhalt gewähren. Appositionen wie in Vers 1 »I’ll tell you« oder subtile Verweise, die auf ein dringendes Handeln hindeuten, wie etwa in Vers 7 »It must be thought on«, unterstreichen dies.512 Die daran anknüpfende Hypothese »If it pass against us / We lose the better half of our possession« mit Canterburys ›Kassensturz‹ bzw. Auflistung an Verlusten (I,1,9–19) rücken die Kirche weiter ins Zwielicht.513 Unterstützt, wenn nicht sogar übertrieben, wird die
aus ihren eigennützigen und nicht am Wohl der Nation orientierten Motiven.« Ähnlich auch bei Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 120. Vgl. ferner Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 167–168. 511 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 61. Siehe dazu auch Kapitel 2, S. 35. 512 Beide Bischöfe lassen bereits an dieser Stelle ihr pragmatisches Politikverständnis durchschimmern. 513 Man sollte allerdings auch beachten, daß je nach Spielart in der Theateraufführung diese Stelle eine gewisse Ironie in sich birgt.
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Shakespeare, King Henry V
Situation durch den metaphorischen Gebrauch liturgischer Fachbegriffe, wie auch Mittelbach feststellt.514 Ely erweist sich in Vers 21 als Motor, indem er, auf Lösung hoffend, durch seine ratlos wirkende Frage »But what prevention?« Canterbury weiter zum Reden motiviert, was auch funktioniert. Es folgt eine Narratio515, die Henrys Werdegang dem Zuschauer paraphrasieren. Der König, der von seiten des Klerus zur Nachbesserung des Gesetzes bearbeitet werden muß, erfährt als Person »full of grace« und als »true lover« Lob in höchsten Tönen. Zwar war Henry in seiner Jugend von wilderem Naturell, wie Canterbury andeutet (»The courses of his youth promised it not.«), aber das scheint er abgelegt zu haben: Consideration like an angel came And whipped th’offending Adam out of him, Leaving his body as a paradise T’envelop and contain celestial spirits. (I,1,28–31)
Henrys Wandel von Prince Hal zu Henry V. scheint vollkommen zu sein, was Canterburys Worte treffend beschreiben und mit der elisabethanischen Auffassung von den zwei Körpern des Königs übereinstimmt: der natürliche Körper des Königs wird mit dem geistlichen politischen Körper vereinigt, wonach ersterer von seinen Sünden und Unvollkommenheiten befreit wird. Um so bezeichnender ist an dieser Stelle allerdings, daß Canterbury die Erklärung dieser theologisch-sakramentalen Theorie für diesen Wandel gar nicht anführt, und ihr nicht traut.516 Wiederum werden Metaphern aus dem religiösen Kontext genommen, um nun eine Fremdcharakterisierung des Protagonisten zu erstellen. Dem einsichtigen Engel (Vers 28) steht in Vers 35 die »Hydra-headed wilfulness« diametral gegenüber. Das christliche Symbol hat gegen die antike mythologische Gestalt gesiegt, wenn es um Henrys Wandlung zum Politiker geht.517 Elys Unterbrechung »We are blessed in the change« (I,1,37b) läßt erahnen, daß Henry von der Gesetzesvorlage noch nicht überzeugt sein könnte. Canterbury führt seine kleine 514 Vgl. Mittelbach, S. 78. Gemeint ist hier speziell Vers 20 mit »This would drink deep« und »’Twould drink the cup and all.« 515 Streng genommen können, will man das klassische Rhetorikschema auf die Rede anwenden, Narratio und Propositio hier nicht eindeutig voneinander getrennt werden, zumal sie, wie bereits im Kapitel Rhetorik dargestellt, fließend ineinander übergehen. 516 Mittelbach erläutert hierzu, S. 59: »Mit der Vertreibung des ›offending Adam‹ aus der Person des Herrschers wäre alles Menschliche aus ihm verbannt, er wäre zur übermenschlichen, fehlerfreien Idealfigur geworden.« Siehe auch S. 98. Daß Canterbury nicht an eine Bekehrung durch Gott glaubt, verdeutlicht seine Äußerung »for miracles are ceased« (I,1,67). 517 Mittelbach versteht in der Fremdcharakterisierung den Versuch, Henry als virtuosen Politiker darzustellen, der sich durchaus bewußt ist, Machtkonstellationen auszunutzen. Weiter werde von Canterbury und Ely Henrys Sinn für Pragmatik und (staats-)politische Notwendigkeiten gelobt und nicht dessen Religiosität. Vgl. S. 79.
Canterbury und Ely (I,1)
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Lobhymne auf den König fort und bedient sich dabei handelsüblicher stilistischer Mittel, z. B. paralleler Satzbaumuster »Hear him […] / You would […]« (Vers 38, 41) oder Alliterationen »And, all-admiring, with an inward wish« (Vers 39). Alles, was Henry macht und tut, erscheint perfekt, er ist der ideale Herrscher.518 Mittelbach umreißt die Szene folgendermaßen: »Subtil ist diese Szene durchaus: Zu gut, zu vorbildlich erscheint Henry, und zwar nicht nur dem Zuschauer oder dem Leser, sondern auch den Bischöfen. Selbst wenn ihr Erstaunen über die Totalität die Verwandlung Henrys echt ist, so wissen sie doch, oder ahnen zumindest, daß hinter ihr Berechnung steht.«519
Ob die beiden Bischöfe um Henrys bewußte Verwandlung wissen oder nicht, soll nicht stärker im Fokus stehen. Viel interessanter ist in dieser Passage Canterburys Lob auf den Regenten, das sich in seiner Rhetorik wiederholt. Um beispielsweise Henrys politisches Geschick dem Zuschauer bzw. Zuhörer annähernd begreifbar zu machen, vergleicht Canterbury jenes mit dem Gordischen Knoten (Vers 45f.): »Turn him to any cause of policy, The Gordian knot of it he will unloose, […].« (I,1,45–46)
Indirekt – fraglich, ob auch unbewußt – wird Henry zu einer Art Mythos stilisiert: er ist derjenige, der Unmögliches vollbringen wird. Wie Alexander der Große520, kann auch er diesen Gordischen Knoten der Politik entwirren: »[…] that when he speaks, The air, a chartered libertine, is still, And the mute wonder lurketh in men’s ears To steal his sweet and honeyed sentences.« (I,1,48–51)
Das heißt, Henry ist durchaus ein versierter Redner, der seinen Charme gekonnt einzusetzen weiß, wenn seine Sätze als »sweet and honeyed« – beides Attribute, die dem antiken Konzept der suavitas entsprechen – deklariert werden.521
518 Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 64. 519 Mittelbach, S. 75. Gewiß kann hier ebenfalls die Frage gestellt werden, ob nicht die Lobeshymne selbst auch Gegenstand einer Berechnung ist. 520 Alexander der Große soll der Legende nach den Gordischen Knoten mit seinem Schwert durchschlagen bzw. einer anderen Überlieferung gemäß den Knoten durch List entwirrt haben. Ein Orakelspruch besagte, daß derjenige, der den Knoten zu lösen vermag, Herrscher über Asien sein werde. In der Überlieferung läutete das Lösen des Knotens Alexanders Siegeszug in Asien ein. 521 Vgl. Cic. de or. III,46,181.
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Shakespeare, King Henry V
Jene Positivdarstellung wird mit einem negativen Gegenpol versehen522, der wiederum auf Henrys Vergangenheit Bezug nimmt: seine Wandlung wird abermals als »wonder« hervorgehoben, die Jugendjahre und sein damaliges Umfeld hingegen stehen im dunklen Licht: »Since his addiction was to courses vain, His companies unlettered, rude, and shallow, His hours filled up with riots, banquets, sports, And never noted in him any study, Any retirement, any sequestration From open haunts and popularity.« (I,1,54–59)
Nach diesem äußerst negativen Bild mit dem symbolischen Zeigefinger »his« und dem wiederholten »any« erscheint die Verwandlung des Regenten um so wundersamer, war er doch kein hoffnungsloser Fall. Viel faszinierender ist, daß Canterbury sich wiederholt: Die Verse 24–37 weisen eine ähnliche Argumentationsstruktur auf wie die Verse 38–59. Uns begegnen stets positive Charakterzüge, die wiederum negativen gegenübergestellt werden; der aktuelle Henry gegen den jungen Henry. Zweimal wird die Verbindung zur Antike mit dem Charakter Henrys hergestellt: implizit wird er Hercules gleichgesetzt, wenn seine »Hydra-headed wilfulness« (I,1,35), sein Eigensinn, besiegt wird. Im nächsten Anlauf stellt Canterbury ihn auf eine Stufe mit Alexander den Großen. Lediglich die Ausführlichkeit unterscheidet beide Abschnitte: während der erste Teil grob die Wandlung skizziert, wartet Canterbury im zweiten Teil mit mehr Details auf. Eingerahmt werden die Verse 24–59, Elys Einwurf ausgenommen, von Henrys einstigem Lebenswandel: »The courses of his youth promised it not. […] Since his addiction was to courses vain, […] From open haunts and popularity.« (I,1,24–59)
Auf Elys angeschlossene Bemerkung mit der Erdbeer-Metapher merkt Mittelbach an, daß Henrys Entwicklung ein »bewußt vollzogener Prozeß« sei, bei dem »Verstellung, also dissimulatio, eine wichtige Rolle« spiele.523 Ely gibt sich abermals als ideenarm (»But my good lord, / How now for mitigation of this bill / Urged by the Commons?«), sobald Canterbury ein weiteres Mal – man beachte die Repetitio von »must« – mit »It must be so, for miracles are ceased, / And therefore we must needs admit the means / How things are perfected« zu Taten 522 Die Titelfigur Henry wird als Mensch dargestellt, der zwei Naturen besitzt. Zur Ambiguität Henrys und seinen zwei Naturen siehe Mittelbach, S. 73f. 523 Mittelbach, S. 76.
Canterbury und Ely (I,1)
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aufruft. Schließlich läßt Ely durchblicken, daß die zur Debatte stehende Gesetzesvorlage von den Commons forciert wird. Nur über Henrys Position scheint Ely sich nicht gewiß zu sein (»Doth his majesty / Incline to it, or no?«). Im Gegensatz zu Ely hat Canterbury eine Vorahnung (»He seems indifferent […]«). Er liefert auf die Gegenwart bezogene Fakten zur Überredung, rhetorisch befinden wir uns in der argumentatio. Wie sich in seiner Ausführung herausstellt, hat Canterbury im Vorfeld um die Sachlage Bescheid gewußt, weswegen er auf einer Synode Henry gegenüber die Flucht nach vorne angetreten hat: »For I have made an offer to his majesty, […] And in regard of causes now in hand Which I have opened to his grace at large, As touching France, to give a greater sum Than ever at one time the clergy yet Did to his predecessors part withal.« (I,1,75–81)
Völlig offen und ohne jedweden Skrupel legt er seinen Bestechungsversuch und die weitere Vorgehensweise, finanzielle Zuwendungen für einen Frankreichfeldzug, dar. Der Rest ist, wie wir später erfahren, politisches Kalkül: Henry, der jener Gesetzesvorlage scheinbar unparteiisch gegenübersteht, läßt sich ködern.524 Nur zu gerne hätte Canterbury seine Rechtfertigung für eine Invasion Frankreichs vorgetragen, wie wir erfahren, doch dieser Teil seiner argumentatio bzw. defensio mußte leider aufgrund der Ankunft des französischen Botschafters abgebrochen werden. Das klassische Rhetorikprinzip läßt sich folglich in I,1 mit einigen Adaptionen anpassen. Auch wenn die zu überzeugende Person, in diesem Falle Henry, nicht zugegen war, so zeigt durch den Dialog mit Ely Canterburys zweckorientierte Rede in ihrer Intention Wirkung. Canterbury begegnet uns als der agierende Part, Ely mehr als der reagierende, rezeptive Part, was nicht nur durch die Verteilung der jeweiligen Textlängen hervorsticht.
524 Vgl. Mittelbach, S. 79: »Henry scheint dem Entwurf sogar ablehnend gegenüberzustehen. Allerdings nicht etwa, weil er ein gottesfürchtiger christlicher Herrscher ist, der die Kirche liebt, sondern weil Canterbury ihm dafür Gegenleistungen erbringt […].« Vgl. Babula, »Whatever happened to Prince Hal? An Essay on ›Henry V‹«, S. 47–59, hier: S. 48.
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7.3
Shakespeare, King Henry V
Canterburys Argumente für den Frankreichfeldzug (I,2) – »unwind your bloody flag«
Die nächste Szene übernimmt den Handlungsfaden um die Invasion Frankreichs. Hatte Canterbury zuvor keine Möglichkeit, Henry dessen geerbten Machtanspruch als Grund für einen Frankreichfeldzug darzulegen, folgt dies nun. Henry gibt sich in seiner an die Bischöfe gerichteten Frage, worin sich sein Anspruch auf die französische Krone begründe, als naiver, verantwortungsbewußter Monarch (I,2,10–32), der genau auf die Schrecken des Krieges und die Verluste hinweist525 (I,2,24–28): »For never two such kingdoms did contend Without much fall of blood, whose guiltless drops Are every one a woe, a sore complaint ’Gainst him whose wrongs gives edge unto the swords That makes such waste in brief mortality.«
Unter diesen Voraussetzungen fordert Henry Canterbury zur Legitimationsrede auf (Vers 29–32): »Under this conjuration speak, my lord, For we will hear, note, and believe in heart That what you speak is in your conscience washed As pure as sin with baptism.«
Geschickt unterstreicht das Trikolon »hear«, »note«, »believe«, daß Henry auf eine wahrheitsgetreue Wiedergabe Canterburys sinnt. Canterbury läßt sich nicht lange bitten und legt Henry und den anwesenden Vertretern des Hofes seine Sicht der Dinge dar. Direkt zu Beginn zeigt Canterbury mit Vers 34f. (»That owe your selves, your lives and services / To this imperial throne«), daß der militärische Übergriff keine Willkür zu sein hat bzw. sein darf. Er pocht unter Einbeziehung aller Anwesenden auf die Verpflichtung, und sofort schließt er aus englischer Sicht jegliche Form von ( juristischem) Hindernis aus (»There is no bar«). Einzig eine kleine Einschränkung, die lex Salica werde von den Franzosen als krude Legitimation ihrer Machtansprüche erachtet.526 In 63 Versen redet sich Canterbury in abwegige Theorien hinein, in denen er die 525 Kullmann, S. 124. Aus Kullmanns Interpretation geht nicht hervor, ob Henrys Naivität echt oder bloß gespielt ist. Anders bei Mittelbach, der Henrys Anfrage an die Bischöfe als »theatralisch« bewertet und folgert, daß die gesamte Szene dem Zweck geschuldet ist, seinem Hofstaat hören zu lassen, er habe das Recht und die Pflicht, in den Krieg zu ziehen. Vgl. Mittelbach, S. 83. 526 Wie Canterbury das Salic law rezitiert – »In terram Salicam mulieres ne succedant« –, ist es Frauen nicht erlaubt, die Krone zu erben. Dies jedoch, wie man im Verlaufe Canterburys Ausführung erfährt, ist auf französischer Seite geschehen.
Canterburys Argumente für den Frankreichfeldzug (I,2) – »unwind your bloody flag«
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»dynastischen Ansprüche«527 Henrys auf den Thron nachweist.528 Wieder bedient er sich der Mythologie und Sagenwelt, wenn er als rhetorisch-argumentativen Ausgangspunkt König Pharamund als vermeintlichen Urheber der lex Salica benutzt (I,2,35–37). Die Franzosen, so Canterbury, behaupten das salische Land – terra Salica – zu Unrecht als ihr Königreich Frankreich, ebenso falsch ist die Urheberschaft Pharamunds zu jenem Gesetz (I,2,40–43). Auf beides verweist Canterbury schlicht mit »unjustly gloze to be«, wodurch der Wahrheitsgehalt auf französischer Seite in Frage gestellt und zu einer Randnotiz degradiert wird. Nicht einmal ihre eigenen ›Gelehrten‹, hier als »authors« angedeutet, sind überzeugt von der Korrektheit dieser Sage: »Yet their own authors faithfully affirm That the land Salic is in Germany, Between the floods of Sala and of Elbe, […].« (I,2,43–45)
Folglich muß es doch richtig sein, wenn Gelehrte das salische Gebiet in Deutschland (»Which Salic […] / Is at this day in Germany called Meissen.«) lokalisieren. Die Beweisführung fußt auf der aristotelischen Beweisführung, die Quintilian mit »[…] in quae communi opinione consensum est« aufgegriffen hat.529 Treffender als das argumentum ad populum beschreibt das in neueren Rhetoriktheorien etablierte argumentum ad verecundiam Canterburys Strategie. Jene stützt sich allein auf die Autorität der französischen Gelehrten. Die weitere argumentatio mit ihren genealogischen Ab- und Herleitungen ist kompliziert, verworren und verwirrend. Canterburys auf über 60 Verse ausgedehnte Rabulistik kann nur den Zweck verfolgen, das Publikum bzw. die Zuhörer zu zermürben und zu verwirren. Zu sehr arbeitet er mit geographischen Namen (Elbe, Sala, Meissen), zu sehr mit vermeintlich historischen Ereignissen früherer europäischer Monarchen (Charles the Great, King Pepin, Childeric, Blithild, King Clothair Hugh Capet usw.), so daß man seinem Monolog über die dynastische Legitimation nur mühsam folgen kann. Welchen Eindruck der Monolog bei den Zuschauern hinterläßt, paraphrasiert Kullmann wie folgt: »Die – von seinem Eigeninteresse geleitete – Antwort Canterburys, die nicht weniger als 63 Verse umfaßt, stimmt hingegen schon wegen ihrer großen Länge mißtrauisch […].«530 Ferner formuliert Mittelbach: »Es kann natürlich nicht übersehen werden, daß die nun folgende Rede Canterburys genau das ist, was sie nicht sein soll: nämlich gefälscht, verdreht und zurechtgebogen.«531 Allein die Aufzählung französischer Könige, die alle scheinbar rechtswidrig den Thron innehatten, rückt Canterburys 527 528 529 530 531
Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 64. Vgl. Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 121. Vgl. Mittelbach, S. 42. Vgl. Quint. inst. V,10,12. Kullmann, S. 134. Mittelbach, S. 84.
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Shakespeare, King Henry V
Rede und die Kriegsintention der Engländer ins Zwielicht.532 Pikant ist überdies, daß die in I,1 thematisierte Gesetzesvorlage keine Erwähnung mehr findet. Gould bezeichnet das Gerede als »utterly beside the point«533. Auf Henrys erneute Frage nach der »moralischen Legitimität«534 in I,2,96 versucht Canterbury mittels biblischer Zitate (»For in the Book of Numbers is it writ […]«), das Salic law zu entkräften, und argumentiert wiederum nur historisch, allerdings nicht moralisch.535 Allerdings wird er in seinen Ausführungen energischer, sein Ton fordernder, wie die Verwendung der Prädikate – »Stand«, »Look back«, »Go«, »invoke« – dokumentieren. Das Repetieren von Henrys ebenso glorreichen wie kampferprobten Ahnen (I,2,100–114) ist die nunmehr flammende Fortsetzung seines ersten Argumentationsganges auf einer historischen Basis. Jedoch findet sich in der Antwort mit ihrem auf Henrys genus bezogenem argumentum a persona kein Hinweis auf eine ethische Rechtfertigung. Es ist das von Kriegsmetaphorik geprägte Vokabular, z. B. die Aufforderungen »unwind your bloody flag« und »invoke his warlike spirit« oder andere Kampftermini wie »defeat«, »forage in blood of French nobility« und »forces«. Baumann urteilt: »Die gesamte Szene lässt mehr Fragen offen als sie beantwortet, denn der historische Exkurs Canterburys rechtfertigt den Krieg moralisch genausowenig wie zuvor seine juristischen Erklärungen.«536 Der mit Fakten und Daten gefüllten Rede mangelt es im Endeffekt am Konnex zur eigentlichen Intention, wie auch Kullmann resümiert: »Die Kriegsgründe […] stehen mit dem vermeintlichen Thronanspruch in keinem Zusammenhang. Der König soll sei-
532 Vgl. Goddard, The Meaning of Shakespeare, S. 220–221. Weiter formuliert Mittelbach, S. 84: »Schließlich hat er diese [gemeint ist die Krone; meine Anm.] ja von dem Usurpator Henry IV geerbt.« Leggatt betont die der Ausführung innewohnende Ironie, wenn Canterbury nach seiner Detailschlacht »as clear as is the summer’s sun« folgert. Vgl. Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 121. Ferner vgl. Crider, With what persuasion?, S. 77, der keine rechtliche Grundlage in Henrys Thronanspruch sieht. 533 Gould, »Irony and Satire in ›Henry V‹«, S. 86. 534 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 64. 535 Henrys erneute Frage läßt Zweifel aufkommen, ob er wirklich der naive Monarch ist, für den er in der Forschung gehalten worden ist, oder ob er ein gerissener Machtmensch ist, der alles schon geplant hat. Mittelbach betont, Henrys Frage »ist ohne Anknüpfung an das, was Canterbury gerade dargelegt hat«. Vgl. Mittelbach, S. 83. Auch Baumann schließt nicht aus, daß Henry Initiator dieser Farce gewesen sein könnte, um den Krieg gegen Frankreich als bellum iustum werten zu können. Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 64f. Darüber hinaus schreibt Traversi, Shakespeare from Richard II to Henry V, S. 169: »The idea of war has already been obviously accepted. Henry does not, in reality, look for advice, but for a public statement of the justice of his cause. […] When the matter has been expounded to his satisfaction, he further prompts his adviser to the expected conclusion: […] The king’s mind, in short, is already made up, and his decision only awaits public confirmation.« 536 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 64.
Canterburys Argumente für den Frankreichfeldzug (I,2) – »unwind your bloody flag«
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nen tapferen Vorfahren nacheifern.«537 War bis jetzt Canterbury der maßgebliche Redner, so nimmt Ely nun einen aktiveren Part wahr. Obwohl er keine neuen rhetorischen Argumente anführt, so verstärkt Ely die Argumentation Canterburys, wenn er sich mit »Awake remembrance of these valiant dead, / And with your puissant arm renew their feats« (I,2,115–116) auf Henrys Vorfahren bezieht und wie ein Echo bereits Gesagtes in äußerst prägnanter Form skandiert538 – was insbesondere durch den Parallelismus getragen wird: »You are their heir, you sit upon their throne, The blood and courage that renowned them Runs in your veins, and my thrice-puissant liege Is in the May-morn of his youth, Ripe for exploits and mighty enterprises.« (I,2,117–121)
Der Zuspruch durch Exeter und Westmorland läßt nicht lange auf sich warten. An Geld werde die Operation schon nicht scheitern, so Westmorlands Ansicht. Für Canterbury liefert er den nächsten willkommenen Ansatzpunkt seiner persuasio: Geld! Mit brutalen Worten – nicht nur für einen Geistlichen – beschwört er eine blutige Schlacht, wie sein Trikolon »With blood and sword and fire« unterstreicht. Am Geld soll es nicht scheitern, die Kirchenvertreter sagen Henry eine bisher noch nie dagewesene Summe zu (»[…] such a mighty sum / As never did the clergy at one time / Bring in to any of your ancestors.«) wie Canterbury klarstellt. Die Legitimation konnte oder wollte nicht geklärt werden, die angeführten Argumente stehen auf tönernen Füßen. Der gesamte Feldzug scheint auf dem Willkürprinzip zu beruhen. Allein Henry scheint mit Hinblick auf das Blutvergießen mit der Thematik verantwortungsvoll umzugehen und allem Anschein nach nur widerwillig der Überredung seiner Berater nachzugeben. Der Eindruck des verantwortungsvollen christlichen Herrschers soll in seiner Außendarstellung nicht getrübt werden.539 Gehen wir davon aus, Canterbury und Ely haben Henry so weit überredet, daß er selbst den Krieg favorisiert. So bleibt Henry nur noch ein Hinderungsgrund: Gefahr durch die Schotten. Aus Sorge um schottische Übergriffe scheut er davor zurück, Frankreich mit ganzer Truppenstärke zu besetzen. Aber diese Befürchtung sei unbegründet, so Canterbury. Er verharmlost und beschwichtigt Henry, 537 Kullmann, S. 134–135. Die Szene erinnert aus heutiger Perspektive an die – nachweislich falsche – Argumentation amerikanischer Politiker zur Legitimation des Militäreinsatzes im Irak. 538 Man beachte in Elys Passage auch die engmaschige Verbindung seiner Metaphern, etwa im Trikolon throne, blood, courage, das im folgenden Vers 119 durch »my thrice-puissant liege« wieder aufgegriffen wird. 539 Daß Henrys Figur nicht eindeutig interpretiert werden kann und die Szene ambivalent ist, vgl. Anm. 535. Mittelbach, S. 84.
