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German Pages 237 [240] Year 2001
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Erich Auerbach
DANTE
als Dichter der irdischen Welt
2. Auflage mit einem Nachwort von
Kurt Flasch
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2001
Die 1. Auflage erschien 1929.
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Auerbach, Erich: Dante als Dichter der irdischen Welt / Erich Auerbach. - 2. Aufl. / mit einem Nachw. von Kurt Flasch. - Berlin ; New York de Gruyter, 2001 ISBN 3-11-017039-6
© Copyright 2001 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: +malsy, Bremen Umschlagmotiv: Sandro Botticelli, Commedia Divina, Paradiso VI. Mit freundlicher Genehmigung: Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. Kupferstichkabinett Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. G m b H & Co. KG, Göttingen
INHALT Seite
I. Historische Einleitung über Idee und Geschick des Menschen in der Dichtung II. Dantes Jugenddichtung III. Der Gegenstand der Komödie IV. Der Aufbau V. Die Darstellung
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VI. Erhaltung und Wandlung von Dantes Wirklichkeitsvision
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Register
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Nachwort von Kurt Flasch
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δαίμων
I. HISTORISCHE EINLEITUNG ÜBER IDEE UND GESCHICK DES MENSCHEN IN DER DICHTUNG. Daß der Mensch Eines sei — ein Unteilbares aus Kraft und Gestalt des Körpers, Vernunft und Willensmut des Geistes —, daß aus solcher Einheit sein besonderes Geschick sich entfalte, indem stets die ihm zukommenden Taten und Leiden gleichsam magnetisch angezogen sich um ihn versammeln, sich an ihn klammern und somit selbst einen Teil seiner Einheit bilden — diese Einsicht besaß die europäische Dichtung schon in ihren griechischen Anfängen: sie verlieh dem homerischen Epos Anschauung und Durchdringung der Struktur möglichen Geschehens. Gleichgeartete Taten und Leiden erfindend und aufhäufend bildete Homer Achill oder Odysseus, Helena oder Penelope; aus einer Tat, die das Wesen offenbarte, oder auch aus dem Wesen, das sich in einer ersten T a t bekundete, ergab sich dem erfindenden Dichter notwendig und natürlich die Reihe und Summe ihrer gleichgearteten Taten, und zugleich die Gesamtrichtung ihres Lebensverlaufs, ihrer Einflechtung in das Netz des Geschehens, die ebensowohl ihr Wesen ist wie ihr Geschick. Das Bewußtsein, daß das besondere Geschick des Menschen ein Teil seiner Einheit sei, also der Inhalt des heraklitischen Ausspruchs, den wir dieser Untersuchung vorangestçllt haben, gibt Homer die Fähigkeit zur Nachahmung des wirklichen Lebens. Es ist hier nicht ganz genau derjenige Realismus gemeint, den die antike Kritik 5
IDEE UND GESCHICK DES MENSCHEN
an Homer rühmte und gelegentlich auch bei ihm vermißte 1 ), nämlich die Wahrscheinlichkeit oder Glaubwürdigkeit der Ereignisse; sondern wir meinen eine Darstellungsart, die die Ereignisse, gleichviel ob sie wahrscheinlich sind, evident vorstellt, so daß die Frage nach ihrer Wahrscheinlichkeit erst bei nachträglicher Reflexion auftauchen kann. Nach der ersten, der antiken Auffassung müßte die Darstellung eines märchenhaften oder wunderbaren Vorgangs notwendig unrealistisch sein; nach der hier gemeinten kommt es auf die Evidenz des Dargestellten an, die ja keineswegs nur von der Erwägung abhängt, ob man so etwas schon je gesehen habe, und ob es glaublich sei; wir nennen etwa ein Blatt Rembrandts, das das Erscheinen Christi in Emmaus darstellt, eine geglückte Nachahmung des Lebens, weil selbst der Nichtgläubige, getroffen von der Evidenz dessen, was er sieht, die Erfahrung des wunderbaren Vorgangs aufzunehmen genötigt wird. Diesen Realismus, oder um das vieldeutige und viel verwandelte Wort nicht länger zu gebrauchen, diese Kunst der Nachahmung besitzt Homer überall, auch wo er Märchen erzählt, denn die Einheitlichkeit, das sibi constare seiner Gestalten rechtfertigt oder bedingt das ihnen Geschehende. In e i n e m Akte zeugt die dichterische Phantasie die Gestalt und ihr Geschick ; Beobachtung und Vernunft wirken mit, sie bereichern und ordnen, doch die eine erschöpft sich registrierend an der chaotischen Fülle des Materials, die andere zerschneidet es tyrannisch und paßt sich der Erscheinung nicht an; in der Erfindungsgabe Homers ist eine Ueberzeugung enthalten, die weder Beobachtung noch Vernunft aus sich selbst zu begründen vermögen, obwohl sie im Kunstwerk überall Zustimmung findet, nämlich die Ueberzeugung, daß eine jede Gestalt ihr besonderes Geschick bedinge und ihr notwendig nur das ihr Zukommende geschehen könne. Das ihr Zukommende, nicht das einer ihrer Eigenschaften Zukommende; denn diese, als Abstraktionen, fallen niemals mit der Erscheinung zusammen; nicht daß dem Guten *) Zum Beispiel
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fiep)
νψους
IX, 13.
HOMER
Gutes, dem Tapferen Tapferes geschehe, ist dichterisch darstellbar, und fordert Zustimmung, sondern daß dem Achill Achilleisches geschehe ; die Beiworte άϊος oder πολυαητις haben nur Sinn für den, der weiß, was in ihnen von der Gestalt enthalten ist. Daher ist die homerische Nachahmung, die in der antiken Kritik Mimesis heißt, kein. Versuch zur Kopie der Erscheinungen; sie erwächst nicht aus der Beobachtung, sondern gleich dem Mythos aus der Vorstellung von einheitlichen Gestalten, deren Einheit gegeben ist, bevor die Beobachtung der Darstellung zu Hilfe kommt; ihre lebendige Gegenwart und Mannigfaltigkeit rührt, wie man überall feststellen kann, aus der Lage, in die sie jeweils geraten und geraten müssen, und die ihr Handeln und Leiden vorschreibt ; erst hier stellt sich die naturalistische Beobachtung ein, ohne daß es nötig wäre sie herbeizurufen, denn sie bietet sich von selbst. Die Naturwahrheit oder echte Mimesis einer homerischen Szene wie der Begegnung von Odysseus und Nausikaa beruht durchaus nicht auf scharfer Beobachtung täglicher Vorgänge ; sondern auf der apriorischen Vorstellung vom Wesen beider Gestalten und ihres zukommenden Geschicks; diese Vorstellung schafft die Lage, in der sie zusammentreffen, und ist sie erst einmal gegeben, so hat die Darstellung, die dieses Märchen zur Wahrheit werden läßt, ein leichtes Spiel. So ist Homers Gestaltung keine bloße Kopie des Lebens, nicht nur weil er Märchen erzählt, die nie geschehen sein können, sondern weil er eine Vorstellung vom Menschen besitzt, die ihm die reine Erfahrung nicht vermitteln konnte. Aus dem epischen Mythos entstand die Tragödie ; doch je weiter sie sich von der Form des Epos entfernte und eine eigene gewann, désto ausschließlicher ergriff sie den Menschen erst in der eigentlichen Entscheidung seines Geschicks, und enthüllte dieses und ihn selbst in der endgültigen und vollkommenen Vereinigung, welche sein Untergang ist. Während nämlich das homerische Epos beide immer nur im allmählich sich deutenden Progreß zeigt und das Ende des Helden verschweigen darf, enthüllt die Tragödie in ihren klassischen Beispielen den End7
IDEE UND GESCHICK DES MENSCHEN
punkt, in dem es keine Mannigfaltigkeit und keine Auswege mehr gibt, sondern das eigene Schicksal dem Menschen, den es betrifft, als ein gedeutetes sich offenbart und als ein verderbendes, feindseliges, anscheinend fremdes entgegentritt; und hier beginnt sein inneres Wesen zu erschrecken, sich gegen das Allgemeine, in welches sein Besonderes einmünden soll, zur W e h r zu setzen und den sinnlosen Endkampf gegen den eigenen Daimon aufzunehmen. Die Natur dieses Kampfes, wie ihn die Redeschlachten bei Sophokles am deutlichsten vorstellen, bringt es mit sich, daß von den Menschen, die in ihn eintreten, ein Teil ihres besonderen Wesens abfällt; so sehr sind sie in der letzten Not befangen, so stark hingerissen von ihrem Endkampf, daß ihnen von ihrem Persönlichsten nichts mehr geblieben ist als Alter, Geschlecht, Stand und die allgemeinsten Merkmale des Temperaments; ihre Handlungen und ihre ganze sinnliche Erscheinung wird beherrscht von der jeweiligen dramatischen Lage, das heißt den taktischen Erfordernissen ihres Kampfes. Dennoch hat die griechische Tragödie dem Helden noch sehr viel von seiner Individualität gelassen; im Anfang besonders, wo er noch intakt und fest dasteht, zeigt er das Besondere, Sachgebundene, Irdisch-Sinnliche seines Wesens mit Realität und Würde, und auch im Fortgang, wenn die Spaltung zwischen seiner Besonderheit und dem immer allgemeiner sich offenbarenden Geschick schon eingetreten ist, bleibt ihm noch, krampfhaft festgehalten oder heroisch geopfert, die eigentümliche Form seines Lebenswillens. Nur f ü r die epische Spontaneität, die aus der Uebereinstimmung jener beiden Elemente der Einheit in jedem Augenblick neue sinnliche Formen erfindet, ist hier kein Platz; denn wenn dem Menschen früher, in seinem epischen Leben, aus dem immer wieder neu in ihn eingehenden Geschick immer neuer Reichtum seines besonderen Wesens erwuchs, so ist er nun hart und starr und sinnlich arm geworden; er stemmt sich gegen das allzu allgemeine Schicksal des Untergangs und läuft ihm doch entgegen; er ist nur noch das Allgemeinste, ein untergehender Mensch, der das Kapital seiner Lebenskraft, das
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TRAGÖDIE, PLATON keine Früchte mehr zu erzeugen vermag, vergeudet und erschöpft. In der sophistischen Aufklärung zerfiel die Einheit der Gestalt; die Künste psychologischer Analyse des Charakters und rationaler Deutung des Geschicks vermochten das Geschehende nicht zu bezwingen, und die Tragödie begann, um ihre Form zu wahren, technischer Hilfsmittel zu bedürfen: zu der ausgebildeten psychologischen Einsicht tritt oft in ärgerlichen Gegensatz die zufällige und leere Maschinerie der Auflösung. Gleichzeitig begann in der Komödie die Nachahmung des Alltäglichen, die sich auf Beobachtung gründet, und das Ungewohnte, mit Recht oder Unrecht, rational karikiert, getragen von der freilich schwankenden Zustimmung des aufgeklärten Volkes, den Platz zu erobern und die Vorstellung von der apriorischen Gestalteinheit im allgemeinen Bewußtsein zu diskreditieren. In dieser Lage entsteht die platonische Kritik der nachahmenden Kunst. Piaton, der, die eigene Begabung und Empfänglichkeit für das Sinnlich-Anschauliche verschmähend, seine Opposition gegen die beliebige Kunsterregung zu einer reinen und strengen Utopie ausbildete, hat im zehnten Buch des Staates das lang vorbereitete und fällige Urteil formuliert: wenn die empirische W e l t ein Zweites, ein trügerisches Abbild der allein wahren und seienden Ideen bilde, so sei die Kunst, die sich mit der Nachahmung der Erscheinung befasse, ein durchaus Minderes, Getrübtes, ein Drittes im Range nach der Wahrheit : τρίτον τι άπό της άλ-ηΰείας 2 ) ; ihre Wirkung richte sich auf den niederen, unvernünftigen Teil der Seele; ein uralter Zwiespalt bestehe zwischen der Dichtung und der Philosophie, und aus dem philosophischen Staate sei sie zu verbannen. Daß er den nicht nachahmenden Künsten eine beschränkte Geltung einräumt, insofern sie in fester Ueberlieferung, ohne Konzession an das Trügerische und Wechselnde der Erscheinung, mit heiliger Nüchternheit die Tugenden des Bürgers im philosophischen Staate zu *) Staat X, 602.
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IDEE UND GESCHICK DES MENSCHEN
kräftigen fähig sind, bedeutet nur eine Bestätigung des Gesamturteils, das jede eigentlich schöpferische Kunstübung verwirft. Trotzdem hat die platonische Lehre die Würde der nachahmenden Kunst nicht zerstört — sie hat ihr im Gegenteil für Jahrtausende einen neuen Antrieb gegeben und ein neues Ziel gewiesen. Nicht daß es Piaton nicht Ernst damit gewesen wäre : keine Erinnerung an den Preis der Inspiration in anderen Dialogen, keine Berufung auf die mimetische Kunst der platonischen Dialoge selbst, die man ihm in solchem Zusammenhang sogar zum Vorwurf machte3), darf uns hindern, in jener Stelle seine echte und wahre Meinung zu sehen, wie sie sich seiner dichterischen Anlage zum Trotz, nach mancher gefährlichen Prüfung, in reiner Vollendung der Ideenlehre gebildet hatte. Allein die Wirkung seiner Worte wurde beeinflußt von dem Gedanken an den Mann, der sie ausgesprochen hatte. Er hatte die Schönheit der Erscheinung auf mannigfaltige Art als Stufe· zur wahren Schönheit gepriesen, durch ihn erst war die Parusie der Idee in der Erscheinung dem Künstler und dem Genießenden zum Problem und zur Sehnsucht geworden : gerade er hat den Abgrund zwischen Dichtung und Philosophie überbrückt, denn in seinem Werk erst wurde die Erscheinung, die die eleatischen und sophistischen Vorgänger verachteten, zum Abglanz des Vollkommenen: seine Lehre gab den Dichtern auf, philosophisch zu dichten, nicht nur im Sinne einer Unterweisung, sondern in dem Bestreben durch die Nachahmung der Erscheinung zu ihrem wahren Wesen, und zum Ausdruck ihrer Teilhaftigkeit am Schönen der Idee vorzudringen. Er hat die Kunst der Mimesis selbst tiefer verstanden und auch vollkommener ausgeübt als irgendein Grieche seiner Zeit, und seine poetische Wirkung ist neben der homerischen die höchste des Altertums. Die Gestalten seiner Dialoge sind im Innersten und Besondersten erfaßt, das Gespräch selbst ist bewegte Erscheinung; das abstrakteste Lehrgebilde wird zu einem Zauberwerk, des3
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) Athenaeus XI, 505 b.
