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Aufzeichnungen aus der Klause der Gelassenheit ..... j
Die 100 Köan des Shöyöroku
Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Dietrich Roloff WINDPFERD . .
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Cong-Rong-Lu Aufzeichnungen aus der Klause der Gelassenheit Die 1 00 K6an des Sh6y6roku Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Dietrich Roloff
1. Auflage 2008 © 2007 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf Edition Schneelöwe www.windpferd.de Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Kuhn Grafik, Digitales Design, Zürich Illustration auf dem Schutzumschlag: Unbekannter Maler (vermutlich 13. Jahrhundert), wahrscheinlich Kopie nach Shih K'o ( 10. Jahrhundert): Details der Wandrolle „Zwei Patriarchen in innerer Harmonie", Tusche auf Papier. Tokio, Kommission zum Schutze der Kulturgüter. Layout: Marx Graf1k Et ArtWork Gesetzt aus der Rotis Gesamtherstellung: Schneelöwe Verlagsberatung Et Verlag, Oberstdorf Druck: Himmer AG, Augsburg Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany · ISBN 978-3-89385-571-1
lnhalt Vorwort 1
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Vorwort II
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1. Der Welt-Geehrte besteigt den Lehrsitz 2. Bodhidharmas „Grenzenlose Weite" 3. Ein König in Ostindien lädt den Patriarchen ein 4. Der Welt-Geehrte zeigt auf den Boden 5. Qing-yuans „Was kostet der Reis?" 6. Ma-zus „Weiß und Schwarz" 7. Yao-shan besteigt den Lehrsitz 8. Der wilde Fuchs des Bai-zhang 9. Nan-quan tötet eine Katze 10. Zhao-zhou und die alte Frau vom Wu-tai-shan 11. Yun-mens „Zwei Krankheiten" 12. Di-zang bestellt das Feld 13. Lin-jis „Blinder Esel" 14. Aufwärter Kuo überreicht eine Schale Tee 15. Yang-shan stößt seinen Spaten in den Boden 16. Ma-gu schüttelt seinen Klingelstab 17. Fa-yans „Ein hundertstel Haarbreit" 18. Zhao-zhou zum Thema „Hund" 19. Yun-mens „Berg Sumeru!" 20. Di-zangs „Ganz nahe daran!" 21. Yun-yan fegt den Boden 22. Yan-tou verneigt sich vor einem Schrei 23. Lu-zu mit dem Gesicht zur Wand 24. Xue-fengs „Schaut Euch die Schlange an!" 25. Yan-guans Nashorn-Fächer 26. Yang-shan zeigt auf den Schnee 27. Fa-yan zeigt auf den Vorhang 28. Hu-guos „Dreifache Schande" 29. Feng-xues „Eiserner Ochse" 30. Da-suis „Kalpa-Feuer" 31. Yun-mens „Freistehende Säulen" 32. Yang-shans „Geist und Umgebung" 33. San-shengs „Goldschuppen-Fisch" 34. Feng-xues „Ein einzelnes Staubkorn" 35. Luo-pu ist bereit, sich zu fügen 36. Großmeister Ma fühlt sich nicht wohl 37. Wei-shans „Karmisches Bewusstsein" 38. Lin-jis „Wahrer Mensch" 39. Zhao-zhous „Wasch Deine Schale!" 40. Yun-mens „Fürst Weiß und Fürst Schwarz" 41. Luo-pu dem Tode nahe 42. Nan-yangs Reinigungskrug 43. Luo-shan fragt nach Entstehen und Vergehen 44. Xing-yangs „Wunderbarer Garuda" 45. Die Vier Unterteilungen des Sutra des Vollkommenen Erwachens 46. De-shans „Lernen abgeschlossen!" 47. Zhao-zhous „Zypresse" 48. Das Vimal.akirti-nirdesha-St"ttra zur Nicht-Dualität 49. Dong-shan bringt vor einem Bildnis Opfer dar 50. Xue-fengs „Was ist es?"
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51. Fa-yans „Mit dem Schiff oder über Land?" 52. Cao-shans „Wahrheitsleib" 53. Huang-bos „Trester-Schlürfer" 54. Yun-yans „Bodhisattva des Großen Erbarmens" 55. Xue-feng, der Reiskoch 56. Meister Mi und der weiße Hase 57. Yan-yangs „Kein einziges Ding" 58. Das Diamant-Sutra zur Verachtung 59. Qing-lins „Tote Schlange" 60. ,,Eiserner Mühlstein", die „alte Kuh" 61. Der eine Strich des Qian-feng 62. Mi-hus „Erleuchtung oder nicht?" 63. Zhao-zhou fragt nach dem Leben nach dem Tod 64. Zi-zhao zur Nachfolge 65. Shou-shans „Junge Braut" 66. Jiu-fengs „Kopf und Schwanz" 67. Das Buddhavatamsaka-Sutra zur Weisheit 68. Jia-shans „Das Schwert schwingen!" 69. Nan-quans „Gewöhnliche Bullen" 70. Jin-shan fragt nach der Natur des Lebens 71. Cui-yans Augenbrauen 72. Zhong-yis „Affe" 73. Cao-shans „Kindespflicht erfüllt!" 74. Fa-yans „Urstoff und Namen" 75. Rui-yan und die beständige Natur der Dinge 76. Shou-shans drei Sätze 77. Yang-shans „Nach Maßgabe meiner Kräfte" 78. Yun-mens „Reiskuchen!" 79. Chang-shas „Einen Schritt vorwärts!" 80. Long-ya reicht das Stützbrett hinüber 81. Xuan-sha kommt in die Hauptstadt des Bezirks 82. Yun-men zu Lauten und Farben 83. Dao-wu pflegt die Kranken 84. Ju-zhi und der eine Finger 85. Der Lehrer des Reiches und die „nahtlose Pagode" 86. Lin-jis Großes Erwachen 87. Su-shan zu Wei-shans „Mit Sätzen und ohne Sätze" 88. Das Shurangama-Sutra zum Nicht-Sehen 89. Dong-shans „Kein Gras" 90. Yang-shan gibt feierlich bekannt 91. Nan-quans „Päonienstrauch" 92. Yun-men zu Seng Zhaos „Ein einziges Kleinod" 93. Shi-zu versteht nicht 94. Dong-shan fühlt sich nicht wohl 95. Lin-ji und der eine Strich 96. Jiu-feng zeigt sich nicht einverstanden 97. Kaiser Tong-guangs Kopfbedeckung 98. Dong-shan ist diesem hier beständig nahe 99. Yu-mens „Essnapf und Kübel" 100. Lang-yes „Berge und Flüsse"
Verzeichnis der Chan-Meister Zitate und Verweise Konkordanz Zur Aussprache des Chinesischen Dietrich Roloff
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Vorwort 1
Zen ist unbestreitbar eine Errungenschaft, die wir Westler - ob in Europa, den USA oder anderswo - den Japanern verdanken. Und doch ist Zen keine japanische Erfmdung. V ielmehr hat es unter dem Namen Chan (vertreten durch dasselbe Schriftzeichen wie japanisch Zen) seinen Anfang im China der Nördlichen und Südlichen Dynastien (420-589) genommen und bereits wenig später seine alles Weitere überstrahlende Hochblüte in den Epochen der Tang und der Song-Dynastie (618-907 bzw. 960-1279) erlebt. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts, als der mehr oder weniger legendäre Bodhidharma laut Überlieferung den Versenkungs Buddhismus nach China gebracht hat, gab es allerdings bereits eine mystisch-philosophische Tradition, die damals schon auf eine achthundertjährige Geschichte zurückblicken konnte: die Lehre vom DAO, niedergelegt in den Büchern Zhuang-zi und Lao-zi, Letzteres bei uns unter dem Namen Dao-De-Jing geläufig. Diese Lehre vom DAO, gebildeten Chinesen des 6. bis 13. Jahrhunderts wohlvertraut, kennt bereits eine Versenkung ins eigene Innere als Zugang zur letzten und höchsten Wirklichkeit; kennt das Ideal einer vollkommenen Leerheit des Geistes sowie dessen Vergleich mit einem „Spiegel, auf dem sich Staub nicht ansetzt", ja noch mehr: mit einem Spiegel, der „nichts zurückweist und nichts willkommen heißt, der antwortet, aber nichts festhält"! Ja, auch davon ist im Buch Zhuang-zi, dem älteren der beiden Klassiker des Daoismus, bereits die Rede, dass unser Geist „friedvoll und frei fließend" sein soll und dass eine solche Befindlichkeit es uns ermöglicht, unser Leben wie ein „sorglos-gemächliches Schlendern" zu führen. Jedem, der sich in der Zen- oder besser gesagt, in der Chan-Literatur des Tang- und Song zeitlichen China ein wenig auskennt, dürfte es wie Schuppen von den Augen fallen: ,,Das habe ich doch bei Hui-neng oder in Seng-cans Meißelschrift vom Glauben an den Geist oder bei Wu-men in seiner 48-Köan-Sammlung auch schon gelesen!" Selbstverständlich! Die Übereinstimmungen sind unübersehbar. Nur - wie lassen sie sich erklären? (Und es gibt noch viele weitere, die auch nur aufzuzählen hier nicht der Platz ist.) Rein zufällig können sie nicht sein, dazu sind die oftmals wörtlichen Übereinstimmungen zu zahlreich. Aber wie dann? Sicherlich ist dem Versenkungs-Buddhismus, wie ihn Bodhidharma nach China ge bracht hat, all das, was das spätere Chan/Zen und der Daoismus gemeinsam haben, nicht in die Wiege gelegt gewesen. Bodhidharma kam aus dem Indien des Mahayana-Buddhismus mit seinen großen Sutren-Sammlungen; er selbst soll sich vor allem auf das Iankavatara-Sütra gestützt haben, das dem Yogachara, der „Nur Geist"-Schule, zugerechnet wird. (Dass in den Bodhidharma zugeschriebenen Traktaten wiederholt das Wort DAO vorkommt, hat keine Beweiskraft, da diese Abhandlungen erst viel später entstanden sind.) Bodhidharmas Nach folger der nächsten Generationen hingegen, allesamt Chinesen von Herkunft und Bildung (dass Hui-neng Analphabet gewesen sei, gehört ins Reich der Legende), waren zweifellos mit dem Gedankengut und den beiden Klassikern de Daoismus bestens ve1iraut. Was lag 7
da näher, als sich das Neue, den Buddha-Dharma in der Variante der Versenkungslehre, mithilfe der Begrifflichkeit und Vorstellungswelt des Daoismus anzueignen. So wurde den Meistern des Chan die Shünyatä zum DAO und das, was dem orthodoxen Buddhismus als die Welt der Erscheinungen gilt, zu den Zehntausend Dingen. Beides hat weitreichende Folgen: Während die Shünyatä, die Große Leere, etwas ist, das eben als Große Leere - tatsächlich vorhanden ist und nur deshalb als wahre Wirklichkeit bestimmt werden kann, ist das DAO letztlich reines Nicht-Sein, das zugleich nichts ist und nicht ist. So wird auch der Dharmakäya als Verkörperung der wahren Wirklichkeit im Chan zu einem Nichts, von dem sich nicht einmal sagen lässt, dass es ist. Und die Verwandlung bloßer Erscheinungen, genauer gesagt, bloßer Projektionen des menschlichen Geistes, in die Zehntausend Dinge, in denen sich das DAO selbst manifestiert, macht aus den Trugbildern, die unser Bewusstsein sich vorgaukelt, Gegebenheiten, denen eine von unserem Bewusstsein unabhängige Existenz zukommt. Wie Letzteres zu einer Aufwertung des Irdischen geführt hat, ja zu einer ausdrücklichen Bejahung der Welt, insbesondere der Schönheit und Erha benheit der Natur, so hat die Gleichsetzung von Buddha-Natur und DAO das Tor zu einer erstaunlichen und bis ins Äußerste getriebenen Radikalisierung des Denkens und Erlebens aufgestoßen: Wenn ein Nan-quan erklärt: ,,Es ist nicht Geist, es ist nicht Buddha, es ist auch sonst nichts!", oder wenn ein Lin-ji uns auffordert, den „Buddha zu töten", wann und wo auch immer wir auf ihn stoßen, oder wenn ebendieser Lin-ji uns mit der Feststellung schockiert: ,,Es gibt gar keinen Buddha" - gemeint ist, keine Buddha-Natur - ,,und keine wahre Wirklichkeit!", dann ziehen sie lediglich aus der Entkernung des DAO - dass es im tiefsten Grunde nichts ist und nicht ist - die letzte Konsequenz. Auch dass ein Mensch, der solchermaßen alles losgelassen, sich noch von der letzten Anhaftung, der an eine Buddha Natur, befreit hat, wie gleichfalls Lin-ji (und nicht nur er) hervorhebt, ,,ins Feuer geht, ohne zu verbrennen, ins Wasser geht, ohne zu ertrinken, in den drei schmutzstarrenden Höllen umhergeht, als wäre es ein Spaziergang im schönsten Park" - auch das verweist nicht nur auf entsprechende Aussagen im Dao-De-Jing, sondern hat seine Wurzeln letztlich in der Seins-Negation des Daoismus: Wer und nur wer „ohne Leib und daher auch ohne Selbst" ist, geht gegen jedes Unheil gefeit durch Leben und Welt. Lin-ji - hier stellvertretend für die übrigen Chan-Meister des Tang-zeitlichen China herausgehoben - erweist sich somit bei aller durchgängigen Verwendung buddhistischer Terminologie als ein getreuer Anhänger des DAO; und so kann es auch nicht wundernehmen, dass er seine Mönche wieder und wieder als dao liu, als Wanderer oder Sucher des DAO oder gar, in Vorwegnahme dessen, was sie erst noch erreichen wollen, als DAO-flüssig oder DAO-fließend bezeichnet. Genau das ist das Ideal des Daoismus, verkörpert in der Gestalt des Weisen: sich mit dem DAO dahinfließend, sich flüssig wie das DAO durch die Welt zu bewegen - eine Fähigkeit, die uns nur durch die Identifikation mit dem DAO zuteilwird. Die Lehre vom DAO - das dürfte nach dem eben Gesagten keinem Zweifel mehr unter liegen - ist eine fernöstliche Spielart der Mystik: Sich in spiritueller Erfahrung mit dem Urgrund der Welt - bald DAO, bald das Grenzenlose, auch die äußerste leere oder das Eine genannt - zu vereinigen, in ihm sein eigenes und eigentliche Wesen und zugleich eine Quelle der Kraft zu fmden und aus dieser Quelle heraus Leben und elt zu bestehen - das ist die sozusagen lebenspraktische Essenz des Daoismus: "Zum Ursprung zurückkehren bedeutet 8