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Shakespeare, King Henry V
daß es noch nicht einmal eine Armee gegen die Schotten brauche oder wie er selbst sagt (I,2,140–142): »They of those marches […] Shall be a wall sufficient to defend Our inland from the pilfering borderers.«
Darüber hinaus sei, um auch noch die letzten Bedenken Henrys zu beseitigen, das Kräfteverhältnis zum englischen Vorteil ausgefallen: »She hath been then more feared than harmed, my liege.« Subtil vermittelt Canterbury den Eindruck von einer nur schwer zu bezwingenden Armee. In Westmorland findet er allerdings seinen Gegenspieler. Zwar bemerkt Exeter »the cat must stay at home«, doch das steht wiederum dem Kriegsvorhaben entgegen. Exeter revidiert wegen seiner Einstellung für den Krieg seine Äußerung und schlägt, nachdem er den Staatsapparat mit der Anatomie des menschlichen Körpers in Bezug gesetzt hat (I,2,178f.), eine Aufteilung der Streitkräfte vor.540 Trotz Teilung bleibt wie in der Musik die göttliche Ordnung gewahrt. Die Adligen um Henry wollen diesen Krieg. Wieder ist es der Erzbischof, der den Argumentationsfaden von der Staatsordnung aufgreift und mit Hilfe des Bienengleichnisses in seiner epideiktischen Rede begreifbar macht, und wieder macht er sich die Antike zunutze.541 Detailreich wird von Vers 183–204 die gesellschaftliche Ordnung zu einem Bienenstaat in Bezug gesetzt, ähnlich wie in Vergils Georgica, dem lateinischen Vorbild dieser Passage542: »admiranda tibi levium spectacula rerum magnanimosque duces totiusque ordine gentis mores et studia et populos et proelia dicam.«543 540 Vgl. Leggatt, Shakespeare’s Political Drama, S. 118. Eine ähnliche anatomische Metapher liegt in Coriolanus mit der Fabel von den Körperteilen, vorgetragen von Menenius Agrippa, vor. Ähnlich bei Tillyard, Shakespeare’s History Plays, S. 308f. 541 Der Vergleich der menschlichen Gesellschaft mit einem Bienenstaat war in der Antike ein populäres Verfahren und auch ein charakteristisches Vorbild, wie ein Staat geordnet sein sollte. Vgl. dazu Cic. off. I,157–158, Verg. georg. IV. Ferner findet sich der Vergleich mit den Bienen auch bei Seneca, Sen. epist. 84. Vgl. auch Gurr, »›Henry V‹ and the Bees’ Commonwealth«, S. 61–72, hier: S. 61. Vgl. ferner Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, S. 166–168: »[…] nach dem Prinzip des Bienenstaats sollte der Mensch seine eigene politische Ordnung gestalten und auch in seinem sonstigen Sozialverhalten den Bienen nacheifern.« 542 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 30: »Expositorische Reden sind solche, […] um einen bestimmten, philosophisch geprägten Weltbild Ausdruck zu verleihen. […] Expositorische Reden sind ihrem Wesen nach kaum persuasiv. Ihr Ziel ist es, eine Doktrin zu verkünden. In der Rede des Erzbischofs von Canterbury verbindet sich mit dem doktrinären ein stark adhortatives Element.« 543 Verg. georg. IV,3–5. Meine Übersetzung: »Ich werde dir von dem bewundernswerten Schauspiel der unbedeutenden Dinge, von hochherzigen Anführern, von den Sitten und dem Streben eines ganzen Stammes, von den Völkern und Schlachten der Reihe nach erzählen.«
Canterburys Argumente für den Frankreichfeldzug (I,2) – »unwind your bloody flag«
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An anderer Stelle liest man bei Vergil die Aufgabenverteilung im Bienenstaat, die von Canterbury leicht abgewandelt übernommen wird, wie etwa: »Namque aliae victu invigilant et foedere pacto exercentur agris; pars intra saepta domorum narcissi lacrimam et lentum de cortice gluten prima favis ponunt fundamina, deinde tenacis suspendunt ceras; […] sunt quibus ad portas cecidit custodia sorti, inque vicem speculantur aquas et nubila caeli, aut onera accipiunt venientum, aut agmine facto ignavum fucos pecus a praesepibus arcent: fervet opus, redolentque thymo fraglantia mella.«544
In Vergils Darstellung dient das Ideal des Bienenstaates als Metapher für Oktavians Herrschaft. Doch in Canterburys Rede wird dieses Ideal ins Negative pervertiert, so daß die als friedfertig dargestellte Biene fortan für die englische Kriegsstrategie herhalten muß, was durch Kriegsvokabular angedeutet wird, etwa in I,2,193f.: »[…] Others like soldiers, armed in their stings, / Make boot upon the summer’s velvet buds, […].« Darüber hinaus erinnert das Bienengleichnis in Anlehnung an den body politic entfernt an Menenius Agrippas Fabel von den Körperteilen.545 In Coriolanus wie auch in Henry V haben beide Rezeptionen den Propagandazweck, eigene Interessen durchzusetzen. So schlußfolgert Canterbury in der Conclusio, daß für den gewünschten Übergriff auf Frankreich das Kollektivbewußtsein der Engländer zähle: »[…] I this infer, That many things having full reference To one consent may work contrariously, As many arrows loosed several ways Come to one mark […].« (I,2,205–209)
Alle folgenden drei Variationen seines Vergleichs (»As many …«) – durch die Anapher wird sie zusätzlich verstärkt – laufen auf einen einzigen, dem »many« bzw. »a thousand actions« antithetisch gegenübertretenden Punkt (»End in one 544 Verg. georg. IV,158–169. Meine Übersetzung: »Denn die einen sind mit dem Lebensunterhalt/der Nahrung bedacht und nach einem geschlossenen Bündnis arbeiten sie auf den Feldern; ein Teil legt innerhalb des Geheges ihrer Häuser den Narzissensaft (wörtl. Narzissustränen) und den klebrigen Leim von der Rinde als erste Grundlage für die Honigwaben, hierauf hängen sie darüber klebriges Wachs; […]. Es gibt welche, denen das Los zugefallen ist, Wache bei den Toren zu sein, abwechselnd beobachten sie den Regen und die Wolken des Himmels oder sie nehmen die Lasten der kommenden an oder halten in geschlossenem Zug die Drohnen, das untätige Vieh, von den Bienenkörben fern: das Werk wird eifrig betrieben und nach Thymian riecht der duftende Honig.« 545 Vgl. Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, S. 302.
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Shakespeare, King Henry V
purpose«) hinaus. Alle sind trotz unterschiedlicher Teilaufgaben auf ein Ziel, nämlich den Krieg mit Frankreich, fokussiert und somit im wahrsten Sinne ein pars pro toto. Das ist die Doktrin für England. Folglich kann und muß das Motto – hier der Aufruf zum Krieg – »Therefore to France« (I,2,214) heißen. Es mag logisch erscheinen, daß ein kampferprobter Offizier aus Henrys Reihen nun am Ende seiner Rede strategische Ratschläge offenbart: »Divide your happy England into four, Whereof take you one quarter into France And you withal shall make all Gallia shake.« (I,2,215–217)
Doch daß Kriegsstrategien ausgerechnet aus dem Munde Canterburys kommen, will nicht in das klassische Bild eines Geistlichen passen. Die Vierteilung Englands erinnert nur lose an die von Caesar beschriebene Unterteilung Galliens in drei Teile. Viel offensichtlicher hingegen ist die Anspielung in der Verwendung des lateinischen Begriffs für Frankreich: Gallia. Gallia als Bild weckt direkte Assoziationen von Caesars bellum Gallicum. Henry soll in der Tradition siegreicher Feldherren stehen und ganz Frankreich (»all Gallia«), wie Julius Caesar (»Gallia […] omnis«), unterwerfen. Das Ende seiner Hetzrede gegen Frankreich markiert sein hortatives »Let us be worried« (Vers 220) als Folge seiner Hypothese »If we with thrice such powers left at home / Cannot defend our own doors from te dog […]« (I,2,218f.). Gekonnt spielt er ein letztes Mal mit dem Angstmotiv und verharmlost den Heimvorteil der Franzosen. Der (scheinbare) Erfolg um Canterburys rhetorische Bemühung wird durch Henry mit »Now are we well resolved« (Vers 223) quittiert. Daß Henry die begabtere, subtilere Rednerpersönlichkeit ist, stellt Shakespeare durch den pluralis maiestatis (»we«), der zugleich auch die Zustimmung aller übrigen anwesenden Personen enthält, heraus.546 Durch Gottes Hilfe und die Unterstützung seiner Untertanen steht einem militärischen Konflikt nichts im Wege. Als notwendiger Kriegsgrund wird die Beleidigung durch den Dauphin instrumentalisiert.547
7.4
Vorankündigung des Kriegsgeschehen durch den Chorus (II,Chorus)
Strukturell hebt sich Henry V durch die Einführung einer Chorusfigur von den anderen Dramen Shakespeares ab. Zu Beginn eines jeden Aktes tritt der Chorus auf und bietet dem Zuschauer eine Vorschau auf die Geschehnisse des folgenden 546 Vgl. Suerbaum, »Shakespeare, Henry V.« In: Mehl, Dieter (Hrsg.). Das englische Drama. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Band 1. Düsseldorf: Bagel 1970, S. 96–113, hier: S. 105. 547 Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 65.
Vorankündigung des Kriegsgeschehen durch den Chorus (II,Chorus)
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Aktes.548 Dabei fungiert der Chorus nicht als neutrale Instanz, sondern er nimmt eine durchaus patriotische Position ein, deren Glaubhaftigkeit in den folgenden Szenen angezweifelt wird.549 Der Vortrag des Chorus behandelt drei große Themen: die patriotische Grundstimmung innerhalb der englischen Bevölkerung, das Lob Henrys als tugendhaften Herrscher und die Verschwörung durch den Earl of Cambridge, Scroop und Grey. Dabei unterteilt sich die Rede des Chorus in zwei Teile: im ersten Teil knüpft er mit seiner Erzählung direkt an die Handlung des ersten Aktes an, im zweiten Teil wandelt sich seine narratio mit der Nennung der oben genannten Verschwörer eine accusatio. Die Kriegsvorbereitungen sind in vollem Gange, ganz England – und besonders die Jugend – unterstützt Henrys Kriegsvorhaben gegen Frankreich: »Now all the youth of England are on fire, And silken dalliance in the wardrobe lies. Now thrive the armourers, and honour’s thought Reigns solely in the breast of every man. They sell the pasture now to buy the horse, Following the mirror of all Christian kings With winged heels, as English Mercuries.« (II,Chor. 1–7)
Ohne ein kunstvolles exordium steigt der Chorus mit »Now«, das hier im Grunde als attentum parare gilt, in die gegenwärtige Situation ein. Die patriotische Kriegsbegeisterung wird maßgeblich durch Ausdrücke wie »on fire«, »amourers« und »honour’s thought / Reigns solely in the breast of every man« ausgedrückt. Unterstützt wird die patriotische Atmosphäre durch die Beschreibung diverser Handlungen im Volk, die auf die Rüstung zum Feldzug gegen Frankreich hindeuten. All dies gipfelt in der Darstellung Henrys als Inbegriff christlicher Tugendhaftigkeit: »mirror of all Christian kings« (II,Chor. 6).550 Darüber hinaus macht der Chorus in seiner patriotischen Darstellung deutlich, daß der Herrschaftsanspruch – hier durch die Allegorie »expectation« (II,Chor. 8) ausgedrückt – Henry und seinen Nachfolgern gilt, ja sogar versprochen ist:
548 Vgl. Schöpflin, S. 29. 549 Vgl. Fielitz, S. 85. Vgl. Danson, »Henry V: King, Chorus, and Critics«, S. 29. Zum Zweck des Chorus erläutert Schöpflin, S. 30: »Für Shakespeare ist die Chorus-Figur ein Mittel, zeitliche und räumliche Sprünge im Lebensbericht Heinrichs V. zu überbrücken und seinem Zuschauer alle notwendigen Informationen zukommen zu lassen. Darüber hinaus weist sein Chorus aber auch auf den Aufführungscharakter der dramatisierten Szenen aus dem Leben des Königs hin, indem er die begrenzten Darstellungsmöglichkeiten des Theaters von vornherein eingesteht und sie entschuldigt.« 550 Zur Mehrdeutigkeit des Wortes »mirror« und somit als doppeldeutige Metapher vgl. Lubrich, S. 34.
176
Shakespeare, King Henry V
»For now sits expectation in the air And hides a sword from hilts unto the point With crowns imperial, crowns and coronets, Promised to Harry and his followers.« (II,Chor. 8–11)
Während der Chorus im ersten Teil England und die Aufrüstung durchweg positiv darstellt, so wird ab Vers 12 die Darstellung mit der französischen Perspektive erweitert. Die zuvor mit positiv konnotiertem Vokabular versehene Begeisterung für den Frankreichfeldzug weicht nun negativen Beschreibungen wie »this most dreadful preparation« (II,Chor. 13), »Shake in their fear« und »pale policy« (beides II,Chor. 14). Besondere Beachtung gilt hier der »pale policy«551, mit der der Chorus die französische Spionage – zuvor in Vers 12 mit »advised by good intelligence« angedeutet – als eine aus Furcht initiierte politische Intrige, um das englische Vorhaben abzuwenden, weiter beschreibt. In die Negativdarstellung wird ab Vers 16 die Apostrophe mit Seufzermotiv und der Personifizierung Englands eingeflochten, mit welcher der Chor einerseits seine patriotische Einstellung betont, andererseits patriotisch gekränkt die drei Verschwörer Earl of Cambridge, Scroop und Grey dem Publikum nennt: »O England, model to thy inward greatness, Like little body with a mighty heart, What mightst thou do, that honour would thee do, Were all thy children kind and natural! But see, thy fault France hath in thee found out, A nest of hollow bosoms, which he fills With treacherous crowns; and three corrupted men, One, Richard Earl of Cambridge, and the second, Henry Lord Scroop of Masham, and the third, Sir Thomas Grey, knight, of Northumberland, Have, for the gilt of France, – O guilt indeed! – Confirmed conspiracy with fearful France, And by their hands this grace of kings must die, If hell and treason hold their promises, Ere he take ship for France, and in Southampton.« (II,Chor. 16–30)
In seinem Seufzermotiv »Were all thy children kind and natural« (Vers 19) argumentiert der Chorus, daß die Verschwörer sich nicht wie wahre Engländer verhalten haben. Somit zählen diese nicht mehr als Engländer, sondern werden Frankreich zugeordnet. Der Gegensatz zwischen England und Frankreich wird wiederum deutlich: England wird wie zuvor Henry V. durchgängig positiv dargestellt, etwa als »model to thy inward greatness« (II,Chor. 16) oder »Like little body with a mighty heart« (II,Chor. 17), während die englischen Verschwörer 551 Vgl. die dazugehörige Angabe von Craik in der Arden-Ausgabe, S. 153.
»Or else what follows?« – Exeter als Botschafter in Frankreich (II,4)
177
mitsamt Frankreich durchweg negativ präsentiert werden, etwa als »nest of hollow bosoms, which he fills / With treacherous crowns; and three corrupted men« (II,Chor. 21f.). Dabei sind die Verschwörer das »nest of hollow bosoms«, denen es an Patriotismus und Loyalität ihrem König gegenüber mangelt. Diesen Mangel an Loyalität ersetzt der französische König Charles VI. – vom Chorus lediglich als »he« bezeichnet – durch Bestechungsgeld in Form von »treacherous crowns«, wodurch die Geldgier der Verschwörer wiederum betont wird.552 Durch die Alliteration »thy fault France hath in thee found out« (Vers 20) verstärkt der Chorus die Hinterhältigkeit Frankreichs. Erst in der zweiten Hälfte ab Vers 23 gibt die Chorusfigur die Namen der drei Verschwörer preis und wechselt von der reinen Erzählung in eine Anklage. Hierin wird dem Earl of Cambridge, Scroop und Grey nochmals explizit Geldgier als Grund für das Verbrechen vorgeworfen, wie es das Wortspiel aus »gilt – guilt« in Vers 26 mit »for the gilt of France, – O guilt indeed!« veranschaulicht. Daß nun diese Verschwörung und die geplante Ermordung Henrys V. in Southampton eine bewußte Entscheidung gewesen sein muß, läßt sich aus dem Prädikat »Have […] Confirmed conspiracy« ableiten.553 Nach dieser Anklage wendet sich der Chorus ab Vers 31 mit der Aufforderung »Linger your patience« direkt an das Publikum, paraphrasiert die Geschehnisse in einer Conclusio und verlagert die Handlung für die kommende Szene nach Southampton.554
7.5
»Or else what follows?« – Exeter als Botschafter in Frankreich (II,4)
Die englischen Truppen befinden sich mittlerweile auf dem Vormarsch gen Frankreich. Die Szene wechselt nun in den Palast des französischen Königs, der seine Angst vor den nahenden Engländern zum Ausdruck bringt. Im Verlaufe der Szene tritt Exeter als englischer Botschafter am Hof auf, seine Nachricht: Charles VI. soll abdanken. Exeter mag zwar hier als Sprecher auftreten, allerdings ist die Nachricht von Henry, ebenso wie die angeführten Argumente.
552 Vgl. auch Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 66. 553 In II,2 gibt der Earl of Cambridge an, daß das Geld nicht das ausschlaggebende Kriterium war, den Hochverrat zu begehen. Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 66. 554 Der Chorus spielt hier mit der Erwartungshaltung des Publikums, wenn er als angeblich nächsten Handlungsort Southampton ankündigt, doch II,1 tatsächlich in London spielt. Zur Unzuverlässigkeit des Chorus vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 63f., vgl. außerdem Hammond, »›It must be your imagination then‹: The Prologue and the Plural Texts in Henry V and Elsewhere«, S. 143.
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Shakespeare, King Henry V
Ohne Umschweife geht Exeter in seinem exordium gleich nach der Begrüßung in medias res. Mit allem nötigen Respekt überbringt er die Kunde und betont dabei, daß es um Henrys Auftrag geht: »He wills you, in the name of God Almighty, That you divest yourself and lay apart The borrowed glories that by gift of heaven, By law of nature and of nations, longs To him and to his heirs, namely the crown And all wide-stretched honours that pertain By custom and the ordinance of times Unto the crown of France.« (II,4,77–84)
Der ohnehin lange Satz rekapituliert den englischen Anspruch auf die französische Krone, ausgeschmückt von der Formel »von Gottes Gnaden«. »He wills you, in the name of God Almighty« verlagert die Verantwortung auf eine höhere Instanz, also auf Gott. Henry, so wie er ganz zu Beginn charakterisiert worden ist, gibt sich als gottesfürchtiger, religiöser König, verschleiert gleichzeitig allerdings auch seine eigenen Kriegsabsichten durch Phrasen wie »borrowed glories«, »by gift of heaven«, »by law of nature and of nations«. Exeter bleibt in seiner formelhaften Sprache bis hierhin emotionslos bzw. neutral. Vielmehr ist Henry via Exeter darum bemüht, den Anspruch auf die französische Krone eindeutig zu begründen, was durch »God Almighty«, »gift of heaven«, »law of nature and of nations« sowie »to him and to his heirs« versucht wird. Was Canterbury im ersten Akt noch durch seinen Monolog zum Salic law detailreich als angeblich rechtmäßigen Anspruch rekapitulierte, findet nun Einzug in Exeters herausfordernder Rede.555 Die in seiner Rede enthaltene Ironie folgt sogleich, wenn er sagt: »’Tis no sinister nor no awkward claim, Picked from the worm-holes of long-vanished days, Nor from the dust of old oblivion raked, […].« (II,4,85–87)
Charles VI. wird also zuerst erklärt, was die Forderung angeblich nicht ist, bzw. nicht zu sein scheint: falsch, heimtückisch, unaufrichtig. Zumindest ist ein Zweck des exordiums das attentum parare erfüllt. Wenn man so will, steuern die kommenden Verse 88–90 das docilem parare bei.556 Exeters Sprache wird immer parteiischer zugunsten Henrys. Der Auszug aus dem Stammbaum, »this most memorable line« gemäß Exeter, stellt als Sophismus bzw. als argumentum ad antiquitatem das vermeintliche Fundament der »aufrichtigen« Forderung dar. 555 Auch wenn Exeter als kurzfristig berufener Botschafter spricht, so ist es im Endeffekt Henrys Argumentation, die der Zuschauer bzw. Zuhörer erfährt. 556 Wir gehen von der wortwörtlichen Bedeutung von docilis aus.
»Or else what follows?« – Exeter als Botschafter in Frankreich (II,4)
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Seine Selbstsicherheit belegt er durch »when« anstelle eines – ebenfalls möglichen – if: »And when you find him evenly derived / From his most famed of famous ancestors […].« (II,4,91f.). Somit läßt Exeter keinen Zweifel an der Situation aufkommen: die Franzosen werden der englischen Forderung nachkommen, es ist lediglich eine Frage der Zeit. Latent degradiert Exeter Charles VI. im Ansehen, benutzt im Kontext von Henrys Vorfahren stets Superlative wie »most memorable line« (Vers 88) oder im Zusammenspiel mit der Alliteration »From his most famed of famous ancestors«. Dem rechtschaffenen und integren englischen Machtanspruch wird die unrechtmäßige französische Inanspruchnahme des Throns gegenübergestellt (II,4,93–95): »[…] he bids you then resign Your crown and kingdom indirectly held From him the native and true challenger.«
Krone und Königreich sind an den wahren Eigentümer Henry abzutreten, ohne Umschweife kommt Exeter zum Punkt. Syntaktisch und rhetorisch wird Charles zwischen Henrys Ahnen (Edward III.) und Henry selbst eingeklammert. Verständlich, daß auf diese rhetorische Provokation ein nicht minder provokatives »Or else what follows?« (Vers 96) seitens Charles’ entgegengestellt wird. Was also passiert, wenn Frankreich nicht dieser impertinenten Forderung nachkommen will? Charles VI. folgt hier dem zuvor geäußerten Rat des Dauphins (II,4,69–75a), Widerstand zu leisten und seiner Entmachtung entgegenzuwirken. Die Konsequenz, sollte Frankreich sich nicht beugen, lautet »Bloody constraint«, was eine Anspielung auf die Schrecken des Krieges ist. Widerstand ist zwecklos, wie er unmißverständlich klarmacht: »Even in your heart, there will he rake for it« (II,4,98). Exeter droht mit einem militärischen Schlag, seine Rede wechselt abrupt vom friedlichen zum kriegerischen Ton. Ebenfalls wechselt der Sprachduktus von einer neutralen zu einer drastischen und bildhaften Sprache557: »Therefore in fierce tempest is he coming, In thunder and in earthquake, like a Jove, That if requiring fail, he will compel.« (II,4,99–101)
Die apokalyptisch anmutende Schilderung bedient sich zudem wieder aus der antiken Mythologie, hier mittels des Beispiels des blitzeschleudernden und erderschütternden Jupiter.558 557 Vgl. Porter, S. 130f. 558 Bereits im ersten Akt konnte beobachtet werden, daß zur Verdeutlichung Beispiele, Vergleiche und Metaphern aus der griechischen und römischen Mythologie herangezogen worden sind. Exeter folgt diesem Exempel. Ferner konstatiert Porter, daß diese Stelle offen läßt, ob Exeter noch in Henrys Auftrag agiert und dessen Botschaft übermittelt, vgl. S. 131:
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Shakespeare, King Henry V
Dem gewaltsamen Spiel mit der Angst folgt die erneute Aufforderung »And bids you, in the bowels of the Lord, / Deliver up the crown« gefolgt von »take mercy / On the poor souls for whom this hungry war / Opens his vasty jaws […]« (II,4,103–104). Was harmlos erscheint, der König soll Gnade zeigen, schlägt durch die Anspielung auf ›Kollateralschäden‹ wieder ins Negative um. Charles wird unter einen moralischen Druck gesetzt. Bildgewaltig fährt Exeter fort und personifiziert den bevorstehenden Krieg: »hungry war«, »vasty jaws«, »swallowed«. Immer finsterer und grauenvoller zeichnet er in seiner Klimax sein Bild von der alles verschlingenden Bestie Krieg. Da der Krieg von den Engländern favorisiert wird, zielt unter dieser Betrachtungsweise die von Exeter verwendete Metaphorik auf die Ohnmacht Charles’ und seiner Untertanen gegenüber der englischen Armee ab. Der zuvor genannte moralische Druck knüpft hier an: »[…] and on your head Turning the widows’ tears, the orphans’ cries, The dead men’s blood, the pining maiden’s groans, For husbands, fathers and betrothed lovers That shall be swallowed in this controversy.« (II,4,105–109)
Wurden unmittelbar zuvor die Zivilopfer nur angedeutet, konkretisiert Exeter seine von Metaphern getragene Anspielung. Geschickt verknüpft er in Vers 109 das Bild vom Verschlingen mit seinem Beispiel unschuldiger Zivilopfer.559 Gattungstechnisch ist Exeters Rede bis hier dem genus deliberativum zuzuordnen: er klärt Charles über den status quo auf, rät ihm zur Abdankung, zeigt auf Nachfrage die Konsequenzen und legt den Fokus auf die Zukunft. Der rhetorische Trick jedoch liegt woanders: im ersten Teil seiner Rede läßt Henry via Exeter den französischen Regenten durch die Abdankung entmachten. Vorsichtiger ausgedrückt: man legt Charles die Abdankung nahe. Die Entscheidungsgewalt über Frankreich geht logisch an England über. Allerdings wird die unangenehme Abdankung im zweiten Redeteil – die Zäsur ist Charles’ »Or else what follows?« – durch »take mercy / on the poor souls« (Vers 104f.) verwischt, da Charles dadurch immer noch eine Machtposition bzw. Vormachtstellung eingeräumt wird. Er hat die Option, würdevoll und noch im Amt, über die letzten Schritte seiner Regentschaft zu entscheiden und die Kapitulation zu akzeptieren. Äußerlich wahrt Henry den Schein einer im Grunde friedfertigen Machtübernahme. Die Hinterlist von Henrys Rhetorik verbirgt sich wiederum in einem »And we are farthest from familiar categories of message-transmission in moments like […] (ll. 99–100) where there is a message-radical tout court, bare of any frame referring to Henry as the sender.« 559 Hatte Henry noch im ersten Akt die Frage eines bellum iustum aufgeworfen, muß diese nach Exeters Rede eindeutig verneint werden.