PLATON sen sinnlicher Glanz mit dem Sachgehalt in jedem rezeptiven Bewußtsein verschmilzt und zu seinem Wesen zu gehören scheint. Es wäre verkehrt und unmöglich hier an eine Art Ueberrumpelung oder Täuschung zu denken, von der man sich befreien müsse, um den wahren Sinn zu gewinnen. Denn Piatons Liebe zum Besonderen war ihm der Weg zur Weisheit, ein Weg, den er in der Rede der Diotima geschildert hat ; sie gelangte zu so einzigartigem Ausdruck, weil für ihn das allgemeine τέλος des Menschen sich nicht seinem besonderen Wesen und Geschick entgegenstellt, sondern sich in ihm ausprägt und ausspricht ; er hat die Einheit von Wesen und Geschick in dem Mythos von der Wahl der Lebenslose dargestellt, die der Pamphylier Er vor dem Thron der Lachesis mit anschaut4), und dabei die durch den Tod unzerstörte Besonderheit des individualen Wesens eindringlich betont. Piatons Kunst ist fromm, sie ist der höchste von der Vernunft bestätigte und geläuterte Ausdruck des mythischen Schicksalsbewußtseins. In diesem und in dem möglichen Teilhaben der Seele an der Schönheit der Idee ist der Dualismus des Systems besiegt, und im Bewußtsein späterer Generationen hat dieser Piaton fortgewirkt, der die Philosophie in die Kunst eingehen ließ und eine zugleich tiefere und genauere Erfassung des Geschehenden begründete und vorbereitete. Aus seiner Gesinnung stammt auch die tatsächliche Bereicherung der Anschauung, die seine Kunst enthält. In der Form des Gesprächs, die er schuf, gibt es in einem engeren Sinne keine Begegnung mit dem Schicksal, keine dramatische Lage — auch in der SokratesTrilogie Apologie, Kriton, Phaidon ist sie nur ein Hintergrund. Αή ihre Stelle tritt die Begegnung mit der Wahrheit, die die Richteraufgabe des Geschicks übernimmt; Knaben und Jünglinge, Männer und Greise treten in der leichten Bewegung des Gesprächs vor diese Prüfung, und in ihrer Bereitschaft, Hingebung und Entscheidungskraft müssen sie sich enthüllen wie die Seelen vor den Unterweltrichtern in dem Mythos, den Sokrates am Ende des *) Staat, X, 617!. 11
IDEE UND GESCHICK DES MENSCHEN
Gorgias erzählt4). Nim treten Mut und Adel der Seele und die Echtheit dee inneren Wesens zutage oder versagen sich, wie die Fähigkeiten des Körpers sich im gymnastischen Spiel erweisen, und während diese unfaßbarsten und geheimsten Dinge sich vollkommen als Erscheinung, in evidentester sinnlicher Anschauung offenbaren, scheint es doch zugleich, als würden sie durch eine genaue Wage gewogen und gleichsam in einer messenden Kunst festgelegt. Es ist darum nicht verwunderlich, daß in der platonischen Kritik der Nachahmung die philosophische Kunsttheorie nicht ihr Ende sondern ihren Ausgangspunkt fand. In der Ideenlehre selbst lag der Keim zu einer Wandlung, die kürzlich von E. Panofsky«) in ihrer Bedeutung für die bildende Kunst beschrieben worden ist. Es war die Bemühung um eine philosophische Rechtfertigung der Künste, die die Ideen als Vorbilder allmählich aus dem ΰπερουράνως τόπος in die Seele, aus der Transzendenz in die Immanenz hineinholte; und gleichzeitig erfuhr der Gegenstand, den der Künstler nachahmte, eine gleiche Verwandlung; er wurde aus der Empirie ebenfalls in die Seele versetzt, indem man meinte, es könne nicht der wirkliche Gegenstand sein, den der Künstler nachahme — sonst wäre das Kunstwerk ja nicht schöner als der Gegenstand — sondern das Bild in seiner Seele, eben die immanente Idee, das èvvó-ημα ; in der Seele des Künstlers begegnen sich nun das Nachgeahmte und die Wahrheit, die bei Piaton so schroff geschieden waren, und der immanenten Idee wurde, gegenüber der Wirklichkeit und auch später gegenüber dem Werk, jene höhere Vollkommenheit beigelegt, die Piaton nur im ύπερουράνιος τόπος anzutreffen für möglich hielt. Daraus ergab sich nun eine äußerste Spiritualisierung des Vorgangs der Mimesis, welche zwar ihre Wurzeln in der Ideenlehre hatte, aber in ihrem Resultat, der erhabenen Auffassung von der Würde der Kunst, der platonischen Theorie entgegengesetzt war — und ») Gorgias 523-24. «) Idea (Studien d. Bibl. Warburg, 5, 1924) S. 1—16.
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PLATON, ARISTOTELES
welche schließlich in der plotinischen Vertiefung des Gegensatzes zwischen dem Urbild in der Seele des Schaffenden und dem materialisierten Werk, das notwendig nur ein getrübtes Abbild sein könne, einen neuen Dualismus und eine neue Problematik erfuhr. Gleichsam die erste Stufe dieser Umbildung der Ideenlehre für die Kunsttheorie ist die aristotelische Aesthetik: ihr Einfluß auf die Geschichte der Theorie ist groß, doch ihre Bedeutung ist geringer als die der platonischen, wenn man die teils sinnlichen, teils methaphysischen Impulse der Kunstwerke selbst zu erforschen sucht. Die Lehre von der Selbstverwirklichung des Wesens in den Erscheinungen, wodurch das einheitliche formbestimmte Einzelding zum wahrhaft Wirklichen, zur Substanz wird, hat der Nachahmung eine neue philosophische Rechtfertigung gegeben, um so mehr, als Aristoteles bei der Formulierung des Geschehens als eines Eingehens der Form in den Stoff neben dem organischen Geschehen in der Natur auch das menschliche Kunstbilden im Auge hatte; bei diesem ist die Form, das Eidos, in der Seele des Künstlers, ein Satz, in dem sich die oben besprochene Umwandlung der Ideenlehre zur Immanenz in ihrer Bedeutung für die Kunsttheorie deutlich ausprägt. Dem entspricht die ausdrückliche Verteidigung der Dichtkunst gegenüber Piaton als einer poietischen Philosophie, die in ihrer höchsten Form, der Tragödie, durch Erregung und Ueberwindung bestimmter Affekte keine verderblich zersetzende, sondern eine reinigende Wirkung habe, und die gegenüber der Geschichtsschreibung, das heißt der reinen Kopierung des Geschehenen, philosophischer sei, weil sie das Einzelne durch das Allgemeine, das Zufällige durch das Wahrscheinliche ersetze. Aristoteles hat also die Erkenntnis formuliert, daß das formbestimmte Besondere die Idee verwirklicht, und hat es damit als Gegenstand der Nachahmung rehabilitiert; indem es dann aber, dem bildenden Eidos des Künstlers gegenüber, wieder zum Stoff wird, ergibt sich die weitere Erkenntnis, daß das künstlerisch Nachgeahmte ein stärker Geformtes gegenüber seinem empirischen Vorbild und somit ein Wertvolleres darstellt. 13
IDEE UND GESCHICK DES MENSCHEN
Doch entspringen diese Erkenntnisse durchaus nur der vernünftigen Einsicht in das Gregebene, nicht aber dem Teilhaben an seinem Wesen, dem Prozeß des sich darin Verlierens und Wiederfindens, den Piaton erlebt haben muß. Aristoteles hat nicht versucht denjenigen Teil des Wirklichen, der sich der rationalen Durchformung widersetzte, zu bezwingen, er hat ihn als das Gesetz- und Zwecklose fallen gelassen, das begrifflich Unerklärliche als das realiter Zufällige behandelt und es als den notwendigen Widerstand der Materie auf die unterste Stufe der metaphysischen Weltordnung gestellt. Der Dualismus von Form und Materie, der neben dem platonischen Zweiweltenwesen so leicht überbrückbar erscheint, und auch tatsächlich in jedem empirischen Ding den wenn auch unvollendeten Vorgang seiner Ueberwindung zeigt, involviert aber, wenn man ihn auf das Geschehen bezieht, die für uns entscheidende Vorstellung, die auch in der aristotelischen Ethik zugrunde liegt, daß dem Menschen etwas völlig Zufälliges und Fremdes geschehen könne ; denn das rational Unauflösbare ist das τό ουχ άνευ der reinen Materie, das Zufällige. Diese Vorstellung ist einem Menschen von der Gesittung des Aristoteles, der das vom Schicksal Zukommende nach dem rationalen Gerechtigkeitsbegriff beurteilt, nur natürlich, aber sie läuft dem tragischen Schicksalsbewußtsein geradewegs zuwider — ganz anders als die Zweiweltenlehre Piatons, die das Geschehen als trügerisch zurückwies und doch die mythische Durchleuchtung dieses Geschehens gestattete. Hieraus ergeben sich nun einige bedeutende Eigentümlichkeiten der aristotelischen Poetik in dem Verhältnis des Dichters zur geschehenden Wirklichkeit. Daß diese nicht in der anscheinenden Unordnung und Uneinheitlichkeit dargestellt werden darf wie sie sich bietet, hat er deutlich und f ü r spätere Zeiten Richtung gebend ausgesprochen; doch er glaubt, daß diese Unordnung und Uneinheitlichkeit des Geschehens nicht an der Schwäche der Augen liege, die es betrachten, sondern im Geschehen selbst vorhanden sei, daß der Dichter also ein besseres Geschehen als das Wirkliche schaffen und die Tragödie eine Korrektur des Geschehenden sein müsse. 14
ARISTOTELES
Das kommt zum Ausdruck, wenn er die Einheit der Tragödie ausdrücklich nicht auf dem Helden, dem Uneinheitliches geschehen könne, sondern auf der rationalisierten Fabel aufbaut, wenn er- die Fabel als unabhängig von den Charakteren für möglich erklärt; wenn er das „Allgemeine", das der Dichter schildert, dem „Einzelnen" der Geschichte entgegenstellt. Und die Folge dieser Auffassung ist die fast übermäßige Beschränkung und Einteilung der poetischen Möglichkeiten, die die gesamte spätere Theorie entscheidend beeinflußt hat und die überhaupt eine Grenze der antiken Poetik darstellt, über die sie nicht hinaus gelangt ist ; nur Piaton hat am Ende des Symposion jene vieldeutige Scene, in der Sokrates den halb schlafenden Agathon und Aristophanes zu erklären versucht, daß ein und derselbe Mann verstehen müsse Komödien und Tragödien zu dichten1). Die rationalistische Schicksalsfremdheit hat die gesamte nachplatonische Antike bis zum Siege des Christentums und der Mysterienreligionen beherrscht; der große notwendige Weltzusammenhang der Stoiker, mit der Gleichsetzung von Natur und Vernunft, ist ihr nicht weniger verfallen wie der metaphysische Freiheitsbegriff Epikurs, und beide gipfeln in dem ethischen Ideal einer Loslösung und Abkapselung des Menschen von seinem Geschick ; der Weise ist der Unerschütterliche, er überwindet die Außenwelt durch Verweigerung der Teilnahme und Affektlosigkeit. In der römischen Kunstpoesie und Theorie der Blütezeit ist die spätgriechisch-rationalistische Gesinnung durchaus vorherrschend: das trifft Cicero ebenso wie Horaz oder Seneca. Nur wo das Geschick und die Sendung Roms im Spiele sind, bei Vergil und bei Tacitus, überwindet die gestaltende Phantasie die Schicksalsfremdheit des philosophischen Zeitstils, und es entsteht in der inneren Erfahrung das Abbild des Wirklichen als apriorisch gestaltete Einheit. Vergil ist in der Meinung der 7 ) Vgl. zum Vorhergehenden G. Finaler, Piaton und die aristotelische Poetik, 1900.
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Jugend in Deutschland oft verkannt und mißachtet worden; Schuld daran ist der Vergleich mit Homer, und damit das doppelte Mißverständnis, daß diesen recht unvorsichtig einer primitiven Entwicklungsstufe zurechnet, jenem aber wegen der allzu gebildeten und „klassizistischen" Periode, der er zugehört, mit Mißtrauen begegnet, als schüfen verfeinerte Lebensbedingungen und Befreiung von roh anthropomorphen Formen der Religiosität eine grundsätzliche Unfähigkeit zu dichterischer Gestaltung; dieses Vorurteil hat die Herzen verschlossen, so daß man die ebenso einfache wie kunstvolle Bezauberung seiner Verse, die Reinheit des Gefühls und vor allem die wirkliche geistige Neugeburt, die sich hier vollzog, nicht würdigen und genießen konnte. In dem Bauernsohn aus der oberitalischen Provinz, der den kühlsten und mächtigsten seiner Zeitgenossen als ein auserwählter Mensch erschien, dem sie Ehrfurcht und eine fast scheue Liebe bezeugten, vereinte sich mit dem lebendigsten Bewußteein italischer Erdgebundenheit die höchste Bildung seiner Zeit, und er hat diese beiden Elemente so verschmolzen, daß das Ländlich-Traditionelle wie ein Inbegriff der vollendeten Geistesbildung, die Bildung als eine tiefe irdisch-göttliche Naturweisheit erscheint. In ihm formte sich aus der Geschichte seiner Jugend und intuitiver Erfassung der in seiner Zeit wirkenden Kräfte die Ueberzeugung von der bevorstehenden Wiedergeburt der Welt, und die vierte Ekloge, die von der Geburt des Kindes und dem Anbrechen des neuen Weltzeitalters singt, in deren beseelter Gelehrsamkeit die eschatologischen Vorstellungen aller Kulturvölker der alten Welt enthalten sind, hat wirklich den geschichtsphilosophischen Rang, den der weise Irrtum des Mittelalters ihr anwies. Was die vergilische Konzeption von der Fülle eschatologischer Ueberlieferungen, die er verwendet 8 ), vollkommen unterscheidet, ist nicht nur seine Kunst, die die dunkle, verstreute, unterirdische und geheime Weisheit der helle8
) Dazu E. Norden, Die G«burt des Kindea, Stud. d. Bibl. Warburg 3, 1924.
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VERGIL
nistischen Mittelmeerländer in das helle Licht des Tages stellt; es ist vielmehr dieses, daß jene dunkle Weisheit bei ihm in der erhofften und schon sich bildenden Weltordnung des Imperiums eine konkrete Gestalt gefunden hat. Dies sind die Wurzeln seiner poetischen und prophetischen Kraft. Gestalt und Schicksal des frommen Aeneas, der aus Not und Verwirrung, durch Prüfung und Gefahr dem ihm bestimmten Ziel entgegengeht, sind für die antike Dichtung etwas Neues. Den homerischen Epen war die Vorstellung einer bestimmten besonderen heiligen Mission des Menschen in der irdischen Welt unbekannt; und den orphischen oder pythagoräischen Mysterien war zwar der Aufstieg durch viele Grade der Prüfung ein vertrautes Motiv, aber niemals verband es sich mit einem konkreten irdischen Weltgeschehen. Doch Aeneas ist sich seiner Sendung bewußt ; die Prophezeiung der göttlichen Mutter und die Worte des Vaters in der Unterwelt offenbaren sie ihm, und er übernimmt sie mit einer stolzen Frömmigkeit. Uns scheinen die Prophezeiungen des Anchises und die Verherrlichung des julischen Hauses vielleicht fad und schmeichlerisch, doch nur deshalb, weil das vergilische Schema allzu oft für unwürdige und unbedeutende Dinge mißbraucht worden ist. Die vergilische Weltansicht aber folgt der Wahrheit historischer Gestaltung, wie sie sich ihm offenbarte, und sie hat Bestand und Wirkung weit länger bewahrt als er es voraussehen konnte ; er ist wirklich etwas wie ein Prophet gewesen, oder das Wort hat seinen Sinn verloren. In das welthistorische Geschehen aber verflocht er, im einzelnen nicht überall glücklich, im ganzen unvergeßlich und für Europa konstitutiv, den ersten großen seelischen Liebesroman der bis heute gültigen Form: tiefer und eindringlicher als Kalypso leidet Dido, und ihre Geschichte ist das einzige Stück großer sentimentalischer Poesie das das Mittelalter gekannt hat. In vieler Hinsicht also ist Vergil bedeutend und erneuernd für die europäische Dichtung und für das künftige Europa überhaupt: Mytholog seiner geschlossensten politischen Form, synthetischer Gestalter der römischen und hellenistischen Eschatologien, und erster Dichter der sen17
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timentalischen Liebe. Er hat als Einziger seines Kulturkreises die Schicksalsfremdheit der spätgriechischen Philosophie überwunden und die apriorische Einheit der Gestalt in ihrem Geschick gesehen. Freilich liegt eine Unsicherheit in seiner theologischen Haltung, denn was er besingt, ist eine irdische Institution, und auf mehr als dies zielt die Vereinigung religiöser Strömungen die er poetisch verwertet ; sein der römischen Größe dienstbares Jenseits, das die überlieferte Läuterunge- und Seelenwanderungslehre nicht ganz einheitlich durchführt, ist nur ein Kunstmittel, und wie überall in der antiken Vorstellung haben die Seelen der Abgeschiedenen ein teilweises, abgeschwächtes Leben, die Existenz eines Schattens.