Stille; Stille bedeutet: wieder lebendig zu sein; wieder lebendig sein bedeutet Beständigkeit, und Beständigkeit kennen bedeutet: erleuchtet zu sein", heißt es im Dao-De-Jing. Und auch: „Das Eine festhalten und dabei die Seele lenken - kannst du das, ohne dich vom Einen zu entfernen?" All das fmdet sich in den Chan-Schriften wieder: Die Rückkehr zum Ursprung ist der Große Tod, das spirituelle Sterben; die Stille ist die Reglosigkeit des Samädhi, die Stille der Shünyatä; aus der Stille heraus wieder lebendig sein - das ist nichts anderes als Zhao-zhous „Leben nach dem Tod", nichts anderes als Lin-jis „wahrer Mensch ohne Status", der in jedem von uns allzeit bei sich selbst zu Hause und zugleich mitten im Trubel der Welt, auf belebter Straße zugegen und auch seinerseits tätig ist; und die Beständigkeit, die solchem Leben nach dem Sterben innewohnt, ist die Unwandelbarkeit und zeitlose Dauer dieses wahren Menschen ohne Status, von dem allein sich rechtens sagen lässt, er sei - wie es in einem Pop-Song heißt - .,foreveryoung"! Auch das Eine festhalten und dabei die Seele lenken hat seine haargenaue Entsprechung im Chan: in der Großen leere verwurzelt zu sein und zugleich den Alltag mit seinen Pflichten und offenen Möglichkeiten zu bewältigen. Und wie im Daoismus kommt es im Chan darauf an, bei aller Geschäftigkeit inmitten der Zehntausend Dinge doch im Ur- und Abgrund verwurzelt zu bleiben, ohne dass - anders herum - diese Verwurzelung im DAO bzw. in der Großen leere uns zu den Dingen auf Abstand bringt und wir daher ebenso den Dingen entfremdet sind, wie die Dinge für uns ihre handfeste W irklichkeit verlieren und uns, mit einem Wort Nan-quans, nur noch „wie ein Traum" erscheinen. Ein Chan-Ausspruch wie „Erwachen ist Nicht-Erwachen!", der die fugenlose Einbettung des Erleuchteten in die Alltäglichkeit der irdischen Welt unterstreicht, auch er hat sein Vorbild im daoistischen Lehrgebäude, und zwar insofern der Weise mit seiner schlichten, scheinbar einfältigen Lebensführung sich ganz dem Lauf der Dinge hingibt, gerade so, als kennte er nur eines: sich wie ein Bauer oder Handwerker seinen Lebensunterhalt zu erwerben, sich an einfachen Mahlzeiten zu stärken und mit den übrigen Dorfbewohnern an kunstlosen Liedern und Tänzen sein Genügen zu fmden. Das so umschriebene daoistische Ideal des pu, des Rohen, Unbearbeiteten, Gewöhnlichen und Schlichten, exemplifiziert an einem Stück Holz, das keinerlei Spuren einer Axt, eines Meißels oder Schnitzmessers aufweist, wirkt noch in Nan-quans Metapher von einem Leben als „Wasserbüffel" sowie in Lin-jis Aufforderung an seine Mönche nach: ,,Seid gewöhnlich und alltäglich!", mit dem drastischen Zusatz: ,,Scheißt und pisst, zieht Euch an und esst, und wenn Ihr müde seid, legt Euch schla fen!" Und doch, trotz aller augenscheinlichen Trivialität, ist auch das noch Mystik, denn: Mystik - so lässt sich zusammenfassen - hat es nicht darauf abgesehen, im Abgrund Gottes, des DAO, der Großen leere ein für alle Mal zu verschwinden. Mystik hat zu ihrem Aufstieg und Aufschwung „nach oben hin" immer auch den Gegenpol der Welt und eines Daseins, das ganz in diese Welt versunken ist. Beispielhaft Meister Eckhart, der in seiner Predigt über geistliche Armut erklärt, der wahrhaft Arme, und das ist derjenige, der alles (hinter sich) gelassen hat, ,,wisse nichts" von Gott, ,,wolle nichts", auch nicht, den Willen Gottes erfüllen, und „habe nichts", nicht einmal „eine Stätte, darin Gott wirken könne". Unausgesprochen, aber unübersehbar bleibt dabei, dass dieser Arme lebt, in schlichter Selbstverständlichkeit, frei von Hochgefühlen, frei auch von einem ständigen und besorgten Rückbezug, der sich dessen vergewissern will, in Gott zu Hause, mit Gott eins zu sein; unübersehbar also, dass dieser Arme lebt und arbeitet und dabei die Annehmlichkeiten und Freuden, die ihm die Welt zu bieten vermag, durchaus nicht verschmähe 9
Vorwort I I
Wer in deutschsprachigen Zen-Kreisen kennte nicht das Bi-yan-lu oder wenigstens das Hekiganroku - Letzteres nur der japanische Namen für das chinesische Original Bi-yan-lu, die Aufzeichnungen vor der smaragdenen Felswand, im China der Song-Dynastie erstmals in Druck gegeben und an die Öffentlichkeit gebracht im Jahre 1 1 28. Kaum einer kennt hingegen das Cong-rong-lu oder Sh6y6roku, die Aufzeichnungen aus der Klause der Gelassenheit, und er oder sie kann es auch gar nicht kennen - weil es bisher, zumindest in vollständiger Form, noch niemals ins Deutsche übersetzt, geschweige denn in seinen Feinheiten erläutert worden ist. Und doch steht das Cong-rong-lu, fast genau einhundert Jahre nach dem Bi yan-lu der Öffentlichkeit übergeben, seinem Vorgänger als durch und durch gleichwertig zur Seite: Beide Köan-Sammlungen umfassen 100 „Beispiele der Alten", mit j eweils einer vorgeschalteten „Ankündigung" und einem abschließenden „Lobgesang". Und beide Samm lungen haben jeweils zwei Verfasser: Der eine und zugleich Ältere (im Falle des Cong-rong-lu war das Hong-zhi Zheng-jue, 109 1 - 1 1 57) hat die Beispiele aus dem reichhaltigen Schatz der Überlieferung ausgewählt und die zugehörigen Lobgesänge gedichtet ; der andere und Jüngere (in unserem Falle Wan-song Xing-xiu, 1 1 66 - 1 246) hat die Ankündigungen ver fasst und Kommentare sowohl zu den Beispielen als auch den Lobgesängen hinzugefügt. Kurz, das Cong-rong-lu, im Jahre 1 224 ans Licht gebracht, ist bis in die Einzelheiten dem Vorbild Bi-yan-lu mit Sorgfalt nachgebildet - und doch von ganz eigener Art: Es vermittelt uns - noch stärker als das Bi-yan-lu - ein für den chinesischen Chan-Buddhismus typisches Lebensgefühl, in dem sich die Abschiedsstimmung des Herbstes mit der geradezu trunkenen Lebensfreude des Frühlings aufs Innigste vermischt. 1
Mag auch Xue-dou Zhong-xian, der Verfasser der Lobgesänge des Bi- ya n-lu, der bedeuten dere Dichter sein, die größere lyrische Begabung, so erweist sich doch Hong-zhi, der ältere der beiden Autoren des Cong-rong-lu, als ein poeta doctus von hohen Graden, der sich nicht nur - wie für einen Chan-Meister selbstverständlich - in der buddhistischen Literatur, son dern ebenso in der klassischen literarisch-philosophischen Tradition des alten China bestens auskennt und der es versteht, in seinen Lobgesängen unterschiedliche Themen zu einem abgerundeten Ganzen zusammenzuführen und auf diese Weise mit seinen in Gedichtform abgefassten Kommentaren auch komplexen Sachverhalten innerhalb eines Beispiels gerecht zu werden. Überhaupt stellen die einzelnen Kapitel des Cong-rong-lu kunstvolle Textgebilde dar, voll interner Verweise, durch die sieb die einzelnen Bestandteile - Ankündigung, Bei spiel, Lobgesang - gegenseitig erläutern. Die vorliegende Ausgabe des Cong-rong-lu, die 1
Das Cong-rong-lu hat im Vergleich zum Bi-ya n-lu noch einen weiteren Vorzug: Aufgrund des befremdli chen Schicksals, das Letzteres hat erleiden müssen, ist das Bi-ya11-lu nur in verstümmelter Form auf uns gekommen (bei insgesamt 2 1 Köan, also mehr als einem fünftel, fehlen die Ankündigungen). Demgegenüber hat ein gnädigeres Schicksal uns das Cong-rong-lu in seiner vol!ständi en Fassung überliefert.