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weiteren Winkelzug: durch die Einräumung, daß Charles Entscheidungsgewalt besitzt, spricht sich Henry gleichzeitig frei von der Kriegsschuld. Henry ist somit derjenige, der aufgrund der französischen Entscheidung zum militärischen Konflikt gezwungen wird. Die Schuld an Toten und Verletzten hat allein Charles zu tragen. Ebenso direkt wie seine Botschaft an Charles begonnen hat, wird sie auch beendet. Offen nennt Exeter sie als »his claim, his threatening«, um sich von der Intention möglicherweise zu distanzieren. Mit der zweiten Zäsur »Unless the Dauphin be in presence here […]« (Vers 111f.) beendet der den für Charles bestimmten Teil seiner Botschaft und wendet sich im zweiten Teil Louis zu. Henrys schiere Geringschätzung, »Scorn and defiance, slight regard, contempt, / And anything that may not misbecome« (Vers 117f.) wie Exeter es ausdrückt, soll dem Dauphin zuteil werden. Die erlittene Beleidigung durch den Dauphin, die Sendung Tennisbälle, ist nicht vergessen. Sein Dank in I,2,260f. (»We are glad the Dauphin is so pleasant with us. / His present and your pains we thank you for.«) war bloß ironisch gemeint. Für diese Aktion verlangt Henry nach Rache560: »[…] an if your father’s highness Do not, in grant of all demands at large, Sweeten the bitter mock you sent his majesty, He’ll call you to so hot an answer for it That caves and womby vaultages of France Shall chide your trespass and return your mock In second accent of his ordinance.« (II,4,120–126)
Auch hier wird wieder auf die psychologische Kriegsführung mittels Drohung zurückgegriffen. Porter unterteilt den für den Dauphin bestimmten Abschnitt in zwei Teile: »The second part of Exeter’s message is for the Dauphin, ›To whom expressly I bring greeting to‹ (l. 112). It is in two parts, the first – […] (ll. 117–119) – a sort of formal insulting, and the second a hypothetical warning of woe to France in default of the king’s granting Henry’s demands – […] (ll. 123–26) – notably couched in metaphors of speech arts.«561
Obwohl Charles nicht mehr Gesprächspartner ist, so ist er jedoch noch in die Argumentationskette mit eingebunden. Charles und der Dauphin werden gegenseitig unter Druck gesetzt. Denn sollte Charles den Forderungen nicht 560 Zu Henrys ironischem Dank vgl. Porter, S. 147: »It is a real thanking but an insincere one, and Henry intends the insincerity to be recognized – perhaps by the ambassador an certainly by the nobles of his own court.« 561 Porter, S. 131–132. Ferner konstatiert Porter zu Exeters Gesamtsituation: »Having delivered his message to the king, Exeter concludes […] laying open some of the complexity of his status as messenger […].«
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Shakespeare, King Henry V
nachkommen, werde der Dauphin dafür die Konsequenzen mittragen müssen: »He’ll call you so hot an answer for it […]« (II,2,123). Der Konsekutivsatz »[…] so hot […] / That […]« ist mit seiner Übertreibung in Vers 124ff. die Basis der effektvollen Drohung. Der von England erfahrene Spott soll Frankreich durch Waffeneinsatz noch extremer widerfahren, wenn Charles nicht einwilligt. Für Charles verdoppelt sich somit der moralische Druck, da er die Verantwortung sowohl für seine Untertanen als auch für seinen Sohn trägt.
7.6
»The game’s afoot« – Henrys Appell an seine Soldaten (III,1)
Wie mächtig Henrys Rhetorik sein kann, wurde bislang nur über andere Charaktere, etwa Exeter, erfahren. Henry wirkte im Hintergrund, ließ andere für ihn reden, nachdem er sie instruiert hatte. Im dritten Akt erlebt der Zuschauer zum ersten Mal Henry als Redner in Aktion. Wie uns die Chorusfigur zum Auftakt des dritten Aktes informiert, ist König Charles nicht im gewünschten Maße auf Henrys Forderungen eingegangen, statt dessen heißt es562: »Suppose th’ambassador from the French comes back, Tells Harry that the King doth offer him Katherine his daughter and with her, to dowry, Some petty and unprofitable dukedoms. The offer likes not; and the nimble gunner With linstock now the devilish cannon touches, And down goes all before them. Still be kind, And eke out our performance with your mind.« (III,Chor. 28–35)
Mitten in der Belagerung Frankreichs schwört Henry seine Soldaten ohne Umschweife eines nur zeitraubenden exordiums – immerhin wissen seine Soldaten auch, in welcher Situation sie sich gerade befinden – mit einer flammenden Kriegsrede ein: »Once more unto the breach, dear friends, once more, / Or close the wall up with our English dead.« Ob er seine Zuhörer absichtlich mit »dear friends« anredet oder aus der Situation heraus, bleibt offen. Allerdings muß in Betracht gezogen werden, daß Henry sich bereits zuvor, wenn auch mehr im Hintergrund, als geschickter Wortkünstler erwiesen hat. Gehen wir von einer bewußten Verwendung des »dear friends« aus, stellt er damit seine Zuhörer und
562 Vgl. Porter, S. 132: »We may assume Exeter’s delivery of the French replies. Yet, in the ensuing excitement of Harfleur, there is no mention of it, so that we have no inkling of the substance of the French king’s cautiously postponed reply. In a sense, then, this reply of his does not exist, or, better, it is postponed past the ›small breath and little pause‹ he demands, past Harfleur, and is in fact the message he sends to Henry to begin the third interchange of the royal agon.«
»The game’s afoot« – Henrys Appell an seine Soldaten (III,1)
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sich auf die gleiche Stufe, schafft Vertrauen (attentum und benevolum parare) und erhöht so die Kampfbereitschaft seiner Soldaten. Seine Feldherrenrede gliedert sich in zwei große Teile, die jeweils auf unterschiedlichen Argumentationsmustern basieren: auf der einen Seite steht der gewaltverherrlichende, (niedere) Instinkte weckende Vergleich mit wilden Tieren, auf der anderen Seite steht ein leicht gehobenes Niveau, mit einem patriotischen Appell. Henrys erstes Einpeitschen seiner Soldaten baut antithetisch auf: zuerst paraphrasiert er das korrekte Verhalten in Friedenszeiten: »In peace there’s nothing so becomes a man / As modest stillness and humility« (III,1,3–4). Dem diametral entgegen steht ab dem fünften Vers das adversative »But«. Der ganze fünfte Vers macht mit seinem onomatopoetischen »But when the blast of war blows in our ears« [meine Hervorhebung] die gesamte friedliche Ruhe zunichte, »stillness« steht ferner dem Substantiv »action« (Vers 6) gegenüber. Seine direkte Aufforderung an seine Zuhörerschaft: »[…] imitate the action of the tiger […].« In jenes Bild steigert er sich weiter hinein und schmückt es weiter aus, wenn er sagt: »Stiffen the sinews, conjure up the blood, Disguise fair nature with hard-favoured rage. Then lend the eye a terrible aspect; […]« (III,1,7–9)
In seiner Selbstinszenierung563 behält er das Muster schlichter antithetischer Sätze bei und verwendet für seine Soldaten eine angepaßte Redeweise. War es anfangs etwa der Kontrast zwischen Frieden und Krieg, ist es nun der Kontrast zwischen »fair nature« und »hard-favoured rage«. Mit den kurzen Imperativen weiß Henry genau, wie er seine Soldaten für die weiteren Kampfhandlungen einpeitschen kann. Seine Raubtiermetaphorik des Tigers beschreibt sukzessive die Verrohung und Entmenschlichung seiner Truppen, die ihre »fair nature« durch »hard-favoured rage« (s. o.) verlieren und sich immer mehr einem Raubtier anpassen564: »Now set the teeth and stretch the nostril wide, Hold hard the breath and bend up every spirit To his full height. […]« (III,1,15–17a)
Die Rollenverteilung ist offenkundig: die Soldaten sollen ohne zu denken einfach nur handeln und zwar auf einem primitiven Niveau, wohingegen die Rolle des Denkers Henry zukommt. Gleichzeitig greift die Metapher das von Exeter in II,4 benutzte Konstrukt auf, den Krieg mit einer wilden Bestie gleichzusetzen. Der 563 Vgl. Mittelbach, S. 134: »Die Rede des Königs trägt offiziellen Charakter, sie hört sich an, als sei sie für die Geschichtsbücher bestimmt.« 564 Vgl. Suerbaum, »Shakespeare, Henry V«, S. 96–113, hier: S. 107–108. Vgl. auch Babula, »Whatever happened to Prince Hal? An Essay on ›Henry V‹«, S. 47–59, hier: S. 52.
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Shakespeare, King Henry V
Krieg geht von Henrys Soldaten aus, die folglich ein Bestandteil dieser Bestie sind und selbst zu Bestien mutieren sollen. Geringfügig anspruchsvoller erweist sich Henrys zweites Argumentationsmodell. Anstelle primitiver Instinkte beschwört Henry jetzt das Nationalbewußtsein seiner Landsleute mit »you noble English« und stellt damit den Kontrast zur wilden Bestie dar. Das hierbei verwendete Argument verstärkt mit seinem historischen Verweis »Whose blood it fet from fathers of war-proof« und auf den Antiken-Vergleich der eigenen Ahnen mit Alexander dem Großen (»like so many Alexanders«) in Vers 19. Mag seine Rhetorik im zweiten Teil dieser Anstachelungsrede komplexer und anspruchsvoller sein mit ihrer nationalistischen Symbolik, so ist sie dennoch nicht weniger blutrünstig: englische Vorfahren – vorläufig die Väter – werden als »fathers of war-proof« und »viele Alexander« dargestellt (III,1,18–21). Die Ehrenhaftigkeit der englischen Nation stilisiert er zum nationalen Credo, wenn er mit seinem Pars pro Toto fordert: »Dishonour not your mothers.« Die Truppen sollen sich als würdige Engländer erweisen, sowohl den eigenen Familienstolz bzw. die Familienehre als auch den nationalen Stolz nicht in Mißkredit bringen. Rassistische Töne läßt der Monarch in Vers 24f. mit »Be copy now to men of grosser blood / And teach them how to war« anklingen, um wieder die Überlegenheit der Engländer in jeder Hinsicht zu glorifizieren. In kompakten Abständen hämmert Henry dieses Nationalcredo ein: »dishonour not«, »attest«, »noble English«, »made in England« und »you are worth your breeding« (III,1,17–28) sind die maßgeblichen Schlagwörter, durch die er mit seinem psychologisch wirkungsvollen Vertrauensbeweis die Kampfkraft »which I doubt not« stärkt. Subtil verzichtet Henry in seiner Rede auf den pluralis maiestatis und bleibt schlicht beim Singular565. Der abschließende Vergleich »like greyhounds in the slips« (III,1,31) untermauert noch einmal, daß seinen Soldaten, die wild auf den Kampf sind, nichts Menschliches mehr eigen ist.566 Mit seiner Feldherrenrede beweist Henry, daß Kriegsrhetorik keine komplexe politische Rede ist. Im Gegenteil, seine Rede ist exhortativ, ruft zum Kampf auf und beschwört den Patriotismus und die Kampftugend der Engländer, angereichert mit nationalistischen Klischees. So plötzlich wie sie angefangen hat, endet sie auch: mit seinem Schlachtruf »›God for Harry! England and Saint George!‹« (Vers 34).
565 Anders im ersten Akt. Nach Canterburys Exkurs zum Salic law verwendet er den Plural. 566 Es ist ungewiß, ob das berühmte »The game’s afoot« hier metaphorisch gemeint ist oder ob Henry die bevorstehende Kampfhandlung tatsächlich als Spiel sieht.
Unterschiedliche Aufnahme und Resonanz auf Henrys Appell (III,2)
7.7
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Unterschiedliche Aufnahme und Resonanz auf Henrys Appell (III,2)
Ob und wie Henrys Kriegsrhetorik die von ihm erwünschte Wirkung zeigt, nämlich daß seine Soldaten von Kampflust ergriffen und »like greyhounds in the slips, / Straining upon the start« (III,1,31f.) bereit sind, stellt Shakespeare in der Anschlußszene dar. III,2, insbesondere der erste Vers mit Bardolphs »On, on, on, on, on, to the breach, to the breach!«, wird in der Rezeption unterschiedlich wahrgenommen: die eine Seite interpretiert einen überzeugten und angespornten Bardolph567, die andere vergleicht dies als eine Parodie auf Henrys HarfleurRede.568 Für letztere spräche die Interaktion der Charaktere Bardolph, Nym, Pistol und des Boy. Ganz egal, wie man den ersten Vers sehen mag, die zweite Szene ist das komische Gegengewicht der ansonsten ernsten Atmosphäre des Dramas. Sie zeigt, wie Henrys Kriegsrede beim gemeinen Volk, den »men of mould«, ankommt. Die allgemeine Zuschauererwartung, Henrys rednerische Fähigkeit habe alle in seinen Bann ziehen können, wird nicht erfüllt. Was anfänglich bei Bardolph noch wie ein überzeugtes Anfeuern der Kameraden erscheint (Vers 1), kristallisiert sich im Nachhinein als die oben erwähnte Parodie des Königs. Er kombiniert dabei III,1,1 und III,1,17 miteinander. Nym steuert durch seine puns (»a case of lives«) ein weiteres komisches Element als Reaktion auf Bardolphs Ausruf hinzu. Nym ist der erste Charakter, der zugibt, daß ihm die Belagerung Harfleurs und der damit verbundene Krieg zu gefährlich ist: »[…] the knocks are too hot, and for mine own part I have not a case of lives. The humour of it is too hot, that is the very plain-song of it.« (III,2,2–5)
Obgleich sein Einwand humorvoll ist, zeigt er dennoch einen ernsten Kern, ebenso wie Pistols Reim »And sword and shield / In bloody field / Doth win immortal fame« läßt an Henrys rhetorischem Erfolg zweifeln. Lediglich der Boy bringt wieder eine ernsthaftere Atmosphäre in den Dialog der drei älteren Herren hinein (III,2,12f.): »Would I were in an alehouse in London! I would / give all my fame for a pot of ale and safety.« Kadavergehorsam sieht anders aus. Bardolph versteckt seine Angst und seinen Unwillen hinter seiner ironischen Einlage, Nym betreibt Wortspiele: sein »case of lives« entrückt den »case«, den Pistolenkoffer, aus seinem Bedeutungsfeld und verknüpft ihn mit dem, woran doch alle hängen: an ihrem Leben. Als dritter im Bunde sagt Bardolph mit seinen
567 Vgl. Dickson, S. 103. 568 Vgl. Mittelbach, S. 133.
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Shakespeare, King Henry V
Versatzstücken aus einem Lied, daß allen die von Henry genannte Ehre und der Ruhm ihnen nichts mehr nütze, wenn sie gefallen sind. Die humoristische Einlage zerpflückt Henrys Anfeuerungsrede in ihre Argumentationsfragmente und führt seine Äußerungen ad absurdum. Henrys Prophezeiung von den »noble English«, die »war-proof« und wie Tiger sein sollen, schlägt bei den einfachen Soldaten ins Gegenteil um. Sein Appell »worth your breeding – which I doubt not« geht an den Empfängern völlig vorbei. Alle vier Charaktere »sind vielmehr als Menschen geschildert, die ihre Schwächen haben«.569 Fluellens Auftritt hingegen vermag Bardolph, Pistol und Nym zu motivieren. Hier legt Shakespeare einem zweiten Charakter Henrys Worte in den Mund: »Up to the breach, you dogs! Avaunt, you cullions!« (III,2,21). Subtil wird die alte Hundemetapher wiederverwendet und fast schon rabulistisch ins Negative verkehrt.570 War sie bei Henry noch ein positives Attribut für den ungebändigten Kampfwillen, ist Fluellens »you dogs!« nur noch eine üble Beschimpfung, mit der er Pistol und Nym einzuschüchtern vermag. Nach deren Abgang zieht der Junge in seinem Soliloquium ein zynisches und bitteres Resümee über seine Kameraden. Seine Rede, wenn man sie so nennen mag, ist in einfacher Prosa abgefaßt, was uns zeigt, daß er seine Gedanken ungefiltert äußert, ohne jene für ein Publikum mit Redeschmuck zu verzieren. Rein äußerlich erinnert die Prosa an Brutus’ Rede aus Julius Caesar. Jedoch war die Intention der Prosaverwendung durch Brutus darauf zurückzuführen, daß er mit seinem attischen Redestil die Fakten für Caesars Ermordung formallogisch dem römischen Volk nahebringen wollte. Im Falle des Boy bei Henry V werden keine Absätze innerhalb des Soliloquiums gemacht, was einerseits das Fehlen einer Redeordnung zeigt, andererseits, daß seine Gedanken um ein Thema kreisen: die Feigheit von Bardolph, Pistol und Nym: »As young as I am, I have observed all these three swashers.« Den feigen Prahlern spricht er zudem jede Vorbildfunktion – »[…] but all they three, though they would serve me, could not be man to me […]« (III,2,29–30) – und Respekt ab. Stilistisch spielt der Charakter des Boy mit seiner pragmatischen Herangehensweise in seinem Monolog mit kontrastiven Elementen: Bardolphs Aussehen, »white-livered and red-faced«, entspricht nicht seinem Kampfverhalten.571 Er erscheint rein äußerlich als mutig, ist es aber nicht. Pistols einzige Waffe ist dessen Zunge (»a killing tongue«), die chiastisch seiner eigentlichen Waffe »a quiet sword« gegenübergestellt wird. Auch Nym steht nicht gerade positiv da: »men of few words are the best men, and therefore he scorns to say his prayers lest ’a should be thought a coward […].« Doch die Kehrseite entlarvt Nym als einen 569 Mittelbach, S. 134. 570 Vgl. Mittelbach, S. 134. 571 Vgl. Porter, S. 121f.
Henrys Rede und Drohung an den Governor (III,3,1–43)
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Trinker: »but his few bad words are matched with as few good deeds, for ’a never broke any man’s head but his own, and that was against a post when he was drunk« (III,2,36–38). Der nachgeschobene and-Satz enttarnt den restlichen Satz als einen Trugschluß, ein rhetorisch effektives Mittel der Zuschauerlenkung. Am Ende seines Soliloquiums faßt er zusammen: »I must leave them and seek some better service; their villainy goes against my weak stomach, and therefore I must cast it up« (III,2,51–53).572 Noch einmal wird klar, daß Pistol, Bardolph und Nym definitiv nicht den von Henry heraufbeschworenen Tugenden entsprechen. Henry soll dies zu einem späteren Zeitpunkt erfahren. Hingegen scheinen jene Tugenden im Charakter des Boy zu begegnen, da er für sich den Schluß zieht, die drei Männer zu Gunsten besserer Vorbilder verlassen zu müssen. Seine Feststellung in III,2,41f. (»They will steal anything, and call it purchase«) soll sich schon bald wieder bewahrheiten.573
7.8
Henrys Rede und Drohung an den Governor (III,3,1–43)
Der erste Eindruck von Henry in I,2 als möglicherweise unsicherer bzw. unerfahrener König, der sich von korrupten Klerikern manipulieren läßt, muß im Handlungsverlauf modifiziert werden. Henry nimmt immer mehr die Rolle des Königs, des Politikers und auch des Feldherrn wahr. Dazu zählt auch, daß sein rhetorisches Können stärker in den Vordergrund tritt. In II,4 übernimmt Exeter in diplomatischer Mission die Verhandlungen für ihn. Henrys erste Rede erleben wir in III,1 in Form der Anfeuerungsrede. Jene ist zwar gut, patriotisch und auch mit dem nötigen Pathos versehen. Allerdings bleibt in III,2 der gewünschte Effekt seiner Rede aus, und die von ihm etablierten Tiermetaphern finden bei Bardolph, Nym, Pistol und dem Boy keinen Anklang. Daß seine rednerische Begabung ihm auch Erfolge einbringt, zeigt III,3. Der Eroberungskampf ist für das englische Heer insoweit gut verlaufen, als sich Henry nun vor den Stadttoren befindet und mit dem Governor verhandelt. Bereits bei der Verteilung der Sprechparts wird deutlich, wer buchstäblich das Sagen hat und wer der unterlegene Part ist: Der Redeanteil des Governor verteilt sich auf sieben der maximal 58 Verse dieser Szene. Konterkariert wird das Kräftever572 Vgl. hierzu auch Porter, S. 119. 573 Diese Stelle ist zweideutig: einerseits ist der Satz eine vom Boy genannte Tatsache. Andererseits – das »will« würde dies bekräftigen – soll sich das Kriegsverbrechen noch einmal wiederholen (Bardolph und Nym in III,6), was die Aussage des Boy in der Rückschau wie eine Vorausdeutung erscheinen läßt. Ob Shakespeare diese Chorus-Facette bewußt verwendet, bleibt unklar. Durch die Abkehr des Boy von den drei Soldaten werden zu Henrys späterer Handlung Parallelen gezogen.