Der historische Kern des Christentums, das heißt die Kreuzigung Christi und die damit zusammenhängenden Ereignisse, überbieten an Paradoxie und an Spannungsweite der darin beschlossenen Gegensätze die ganze antike Ueberlieferung, die mythische nicht weniger als die pragmatische. Der phantastische Zug des Mannes aus Galiläa und sein Auftreten im Tempel — der plötzliche Umschwung, die Katastrophe, die klägliche Verspottung, Geißelung und Kreuzigung des Königs der Juden, der eben noch das Reich Gottes auf Erden hatte errichten wollen, die verzweifelte Flucht seiner Jünger — und dann der neue Umschwung, gegründet auf die Visionen weniger Männer, vielleicht eines Einzigen, eines Fischers vom See Genezareth — dies alles als Ursache der größten Wandlung in der inneren und äußeren Geschichte unserer Kulturwelt: diesér in jeder Hinsicht erstaunliche Vorgang erfüllt den Betrachter, der versucht, sich den Gang der Ereignisse zu veranschaulichen, noch heute mit tiefster Bestürzung; und er empfindet, wie in den Büchern des Neuen Testaments die Mythisierung und Dogmatisierung nur halb durchgedrungen ist, und das Fragwürdige, Unharmonische und Quälende der zugrunde liegenden Ereignisse fortwährend hervorbricht. 18
GESCHICHTE CHRISTI
Der oft herangezogene9) Vergleich mit dem Tode des Sokrates kann das was wir sagen wollen noch deutlicher machen. Auch Sokrates ist für seine Lehre gestorben — freiwillig gestorben. Er konnte sich retten, sich dem Prozeß entziehen, oder sich während desselben weniger intransigent verhalten, oder auch nachher noch fliehen. Aber er wollte das nicht: in der ungeminderten irdischen Würde seiner Person, unangefochten und ruhig, von seinen Freunden umgeben ist er gestorben ; der Tod eines Weisen und eines glücklichen Menschen, in dessen Geschick sich das menschliche Gerechtigkeitsgefühl bestätigt und erfüllt findet; seine Feinde sind ganz gleichgültige Figuren, die die partikulären Interessen des Augenblicks vertreten, die vor der Mitwelt wenig, vor der Nachwelt gar nichts gelten ; und der Umstand, daß sie die Macht haben, bot dem Sokrates die willkommene Gelegenheit zu seiner letzten vollendeten Selbstdarstellung und Selbsterfüllung. Jesus aber hat in Jerusalem eine Bewegung entfesselt, die notwendigerweise nicht rein geistig bleiben konnte, und sein Gefolge, das ihn als den Messias anerkannte, erwartete den sofortigen Anbruch des irdischen Gottesreiches ; und das alles ist kläglich mißglückt. Die Menge, auf die er einen Augenblick bedeutende Wirkung gehabt haben muß, blieb schließlich schwankend und feindlich; die herrschenden Gruppen schlossen sich gegen ihn zusammen; er mußte sich nachts vor der Stadt verbergen, und in einem Versteck ist er schließlich, von einem seiner Nächsten verraten, inmitten der verwirrten und unsicher gewordenen Jünger verhaftet und vor das Synedrion gebracht worden. Und nun das Schlimmste: die Jünger verzweifelten und flohen, und Petrus, die Wurzel und das ewige Haupt der Christenheit, hat ihn verleugnet. Einsam stand er vor den Richtern und erlitt sein schmachvolles Martyrium, indes die Umgebung ihn in der wirksamsten und quälendsten Weise verspotten 9 ) Kürzlich noch von Eduard Meyer, Ursprung und Anfänge dee Christentums, Stuttgart u. Berlin 1921—1923, Bd. 3, S. 219.
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IDEE UND GESCHICK DES MENSCHEN
durfte; von seiner Gefolgschaft haben nur einige Frauen von ferne sein Ende mitangesehen. Die Verleugnung des Petrus hat Harnack10) „dieses furchtbare Ausschlagen des Pendels nach links" genannt, und eben darin (neben der Erinnerung an das Erlebnis der Verklärung, Mark. 8, 27-29, 8) die psychologische Ursache der für die Anfänge der Kirche grundlegenden Petrusvision gesehen: es kann, so sagt er, „ein ebenso stürmisches Ausschlagen nach rechts zur Folge gehabt haben". Verleugnung und Vision des Petrus in ihrer paradoxen und doch evidenten Gegensätzlichkeit sind aber nur das hervorragendste Beispiel eines Tatbestandes, der in der Geschichte Jesu von Anfang an herrscht. Er bewegt sich von Anfang an zwischen böswilligen Spöttern und maßlos Gläubigen, in einer aus Erhabenheit und Lächerlichkeit aufs Sonderbarste zusammengesetzten Aura; seine Nächsten stehen zu ihm in einem Verhältnis, in dem Bewunderung und Nacheiferung ein häufiges Mißverstehen und eine beständige Unruhe und Spannung nicht ausschließen. Die Geschichte Christi hat bei ihrem Eindringen in das Bewußtsein der europäischen Völker deren Vorstellungen von dem Geschick des Menschen und seiner Darstellbarkeit von Grund aus verändert. Die Veränderung vollzog sich sehr langsam, weit langsamer als die dogmatische Christianisierung; es stellten sich ihr auch andere Hindernisse entgegen, die schwerer zu überwinden waren: Widerstände, denen gegenüber die politischen und taktischen Faktoren, die die Annahme des Christentums förderten, bedeutungslos waren und die ganz und gar im Konservativsten liegen, was die Völker besitzen, nämlich im innersten sinnlichen Grunde ihres Weltbildes; diesem konnte der Apparat des christlichen Dogmas leichter und schneller angepaßt werden als der Geist der Ereignisse, auf denen es erwachsen war. Doch ehe 10
) Die Verklärungsgeschichte Jesu, der Bericht des Paulus (I Kor. 15,3 ff.) und die beiden Christusvisionen des Petrus (Sitzber. Preuß. Ak. Wiss. Phil. Hist. Kl. 1922).
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GESCHICHTE CHRISTI
wir auf den Prozeß der Durchdringung, und die Erscheinungen, die er in seinem Verlaufe hervorbrachte, zu sprechen kommen, wollen wir die Art der Veränderung, auf die er zielte, zu beschreiben versuchen. Die Geschichte Christi ist mehr als die Parusie des Logos, mehr als die Erscheinung der Idee. Sie ist zugleich die Unterwerfung der Idee unter die Fragwürdigkeit und verzweiflungsvolle Widerrechtlichkeit des irdischen Geschehens. Für sich betrachtet, also ohne den posthumen und nie voll aktualisierten Triumph in der Welt, als bloße Geschichte Christi auf Erden, ist sie so hoffnungslos schrecklich, daß die Gewißheit der tatsächlichen, konkret greifbaren Richtigstellung im Jenseits der einzige Ausweg, die einzige Rettung vor endgültiger Verzweiflung bleibt. Daraus ergab sich eine bis dahin unerhörte Konkretheit und Intensität der eschatologischen Vorstellungen; nur in bezug auf das Jenseits hat das Diesseits einen Sinn, für sich bleibt es sinnlos und qualvoll. Doch wurde durch die Transzendenz der Gerechtigkeit nicht, wie es dem antiken Gedanken entsprochen hätte, der Wert des Erdengeschicks herabgesetzt und die notwendige Verpflichtung, sich ihm zu unterwerfen, geleugnet. Die stoische oder epikuräische Abkehr des Weisen von seinem Geschick, sein Bemühen um Lösung aus der Kette des sinnlichen Geschehens, sein fester Vorsatz, von diesen Bindungen wenigstens innerlich frei zu bleiben — dies alles ist vollkommen widerchristlich. Denn die inkarnierte Wahrheit hat sich, um die gefallene Menschheit zu erlösen, selbst dem Erdenschicksal ohne Vorbehalt unterworfen. Die Grundlage der antiken Ethik, der Eudaimonismus, ist zerstört: Hingabe an das Geschick, Unterwerfung unter das Leiden der Kreatur ist als Buße und Prüfung christliche Pflicht so wie sie das Vorbild der Parusie lehrte; und das Erdenleben erhält eine ganz unantikische, maßlose und schmerzhafte Intensität, weil es zugleich die Verklammerung mit dem Bösen ist und die Grundlage bildet für den einmaligen Richterspruch Gottes. Ganz im Gegensatz zum antiken Empfinden ist die irdische Selbstentäußerung nicht ein 21
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Weg vom Konkreten zum Abstrakten, vom Besonderen zum Allgemeinen ; welche Vermessenheit nach theoretischer Ruhe zu streben, da Christus selbst in immerwährender Spannung gelebt hat! Die Unbesiegbarkeit der inneren Spannung ist eine ebenso grundsätzliche Folge der Geschichte Christi wie die Hingabe an das irdische Geschick; und in beiden wird die Individualität gedemütigt, aber sie bleibt erhalten und muß erhalten bleiben. So unendlich viel stärker und zugleich konkreter, fast möchte ich sagen weltlicher die christliche Demut ist als die stoische Apathie, um so viel mehr treibt und steigert sie mit dem Bewußtsein der unentrinnbaren Sündhaftigkeit die einmalige unentrinnbare Gegebenheit des konkret Persönlichen. Doch nicht nur die Intensität des Persönlichen, sondern auch seine Mannigfaltigkeit und den Reichtum seiner Erscheinungsweisen erschließt die Geschichte Christi, indem sie die Grenzen der antiken mimetischen Aesthetik überschreitet. Hier hat der Mensch keine irdische Würde mehr; es darf ihm alles geschehen, und die antikische Spaltung der Gattungen, die Scheidung zwischen dem erhabenen und dem niederen Stil existiert nicht mehr. In der Heilsgeschichte erscheinen wie in der alten Komödie bekannte und wirkliche Personen ; es handeln Fischer und Könige, Hohepriester, Zöllner und Dirnen; und weder handelt die Gruppe der im Rang Erhobenen im Stil der antiken Tragödie, noch die anderen im Stil der Posse, sondern eine völlige soziale und ästhetische Grenzenlosigkeit ist eingetreten. Auf dieser Bühne ist die ganze Mannigfaltigkeit der Menschenwelt zu Hause, ob man nun die Verschiedenheit und Voraussetzungslosigkeit der Handelnden insgesamt oder jeden von ihnen einzeln betrachtet; wer auftritt, ist legitimiert, aber ohne jede Rücksicht auf seinen irdischen Stand wird das Aeußerste seiner Persönlichkeit herausgeholt, und es geschieht ihr Erhabenes und Niederes: Petrus selbst, um von Jesus zu schweigen, verfällt in tiefste Erniedrigung. Die Tiefe und der Umfang des Naturalismus in der Geschichte Christi ist ohne Gleichen ; weder die antike Dich22
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tung noch die Historiographie hatte Gelegenheit oder Kraft zu solcher Darstellung des Geschehenen. Wir sagten schon und es ist bekannt, wenn auch in diesem Zusammenhang selten ausgesprochen, daß der mimetische Gehalt der Geschichte Christi sehr lange Zeit, mehr als ein Jahrtausend gebraucht hat, um in das Bewußtsein der längst Gläubigen einzudringen und ihre Vorstellung vom Geschehenden umzugestalten. Was zunächst eindrang, war die Lehre, und in den Kämpfen, die sie mit konkurrierenden Offenbarungsreligionen, mit dem spätantiken Rationalismus, mit den Mythen der Barbarenvölker zu bestehen hatte — Kämpfe, in deren Verlauf sie selbst sich wandelte und gestaltete — wurde der Bestand der Geschichte Christi gleichsam aufgesogen von den wechselnden Erfordernissen jener Kämpfe; er hatte sich der jeweiligen geistigen Verfassung der Stämme oder Gruppen anzupassen, denen die Lehre in Mission oder Polemik vorgetragen wurde, und erlitt dabei viele Metamorphosen, deren jede ihm ein Stück seiner sinnlichen Evidenz raubte — bis er schließlich selbst zu einem fast abstrakt dogmatischen Gebilde geworden war. Doch ganz ist er niemals verloren gegangen; den schwersten Kampf hatte er gleich zu Anfang, gegen den neuplatonischen Spiritualismus und seine christlich-haeretischen Formen zu bestehen, und seit er diese Gefahr überwunden hatte, war er wenigstens grundsätzlich gerettet. Das hellenistische Sammelbecken, in welches die orientalischen Mysterienreligionen einmündeten, war so stark erfüllt von neuplatonischer Spiritualität, daß in ihm die mythischen oder historischen Daten einer Gotteserscheinung als solche nicht aufgenommen werden konnten, sondern einer Umdeutung verfielen. Die Ereignisse und Personen verwandelten sich zu Begriffssymbolen astralen oder metaphysischen Charakters; das Historische verlor seine Autonomie, und damit auch seine unmittelbare Wirkung; es wurde zum Anlaß und zur Unterlage für eine kompliziert rationalistische Spekulation, der die durchschimmernden Reste seines ursprünglichen Bestandes gespenstische Sinnlichkeit und die vieldeutige Tiefe 23
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eines Geisterreiches verliehen. Die Beziehung auch der reinsten Formen des Neuplatonismus zur empirischen Welt, ihrer Wirklichkeit und Darstellbarkeit, sind schwierig und unproduktiv. In der Aesthetik Piotine erzeugen Elemente der platonischen und der aristotelischen Metaphysik, verschmolzen in dem eigenen Emanatismus und der Neigung zu mystisch-synthetischer Versenkung, den Gedanken von der Schönheit der irdischen Welt, in der der Geist gestaltend wirke; doch ist die Schönheit rein nur im inneren Urbild ; denn die aristotelische Vorstellung von der nicht restlos gestalteten Materie wirkt in ihm in der platonischen Form des μή ov, des methaphysischen Gegenpols der seienden Idee, so daß die Materie nicht nur Hemmung, sondern eben ihrer Teilbarkeit und Mannigfaltigkeit wegen ganz unaristotelisch das Böse bedeutet; wieder wird trotz des Einstrahlens des Geistes in die Körperwelt (durch die Physis, die hier als principium individuationis die niedere Seele bedeutet) das Mannigfaltig-Konkrete zum Bösen und Unreinen, und die mimetische Kunst verflüchtet sich zur reinen ευρησις, dem Nachbilden der inneren Form; wenn Plotins Aesthetik theoretisch die Grundlage einer jeden spiritualistischen Aesthetik ist, so führt sie praktisch, in der Aufrechterhaltung des Wertgegensatzes von Sein und Werden, Idee und Materie, in der Gleichsetzung des Werdens und der Materie mit dem metaphysischen Nichtsein zur Zerstörung jeder möglichen Darstellung des irdischen Geschicks. Im Vergleich zu dieser Aushöhlung der Erscheinungen ist die Kunstfeindlichkeit der Kirchenväter fast bedeutungslos; denn sie richtete sich nur gegen bestimmte Inhalte und Gesinnungen, nicht aber grundsätzlich gegen die Erscheinungen. Davor schützte die k&mpfende Kirche das historische Ereignis, von dem sie ihren Anfang genommen hatte, und das, selbst real und unbezweifelbar, allen Erscheinungen Sinn und Ordnung verlieh. Nicht ohne dogmatische Trübung, doch mit konsequenter Zähigkeit, hat die westliche Kirche den spiritualistischen Einflüssen entgegen an der Erscheinung Christi als konkre24
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tem Ereignis, als zentraler Tatsache der Weltgeschichte festgehalten — und diese selbst betrachtet sie als die wahre Geschichte des Verhaltens menschlicher Persönlichkeiten untereinander und zu Gott. Im Osten gewannen spiritualistische Anschauungen bald die Oberhand, und verwandelten die Heilsgeschichte in eine Triumphzeremonie ; im Westen schien es einen Augenblick, als wolle ein unmittelbar erlebend mimetisches Verhalten ihrer ergreifenden Wirklichkeit gegenüber sogleich hervorbrechen; wenigstens die Voraussetzungen dazu finden sich in der dramatischen Entfaltung Augustine. Er hat aus neuplatonischer und manichäischer Spiritualität doch soviel noch gerettet, daß ihm in der analytischen Durchdringung des Bewußtseins die Einheit des Persönlichen, in der metaphysischen Spekulation die persönliche Gottesvorstellung, in der teleologischen Weltgeschichte wirkliches Geschehen erhalten blieb, und schon die Problemstellung seines Kampfes um Willensfreiheit und Prädestination zeigt die konstitutiv europäische Entschlossenheit, das Wirkliche nicht durch Spekulation abzutun und sich in die Transzendenz zu flüchten, sondern es einzubeziehen und zu bewältigen. In ihm ist die Erfahrung der Heilsgeschichte ganz konkret, und darum hat er der lateinischen Sprache und den Sprachen des späteren Europas, wie Harnack es einmal formuliert 11 ) hat, die christliche Seele und die Rede des Herzens zu geben vermocht. Doch auch im Westen mußte seine konkrete Kraft lange Zeit unwirksam bleiben. Die Notwendigkeit, den eindringenden Barbarenstämmen die christliche Heilswahrheit zu erschließen, fiel zusammen mit der Kulturaufgabe der Romanisierung ; und da ihnen christlicher und antiker Mythos gleich fremd und inadäquat waren, so verfiel der ganze geistig-sinnliche Bestand der spätantiken Kultur einer oft gewaltsamen Umdeutung, die die schon nicht mehr intakte Sinnlichkeit der alten Völker vollends zerstörte, und die andererseits die Sinnlichkeit der barbari11 ) Augustin, Reflexionen und Maximen, Tübingen 1922, Vorwort S. V.