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erste im deutschen Sprachraum, die auch die Ankündigungen und Lobgesänge einbezieht, ist daher bemüht, diesen internen wechselseitigen Bezügen nachzuspüren und sie für die Deutung der jeweiligen Beispiele nutzbar zu machen. Es soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass das Cong-rong-lu nicht wenige Beispiele aufweist, die auch bereits ins Bi-yan-lu Eingang gefunden haben (wieder andere sind auch in der dritten Song-zeitlichen K6an-Sammlung, dem Wu-men-guan/Mumonkan, enthalten). Dennoch lässt sich mit Recht behaupten, dass auch diese K6an wegen ihrer spezifischen Ankündigungen und Lobgesänge, in denen sich nicht nur die besondere Persönlichkeit ihrer Verfasser, sondern auch deren Zugehörigkeit zu einer anderen Traditionslinie niederschlägt, einen ganz eigenen Geist atmen und daher neben den entsprechenden K6an des Bi-yan lu - nicht anders als die nur im Cong-rong-lu enthaltenen „Öffentlichen Aushänge" - als Texte mit besonderer und durchaus einmaliger Intention Bestand haben. Anders als Wilhelm Gundert, dessen leider unvollendet gebliebene große Ausgabe des Bi yan-lu außer den Ankündigungen, Beispielen und Lobgesängen auch noch eine Übersetzung der Kommentare Yuan-wu Ke-qins und sogar noch seiner „Zwischenbemerkungen" sowohl zu den Beispielen als auch zu den Lobgesängen darbietet; anders auch als Thomas Cleary, der in seiner unter dem Titel Book of Serenity erschienenen englischsprachigen Ausgabe des Cong-rong-lu immerhin noch die Kommentare Wan-songs mit übersetzt, aber auf eigene Erläuterungen, wie sie Gundert zusätzlich vor uns ausbreitet, verzichtet hat, beschränkt sich die vorliegende deutsche Ausgabe darauf, die Hauptstücke der einzelnen Kapitel, also die Ankündigungen, Beispiele und Lobgesänge, zu übersetzen und diese mit ausführlichen Erläuterungen zu versehen, bei denen auch Wan-songs Kommentare gebührende Berück sichtigung erfahren haben - oftmals für den Verfasser die einzige Quelle literarhistorischer Informationen, ohne die viele Details hätten ungeklärt bleiben müssen. Die hier dargebotenen Erläuterungen sind nicht in der religiösen Sprache des traditionel len Buddhismus abgefasst - auch wenn Grundbegriffe wie Nirväna, Samsära, Shunyatä, Dharmakäya und andere sich selbstverständlich als unverzichtbar erwiesen haben. Im Unterschied zu Yasutani, der sich in seinem Sit6y6roku Dokugo häufig damit begnügt, sich vorgegebener Formeln Zen-buddhistischer Überlieferung zu bedienen, soll hier versucht werden, den nahezu achthundert Jahre alten und einem fremden Kulturkreis entstammen den Text des Cong-rong-lu europäischen Zeitgenossen des 20./2 1 . Jahrhunderts in einer Sprache verständlich zu machen, die den uns eigentümlichen Horizont der abendländischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte keineswegs ausklammert, ja den darin enthaltenen Vorrat an Kategorien und Denkmustern ganz bewusst für eine angemessene Aneignung dieses chinesischen Chan-Textes fruchtbar zu machen unternimmt. Kurz gesagt: Es geht in der vorliegenden Ausgabe des Cong-rong-lu eher neuzeitlich-philosophisch als traditi onell-buddhistisch zu, wie auch nach dem Verständnis des Verfassers Zen zu praktizieren nicht bedeutet, an Karma und Wiedergeburt zu glauben und zu Buddha Amitäbha oder dem Bodhisattva Avalokiteshvara zu beten. Eher schon hat Chan/Zen etwas mit Mystik zu tun, echter, tiefgründiger Mystik, nicht mit esoterischem Flachsinn, wie er heutzutage um ich O"reift: Gerade der chinesische Chan11
Buddhismus, der Vorläufer und Ahnherr des Zen, hat sich selbst als Vollendung der älteren Lehre vom DAO verstanden, und diese typisch chinesische Schule einer philosophisch aus gerichteten Lebenspraxis ist unzweifelhaft Mystik in Vollendung. Das führt zu dem weiteren Eingeständnis, dass die hiesigen Erläuterungen alle in den einzelnen Texten enthaltenen Hinweise auf daoistisches Gedankengut geradezu begierig aufgreifen, um so im Einzelnen zu verdeutlichen, was bereits das Vorwort I grob umrissen hat, in welch großem Ausmaß nämlich das Chan/Zen Elemente des Daoismus sich einverleibt hat, anders gesagt, wie groß die Verwandtschaft zwischen diesen beiden geistigen Strömungen seit der Ausreifung des Chan gewesen ist. Zusammenfassend lässt sich sagen: Mit dem Cong-rong-lu haben wir einen philosophisch religiösen Weisheitstext vor uns, den sich anzueignen auch nach achthundert Jahren un vermindert lebenspraktischen Gewinn einbringt; zugleich ein sprachliches Kunstwerk von höchstem Rang, das es verdient, in seinen Einzelheiten ernst genommen und gewürdigt zu werden; vor allem aber eine Köan-Sammlung, was besagt, dass es andererseits nicht damit getan ist, die einzelnen Texte als Texte, und sei es als noch so kunstvoll gestaltete Texte zu verstehen; dass es vielmehr darum geht, jeden Einzelnen von ihnen als Anlass und Rahmen für die eigene Übung, den eigenen Übertritt aus dem Stand der Unmittelbarkeit in den des Großen Erwachens zu nutzen. So ist all das, was dieses Buch zu bieten hat, letztlich nur Anregung und Hilfe, die das Eigentliche dem Leser, der Leserin überlässt, überlassen muss und doch - wie der Verfasser hofft - alles andere als überflüssig ist. Diese erste deutsche Ausgabe des Cong-rong-lu stützt sich vor allem auf zwei bereits erwähnte Texte: zum einen die japanische, mit ausführlichen Kommentaren versehene Ausgabe, die Hakuun Yasutani unter dem Titel Sh6y6roku Dokugo herausgegeben hat, und zum anderen auf Thomas Cleary's Book of Serenity. One Hundred Zen Dialogues. Bei der Übersetzung des chinesischen Textes sowie der japanischen Kommentare Yasutanis, soweit es unerlässlich erschien, sie zu Rate zu ziehen, hat Jana Roloff tatkräftige Unter stützung geleistet. Und Stephan Schuhmacher, dem Verfasser in langjähriger Freundschaft verbunden, hat wieder einmal - wie schon bei der Drucklegung seiner kommentierten Aus gabe des Wu-men-guan sowie der gemeinsam mit Jana Roloff verfassten Einführung in die japanische Teezeremonie : Zen in einer Schale Tee - dem Erscheinen eines Buches aus der Feder, genauer gesagt, aus dem PC des Verfassers den Weg geebnet!