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Shakespeare, King Henry V
hältnis nur durch die topographische Symbolik: Der Governor befindet sich oben auf der Stadtmauer, während Henry mit seiner Gefolgschaft unten vor den Stadttoren steht. Henry verfolgt die gleiche Redestrategie wie Exeter in II,4, nämlich eine knappe Sachanalyse und das Aufzeigen zweier Wege: Kapitulation oder Krieg. Der parallele Aufbau unterstützt wiederum die These, Henrys anfängliche Zurückhaltung sei eine Facette einer politischen List.574 Weiterhin wird deutlich, daß sich hinter Exeters Ausführungen Henrys rhetorische Strategie verbirgt. Mit »How yet resolves the Governor of the town? / This is the latest parle we will admit.« (III,3,1f.) eröffnet Henry seine Diplomatie. Sofort am Anfang klärt er die Fronten dadurch, daß er dem Governor ein Ultimatum setzt. Die Antwort des Governor soll erst 45 Verse später folgen. Noch bevor dieser überhaupt antworten kann, fährt Henry mit seiner offenen Drohung »the latest parle we will admit« fort. Die psychologische Kriegsführung, das Druckausüben, ist hiermit in Gang gesetzt. In seiner Rede holt Henry aus: »Therefore to our best mercy give yourselves, / Or like to men proud of destruction / Defy us to our worst; […].« (III,3,3–9). Die Strategie ist erkennbar, wie zuvor erwähnt: Kapitulation oder Krieg. Viel interessanter ist die nur kurze Erwähnung der Kapitulationsmöglichkeit, wohingegen die Alternative in den noch kommenden Versen drastisch vorgeführt wird. »If I begin the battery once again, / I will not leave the half-achieved Harfleur / Till in her ashes she lie buried« ist der Auftakt zu seiner Verknüpfung von Drohungen. Schon hier macht er in jedweder Hinsicht deutlich, daß bei der Erstürmung das Anrecht auf seine sogenannte »best mercy« verloren sein wird, wie auch die Personifizierung Harfleurs versinnbildlicht. Er selbst sieht sich mehr in der Position des Soldaten bzw. Feldherrn als in der Position des Königs: »[…] as I am a soldier, / A name that in my thoughts becomes me best […].« (III,3,5f.). Von diesem Standpunkt muß auch der Zuschauer erkennen, daß Henry feinsäuberlich zwischen Facetten seiner Persönlichkeit unterscheidet. In der Rolle des Soldaten gibt er sich durchweg skrupellos, wenn er »The gates of mercy shall be all shut up« (Vers 10) konstatiert. Seine Ansprache ist antithetisch: es gibt nur schwarz oder weiß für ihn und für seinen Gegner. Kompromisse werden nicht geschlossen, was den Druck auf den Governor erhöht. Von seiner Religiosität, die der Erzbischof von Canterbury in I,1 – »You would desire the King were made a prelate« (I,1,40) – noch lobte, ist nichts mehr zu entdecken. Statt dessen bekommt das Publikum Canterburys »List his discourse of war, and you shall hear / A fearful battle rendered you in music.« (I,1,43f.) zu sehen.
574 Siehe Mittelbach, S. 48ff.
Henrys Rede und Drohung an den Governor (III,3,1–43)
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Um die französische Krone zu erlangen und Harfleur zu erobern, ist Henry jedes Mittel recht. Das bekannte Beispiel vom Krieg als gefräßige Bestie wird nachfolgend von ihm variiert: »And the fleshed soldier, rough and hard of heart, In liberty of bloody hand shall range With conscience wide as hell, mowing like grass Your fresh fair virgins and your flowering infants.« (III,3,11–14)
Henry ruft gezielt dazu auf, auch die schwächsten unter den Zivilisten nicht zu verschonen: Jungfrauen und Kinder. Das Enjambement in Vers 13 verschärft den Fokus auf die Opfer, die abermals durch die f-Alliteration »fresh fair virgins« und »flowering infants« hervorgehoben werden. Sein Wortspiel »mowing like grass«, »flowering infants« spricht den Kindern die menschlichen Grundrechte ab, degradiert sie zu sogenannten inanimate objects und versinnbildlicht die Einfachheit, wie jene beseitigt werden: sie werden gemäht. Ähnlich einfach hatte es zuvor die metaphorische Bestie Krieg, Opfer zu produzieren. Aus heutiger Sicht wird die Rezeption Henrys heikel, zumal ihn seine nicht vorhandene Rücksichtnahme auf Zivilisten in die Nähe von Joseph Goebbels rückt, der wiederum in seiner »Sportpalastrede« zum »totalen Krieg« aufgerufen hat. Ein treffenderer Ausdruck für diese Art der Kriegsführung wäre »Vernichtungskrieg«, der die Tötung ganzer Bevölkerungsgruppen androht. Ein weiteres Merkmal des »Vernichtungskrieges« ist die Verweigerung weiterer diplomatischer Verhandlung mit dem Gegner.575 In beiden Punkten stimmt die Definition mit Henrys Androhung überein. Ob Henry blufft oder nicht, kann nicht bestimmt werden. Sofern es sein Ernst ist, straft er mit seiner Denkweise Canterburys Ausführungen Lügen und zeigt sich als gott- und gewissenloser Feldherr. In beiden Fällen zeigt er seine rhetorische Gerissenheit, da er mit allen Mitteln der psychologischen Kriegsführung kämpft, hier insbesondere durch den emotionalen Druck, den er auf den Governor ausübt. Seine rhetorischen Fragen »What is it then to me […]?« und »What is’t to me […]?« unterstreichen die angebliche Gleichgültigkeit, mit der er Harfleur begegnet. Die zweite rhetorische Frage »What is’t to me, when you yourselves are cause, If your pure maidens fall into the hand Of hot and forcing violation?« (III,3,19–21)
ist von größerer politischer Bedeutung, da Henry – wieder einmal – die Verantwortung und den Grund für den Krieg seinem Gegner zuspricht. In seiner Rabulistik spricht er sich selbst von jeder Schuld frei, denn gemäß Henry wurde 575 Vgl. Bundeszentrale Für Politische Bildung (Hrsg.). Führerstaat und Vernichtungskrieg. München: Franzis 2000.
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Shakespeare, King Henry V
er von Harfleur zur Waffengewalt gezwungen. Bereits in II,4 erhielt der Zuschauer einen widersprüchlichen zweiten Eindruck von Henry, der dem Konzept des bellum iustum nicht gerecht wurde. Dieser Eindruck bestätigt sich immer mehr.576 Bis hierhin entspricht die Verwendung der Rhetorik Platons Auffassung von einem Machtmittel, Menschen gezielt zu manipulieren.577 Folglich paßt Henry V. nicht zum antiken Ideal des vir bonus. Die Drohung, die Jungfrauen zu vergewaltigen (III,3,19–23), ist der Konnex zu seiner in III,1 vor seinen Soldaten gehaltenen Ansprache, in welcher er die niederen Instinkte wilder Tiere beschworen hat. Eben diese Instinkte werden nun um ihre sexuelle Komponente erweitert. Kullmann bemerkt dazu: »Die Tiermetaphern geben der kriegerischen Tapferkeit einen unattraktiven Anstrich: Es geht um niedrige Emotionen, die die Kämpfer mobilisieren sollen. Noch schrecklicher sind die Drohungen, die Henry gegen die belagerte Stadt Harfleur ausstößt […].«578
Sprach Henry eingangs seiner Rede nur den Governor Harfleurs an, verlagert er nun im Redeverlauf die Anrede an alle Männer bzw. Bewohner von Harfleur: »[…] Therefore, you men of Harfleur, Take pity of your town and of your people Whiles yet my soldiers are in my command, Whiles yet the cool and temperate wind of grace O’erblows the filthy and contagious clouds Of heady murder, spoil and villainy.« (III,3,27–32)
Die Öffnung seiner Ansprache ist als Appell zu verstehen. Nach seinen brutalen Drohungen zuvor, ist dieser Appell die rationale wie emotionale Schlußfolgerung: »Take pity of your town and of your people […]« (Vers 28). Hinter diesem Anruf verbirgt er die Frage »Wollt Ihr wirklich das Verderben?« bzw. »Wollt Ihr das verantworten?«. Henry überläßt jetzt den Männern von Harfleur die Wahl über ihr eigenes Schicksal. Noch sei Zeit, sich für den unblutigen Weg zu entscheiden, wie Henry es in V. 29–32 mit seinen beiden parallelen Temporalsätzen – »Whiles yet my soldiers are in my command, / Whiles yet the cool and temperate wind of grace / O’erblows the filthy and contagious clouds / Of heavy murder, spoil and villainy« – sehr bildhaft erklärt. Wieder kontrastieren positive Symbole mit negativen Gegenstücken, wie etwa »cool and temperate wind« mit »filthy and contagious clouds«. Die negative Symbolik erhält ihr stärkeres ab576 Vgl. Mittelbach, S. 90: »Obgleich der König […] in dieser Rede seine Verantwortung leugnet und betont, daß die Einwohner von Harfleur dann selbst an ihrem Unglück schuld seien, bleibt spätestens an dieser Stelle vom bellum justum und von der gerechten Sache (›just cause‹) keine Spur mehr übrig.« 577 Vgl. Platons Auffassung im Kapitel Rhetorik auf S. 18. 578 Kullmann, S. 136.
Henrys Rede und Drohung an den Governor (III,3,1–43)
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schreckendes Gewicht durch die drei Attribute »heavy murder, spoil and villainy«, was zudem die damit einhergehenden Folgen vor Augen führt. Gilt der vorherige Appell an die Einwohner Harfleurs als positives Argumentationselement, was nur in seiner Mikrostruktur den Schrecken andeutet, so wird dies nun durch die Zäsur »If not« in Vers 33 kontrastiert. Aus der Andeutung von schrecklichen Folgen wird nun eine perverse Ausschmückung in diesem Konditionalsatz. Die Argumentation ist auch hier nicht neu, hat Henry V. das Gleiche doch 20 Verse zuvor vorgetragen. Lediglich die Details variieren: seine Soldaten werden fortan als »blind and bloody« charakterisiert. Also seine Soldaten sind blind darin, Militär von Zivilbevölkerung zu differenzieren und vergehen sich schließlich mit »foul hand« an zivilen Opfern: »Defile the locks of your shrill-shrieking daughters, Your fathers taken by the silver beards, And their most reverend heads dashed to the walls, Your naked infants spitted upon pikes, […]« (III,3,35–38)
In der gesamten Rede Henrys fällt einerseits die stete Antithetik im kleinen wie auch im großen Argumentationsstrang auf. Jedem positiven Aspekt wird direkt ein negativer entgegengestellt. Andererseits fällt auch das extrem brutale Vokabular auf, mit dem Henry hier aufwartet und Harfleur einschüchtert. Seine Rede endet mit den drei Fragen »What say you? Will you yield and this avoid? / Or, guilty in defence, be thus destroyed?«, deren Beantwortung der Zuschauer schon längst antizipiert hat: Der Governor kapituliert, kampflos marschiert Henry ein. Die Rede ist durch ihr drastisches Vokabular und durch die rücksichtslose Andeutung von Kriegsverbrechen wirkungsvoll, jedoch erscheint sie aus anderer Perspektive flach, da sie stets ein und dasselbe Argument mit These und Antithese wiederholt. In der Metaphorik ist sie konstant, sie glorifiziert nicht den Krieg, sondern stellt ihn durchaus als etwas Böses dar. Kullmann schlußfolgert weiter: »Wie immer in den Reden des Königs erscheint der Krieg als etwas Böses, Unfrommes und Teuflisches, das jedoch offensichtlich im Interesse eines höheren Guts in Kauf genommen wird.«579
579 Kullmann, S. 136.
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Shakespeare, King Henry V
7.9
Heroische Darstellung Henrys vor der Schlacht von Agincourt (IV,Chorus)
Zu Beginn des vierten Aktes stimmt der Chorus das Publikum auf die bevorstehende Schlacht von Agincourt ein, indem er uns in der ersten Hälfte ein Stimmungsbild sowohl auf englischer als auch auf französischer Seite kontrastiv wiedergibt. In der zweiten Hälfte seiner Rede richtet er den Fokus in bekannt patriotischer Form auf Henry V. In seinem 16 Verse umfassenden exordium führt der Chorus das Publikum mittels direkter Ansprache »Now entertain conjecture of a time« (IV,Chor. 1) in die Atmosphäre des Aktes ein: »Now entertain conjecture of a time When creeping murmur and the poring dark Fills the wide vessel of the universe. From camp to camp through the foul womb of night The hum of either army stilly sounds, That the fixed sentinels almost receive The secret whispers of each other’s watch.« (IV,Chor. 1–7)
Die Eingangsbeschreibung mit »creeping murmur and the poring dark / Fills the wide vessel of the universe« (IV,Chor. 2f.) offenbart bereits eine ebenso finstere wie auch angespannte Situation. In den nachfolgenden Versen werden dieser Skizze Details hinzugefügt, wodurch die Dramatik verstärkt wird. Die Dunkelheit der Nacht wird erfüllt vom Summen beider Armeen (»The hum of either army stilly sounds«) und dem heimlichen Geflüster sowohl englischer als auch französischer Nachtwachen, das jeweils von der Gegenseite beinahe wahrgenommen werden kann (IV,Chor. 6f.). Daß beide Lager sich in der gleichen Situation befinden, wird in den folgenden Versen vom Chorus veranschaulicht: »Fire answers fire, and through their paly flames Each battle sees the other’s umbered face. Steed threatens steed, in high and boastful neighs Piercing the night’s dull ear; and from the tents The armourers accomplishing the knights, With busy hammers closing rivets up, Give dreadful note of preparation.« (IV,Chor. 8–14)
Darüber hinaus bescheinigt die Darstellung die Unausweichlichkeit der bevorstehenden Schlacht. Der Chorus stellt Elemente wie »Fire answers fire« (Vers 8), »Each battle sees the other’s umbered face« (Vers 9) und »Steed threatens steed« (Vers 10) syntaktisch gegenüber. Die Alliteration »armourers accomplishing« (Vers 12) unterstützt hierbei die inhaltliche Darstellung der Waffenschmiede, die »with busy hammers« (IV,Chor. 13) die Ritter vorbereiten.
Heroische Darstellung Henrys vor der Schlacht von Agincourt (IV,Chorus)
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Die in der Szene vorherrschende Spannung beschreibt Danson wie folgt: »The tension with which we see and hear the uncreated scene is like the tension of the English and French ›fix’d sentinels‹ who ›almost receive / The secret whispers of each other’s watch‹ (ll. 6–7). We strain to hear a murmur that is synesthetically ›creeping‹ and to see a ›dark‹ that is ›poring‹ both because, by transference, it is ›eye-straining‹ (Arden ed. note) and because, by punning, it is filling ›the wide vessel of the universe‹ (ll. 2–3). The tenseness of the scene is embodied in a series of imagistic and syntactical oppositions, as ›fire answers fire‹ and ›steed threatens steed‹ (ll. 8–10) […].«580
Ihren Höhepunkt findet die Spannung am Ende des exordiums mit der Alliteration »The country cocks do crow, the clocks do toll« in Vers 15. Danson sieht in den Versen eine Lockerung dieser Anspannung.581 Von hier aus geht der Chorus über in die Darstellung der Franzosen, die genauso negativ ausfällt, wie in Akt II: »Proud of their numbers and secure in soul, The confident and over-lusty French Do the low-rated English play at dice, And chide the cripple tardy-gaited night Who like a foul and ugly witch doth limp So tediously away.« (IV,Chor. 17–22)
In einem einzigen Satz rekapituliert der Chorus die Verhaltensweise der Franzosen. Besonder auffallend sind hier die benutzten Adjektive »proud«, »secure«, »confident« »over-lusty«, mit denen der Chorus den Franzosen eindeutig Hybris attestiert. Sie sind sich aufgrund ihrer Überzahl zu selbstsicher, ja sogar selbstgefällig und glauben nicht an eine mögliche Niederlage. Gesteigert wird das Hybris-Motiv in Vers 19 mit »Do the low-rated English play a dice«: der durchweg gefahrvolle Kriegszustand wird zu einem leichtsinnigen Würfelspiel, wer wieviele Engländer besiegen kann, pervertiert.582 Den diametralen Gegensatz dazu liefert die Chorusfigur direkt im Anschluß mit der Charakterisierung der Engländer, denen keine Form der Hybris unterstellt wird: »[…]. The poor condemned English, Like sacrifices, by their watchful fires Sit patiently and inly ruminate The morning’s danger; and their gesture sad, Investing lank-lean cheeks and war-worn coats,
580 Danson, »Henry V: King, Chorus, and Critics«, S. 31. 581 Vgl. Danson, »Henry V: King, Chorus, and Critics«, S. 31. 582 Die Negativbeschreibung der Franzosen trägt subtil zur positiven Darstellung der Engländer. Vgl. dazu auch Lubrich, S. 28.
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Shakespeare, King Henry V
Presenteth them unto the gazing moon So many horrid ghosts.« (IV,Chor. 22–28)
Beinahe aussichtslos mag die Situation für die Engländer erscheinen, die als »poor«, »condemned« und »like sacrifices« in ihrem Lager hocken. Während die Franzosen übermütig und ungeduldig das Ende der Nacht herbeisehnen, sitzen die Engländer im direkten Gegensatz dazu geduldig (»patiently«) an ihrem Feuer und grübeln intensiv über die nahende Gefahr (»inly ruminate / The morning’s danger«). Statt kriegslüstern zu sein, sehen sie mit »gesture sad«, »lank-lean cheeks« und »war-worn coats« vielmehr kriegsmüde und kampfunwillig aus. Der vorhin erwähnte Vergleich der Engländer mit den Opfern (»like sacrifices«) bestärkt diesen Eindruck. Ihre gesamte Erscheinung entspricht »many horrid ghosts« (IV,Chor. 28) statt stolzer Soldaten. Der Chorus lenkt hier die Sympathien des Publikums zu Gunsten der Engländer, deren erbärmliche Erscheinung beim Publikum vielmehr ein benevolum parare hervorruft, als bei den überheblichen Franzosen. Ab der zweiten Hälfte in Vers 28 lenkt er im Sinne des benevolum parare den Fokus auf Henry V., der als »royal captain« durch das Lager seiner Soldaten geht. Wieder zeichnet der Chorus pathetisch ein stilisiertes Bild von Henry als ideale Herrscherfigur: »[…] O now, who will behold The royal captain of this ruined band Walking from watch to watch, from tent to tent, Let him cry ›Praise and glory on his head!‹ For forth he goes and visits all his host, Bids them good morrow with a modest smile, And calls them brothers, friends and countrymen. Upon his royal face there is no note How dread an army hath enrounded him, Nor doth he dedicate one jot of colour Unto the weary and all-watched night, But freshly looks and overbears attaint With cheerful semblance and sweet majesty, That every wretch, pining and pale before, Beholding him plucks comfort from his looks. A largess universal, like the sun, His liberal eye doth give to every one, Thawing cold fear, that mean and gentle all Behold, as may unworthiness define, A little touch of Harry in the night.« (IV,Chor. 28–47)
Obwohl die Lage aussichtslos für die englischen Truppen – dem »ruined band« – erscheint, schreitet Henry heroisch durch sein Lager. Der Chorus stellt ihn mit einem »modest smile« als den positiven Gegensatz zu seinen eigenen Truppen
Henry V. getarnt als einfacher Soldat; Argumentationslogik (IV,1,1–160)
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dar: Er trotzt heroisch der Umzingelung durch die Franzosen und läßt sich nichts anmerken, wie der Chorus es mit »Upon his royal face there is no note / How dread an army hath enrounded him« (IV,Chor. 35f.) zusammenfaßt. Anstatt blaß und verunsichert zu wirken, präsentiert der Chorus dem Publikum einen unverkrampften und souveränen Feldherrn (IV,Chor. 39f.), was nur noch durch das chiastische »cheerful« und »sweet« in Vers 40 gesteigert wird. Dennoch ist Henry frei von jedweder Hybris. Er wird vielmehr vom pathetischen Chorus zu einem heroischen Herrscher stilisiert, der seine Truppen moralisch unterstützt und Trost spendet: »That every wretch, pining and pale before, / Beholding him plucks comfort from his looks.« (IV,Chor. 41–42).583 Genauso wie zu Beginn des zweiten Aktes zeichnet der Chorus ein überaus vorteilhaftes Herrscherbild von Henry, versehen mit einer tugendhaften modestia. Er stellt sich mit seinen Soldaten auf die gleiche Stufe, wenn er sie »brothers, friends and countrymen« (IV,Chor. 34) nennt, er wird aufgrund seiner Großherzigkeit mit der Sonne verglichen, nur mit dem Unterschied, daß seine Strahlkraft seinen Untertanen die Furcht vor der Schlacht nimmt. Die Darstellung Henrys durch den Chorus ist hier in gesteigerter Form allzu einseitig und allzu glatt. Der Chorus »idealisiert […] den englischen König geradezu elegisch in verschiedenen Registern«584 Dem Publikum erscheint Henry V. als makelloser König, der auch unter den widrigsten Umständen nichts an Souveränität einbüßt. Doch ist die Chorusfigur auch in Akt IV wieder unzuverlässig und erfüllt nicht die in diesem Redebeitrag geschürte Publikumserwartung: »Dieses heroische Bild des Königs wird in den unmittelbar darauf folgenden Szenen Detail für Detail widerlegt. Henry geht zwar durch das Lager, doch er verbirgt seine Identität vor den Soldaten, kann sie somit nicht mit seinem herrscherlichen Charisma für den Kampf entflammen.«585
7.10 Henry V. getarnt als einfacher Soldat; Argumentationslogik (IV,1,1–160) Der vierte Akt markiert eine Wende in Henry V gleich in zweierlei Hinsicht: zum einen gibt uns die Chorusfigur darüber Aufschluß, daß die Kampfhandlungen für die englische Seite nicht zufriedenstellend laufen: »[…] The poor condemned English, Like sacrifices, by their watchful fires 583 Vgl. Lubrich, S. 26. 584 Lubrich, S. 26. 585 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 66f. Siehe das nachfolgende Unterkapitel.
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Shakespeare, King Henry V
Sit patiently and inly ruminate The morning’s danger; […].« (IV,Chor. 22–25)
Andererseits erlebt der Zuschauer bereits in der ersten Szene einen rhetorischen Schlagabtausch zwischen Henry und Williams. Beide Reden gewähren uns philosophische und psychologische Einblicke in die beiden oben genannten Charaktere.586 Die dabei alles bestimmende Frage lautet: Trägt der König für das Schicksal bzw. den Tod seiner Soldaten die Verantwortung? Durch seine Tarnung als einfacher Soldat mit dem Pseudonym »Harry le Roy« erfährt Henry zum ersten Mal die Sorgen und Ängste der gemeinen Soldaten.587 Wieder zeigt uns diese Szene die Ambivalenz von Henrys Charakter: tarnt er sich aus Angst vor seiner Verantwortung im Feldlager? Oder tarnt er sich, um so in der Rolle als gewöhnlicher Mann eher und ungefiltert an Informationen aus der breiten Masse zu gelangen? Daß er, der König, auch nur ein Mensch ist, versucht er mittels seines Alter Ego den anderen im Lager befindlichen Personen zu verdeutlichen (IV,1,102–106): »[…] I think the King is but a man, as I am: […] all his sense have but human conditions; his ceremonies laid by, in his nakedness he appears but a man.« Doch, wie Suerbaum schreibt, überzeugt er dadurch nicht: »Seine Worte über die gemeine Menschennatur des Königs finden keinen Widerhall, und auf die Behauptung, der König wolle seines Wissens nirgends anders sein als dort, wo er jetzt sei, erhält er die Antwort: ›Then I would he were here alone.‹«588
Die Szene offenbart ohne Beschönigung in der Nacht vor der Schlacht die pessimistische und zweifelnde Grundhaltung der Soldaten, u. a. John Bates, Alexander Court und Michael Williams. Erst mit ihrem Auftritt beginnt der rhetorisch interessante Part. Alle drei teilen die Angst vor dem nächsten Morgen, etwa Bates mit »we have no great cause to desire the approach of day« (IV,1,88f.) oder Williams mit der Betonung auf das Ungewisse (IV,1,90–93): »We see yonder the beginning of the day, but I think we shall never see the end of it.« Dementsprechend skeptisch betrachten sie Henrys zuvor genannte Ansprache, nur ein Mensch genauso wie jeder andere zu sein. Vielmehr sind sie mit ihrer Todesangst befaßt, als daß sie sich intensivere Gedanken um ihren König machen können 586 Vgl. Suerbaum, »Shakespeare, Henry V«, S. 96–113, hier: S. 110: »Der dramatische Akzent wird auf die Vorbereitung zur Schlacht gesetzt, besonders auf Heinrichs berühmten Gang durch das nächtliche Lager […].« 587 Die Szene stellt wieder ein anderes Bild von Henry V. dar, als zuvor zu Beginn des vierten Aktes vom Chorus vorhergesagt. In der Darstellung des Chorus wird nicht erwähnt, daß Henry getarnt durch das Lager geht. Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 66–67. 588 Suerbaum, »Shakespeare, Henry V«, S. 96–113, hier: S. 111. Für Mittelbach, S. 106, ist Henrys Äußerung sowohl komisch als auch tragisch, sieht er Henry doch als jemanden, der aus seiner Königrolle nicht entkommen kann: »Der König ist jemand wie er selbst, ein König, keinesfalls aber ›a man‹ – ›ein Mensch‹. Henry kann nicht über sein Amt – über sich selbst – hinausgehen.«
Henry V. getarnt als einfacher Soldat; Argumentationslogik (IV,1,1–160)
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oder wollen, was besonders durch Bates’ Gleichgültigkeit u a. in IV,1,113–117 zur Schau gestellt wird. Der ursprüngliche Dialog zwischen Henry und Bates leitet mit Henrys »his cause being just and his quarrel honourable« (IV,1,127f.) Satz ungewollt über zu einer philosophischen Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Krieges und über die Haftungsfrage. Henrys ad rem mit dem Fokus auf der Gerechtigkeit und dem Ehrenvollen funktioniert nicht und wird von Bates und Williams übergangen: »That’s more than we know« (V. 129). Bates untermauert Williams’ Äußerung durch »for we know enough if we know we are the King’s subjects« (V. 130f.). Fast schon gleichgültig fügt er an: »If his cause be wrong, our obedience to the King wipes the crime of it out of us.« Damit spricht er sich von jeglicher Rechenschaft frei und stellt kurzerhand klar, daß die beiden nur Befehlsempfänger und dadurch als Untertanen dem Gehorsam des Königs verpflichtet sind.589 Zum ersten Mal erleben wir, daß Henrys rhetorisches Kalkül nicht das gewünschte Ergebnis bringt. Im Gegenteil wird er nun mit seiner eigenen Methode, die Verantwortung stets von sich zu weisen, konfrontiert.590 Williams steigert die letzte Äußerung von Bates – hier gekennzeichnet durch das »But if« – und schiebt die gesamte Verantwortung, sofern dieser Krieg kein bellum iustum sei, Henry zu. Er fungiert als Henrys charakterliches Spiegelbild und »unterscheidet sich […] von Henry hinsichtlich seiner Strategie […] nur unwesentlich«591. Mit »the King himself hath a heavy reckoning to make« in Vers 135 erhöht er den Druck auf den König, was durch das Pronomen sowie die sich anfügende Alliteration unterstützt wird. Ebenso geschieht dies bei Williams’ Ausschmückung seiner Argumentation, die durch die Verknüpfung von Alliteration »all […] and arms and« und Anapher bzw. Polysyndeton »and« die Bedeutung des Verbs, hier »chopped off«, illustrieren: »[…] when all those legs and arms and heads chopped off in a battle shall join together at the latter day and cry all ›We died at such a place‹, some swearing, some crying for a surgeon, some upon their wives left poor behind them, some upon the debts they owe, some upon their children rawly left.« (IV,I,135–141)
Anscheinend verbirgt sich unbewußt hinter der Personifikation der Körperteile (»shall join together […]«) eine Anspielung auf den body politic, welcher hier verkehrt wird. Im Wesentlichen gründet sich Williams’ Rhetorik auf ein Mitleidsargument, welches durch die Parallelismen schwerwiegender erscheint. Bei aller Schlichtheit in Williams’ Rhetorik versteckt sich zwischen den Anaphern mit »some« die Klimax »some swearing, some crying for […]«: aus dem Fluchen wird 589 Vgl. Gould, »Irony and Satire in ›Henry V‹«, S. 92: »Bates and Williams argue that there is heavy responsibility on the King ›if the cause be not good‹, and that they, having no choice but to obey, do not know whether the cause is good or not.« 590 Vgl. Mittelbach, S. 103. 591 Mittelbach, S. 104.