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sehen Mythen bekämpfte und lähmte. Neuplatonische Tendenzen und andere mystische Strömungen populären Charakters wirkten im gleichen Sinne: die Anschauung zersetzte sich und es entstand eine niedere, vulgäre Form der Spiritualität, die die Erscheinungen weder zu ergreifen noch gar zu gestalten vermochte. Nicht erst die eigentliche Völkerwanderung hat diese Lage geschaffen ; in Italien zeigen sich die Anfänge des Vulgärspiritualismus unter orientalischem Einfluß schon in den ersten beiden Jahrhunderten. Aber hier, auf den christlichen Sarkophagen und in den Malereien der Katakomben, dient die Symbolik noch nicht einer rationalistischen Umdeutung, die das Fremde lehren und faßbar machen soll, sondern erinnert den Geheimes Wissenden an das Eigenste, was er besitzt: so ist in dieser Bilderschrift, die ein Totengebet illustriert, wenn nicht die Erscheinung selbst, so doch die echte Erinnerung an sie bewahrt. Im späteren Verlauf wird das anders. Für die Vorstellungswelt der westeuropäischen Barbarenvölker war die komplizierte, von so viel historischen Voraussetzungen belastete Mittelmeerkultur etwas radikal Fremdes und Unassimilierbares; weit eher konnten sie Einrichtungen und Dogmen, so wie sie bestanden und galten, f ü r sich übernehmen, als die sinnlich-historischen Vorstellungen, aus denen sie erwachsen waren, sich zu eigen machen. Diese verschwanden zwar nicht; dazu waren sie mit den übernommenen Einrichtungen und Dogmen zu eng verbunden ; doch sie verloren den Charakter der sinnlichen Erscheinung und wurden zur lehrhaften Allegorie. Mit der gesamten Tradition der antiken Welt, der heidnisch-mythischen wie der christlichen, geschah diese vulgärspiritualistische Umdeutung; die Erscheinung verlor ihren Eigenwert, die Ueberlieferung von ihr verlor ihren wörtlichen Sinn; das jeweils überlieferte Ereignis bedeutete etwas anderes als sich selbst, eine Lehre, und zwar nur diese ; die sinnliche Gestalt ging verloren. Eine etwas trübe Gelehrsamkeit entstand auf dieser Grundlage; astrologische, mystische, neuplatonische Elemente, in einer tieferen Bildungsschicht sonderbar ent26
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stellt, wurden der gedachten Umdeutung dienstbar, und es entstanden abstruse Gebilde allegorischer Deutungskunst. Die Trübung der sinnlichen Gestaltungskraft offenbart sich auch dem zeitgenössischen Ereignis gegenüber in der frühmittelalterlichen Historiographie. Dem überwältigenden Material des Geschehens stehen die meisten der romanisierten gotischen und fränkischen Chronisten ratlos gegenüber. Ihre Berichte sind roh; die Kenntnis des inneren Menschen, die die Spätantike besaß, wird zuschanden an dem allzu primitiven Treiben der Machtinstinkte, und in dürrer Wesenlosigkeit reiht sich ein gewaltsames Ereignis an das andere. Ueber dem Ganzen aber flattert haltlos und fremd das Streben nach einem geistigen Begreifen; denn die Spiritualität ist ein kümmerlicher Rationalismus geworden, der sich etwa in der Ueberzeugung ausdrückt, daß Gott den Rechtgläubigen zum Siege, den Heiden und Ketzern zum Untergang verhilft. Eine so starre Lehrhaftigkeit, die nicht nur von einer feineren Geistesbildung, sondern auch vom mythischen Schicksalsglauben weit entfernt ist, war nicht fähig, das einzelne Ereignis zu deuten und seine Verflechtung mit dem Ganzen lebendig zu machen. So wird die Gesinnung nur hier und da, in der Einleitung etwa oder sonst an einer passenden Stelle, unvermittelt zum Ausdruck gebracht, und im übrigen laufen die Dinge wie es ihnen gefällt. Oder aber der Chronist verzichtet ganz und gar auf historischen Bericht und gibt nur eine Reihe trockener und lehrhafter Fabeln, in denen er die Ereignisse gewaltsam umdeutet. Predigt und religiöse Dichtung hatten es leichter. Hier konnte die umdeutende Allegorie ungehindert ihr Spiel treiben, und eine lehrhafte Metaphorik versah jeden Gegenstand und jeden Vorgang mit einer Bedeutung, der wie eine Aufschrift, ein titulus, an ihm haftete, ohne doch sich seinem Wesen anzugleichen. Dabei ist hervorzuheben, daß der Stil der Schriftsteller des 6. und 7. Jahrhunderts, trotz oder vielmehr wegen der Schwierigkeit sich auszudrücken, häufig an die gekünstelte rhetorische Tradition, an den Asianismus, anknüpfte. 27
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In einer unendlich langsamen und schwer verfolgbaren Entwicklung hat sich die sinnliche Gestaltungskraft neu gebildet. In den Kämpfen der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends konstituierte sich die europäische Christenheit als neuer Orbis terrarum; und in ihm wirkte einheitlich, alltäglich und unablässig die Geschichte Christi: sie wurde zum bildenden Mythos der Völker, an ihr belebte sich die Anschauung, alle anderen Ueberlieferungen zog sie in ihren Kreis; und die ihr eigentümliche Einheit von Erscheinung und Bedeutung, die unerhörte Nähe und Sinnfälligkeit des Wunderbaren überwand endgültig die gespenstischen Reste der platonischen Zweiweltenlehre. In der nun einsetzenden mimetischen Belebung der Liturgie ist die Nachahmung nicht mehr getrennt von der Wahrheit, sondern die Erscheinung ist göttlich und der Vorgang ist die Wahrheit ; daß aber Erscheinung und Vorgang wieder deutlich wurden, ist die eigentliche Neuschöpfung des okzidentalischen Europa, das ihm eigentümlich Jugendliche, wodurch es sich alsbald von den reiner spiritualistischen orientalischen Vorbildern zu unterscheiden begann. Dem wirklichen Geschehnis seine legendarische Kraft wiederzugeben, es in all seiner spiritualen Würde und Wundergewalt in die alltägliche Erfahrung eingehen zu lassen, das ist der Naturalismus des frühen Mittelalters; und er gipfelte in einer Spiritualität, die das ganze Erdenleben durch alle seine Schichten in sich begriff, die große Politik nicht anders als den Beruf und das Haus, die Jahreszeiten und den Lauf des Tages. Die gesamten bildenden Kräfte der barbarischen Stämme durchstrahlte die Geistigkeit der Geschichte Christi ; die Mythen der großen Kämpfe der Völkerwanderung machte sie sich dienstbar und ordnete sie unter ihrem Zeichen zu einem einheitlichen Gebilde sinnvollen Lebens. So befreite sich der Vulgärspiritualismus um die Wende des ersten Jahrtausends von der starren Dogmatik. Er wurde zu einer allgemeinen und allgemein gegenwärtigen Durchgeistigung der irdischen Welt, in der Art, daß ihre Sinnlichkeit, erhalten und evident blieb; er gab den großen politischen Kämpfen ihren Sinn und ihre aktuell bewegende Kraft. Das Menschen28
WIEDERGEBURT DER ECHTEN MIMESIS
geschick und die Weltgeschichte wurden aufs Neue zur Gestaltung wirkenden Erfahrung, und zwar einer unmittelbar zwingenden Erfahrung, denn in dem gewaltigsten Heildrama war ein jeder mithandelnd und mitleidend; in allem was geschehen war und was täglich geschah, handelte es sich um ihn selbst. Kein Entrinnen gab es aus dieser durch und durch geistigen und doch wirklichen Erdenwelt, aus dem für die Ewigkeit entscheidenden Geschick des Einzelnen. Auf solchem Grunde entstand die mittelalterliche nachahmende Kunst. Sie zielte unmittelbar auf sinnliche Darstellung transzendenter Inhalte; das Ineinander von Naturalismus und Spiritualismus ist für die bildende Kunst am vollkommensten und großzügigsten wohl von Dvofák, in seiner Arbeit über Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei18) dargestellt worden, und seine berühmteste zeitgenössische Formulierung ist das Wort Sugers von Saint-Denis mens hebes ad verum per materialia surgit. Allein weit über den Bezirk des Kirchlichen und der eigentlich religiösen Themen war die Spiritualisierung des Geschehenden wirksam: sie ergriff Institutionen und Ereignisse, deren Wesen und Ursprung solcher Durchleuchtung sich nicht leicht zu bieten schien. Sie ergriff die kühne und rohe Kraft der Heldendichtung, machte die Lehensverhältnisse zur symbolischen Hierarchie und Gott zum höchsten Lehnsherrn; sie deutete die Helden zu Kreuzfahrern, verknüpfte ihre Kriegstaten mit den Pilgerstraßen, und schuf mit Rolands Tod in Ronceval das Paradoxon vom kämpfenden Märtyrer, dem der Kampftod transzendente Erfüllung bedeutet. Aus vulgärspiritualistischen Voraussetzungen formte sich nun das Bild des vollkommenen Menschen, und es ist vielleicht noch nicht eindringlich genug betont worden, wie antikisch in seinen Wurzeln dies romantische Ideal ist. Die Vorstellungen, die man mit den Worten antik und christlich verbindet, sind noch immer zu einseitig; das Antike ist 12 ) Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, München 1924, S. 41 ff. (zuerst in der Hist. Zstchr. 119, 1918).
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nicht das Weltlich-Sinnliche überhaupt, und die Erkenntnis, daß das unmittelbare Erbe der Antike für Europa nicht das attische Griechentum oder die pragmatische RömeTgesinnung war, sondern der synkretistisch getrübte Neuplatonismus, der sich mit dem Christentum verband, und für den wir das Hilfswort Vulgärspiritualismus gebrauchen, diese Erkenntnis ist noch längst nicht allgemein wirksam geworden. Das „Ideal" des christlichen Ritters der höfischen Epen ist ein neuplatonisches Gebilde ; in den schönsten Dichtungen, die dieses Ideal inspiriert hat, in Wolframs 13 ) Parzival insbesondere, lebt zum ersten Mal« vollendet die echte Idealität der großen europäischen Dichtung; die epische Mannigfaltigkeit des besonderen Charakters und seines Geschicks' bleibt erhalten ; doch die Einheit des Gedichts ist das platonische Sursum der Reinigung und Heiligung, das hier auf eine nicht beschreibbare Weise mit germanischen Instinkten verschmilzt; es ist eine Durchstrahlung des irdischen Lebens, in der auch die besonderste zeitgebundenste Lebensform eine adlige Inkarnation des Geistes ist, und sich in epischer Fülle zeigen darf. Die tiefste Wirkung der mittelalterlichen Spiritualität ist aber die Umformung der Vorstellung der sinnlichen Liebe; sie ist zuerst in der Provence zutage getreten und wurde konstitutiv für die gesamte europäische Dichtung der neueren Zeit. Jede Liebespoesie kennt den Preis und die Verklärung des Geliebten durch den Liebenden; sie liegt im Wesen der sinnlichen Ekstase, die den gewohnten Aspekt der Wirklichkeit verschiebt, diese vielmehr gänzlich ausschaltet und nur den Gegenstand der Begierde mit dem, was diesem zugehört, wahrzunehmen gestattet. Aber während bis zum Auftreten des Minnesanges die eigentliche Liebesdichtung nie etwas anderes ausgedrückt hat als die sinnliche Begierde in all ihren Abwandlungen, nie etwas anderes gepriesen hat als die sinnlichen Qualitäten ihres 1S
) Vgl. dazu Fr. Neumann, Wolfram von Eecfaenbacha Ritterideal, EH. Vierteljahrsschrift f. Litwiss. u. Geistesgesch. 5, 1927, S. 9 ff.
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Gegenstandes — während sich die Dichter stets bewußt blieben ein leichtes, nicht der erhabenen Poesie und den großen Bildungsmächten angehöriges Thema zu behandeln und ihren wirklichen oder vorgeblichen Liebeszustand als etwas letzthin mit bloßem Genuß verknüpftes, Vorübergehendes, sonst aber Krankhaftes und Unnatürliches betrachteten — hat sich nun eine Verschmelzung der sinnlichen Begierden mit den methaphysischen Grundlagen der Bildung vollzogen, die allen früheren Kulturen Europas fremd war. Bedeutende Forschungen haben gezeigt, wieviel die Provenzalen den kirchlichen Vorstellungen, wieviel sie dem Marienkult, wieviel sie den Institutionen des Lehenswesens verdanken; auch orientalische und arabische Einflüsse sind erörtert und höfischgefühlvolle Kulturzentren des früheren Mittelalters herangezogen worden. Allein letzten Endes ist das alles — und noch mehr gilt dies von den Parallelen mit Ovid — nur Material; denn der Geist dieser einmaligen Blüte ist vollkommen singulär. Land und Blutmischung, unterirdische Kulturtradition aus der Griechenzeit und der Strom geistiger und politischer Bewegung, der aus Orient und Okzident hier um 1100 am lebendigsten und noch nicht zerstörend hindurchfloß, haben an dem Ganzen des Gebildes wohl mehr Anteil als die einzelnen nachweisbaren Motivquellen. Das eigentlich zugrunde Liegende ist eben das Provenzalische : die Magie des Landes selbst, die gewordene Einheit von Landschaft und Lebensform, die den Dichtern Selbstgefühl, Heimatfreude, Abenteuersinn und den geheimnisvollen Zauber der geformten Wirklichkeit verlieh; sie gab ihnen die Kraft, das bloß Allegorisch-Didaktische in einer neuen Vision des Wirklichen aufgehen zu lassen. Doch die Kraft und die Vision selbst sind ihrem Wesen nach neuplatonisch ; die Kraft ist Eros, die Minne, und die Vision ist eine geistige das Leben formende Wirklichkeit. Das Trübe, Gewaltsame, Pedantische der Umdeutung ist verschwunden; was sich hier an geformter Bildungseinheit über den Vulgärspiritualismus erhoben hat, ist aus reiner und sicherer Anschauung hervorgegangen; aus ihr heraus bildet sich das im Minnedienst reali31
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sierte Ideal des geformten vollkommenen Lebens, das der mystischen Synthesis neuplatonischer Vorstellungen im Innersten verwandt ist. Geist und Leib haben die provenzalischen Dichter in einer poetischen Vision verschmolzen ; kunstvoller fragiler und enger begrenzt ist ihre Schöpfung als die griechische, und es ist eine „zweite" Jugend, die viel Altes aufsaugen mußte, ehe sie sich selbst genießen konnte; und sie blieb gebunden an den einmaligen Κ&φός einer sehr partikulären und deshalb nur kurzen gesellschaftlichen Blüte. Doch noch in ihrer Fragilität selbst hat diese Gesittung ein Letztes geschaffen, das ihr Vermächtnis werden sollte. Aus dem übermäßig geformten Liebeserlebnis und aus dem Sirventes, der Zeitkritik, der Abwehr gegen die andringende Unform entstand das dialektisch-antithetische Spiel des trobar clus mit seinem doppelten Gesicht einer Geheimsprache und einer Bekenntnisdichtung ; es entstanden die leidenschaftlichen Widersinne, um Rudolf Borchardts14) ausdrucksvolles Wort zu gebrauchen. Der Hang zum dialektischen Spiel, dem gesamten mittelalterlichen Spiritualismus eigentümlich, war den Provenzalen angeboren, und schon der früheste Troubadour Guilhem von Peitieu ist auf diesen Ton gestimmt. Doch erst im Niedergang der höfischen Gesittung, bei Peire d'Alvernhe, Giraut von Bornelh und vor allem bei Arnaut Daniel, wird das antithetische Versteckspiel zum Gefäß des eigentlichen Inhalts, und damit zur Wurzel einer gewaltigen Tradition. Wieder ist es eine Allegorese; doch die Rätsel werden nicht gedeutet, und sie enthalten auch vielleicht keine faßbare, allgemeine Lehre, die allen gedeutet werden könnte. Sie enthalten in defensiver und esoterischer Form, gleichsam hinter schützenden Wällen, die bedrohte geheime Seelenform; was zuerst ein Spiel, dann eine Abwehr war, wird nun zur Zuflucht eines immer kleiner werdenden Kreises bevorzugter Menschen und zuletzt zum Ausdruck der inneren Spaltung der Seele, die in gleichnishafter Dialektik die Qual der Leidenschaft zu ") Die großen Trobadors, München 1924, S. 48.
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meistern sich bemüht ; hier aber, an diesem Punkt, sprengt das trobar clus den engen Rahmen des provenzalischen Kulturkreises; hier ist die Brücke zum Dolce Stil Nuovo und zu Dante.