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1 . Der Welt-G eehrte besteigt den Lehrsitz Ankü n d i g u n g
Wenn du den Eingang verschließt und ein Nickerchen machst, empfängst du allerhöchste spirituelle Kraft. 2 Wenn du umherschaust, alles genau unter die Lupe nimmst und unaufhörlich krumme Sachen redest, ist das Durchschnitt und darunter. Wie kann man nur auf einem geschwungenen Lehnstuhl hocken und aus Teufelsaugen wütende Blicke um sich werfen? - Wenn es hier jemanden gibt, der nicht einverstanden ist, so soll er nach vom kommen ! Und man kann es ihm nicht einmal verübeln. B e i s p i el
Der Welt-Geehrte bestieg eines Tages den Lehrsitz. 3 Maftj ushd, der Bodhisattva der Vollkommenen Weisheit, 4 kündigte ihn mit dem Holzhammer auf dem Schlagbrett an und sagte: ,,Prüft genau die Lehre des Königs der Lehre. Die Lehre des Königs der Lehre ist wie dies !" Und alsbald stieg der Welt-Geehrte vom Lehrsitz herab. Lobgesang
Erkennst du i m ersten Teil dieses Auftritts den Wind der Wirklichkeit? Unaufhörlich verwandelt das Schiffchen des Webstuhls die Ordnung des Ganzen, Webt ihn weiter, den alten Brokat, und schreibt ihm die Formen des Frühlings ein. Bedauerlicherweise hat der „Herr des Ostens" etwas preisgegeben5 - aber was?
Die Ankündigung zum ersten Köan einer Sammlung von einhundert „Öffentlichen Aus hängen" hat n aturgemäß besonderes Gewicht ; hier führt sie sogleich ins Zentrum des Chan-/Zen-Buddhismus, zur Einübung ins S amädhi: Schon im Dao-De-Jing können wir 2 Mit der spirituellen Kraft tritt uns hier gleich zu Beginn ein zentraler Terminus des Chan-Buddhismus entgegen: Das entsprechende chinesische Schriftzeichenji bedeutet wörtlich: Webstuhl, Maschine, treibende Kraft. Letztere Bedeutung kommt dem Gemeinten am nächsten, und so ist dieses Schriftzeichen auch schon mit „Triebkraft" oder „Wirkkraft" übersetzt worden. Doch angesichts der Sache, um die es hier geht, ist das immer noch zu verschwommen: In den Texten des Chan-Buddhismus meint ji die spirituelle Kraft, die einerseits dazu befähigt, zur letzten Einsicht durchzubrechen, und die andererseits, aus ebendiesem Durchbruch resultierend, die Wirksamkeit unseres Tuns in unseren jeweiligen Lebensbezügen, beispiels halber als Abt eines Tang- oder Song-zeitlichen Chan-Klosters und Lehrer von Hunderten von Mönchen, bestimmt und befördert. 3 Der Welt-Geehrte ist der historische Buddha Shäkyamuni. 4 Bodhisattva bedeutet wörtlich: Erleuchtungswesen; transzendente Bodhisattvas wie Manjushri haben im Mahäyäna-Buddhismus bereits Buddhaschaft erlangt, aber ihren Eintritt ins vollständige Nirväna so lange aufgeschoben, bis alle Wesen erlöst sind. Die das Handeln eines Bodhisattva bestimmende Eigenschaft ist das von tiefer Einsicht getragene Erbarmen, sein tätiges Mitgefühl. 5 Der „ Herr des Ostens", eigentlich der „Gott der aufgehenden Sonne", meint hier Manjushri, den Lehrer der sechs Buddhas früherer Weltalter sowie des - für das cregenwärtige Weltalter zuständigen - Buddha Shäkyamuni.
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lesen (und welcher Chan-Meister des Tang- und Song-zeitlichen China hätte diesen Klassiker nicht gekannt?): ,,Nicht aus der Tür hinaustreten, und doch die Welt kennen; nicht aus dem Fenster hinausschauen, und doch das DAO des Himmels kennen. Je mehr einer sich nach draußen wendet, desto weniger weiß er. Deshalb der Weise: Er hält nicht Ausschau, und doch ist er erleuchtet" (Text 47). Und mit solcher Innenschau in Versenkung zu sitzen und sich dem Sog der Leere anheimzugeben, das mag nach außen hin wie Schlaf, wie Tiefschlaf erscheinen; böse Zungen können, dem Anschein nach völlig zu Recht, behaupten: ,,Da macht ja einer nur sein Nickerchen!" Und doch ist eben entspanntes Schlafen ein auch aus der Zen-Malerei wohlvertrautes Motiv; man denke zum Beispiel an die berühmten „Vier Schläfer" des Mokuan Reien, ein Meisterbild, das drei typische Zen-Gestalten zusammen mit einem zahmen Tiger in tiefen Schlaf versunken zeigt, ein Quartett, das nach gängiger Auffassung „die Ruhe und Gelassenheit des erleuchteten Geistes versinnbildlicht". 6 Deutlich im Übrigen die Anspielungen auf den Lehr- und Übungsbetrieb in den Chan Klöstern: Wie den Eingang [des Geistes, versteht sich] zu verschließen auf das Zazen zielt, das Sitzen in Versenkung, so steht der geschwungene Lehnstuhl für den Sitz des Meisters, von dem herab er seine Dharma-Vorträge hält. Die wütenden Teufelsaugen weisen auf die merkwürdigen Verhaltensweisen und gewollt Furcht erregenden Grimassen hin, mit denen insbesondere Chan-Meister aus der Tradition des „Hauses Lin-ji" (Rinzai) versucht haben, die ihnen unterstellten Mönche aus ihren Anhaftungen aufzuscheuchen. Dass sie dabei auch wilde Schreie und henige Schläge angewandt haben, lässt Wan-song hier unerwähnt. In der Cao-Dong-/Sötö-Schule sind derartige Praktiken von jeher unüblich gewesen, eine Ablehnung, zu der sich hier auch Wan-song als Angehöriger ebendieser Tradition offen bekennt. Andererseits muss auch er einräumen - und Hakuun Yasutani, der moderne Sötö Kommentator des Cong-rong-lu/Sh6y6roku, schließt sich dem an -, dass die betreffenden Meister der Vergangenheit durch solch unkonventionelle Mittel mit dazu beigetragen haben, die Buddha-Lehre vor dem Verfall zu bewahren. Die Szene, die das Beispiel beschreibt, spielt an einem transzendenten Ort, wo die Buddhas und Bodhisattvas sich wie in einem Chan-Kloster in Versenkung üben. Was da erzählt wird, scheint auf den ersten Blick eine jener Geschichten zu sein, bei denen es - wie im Köan 90 Cong-rong-lu - um die Unaussprechlichkeit dessen geht, was den Gegenstand der Buddha Lehre ausmacht: dass da, wo nichts ist, sich auch nichts sagen lässt. Doch dieser erste Blick täuscht, wie der Lobgesang unmissverständlich deutlich macht: Da ist -statt von der Leere als dem wahren Wesen der Dinge - vielmehr vom Werden und Vergehen in der Natur die Rede; da wird die bunte Vielfalt der Zehntausend Dinge mit einem uralten Brokat verglichen, an dem die Natur seit unvordenklichen Zeiten webt; da ist das Weltganze - analog zum Uhrwerk als Welt-Metapher in der neuzeitlich-europäischen Philosophie - ein Webstuhl, auf dem die Ordnung der Dinge immer wieder neu ersteht. Wenn dem aber so ist, welche Rückschlüsse erlaubt oder erzwingt das für das Verständnis des Beispiels? Dessen zentraler Satz lautet: ,,Die Lehre des Königs der Lehre ist wie dies!" Wie was? Wie das anschließende Schweigen Shäkyamunis? Aber der verharrt ja keineswegs in Schwei6 So Barnet/Burto, 5. 46