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ein (verzweifeltes) Weinen. Seine weitschweifigen Ausführungen gipfeln in 143– 146 in einen Vorwurf, die conclusio positioniert Henry in einer moralischen Zwickmühle: wenn seine Soldaten nicht für eine gerechte Sache stürben, so sei dies einzig Henrys Schuld, weil er als Monarch seine Untertanen dazu geführt habe.592 Denn die Pflicht des Untertanen sei es, dem Regenten (unabdingbar) zu gehorchen: »[…] it will be a black matter for the King, that led them to it, who to disobey were against all proportion of subjection.« Nach Mittelbach ist dies eine »Ausflucht, mit der er dem König die alleinige Verantwortung zuschiebt: Nun sei King Henry daran schuld, wenn er, Williams, nicht ›gut‹ stürbe«593. Shakespeare selbst scheint bei Williams die Verantwortung Henrys auf die grammatikalische Ebene übertragen zu haben: »crying« als Prädikat regiert mehrere Sätze bzw. es regiert verschiedene Objekte für die verschiedenen Teilsätze. Für Henrys Fall bedeutet dies, ein König trägt die Verantwortung und leitet die Geschicke für mehrere, verschiedene Untertanen bzw. Soldaten. Genau hierin liegt nun der Disput: Henry sieht sich nicht in der Haftung für seine Soldaten und versucht nun, Williams’ Syllogismus nach seiner Sicht der Dinge zu entkräften. Die Argumentation aus Williams’ und Henrys Part gliedert sich – soviel ist offensichtlich – in probatio und refutatio. Letztere kommt nun Henry zu, um Williams’ positive Beweisführung schlußendlich zu widerlegen. Mittels zweier Gegenbeispiele widerspricht Henry. Das einleitende »So if« (V. 147) impliziert, daß Williams nach Henrys Auffassung sachlich falsch argumentiert.594 Dieser Eindruck wird in diesem Beispiel durch die Parenthese »by your rule« (V. 149) verschärft. Von Vers 147–154 führt Henry seine beiden Beispiele an, gewiß nicht ohne Williams’ mögliche Deutung zu umreißen: »[…] the imputation of his wickedness, by your rule, should be imposed upon his father that sent him; […] you may call the business of the master the author of the servant’s damnation.« (V. 149–154) Wäre es Williams gewesen, wäre die Argumentation nach dieser Passage beendet. Für Henry waren diese Beispiele gerade der Auftakt zu seiner Darlegung, wie das stark antithetische »But this is not so« ankündigt: »the King is not bound to answer the particular endings of his soldiers, the father of his son, nor the master of his servant; for they purpose not their death when they purpose their services.« (IV,1,155–158)
In seinem Triptychon stellt er sich auf die gleiche Ebene wie die Charaktere seiner Beispiele. Die formale Begründung, warum er, King Henry, nicht in der Verantwortung für seine Untertanen steht, beschränkt sich ausschließlich auf den
592 Vgl. Mittelbach, S. 104. 593 Mittelbach, S. 104. 594 Die Taktik Henrys ähnelt einer reductio ad absurdum.
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Satz »for they purpose not their death when they purpose their services«: alle drei, d. h. der König, der Vater und der Herr, verlangen nicht aktiv oder bewußt von ihren Mitmenschen zu sterben. Der Tod ist, anders ausgedrückt, auf die Unachtsamkeit oder den Zufall zurückzuführen, nicht aber beispielsweise auf den ausdrücklichen Wunsch des Königs. Die Argumentation wird dadurch vertieft, daß nicht alle von Henrys Soldaten gänzlich unschuldig – »unspotted soldiers« (IV,1,160) – seien. Mit dieser These verknüpft Henry wieder drei Beispiele, Mord, Vergewaltigung, Plünderung, die er ebenso wie Williams durch »some« verbindet. Mühevoll versucht Henry, Williams’ Auffassung, der König habe nicht nur für den Tod seiner Soldaten die Verantwortung zu tragen, sondern auch für deren Kriegsverbrechen, zu widerlegen und die damit verbundene Schuldfrage von sich zu weisen. Der Krieg, so Henry, ist Gottes Werkzeug zur Strafe und Vergeltung gegen die Kriegsverbrecher: »War is his beadle, war is his vengeance; so that here men are punished for before breach of the King’s laws in now the King’s quarrel.« (IV,1,168–170) Damit versucht er indirekt, seinen Feldzug auf religiöser Ebene zu rechtfertigen, ebenso wie es Canterbury zu Beginn des Dramas versuchte. So schließt Henry mit der apodiktischen Aussage (IV,1,175ff.): »Every subject’s duty is the King’s, but every subject’s soul is his own.« Über das weitere Seelenheil liegt die alleinige Entscheidung bei Gott: »Therefore should every soldier in the wars […] wash every mote out of his conscience; and dying so, death is to him advantage; or not dying, the time was blessedly lost wherein such preparation was gained; and him that escapes, it were not sin to think that, making God so free an offer, he let him outlive that day to see his greatness and to teach others how they should prepare.« (IV,1,177–184)
Trotz dieser langen und weitschweifigen Ausführung kann Henry seine Zuhörer nicht grundlegend überzeugen, vielmehr bleiben sie ihm gegenüber mißtrauisch.595 So erscheint Williams’ erste Reaktion »the King is not to answer it« (IV,1,186) wie eine Resignation. Ebensowenig zeigt sich Bates von Henrys Erklärung überzeugt: »Bates’ moralische Rechtfertigung ist also seine Gehorsamspflicht dem König gegenüber. Deshalb kann er sagen: ›I determine to fight lustily for him‹ (4.1.188), auch wenn er lieber bis zum Hals in der Themse stünde, wo die Gefahr, das Leben einzubüßen, vergleichsweise gering wäre und höchstens eine Erkältung drohen würde.«596
Auf die Fragen von Williams und Bates geht Henry gar nicht ein, sondern weicht dem eigentlichen Problem aus. Generell setzt sich seine Argumentation aus ir-
595 Vgl. IV,1,192–192. Vgl. auch Kullmann, S. 138. 596 Mittelbach, S. 104.
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relevanten Details, die nicht zum Kern der Diskussion gehören, zusammen.597 So resümiert auch Baumann: »In der berühmten Diskussion mit den drei Soldaten Williams, Bates und Court […] wirkt Henry keineswegs überzeugend; weitschweifig und gelehrt argumentiert er, aber den grundsätzlichen Fragen weicht er aus […].«598
Crider unterscheidet Henrys Redekunst in zwei Kategorien, als »orchestration or speech«, die sich darin unterscheiden, daß die »speeches« stets erfolgreich verlaufen sind.599 Die Passage IV,1,90–229 weist Crider eindeutig der Kategorie »orchestration« zu. Geradezu weil Henry seine Diskussionspartner nicht zu überzeugen vermag, hat seine Rede an dieser Stelle ein offenes Ende. Mögliche Gründe für Henrys schlechte rhetorische Leistung gibt es viele: einerseits verspürt er selbst eine Aufregung und Unsicherheit am Vorabend der Schlacht und kann sich deshalb nicht voll auf seine Fähigkeit als Redner verlassen. Andererseits fällt sein schnörkelloser Prosastil in Akt IV auf, der beispielsweise seiner Rede in III,3 diametral entgegensteht. Es wäre denkbar, daß dies ein weiteres Detail von Henrys Tarnung im Lager der Soldaten ist und er auf gar keinen Fall bei seinen Gesprächspartnern auffallen will. Denn sobald die Soldaten Williams und Bates die Szene verlassen, wechselt Henry mit dem Beginn seines Monologs zurück in die Versform.
7.11 »No, thou proud dream« – Henrys Reflektionsmonolog (VI,1) Der Reflektionsmonolog legt Henrys Gefühle und Denken offen: in einer Mischung aus Wehklagen (»O hard condition, / Twin-born with greatness, subject to the breath / Of every fool whose sense no more can feel / But his own wringing!«), rhetorischen Fragen (»And what have kings that privates have not too, / Save ceremony, save general ceremony?«) und Ausrufen (»What infinite heart’s ease / Must kings neglect that private men enjoy!«) kommt seine innere Zerrissenheit zum Vorschein. Zweifelsohne bietet sich die Zuordnung zum genus demonstrativum an. Auffällig ist die Zweiteilung von Henrys Monologs: Erpinghams Auftritt markiert eine klare Zäsur in Henrys Rede und weckt vorüberge-
597 Vgl. Gould, »Irony and Satire in ›Henry V‹«, S. 92: »[…] Henry replies with an irrelevant and hypocritical discourse on the sins that may have been committed before the war.« 598 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 67. 599 Vgl. Crider, S. 72: »The orchestrations are less successful than the speeches, […].«
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hend wieder den Staatsmann und Politiker in ihm.600 Noch vom Chorus zum Auftakt des vierten Akts wurde Henry als heroischer König wie folgt beschrieben: »Upon his royal face there is no note How dread an army hath enrounded him, […] But freshly looks and overbears attaint With cheerful semblance and sweet majesty, That every wretch, pining and pale before, Beholding him plucks comfort from his looks. A largess universal, like the sun, His liberal eye doth give to every one, Thawing cold fear […]« (IV,Chor. 35–45)
Von der vom Chorus etablierten Figur eines »Heldenkönigs«601 ist in Henrys Äußerungen nicht mehr viel übrig geblieben. Henrys Monolog »zerstört vollends die […] so nachdrücklich vor Augen geführte Aura des sendungsbewussten, selbstsicheren Heldenkönigs«602. Wie ein Schatten seiner selbst wirkt er nun. Bereits in der Überleitung zum Monolog karikiert Henry Bates’ und Williams’ Verhalten, welche die Verantwortung auf den König schieben wollten. Sein Ausruf »Upon the King! ›Let us our lives, our souls, / Our debts, our careful wives, / Our children and our sins lay on the King!‹« (IV,1,227–229) zeigt jedoch seine Unsicherheit und sein Unbehagen gleichermaßen. Das Pronomen »our« verstärkt in der Aufzählung noch den Eindruck, daß der König eine schwere Bürde aufgeschultert bekommen hat. Einerseits vermochte er die Soldaten nicht zu überzeugen, andererseits fühlt Henry sich nun in seiner Funktion alleingelassen, wie Vers 230 mit der Klage »We must bear all. O hard condition« belegt. Alles lastet nun auf ihm, Sieg oder Niederlage, Überleben oder Tod.603 Einen Großteil des Monologs nimmt der beständige Vergleich Henrys zwischen König und Untertanen ein. So vergleicht er seine Situation mit der der Bürger (»What infinite heart’s ease / Must kings neglect that private men enjoy!«) oder später das einem König gebührende Zeremoniell – hier metaphorisch für die Ämter und Verantwortung des Königs – mit dem einfachen Leben eines Sklaven: »Not all these, laid in bed majestical, Can sleep so soundly as the wretched slave, Who with a body filled and vacant mind Gets him to rest, crammed with distressful bread:« (IV,1,264–267) 600 Vgl. Altman, »›Vile Participation‹: The Amplification of Violence in the Theater of Henry V«, S. 28. 601 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 67. 602 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 67. 603 Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 67.
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»Er beneidet einfache Menschen, die nachts ruhig schlafen können, während er wachen muß ›to maintain the peace,/ Whose hours the peasant best advantages‹ (IV, 1, 283f.).«604 Zudem sieht er sich als König gegenüber dem einfachen Volk – hier durch Henry als »wretched slave« kontrastiert – im Nachteil: »[…] such a wretch, Winding up days with toil and nights with sleep, Had the fore-hand and vantage of a king« (IV,1,275–277)
Neben der Schwere seiner Aufgabe, die ihm den Schlaf raubt, richtet sich seine Klage zusätzlich gegen die Einsamkeit, die er als Verantwortlicher zu ertragen hat.605 Ein tieferer Sinn verbirgt sich hinter der Apostrophe »ceremony« bzw. »adoration« in Vers 236 bzw. 242. Einerseits beklagt er die »ceremony« als eine Last des Königseins: »What kind of god art thou, that suffer’st more / Of mortal griefs than do thy worshippers?« Andererseits hinterfragt er, ob die »adoration«, die Anbetung bzw. Verehrung des Monarchen also, nicht ausschließlich auf »place, degree and form« basieren, deren Sinn wiederum Henry wie folgt paraphrasiert: »Creating awe and fear in other men, / Wherein thou art less happy, being feared, / Than they in fearing?« An dieser Stelle scheint er nicht nur das einfache Volk zu beneiden, im Gegenteil er scheint an der dem König gebührenden Anbetung zu zweifeln, da sie auf Angst und Schrecken basiere.606 Die Anbetung fußt mehr auf giftiger Schmeichelei (»poisoned flattery«) statt auf süßer Huldigung (»homage sweet«) wie er in Vers 247f. kundtut.607 Seinen Titel bezeichnet er selbst als »The farced title running ’fore the king«, womit er gemäß Mittelbach seine »relative Machtlosigkeit« und seine durchaus zweifelhaften Thronansprüche dem Zuschauer offenbart.608 Henry fürchtet also einen trügerischen Gehorsam, hinter dem sich im schlimmsten Fall ein Staatsstreich verbergen könnte. Henrys Furcht ist durchaus nachvollziehbar, deutet seine Passage um »ceremony« bzw. »adoration« schließlich auf Vers 289ff. voraus, in dem er durchaus um seinen zweifelhaften Machtanspruch weiß:
604 Kullmann, S. 138. 605 Vgl. Suerbaum, »Shakespeare, Henry V«, S. 96–113, hier: S. 112. Vgl. Schruff, S. 233f. 606 Vgl. auch Dollimore, Sinfield, »History and ideology«, S. 218, welche das von Henry vorgebrachte Paradoxon beleuchten. 607 Vgl. Dollimore, Sinfield, »History and ideology«, S. 217. Die durch Lucius Accius belegte Sentenz »Oderint, dum metuant«, die dem Kaiser Caligula als Motto zugeschrieben wird, erscheint im Kontext von Henry V verdreht. Während es Caligula ein eigensinniges Vergnügen bereitete, seinen Respekt aus dem Haß der Bevölkerung zu ziehen, fürchtet Henry hingegen die unaufrichtige Ehrerbietung auf Basis von Angst und Schrecken. 608 Mittelbach, S. 102.
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»[…]. Not today, O Lord, O not today, think not upon the fault My father made in compassing the crown.« (IV,1,289–291)
Die Schmeichelei ist ein ebenso unsicherer Garant auf »seine« Krone wie seinerzeit die Usurpation durch seinen Vater.609 Latent fürchtet er, daß sich die Geschichte rächen könnte.610 Henry sagt es zwar nicht, doch kann man es erahnen: es ist das Hintergrundwissen, das zusätzlich Henrys Neid auf den einfachen Mann aus dem Volke begründet. Schließlich weiß das einfache Volk nicht um den wackeligen Thronanspruch seines Monarchen: »But like a lackey from the rise to set Sweats in the eye of Phoebus, and all night Sleeps in Elysium; next day after dawn Doth rise and help Hyperion to his horse, And follows so the ever-running year With profitable labour to his grave.« (IV,1,269–274)
In Henrys Metaphorik steht der Vergleich »like a lackey« als Pars pro Toto für die ahnungslose Masse, die nachts sorgenfrei im Elysium schlafen kann, also das tun kann, was Henry – wie zuvor erwähnt – momentan entbehrt. Erst Erpinghams Auftritt läßt Henry wieder auf die bevorstehende Schlacht konzentrieren. Er markiert eine Zäsur in Henrys Monolog: seine anfängliche Klage über seine Situation mutiert fortan zu einem Gebet. Hierbei zerfällt das Gebet in zwei Teile, was durch die Anrufung der Götter markiert wird: »God of battles« steht »Lord« in Vers 289 diametral gegenüber. Die Zuständigkeit des »Kriegsgottes« beschränkt sich einzig darauf, Henrys Soldaten die Furcht zu nehmen und ihre Herzen zu stählen (»[…] steel my soldiers’ hearts; / Possess them not with fear.«), so daß England über Frankreich siegen kann. Eine Bitte, die an dieser Stelle geradezu klischeehaft wirkt. Der längere zweite Teil seines Gebets ist hingegen an Gott im christlichen Sinne gerichtet. Hier »fällt die Maske und Henrys wahres Gesicht kommt zum Vorschein«, wie Mittelbach es formuliert.611 Obwohl er offen zugibt, an seiner Handlungsweise zu zweifeln, weist er dennoch wieder die Schuld von sich: »[…] Not today, O Lord, O not today, think not upon the fault My father made in compassing the crown. I Richard’s body have interred new, And on it have bestowed more contrite tears Than from it issued forced drops of blood. 609 Vgl. Crider, With what persuasion?, S. 66. 610 Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 67. 611 Mittelbach, S. 113.
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Five hundred poor I have in yearly pay, Who twice a day their withered hands hold up Toward heaven to pardon blood; and I have built Two chantries, where the sad and solemn priests Sing still for Richard’s soul. More will I do, Thouch all that I can do is nothing worth, Since that my penitence comes after all, Imploring pardon.« (IV,1,289–300a)
Sein Vater hat die Schuld auf sich geladen und an seinen Sohn Henry vererbt. Von dieser Schuld glaubt Henry sich reinwaschen zu können, indem er ab Vers 292 Gott von seinen ›guten Taten‹ wissen läßt: »Er bemerkt gar nicht, daß er sich, indem er Gott an seine Gottgefälligkeit erinnert, ganz und gar nicht gottgefällig verhält.«612 Henry verfährt nach der für ihn typischen Verhaltenstaktik, nämlich alle Verantwortung abzulehnen. Sofern man jenes Gebet als Rede verstehen will, kommt es dem genus iudiciale äußerst nahe. Henrys Aufzählung entspricht einer narratio in Kombination mit einer schwachen argumentatio. Er will nicht den Feldzug gegen Frankreich verteidigen, sondern sich als das Opfer seines Vaters darstellen und durch seine oben genannten Taten in ein positives Licht rücken. Dies wiederum wird genustypisch durch die Aufzählung – eine probatio inartificialis – bezweckt. Die ironische Note, daß gerade er dem allwissenden Gott eine Auflistung seiner Taten ins Gedächtnis ruft, unterstreicht, in welch auswegloser Situation Henry sich sieht. Damit einhergehend stellt ab Vers 299 das Ende, die conclusio613, mögliche zukünftige Taten in Aussicht: »[…] More will I do, Though all that I can do is nothing worth, Since that my penitence comes after all, Imploring pardon.« (IV,1,299–302a)
Der voller Tatendrang strotzende Auftakt zur peroratio mit »More will I do« wird alsbald im Folgevers durch das konzessive »Though« abgeschwächt. Dazu trägt der Wechsel des Modalverbs von »will« zu »can« zusätzlich bei. Zwar verhält sich Henry durch seine kleine Inszenierung nicht gottgefällig, doch alleine dadurch versucht er in seiner Apostrophe ein benevolum parare zu erwirken. Auch wenn im Monolog der Wechsel von einer Klage zum Gebet eine Zäsur darstellt, so werden erst im Gebetsteil Henrys Zweifel am Thron deutlich, die zuvor lediglich latent zu erahnen waren. 612 Mittelbach, S. 113. 613 Evtl. wäre hier der Begriff peroratio treffender, da Henry keine Aspekte seines Monologes am Ende zusammenfaßt, sondern durch den Tempuswechsel und seinem »More will I do […]« – wenn auch äußerst vage – weitere Taten in Aussicht stellt.
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Beide hier synonyme Begriffe lassen einerseits das Königtum wie eine beständige Last erscheinen, es scheint aus Henrys Sicht der Dinge überhaupt keine positiven Aspekte seiner Rolle und Funktion zu geben.
7.12 Crispian’s Speech (IV,3) Den dramatischen Höhepunkt bildet die dritte Szene des vierten Akts. Schien Henry am Vorabend der Schlacht äußerst angespannt und verunsichert, präsentiert er sich am Morgen anders: »Nach einer schlaflosen Nacht des Grübelns findet Henry am nächsten Morgen die Kraft, mit einer brillanten Rede sein kleines Heer zu einer brüderlichen Solidargemeinschaft zusammenzuschweißen […].«614 Wohingegen Exeter, Salisbury und Westmorland die gegenüber den Franzosen schlechte Ausgangslage besprechen – beispielsweise Exeters »There’s five to one; besides, they all are fresh« in IV,3,4 – und berechtigte Zweifel an einem englischen Sieg haben, belächelt Henry Westmorlands Wunsch nach mehr Soldaten (»O that we now had here / But one ten thousand of those men in England / That do no work today!«): »What’s he that wishes so?« (IV,3,18) Die Rede, die in ihrer Grundstruktur dem genus deliberativum zugeordnet wird, umfaßt die Verse 18 bis 78 und beginnt als eine an Westmorland gerichtete Antwort. Die Rede im Ganzen ausschließlich als pathetische Antwort Henrys auf Westmorlands Äußerung zu verstehen, wäre theoretisch möglich, würde allerdings der Redeintention nicht gerecht werden. Deshalb erscheint es sinnvoller, daß sich Henry beim Reden dem Plenum zuwendet. Im Drama ist dies die zweite Rede des Königs, die unmittelbar vor einer Kampfhandlung gehalten wird. Erstere fand in Akt III bei der Eroberung Harfleurs statt. Hier in Akt IV gliedert sich seine Rede in zwei größere Teile: der erste ist die bereits erwähnte Antwort an Westmorland (IV,3,18–39), der zweite Part umfaßt eine pathetische und patriotische Rede an sein Heer (IV,3,40–67). Beide Teile, die eine gemeinsame argumentatio umfassen, sind nicht strikt voneinander getrennt, sondern gehen fließend ineinander über, so daß eine Trennung kompliziert ist. Aufgrund des bekannten Redeanlasses entfallen hier eine propositio und eine narratio. Eine narratio, die abermals das militärische Kräfteverhältnis klarstellt, wird den Zuschauern zuvor durch Exeter, Salisbury und Westmorland geboten. Mit einem äußerst knappen exordium (Vers 18–23) ohne Umschweife geht Henry medias in res mit zwei antithetischen hypothetischen Sätzen. Dabei verwendet er die Kontraste Tod und (Über-)Leben als auch Verlust und Ehre:
614 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 67.