IL DANTES JUGENDDICHTUNG. Die provenzalischen Dichter fanden ihre Lieder für eine besondere und eng begrenzte Gesellschaftsschicht ; für sie allein galt die Lebensform, die sich in den Gedichten spiegelt, und sie allein verstand und würdigte das Liebesspiel in seiner besonderen und stark esoterischen Ausprägung, mit seiner fest bestimmten Terminologie und seiner durchaus unpopulären Sprachform. Doch sind es von Anfang an nicht nur soziologische, also ständische Merkmale, die die große provenzalische Poesie von einer volksmäßigen Kunstübung trennen; darauf erst baut sich eine zweite Auslese, die ihrerseits unmittelbar die geistige und menschliche Form betrifft. Diese erst ist es, die den Provenzalen den deutlichen und unterscheidenden Charakter verleiht. Sie ist der Inbegriff eines zugleich gesellschaftlichen und geistigen Ueberlegenheitsgefühls von Wenigen, eine menschliche Hochzucht, streng in ihren Voraussetzungen, und die gesamte innere Haltung bestimmend: eine höchste Form von Eleganz und Mode, ein Sichbeieinanderfühlen, ein Geheimbund der Auserwählten. Daraus erklärt sich auch, daß uns manches an dieser Dichtung sonderbar, schwer verständlich oder übertrieben erscheint. Denn die historische und philologische Genesis der Vorstellungen, die in jenem Kreise herrschten, kann uns, auch wenn wir große Sorgfalt an ihre Erforschung wenden, nicht ganz den wirklichen Inhalt, die dousa sabor vermitteln, die gewisse Worte und Wortverbindungen dort besaßen. Wenn man in der gegenwärtigen Zeit in einem Kreise jüngerer Menschen lebt, die eine neue und ihnen besonders eigentümliche geistige Lebensform pro· 33
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klamieren, und dabei sich Rechenschaft ablegt, wie gewisse Worte und Satzbildungen in solchem Kreise den gewohnten Inhalt abstreifen und ganz bestimmte, dem Uneingeweihten schwer verständliche, in die gewöhnliche Sprache schlechthin unübersetzbare Bedeutungen und Tönungen gewinnen, so wird man darin am ehesten eine Analogie finden können, die das Verständnis der provenzalischen Kunstdichtung erleichtern wird. Aber es ist wohl noch mehr in diesen Dichtungen verborgen: ein schwer faßbarer und mit unseren jetzigen Kenntnissen nicht recht zu deutender Hauch von subjektivistischer Mystik, der von den heterodoxen Bewegungen der Zeit herstammen mag, so daß etwa bei Arnaut Daniel man versucht ist an eine Geheimsprache zu glauben, die nicht nur erotische Inhalte verbirgt. Doch wie dem auch sei: sicher ist die provenzalische Dichtung nichts Volksmäßiges, Allgemeines und jedem Zugängliches, sondern das Eigentum eines bestimmten Kreises, und ihr Inhalt ist das, was in diesem Kreise Geltung hat; und diese Gruppe aristokratischen Charakters besaß eine ihr eigentümliche, wenn auch nicht bewußt systematische Anschauung von der Form des edlen Lebens. Da es sich aber hier um einen jener Vorposten der Formgeschichte handelt, die zuerst das Kommende und Werdende in sich bereit finden, während die Umwelt mit ihren Institutionen und Gewohnheiten noch beharrt und vielfach ihre Inhalte der neuen Bewegung noch aufzuzwingen fähig ist, so liegt das, was sie geschaffen haben, wie bei jeder produktiven „Mode", durchaus im Bezirk des Sinnlichen. Dieses zu gestalten, es leicht und kühn und elegant zu formen, war ihre Aufgabe und ihre Tat, und sie haben es aus der Fülle und Freiheit ihres Lebensmutes so gewandelt, daß es nur noch einen Hauch, einen Extrakt seiner selbst darstellt und oft fast nur noch ein Vorwand ist für das Spiel gesellschaftlich-poetischer Begriffe. Die Liebe ist bei den Provenzalen grundsätzlich weder Genuß noch leidenschaftlicher Wahnsinn (obgleich auch diese beiden Kategorien vertreten sind) sondern das mystische Ziel des edlen Lebens, zugleich auch seine Grundbedingung und die Quelle der Inspiration. 34
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Durch den Hof Friedrichs II. kam die provenzalische Dichtung nach Süditalien; als eine fremde Mode kam sie auch zu den oberitalienischen und toskanischen Kommunen, wo sie keinen ihr gemäßen Boden fand; die schwerfälligen und pedantischen Liebesdichtungen, die dort entstanden, wären ohne die Forschung, die den Vorläufern Dantes nachspürt, längst vergessen. Ein einzelner Mann, Guido Guinizelli aus Bologna, hat den neuen Stil der italienischen Dichtung begründet und damit die erste literarische Bewegung im modernen Sinne geschaffen. In Italien waren feudale Gesellschaftsordnung und Gesittung nie zur Blüte gelangt ; von einer nationalen Bildung ist uns keine Spur überliefert, und bis in den Beginn des 13. Jahrhunderts sind die geistigen Erzeugnisse roh, partikulär und meist fremden Ursprungs 15 ). Die staufischen Kämpfe und die gewaltige Bewegung der Bettelorden, insbesondere die franziskanische, zogen Italien in die europäische Gemeinschaft des Mittelalters, der es jahrhundertelang fremd geblieben war; wie bedeutend der heilige Franz von Assisi selbst auf die Erneuerung der Phantasie und die Belebung der sinnlichen Anschauung gewirkt hat, habe neben vielen Anderen ich selbst an anderer Stelle 16 ) zu zeigen versucht, und dies ist den Historikern der bildenden Kunst seit langem geläufig. Eine Wiedergeburt aller sinnlichen Kräfte fand statt ; aus ihnen gestaltete sich nicht nur der unmittelbare Ausdruck religiöser Erfahrung, sondern auch das politische Formstreben der Kommunen ; und sie verliehen den Kunstwerken •und den Darstellungen des Geschehenden bei Chronisten und Geschichtenerzählern konkrete und deutliche Besonderheit. Doch blieb es beim Sinnlichen; die großen politischen und religiösen Strömungen zersetzten und durchkreuzten sich im Laufe des 13. Jahrhunderts, und es war nicht eine große und allgemeine Bewegung, aus der Dantes Dichtung die erste Inspiration schöpfte, sondern die for" ) Dazu Voßler, die Göttliche Komödie, 2. Aufl. 1925, II. S. 395—432. " ) Dt. Vierteljschr. f. Litwias. u. Geistesgesch., 5, 1 (1927) S. 65 ff.
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male Kultur eines kleinen Kreises, der die provenzalische Tradition bewußt übernahm, ja noch stärker als diese esoterisch und volksfremd war. Denn da der Begründer Guinizelli nicht die soziologische Grundlage vorfand, die die Provenzalen besessen hatten, und da er andererseits doch ihr Erbe wurde, indem seine Dichtung Kunstdichtung und Ausdruck einer gewählten, aristokratischen, dem gemeinen Ausdruck feindlichen Lebensform ist — so setzte er an die Stelle der ritterlichen Provence die imaginäre Heimat des cor gentile — und dieses ganz geistige Etwas, dieses Gebilde, das ein religiöses Ethos war und doch nicht die allgemeine Kirche, eine gemeinsame Heimat und doch kein irdisches Land, war die erste selbständige Kunstgesinnung des neuen Europa und das Einzige, was die Genossen des Dolce Stil Nuovo miteinander verband ; und die Hervorragenden unter ihnen so stark zu gemeinsamem Empfinden aneinander kettete, daß die vollkommen betäubende und beglückende Atmosphäre eines geheimen Bundes der Wissenden und Liebenden entstand. Al cor gientil repadria sempre canore — das ist etwas ganz anderes, als wenn Bernart von Ventadorn dichtet Chantars no pot gaire valer oder Non es meravelha s'eu chan. Der freie und trotz aller formalen Zuspitzungen naive Lebensmut des Provenzalen ist nun zu einem Bekenntnis, zu einem streng begründenden und streng verpflichtenden Ethos geworden; die Bildung des Gefühls und der Gesinnung, die Bernart selbstverständlich war, weil sein Land und seine Umgebung sie ihm gegeben hatte, und die eigene glückliche Veranlagung nur hinzuzutreten brauchte, diese Bildung hat die Selbstzucht Guinizellis erst erobern müssen, und sie wurde ihm alles. Bei ihm ist die ständische Bindung der Provenzalen verschwunden; die Gemeinschaft des cor gentile ist eine Aristokratie des gemeinsamen Geistes, und zwar eines Geistes, der diesmal unverkennbar bestimmte geheime Inhalte und Ordnungen besitzt. Darum ist auch diese Poesie dunkel; doch in der Dunkelheit, die die Dichter der ältern Generation dem 36
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Guinizelli zum Vorwurf machten 1 '), ist weit mehr Konsequenz und einheitliche Disziplin als bei den Provenzalen. Versuche, sie zu deuten, das heißt das uns Unverständliche als rationales System zu erklären, sind mehrfach gemacht worden18) und stets vergeblich gewesen, da sie ins Gewaltsame und Phantastische verfielen; wahrscheinlich liegt das nicht nur an den Vorurteilen und unzulänglichen Mitteln derer, die den Versuch unternahmen, sondern an der Unlösbarkeit der Aufgabe, denn eine echte Geheimlehre ist nicht ein rationales System, das nur aus äußeren Gründen verborgen wird und allgemein bekannt werden kann, sobald diese Gründe fortfallen, sondern etwas seinem Wesen nach Geheimes, das auch den einzelnen Eingeweihten nie vollständig bekannt ist, und sofort aufhört sich selbst zu ähneln, wenn man es allgemein zu machen unternimmt. Doch darf man deshalb; weil jene Versuche vergeblich und manchmal bis zum Lächerlichen phantastisch waren, die Dunkelheit der meisten Gedichte des Neuen Stils nicht wegleugnen wollen oder in jedem einzelnen Falle nach historischen Erklärungen suchen — dazu ist die Menge des Sonderbaren zu groß, die Beziehungen und Uebereinstimmungen in Inhalt und Ausdruck zu augenscheinlich, und die Hinweise auf ein geheimes Bedeuten, das nur den Auserwählten zugänglich sei, zu häufig. Auch die jetzt herrschende Meinung, es handle sich um eine rein literarische Konvention oder Mode, scheint mir nicht das Wesentliche zu treffen, wenn sie auch häufig so weit gefaßt wird, daß sie ihm sehr nahe kommt. Unleugbar ist hier wie im ganzen Mittelalter das Literarische ) Poi ch'avete mutata la manera von Bonagiunta von Lucca (Monaci, Crestomazia italiana dei primi secoli, 1912, Nr. 104, S. 803). 18 ) Einen neuen sehr geistvollen und konsequenten Versuch in diesem Sinne macht Luigi Valli, Il Linguaggio segreto di Dante e dei „Fedeli d'Amore", Roma 1928. Daß durch sein Buch die oben ausgesprochenen Bedenken beseitigt werden, glaube ich nicht. Vgl. die Bemerkungen von Benedetto Croce in der Bsprechung eines Buches von Mauclair, Critica vom 20. Sept. 1928, und meine Rezension in der Dt. Literaturzeitung, 1928, 1857 ff. 17
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nicht in unserem Sinne autonom, sondern das Primäre, die Quelle der Dichtung, Amore, ist religiösen Charakters, und der Neue Stil hat dies Besondere, daß seine religiöse Inspiration nicht nur mystisch, sondern in hohem Grade subjektivistisch ist: ihre Merkmale sind die Macht Amores als eines Vermittlers der göttlichen Weisheit, die unmittelbare Verbindung der Herrin mit dem Reich Gottes, ihre Kraft den Liebenden mit Glauben, Erkenntnis und innerer Erneuerung zu begnaden, und schließlich die ausdrückliche Beschränkung solcher Gaben auf die Liebenden, mit der entsprechenden verächtlichen Polemik gegen alle anderen, die Rohen und Niedrigen, die nichts verstehen und vor denen man sich hüten müsse. Solche Gesinnung, die an mystische, neuplatonische und averroistische Strömungen erinnert, ist zum mindesten eine sehr starke Sublimierung der kirchlichen Lehren, sie ist etwas Selbständiges, das allenfalls noch innerhalb der Kirche Platz finden kann, aber doch sehr nahe an der Grenze der Heterodoxie steht. Und in der Tat galten einige aus jenem Kreise als Freigeister. Guinizelli dichtete zwischen 1250 und 1275; die bedeutendsten Dichter seiner Gruppe sind Guido Cavalcanti (etwa 1250—1300), Dante Alighieri (1265—1321) und Cino da Pistoia (etwa gleichen Alters mit Dante, gestorben 1337). In dem Kreise des Neuen Stils bedeutet Dante zunächst durchaus keine neue Gesinnung; Cavalcanti ist in der Richtung seines Geistes origineller als er. In der Unterwerfung unter die Macht Amores, in dem Uebermaß von esoterischer Empfindsamkeit, in dem getragenen Stil ist er ein getreuer Folger Guinizellis. Aber er ist vom ersten Tage an eine neue Stimme ; eine Menschenstimme von solcher Fülle und Kraft, daß keiner der Zeitgenossen an suggestiver Wirkung mit ihm sich messen kann. Daß er diese Wirkung auch damals tatsächlich ausgeübt hat, freilich nur in dem kleinen Kreise jugendlicher Genossen, die solchen Dingen zugänglich waren, scheint mir nicht zweifelhaft. Wenn er Purg. 14, 21 einem etwa 50 Jahre zuvor verstorbenen Romagnuolen seinen Namen nicht nennen mag, weil er noch keinen 38
DANTES STIMME
weiten Klang habe und jener ihn also doch nicht kennen werde, so hat das in einer Zeit, in der die Vulgärdichtung hohen Stils etwas ganz Neues und das Eigentum eines bestimmten kleinen Kreises war, keinerlei Zusammenhang mit seinem literarischen Ruhm. Um so gewichtiger sind andere Zeugnisse. Cavalcanti, durch Geburt, Stellung und Geist die leuchtendste Gestalt der ganzen Gruppe, an Alter und Einfluß Dante bedeutend überlegen, hat ihn sogleich als Freund und Genossen anerkannt, und noch in dem Sonett, das die bittere Absage an den früher Geliebten ausdrückt (Io vegno il giorno a te infinite volte)19) bricht die bewundernde Liebe hervor. Schon in der Vita Nuova finden sich Anspielungen auf die Meinung, die man in diesem Kreise von ihm hatte ; so wenn ein Freund ihn auffordert über das Wesen Amores zu dichten avendo forse per l'udite parole (die Kanzone Donne ch'avete) speranza di me oltre che degna*0) ; auch die Anspielung der berühmten Stelle in Convivio I, 3 auf die molti che forsechè per alcuna fama in altra forma m'aveano imaginaton) kann sich im wesentlichen nur auf seinen dichterischen Ruhm beziehen. Vollends seine Aufnahme unter die großen Dichter des Altertums in einem der ersten Gesänge des Inferno88) konnte sich nur ein Mann gestatten, der wußte, daß die eingeweihten Leser solches Selbstgefühl nicht lächerlich finden würden, und das Gleiche gilt von der deutlichen Anspielung in der Szene mit Oderisi von Gubbio83). Ueberhaupt ist das ganze Selbstgefühl und die Haltung Dantes die eines Menschen, dessen erste Jugendblüte von bezaubernder Wirkung gewesen ist, und der vom ersten Tage an unter den Genossen des neuen Stils als ein Auserwählter galt. Stärker aber als Beispiele und theoretische Erwägungen spricht in dem hier gedachten Sinne die Art, wie ihn in dem großen Gedicht die toten 19
) 1921 ») «) s *) 2Ì )
Dante, Opere, Testo critico della Società Dantesca Italiana, (fortan zitiert: Opere) p. 64. Vita Nuova, XX. Opere, p. 152. Inf. IV, 97 ff. Purg. XI, 98 ff.