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gen, sondern steigt sogleich vom Lehrsitz herab. Oder wie ebendieses Herabsteigen? Aber dann gehört auch das Hinaufsteigen zu dem, was die Leh re des Königs der Lehre ausmacht. Geht es also darum, dass wortloses Hin aufsteigen auf den Lehrsitz und ebenso wortloses Hinabsteigen die Lehre Buddhas darstellen? Rufen wir uns in Erinnerung, dass dharma, das Sanskrit-Wort für Lehre, ja zugleich auch Wahrheit, wahre Wirklichkeit bedeutet. So verstanden, ist dharma der Dharmakäya Buddhas, die absolute Leere, die ShCmyatä, aus der alles hervorgeht und wohin alles wieder zurück kehrt. Doch diese absolute Leere ist kein Seiendes, ist nichts, was im eigentlichen Sinne ist. Das Einzige, was ist, ist die Wirklichkeit der Dinge, so dass zu gelten hat: Außerhalb der Wirklichkeit der Dinge ist nichts; die einzige Wirklichkeit der absoluten Leere ist die Wirklichkeit der Dinge; der Dharmakäya, obgleich so absolut verschieden von den Dingen, ist - wie dies, ist nichts von der Wirklichkeit der Dinge Verschiedenes. Aber dann müsste ja das wortlose Tun Buddhas, sein Hinaufsteigen auf den Lehrsitz und sein Hinabsteigen, ebendiese Wirklichkeit der Dinge sein? Nun, das ist keineswegs so absurd, wie es sich fürs Erste anhört: Der Buddha des Beispiels ist der Dharmakäya, seine Lehre sind die Dinge, in denen sich die Leere verkörpert (und eines der entscheidenden Charakteristika der Cao-Dong-Schule ist der Grundsatz, dass alle Dinge, auch die unbeseelten, die Lehre Bud dhas verkünden, und das tun sie, eben indem sie diese Lehre sind); Buddhas Hinaufsteigen auf den Lehrsitz, von dem aus die Lehre verkündet wird, ist das Entstehen der Dinge, und sein Herabsteigen ist ihr Vergehen. Und so kann Hong-zhi das wortlose Tun des Buddha, sein energisches Hinauf- und Wieder-Hinabsteigen in seinem Lobgesang als den Wind der Wirklichkeit bezeichnen, als den Wind, der voller Ungestüm die Wirklichkeit durchweht und dabei immer neuen Frühling herbeiführt und immer neuen Herbst. Ein Wind, der äußerlich kaum spürbar ist, der umso wirksamer in den Dingen seine schöpferische Kraft entfaltet. Was aber hat Mafijushri - so der Lobgesang zu guter Letzt - bei alledem verraten? Und zu wessen Bedauern? Wer könnte daran Anstoß nehmen, dass er etwas preisgegeben hat, das besser ungesagt geblieben wäre? Und überhaupt: warum Mafijushri, der Bodhisattva mit dem Schwert der „Vollkommenen Weisheit", das alle Verblendung durchtrennt; das uns aus dem Gefängnis der Erscheinungen, aus der Anhaftung an die Welt befreit - warum gerade er als „Herr des Ostens", der jeden Tag aufs Neue die Sonne aufgehen lässt? Der mit dem immer wiederkehrenden Licht ebendie Welt der Erscheinungen mit Leben und Glanz erfüllt und ihre Schönheit erneuert? Wird da vielleicht etwas auf den Kopf gestellt, vielleicht sogar ,,vom Kopf auf die Füße", was den Hütern der „reinen Lehre" Shäkyamunis als unantastbar, unverrückbar gilt?7 Und wenn ja, was ist es dann, was da widerrufen wird? - Doch genau das, was Hong-zhi als Rätsel in der Schwebe lässt, sei auch hier vor der Zudringlichkeit weiterer Erklärungsversuche rücksichtsvoll bewahrt. 7
Um das volle Ausmaß der Umkehrung zu verdeutlichen, die sich hier mit dem Bodhisattva der Voll kommenen Weisheit vollzieht, sei auf das Köan 42 Wu-men-guan verwiesen, wo sich Maii.jushri als die Verkörperung absoluter Versenkung unfähig zeigt, eine Frau aus dem Samädhi aufzuwecken; das einzige, was er zustande bringt, ist, sie immer tiefer in die Versenkung und damit in die Welt-losigkeit zu treiben. Dort im Wu-men-guan ist es ein anderer, ein rangniederer, in der irdischen Welt angesiedelter Bodhisattva mit dem verräterischen Namen „Ohne Klarheif", der es chafft, die Frau in die Welt zurückzuholen.
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2 . Bodhidharmas „Grenzenl ose Weite" A n kü n d i gu n g Dreimal hat Bian He seinen kostbaren Stein dargeboten und ist doch nicht umhingekommen, Strafe zu erleiden. 8 Wenn man ihnen im Dunkel der Nacht ein Juwel aus leuchtender Jade hinwirft, werden nur wenige Menschen nicht zum Schwert greifen. Ein überraschender Gast kann nicht auf einen wendigen Gastgeber rechnen. Für das Falsche geeignet zu sein bedeutet nicht, auch für das Wahre geeignet zu sein. Für ein ungewohntes Juwel, ein fremdartiges Kleinod hat man nun einmal keine Verwendung. Da halte ich euch mal den Kopf eines toten Kätzchens hin !
Beispi el Kaiser Wu von Liang fragte den Großmeister Bodhidharma: 9 „Was ist der entscheidende Sinn der heiligen Wahrheit?" Bodhidharma sagte: ,,Grenzenlose Weite, nichts Heiliges !" Der Kaiser sagte: ,,Wer ist das da, Uns gegenüber?" Bodhidharma sagte: ,,Ich weiß es nicht." Der Kaiser wies ihn ab. Bodhidharma überquerte gleich danach den Großen Strom, gelangte zum Kloster Shao lin und saß dort neun Jahre lang mit dem Gesicht zur Wand.