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»If we are marked to die, we are enough To do our country loss, and if to live, The fewer men, the greater share of honour.« (IV,3,20–22)
Interessant ist, daß Henry den wahrscheinlicheren Fall, nämlich eine Niederlage, voranstellt und zum schwächeren Argument macht. Das Unwahrscheinlichere ist Henrys stärkeres Argument.615 Die darin enthaltene Antithese von »fewer« und »greater« rückt die somit größere heroische Kampfleistung seines Heeres in den Fokus, was er abermals in Vers 23 explizit mit »I pray thee wish not one man more« betont.616 Die eng mit dem exordium verwobene argumentatio führt in geschickter rhetorischer Manier zunächst eine Negativbeschreibung an: er zählt auf, was er nicht will, wie etwa: »[…] I am not covetous for gold, Nor care I who doth feed upon my cost; It earns me not if men my garments wear: Such outward things dwell not in my desires« (IV,3,24–27)617
War der Beginn noch im Plural durch »we« markiert, wechselt Henry nun in den Singular. Drei Beispiele nennt er, die in Vers 27 paraphrasiert werden. Die Zusammenfassung ähnelt einer Klimax, die mit ihrer negativen Färbung durch die Verallgemeinerung »Such outward things« materielle Beweggründe Henrys beseitigen. Mit seiner Negativbeschreibung verfolgt er sein attentum, benevolum und docilem parare. Dadurch daß Henry mit seiner Meinung von der allgemeinen Meinung und Grundstimmung im Lager abweicht, wird zumindest die Aufmerksamkeit seines Publikums garantiert. Das benevolum parare schwingt beispielsweise in »I am not covetous for gold« als zweite Komponente mit, wird aber im weiteren Verlauf stärker ausgebaut. Ebenso verhält es sich mit dem docilem parare, was in Vers 27 evident wird: Henry erscheint seinem Publikum an »outward things« desinteressiert. Den zweiten Teil der argumentatio nutzt Henry, seinen Standpunkt den Zuhörern klarzumachen, daß er höhere Ziele von ideellem Wert verfolgt. Der Argumentationsaufbau fußt auf einem Konditionalsatz, der mittels des adversativen »But« die Gegendarstellung vorträgt: »But if it be a sin to covet honour I am the most offending soul alive.« (IV,3,28f.)
615 Henry befolgt das Vorbild antiker Sophisten, das schwächere Argument zum stärkeren zu machen. 616 Von der negativen Seite gesehen, kann man Henry hier Hybris vorwerfen. 617 Abhängig von der Auslegung, kann man in dieser Passage Henrys Negativbeschreibung ebenso als Bestandteil einer recusatio verstehen, die – möglicherweise fingierte – Vorwürfe zurückweist.
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Im Konditionalsatz verbirgt sich Henrys Anliegen »to covet honour«. Auch hier setzt er antithetische Begriffe – »sin« und »honour« – in direkten Bezug zueinander. Wenn das Erstreben von Ehre eine Sünde sein soll, dann ist er die »most offending soul alive«. Der Satz greift durch das übergreifende Polyptoton »covetous« – »covet« die zuvor angeführte Beschreibung auf und stellt »gold« und »honour« in Kontrast. Im Hauptsatz manipuliert Henry seine Zuhörer auf mehreren Ebenen: einerseits ist der Superlativ ein gängiges Mittel der Übertreibung, dessen Henry sich an dieser Stelle bedient. Zweitens ist seine Selbstdarstellung äußerst negativ, wodurch er das Bild eines demütigen Monarchen von sich zeichnet.618 Das Thema um ein größeres Heer wird nachfolgend von Henry wiederholt und variiert. Hieß es vorher noch »not one man more«, verkündet der König nun ab Vers 34, daß er nur mit Freiwilligen in die Schlacht ziehen werde. Jeder, der nicht mitkämpfen will bzw. keinen Mut hat (»he which hath no stomach to this fight«), wie Henry es nennt, soll zurückkehren. Was auf den ersten Blick wie eine nette Geste des Königs aussieht, wird auf den zweiten Blick als Überredungsstrategie deutlich. Durch diese Psychagogie manipuliert er seine Zuhörer, besonders die Haderer und Zauderer, und appelliert an deren Patriotismus. Zwangsläufig treibt er sie in einen psychologischen Konflikt: Denn wer will schon vor den Augen des Monarchen, des Adels und seiner Kameraden als Feigling dastehen? Wer will dazu noch seine Kameraden im Stich lassen und als unpatriotisch gelten?619 Henry jedenfalls wertet den möglichen Feigling mit »that man’s company« noch ab, ja grenzt ihn aus der Gemeinschaft aus: »We would not die in that man’s company That fears his fellowship to die with us« (IV,3,38f.)
Für die Tapferen jedoch schwelgt Henry nahezu im Optimismus. Es ist erneut die honour, die seinen Argumentationsgang stetig begleitet. Schon zuvor war jene Henrys rhetorischer Ankerpunkt, was Mittelbach wie folgt kommentiert: »Die Aussicht von Ehre sei überhaupt das einzige, was ihn zu seinen Handlungen antreibe. […] Es ist interessant, daß Henry, um zu Ehren zu kommen, es sogar in Kauf nimmt, zum Sünder zu werden. […] Natürlich impliziert Henry in den letzten beiden Zeilen, daß es keine Sünde sei, nach Ehre und Anerkennung zu trachten. Dennoch
618 Das kontrastive Spiel zwischen materieller und ideeller Ebene, zwischen positiv und negativ erinnert entfernt an den Kontrast von »ambition« und »virtus« der Römerdramen. 619 Bei Lausberg, S. 418, findet sich unter dem Schlagwort ratio ein ähnlich gelagertes Beispiel: »[…] ›wer für das Vaterland die Gefahr auf sich nimmt, ist weise‹; ratio: ›er tut gegenüber seine Pflicht und handelt klug, weil er lieber für die Gemeinschaft sterben will, als mit der (wehrlosen) Gemeinschaft unterzugehen‹; […].«
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verrät ihn hier, wie so oft, seine Wortwahl. Das Erlangen von Ehre ist es also, für das es sich zu kämpfen lohne.«620
Auffällig in der Passage von Vers 41–60 ist der Tempuswechsel ins Futur, womit Henry die Schlacht als bereits – siegreich wohlgemerkt – geschlagen darstellt. Der Sieg als argumentum ab effectis621 steht im Konnex mit dem Ruhm bzw. mit dem Nachruhm, dessen am Crispianstag im besonderen Maße erinnert werden soll. Verletzungen, in Vers 47 durch die Alliteration »strip his sleeve and show his scars« besonders hervorgehoben, werden als Trophäen glorifiziert und den Soldaten die Rolle als Nationalhelden schmackhaft gemacht. In seiner Rede wechselt Henry öfter den Numerus vom Singular in die erste Person Plural, wie bereits zuvor in Vers 38–39 geschehen. Die erste Person Plural verbindet den Redner mit seinem Publikum zu einer Einheit.622 Der Redner stellt sich auf die gleiche Stufe, was man bei Henry auch meinen sollte, behauptete er noch in IV,1,102 »the King is but a man«: »[…] Then shall our names, Familiar in his mouth as household words, Harry the King, Bedford and Exeter, Warwick and Talbot, Salisbury and Gloucester, Be in their flowing cups freshly remembered.« (IV,3,51–55)
Bei genauerer Betrachtung fällt auf, daß nur bedeutende Namen, d. h. Namen Adliger, aufgezählt werden. Kein einziges Wort wird über die breite Masse, die gewöhnlichen Soldaten verloren. Der Eindruck entsteht, sie seien lediglich zum Kämpfen gut genug, doch weniger geeignet, um den Ruhm mit dem König zu teilen. Porter konstatiert zwar »In such speech, directed toward a group and emphasizing the unity of the addressees, the ›we‹ is almost as strongly inclusive as can be imagined […]«623, aber an dieser Stelle kann durchaus eine andere Nuance interpretiert werden. Erst ab Vers 59 kann man Henry attestieren, daß »we in it shall be remembered, / We few, we happy few, we band of brothers« (IV,3,59f.) auch das Volk mit einschließt. Der englische Kollektivgedanke soll durch die 620 Mittelbach, S. 112. Das Erlangen von Ruhm und Ehre bedeutet für Henry nach antikem Vorbild das Erlangen von Unsterblichkeit. Horaz liefert in carm. 3,30 das hierzu passende Beispiel: »Exegi monumentum aere perennius / regalique situ pyramidum altius, / quod non imber edax, non Aquilo inpotens / possit diruere aut innumerabilis / annorum series et fuga temporum.« (Hor. carm. 3,30,1–5). 621 Alternativ wird dieses Argument auch als argumentum a causis genannt. Gemäß Lausberg eignet sich diese Art des Arguments wegen seines futurischen Gehalts besonders für das genus deliberativum. Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 210. 622 Vgl. Crider, S. 75: »The ›we‹ is an imagined community he is both appealing to and simultaneously fashioning, and that community is a democratically military one, whose very being requires belief from those who constitute it.« 623 Porter, S. 147f.
Crispian’s Speech (IV,3)
209
Klimax mit ihren wachsenden Gliedern »we … we few, we happy few, we band of brothers« stärker betont werden. Gleichermaßen leiten die beiden Verse zum Ende der Rede über. Mit einer adhortatio konkretisiert Henry seinen »band of brothers«-Begriff: »For he today that sheds his blood with me Shall be my brother; be he ne’er so vile, This day shall gentle his condition.« (IV,3,61–63)624
Erst Salisburys banger Einwurf, daß die Franzosen Stellung bezogen haben, unterbricht Henrys euphorischen Redefluß. Staatsmännisch und ungebremst verkündet er: »All things are ready, if our minds be so.« (IV,3,71) Die von ihm propagierte kollektive Entschlossenheit zum Kampf spiegelt sich im if-Satz wider. Daß seine adhortatio mit seiner persuasiven Taktik, dem Etablieren eines Gemeinschaftsgefühls und dem Verlangen nach Ruhm und Ehre erfolgreich war, belegt Westmorlands Schlachtruf in Vers 72, der in einen kurzen Dialog übergeht. Die darin enthaltene conclusio greift ein letztes Mal die Thematik der Truppenstärke auf (IV,3,73–78): »Thou dost not wish more help from England, coz? […] Why, now thou hast unwished five thousand men, Which likes me better than to wish us one. You know your places. God be with you all!« (IV,3,73–78)
Henry ist es gelungen, das Heer auf seine Seite zu ziehen und zur Kampflust anzustacheln, wie Westmorlands Antwort auf Henrys Frage exemplarisch zur Schau stellt (Vers 74f.): »God’s will, my liege, would you and I alone, / Without more help, could fight this royal battle!« Im direkten Vergleich mit seiner Kriegsrede in III,1 wirkt die Crispian’s Speech teilweise ausgefeilter. Letztere entbehrt eines rohen und gewaltverherr624 Vgl. Habermann, Klein, Shakespeare-Handbuch, S. 372: »Jeden Engländer, der an seiner Seite kämpft, nimmt Henry rhetorisch auf in die ›band of brothers‹ […], dem maskulinen Sinnbild nationaler Gemeinschaft: ›he today that sheds his blood with me / Shall be my brother‹ […]. Allerdings lässt sich diese als mystische Blutsbrüderschaft stilisierte Fiktion sozialer Gleichheit nur für die Dauer der Schlacht aufrechterhalten – wenn in der Auflistung der englischen Opfer nur die Namen der Adligen verlesen werden, die einfachen Soldaten aber unerwähnt bleiben […], sind die sozialen Unterschiede sofort wieder eingeführt.« Man beachte außerdem, daß durch die Metapher »band of brothers« weiterhin das benevolum parare aufrechterhalten wird. Suerbaum äußert sich ebenfalls kritisch zu Henrys Blutsbrüderschaft mit seinen Soldaten. Vgl. Suerbaum, »Shakespeare, Henry V«, S. 112: »Heinrichs Blutbund mit seinem Heer ist kein von beiden Seiten geschlossener Bund von Gleichen, sondern eine vom Herrscher freiwillig gewährte Teilhabe an seiner eigenen Ehre und eine brüderliche Gemeinschaft, die erst im Nachruhm, in der Rückschau auf eine außerordentliche Leistung, Wirklichkeit werden kann. Die Isolation des Herrschers wird auch in der Gemeinschaftsformel ›We few, we happy few, we band of brothers‹ nicht aufgehoben.«
210
Shakespeare, King Henry V
lichenden Argumentationsgangs, der darauf abzielt, Raubtierinstinkte zu entfesseln. Vordergründig steht hier das Ideal, honour zu erstreben, welches in III,1 wiederum fehlt. Die Crispian’s Speech baut ihren Argumentationsgang auf drei Säulen auf: Henrys Umkehrung des allgemeinen Wunsches nach Verstärkung, dargestellt u. a. durch seine eigene Meinung, Henrys Wirkungsargument mit Zukunftsvision und schließlich die Gleichstellung seines Heeres mit ihm. Waren seine Soldaten in III,1 bloß »dear friends« (III,1,1), die nicht unbedingt auf gleicher Stufe mit Henry stehen müssen, erfahren sie in IV,3 eine Aufwertung zu – vorübergehend – gleichgestellten »brothers«. Schließlich erfährt Henrys Crispian’s Speech keine Persiflage wie ihr Gegenpart; ein Zeichen, daß die Lage nun betrübter und aussichtsloser erscheint als bei der Eroberung Harfleurs. Doch im weiteren Dramenverlauf gelingt es Henry mit seinem Heer die zahlenmäßig überlegenen Franzosen zu besiegen. Offenkundig hat seine Rede ihre Wirkung erfüllt, die englischen Soldaten mit der notwendigen Zuversicht zum Kampf anzustacheln. Auch in dieser Kriegsrede hat sich Henry als ein Feldherr erwiesen, der durch sein rhetorisches Geschick seine Soldaten motivieren, wenn er beispielsweise auf die zu erringende Ehre verweist, und eben dadurch seine Ziele durchsetzen kann.
8
Ford, Perkin Warbeck
8.1
Einführung
In seinem Historiendrama The Chronicle Historie of Perkin Warbeck. A Strange Truth625 verarbeitet John Ford den gescheiterten Griff nach der Königskrone durch den angeblichen Thronprätendenten und Hochstapler Perkin Warbeck.626 Dieser wiederum behauptet, Richard, Herzog von York, zu sein. »Protegiert von der Herzoginwitwe, die ihn als ihren Neffen anerkennt, schart Warbeck Anhänger um sich und bemüht sich sowohl in Irland als auch am Hofe des schottischen Königs, James IV., um Unterstützung für seinen Anspruch auf die englische Krone.«627
James erliegt dem Charme Warbecks, glaubt ihm dessen königlichen Rang und beginnt einen Feldzug gegen England bzw. Henry VII. Erst später im Drama muß der charismatische Perkin Warbeck miterleben, wie die machiavellistische Haltung James’ – er schließt über Unterhändler einen Friedensvertrag mit Henry VII. – und das schwindende Interesse an dessen Griff nach der Krone, seinen eigenen Traum zerplatzen lassen. Perkin Warbecks tragischer Fehler ist zudem sein Verständnis des »sakramentalen Königtums«628, wodurch er im blinden Gottvertrauen an seinem Herrschaftsanspruch festhält. John Ford orientierte sich für Perkin Warbeck an Francis Bacons Historie of the Reign of King Henry the Seventh und an Thomas Gainsfords The True and Wonderfull History of Perkin Warbeck.629 Ähnlich wie William Shakespeare hat
625 Alle Angaben dieses Dramas beziehen sich auf Peter Ure (Hrsg.). John Ford. The Chronicle of Perkin Warbeck. A Strange Truth. The Revels Plays. London: Methuen 1968. Alle Verweise aus dem Vorwort werden mit »Ure« angegeben. 626 Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 138. Vgl. Nover, »Die Inszenierung von Herrschaft in John Fords Perkin Warbeck«, S. 441–449, hier: S. 442. 627 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 138. 628 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 139. 629 Vgl. Hopkins, »John Ford: suffering and silence in Perkin Warbeck and ’Tis Pity She’s a Whore«, S. 197–211, hier: S. 203, vgl. außerdem Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 140.
212
Ford, Perkin Warbeck
auch John Ford für sein Drama die historisch überlieferten Abläufe umgestellt und modifiziert.630
8.2
Perkin Warbecks rhetorischer Charme (II,1,40–115a)
Warbeck, von dem im Vorfeld nur berichtet wurde, erscheint am Hofe des schottischen Königs James IV. Dieser gewährt dem »young duke« (Vers 35) eine Audienz, um sein Anliegen vorzubringen. Sein oberstes Ziel ist es, in James einen Verbündeten zu haben, weswegen er ihn unbedingt für seine Sache gewinnen muß. Die Rede entspricht in ihrer Grobstruktur dem aristotelischen Redeschema. Auf ein knappes exordium folgt die narratio, welche in zwei Teile zerfällt. Der eine Teil schildert die historischen Fakten über Richard of Shrewsbury, der andere Teil – durch »But« eingeleitet – ist die von Warbeck gänzlich ersonnene fortgeführte Biographie. Darauf folgt die argumentatio mit der kurzen peroratio bzw. conclusio. Die Eröffnung mit dem doppeltem Superlativ »Most high, most mighty king!« (Vers 40) läßt bereits Warbecks Charisma und Charme erahnen. Direkt zu Beginn wird James von Warbeck umschmeichelt, um sodann seine traurige Biographie vorzutragen631: »Most high, most mighty king! that now there stands Before your eyes, in presence of your peers, A subject of the rarest kind of pity That hath in any age touched noble hearts, The vulgar story of a prince’s ruin Hath made it too apparent. Europe knows, And all the western world, what persecution Hath raged in malice against us, sole heir To the great throne of old Plantagenets.« (II,1,40–48)
Im Zentrum dieser Ansprache steht das Subjekt »A subject of the rarest kind of pity«, womit Perkin Warbeck selbst gemeint ist. Obwohl er König und Adel voranstellt, bildet das Subjekt mit dem anschließenden Relativsatz die größere Komponente.632 Sein eigenes Schicksal schmückt er durch superlativische und negative Attribute – »the rarest kind of pity«, »the vulgar story«, »a prince’s ruin« – aus, welche wiederum mit der zuvor genannten Anrede im Kontrast stehen. Gegen Ende seiner Eröffnung läßt er mit der Kombination aus pluralis maiestatis 630 Vgl. Ure, S. xxxviii–xxxix. Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 140. 631 Vgl. Candido, »The ›Strange Truth‹ of Perkin Warbeck«, S. 300–316, hier: S. 305. 632 Wir können hier mutmaßen, inwiefern dies zum rhetorischen Kalkül Warbecks gehört. James und Adel stehen zwar syntaktisch an erster Stelle, doch zeigt die zentrale Position des Subjektes, daß es hier ausschließlich um Perkin Warbeck geht.
Perkin Warbecks rhetorischer Charme (II,1,40–115a)
213
und Apposition wissen, daß er, der vermeintliche Richard Duke of York, der alleinige Thronerbe ist. Nach diesem Muster des benevolum parare baut Warbeck seine Rede weiter aus. In der Anadiplose »[…] we have been hurried / Unto the sanctuary, from the sanctuary / Forced to the prison, from the prison haled / By cruel hands to the tormentor’s fury« (II,1,49–52) faßt er nicht nur den geschichtlichen Hintergrund, nämlich die von Richard III. angeordneten Morde an seinen beiden Neffen, zusammen, sondern generiert außerdem Pathos. Der Wahrheitsgehalt seiner Schilderung der historischen Ereignisse wird durch »Is registered already in the volume / Of all men’s tongues« (Vers 53f.) untermauert. Fast nahtlos fügt sich der zweite Redeteil mit der eigentümlichen Lügengeschichte von Perkins Flucht an: »[…] But our misfortunes since Have ranged a larger progress through strange lands, Protected in our innocence by heaven. Edward the Fifth, our brother, in his tragedy Quenched their hot thirst of blood, whose hire to murder Paid them their wages of despair and horror; The softness of my childhood smiled upon The roughness of their task, and robbed them farther Of hearts to dare or hands to execute.« (II,1,56b–64)
Warbeck vermischt in seiner narratio nun historisch tradierte mit erfundenen Inhalten.633 Dies ist Teil von Warbecks Psychagogie. Ohne Unterschied verwendet er ebenso für den zweiten Teil Kontraste, wie etwa in bei »The softness of my childhood« mit »The roughness of their task« (Vers 62f.). Die Begründung, seine kindliche Unschuld soll bei seinen Henkern Skrupel hervorgerufen haben, rückt seine Ausführungen ins Mythische. Genaue Gründe bleibt Warbeck seinen Zuhörern schuldig. Statt dessen fährt er unverzüglich mit seiner Fantasterei vom Leben im Exil fort. Parallel zu Vers 53f. untermauert er am Ende die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte mit »a thing scarce known i’th’ world« (Vers 79). Leicht mißtrauisch unterbricht James Perkins Vortrag und verlangt mit »if you can / Make this apparent what you have discoursed / In every circumstance, we will not study / An answer, but are ready in your cause« (II,1,81–84) Beweise für dessen Behauptung. In seiner Antwort, der vermeintlichen argumentatio, um seine Flucht und sein späteres Leben bleibt Warbeck vage, es sei nur passend, beteiligte Personen stillschweigend zu übergehen (»The means and persons who
633 Die Unglaubwürdigkeit seiner Ausführungen könnte man in der Epanalepse »Great king, they spared my life, the butchers spared it« (II,1,65) sehen. Wahrscheinlicher ist jedoch, in der verknüpften Apostrophe die schwache Andeutung auf Warbecks Verständnis des Königtums als Gottesgnadentum zu sehen. Inhaltlich verbindet sich diese Textstelle mit »Protected in our innocence by heaven« (Vers 58).
214
Ford, Perkin Warbeck
were instruments, / Great sir, ’tis fit I overpass in silence«).634 Rhetorisch charmant bestätigt er somit James’ Mahnung »it stands not with your counsel now / To fly upon invectives« (Vers 80f.) und schmeichelt ihm »You are a wise and just king« (Vers 85) weiter, ohne daß jener erneut ausreichende Beweise verlangt. Die argumentatio wird uns in Wahrheit nur suggeriert. Vielmehr ist sie ein rhetorisches Ablenkungsmanöver.635 James selbst ist von Perkin Warbecks rhetorischer Begabung derart überwältigt, daß er folgert636: »He must be more than subject who can utter / The language of a king« (Vers 103). Freer stuft Perkins Fähigkeit als »dangerous political force«637 ein. Perkin überzeugt in seiner Rede mehr durch sein Charisma als durch Inhalt. So kommt es, daß James Perkin Warbeck als »Cousin of York« in Empfang nimmt und ihm die geforderte Unterstützung verspricht: »Take this for answer: be whate’er thou art, Thou never shalt repent that thou hast put Thy cause and person into my protection.« (II,1,105–107)
»Auch Lady Katherine Gordon, eine schottische Hofdame, erliegt dem rhetorischen Charme Warbecks und wird von James, gegen den Willen von Katherines Vater, mit Perkin Warbeck verheiratet.«638 Somit ist für den Hochstapler Perkin Warbeck schließlich die Aufnahme in Adelskreise erfüllt.
8.3
Durhams Kritik an James’ Handeln (III,4,10–54)
Vor den Mauern von Norham Castle stagniert der erfolglose Eroberungsfeldzug von James und seinem Schützling Perkin Warbeck. James veranlaßt in die Verhandlungen mit dem Bischof von Durham, der in Norham stationiert ist, ein634 Vgl. Freer, »›The Fate of Worthy Expectation‹: Eloquence in Perkin Warbeck«, S. 131–148, hier: S. 136: »His alleged ancestors never appear in his speeches in any personal or revealing detail, and he never refers to places and actions associated with the ruling Plantagenets.« Ferner faßt er zusammen: »In a sense, all his family has been collapsed into Margaret of Burgundy, and even she exists in his speeches in the vaguest of terms; […].« Perkin Warbecks einziger familiärer Anknüpfungspunkt findet sich in Margaret of Burgundy, welche auch höchst vage in seinen Reden Erwähnung findet. 635 Vgl. Freer, »›The Fate of Worthy Expectation‹: Eloquence in Perkin Warbeck«, S. 131–148, hier: S. 136: »Perkin keeps all details of his personal past offstage […], and he appeals instead to a future for England that is devoid of any specific political plans.« 636 Vgl. Anderson, »Kingship in Ford’s Perkin Warbeck«, S. 177–193. 637 Freer, »›The Fate of Worthy Expectation‹: Eloquence in Perkin Warbeck«, S. 131–148, hier: S. 132. Vgl. Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 138. Vgl. ferner auch Nover, »Die Inszenierung von Herrschaft in John Fords Perkin Warbeck«, S. 441–449, hier: S. 445. 638 Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 138. Vgl. ferner Baumann, »Basileia und Tyrannis in der Dramatik und Dichtung der Englischen Renaissance«, S. 9–44, hier: S. 27.