JUGENDDICHTUNG
Gefährten seiner Jugend mit den berühmtesten seiner eigenen Verse begrüßen : die traumhaft schönen Begegnungen mit dem Musiker Casella (Purg. II) und dem jungen König Karl Martell (Paradiso VIII) spiegeln die Erinnerung an Abende in Florenz, als jene Kanzonen die edelste Blüte damaliger Jugend zum ersten Male entzückten. Bonagiunta von Lucca, ein Dichter der älteren Generation, der dem Dolce Stil Nuovo abweisend gegenüberstand, begrüßt ihn sogar mit seiner ersten großen Kanzone: Bist Du es, sagt er, der die Verse neuen Stils schrieb, deren Anfang lautet: Donne ch'avete intelletto d'amore?**) Wir wollen versuchen Dantes Jugendstimme ein wenig deutlicher zu hören, indem wir seine Gedichte mit denen seiner Gefährten vergleichen, und beginnen mit dem bekanntesten Gedicht der Vita Nuova, dem Sonett auf den Gruß der Geliebten (V. N. 26). Es lautet: 1 Tanto gentile e tanto onesta pare La donna mia quand'ella altrui saluta, ch'ogne lingua deven tremando muta, e li occhi no l'ardiscon di guardare. 5 Ella si va, sentendosi laudare, benignamente d'umiltà vestuta; e par che sia una cosa venuta da cielo in terra a miracol mostrare. 9 Mostrasi si piacente a chi la mira, che dà per li occhi una dolcezza al core, che 'ntender no la può chi no la prova; 12 e par che de la sua labbia si mova un spirito soave pien d'amore, che va dicendo a l'anima: Sospira. Von Guido Guinizelli besitzen wir das gleiche Thema in zwei verschiedenen Formen. Einmal verknüpft er es mit dem Preis der Geliebten überhaupt (Monaci, 103) : 1 Voglio del ver la mia dona laudare et asenbrargli la rosa e lo giglio, come stella diana splende e pare, e zo ch'è lasù bello a le'somiglio. ") Purg. XXIV, 49 ββ. 40
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5 verde rivera me reseñóla, l'aire tutti coluri e fior, zano e vermeglio, oro e azur o e riche zoi per dare, medesmamente amor rafina meglio. 9 Passa per via adorna e si gentile cha sbassa argoglio a cui dona salute e fai de nostra fe se no la crede; 12 e non si po apresare homo ch'è vile, ancor ve dico e'ha mazor vertute: nul hom po mal pensar fin che la vede. Das andere Sonett schildert den Eindruck des Grußes auf ihn selbst:
1 Lo vostro bel saluto e l gentil sguardo che fate quando v'enchontro, m'ancide; amor m'assale e già non à reguardo s'elli face peccato over mercede. 5 ché per mezzo lo chore me lanciò un dardo ched oltre 'nparte lo talgla e divide, parlar non posso, ché 'n gran pene ardo, si come quelli che sua morte vede. 9 Per li occhi passa come fa lo trono, che fere per la finestra della torre e ciò che dentro trova spezza e fende. 12 remagno chomo statua d'ottono ove vita nè spirito non richorre, se non che la fighura d'omo rende. Zuletzt möge ein Sonett Cavalcantis mit ähnlichem Motiv folgen") :
1 Chi è questa che ven ch'ogn' om la mira e fa tremar di chiaritate l'a're, e mena seco amor si che parlare nuli' omo pote, ma ciascun sospira? 5 O Deo, che sembra quando li occhi gira dica'l Amor, eh' i'no'l savria contare: cotanto d'umiltà donna mi pare, ch'ogn'altra ver di lei i'ia chiam'ira. ") G. Cavalcanti, le Rime, ed. Rivalta, Bologna 1902, S. 108.
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JUGENDDICHTUNG
9 Non si poria contar la sua piagenza, ch'a lei s'inchina ogni gentil virtute, e la beliate per sua dea la mostra. 12 Non fu si alta già la mente nostra e non si pose in noi tanta salute, che propriamente n'aviam conoscenza. Was bei Betrachtung der vier Gedichte") zunächst auffällt, ist dieses, daß Dante sich darauf beschränkt hat, den Vorgang des Grüßen und Vorübergehens mit seinen unmittelbaren Wirkungen so eindringlich wie möglich vorzustellen, während der eine wie der andere Guido teils mehr teils weniger geben. Das erste Gedicht Guinizellis beginnt mit der Absicht: voglio del ver la mia donna laudare. Dann folgt eine Fülle von Vergleichen, die eher kumulativ nebeneinandergestellt als planvoll sich steigernd scheinen; als ein neues Motiv und zugleich als Krönung des Ganzen erscheint zuletzt das Grußthema, das aber überhaupt nicht als Vorgang gesehen ist; augenscheinlich ist es Guinizelli nur um die Hervorhebung des Wunderbaren zu tun, das er mit einer Aufzählung der Wirkungen sehr elegant, aber allzu scharf pointiert vorstellt, als handele es sich um registrierbare Tatsachen; und schon in der dritten Zeile, der elften des Sonetts, hat er sich mit dem allzu positiv tatsächlichen Satz von der Bekehrung so sehr gesteigert, daß er in den Abschlußzeilen zweimal neu ansetzen muß. Das andere Gedicht Guinizellis ist thematisch betrachtet weit einheitlicher; aber auch hier kommt es ihm gar nicht auf den Vorgang an, sondern nur auf die wunderbare Wirkung, die er wiederum schon in der zweiten Zeile mit dem krassen Wort ancide erschöpft ; der Rest des Gedichts ist Kommentar zu diesem Wort; und völlig überraschend beginnt mit dem ersten Dreizeiler das schöne, bis zum Schluß dahinrollende Bild vom Gewitter, eine der stärksten Stellen, die uns von î 6 ) Vgl. zum Folgenden die Kritik des ersten Gedichts von Guinizelli bei G. Lisio, L'Arte del periodo nelle opere volgari di D. Α., Bologna 1902 S. 54, und die Gegenüberstellung der Sonette Dantee und Cavalcantis bei Voßler a. a. O. II, S. 561, der die beiden Gedichte auch übersetzt hat.
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ihm erhalten ist ; sie zeigt mit Evidenz das Edle und Echte seines Pathos, auch die Bemühung um das Konkrete, aber zugleich die Herkunft solcher Bemühung aus dem Allegorischen und Analytischen. Der jüngere Guido setzt mit vollem Ton ein, als wolle er uns mitten in das Ereignis hineinreißen, und wirklich geht es in einem Zuge bis zum Ende der vierten oder sogar der fünften Zeile. Aber bei genauerer Prüfung sieht man schnell, daß die sinnliche Kraft schon von der zweiten Zeile an gebrochen ist; denn mit dem Bilde von der zitternden Luft, mit der Feststellung ciascun sospira verbindet sich ebensowenig die Vorstellung eines realen Vorgangs wie mit der nur gedachten und harten Antithese von umiltà und ira. Sehr schnell läßt er davon ab sagen zu wollen, was er nicht sagen kann, und die Eleganz seiner Entschuldigung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Ton der ersten Zeile verspricht, was das Gedicht nicht hält. Dantes Einsatz ist weit weniger dramatisch als der Cavalcantis; er scheint gar nicht vom Gegenwärtigen zu sprechen, sondern sich einer Erinnerung hinzugeben — bis das zweite Glied der vergleichenden Konsekutivperiode mit seiner leisen und eindringlichen Steigerung ihn ins Geschehende hineinzieht; und nun ist er darin, und es folgt eine der seltenen Stellen, an denen man das vollkommene Neue einer dichterischen Formgebung fassen und zeigen kann: die Wiederaufnahme des Motivs als eines Gegenwärtigen mit den Worten Ella si va.... Durch diese Worte entsteht die Illusion eines ununterbrochenen Vorgangs, wie er auch wirklich in Dantes Konzeption lebte: die Herrin erscheint und grüßt, alle verstummen und scheuen sich ihr ins Gesicht zu schauen; nun ist sie vorüber, man kann sie noch sehen, da wagt sich das Geflüster hervor, und jetzt erst steigt das erste vergleichende Bild empor, ganz aus der Eingebung des Augenblicks natürlich geformt; erst als sie ganz fort ist, nicht mehr sichtbar, beginnt mit der neunten Zeile die Erinnerung das betrachtende und sich steigernde Auskosten des Gesehenen, und solche Rechenschaft endet mit einem tiefen Atemzug, der 43
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der Gipfel des meditierenden Versenkens in das eben Geschehene ist, zugleich die Meditation beendet und den Bann löst. In Guinizellis erstem Gedicht häufen sich die Motive. Darin ist er sehr reich, ein genialer Erfinder, und fast alle Motive und Bilder des Neuen Stils gehen auf ihn zurück. Er hat die Herrin, die in der provenzalischen Dichtung wenigstens grundsätzlich noch ein irdisches Wesen geblieben war, zuerst als Mittlerin der höchsten Gnade und Erkenntnis darzustellen gewagt, und hat den gesamten rhetorischen Apparat, den diese Umwandlung erforderte, mindestens als Gerüst neu geschaffen. Diese Rhetorik, der ein Ethos zu Grunde liegt, findet ihre Vollendung und Befriedigung dort, wo er ganz theoretisch sein darf: in der berühmten Kanzone über Ort und Wesen der Liebe (Al cor gierttil repadria sempre amore, Monaci S. 301), wenn er den edlen Gedanken immer wieder in allegorische Vergleiche auflöst, aus der Allegorie einen neuen Gedanken gewinnt und so in Aussage, Beweis und verknüpfender Metapher bis zu dem bezaubernden Schlußbilde vordringt, das nun seinerseits auf ein bel parlare, auf ein pointiertes Wort hinausläuft, und damit die Sinnlichkeit des vornehmen Gebildes in reiner und etwas antithetischer Begrifflichkeit einfängt. Aber die gedankliche Kühle, die sich nur im Spiel der Bedeutungen entzündet, sobald diese die Würde ethischer Kategorien erlangen (eine Geistesart, die Dante nicht verleugnet, sondern in einen größeren Bezirk eingegliedert hat) hindert bei ihm die wirkliche Kràft des Griffes. Vielleicht war die Flucht aus dem Ereignis eine notwendige Folge der inneren Umwandlung, die seine Haltung erlitt, als er in dem noch ungeformten Lande seiner Geburt es unternahm, im hohen Stil zu dichten ; oder die noch ungelenke Sprache, die doch im niederen Stil schon so kräftig sich zu bewegen begann, fügte sich im Pathetischen williger einer Gesinnung als einem Ereignis. Das wäre sonderbar, denn es pflegt sonst in der Sprachgeschichte eher umgekehrt zu sein; aber freilich treffen im italienischen Dugento Jugend und sterile Ueberalterung weit här44
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ter aufeinander als etwa im Französischen oder Deutschen; die Literatursprache war eben noch ein seniles Latein gewesen, und kaum gab es ein literarisches Volgare, so war es auch schon die Rhetorik des Volgare illustre. Guido Guinizelli war in seinen Gedichten hohen Stils — es sind auch andere erhalten — ein philosophisch-rhetorischer Dichter, und er war nichts als dieses: ein Ereignis erwähnt er nur, um die Wirkung gedanklich zu ergründen. Die ethische Wirkung des Grußes in dem oben besprochenen Preisgedicht variiert er in fünf Zeilen vier Mal, und da ihm der knappe Raum und der Zwang der Reime nicht Freiheit für allegorisches Spiel und gedankliches Ausspinnen lassen, so reiht er kumulierend Aussage an Aussage. Auch Dante hat die ethische Wirkung des Blickes der Herrin in der Vita Nuova noch an anderer Stelle beschrieben. Er hat dies einmal so geformt, daß er das Erwachen der Liebe bei ihrem Anblick schildert (Ne li occhi porta la mia donna Amore, V. N. 21.); mit Blick, Gruß, Anrede, Lächeln steigert sich die Skala der inneren Läuterung, die dem Erwachen Amores voraufgeht; wieder erleben wir zugleich mit dem Glücklichen, dem solch wunderbare Begegnung zu Teil wird, das ablaufende Geschehen; und die Antithese zwischen der anscheinend geringen Ursache und der tiefen Wirkung, die beim Guinizelli so hart und dogmatisch bleibt, wird durch die parallele Wiederholung und den immer erneuten Rückgriff auf die Lieblichkeit des sinnlichen Vorgangs zu jugendlichem und süßem Spiel. Dabei ist das Sonett als Ganzes nicht eins der Glücklichsten; es wird entstellt durch die Apostrophe in der Mitte (aiutatemi donne), die, sonst bei Dante von höchster Wirkung, hier, im Ausklang des Vierzeilers, wie eine matte Unterbrechung wirkt. Ein anderes Mal, im dritten Sonett der Jugendkanzone Donne ch'avete intelletto d'amore, fordert er die Frauen auf, seine Herrin zu begleiten, wenn sie von edler Art scheinen wollen; bei ihrem Anblick tötet die Macht Amores alle niedrigen Gedanken ; und dann folgen in gegliederter Steigerung die Motive Guinizellis: aus der abstrakten Aussage
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e non si po apresare homo ch'è vile wird hier, mit der Darstellung der Anstrengung, die kaum zu vollbringen ist, und der konkreten Disjunktion, die dem Bilde erst Intensität und Notwendigkeit gibt e quai soffrisse di starla a vedere diverria nobil cosa, o si morria. Die beiden Schlüsse sind ganz parallel geformt: nur ist er bei Dante wirklich die Krönung, in der die ethische Wirkung in eine „anagogische" Hoffnung umschlägt, bei Guinizelli eine recht zufällig an den Schluß gelangte Aussage, die die angekündigte Steigerung vermissen läßt 87 )· Noch in anderer Hinsicht ist die große Kanzone, von der wir sprechen, für uns lehrreich. Oben war von dem Bann die Rede, der sich am Ende des Grußsonettes, bei dem Worte sospira, zum höchsten steigert und löst. Nun ist aber fast jedes Gedicht Dantes, vom ersten Tage an, darauf gerichtet, dem Hörenden nicht nur zu gefallen und seinen Beifall zu erlangen, sondern ihn zu bezaubern und zu verstricken; und sein Ton wirkt in den schönsten seiner Gedichte nicht als eine Mitteilung, sondern als eine Beschwörung, als ein Aufruf zur Gemeinsamkeit des inneren Wesens, als ein Befehl, ihm zu folgen, der um so stärker bewegt und entzündet, als er nicht an alle, sondern an Auserwählte gerichtet ist. Man lese und bedenke: Donne ch'avete intelletto d'amore . . . . . Das ist eine Anrede ; aber es ist mehr als das. Es ist Aufruf, Beschwörung, höchstes Verlangen und tiefstes Vertrauen. Mit einem Griff hat der Sprecher die Schar der Erlesenen aus dem Kreis der Lebendigen herausgeholt, sie um sich versammelt, und nun stehen sie, allem anderen abgewandt, bereit ihn zu hören. Es ist die Apostrophe, Dantes liebstes Kunstmittel; doch darf man bei diesem Wort ja nicht an eine Art technischen Kunstgriff denken, denn es ist wirklich der natürliche Ausdruck der Macht»') Guinizelli: ancor ve dico c'ha mazor vertute: nul hom po mal pensar fin che la vede. Dante: ancor l'ha Dio per maggior grazia dato che non po mal finir chi l'ha parlato.
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BESCHWÖRUNG
fülle seines Geistes. Die Apostrophe ist in Europa so alt wie die Dichtung : Homer hat sie oft (man denke an Chryses' Anrede an die Atriden im Eingang der Ilias, die ganz stark die Vorstellung bittend erhobener Hände hervorruft) ; und das demosthenische oò μα τους έν Mapall· ών ι ist jedem in Erinnerung, der griechischen Ton in sich aufzunehmen bereit war. Christliches Gebet, Hymnen und Sequenzen haben die Apostrophe neu belebt ; aber man würde wohl in der gesamten Profanliteratur des Mittelalters vergeblich nach einem ähnlich starken Klang beschwörender Anrede suchen. Auch die Provenzalen, die im Eingang und in der Tornada der großen Kanzonen manchen Anlauf nehmen, haben sie kaum gekannt; Guinizelli ist sie ganz fremd. Dante hat sie neu geboren. Schon sein erstes Sonett A ciascun' alma presa e gentil core beginnt mit der betonten Aufforderung an die Auserwählten Amores ; aber was hier nur eine leichte und anmutige Einladung ist, wird bald zu flehender Beschwörung oder gebietendem Aufruf. O voi che per la via d'Amor passate — Morte villana, di pietà nemica — Piangete, amanti, poi che piange Amore — Donne ch'avete intelletto d'amore — Voi che portate la sembianza umile — Se'tu colui c'hai trattato sovente — Deh peregrini che pensosi andate — diese Anfangszeilen von Gedichten der Vita Nuova zeigen schon in der Apostrophe des Eingangs die bis dahin unbekannte Eindringlichkeit der Danteschen Stimme ; sie ziehen den magischen Kreis der durch die Eingebung des Dichters gebundenen, die ihm folgen müssen, bis er sie entläßt. Auch mitten im Gang des Gedichts gibt es bei ihm die unmittelbar greifende Anrede; was das Schlußwort sospira in dem Grußsonett bedeutet, erkennt auch die ruhige Betrachtung, die sich jedes Gefühls entäußert, an dem Vergleich mit dem ciascun sospira• aus dem abgedruckten Sonett des Cavalcanti. Oder ein anderes Beispiel: wie in dem Traum der Kanzone Donna pietosa e di novella etate39) » ) V. Ν. 23.