L o b g e sa n g ,, Grenzenlose Weite, nichts Heiliges!" -
Die spirituelle Kraft des Ankömmlings ist gar zu andersartig. 1 0 Gelungen : das Beil geschwungen und doch die Nase nicht verletzt, 1 1 Misslungen: den Kochtopf zerbrochen und doch den Kopf nicht umgedreht. 1 2 Ganz allein sitzt er teilnahmslos nahe dem Shao-lin, Stumm bewahrt er in seinen Händen den richtigen Befehl. D er klare Herbstmond lässt seine frostkalte Scheibe über den Himmel wandern, Der blasse Wagen im Sternenstrom seine nächtliche Deichsel abwärts weisen. Für alle Zeiten übergibt er Gewand und Essnapf an Sohn und Enkel, Und seitdem machen Menschen und Götter daraus so Arznei wie Krankheit.
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8 Ein Mann namens Bian He fand eine riesige Druse, in der er kostbare Edelsteine vermutete. Er brachte sie dem König von Chu, der sie wegen ihrer stumpfen Oberfläche für einen bloßen Stein hielt. Und weil er sich durch dieses Geschenk verhöhnt fühlte, ließ er dem Überbringer zur Strafe eine Kniescheibe entfernen. Einige Jahre später überreichte Bian He dieselbe Druse dem Nachfolger jenes Königs von Chu, und der ließ ihm zur Strafe auch die andere Kniescheibe entfernen. Erst der dritte Inhaber des Thrones von Chu erkannte den wahren Wert des vermeintlichen Steines, indem er ihn kurzerhand entzweischlagen ließ, und äußerte tiefe Bestürzung über die Kurzsichtigkeit und den Undank seiner Vorgänger. (Auf diese Geschichte wird später, im Lobgesang zum Köan 48, noch einmal angespielt.)
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Was im Bi-yan-lu, dem Vorbild für das Cong-rong-lu, gleichsam als die Gründungsurkunde des Chan-Buddhismus den ersten Platz einnimmt, die legendäre Begegnung Bodhidharmas mit dem Kaiser Wu von Liang, muss hier hinter Buddha selbst, gar seinem kosmischen Wirken, zurücktreten und sich mit dem zweiten Platz begnügen. Doch während im Ein gangs-Köan des Bi-yan-lu dem Zusammentreffen der beiden Männer noch ein Nachspiel angehängt ist, das Bodhidharma als Avalokiteshvara, den Bodhisattva des unendlichen Erbarmens enttarnt, der das Siegel des Buddha-Geistes nach China überführt, ein Nachspiel, das zugleich von der späten Reue des Kaisers berichtet, beschränkt sich das Köan 2 des Cong-rong-lu auf die Begegnung selbst, auf die bündigen Aussagen Bodhidharmas und das Unverständnis des Kaisers Wu von Liang.
Bodhidharma (chin. Damo, jap. Daruma, Lebensdaten unsicher), der 28. indische Patriarch nach Buddha Shäkyamuni und erste Patriarch des Chan-Buddhismus in China, war Schüler und Dharma-Nachfolger des 27. indischen Patriarchen Prajnädhära (siehe Köan 3). Nach dem er von seinem Lehrer bestätigt worden war, begab er sich - wie die Grundfrage nach dem xi lai yi, dem Sinn des Kommens aus dem Westen nahelegt - über die Seidenstraße und insofern aus dem Westen kommend - nach China. Dass er sich dort vor allem im Ge biet der Nördlichen Wei rund um die Stadt Luo-yang aufgehalten hat, kann als verbürgt gelten; einen Aufenthalt im Reich der Liang und ein Zusammentreffen mit dessen Kaiser Wu werden wir jedoch ins Reich der Legende verabschieden müssen. Dass sein Leben mit vielerlei Wundertaten ausgeschmückt worden ist, erscheint nur allzu verständlich, markiert doch sein Auftreten in China den Beginn einer neuen und höchst folgenreichen Entwick9 Die Regierungszeit des Kaisers Wu von Liang kann mit großer Sicherheit auf 502 - 550 angesetzt werden. Die historischen Hinweise zu den Lebensdaten des Bodhidharma hingegen schwanken zwischen 440 - 532 und 470 - 543. Von diesen Daten her wäre eine Begegnung beider Männer immerhin möglich gewesen ; doch es gibt eindeutige Zeugnisse, aus denen hervorgeht, dass sich Bodhidharma - ob er nun von Westen über die Seidenstraße oder von Süden über das Meer nach China gekommen ist - in der Zeit zwischen 490 und seinem Tod ausschließlich im Reich der Nördlichen Wei aufgehalten hat. 10 Hier wieder das Schriftzeiche n ji in der Bedeutung spirituelle Kraft: diesmal diejenige, die Bodhidharma zu der Einsicht „ Grenzenlose Weite, nichts Heiliges!" sowie zu seiner erfolgreichen Wirksamkeit als erster chinesischer Patriarch des Chan-Buddhismus befähigt hat: dass er zum Ausgangspunkt einer Bewegung werden konnte, in der, wie der Lobgesang hervorhebt, die Essenz des Buddha-Geistes in nie endender Generationenfolge weitergegeben wird. 11 Wan-song zitiert in seinen Anmerkungen zum Lobgesang eine Legende aus dem Buch Zhuang-zi: Als Ying Ren einmal eine Wand verputzte, hatte er sich einen winzigen Klecks Mörtel auf die Nase gespritzt, nicht größer als der Flügel einer Fliege. Da bat er Jiang Shi, ihn von diesem Klecks zu befreien, und der nahm seine Axt in beide Hände, holte aus und ließ sie bei geschlossenen Augen mit leichtem Lufthauch niedersausen. Und siehe da: Er traf sehr wohl den Mörtelspritzer, aber Ying Rens Nase blieb gänzlich unverletzt. - D as zielt, wie leicht ersichtlich, auf die Treffsicherheit ab, mit der Bodhidharma dem Kaiser, der freilich nichts begreift, die heilige Wahrheit wegschlägt. 1 2 Als Meng Min zur Zeit der Östlichen Han-Dynastie (25 - 220) durchs Land wanderte, trug er auch einen irdenen Kochtopf mit sich herum. Als der ihm eines Tages vom Gepäck auf seinem Rücken herab zu Boden fiel, ging er ruhigen Schrittes weiter, ohne sich auch nur einmal umzuschauen. Auf die Frage von Augenzeugen, warum er sich nicht auch nur für einen Augenblick nach dem Kochtopf - immerhin für einen mittellosen Wanderer ein kostbarer Gegenstand - umgeschaut habe, antwortete er: ,,Der Kochtopf war doch eh kaputt ; warum sich dann noch nach ihm umschauen?" - Mit dieser weiteren Anspielung verweisen Hong-zhi und Wan-song auf die unbeirrbare Gelassenheit, mit der Bodhidharma sich vom Unverständnis des Kaisers Wu von Liang ab- und dem Reich der Wei jenseits des Großen Stromes zuge wandt hat.