Durhams Kritik an James’ Handeln (III,4,10–54)
215
zutreten. In kriegerischer Manier befiehlt James dem Bischof »Set ope the ports, and to your lawful sovereign, / Richard of York, surrender up this castle« (III,4,5f.). Bei Befolgen der Forderung soll Durham die Gnade Richards zuteil werden (»And he will take thee to his grace«), bei Widerstand heißt es: »[…] else Tweed Shall overflow his banks with English blood, And wash the sand that cements those hard stones From their foundation.« (III,4,7–10a)
Entfernt erinnert diese Drohung an III,3 von Henry V, nur mangelt es James’ Version an der rhetorischen Ausgestaltung. Auf diese Drohung geht der Bischof von Durham unumwunden ein. Seine Rede hat einen appellierenden Charakter gegenüber James, angesprochen als »Warlike king of Scotland« (Vers 10), er solle sich zunächst einige Worte des Bischofs anhören. Die gehäuften Gleichklänge »Vouchsafe a few words from a man« (Vers 11) verleihen der Ansprache besonderes Gewicht. Daß dem Bischof die ganze Situation zuwider ist, er doch ein Gelehrter der Kirche und kein Soldat ist, macht er in der Partizipialkonstruktion »enforced / To lay his book aside, and clap on arms / Unsuitable to my age or my profession« (III,4,11–13) sehr deutlich. Die gewöhnlichen »arms« passen nicht zu seinem Beruf.639 Anstatt mit James den weiteren rhetorischen Diskurs anzustrengen, wendet er sich nun James’ Schützling Warbeck zu (ab Vers 14). Im Zentrum der Rede steht die Invektive gegen den »courageous prince« (Vers 14) Perkin Warbeck, dessen Machenschaften und Werdegang Durham mit großer Empörung rekapituliert: »Courageous prince, consider on what grounds You rend the face of peace, and break a league With a confederate king that courts your amity; For whom too? for a vagabond, a straggler, Not noted in the world by birth or name, An obscure peasant, by the rage of hell Loosed from his chains to set great kings at strife. What nobleman, what common man of note, What ordinary subject hath come in, – Since first you footed on our territories, To only feign a welcome? Children laugh at Your proclamations, and the wiser pity So great a potentate’s abuse by one Who juggles merely with the fawns and youth Of an instructed compliment; such spoils, Such slaughters as the rapine of your soldiers 639 Wir können hier eine latente Zweideutigkeit in die »arms« hineindeuten, wenn wir das Wort als Waffe interpretieren, mit der er James und Warbeck rhetorischen Widerstand leistet.
216
Ford, Perkin Warbeck
Already have committed, is enough To show your zeal in a conceited justice.« (III,4,14–31)
In der Aufforderung im ersten Abschnitt (bis Vers 20) steckt Durhams accusatio gegen Warbeck. Er zerfleische (»rend«) den Frieden zwischen England und Schottland. Die Personifikation »face of peace« ist Ausdruck der früheren Friedensverhandlungen zwischen Henry VII. und James.640 Auch James’ Leichtgläubigkeit findet mit »a confederate king that courts your amity« Erwähnung. Daß er laut Durhams Darstellung um Warbecks Freundschaft gebuhlt habe, läßt ihn wie einen Naivling dastehen. Auf seine rhetorische Frage (»For whom too?«) muß Durham antworten, weil die Wahrheit über Warbecks Herkunft nicht allen Anwesenden, vor allem James, bekannt ist. So wird James nun von Durham aufgeklärt, wem er seine Unterstützung zugesichert hat. Die Antwort ist in der Klimax nach dem Gesetz der wachsenden Glieder enthalten. Statt eines Prinzen wie in Vers 14 handelt es sich bei Warbeck um einen »vagabond«, einen »straggler, / Not noted in the world by birth or name«, ja sogar um einen »obscure peasant, by the rage of hell / Loosed from his chains to set great kings at strife« (III,4,17–20).641 Seine Anschuldigung führt Durham im nächsten Abschnitt weiter aus. Die Antiklimax »What nobleman, what common man of note, / What ordinary subject« (Vers 21f.) bildet das Gegengewicht zur vorangegangenen Klimax und spiegelt die gesamte englische Gesellschaft wider. Für diese ist Warbeck, wie die rhetorische Frage impliziert, gänzlich unbedeutend. Sogar die Kinder verlachen ihn, während das Ausnutzen (»a potentate’s abuse) des unbedarften James durch ihn eher bemitleidenswert sei. Durham verdeutlicht in seiner accusatio, wie sehr er Warbecks System durchschaut hat. Daß er ihn zudem verachtet und Warbeck ein schmeichlericher Emporkömmling ist, belegen das hier abwertend konnotierte »one« am Ende von Vers 26 sowie der anknüpfende Relativsatz »Who juggles merely with the fawns and youth / Of an instructed compliment« (Vers 27f.). Bis zum Schluß läßt Durham keinen Zweifel daran aufkommen, daß Warbeck trotz seines Charmes ein Verbrecher ist, wie der Vergleich zeigt: »[…] such spoils, Such slaughters as the rapine of your soldiers Already have committed, is enough To show your zeal in a conceited justice.« (III,4,28–31) 640 Durham spielt auf den lediglich dreijährigen Waffenstillstand an. Indem er James hier als »confederate king« tituliert, stellt er durch seine Wortwahl eine mögliche Allianz mit England in Aussicht. Vgl. dazu Anderson, »Kingship in Ford’s Perkin Warbeck«, S. 177–193, hier: S. 181. 641 Vgl. Weathers, »Perkin Warbeck: A Seventeenth-Century Psychological Play«, S. 217–226, hier: S. 219f. Gemäßt Weathers ist es Warbecks Wahnsinn, der die beiden Könige James und Henry negativ beeinflußt.
Durhams Kritik an James’ Handeln (III,4,10–54)
217
In seiner peroratio wendet er sich wieder an James, so daß die Invektive gegen Warbeck vom Redeanfang und -ende eingeklammert wird. Eindringlich warnt und ermahnt Durham James »wake not yet my master’s vengeance« (Vers 32), sondern er soll sich von der »viper« (Vers 33) Warbeck lossagen. Der letzte Satz verdeutlicht die Entschlossenheit auf englischer Seite, im Zweifelsfall der kriegerischen Konfrontation mit James und Warbeck nicht aus dem Wege zu gehen: »I and my fellow-subjects are resolved, If you persist, to stand your utmost fury, Till our last blood drop from us.« (III,4,34–36)
Die Rede stellt Durhams kraftvolle Rhetorik zur Schau. An beide Kontrahenten richtet er das Wort: während er Warbeck als Unruhestifter und Hochstapler enttarnt und diffamiert, schwingt im Hintergrund stets die Kritik an James’ Leichtgläubigkeit mit. Warbecks Reaktion belegt, daß Durham den richtigen Nerv getroffen hat. Außer einer Beschwörung James’ und einer wüsten Beschimpfung gegen den Bischof hat er diesem nichts entgegenzusetzen: »O sir, lend No ear to this traducer of my honour! What shall I call thee, thou gray-bearded scandal, That kick’st against the sovereignty to which Thou owest allegiance? Treason is bold-faced And eloquent in mischief; sacred king, Be deaf to his known malice« (III,4,36b–42)
Es lohnt nicht, mit einem Betrüger wie Warbeck Krieg zu führen. Durham bleibt bei seiner Entscheidung und gibt seinen Gegnern folgenden Rat mit: »It is the surest policy in princes To govern well their own than seek encroachment Upon another’s right.« (III,4,45–47).
Die scheinbare Gelassenheit des Bischofs bringt Warbeck weiter in Rage und Verzweiflung. Außer sich herrscht Warbeck James an (Vers 49f.), welcher die endgültige Entscheidung des Bischofs mit »Well … Bishop, / You’ll not be drawn to mercy?« (Vers 50) hinterfragt. Doch Durham zeigt sich, bevor er die Szene verläßt, unbeirrt: »Construe me In like case by a subject of your own; My resolution’s fixed. King James, be counselled. A greater fate waits on thee.« (III,4,51b–54a)
Der Überzeugungskampf zwischen Warbeck und Durham wird auch bei Anderson herausgestellt:
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Ford, Perkin Warbeck
»And, like a good and a bad angel, Durham and Warbeck exhort him to peace and to war. […] After deliberation, James decides to continue the incursion. But Durham’s arguments have impressed him, for a few lines later, when Warbeck weeps at the barbarities that must ensue, James rebukes him.«642
Darüber hinaus konstatiert Nover, daß Warbeck »mit der Bitte um Mitleid und Schonung für die unschuldigen Opfer eines grausamen Eroberungskrieges«643 James zutiefst abstoße und »sich hier schon der bevorstehende Bruch zwischen dem schottischen König James und dem vermeintlichen Richard IV.«644 andeute. Langfristig betrachtet, hat Durham den größeren Einfluß bei James hinterlassen, der später von Warbeck abfällt und ihn seinem Schicksal überläßt. Während Warbeck lediglich eine plumpe Invektive gegen Durham halten kann, vermag jener Argumente für seine harschen Worte fundiert anzubringen.
8.4
Durhams politisches Kalkül (IV,1,23–72)
Der vierte Akt knüpft unmittelbar an die vorangegangenen Geschehnisse an. Noch am Ende von III,4 läßt James seinen Boten Marchmount kommen, um Surrey seine Pläne, sich mit ihm zu duellieren, zu überbringen.645 Doch im Kern dieser Szene steht nicht Marchmounts Nachricht, die wir wieder in die bekannte Dreiteilung aus exordium, narratio und conclusio einteilen können, sondern das politische Geschick Durhams. Marchmounts Nachricht an General Surrey umfaßt in 15 Versen James’ Angebot des Zweikampfes, um weiteres unnötiges Blutvergießen zu verhindern: »Thus, then: the waste and prodigal Effusion of so much guiltless blood As in two potent armies of necessity Must glut the earth’s dry womb, his sweet compassion Hath studied to prevent; for which to thee, Great earl of Surrey, in a single fight He offers his own royal person; […].« (IV,1,22–28)
Die einzige Emotionalität, die Marchmount in der argumentatio aufkommen läßt, besteht in der bekannten Personifikation »the earth’s dry womb« (Vers 25). 642 Anderson, »Kingship in Ford’s Perkin Warbeck«, S. 177–193, hier: S. 181. Vgl. außerdem Kamps, S. 187. 643 Nover, »Die Inszenierung von Herrschaft in John Fords Perkin Warbeck«, S. 441–449, hier: S. 446. 644 Nover, »Die Inszenierung von Herrschaft in John Fords Perkin Warbeck«, S. 441–449, hier: S. 446. 645 In III,4 hatte Frion James darüber unterrichtet, daß Surrey im Begriff sei, die Belagerung durch James’ Truppen aufzuheben (III,4,88–94).
Durhams politisches Kalkül (IV,1,23–72)
219
Die zugehörige Bedingung für einen Waffenstillstand wird nahtlos angeschlossen: »If victory conclude our master’s right, The earl shall deliver for his ransom The town of Berwick to him, with the fishgarths. If Surrey shall prevail, the king will pay A thousand pounds down present for his freedom, And silence further arms.« (IV,1,30–35a)
Falls James als Sieger aus dem Zweikampf gehen sollte, fällt die Stadt Berwick in seinen Besitz. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, daß die Bedingung des Waffenstillstandes erst gültig wird, falls Surrey als Sieger hervorgehen sollte (Vers 33– 35). Surrey fühlt sich darüber geschmeichelt, daß James ihn ausgewählt hat: »How his descent from his great throne to honour A stranger subject with so high a title As his compeer in arms, hath conquered more Than any sword could do.« (IV,1,41–44)
Jedoch gibt er zu bedenken, daß nicht er als Untertan die Entscheidungsgewalt über Berwick hat, sondern König Henry: »But Berwick, say, Is none of mine to part with. In affairs Of princes, subjects cannot traffic rights Inherent to the crown.« (IV,1,46–49)
Da er nur für sich sprechen kann – »My life is mine, / That I dare freely hazard […]« –, modifiziert er die Bedingungen für das Duell: »If I fall, falling So bravely, I refer me to his pleasure Without condition; and for this dear favour, Say, if not countermanded, I will cease Hostility, unless provoked.« (IV,1,53b–57a)
Noch bevor Marchmount James die Antwort überbringen kann, schaltet sich Durham mit »With favour, / Pray have a little patience.« (Vers 58f.) in die Verhandlungen ein. Statt auf weitere Kämpfe zu setzen, sieht er die potentielle Möglichkeit gekommen (»[…] a prologue […] For some ensuing acts of peace«), James vom Krieg abzubringen, wie er Surrey erklärt.646 In seiner Argumentation führt er folgende Gründe an, die England für Verhandlungen von Vorteil wären:
646 Bereits zuvor in III,4 nannte Anderson Durham als »Henry’s most able spokesman«. Siehe Anderson, »Kingship in Ford’s Perkin Warbeck«, S. 177–193, hier: S. 181.
220
Ford, Perkin Warbeck
»[…] consider The time of year, unseasonableness of weather, Charge, barrenness of profit; and occasion Presents itself for honourable treaty, Which we may make good use of.« (IV,63–67)
Er selbst will Marchmount zurück zu James begleiten, um mit ihm zu verhandeln. Auch hier zeigt sich Durhams politisches Kalkül, daß er in seinem Plan Marchmount einkalkuliert, wenn er zu Surrey »As sent from you in point of noble gratitude« (Vers 68) sagt. Den Erfolg seines Verhandlungsgeschicks stellt er nicht in Frage: »[…] and king Henry, / Doubt not, will thank the service.« (IV,1,71f.). Surrey, offenkundig von Durhams Argumenten überzeugt, willigt ein. Gegenüber Marchmount argumentiert er, daß es ein Zeichen der Ehrerbietung darstelle, wenn weitere Verhandlungen durch ihn anstatt eines »common man« (Vers 79) fortgeführt würden. Durhams Plan scheint aufzugehen. Seine Forderungen für Frieden zwischen England und Schottland zeigt uns Ford in IV,3,19–23: »King Henry hath a daughter, The princess Margaret; I need not urge What honour, what felicity can follow On such affinity ’twixt two Christian kings Inleagued by ties of blood; […].« (IV,3,19–23)
Als Gegenleistung für den Frieden muß James jede weitere Unterstützung für Perkin Warbeck einstellen.
8.5
James distanziert sich von Warbeck (IV,3,65–86)
James, der zuvor noch sein Handeln bezüglich Perkin Warbeck verteidigt hatte (IV,3,30–43), willigt in den Plan ein – »I will dismiss him / From my protection«, Vers 46 –, da er begründet »No blood of innocents shall buy my peace« (Vers 34).647 Abschließend wiederholt er die vereinbarten Ziele: »A league with Ferdinand, a marriage With English Margaret, a free release From restitution for the late affronts, Cessation from hostility! and all For Warbeck not delivered, but dismissed! We could not with it better. Dalyell!« (IV,3,56–61)
647 Vgl. Weathers, »Perkin Warbeck: A Seventeenth-Century Psychological Play«, S. 217–226, hier: S. 223.
James distanziert sich von Warbeck (IV,3,65–86)
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Für ihn ist dies ein durchaus lukratives Abkommen, da er Prinzessin Margaret zur Frau bekommt, keine Entschädigungszahlungen für seine militärischen Übergriffe an England zahlen muß und sich außerdem Warbecks entledigen kann. Es hätte nicht besser für ihn kommen können, wie er selbst in Vers 61 mit »We could not with it better« zugibt. Somit stellt es sich für ihn auch nicht als Problem dar, Warbeck persönlich von seinem Sinneswandel zu berichten. Theatralisch rekapituliert er in Warbecks Gegenwart seine vergangenen Taten und Ereignisse: »Cousin, our bounty, favours, gentleness, Our benefits, the hazard of our person, Our people’s lives, our land, hath evidenced How much we have engaged on your behalf. How trivial and how dangerous our hopes Appear, how fruitless our attempts in war, How windy, rather smoky, your assurance Of party shows, we might in vain repeat.« (IV,3,65–72)
Dabei steht die Aufzählung James’ positiver Eigenschaften und Taten (»bounty, favours, gentleness, / Our benefits«) im Kontrast zu den riskierten Gefahren (»the hazard of our person, / Our people’s lives, our land«). Beides wird durch das Possessivpronomen »our« vereint und kulminiert letztlich in der indirekten Frage »How much we have engaged on your behalf« (Vers 68). Die zweite Aufzählung besteht aus mehreren indirekten Fragen, die alle durch »how« eingeleitet werden. Mit ihnen paraphrasiert James die jüngsten Mißerfolge wie in einer accusatio und bringt zum Ende seine Enttäuschung über Warbecks Verhalten zum Ausdruck: »How windy, rather smoky, your assurance / Of party shows, we might in vain repeat.« Für James hat sich der Eindruck erhärtet, sein Protegé habe sich ohne weitere Eigeninitiative auf ihn verlassen. Bei Nover finden wir folgende Zusammenfassung: »Es ist jedoch bedeutsam festzuhalten, daß James, der durch Heinrichs Vorbild an politischer Einsicht gewonnen hat, Perkin nicht aufgrund seiner Abstammung, sondern aufgrund der fehlenden Unterstützung fallen läßt.«648
Rhetorisch verschärft wird James’ Aussage durch die kontrastive Verwendung der Possessivpronomina »our« und »your«. Mit der Zäsur in Vers 73 (»But now«) legt James den Fokus auf die Gegenwart. Die nun dritte Aufzählung zeichnet die anstehenden Veränderungen vor: »But now obedience to the mother church, A father’s care upon his country’s weal, 648 Nover, »Die Inszenierung von Herrschaft in John Fords Perkin Warbeck«, S. 441–449, hier: S. 448.
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Ford, Perkin Warbeck
The dignity of state, directs our wisdom To seal an oath of peace through Christendom, To which we are sworn already.« (IV,3,73–77)
James sieht sich symbolisch als Vaterfigur, die sich um das Wohl des Landes zu sorgen hat. Statt weiterhin nutzlose Kriege zu führen (vgl. Vers 70), verlangen sowohl der Gehorsam gegenüber der Kirche als auch die Würde des Staates, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen.649 Hierbei greift diese dritte Aufzählung Elemente aus den Versen 65–72 wieder auf und bildet deren Gegenpol; »his country’s weal« (Vers 74) steht im Gegensatz zu »the hazard of our person, / Our people’s lives […]« (Vers 66f.), ebenso »oath of peace« (Vers 76) mit »our attempts in war« (Vers 70). Die daraus folgende Synthese ist aus Sicht von James – dank Durham wieder zur Rationalität zurückgekehrt – eindeutig: »[…] ’Tis you Must only seek new fortunes in the world, And find an harbour elsewhere. As I promised On your arrival, you have met no usage Deserves repentance in your being here; But yet I must live master of mine own. However, what is necessary for you At your departure I am well content You be accommodated with, provided Delay prove not my enemy.« (IV,3,77–86a)
Warbeck muß James’ Hof unverzüglich verlassen und sein Glück irgendwo auf der Welt suchen. Warbeck wiederum nimmt James’ Entschluß gefaßt auf und zeigt sich dankbar: »I acknowledge all your favours Boundless and singular, am only wretched In words as well as means to thank the grace That flowed so liberally.« (IV,3,89–92a)
Jedoch deutet Vers 94f. »My claim to mine inheritance shall sooner / Fail than my life to serve you, best of kings« das tragische Ende Warbecks als Thronprätendent voraus. Seine einzige und letzte Forderung an James ist seine Ehefrau Katherine.
649 Vgl. Anderson, »Kingship in Ford’s Perkin Warbeck«, S. 177–193, hier: S. 182.
Perkins Rede vor den Bewohnern Cornwalls (IV,5,1–12; 47–64)
8.6
223
Perkins Rede vor den Bewohnern Cornwalls (IV,5,1–12; 47–64)
Zwar verläßt Perkin Warbeck Schottland wie verlangt, dennoch hält er an seinen Plänen vom englischen Thron fest, wie seine Äußerungen zu Beginn belegen: »After so many storms as wind and seas Have threatened to our weather-beaten ships, At last, sweet fairest, we are safe arrived On our dear mother earth, ingrateful only To heaven and us in yielding sustenance To sly usurpers of our throne and right. These general acclamations are an omen Of happy process to their welcome lord; […]« (IV,5,1–8)
In seiner Reise nach England sieht er »an omen / Of happy process« (IV,5,7f.), weswegen er sich an anderer Stelle mit »None talk of sadness, we are on the way / Which leads to victory« (IV,5,24f.) siegesgewiß gibt.650 Die Bestätigung seiner Illusion sieht Perkin in Skeltons Gruß »Save king Richard the Fourth, save thee, king of hearts!« (IV,5,32), wonach die Bewohner Cornwalls Warbeck zum König ausgerufen haben. Perkin selbst widerspricht jener Proklamation nicht; sieht er sich doch als rechtmäßigen Throninhaber.651 Für den unmittelbaren Ansturm auf König Henry VII. und dessen Truppen sieht sich Warbeck veranlaßt, nunmehr eine kriegerische Rede zu halten: »A thousand blessings guard our lawful arms! A thousand horrors pierce our enemies’ souls! Pale fear unedge their weapons’ sharpest points, And when they draw their arrows to the head, Numbness shall strike their sinews; such advantage Hath majesty in its pursuit of justice That on the proppers-up of truth’s old throne It both enlightens counsel and gives heart To execution; whiles the throats of traitors Lie bare before our mercy. O divinity Of royal birth! how it strikes dumb the tongues Whose prodigality of breath is bribed By trains to greatness! Princes are but men Distinguished by the fineness of their frailty, Yet not so gross in beauty of the mind, 650 Vgl. Freer, »›The Fate of Worthy Expectation‹: Eloquence in Perkin Warbeck«, S. 131–148, hier: S. 143. 651 Daß er an der Rechtmäßigkeit seines Thronanspruchs festhält, belegt das Adjektiv »lawful« in der Eröffnung seiner nachfolgenden Rede. Vgl. Anderson, »Richard II and Perkin Warbeck«, S. 260–263, hier: S. 262.
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Ford, Perkin Warbeck
For there’s a fire more sacred purifies The dross of mixture. Herein stands the odds: Subjects are men on earth, kings men and gods.« (IV,5,47–64)
Thematisch ist seine kämpferische Rede wiederum von dem Kontrast ›gut‹–›böse‹ geprägt: die eigenen Truppen (»A thousand blessings guard our lawful arms«) sollen verschont werden, während der Feind von Ängsten gepeinigt unterliegen soll (»A thousand horrors pierce our enemies’ souls«). Er sieht nicht die eigene drohende Niederlage, obwohl ihm noch zuvor der schottische König James seine Solidarität aufgekündigt hatte. Vielmehr sieht er sich als König im Kampf um Gerechtigkeit im Vorteil, wie er mit »such advantage / Hath majesty in its pursuit of justice« (Vers 51f.) offenbart. Sein »pursuit of justice« wird mit »the throats of traitors / Lie bare before our mercy« (Vers 55f.) vollendet. Daß Perkin nicht frei von Hybris ist, belegen der Ausruf »O divinity / Of royal birth!« (Vers 56f.) sowie seine Äußerung »Princes are but men / Distinguished by the fineness of their frailty, […] Herein stands the odds: / Subjects are men on earth, kings men and gods.« (Vers 59–64). Allerdings legt er sich in seiner Darstellung nicht eindeutig dazu fest, ob er nun ein Gott oder ein Mensch ist: »Aspiring to be both man and god, acting within the world and yet withdrawn from it, Perkin tries to balance the two notions of the determining accident of birth or fate, and the purifying fire of the individual mind.«652
Anderson sieht in Perkin Warbecks Rede durchaus gewisse Parallelen zur Rede Richards II. in III,2 von King Richard II.653 In ihrem Aufbau und ihrer Struktur kann Shakespeare Ford als Inspiration gedient haben, denn in beiden Werken stecken die Protagonisten im gleichen Dilemma um den Königsthron: beide sind mit ihrer Flotte an der Küste – Richard II. in Wales, Warbeck in England – gelandet und haben jeweils einen scharfsinnigen Widersacher zu bekämpfen, der ihren Anspruch auf den Thron bekämpft. Während in Richard II vom Protagonisten die Natur in Form von »But let spiders that suck up thy venom / And heavy-gaited toads lie in their way, […]« (R2, III,2,14–15)654 zur Bekämpfung des Feindes beschwört, verwünscht Warbeck seine Widersacher mit abstrakteren Begriffen wie »horrors«, »fear« oder »numbness«. Ebenfalls vertreten Richard II. und Perkin Warbeck die Ansichten des sakramentalen Königtums und begehen durch ihr Gottvertrauen den gleichen tragischen Fehler im Kampf um die Krone.655 652 Freer, »›The Fate of Worthy Expectation‹: Eloquence in Perkin Warbeck«, S. 131–148, hier: S. 144. 653 Vgl. Anderson, »Richard II and Perkin Warbeck«, S. 260–263. 654 Siehe S. 141. 655 Vgl. auch Nover, »Die Inszenierung von Herrschaft in John Fords Perkin Warbeck«, S. 441– 449, hier: S. 448.