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JUGENDDICHTUNG
aus den unglücklichen Vorzeichen die Gestalt des Meldenden konkret hervorbrechend auf ihn zudringt: Che fai? non sai novella? Morta è la donna tua, ch'era si bella Die Apostrophe hat Dante stets geliebt und sie immer wieder, mit unerhörtester Mannigfaltigkeit des Tonfalls verwendet. Aus den großen Gedichten der späteren Zeit erinnere man sich der Zeilen Voi ch'intendendo il terzo ciel movete udite il ragionar eh'è nel mio core . . .M) oder dieser: Amor che movi tua vertù dal cielo . . .30) und bedenke auch hier, daß die apostrophierende Unmittelbarkeit keineswegs nur in den Gedichtanfängen sich findet, sondern auch sehr oft mitten im Verlaufe hervortritt — so etwa in der Kanzone La dispietata mente31) die immer wieder auf die Anrede zurückgreift, oder in der herrlichen Io son venuto al punto de la rota**), wo der lang vorbereitete Ausbruch schließlich fast gedämpft ist: Canzone, or che sara di me . . . Wir müßten wohl hundert und mehr Verse der Komödie abschreiben, wenn wir eine Vorstellung von dem Reichtum geben wollten, den das große Gedicht an Apostrophen besitzt. Die Reihe beginnt mit der Anrede an Vergil: Or se'tu quel Virgilio Sie endet mit dem Gebet des heiligen Bernhard im letzten Gesang oder, wenn man will, mit dem o luce eterna des Verses 124. Zwingender Befehl und sanfte Bitte, Flehen aus tiefster Qual und hochgemutes Verlangen, pathetischer Anruf, lehrhafte Aufforderung, freundlicher Gruß, süßes Wiederfinden spiegeln sich in dieser langen Reihe ; es gibt solche, die lang vorbereitet, nach einem ansteigenden Periodenbau, in mehreren gewaltigen Versen herausschäumen, und andere, die nur in einem Ausruf bestehen: Deh...»») M
) ") ") ") Sï )
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Opere S. Opere S. Opere S. Opere S. Ich denke
1β». 95. 71. 103. an Pia de' Tolomei, Purg. V, 130. — Der Apostrophe
SATZFÜGUNG
Daß in der Jugenddichtung Dantes der konkrete Vorgang an die Stelle der Gesinnungsrhetorik Guinizellis tritt, und daß sein Ton nicht mehr mitteilend, sondern beschwörend wirkt, diese Momente sind nicht die einzigen Ursachen der Zauberkraft seiner Stimme. Es ist auch in der Wort- und Satzfügung ein ganz neues Element; wir können es vorläufig nicht anders bezeichnen als indem wir sagen, daß hier der Gedanke durch seine Gliederung zur Melodie geworden ist. Wenn man etwa neben den Gedichten des Neuen Stils einige der berühmtesten provenzialischen Lieder liest, etwa das Can vei la lauzeta des Bernart von Ventadorn") oder die Alba Girauts34), oder Ab l'alen tir vas me l'aire von Peire Vidal36), so muß es auffallen, wie wenig die Fügung dieser Kunstwerke von logischen Gliedern gehalten wird. Nicht etwa, daß es darin nicht gelegentlich auch kausale, konsekutive, finale, komparative Verbindungen gäbe: allein sie beherrschen das Ganze nicht, das vielmehr durch etwas kaum Bezeicheneng verwandt ist die eigentliche Beschwörung (Se mai continga ..). Sie wendet sich nicht an Personen, sondern beschwört in Wunsch oder Abscheu das Bild eines nicht bestehenden Zustande. Wieder ist mir Homer mit seinem ώς άπόλοιτο και άλλος (Od. I, 47) oder dem lustigen oî yàp τούτο γένοιτο (Od. V i l i , 339) und manche andere, noch schärfer akzentuierte Stelle aus der antiken Dichtung gegenwärtig. Auch diese rhetorische Form hat Dante neu geschaffen; denn wenn sie auch in der ihm voraufgehenden mittelalterlichen Literatur gelegentlich vorkommen mag (ist doch fast jede optativische Form mit ihr verwandt und nur durch den Grad der Intensität geschieden), so hat er ihr doch zuerst zwingende Suggestion und ereignishafte Plastik gegeben. Die Provenzalen verwenden sie manchmal; aufgefallen ist mir bei Bernart von Ventadorn etwa Ja Deus nom don aquel poder, ed. Appel, S. 85 oder Ai Deus! car se fosson trian, ed. Appel, S. 186, und auch einige Stellen bei Peire d'Alvernhe. Guinizelli und die ersten Dichter des neuen Stils kennen sie gar nicht; auch Dante selbst hat sie in der V. N. nach kaum verwendet, höchstens das Pilgersonett (V. N. 40) hat etwas Anklingendes. Einige Stellen der Kanzonen (etwa in Cosi nel mio parlar, Opere, S. 107 der Vers 53) und der schöne Satz in Convivio 1,3 Ahi piaciuto fosse . . . . sind zu erwähnen; doch der eigentliche Schauplatz dieser Form ist erst die Komödie. 3i ) Ed. Appel, S. 249. ss ) Ed. Kolsen, S. 342. S6 ) Ed. Anglade, S. 60.
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bares, durch die lyrische Stimmung in ihrer irrationalen Umrißlosigkeit zusammengehalten ist. Die verschiedenen Objektivierungen der Stimmung, die die einzelnen Abschnitte des Gedichts bilden, sind meist ohne jede gedanklich faßbare Beziehung nebeneinander gesetzt; in dieser Hinsicht unterscheidet sich die provenzalische Poesie nur wenig von der Volksdichtung. Es ergibt sich daraus, daß in den Perioden die temporale Gliederung vorherrscht, und daß logische Gliederungen entweder sehr einfach sind oder leicht etwas dunkel und unscharf werden; auch die Bevorzugung der kürzeren Verszeilen, insbesondere des Achtsilbers, wirkt in dem gleichen Sinne, indem dadurch ein gewisses Hüpfen des Rhythmus erzeugt wird, im Gegensatz zu dem langen Fluß der Periode, den die Herrschaft des elfsilbigen Verses, des superbissimum carmen31), ermöglicht und fordert. Natürlich gibt es unter den Provenzalen, besonders unter den späteren, auch Ausnahmen; oder vielmehr, es findet sich im trobar clus das deutliche Streben nach gedanklicher Gliederung, die aber, zugleich aus Absicht und Unvermögen, überall launenhaft, unscharf und springend bleibt. Es zeigt sich hier sogar, daß der reine Lyrismus der früheren Dichter nicht nur harmonischer, sondern selbst rationaler wirkt als die dunkle Gedanklichkeit des trobar clus. Im einen wie im anderen Falle trifft man selten eine harmonisch-logische Fügung und Gliederung und ein gleichmäßiges Fließen der Periode; in den seltenen Ausnahmen wie etwa in den Versen des Guilhem de Cabestanh Lo jorn qu'ie us vi, dompna, primeiramen, Quart a vos plac que us mi laissetz vezer, Parti mon cor tot d'autre pessamen E foron ferm en vos tug mep voler**)... wirkt das konsequente, betonte, geschlossene Durchhalten eines einfachen Motivs durch vier elfsilbige Verse, obgleich die Gliederung auch hier rein temporal ist, fast un97
) De vulg. el. II, 5. «) Ed. Langfors, Annalee du Midi XXVI, S. 45; Lommatzsch, Prov. Liederbuefa, Berlin 1917, S. 159. 3
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SATZFÜGUNG
provenzalisch und erinnert an den Ton des italienischen Stil Nuovo. Dagegen hat die italienische Kunstpoesie von Anfang an, also schon bei den Sizilianern, bei Guittone oder Bonagiunta, ein weit eher logisches und gedanklich festes Gefüge. Sie beginnen bald den Gegenstand schärfer anzufassen als die Troubadours, es bleibt selten etwas Unklares und Unausgesprochenes zurück, und die Sätze sind, im Vergleich zu den Provenzalen, nüchtern und handfest zu nennen. Auch Guinizelli ist die gedankliche Fügung natürlich, doch ist sie bei ihm sublimiert und dem Ethos des Cor gentile angepaßt ; er ist, wie wir schon beobachtet haben, in seinen Gedichten hohen Stils sehr wenig konkret, also auch nicht handfest, aber um so stärker tritt das Begriffliche hervor ; die Unverständlichkeit, die ihm Bonagiunta vorwirft, ist weniger als im trobar clus die Folge sprunghafter und willkürlicher Verbindungen, als vielmehr durch die Neuheit und ungewohnte Sublimierung der begrifflichen Kategorien verursacht, mit denen er die Geistigkeit des Neuen Stils begründete. Gerade die Tenzone zwischen ihm und Bonagiunta über die Dunkelheit seiner Dichtung39) ist hier sehr lehrreich ; Bonagiuntas Anzapfung (Poi ch'avete mutata la manera) ist in ihrer etwas groben Gutmütigkeit, mit drei klaren gegliederten Sätzen, die eigentlich nur einer sind, mit Antithese und Schlußpointe ein repräsentatives Stück der frühitalienischen Hellköpfigkeit, wie sie auch die Novellen und Anekdoten zeigen ; und die vornehme und bedeutende Antwort Guinizellis (Omo eh'è. sagio non corre legero) zeigt in ihrem Reichtum logischer Gliederung, daß Selbstzucht und höhere Geistigkeit seinen Verstand auch für solchen Kampf geschliffen und nicht abgestumpft haben. Wenn man hier ein inhaltlich verwandtes provenzalisches Gedicht, Girauts Tenzone über den trobar clus (Era m platz, Giraut de Borneilli0) heranzieht, so wird der Unterschied in der rationalen Fügung sehr deutlich; bei Giraut will M) Monaci 104, S. 303. 40 ) Ed. Kolsen, Nr. 58; Appel, Prov. Chrestomathie, Nr. 87.
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zwar das Ganze viel reiner theoretisch bleiben, aber es gelingt nicht; die Argumentation bleibt im Allgemeinsten und Ungefähren, kein Gedanke wird fest ergriffen, die Verbindungen sind sprunghaft; am Schluß verflüchtigt sich der Disput überhaupt und es gibt ein überraschendes Abbiegen. Wo Guinizelli im hohen Ton dichtete — daß er auch anders konnte, zeigen Gedichte wie das Sonett Chi vedesse a Lucia un vor chapuço41) —, da verbindet er Ge-
danken und illustriert sie durch Vergleiche; wo er Raum hat sich zu entfalten, da reihen sie sich, Glied um Glied, zu durchsichtiger Klarheit. Die tiefe Ernsthaftigkeit und das Ethos seiner Inspiration bewahren ihn davor dozierend zu wirken; aber eine gewisse Steifheit und übergroße Gleichmäßigkeit im Syntaktischen bleiben bestehen; sie sind die natürliche Folge seiner rein gedanklichen Thematik. Oft ist er genötigt mitten im Gedicht neu einzusetzen, weil ein neuer Gedanke beginnt, der mit dem vorhergehenden zwar thematisch verbunden, aber in keiner Weise poetisch in ihm enthalten ist, so daß er etwas vollkommen Neues scheint, und das Ganze als ein deutliches Nacheinander wirkt. Das Bedürfnis nach einem sinnlicheren und zentraleren Zusammenhang des Ganzen hat er gewiß selbst empfunden, allein die Mittel, die er aus diesem Empfinden heraus verwendet — Wiederaufnahme eines Wortes oder Klanges und Wiederholung der gleichen Konstruktionen und Redefiguren, besonders des Vergleichs und der Antithese — verstärken in der großen Kanzone Al cor gentil, wo sie am deutlichsten nachweisbar sind, eher noch den Eindruck einer gewissen dogmatischen Steifheit. Es ist ihm um eine gleichmäßige Wirkung, um eine Art linearer Harmonie zu tun, die sehr rein, aber auch sehr dünn wirkt, wenn man Dante daneben hält. Dante ist in Aussage und Gliederung nicht minder klar und vollständig als sein Meister; aber was bei diesem die Hauptsache und das Entscheidende war, ist bei Dante nur ein Ausfluß tieferer Krâftë; Die Fügung seiner Ge") Monaci 103, S. 299.
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KOMPOSITION dichte ist weder vorgedanklich wie die des Minnesangs noch rein gedanklich wie diejenige Guinizellis; sie ist etwas Drittes. E s hängt das mit dem schon erwähnten Umstand zusammen, daß der Anlaß f ü r ein Gedicht Dantes weniger ein Gefühl oder ein Gedanke ist als vielmehr ein Ereignis; aber damit ist die Beschreibung des Phänomens nicht erschöpft, denn es handelt sich nur selten um reale oder auch nur empirisch vorstellbare Ereignisse, sondern meist um Visionen. Man betrachte den Inhalt des Schlußgedichtes der Vita Nuova : Oltre la spera. A u s dem Motiv: mein Geist weilt oft bei der toten Geliebten — hätte ein Dichter von der Art Guinizellis kaum mehr als zwei Zeilen gemacht; um mehr zu schreiben, hätte er sich vom Ausgangspunkt, also von sich selbst, entfernen müssen, etwas Weiteres, ein verwandtes aber neues Motiv einführen müssen, vielleicht eine Beschreibung des Zustandes der Seligen, eine Anrede oder Botschaft von ihr, kurz es wäre ein vielfältiges Nebeneinander und Nacheinander geworden. Dante aber sieht den visionären Vorgang der Wanderung seines Geistes in seiner Vollständigkeit; es ist gar keine Metaphorik mehr in dieser Vorstellung, sondern sie ist gleichsam ein tatsächlich Geschehendes unter der Zeitlupe; das ganze Gedicht behandelt nur Aufstieg, Wiederkehr und Bericht. Damit aber etwas Wartend-Bleibendes vorhanden ist, das den Vorgang der Wanderung deutlicher und intensiver erscheinen läßt, teilt sich der Geist des Dichters: nur der sospiro, dem die Liebe eine intelligenza verleiht, steigt auf und wird zum spirito ; und wie Noah der T a u b e nachgeschaut haben mag oder wir Heutigen einem Flieger, der gefährliche Kühnheit unternimmt, und ihn noch lange mit den Gedanken verfolgen, wenn er unseren Augen längst entschwunden ist — so liegt in den Eingangsworten, ja sogar noch in der Schilderung von Ziel und Aufenthalt das Empfinden des nachschauend Zurückgebliebenen. Dieser in das Innere des Vorgangs versetzte Kontrapost (der sich im Ausklang des Gedichts auch gedanklich gestaltet), verschärft und unterstreicht noch die Einheitlichkeit des ganzen Gebildes, das, in sich gegliedert, von einem ein53
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zigen Motiv überbaut ist; dieses eine ist in den ersten Zeilen sogleich erkennbar, und nichts „Neues" tritt mehr hinzu. In allen Gedichten seiner Jugendzeit ist Dante äußerst sparsam mit neuen „hinzutretenden" Motiven; und schon das jeweilige Hauptmotiv ist meist so stark spezialisiert, so sehr konkrete einzelne Gelegenheit, daß es keine Anfügungen duldet und seine Intensität aus der inneren Gliederung und der Schärfe seiner visionären Darstellung herleitet. Aber auch da, wo sich ihm ein ganz allgemeines Thema als Motiv aufdrängt, verwandelt es sich unter seinen formenden Händen und seinen zugleich weitblickenden und genauen Augen in ein bestimmtes nicht gedanklich gebundenes, sondern gleichsam real geschaffenes historisches Gefüge. Ein recht deutliches Beispiel dafür ist das programmatische Gedicht über Amore und cor gentile42) ; Guinizelli hat in der großen traktathaften Kanzone die Glieder eines Gedankengangs nur durch konsequente Metaphorik zu einem dichterischen Ganzen gebunden ; die Eingangszeile, die freilich leicht in einem synthetisch zusammenfassenden Sinne umdeutbar ist, bedeutet im Rahmen des Gedichts nur das erste Glied einer Kette; Dantes Eingangszeile ist deutlich die Summe des ganzen Gedankens, und es folgt in gestalteter Vision der Vorgang der Geburt Amores. Die Disposition die er selbst gibt, ist nur eine scheinbare (er sagt es selbst mit den Worten potenzia und atto) ; denn der zweite Teil ist nichts selbständig Dazutretendes, weder logisch noch real ein neues Glied, sondern Entfaltung und Aktualisierung des mit der ersten Zeile Gegebenen; und darum wirkt das Gedicht trotz des didaktischen Tonfalls, als ob man dem Aufspringen einer Knospe zuschaute. Das allgemeinste Motiv, das die Dichter des Neuen Stils immer wieder behandelt haben, ist das Lob der Herrin, und man kann nicht leugnen, daß selbst Guinizelli, obgleich er hier bedeutende neue Motive erfand und ihnen den neuen Geist des „edlen Herzens" einblies, weit weniger konkrete Unmittelbarkeit « ) V. N. XX.