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lungslinie des (Mahäyäna-)Buddhismus, die sich als die einzig legitime Erbin der wahren Lehre des historischen Buddha verstanden hat: der unmittelbaren Erfahrung der eigenen Buddha-Natur in der Versenkung, dem Samädhi. So war denn auch die Frage nach dem Sinn des Kommens aus dem Westen für die Chan-Mönche die zentrale Frage schlechthin: die nach dem Sinn all ihrer - oft langjährigen - Bemühungen um die Erfahrung der ihnen innewohnenden Buddha-Natur (vgl. Köan 6). Bodhidharma wird ein in Zen-Kreisen allbekannter Vierzeiler zugeschrieben, der jedoch erst viel später, in der Zeit der Tang-Dynastie, verfasst worden ist und der den undogmatischen und auf unmittelbare Erfahrung abzielenden Charakter des Chan- und späteren Zen-Bud dhismus verdeutlicht: Eine besondere Überlieferung außerhalb der Schriften, Unabhängig von Worten und Schriftzeichen, Unmittelbar auf des Menschen Herz zeigend: Die eigene Natur zu schauen und Buddha zu werden. Nach seiner - historisch mehr als zweifelhaften - erfolglosen Begegnung mit dem Kaiser Wu von Liang soll sich Bodhidharma zum Berg Song südöstlich der Stadt Luo-yang be geben haben, auf dem sich schon damals das Kloster Shao-lin befand ; dort, auf einem der heiligen Berge des alten China, hat er angeblich neun Jahre lang in Versenkung vor einer Wand gesessen. Auch der Kaiser Wu war durchaus nicht irgendwer: Als Begründer der freilich nur kurzlebigen Südlichen Liang-Dynastie (502-557) hat er sich zugleich dem Gedächtnis der Nachwelt als ein glühender Anhänger und eifriger Förderer des chinesischen Buddhismus eingeschrieben. Laut Yuan-wu Ke-qin, dem Herausgeber des Bi-yan-lu, war er ein gelehrter Kenner des buddhistischen Schrifttums, der auch selbst Lehrvorträge über das Prajndpdramitd-Sutra gehalten hat. Als historische Tatsache kann gelten, dass es während seiner Regierungszeit und dank seines unermüdlichen Einsatzes im Reich der Liang über 1 3000 buddhistische Klöster gegeben hat. In den Augen seiner Untertanen war er, der - wieder laut Yuan-wu Ke-qin - auch selbst das Mönchsgelübde abgelegt hat, der „Himmelssohn mit dem Buddha Herzen". Doch dieser „Bodhisattva-Kaiser", wie ihn noch ein so unverdächtiger Zeitgenos se wie der französische Sinologe Jacques Gernet bezeichnet, war so sehr in herkömmli chen Denkweisen bis hin zu den Spekulationen buddhistischer Metaphysik befangen, dass er für die Aussagen Bodhidharmas, die der unmittelbaren Erfahnmg des Weltengrundes entstammen, kein Verständnis aufzubringen vermochte. Und so ist seine Mitwirkung an dem - angeblichen - Treffen dieser beiden Großen nicht mehr als die Folie für die dunklen Rätselsprüche des Ersten Patriarchen. Schon die Ankündigung hebt Bodhidharma als denjenigen hervor, der die Trümpfe in seiner Hand hält, der gleichwohl mit seinem Kleinod von unschätzbarem Wert nur Unverständnis und Undank erntet: das Unverständnis seitens dessen, der mit einem so fremdartigen Juwel nichts anzufangen weiß, und den Undank, selbst brüsk abgewiesen zu werden. Dem Kaiser Wu hingegen gilt der schroffe Tadel, zwar für das Fa /sehe geeignet, doch fü r das Wah re 18
u ngeeignet zu sein und daher als Gastgeber, dem unversehen� ein Gast wie Bodhidharrna ins Haus tritt, nicht imstande zu sein, sich mit der nötigen Bereitwilligkeit und Beweglichkeit auf den Ankömmling einzustellen. Das Beispiel selbst: Dass der Kaiser von der Heiligkeit der Wah rh eit spricht, darf nicht verwundern. Im Mahayana-Buddhismus ist aus dem historischen Buddha längst ein trans zendentes Wesen geworden, zu dem man im Gebet Zuflucht sucht, das über alle Ängste und Leiden hinaushebt, ein Wesen von unbedingter Vollkommenheit und Erhabenheit und lauterer Güte, das ehrfürchtige Hingabe einfordert und dem man nur in Verehrung und demütiger Unterwerfung begegnen kann. All das macht die Heiligkeit eines solchen Wesens aus (und von solchen Wesen gibt es im Mahayana ja gleich mehrere: weitere transzendente Buddhas und all die zugehörigen transzendenten Bodhisattvas), und das Heilige selbst ist mithin etwas, dem sich anzunähern höchste Pflicht und an dem teilzuhaben höchste Erfüllung bedeutet. Wenn dann von einer Heiligkeit der Wah rheit die Rede ist, dann meint Wahrheit nicht eine Aussage oder Aussagen-Menge über die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst, und zwar im Sinne dessen, was das Wesen der Dinge ausmacht, die eigentliche oder letzte Wirklichkeit, bei der alles Suchen des Geistes endet. Mag diese Wahrheit nun das Sein oder das Nicht-Sein oder die Einheit beider sein: diesem letzten und tiefsten Grund der Dinge Heiligkeit zuzusprechen besagt, dass dort etwas ist, das uns Zuflucht und Heimstatt bietet, das uns in Güte und Vollkommenheit aufnimmt und mit seiner Gnade und seinem Glanz alles Verlangen stillt. Doch dann Bodhidharma: Heilige Wah rheit? Wie das? Da ist doch nur „grenzenlose Weite und n ichts von Heiligkeit! " Damit sprengt er alles weg, was dem Kaiser Schutz und Halt gegeben hat (oder vielmehr, weil der Kaiser ja gar nicht versteht, auch weiterhin gewährt): ,,Da ist nichts, wohin Ihr Euch um Zuflucht wenden könnt, nichts, das Euch erhebt und verklärt; da ist nur leere, nach allen Seiten endlos offen; von Geborgenheit kann keine Rede sein." (Das chinesische Wort kuo-ran, das Bodhidharma hier in den Mund gelegt wird, bedeutet geräumig, weit, grenzenlos, es kann auch leer besagen; um es ganz auszuschöpfen, bieten sich vielerlei Übersetzungen an, die alle ihre Berechtigung haben: geräumige Weite, leere Weite, grenzenlose Weite, grenzenlose Leere, und die doch nur auf dasselbe hinauslaufen: dass da nach allen Seiten hin nichts ist.) Kurz gesagt: Bodhidharma stößt den Kaiser ins Nichts. Der Kaiser, obgleich er nicht begreift, was der Weise aus Indien ihm da entgegenschleudert, verspürt durchaus den Schlag, fühlt sich herausgefordert und holt zum Gegenschlag aus: „ Wer ist das da, Uns gegenüber?" Mit anderen Worten : ,,Wer nimmt sich da heraus, einer Kaiserlichen Majestät, zumal einer um den Buddhismus so verdienten, eine solch unerhörte Antwort zu geben!?" Bodhidharma überhört den gereizten, den aufbrausenden Unterton und entgegnet, ganz aufrichtig und schlicht: ,,Ich weiß es n icht!" Wie wahr! Wie soll denn auch jemand, der den Großen Tod gestorben ist, der sich selbst und die Welt völlig ausge löscht und sein Ich an das Nichts verloren hat - wie soll der wissen, wer er ist? Jemanden, der von sich selbst nichts mehr weiß, einfach schon deshalb nicht, weil da überhaupt kein issen mehr ist - den zu fragen, wer er sei : welch eine bsurdität! Auch dies „Ich weiß es n icht!" zielt darauf, den Kaiser in seiner Selb t