Perkins Schlußrede (V,3,187–207)
8.7
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Perkins Schlußrede (V,3,187–207)
Perkins Schicksal als Hochstapler ist durch James’ Abkehr von ihm besiegelt. Im Gefängnis rekapituliert Urswick Perkins Strafe: »Yet, Warbeck, clear thy conscience; thou hast tasted King Henry’s mercy liberally; the law Has forfeited thy life; an equal jury Have doomed thee to the gallows; […].« (V,3,10–13a)
Um Warbecks Schicksal noch abzuwenden, versucht der ehemalige Hochstapler und Warbecks Vorgänger Lambert Simnel, ihn zu überreden, seine Straftat zuzugeben. Simnel selbst wurde dadurch die Gnade des Königs zuteil: »Let my example lead thee; be no longer / A counterfeit; confess, and hope for pardon!« (V,3,51f.). Doch es ist Perkin Warbecks tragischer Fehler, Simnels Rat zu ignorieren und sogar Katherine gegenüber daran festzuhalten, der rechtmäßige König Englands zu sein. Anstatt sich rhetorisch gegen das Urteil zu wehren, bleibt er nahezu passiv. Erst Oxfords Häme »Look ’ee; behold your followers, appointed / To wait on ’ee in death.« (V,3,185f.) veranlaßt ihn, ein letztes Mal das Wort zu ergreifen. Spielerisch knüpft er an Oxfords Spott »your followers« mit »We’ll lead ’em on courageously. I read / A triumph over tyranny upon / Their several foreheads.« (V,3,186–189) an. Äußerst knapp und poetisch paraphrasiert Warbeck den Grund für seine Hinrichtung: »[…] Faint not in the moment Of victory! Our ends, and Warwick’s head, Innocent Warwick’s head – for we are prologue But to his tragedy – conclude the wonder Of Henry’s fears; […].« (V,3,190–195a)
Nach seiner Darstellung ist Warbeck der letzte Erbe der Plantagenets. Mit seiner Exekution wird dem Streit um die Krone zwischen den Häusern Tudor und Plantagenet ein Ende gesetzt »[…] and then the glorious race / Of fourteen kings, Plantagenets, determines / In this last issue male; heaven be obeyed.« (V,3,193– 195).656 Dabei erinnern seine Verse an eine laudatio funebris, in die er sich jedoch mit einbezieht:
656 Vgl. Neill, »›Anticke Pageantrie‹: The Mannerist Art of Perkin Warbeck«, S. 117–150, hier: S. 149. Vgl. außerdem Kamps, S. 190: »The most convincing way for Henry to demonstrate his superior royal birthright would have been to expose Warbeck as an irrelevant, misguided pretender; merely to execute him for unproven treason would not have eliminated all doubts, only served as a display of monarchial power.«
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Ford, Perkin Warbeck
»Impoverish time of its amazement, friends, And we will prove as trusty in our payments As prodigal to nature in our debts.« (V,3,196–198)
Die Zäsur »Death?« (Vers 199) markiert den zweiten Teil seiner Rede. Warbeck verharmlost den Tod mit seiner Aufzählung als »but a sound, a name of air, / A minute’s storm, or not so much« (V,3,199f.). Ihm werden alle negativen Attribute genommen, er ist nur etwas Beiläufiges wie ein Klang oder ein Lufthauch, dem nicht allzu große Beachtung geschenkt werden muß. Warbecks Entschluß steht damit fest, daß er sich nicht zu seiner Hochstapelei bekennt, sondern seinem Todesurteil wie ein Märtyrer entgegensieht. Ein letztes Mal appelliert er an seine Gefolgsleute »Be men of spirit, / Spurn coward passion! So illustrious mention / Shall blaze our names, and style us Kings o’er Death.« (V,3,205–207). So soll er als ein König über den Tod genannt werden.657 Mittels seiner Eloquenz »zeigt er die Größe eines wahren Herrschers, indem er – wenn auch vergeblich – um Vergebung für seine Gefolgsleute bittet«658. Freer beobachtet auch in Warbecks letzten Worten einen Konnex mit der Zukunft: »His final words before being led off to execution remain generally inspiring, as ever fixed on an impending energy and fame: […] The constant appeal to a future of hope is one of the main things Perkin can give his listeners.«659
Für Barish enthalten Warbecks letzte Worte »one final form of kingship«660. Warbecks Appell und die Herabsetzung des Todes als Nichtigkeit bringt ihn in die bestimmende Position: Er selbst hat über sein Schicksal entschieden, er hat sich bewußt gegen ein Geständnis seiner Hochstapelei entschieden: »So präsentiert John Ford am Schluß seines Dramas zwei Könige: den Tudor-Monarchen Heinrich VII. und Perkin Warbeck, der sich im Angesicht seines eigenen Untergangs verbal zum Herrscher über den Tod aufschwingt.«661
Warbecks letzte Rede läßt sich nicht in die typischen Redeabschnitte einteilen. In ihr sind Bestandteile aus der Gattung der laudatio (siehe Vers 190f.) als auch aus 657 Vgl. Neill, »›Anticke Pageantrie‹: The Mannerist Art of Perkin Warbeck«, S. 117–150, hier: S. 149. 658 Nover, »Die Inszenierung von Herrschaft in John Fords Perkin Warbeck«, S. 441–449, hier: S. 448–449. Barish sieht in Warbecks letzten Worten Anzeichen des Königtums. Vgl. Barish, »Perkin Warbeck as Anti-History«, S. 151–171, hier: S. 166. Jedoch ist auch hier der Verlust an persusasiver Kraft in Perkin Warbecks Rhetorik zu erkennen. Vgl. dazu Baumann, Shakespeare und seine Zeit, S. 140. Vgl. außerdem Baumann, »Basileia und Tyrannis in der Dramatik und Dichtung der Englischen Renaissance«, S. 9–44, hier: S. 28. 659 Freer, »›The Fate of Worthy Expectation‹: Eloquence in Perkin Warbeck«, S. 131–148, hier: S. 135. 660 Barish, »Perkin Warbeck as Anti-History«, S. 151–171, hier: S. 166. 661 Nover, »Die Inszenierung von Herrschaft in John Fords Perkin Warbeck«, S. 441–449, hier: S. 449. Vgl. auch Ure, S. lxxviii.
Perkins Schlußrede (V,3,187–207)
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dem genus deliberativum vorhanden. Neben ihrem Appell an seine Gefolgsleute veranschaulicht sie Warbecks Sicht des Sachverhalts und seine Überzeugung. Hinsichtlich seines Gnadengesuchs für seine Gefolgsleute bleibt seine Rhetorik jedoch wirkungslos.662 Warbeck wird auf Daubeneys Befehl hin abgeführt und hingerichtet. Perkin muß am Ende akzeptieren, daß seine Sicht der Wahrheit und sein schieres Gottvertrauen nicht ausgereicht haben, seinen Thronanspruch zu bekräftigen. Die Figur des Perkin Warbeck kann nicht anders, als ihrem Hamartia-Prinzip treuzubleiben, was im fünften Akt Perkins Schicksal besiegelt.
662 Vgl. Baumann, »Basileia und Tyrannis in der Dramatik und Dichtung der Englischen Renaissance«, S. 9–44, hier: S. 28.
9
Schlußbetrachtung
Wir können politische Rhetorik sowohl in den Werken Shakespeares als auch bei Jonson, Massinger und Ford in verschiedenen Formen vorfinden. In jedem der behandelten Dramen hat sich die politische Rhetorik als ein wichtiges Werkzeug erwiesen, mit dem sie zur Problematik maßgeblich beigetragen, sei es, daß sie Konflikte hervorgerufen oder daß sie diese beendet hat. Die Griechen, die in der in der Antike die Theorie und Kunst der Beredsamkeit entdeckt, eine Theorie des gepflegten Sprechens entwickelt und die Eloquenz in das öffentliche Leben integriert hatten, haben die Rhetorik zu einer Lebensphilosophie ausgebaut. Einem Redner oder Rhetoriker geht es nicht um die reine Sprachbeherrschung, sondern auch um Sprachdenken und Sprachhandeln. Im 2. Jahrhundert v. Chr. wandte sich Rom der griechischen Philosophie, Literatur und Wissenschaft zu. Es waren griechische Redelehrer, die die römische Aristokratie in der Rhetorik unterrichtete. Und die Aristokraten verstanden den Vorteil rhetorischer Fähigkeiten im politischen Alltag. Die Römer adaptierten die Rhetorik, nannten sie ars bene dicendi , perfektionierten sie und sorgten so dafür, daß sie ebenfalls zu einem integrativen Bestandteil ihres öffentlichen und politischen Lebens wurde. Wie wir bei Cicero entnehmen können, erlebte die Redekunst in der Zeit der Republik ihre Blütezeit, bevor sie in der Kaiserzeit den Wandel zu einer Schulrhetorik vollzog. Die Volksrede (genus deliberativum), die in der Öffentlichkeit gehalten wurde, wurde immer seltener, da die öffentlichen Reden ihre Bedeutung verloren hatten und zudem bei der Äußerung öffentlicher Kritik Vorsicht geboten war. Dennoch überdauerte die Rhetorik die Jahrhunderte bis zur englischen Renaissance mit der Rückbesinnung auf die Antike. Obwohl sie nicht mehr den gleichen Stellenwert von einst besaß, war sie besonders in den vorgestellten Dramen von großer Bedeutung. In den Römerdramen stellt die Rhetorik beispielsweise einen integrativen Teil des römischen Alltagslebens dar. In Coriolanus ist die Rhetorik in unterschiedlichen Formen eingebunden und trägt als wichtiger Bestandteil zur politischen Problematik des Stücks bei. Shakespeare konfrontiert uns in der ersten Szene des ersten Aktes
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Schlußbetrachtung
bereits mit einer konfliktgeladenen Situation, es kommt zum rhetorischen Schlagabtausch zwischen dem First Citizen und Menenius Agrippa. Anlaß hierzu hier ist es der politische Mißstand der durch Machtmißbrauch verursachten Hungersnot, die den First Citizen im ersten Akt mit »For the gods know, I speak this in hunger for bread, not in thirst for revenge« rednerisch aktiv werden läßt. Der First Citizen fällt durch eine logische Rhetorik auf, die keineswegs subversiv zu verstehen ist. Seinen Gegenspieler findet der First Citizen in dem Patrizier Menenius Agrippa, der rhetorisch weitaus versierter ist und sich scheinbar um die Belange der Plebejer bemüht. Mit seiner Fabel vom Streit der Glieder mit dem Magen beweist Menenius großes Geschick und Eloquenz, um den Pöbel zu beschwichtigen, ohne jedoch auf deren Problem einzugehen. Der rhetorisch-qualitative Unterschied wird durch die Gegenüberstellung einer Prosarede (First Citizen) mit einer Rede in Versform (Menenius Agrippa) kenntlich gemacht. Innerhalb des Patrizierstandes bildet Coriolanus das plumpe und undiplomatische Gegengewicht zu Menenius Agrippa. Was Menenius mit seiner Beredsamkeit aufbaut, reißt Coriolanus wieder ein. Mit Invektiven stellt er seine Verachtung für die Plebejer öffentlich zu Schau. Neben diesen Volksreden663, in denen die verschiedenen Meinungen aufeinandertreffen, kommt im Verlauf von Coriolanus der epideiktischen Rede – hier in Form der Ruhmreden auf Caius Martius – die Funktion der Propaganda zu: Die Patrizier nutzen die laudatio, um von Coriolanus ein politisch positives Bild zu zeichnen und ihn als Kandidaten für das Konsulat vorzuschlagen. Die Volkstribunen benutzen ihre Redekunst, um die Plebejer zu ihren Propagandazwecken zu beeinflussen. Lediglich Coriolanus fällt im Drama durch seine Art von Rhetorik als Nicht-Redner auf. Er bedient sich nicht irgendwelcher Psychagogie oder persuasiver Taktiken. Seine Reden wirken unvorbereitet und von seinen persönlichen Emotionen geleitet, wenn er immer wieder zu infamen Äußerungen neigt. Doch, so muß hier festgehalten werden, ist Coriolanus das einzige Drama, in dem alle drei genera orationis vertreten sind. In Sejanus His Fall präsentiert Ben Jonson äußerst drastisch, wie Sejanus die Beredsamkeit in Schauprozessen gegen Silius und Cremutius Cordus zur Wahrung und Ausweitung des eigenen Machtbereichs im Staat mißbraucht. Als Günstling des Kaisers Tiberius insinuiert er ihn im zweiten Akt, um freie Hand zur Beseitigung von Silius und Cremutius Cordus haben zu können. Im dritten Akt instrumentalisiert er für seine Zwecke Varro und Afer, die die Anklage im Schauprozeß dank Notizzettel von Sejanus gegen Silius führen. Ähnlich wird mit Cremutius Cordus umgegangen, dessen Ankläger, Satrius Secundus und Pinnarius Natta, auch von Sejanus handverlesen sind. Für Sejanus dient die Rhetorik des genus iudiciale der Meinungsbeeinflussung und somit seinem eigenen ma663 Für Müller hat diese Redegattung den Vorteil, politische Konfliktsituationen bühnenwirksam darzustellen. Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 221.
Schlußbetrachtung
231
chiavellistischen Vorteil. Die Verteidigungsreden der beiden Angeklagten erweisen sich in diesen Schauprozessen trotz ihrer rhetorischen Kraft als machtlos. Auf der anderen Seite findet Sejanus in Akt V in Tiberius seinen Meister, der wiederum mit seiner machiavellistischen Hinterlist Sejanus eine Falle stellt. Mit Tiberius’ Brief wird Sejanus vor den Senatoren seiner Macht beraubt und abgeführt. Darüber hinaus zeigt der Brief seine manipulative Kraft als insinuatio, die Senatoren gehen auf Distanz zu Sejanus und entlarven sich selbst als Opportunisten. Ben Jonson zeigt uns, wie Rhetorik als Propaganda zum Ausbau und zum Erhalt der eigenen politischen Macht genutzt wird und sich hier vom Forum in den Senat als Gerichtsrede verlagert. Bei Philip Massingers The Roman Actor werden uns im ersten Akt eine Anklage- und eine Verteidiungsrede präsentiert. Dem Schauspieler Paris wird vom Konsul Aretinus vorgeworfen, auf der Bühne Personen aus dem Adel und Senat bloßgestellt zu haben. Aus Aretinus’ Vorwurf gegen die »meaner men«, wie er die Schauspieler nennt, erwächst Paris’ Verteidigungsrede. Wegen Hochverrats mit der Todesstrafe bedroht, verteidigt Paris die Schauspieler und das Theater. Ebenso wie Cremutius Cordus in Sejanus His Fall zerlegt er die dürftige Anklage (I,3,35f.: »Meere accusations are not proofes my Lord, / In what are we delinquents?«) des Aretinus. Rhetorisch eindrucksvoll und darüber hinaus rhetorisch besser als Aretinus legt Paris den didaktischen Nutzen des Theaters dar, wenn es beispielsweise Laster bestraft und seine Zuschauer zur Nachahmung tugendhafter Menschen einlädt.664 Daß die Rhetorik als Mittel der Überzeugung funktioniert, beweist Paris’ Apologie, denn der tyrannische Domitian verhängt nicht die Todesstrafe. Sowohl in Massingers Drama als auch in Ben Jonsons Sejanus His Fall kommt die Rhetorik maßgeblich im Rahmen des genus iudiciale im Senat in der Form von Anklage- und Verteidigungsrede zum Einsatz. Massinger ließ sich in der Senatsszene von Jonson inspirieren, beide Szenen sind durchaus ähnlich, unterscheiden sich allerdings im Ausgang des Gerichtsprozesses: Silius begeht angesichts der ausweglosen Situation Selbstmord, Cremutius Cordus wird in Gewahrsam genommen, aber Paris und seine Schauspielkollegen entgehen der Todesstrafe, weil sie – besonders Paris – in der Gunst des Kaisers stehen. Wenn wir uns den Historiendramen zuwenden, entsteht der Eindruck, die Redekunst rückt in den Hintergrund, da sie nicht mehr die Funktion hat, eine gewisse Form der Haltung zu vermitteln, wie in den Römerdramen. Der rhetorische Schlagabtausch bestehend aus Rede und Gegenrede steht nicht mehr im Fokus. In Shakespeares King Richard II werden zwei unterschiedliche Konzeptionen von Herrschaft rhetorisch zur Schau getragen. Stets äußert Richard II. in rhetorischen Monologen sein Herrschaftsverständnis als König von Gottes Gnaden. Sein Onkel Gaunt hingegen bedient sich aus Patriotismus der Rhetorik: 664 Vgl. Baumann, Vorausdeutung und Tod, S. 344.
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Schlußbetrachtung
Einerseits hält er ein Enkomium auf England, andererseits nutzt er die Rhetorik als Herrschaftskritik an Richard, die jedoch wirkungslos bleibt. Gaunt, York und Carlisle gibt Shakespeare die Möglichkeit, ihre politischen Standpunkte in großen Reden auszudrücken. Rhetorisch treten die Figuren allerdings nicht in eine Diskussion. In King Richard II werden im Grunde nur die Position Gaunts, Yorks und des Bischofs von Carlisle rhetorisch-argumentativ repräsentiert.665 In Gaunts Rhetorik fällt die stete Rückbesinnung und Glorifizierung der Vergangenheit bei seiner Englandvision ins Auge. Auf Basis dieser glorreichen Vergangenheit Englands richtet er moralische Appelle an Richard II., jener solle seinen Herrschaftsstil und seine Herrschaftsmoral ändern. Doch die Kritik und der moralische Appell Gaunts beeindruckt Richard nicht im geringsten. Das Ideal des Erbkönigtums von Gottes Gnaden nimmt durch Bolingbrokes Machtergreifung und Absetzung des rechtmäßigen Königs weiteren Schaden. Auch hier zeigt sich erneut die Wirkungslosigkeit von Rhetorik in bezug auf die Dramenhandlung, wenn Carlisle in der ersten Szene des vierten Aktes gegen Bolingbrokes Handeln protestiert. Geradezu zynisch ist Northumberlands Reaktion mit »Well have you argued, sir; and for your pains, / Of capital treason we arrest you here.« (IV,1,151–152). Anstatt einer Gegenargumentation folgt ein Kommentar und die Verhaftung Carlisles. Taten ersetzen Worte. Die Rhetorik ist in King Richard II von der aktuellen Politik entkoppelt, sie steht noch für das Ideal der Vergangenheit. In King Henry V entpuppt sich der Hauptcharakter als ein wahrer Wortkünstler, der die Rhetorik manipulativ einsetzt, um seine eigenen politischen Ziele durchzusetzen, sei es durch drohende Reden an seinen Gegenspieler oder durch eine einstimmende Feldherrenrede vor seinen Soldaten. Wie der Usurpator Henry Bolingbroke in King Richard II verfügt Henry V. über Charisma und politische Stärke. Seine Taktik hat sich im Drama bewährt: Vor den Kampfhandlungen verwendet Henry gegenüber seinen Gegnern Drohgebärden, die weniger den Umstand des persuadere erfüllen. Unklar bleibt an der Figur des Henry, ob er als Herrscher tatsächlich von Zweifeln geplagt wird und somit die Rhetorik wie etwa in seiner Feldherrenrede als Tarnung dieser Zweifel nutzt. Im Vergleich mit den Römerdramen, in denen eine größere Bandbreite der genera orationis zu verzeichnen ist, wird in King Henry V die Rhetorik als Kriegsrhetorik eingesetzt, was ihre politisch-argumentative Substanz schmälert. Die Chorusfigur leitet jeden Akt mit ihrer Chorusrede ein und berichtet dem Publikum, was es im anschließenden Akt zu erwarten hat, oder sie präsentiert dem Publikum ein idealisiertes, heroisches Bild eines Heldenkönigs, an dessen Rechtmäßigkeit kein Zweifel aufzukommen hat. Bezogen auf Henry verwendet der Chorus die Rhetorik für eine patriotische laudatio, in Verbindung mit den 665 Vgl. Müller, Die politische Rede, S. 218f.
Schlußbetrachtung
233
Franzosen nutzt er die Rhetorik gleichermaßen auch als vituperatio, also als Schmähung. Durch seine Unzuverlässigkeit in der Darstellung – die Informationen passen nicht zu den anschließenden Szenen666 – und seine manipulativen Fehlinformationen an das Publikum zwingt er es zur Wachsamkeit, um nicht der rhetorischen Manipulation zum Opfer zu fallen. Ebenso wie Richard II. hat auch Perkin Warbeck in John Fords Perkin Warbeck den gleichen tragischen Fehler, nämlich das Selbstverständnis, Herrscher von Gottes Gnaden zu sein, und gänzlich auf dieses Gottvertrauen zu setzen. Warbecks Charisma gepaart mit seiner Eloquenz, mit der er in seiner suasiven Rhetorik die übrigen Charaktere überzeugt, vermag seine Hochstapelei zu verschleiern. Seine Redekunst dient lediglich dem Zweck, Unterstützung für seinen Anspruch auf die englische Krone zu erhalten. Warbecks Beredsamkeit entfaltet bei James ihre volle Wirksamkeit. Anders als Coriolanus vermag er die Gunst seines Publikums – wenn auch nur anfänglich – zu gewinnen. Im Kontrast zu Henry Bolingbroke in King Richard II scheitert seine Usurpation, was auch daran liegt, daß Perkin Warbeck wie Richard II. – als Repräsentant sakramentalen Königtums – allein auf Gott vertraut, seinen Thron beanspruchen zu können. Die Frage ist hier: Was hätte Perkin Warbeck mit seinem Charme und seiner Redekunst vermocht, wenn er seinen Anhängern noch irgendeine Form eines (fadenscheinigen) Beweises für seinen Anspruch hätte liefern können? Freer bezeichnet Warbeck aus gutem Grund als »dangerous political force«667. In allen untersuchten Dramen wird die Rhetorik von den Charakteren zur Überzeugung, Überredung, emotionalen Bewegung, Anklage und Verteidigung gebraucht – und manchmal mißbraucht. Außer in King Richard II bewirkt sie Handlungsumschwünge, in den Römerdramen steht ihr dialogischer Charakter in den Volks- und Gerichtsreden mit Rede und Gegenrede stärker im Vordergrund als Bestandteil des öffentlichen Lebens. Sie vermittelt dem Publikum die Haltung der Charaktere und ist nicht nur für die Handlung des Dramas ein wichtiges Kompositionselement: Sie spiegelt die Aktualität des antiken Gedankenguts und der Rhetorik wider. Zusätzlich dient sie den Dramatikern als ein Werkzeug, um Zeitkritik zu üben oder im Schauspiel ihre eigene Meinung durchscheinen zu lassen. Die Allgewalt der politischen Rhetorik läßt sich mittels der englischen Dramen und besonders der Römerdramen nachvollziehen und wird dadurch begreifbar. Gerade durch ihre große Bedeutung in der Literatur der englischen Renaissance vermag sie durch die Rückbesinnung auf das klassische Altertum an ihre Blüte in der Antike anzuknüpfen.
666 Vgl. Hammond, »›It must be your imagination then‹: The Prologue and the Plural Texts in Henry V and Elsewhere«, S. 143. 667 Siehe S. 214, Anm. 637.
Literaturverzeichnis
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