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KOMPOSITION
besitzt als der nordische oder der provenzalische Minnesang; denn es bleibt bei ihm immer ein Kumulieren von Aussagen ( Voglio del ver la mia dona laudare oder Tengnol di foll'enpres'a lo ver dire43), was bei den Minnesängern ein ungebundenes und ganz lyrisches Ergießen des Gefühls ist. Dante hat in der Vita Nuova das Thema in seiner allgemeinsten Form nur ein einziges Mal behandelt, nämlich in der großen Kanzone Donne ch'avete; überall sonst hat er ein besonderes Motiv oder Ereignis vorgezogen, hier aber gibt er ausdrücklich das allgemeinste Thema an : io vo'con voi de la mia donna dire. Wir wollen für den Augenblick davon absehen, welche ganz neue Eindringlichkeit und Individualisierung des Themas in den Worten con voi und in dem begründenden Bekenntnis der dritten und vierten Zeile") liegt; dieses „Ich mit Euch" haben wir schon oben, bei der Behandlung der Apostrophe, zu erklären versucht, und man wolle sich hier nur noch einmal vergegenwärtigen, welche inneren Gewalten bei Dante im Gefolge dieser rhetorischen Form sich auslösen. Jetzt beschäftigt uns der Gesamtaufbau des Gedichts: er ist nicht vollkommen, denn es ist Dante noch nicht gelungen, was ihm später auch bei dem allgemeinsten Motiv glückte, ein Nebeneinandersetzen einzelner Bilder zu vermeiden. Und doch ist es sehr verschieden von Guinizelli; denn wenn das Gedicht auch im Ganzen „zusammengestellt" ist und in einigen Zeilen des vierten Teilsonetts, dem Lob des edlen Körpers, ein Mosaik von Lobsprüchen und Metaphern — so ist doch das, was er hier im thematischen Ablauf befangen zusammenstellt und aufreiht, eine Folge von Visionen, die einer zentralen Vorstellung entspringen : die Szene im Himmel, ihre Erscheinung auf der Straße, Amore, der sie betrachtet. Diese Visionen erscheinen uns nicht vollkommen lebendig, und manches klingt gewaltsam; aber selbst die Art der Gewaltsamkeit ist neu : kein launenhafter trobar clus, auch nicht die steife « ) Monaci, S. 298 u. 300. i4) . . . . non perch'io creda sua laude finire, ma ragionar per isfogar la mente.
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und pointierende Gedanklichkeit Guinizellis ; sondern, wirkliche Gewalt: es ist das übermächtige Drängen, aus dem Gefühl das Aeußerste an Intensität herauszuholen, indem er es aus der Sphäre der Subjektivität, der eigentlichen Gefühlssphäre völlig heraushebt und es in den höchsten Regionen objektiver Geltung und letzter Absolutheit zu verankern sucht. Darauf allein kommt es ihm an, und diese Bemühung spiegelt sich in den maßlosen, die mystische Rhetorik des Neuen Stils noch übertrumpfenden Metaphern und Kontrasten ; die Kraft dieses Willens spüren wir noch jetzt, und darum ist das sehr ungleiche Gedicht noch heut von dem gleichen Zauber. Es ist der Zauber leidenschaftlicher Einheit, die den gesamten Kosmos in das eigene Erleben verstricken will. Das Gefühl des Sprechenden ist von solcher Richtungsbestimmtheit, daß es nicht im Sinne der hier noch ungeschickten rationalen Disposition, sondern in den Teilen und im Ganzen wie eine Machtausstrahlung, wie eine Wolke glühender Bezauberung wirkt. Die Einheitlichkeit der Danteschen Jugendlyrik, die in anderen Gedichten mit konkreteren und schärfer bestimmten Motiven noch deutlicher ist, hat also nicht rationalen, sondern visionären Charakter; und so wie die Bilder, aus denen die Gedichte bestehen, in ihrer realen Vollständigkeit, aus dem Zentrum ihres Wesens, nicht in der Aufreihung ihrer Merkmale beschworen sind, so wirken sie auch; sie tragen in sich ausstrahlende Kräfte, ι sie begehren Macht und gewinnen sie. Ueberall spricht Dantes Stimme aus dem Mittelpunkt einer ganz bestimmten, unverkennbar einmaligen Lage; überall will er den Hörenden in diese Lage hineinzwingen; ihm genügt nicht Sympathie des Gefühls oder Billigung, vielleicht gar Bewunderung des Gedankens: er verlangt Gefolgschaft bis in die äußerste Besonderheit der realen Lage, die er beschwört. Es wäre ungenau und vielleicht ungerecht, wenn man sagen wollte, daß er unmittelbarer und stärker erlebte als die früheren Dichter des Mittelalters ; es ist auch sehr viel Gezwungenes und gewaltsam Gesteigertes in seinen Versen, was nicht der herrschenden Mode, sondern ganz 56
KOMPOSITION
und gar seinem Ausdruckswillen um jeden Preis entspringt ; es ist eher so, daß die früheren Dichter von ihrem Erlebnis aus ins Weite zu streben geneigt sind, indem sie assoziativ oder auch in gedanklicher Gliederung alles heranholen, was Bezug auf das Erlebnis hat oder es metaphorisch zu erläutern und zu schmücken fähig ist; wohingegen Dante sich ganz streng an den konkreten Ausgangspunkt hält, alles Andere, Fremde, Verwandte, Aehnliche ausschaltet, sich nie in die Breite, stets in die Tiefe bewegt, alles Umliegende versinken läßt und in hartnäckiger, oft schmerzhafter Konzentration immer tiefer in das eine bestimmte Motiv hineinbohrt. Sehr charakteristisch sind darin seine Metaphern. Sie haben in der Lyrik der Vita Nuova kaum jemals einen selbständigen poetischen Wert wie bei den Provenzalen oder Guinizelli; sie führen nie in ein neues Land, geben kein neues Bild und bringen keine Abspannung oder Erholung: sie sind oft sparsam und kurz, bleiben stets innerhalb des Vorgangs, und ihr Zweck ist weder poetische Ergötzung noch gedankliche Erläuterung, noch auch eine Kombination von beidem; sie sind nichts als Ausdruck, und nur wo sie dazu taugen treten sie auf. Auf diese Art ist die Komposition der meisten Gedichte von einer Präzision und Geschlossenheit, die der damaligen älteren Generation zugleich kärglich und schwülstig erschienen sein mag. Selten zeigte sich eines der gewohnten poetischen Schmuckbilder; kam es aber einmal, so war es gar nicht geschmackvoll und ergötzend, sondern so maßlos übertrieben und so ernsthaft ins Reale transponiert, daß es erschreckte und abstieß; dabei war das ganze Gedicht eben durch die Beschränkung auf den konkreten einmaligen Tatbestand, in dem sich das Persönliche und Autobiographische rücksichtslos offenbarte, so intensiv geworden, daß es den Hörer, der nicht bereit war, sich leidenschaftlich verpflichten zu lassen, beunruhigte und verletzte. Im Verhältnis zu seinen Vorgängern bedeutet der Stil der Jugendgedichte Dantes sowohl eine Beschränkung wie eine Bereicherung: eine Beschränkung in bezug auf das Motiv, das viel bestimmter und spezieller war und das 57
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im Verlaufe des Gedichts weit strenger und fester beibehalten wurde; dabei muß daran erinnert werden, daß ein solches Vorgehen, das naturgemäß unmittelbarer und realistischer wirkt, auch wenn es noch so kühne und unalltägliche Dinge behauptet, längst bekannt und verbreitet war, nur nicht im hohen Stil ; Gedichte komischen, pastoralen oder polemischen Inhalts waren schon vielfach so behandelt worden; gerade in Italien bestand eine natürliche Neigung dafür, und wir haben im Laufe dieser Untersuchung schon zwei Gedichte, eines von Bonagiunta (Poi ch'avete mutata la manera) und eines von Guinizelli (Chi vedesse) zitiert, bei denen solche Beschränkung und konkrete Bestimmtheit mit einer gewissen Meisterschaft angewandt wird. Nur der erhabene Stil der Profandichtung war dem bisher nicht zugänglich gewesen, weil man mit ihm die Vorstellung von etwas durchaus Kunsthaftem, Unrealistischem, Rhetorischem verband — eine sehr alte Vorstellung, von der sich Dante nur ganz allmählich und niemals mit bewußter Konsequenz gelöst hat. Die Bereicherung aber liegt in der Tiefe und inneren Gliederung des einheitlichen Motivs, die sich der mannigfaltigen Realität des Vorgangs besser anpaßt und sie auf eine natürlichere Art entfaltet. Diese Elemente, die schwer auseinander zu halten sind und bei der Analyse ständig ineinander zu verfließen drohen: das Ereignishafte seiner Darstellung, das Beschwörende seines Tones, die visionäre Einheit seiner Komposition — sind es im wesentlichen, die das Neue seiner Stimme ausmächen und der europäischen Welt eine neue Möglichkeit pathetischer Dichtung offenbarten. Zwar hat er von seinen Vorgängern die Mystik des cor gentile, die dichterischen Formen von Kanzone, Sonett und Ballade, ja sogar die gesamte Terminologie der Liebesrhetorik übernommen — aber es ist etwas ganz Neues daraus geworden, und zwar schließlich, trotz aller wilden Selbststeigerung, trotz der Beschränkung auf außerordentliche und nur Wenigen zugänglichen Erlebnisse, etwas weit Einfacheres. Man lese die Sätze einmal in Prosa : Tanto gentile e tanto onesta pare la donna mia, quando ella altrui 58
DIALEKTIK DES GEFÜHLS
saluta, ch'ogne lingua deven tremando muta e li occhi no l'ardiscon di guardare. Oder: E perchè me ricorda ch'io parlai de la mia donna, mentre che vivia, donne gentili, volentier con vui, non voi parlare altrui, se non a cor gentil che in donna siai6). Das ist klar und einfach, und dabei schon rein optisch und noch mehr akustisch ein fließender Strom. Guinizelli kann das nicht: da er die Gedanken häuft, so muß er immerfort neu einsetzen; der Strom des Pathos setzt immer wieder aus, es wird neu Atem geholt, und nach einigen Worten ist es wieder zu Ende (man wird das nur dann verstehen, wenn man daraufhin eines seiner Gedichte liest). Dantes Verse haben gegenüber allem, was seit der Antike gedichtet wurde, bei durchsichtigster Einfachheit etwas ganz stark Schwingendes, unausgesetzt von innen Bewegtes, wie die Natur selbst. Der Eindruck, den wir hier beschreiben, ist rein sinnlich, in noch höherem Grade als das bisher Erwähnte, weil die ihn erzeugenden Kräfte noch ausschließlicher im Unbewußten und Unwillkürlichen liegen. Aber man kann ihm doch näher kommen, wenn man der rätselhaften Einfachheit der Verse mißtraut. Ne li occhi porta la mia donna Amore, per che si fa gentil ciò ch'ella mira Kann es etwas Klareres, Einfacheres geben? Eine fast didaktische Kausalverbindung, beide Glieder von gleichem Maß, jedes Wort fest und klar an seinem Platz — nichts Unprosaisches in der Satzbildung als das Voranstellen von ne li occhi. Aber welch ein Inhalt! Die Höhe des Gefühls, die edelste Blüte der Gesinnung des cor gentile ist als selbstverständliche Voraussetzung darin enthalten; auf dem Gipfel gleichsam öffnet sich die neue Ebene, die als Ausgangsort genommen wird; und in jedem dieser klaren, einfachen Worte schwingt eine Welt pathetischen Auftriebs. Dies ist noch schärfer zu beobachten, wenn man etwas stärker gegliederte Sätze heranzieht. Donne . . . i'vo'con voi de la mia donna dire, non perch'io creda sua laude finire, ma ragionar per isfogar la mente. Io dico 45 ) Aus der Kanzone Li occhi dolenti, V. Ν. XXXI. « ) V. Ν. XXI.
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JUGENDDICHTUNG che pensando il suo valore, Amor si dolce mi si fa che s'io allora non perdessi ardire, farei parlando
sentire, inna-
morar la gente. Diese Sätze scheinen, ebenso wie die oben zitierten, ruhige, sorgfältig geformte Aussagen zu enthalten, und die scheinbare Gemessenheit, die schon in der logischen, stark prosaischen Satzform liegt, wird nur noch verstärkt durch das Gleichmaß der Silben und die Verzahnung in dem System der Reime. Nun aber wolle man den Inhalt solcher Verssätze betrachten und sich vergegenwärtigen, daß es sich nicht um Tatsachen und Gedanken, sondern eigentlich um Stürme leidenschaftlichen Gefühls handelt, die hier anscheinend mühelos so stark geschlossener syntaktischerundm'etrischer Form unterworfen werden. Can vei la lauzeta mover de joi sas alas contra l rai, que s'oblid 'e s laissa chazer per la doussor c'al cor li vai, Ai! tan grans envepa m'en ve de cui qu'eu veya jauzion ...
Das ist auch eine lange, fließende Periode; aber wieviel ungebundener, naiver und wahrhaft einfacher darf sich hier das leidenschaftliche Gefühl ergießen! Dies „Singen wie der Vogel singt" hat schon die zweite Generation der großen Provenzalen nicht mehr gekonnt oder gewollt; an seine Stelle ist das Bestreben getreten, die Empfindung gedanklich zu erfassen, ein Bestreben, das sich schon sehr früh, am stärksten aber bei Giraut de Bornelh und bei Arnaut Daniel geltend macht. Die Dialektik des Gefühls — dieser Name scheint uns dem Gegenstand am ehesten zu entsprechen 47 ) — besteht darin, aus den Worten, die das Gefühl, seine Entstehung, seinen psychologischen Ort und seine Wirkungen bedeuten, ein logisches oder scheinbar logisches System zu bilden, und in ihm vielleicht eine geheime Weisheit zu verbergen. Versuche zu einer Dogmatik der Liebe sind alt; inspiriert wurden sie einerseits von dem Vorbild Ovids, andererseits von der vulgärspiritualistischen Neigung, das Sinnliche einer rationalen Bedeutung zu unterwerfen ; das berühmteste Beispiel ist das Buch des Andreas Capellanus. Aber ihr eigentlich poetisches Wesen hat diese Form erst den späteren Proven*") Ihn gebraucht Voßler a. a. O., I, S. 433.
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DIALEKTIK DES GEFÜHLS
zalen zu verdanken, und zwar liegt es bei ihnen in der äußersten Steigerung und scharfen Kontrastierung der gedanklichen Positionen, so daß das Bild eines tragischen Kampfes zu entstehen scheint. Doch liegt den sonderbaren und oft sehr suggestiven Dichtungen, die sie auf solche Art verfaßten, eine kunsttheoretische Vorstellung zugrunde, welche bewußt auf etwas Außergewöhnliches, Paradoxes und schwer Begreifliches hinzielt; das ergibt sich schon aus der Technik der Kontraste, die eine sehr unrealistische und abstrakte Form sind, und aus denen sich der wirkliche Anlaß des Gedichts sehr leicht verflüchtigt; überhaupt aber bevorzugte die Generation, die zuerst wieder den freien lyrischen Erguß in festere Gestalt zu zwingen suchte, die rein formalen Bindungen der Begriffs· und Reimverschränkung, und vernachlässigte darüber zwar niemals das Gefühl, das stets als eigentliche Substanz des Ausdrucks erhalten bleibt, wohl aber die ihm zugrunde liegende Wirklichkeit des Erlebnisses; es ist also eine unechte, sprunghafte und phantastische Rationalität, die nicht die gedankliche Durchformung eines empirischen Tatbestandes, sondern ein Spiel mit Kontrasten und dunklen Metaphern bezweckt. Wenn nun diese Dichtung eine gewisse Verwandtschaft mit dem rhetorisch-logischen Spieltrieb des Vulgärspiritualismus zeigt und letzten Endes auf die entartete rhetorische Tradition der Spätantike zurückführbar sein mag, so zeigt die Gefühlsdialektik Dantes, und zwar zuerst ganz unbewußt, das Zurückgreifen auf die echten Quellen der antiken Rhetorik, und damit auf das Griechentum. Denn obgleich er nicht griechisch konnte, von Homer eine sehr vage und von den Tragikern gar keine Vorstellung besaß — obgleich er seine ganze klassische Bildung aus einigen nach unserem Urteil wahllos und zufällig zusammengewürfelten lateinischen Schriftstellern gezogen hatte —, ist er doch der echte Erbe des edelsten Griechentums, der „Sprache, die das μϊν und èï geschaffen hat"13) ; seit der Antike sind seine Sätze die ersten, die eine Welt enthalten und einfach ") Ausspruch von Wilamowitz.
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JUGENDDICHTUNG
sind wie aus einer Fibel, die ein tiefstes Gefühl ausdrücken und klar sind wie ein Gedanke, die das Herz zu sprengen drohen und in strengem Maße sich ruhig bewegen; vor allem aber die ersten, in denen die Rhetorik das Wirkliche nicht unterdrückt, sondern formt und festhält. Dante selbst hat über diese Dinge theoretisch gehandelt, und es ist hier der Ort, sich mit diesen Ausführungen zu beschäftigen. Im sechsten Kapitel des zweiten Buches der Schrift De vulgari eloquentia behandelt er die constructio, die Satzfügung. Die Stelle, die uns am meisten interessiert, lautet: Est, ut videtur congrua (constructio) quam sectamur. Sed non minoris difficultatis accedit discretio prius quam, quam querimus, attingamus, videlicet urbanitate plenissimam. Sunt etenim gradus constructionum quam plures: videlicet insipidus, qui est rudium; ut, Petrus amat multum dominam Bertam. Est et pure sapidus, qui est rigidorum scolarium vel m